Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14021
(A) (C)
(B) (D)
Kinder entschlossen vor Vernachlässigung
schützen (Tagesordnungspunkt 6)Dr. Tabillion, Rainer SPD 13.12.2007
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Jörn Wunderlich (DIE
LINKE) zur Abstimmung über den Antrag:
Ströbele, Hans-Christian BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
13.12.2007
Strothmann, Lena CDU/CSU 13.12.2007
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Ahrendt, Christian FDP 13.12.2007
Bismarck, Carl-Eduard
von
CDU/CSU 13.12.2007
Bülow, Marco SPD 13.12.2007
Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 13.12.2007
Dr. Däubler-Gmelin,
Herta
SPD 13.12.2007
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 13.12.2007
Fischbach, Ingrid CDU/CSU 13.12.2007
Gabriel, Sigmar SPD 13.12.2007
Göppel, Josef CDU/CSU 13.12.2007
Granold, Ute CDU/CSU 13.12.2007
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
13.12.2007
Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
13.12.2007
Irber, Brunhilde SPD 13.12.2007
Jung (Konstanz),
Andreas
CDU/CSU 13.12.2007
Kauch, Michael FDP 13.12.2007
Kühn-Mengel, Helga SPD 13.12.2007
Müller (Gera), Bernward CDU/CSU 13.12.2007
Müntefering, Franz SPD 13.12.2007
Ortel, Holger SPD 13.12.2007
Rauen, Peter CDU/CSU 13.12.2007
Rehberg, Eckardt CDU/CSU 13.12.2007
Schaaf, Anton SPD 13.12.2007
Schwabe, Frank SPD 13.12.2007
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
Anlage 2
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl auf die Frage
des Abgeordneten Hans-Kurt Hill (DIE LINKE)
(132. Sitzung, Drucksache 16/7433, Frage 26):
Wie beurteilt die Bundesregierung die absehbaren Verzöge-
rungen beim Börsengang des sogenannten weißen Bereichs der
ehemaligen RAG, jetzt Evonik, aufgrund der krisenhaften Situ-
ation auf den Finanzmärkten sowie die von Konzern und Stif-
tung öffentlich diskutierte Erwägung, Aktienpakete an einzelne
Investoren zu verkaufen, und die daraus resultierenden Folgen
für das zu erwartende Vermögen der RAG-Stiftung?
Die kohlepolitische Verständigung vom 7. Februar
2007 und das Steinkohlefinanzierungsgesetz haben den
Weg für einen Börsengang des RAG-Beteiligungskon-
zerns, jetzt der Evonik Industries AG, frei gemacht. Die
Bundesregierung hat sich klar für einen Börsengang des
integrierten Beteiligungskonzerns und nicht für dessen
Zerschlagung entschieden. Dies schließt nicht aus, dass
Anteile an der Evonik Industries AG vor einem Börsen-
gang bei einem dritten Investor platziert werden. Die
Durchführung des Börsengangs einschließlich der Ent-
scheidung über dessen Zeitpunkt und die Frage der Plat-
zierung von Anteilen bei einem dritten Investor obliegen
der RAG-Stiftung und der Evonik Industries AG. Mit
dem Vermögen der RAG-Stiftung werden die Ewigkeits-
lasten des subventionierten Steinkohlenbergbaus der
RAG nach dessen Beendigung gedeckt. Ziel muss es
deshalb sein, einen optimalen Erlös für die im Wege des
Börsengangs veräußerten Anteile an der Evonik Indus-
tries AG zu erreichen. Die Bundesregierung geht davon
aus, dass die RAG-Stiftung und die Evonik Industries
AG bei ihren Planungen die Gesamtsituation an den Ak-
tienmärkten berücksichtigen werden.
Anlage 3
Wieczorek-Zeul,
Heidemarie
SPD 13.12.2007
Wolf (Frankfurt),
Margareta
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
13.12.2007
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
14022 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
Ich habe mich bei dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen enthalten, da es aus meiner Sicht
nicht ausreichend ist, Probleme ansatzweise zu benen-
nen, zu deren Lösung aber nichts weiter beizutragen als
fromme Wünsche und Appelle an die Bundesregierung,
auf die Länder hinzuwirken, ohne konkret zu benennen,
wie die Lösungen umzusetzen sind.
Die Linke hat sich zum Kinderschutz deutlich positio-
niert, und die Anträge, mit denen Kinderschutz hätte
umgesetzt werden können, wurden durch die anderen
Koalitionen abgelehnt.
Sich jetzt hinzustellen und im Nachgang zu Dingen
aufzurufen, deren Finanzierung man zuvor abgelehnt
hat, dem kann ich nach meiner Überzeugung nicht zu-
stimmen. Hier handelt es sich um einen allgemein gehal-
tenen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, wo-
bei Analyse und Forderungen hinter den umsetzbaren
Möglichkeiten zurückbleiben, im Ergebnis wohl nur ge-
stellt, um der gegenwärtigen hitzigen Debatte über Kin-
derschutz mit einem Schnellschuss nachzukommen.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Norbert Schindler (CDU/
CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutz-
gesetzes und des BVL-Gesetzes (Tagesord-
nungspunkt 19 a)
Ich werde dem obigen Gesetzentwurf – entgegen der
Meinung meiner Fraktion – nicht zustimmen.
Mit der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wird
entgegen unserer Aussage und unserem Anliegen, den
Bürokratieabbau voranzutreiben, eine EU-Vorgabe nicht
nur 1:1 umgesetzt, sondern im typisch deutschen voraus-
eilenden Gehorsam auch noch um nationale Regelungen
zur Buchführung ergänzt, die den Aufwand ins Uner-
messliche treiben. Hier wird etwas auf Gesetzesniveau
gehievt – mit allen daraus resultierenden auch strafrecht-
lichen Konsequenzen –, das eine absolute Zumutung für
alle Betroffenen darstellt.
Wenn, wie in der Empfehlung argumentiert wird, ein-
zelne Betriebe die vom Gesetz geforderten Daten bereits
jetzt erheben, so ist dies eine freiwillige und möglicher-
weise für diese Betriebe auch notwendige Leistung. Da-
raus kann man nicht schließen, dass es für andere – be-
sonders kleinere Höfe und Sonderkulturbetriebe – ein
Leichtes wäre, den erforderlichen Verwaltungsaufwand
zu erbringen.
Wenn ein Landwirt nach 12 bis 14 Stunden harter Ar-
beit auf dem Feld endlich wieder auf dem Hof ankommt,
muss er sofort akribisch festhalten, welche Mittel in wel-
cher Dosierung er auf welchem Schlag ausgebracht hat.
Diese Aufzeichnungen werden dann nach zwei Jahren
weggeworfen. Damit schießen wir deutlich über das EU-
Ziel hinaus und verletzen in gravierender Weise das
selbst gesetzte Ziel, dem Kriterium der Praxistauglich-
keit gerecht zu werden. Auch die vom Normenkontroll-
rat geschätzten jährlichen Kosten von 80 bis 120 Euro
pro Betrieb, die laut Begründung des Gesetzentwurfes
als zumutbar gelten, halte ich für deutlich untertrieben.
Man sollte unseren gelernten Landwirten doch wohl
zutrauen, dass sie, wie bei der von uns hart erkämpften
Düngemittelverordnung, im Rahmen einer Hofbilanz ei-
genverantwortlich und gewissenhaft den Pflanzenschutz
ausbringen. Es kann nicht sein, dass ein ganzer Berufs-
stand diskreditiert und als unlauter dargestellt wird. Es
kann nicht angehen, dass die landwirtschaftlichen Be-
triebe ständig fremdbestimmt mit neuen Vorschriften
überzogen werden.
Ich erkenne wohl an, dass dieser Gesetzentwurf in der
Koalition zu Auseinandersetzungen geführt hat, und be-
daure sehr, dass sich meine Kollegen nicht meinem Vo-
tum anschließen konnten. Auch die Agrarministerkonfe-
renz der Länder hat die Bedenken der Praktiker wider
besseres Wissen vom Tisch gewischt.
Eine halbherzige Protokollerklärung zur Buchfüh-
rungspflicht auf einer Ausschussdrucksache, die das
Gewollte noch einmal klarstellen muss, macht die be-
sondere handwerkliche Qualität und die Umsetzbarkeit
dieses Gesetzentwurfes deutlich.
Abschließend möchte ich noch mal betonen, dass ich
nicht gegen eine EU-Harmonisierung im Bereich des
Pflanzenschutzrechts votiere, sondern lediglich die Auf-
sattelung zu einem Mehr an Bürokratie missbillige und
deshalb diesem Gesetzentwurf nicht zustimme.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Ralf Göbel (CDU/CSU) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes und
des BVL-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 19 a)
Ich werde dem obigen Gesetzentwurf – entgegen der
Meinung meiner Fraktion – nicht zustimmen.
Mit der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wird
entgegen unserer Aussage und unserem Anliegen, den
Bürokratieabbau voranzutreiben, eine EU-Vorgabe nicht
nur 1:1 umgesetzt, sondern im typisch deutschen voraus-
eilenden Gehorsam auch noch um nationale Regelungen
zur Buchführung ergänzt, die den Aufwand ins Uner-
messliche treiben. Hier wird etwas auf Gesetzesniveau
gehievt – mit allen daraus resultierenden auch strafrecht-
lichen Konsequenzen –, das eine absolute Zumutung für
alle Betroffenen darstellt.
Wenn, wie in der Empfehlung argumentiert wird, ein-
zelne Betriebe die vom Gesetz geforderten Daten bereits
jetzt erheben, so ist dies eine freiwillige und möglicher-
weise für diese Betriebe auch notwendige Leistung. Da-
raus kann man nicht schließen, dass es für andere – be-
sonders kleinere Höfe und Sonderkulturbetriebe – ein
Leichtes wäre, den erforderlichen Verwaltungsaufwand
zu erbringen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14023
(A) (C)
(B) (D)
Wenn ein Landwirt nach 12 bis 14 Stunden harter Ar-
beit auf dem Feld endlich wieder auf dem Hof ankommt,
muss er sofort akribisch festhalten, welche Mittel in wel-
cher Dosierung er auf welchem Schlag ausgebracht hat.
Diese Aufzeichnungen werden dann nach zwei Jahren
weggeworfen. Damit schießen wir deutlich über das EU-
Ziel hinaus und verletzen in gravierender Weise das
selbst gesetzte Ziel, dem Kriterium der Praxistauglich-
keit gerecht zu werden. Auch die vom Normenkontroll-
rat geschätzten jährlichen Kosten von 80 bis 120 Euro
pro Betrieb, die laut Begründung des Gesetzentwurfes
als zumutbar gelten, halte ich für deutlich untertrieben.
Man sollte unseren gelernten Landwirten doch wohl
zutrauen, dass sie, wie bei der von uns hart erkämpften
Düngemittelverordnung, im Rahmen einer Hofbilanz ei-
genverantwortlich und gewissenhaft den Pflanzenschutz
ausbringen. Es kann nicht sein, dass ein ganzer Berufs-
stand diskreditiert und als unlauter dargestellt wird. Es
kann nicht angehen, dass die landwirtschaftlichen Be-
triebe ständig fremdbestimmt mit neuen Vorschriften
überzogen werden.
Ich erkenne wohl an, dass dieser Gesetzentwurf in der
Koalition zu Auseinandersetzungen geführt hat, und be-
daure sehr, dass sich meine Kollegen nicht meinem Vo-
tum anschließen konnten. Auch die Agrarministerkonfe-
renz der Länder hat die Bedenken der Praktiker wider
besseres Wissen vom Tisch gewischt.
Eine halbherzige Protokollerklärung zur Buchfüh-
rungspflicht auf einer Ausschussdrucksache, die das
Gewollte noch einmal klarstellen muss, macht die be-
sondere handwerkliche Qualität und die Umsetzbarkeit
dieses Gesetzentwurfes deutlich.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass
ich nicht gegen eine EU-Harmonisierung im Bereich des
Pflanzenschutzrechts votiere, sondern lediglich die Auf-
sattelung mit einem Mehr an Bürokratie missbillige und
deshalb diesem Gesetzentwurf nicht zustimme.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Entwurf eines
Gesetzes zur Ergänzung des Rechts zur Anfech-
tung der Vaterschaft (Tagesordnungspunkt 13)
Ute Granold (CDU/CSU): Wir beraten heute in
zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung zur Ergänzung des Rechts der Vaterschaft.
Seit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts im
Jahr 1993 vermittelt ein deutscher Vater dem Kind einer
ausländischen Frau durch Anerkennung der Vaterschaft
die deutsche Staatsangehörigkeit. In Folge der Kind-
schaftsrechtsreform im Jahre 1998 und der damit verbun-
denen Abschaffung der Amtspflegschaft des Jugendamtes
für nichteheliche Kinder erfordert die Anerkennung der
Vaterschaft – zu Recht – nur noch die formgebundene
Erklärung des Mannes sowie die Zustimmung durch die
Mutter.
In den letzten Jahren wurden die neuen Möglichkei-
ten der Vaterschaftsanerkennung leider verstärkt genutzt,
um aufenthaltsrechtliche Vorschriften zu umgehen. Der
Evaluationsbericht des Bundesinnenministeriums zum
Zuwanderungsgesetz hat mit Blick auf diese Entwick-
lung an den „dringenden gesetzgeberischen Handlungs-
bedarf zur Bekämpfung von Scheinvaterschaften“ erin-
nert.
In der Praxis der Ausländerbehörden und Standesbe-
amten gibt es bereits seit 2001 Erkenntnisse darüber,
dass das Rechtsinstrument der Vaterschaftsanerkennung
zunehmend missbraucht wird, um Ausländerinnen und
Ausländern ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu ver-
schaffen. Wenn beispielsweise eine alleinerziehende
ausländische Mutter mit ihrem Kind in Deutschland lebt,
ihr Aufenthaltsrecht abläuft und auch, nicht verlängert
werden soll, wäre sie an sich ausreisepflichtig. Dies kann
umgangen werden, wenn ein deutscher Mann gegen
Zahlung eines Geldbetrages die Vaterschaft anerkennt.
Dabei haben weder er noch die Mutter das geringste In-
teresse daran, dass zwischen dem „Vater“ und dem Kind
jemals irgendeine soziale Beziehung zustande kommt.
Da die Männer zudem oft einkommens- und vermögens-
los sind, steht in diesen Fällen von vornherein fest, dass
der Mann für „sein“ Kind niemals Unterhalt zahlen wird
und die Allgemeinheit auch hier einspringen muss.
Die vom anerkennenden Vater abgeleitete deutsche
Staatsangehörigkeit des Kindes vermittelt der Mutter so-
wie etwaigen Familienangehörigen nicht nur ein eigenes
Aufenthaltsrecht, sondern auch die mit diesem Rechts-
status verbundenen sozialen Absicherungen.
Ebenso gibt es Fälle, bei denen eine im Ausland le-
bende Mutter die Vaterschaftsanerkennung durch einen
deutschen Mann genutzt hat, um erstmals nach Deutsch-
land einreisen zu können, oder in denen ein ausländi-
scher Mann die Vaterschaft für das Kind einer deutschen
Mutter anerkennt, wobei der „Vater“ dann ein eigenstän-
diges, vom deutschen Kind abgeleitetes Aufenthaltsrecht
erhält.
Eine Erhebung der Bundesinnenministerkonferenz
hat ergeben, dass allein im Zeitraum April 2003 bis
März 2004 deutsche Behörden in 2 338 Fällen einer un-
verheirateten ausländischen Mutter eines deutschen Kin-
des eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hat. In 1 694 dieser
Fälle wiederum waren die Mütter und ihre Kinder zum
Zeitpunkt der Vaterschaftsanerkennung ausreisepflich-
tig.
Die Erfahrungen der Behörden zeigen, dass in einem
Großteil dieser Sachverhalte zwischen dem anerkennen-
den Vater und dem Kind überhaupt keine sozial-fami-
liäre Beziehung bestanden hat. In den Fällen, in denen
auch niemals beabsichtigt war, dass der Vater Kontakt zu
„seinem“ Kind hat und eine echte familiäre Beziehung
aufbaut, müssen wir von einer missbräuchlichen Vater-
schaftsanerkennung ausgehen, bei der es einzig darum
geht, dem Kind die deutsche Staatsbürgerschaft und da-
mit verbunden der Mutter ein Aufenthaltsrecht sowie so-
ziale Leistungen zu verschaffen.
14024 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
An dieser Stelle wird von Kritikern eingewendet, dass
es keine belastbaren Zahlen über tatsächliche Miss-
brauchsfälle gebe, bzw. aus der Tatsache, dass die Mütter
zum Zeitpunkt der Vaterschaftsanerkennung ausreise-
pflichtig sind, könne nicht geschlussfolgert werden,dass
auch ein Missbrauch vorliege. Belastbare Zahlen über
Missbrauchsfälle kann es naturgemäß noch nicht geben,
da nach derzeitiger Rechtslage kein Gesetzesverstoß
vorliegt und wir ja gerade jetzt die bestehende Gesetzes-
lücke schließen wollen. Für den Moment müssen wir uns
also auf Indizien sowie die Erfahrungen der Praxis ver-
lassen, und die zeigen eindeutig Anhaltspunkte für einen
zunehmenden Missbrauch der Vaterschaftsanerkennung.
Es gibt keinen Grund, an dem Urteilsvermögen und
den Berichten der Ausländerbehörden und Standesämter
zu zweifeln. Es sind vor allem die zuständigen Mitarbei-
ter vor Ort, die in ihrem Berufsalltag Entwicklungen wie
diese beobachten und aufgrund ihrer langjährigen Erfah-
rungen ein feines Gespür dafür entwickelt haben, ob hier
jemand die Möglichkeiten des geltenden Rechts bewusst
ausnutzt, um für sich rechtliche und finanzielle Vorteile
zu erlangen, oder ob hier jemand tatsächlich die Liebe zu
seinem Kind rechtlich manifestieren möchte.
Nicht zuletzt die Anhörung hat erneut den zunehmen-
den Missbrauch bestätigt. Vor allem die Sachverständi-
gen, die aus der Praxis kommen und mit konkreten Fäl-
len konfrontiert sind, haben die Anhaltspunkte für einen
zunehmenden Missbrauch überzeugend dargelegt. Wir
müssen leider auch feststellen, dass sich inzwischen Ge-
schäftsmodelle herausgebildet haben, die Vaterschafts-
anerkennungen durch vermögenslose deutsche Männer
zum Gegenstand haben, ganz nach dem Motto: Wo eine
Nachfrage ist, ist auch ein Angebot.
Die CDU/CSU-Fraktion hat bereits in der letzten Le-
gislaturperiode die Notwendigkeit eines behördlichen
Anfechtungsrechts gesehen und deshalb im Oktober
2004 einen entsprechenden Antrag in den Deutschen
Bundestag eingebracht. Umso mehr freuen wir uns, dass
das Gesetz heute verabschiedet werden kann. Lassen Sie
mich kurz auf dessen wesentliche Merkmale eingehen.
Kernpunkt des Entwurfs ist die Ergänzung der Rege-
lungen zur Anfechtung der Vaterschaft in § 1600 BGB.
Das Gesetz sieht hierzu die Einführung eines Anfech-
tungsrechts durch eine öffentliche Stelle vor. Aus prakti-
schen Gründen ist es sinnvoll, dass die Länder entspre-
chend den jeweiligen Bedürfnissen vor Ort selbst
bestimmen können, welche Behörde für die Anfechtung
zuständig sein soll. Wir haben deshalb bewusst auf eine
bundeseinheitliche Zuständigkeitsregelung verzichtet
und überlassen diese den Ländern.
Die Anfechtung setzt voraus, dass zwischen dem
Kind und dem Anerkennenden keine sozialfamiliäre Be-
ziehung besteht oder im Zeitpunkt der Anerkennung be-
standen hat. Daneben müssen gerade durch die Anerken-
nung der Vaterschaft die rechtlichen Voraussetzungen
für die erlaubte Einreise oder den erlaubten Aufenthalt
des Kindes oder eines Elternteils geschaffen werden.
Aus Gründen des Vertrauensschutzes wird in
§ 1600 b BGB eine absolute Ausschlussfrist für die An-
fechtung der Vaterschaft von fünf Jahren, gerechnet ab
Wirksamkeit der Anerkennung, festgeschrieben. Für den
Fall, dass die Anfechtungsklage Erfolg hat, entfällt die
Vaterschaft des Anerkennenden mit Rückwirkung auf
den Tag der Geburt des Kindes.
Damit in der Praxis tatsächlich gewährleistet ist, dass
die anfechtungsberechtigte Behörde überhaupt von den
die Anfechtung begründenden Umständen Kenntnis er-
langt, werden die aufenthaltsrechtlichen Mitteilungs-
pflichten ergänzt. Alle öffentlichen Stellen haben künftig
die Pflicht, die zuständige Ausländerbehörde zu unter-
richten, wenn sie von konkreten Tatsachen Kenntnis er-
langen, die die Annahme rechtfertigen, dass die Voraus-
setzungen für das neue behördliche Anfechtungsrecht
vorliegen. Eine Einschränkung soll hierbei lediglich für
Jugendämter gelten. Um Konfliktsituationen zu vermei-
den, sollen diese nur dann zur Mitteilung verpflichtet
sein, soweit dadurch nicht die Erfüllung der eigenen
Aufgaben gefährdet wird.
Im Rahmen der Ausschussberatungen haben wir im
Vergleich zum ursprünglichen Gesetzentwurf noch zwei
kleine Änderungen vorgenommen, die im Wesentlichen
Rechtsänderungen geschuldet sind, die zwischenzeitlich
im Aufenthaltsgesetz und im Personenstandsgesetz vor-
genommen wurden.
An dieser Stelle ist es mir wichtig, klar und deutlich
festzustellen: Wir wollen mit diesem Gesetz die Er-
schleichung von Aufenthaltstiteln und den damit einher-
gehenden Sozialmissbrauch unterbinden. In erster Linie
geht es uns jedoch um die Kinder selbst. Das Recht des
Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung sowie auf Um-
gang mit seinem tatsächlichen Vater ist verfassungs-
rechtlich von überragender Bedeutung. Eine miss-
bräuchliche Vaterschaftsanerkennung richtet sich
folglich vor allem auch gegen das Kind selbst. Dem
Kind wird für immer der leibliche Vater vorenthalten.
Staatlich sanktioniert wird ihm die Kenntnis seiner Ab-
stammung und der Umgang mit seinem leiblichen Vater
entzogen.
Dieser Verlust kann keineswegs im Interesse des Kin-
des sein und wird bei Weitem auch nicht durch etwaige
materielle, mit dem Aufenthalt in Deutschland verbun-
dene Vorteile kompensiert. So zu argumentieren wäre im
Übrigen überheblich, würde man doch unterstellen, dass
ein Leben in Deutschland in jedem Fall einem Aufwach-
sen in der eigentlichen Heimat vorzuziehen und im Inte-
resse des Kindes sei.
Das neue Anfechtungsrecht hat somit gerade die be-
troffenen Kinder im Blick und steht in der Kontinuität
der Kindschaftsrechtsreform. Die Anerkennung der so-
zialen, das heißt rechtlichen Vaterschaft im vereinfach-
ten Verfahren bleibt grundsätzlich anerkannt.
Der Gesetzgeber hat durch die Abschaffung der
Amtspflegschaft im Wege der Kindschaftsrechtsreform
bewusst die Beziehung zwischen dem anerkennenden
Vater und dem nicht leiblichen Kind gestärkt und die
Entstehung sozial-familiärer Beziehungen der biologi-
schen Abstammung gleichgestellt. Folgerichtig setzt das
neue Anfechtungsrecht genau an dieser Stelle an, indem
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14025
(A) (C)
(B) (D)
es eine Anfechtung davon abhängig macht, dass es zwi-
schen dem Kind und dem Anerkennenden gerade keine
solche sozial-familiäre Beziehung besteht oder im Zeit-
punkt der Anerkennung bestanden hat. Das neue An-
fechtungsrecht stellt sich somit als konsequente Fortset-
zung der Kindschaftsrechtsreform dar.
Wir sehen bei der praktischen Anwendung des Geset-
zes im Gegensatz zu einigen Kritikern keine Probleme;
denn die Erfahrungen vor Ort, insbesondere in den Aus-
länderbehörden und Standesämtern, zeigen, dass es sehr
wohl eindeutige, leicht zu erkennende und nachweisbare
Anhaltspunkte gibt, die auf eine reine Scheinvaterschaft
hinweisen. Dabei lohnt sich ein Blick auf die positiven
Erfahrungen im Zusammenhang mit den Scheinehen.
Auch hier stehen die Behörden vor den gleichen Schwie-
rigkeiten, wenn sie eine fehlende familiäre Beziehung
zwischen den Eheleuten nachweisen müssen.
Die Sachverständigen haben in der öffentlichen An-
hörung im Übrigen bestätigt, dass der Gesetzentwurf
eine ausgewogene Lösung darstellt, die die Rechtsein-
griffe so gering wie möglich hält und die Grundentschei-
dung der Kindschaftsrechtsreform unberührt lässt.
Wir dürfen als Gesetzgeber die Augen vor Fehlent-
wicklungen wie die der missbräuchlichen Vaterschafts-
anerkennungen nicht verschließen. Es ist unsere Pflicht,
zu reagieren, wenn der zunehmende Missbrauch einer an
sich sinnvollen gesetzlichen Möglichkeit offensichtlich
wird.
Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung zu dem vor-
liegenden Gesetzentwurf und hoffe auf eine breite Mehr-
heit.
Klaus Uwe Benneter (SPD): Mit dem Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Ergänzung des Rechts auf Vaterschaf-
ten stellen wir weder sämtliche alleinerziehende auslän-
dische Mütter unter Generalverdacht noch fallen wir mit
dem Gesetzentwurf hinter die Kindschaftsrechtsreform
zurück. Seit der Kindschaftsrechtsreform ist für das Zu-
standekommen einer wirksamen Vaterschaftsanerken-
nung die Zustimmung des Amtspflegers nicht mehr er-
forderlich. Man braucht nur noch eine formgebundene
Erklärung des Vaters und die Zustimmung der Mutter.
Durch diese Reform haben wir die Elternautonomie ge-
stärkt und das Entstehen von Familien gefördert. Dabei
bleibt es.
Aber, nicht immer werden Vaterschaften anerkannt,
um ein soziales Vater-Kind-Verhältnis aufzubauen. Dass
Vaterschaften teilweise nur anerkannt werden, um einen
Aufenthaltstitel zu erlangen, ist eine Tatsache. Wir haben
zwar keine belastbaren Zahlen über die Häufigkeit die-
ses Phänomens. Aber wir alle kennen die Fälle: Ein viet-
namesisches Ehepaar hat drei Kinder und soll ausreisen.
Die Frau erwartet ihr viertes Kind. Kurz vor der Geburt
wird die Ehe plötzlich geschieden, und wie aus dem
Nichts taucht ein Arbeitsloser aus Sachsen auf, der die
Vaterschaft des vierten Kindes anerkennt. Später räumt
der deutsche Vater ein, dass er für die Anerkennung der
Vaterschaft 2 600 Euro bekommen hat. Ein anderer er-
kennt zwischen 1999 und 2004 die Vaterschaft von sie-
ben Kindern verschiedener vietnamesischer Mütter an,
und zwar in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Bran-
denburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen.
Dieser Missbrauch findet nicht nur regelmäßig, son-
dern mit steigender Tendenz statt! Indem wir die Vater-
schaftsanerkennung erleichtert haben, haben wir auch
den Missbrauch dieses Instituts gefördert. Wenn wir das
weiter zulassen, leisten wir der latent vorhandenen
Fremdenfeindlichkeit Vorschub.
Deshalb haben wir jetzt gehandelt, und zwar mit Au-
genmaß. Wir haben uns gefragt, welche Kriterien symp-
tomatisch für den Missbrauch stehen. Das sind: erstens
das Entstehen eines ausländerrechtlichen Vorteils durch
die Anerkennung und, zweitens das Fehlen einer sozial-
familiären Bindung zwischen Vater und Kind. Nur für
den Fall, dass diese beiden Kriterien erfüllt sind, haben
wir die behördliche Anfechtung der Vaterschaft ermög-
licht.
Dadurch ist auch klar: Wir rütteln nicht an Art. 6 GG.
Auch binationale Familien stehen weiter unter dem vol-
len Schutz des Grundgesetzes. Ich betone: Familien! Um
eine Familie handelt es sich nämlich nur dann, wenn die
Eltern-Kind-Gemeinschaft auch verantwortungsvoll ge-
lebt wird, wenn eine sozial-familiäre Bindung wirklich
vorliegt.
Der Begriff der sozial-familiären Bindung ist nicht zu
unbestimmt. Mit dem Begriff orientieren wir uns eins zu
eins an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richtes. Das Bundesverfassungsgericht benennt die Kri-
terien zur Auslegung des Begriffes: Es muss ein persön-
licher Kontakt zwischen dem Vater und dem Kind
vorliegen. Es muss eine geistige und emotionale Ausei-
nandersetzung zwischen den beiden stattfinden. Der Va-
ter muss sich um das Kind kümmern und Verantwortung
übernehmen. Ein Indiz hierfür sind zum Beispiel Unter-
haltszahlungen. Wichtig ist also die Qualität der Bezie-
hung, nicht die Quantität des gemeinsamen Kontakts. Es
wird deshalb nicht zulässig sein, all denjenigen Bezie-
hungen, bei denen Vater und Kind nicht zusammenleben,
per se diese Bindung abzusprechen.
Die Schaffung eines behördlichen Anfechtungsrech-
tes ist nicht unverhältnismäßig. Was wäre denn die Al-
ternative gewesen? Wir hätten natürlich bestimmen
können, dass die Vaterschaftsanerkennung ihre Wir-
kung im Ausländerrecht verliert. Die Vaterschaftsaner-
kennung hätte dann nicht automatisch die Erlangung
eines Aufenthaltstitels zur Folge gehabt. Dann hätten
wir aber den Ausländerbehörden das Recht auf eine ge-
sonderte Prüfung geben müssen. Oder noch besser:
Hätten wir vielleicht den bestehenden Automatismus
im Staatsangehörigkeitsrecht abschaffen und den Er-
werb der Staatsangehörigkeit von DNA-Tests abhängig
machen sollen? Wir sind uns ja wohl alle einig, dass
das keine milderen, keine geeigneteren Vorschläge zur
Lösung des Problems gewesen wären.
Zum Schluss möchte ich noch einen letzten Vorwurf
aus dem Weg räumen: Wir werden mit dem Gesetzent-
wurf nicht die Jugendämter anhalten, als Spitzel der
Ausländerbehörden aufzutreten. Gegen die Forderung,
14026 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
Jugendämter uneingeschränkt zu verpflichten, den An-
fechtungsbehörden den Verdacht auf Vorliegen einer
missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennung mitzuteilen,
haben wir uns erfolgreich zur Wehr gesetzt. Der Gesetz-
entwurf verpflichtet Jugendämter nur dann zur Mittei-
lung, wenn sie hierdurch die Erfüllung ihrer eigenen
Aufgaben nicht gefährdet sehen. Wir drängen sie also
nicht in Interessenkonflikte. Jugendämter werden auch
weiterhin das erforderliche Vertrauensverhältnis zu den
von ihnen betreuten Familien aufbauen können.
Mechthild Dyckmans (FDP): „Die Gesetzespro-
duktion muss, ähnlich wie die Industrieproduktion, noch
stärker als bisher einer Erforderlichkeits-, Qualitäts-, und
Erfolgskontrolle unterworfen werden.“ – Diese Worte
unseres ehemaligen Kollegen und Justizministers Herrn
Engelhard gelten auch heute noch. Wir sollten uns diese
Worte immer wieder in Erinnerung rufen, wenn es da-
rum geht, neue Gesetze zu verabschieden und beste-
hende Gesetze zu ändern. Bei dem vorliegenden Gesetz-
entwurf zur Ergänzung des Rechts zur Anfechtung der
Vaterschaft jedenfalls scheint man diese Worte verges-
sen zu haben.
Schon die Erforderlichkeitskontrolle zwingt dazu,
diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Das einzig vorlie-
gende Zahlenmaterial zur Problematik der Vaterschafts-
anerkennung zum Zwecke der Erlangung eines Auf-
enthaltstitels bzw. der deutschen Staatsangehörigkeit
stammt aus einer Erhebung der Innenministerien der
Länder aus dem Zeitraum 2003/2004. Danach ist circa
1 700 unverheirateten ausländischen Müttern eines deut-
schen Kindes, die im Zeitpunkt der Vaterschaftsanerken-
nung ausreisepflichtig waren, ein Aufenthaltstitel erteilt
worden. Welchen Aussagewert hat diese Zahl? – Eigent-
lich gar keinen. Selbst in der Begründung des Gesetzent-
wurfes heißt es dazu: „Die Zahlen können ... nicht bele-
gen, in wie vielen Fällen es sich tatsächlich um
missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen handelt.“
Auch der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages
hat sich in seiner Sachverständigenanhörung mit dieser
Problematik beschäftigt. Doch über die Nennung von
exemplarischen Einzelfällen hinaus konnte auch dort ein
konkreter Handlungsbedarf nicht nachgewiesen werden.
Selbst bei diesen genannten Einzelfällen war nur von
Vermutungen und Zufallsfunden die Rede. Auf solch
eine ungesicherte Tatsachengrundlage darf kein Gesetz
gestützt werden, das zu einer grundlegenden Änderung
der Vaterschaftsanfechtung im Kindschaftsrecht führt.
Denn was bewirkt dieses Gesetz? Verankert werden
soll ein Anfechtungsrecht einer öffentlichen Stelle bei
vermutetem Missbrauch der Vaterschaftsanerkennung.
Im Bürgerlichen Gesetzbuch soll diese Änderung erfol-
gen, genau genommen im Familienrecht über die Ab-
stammung. Diese staatliche Einmischung in die familiä-
ren Beziehungen kennt das Familienrecht bisher nicht.
Die derzeitigen Regeln zur Anfechtung der Vaterschaft
gehen auf eine Grundentscheidung der Kindschafts-
rechtsreform von 1998 zurück. Damals hat sich der
Deutsche Bundestag aus gutem Grund dafür ausgespro-
chen, dass im Interesse und zum Schutz der Intimität der
Familie nicht Jedermann und insbesondere keine öffent-
lichen Stellen die Möglichkeit haben sollten, die Ab-
stammung eines Kindes infrage zu stellen. Es wurde
bewusst die Elternautonomie gestärkt. Das Zustande-
kommen einer wirksamen Anerkennung wurde allein an
formgebundene Erklärungen des Vaters und der Mutter
geknüpft. Vor der Kindschaftsrechtsreform war die An-
erkennung von der Zustimmung des Jugendamtes abhän-
gig.
Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf setzt die be-
hördliche Anfechtung voraus, dass zwischen dem Kind
und dem Anerkennenden weder eine „sozial-familiäre“
Beziehung noch eine leibliche Vaterschaft besteht. Um-
stände wie fehlendes Zusammenleben in häuslicher Ge-
meinschaft, Nichtzahlung von Unterhalt oder nicht re-
gelmäßige Betreuung und Erziehung stellen nach der
Gesetzesbegründung Anknüpfungstatsachen dar, die auf
eine fehlende sozial-familiäre Beziehung schließen las-
sen. Dies gilt jedoch nur bei binationalen Partnerschaf-
ten und kommt damit einem Generalverdacht gegen alle
binationalen und ausländischen Familien nah. Unverhei-
ratete Eltern werden unnötig stigmatisiert.
Wenn Frau Zypries in ihrer heutigen PI schreibt, „Va-
terschaften sollen um der Kinder Willen anerkannt wer-
den, nicht allein wegen der Papiere“, so muss dies
ebenso für die Vaterschaftsanfechtung gelten. Mit der
Vaterschaftsanfechtung durch öffentliche Stellen wird
eben nicht etwa die Familie oder das Kind geschützt.
Nein, Ziel des Gesetzentwurfs ist – man muss immer
wieder darauf hinweisen –, das Erschleichen miss-
bräuchlicher Aufenthaltstitel zu verhindern und damit al-
lein das Staatsinteresse.
Dann müssen jedoch Regelungen – wenn überhaupt –
im Ausländer- und Aufenthaltsgesetz getroffen werden.
Der völlig falsche Weg ist es, das Familien- und Ab-
stammungsrecht mit staatlichen Eingriffen zu versehen.
Das Aufenthaltsrecht bietet schon heute mit den
§§ 27, 28 Aufenthaltsgesetz in den meisten Fallkonstel-
lationen eine zufriedenstellende Lösung an. Danach ist
ein Familiennachzug nicht zuzulassen, wenn das Ver-
wandtschaftsverhältnis ausschließlich zu dem Zweck be-
gründet wurde, dem Nachziehenden die Einreise in das
und den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen.
Auch ist dem ausländischen Elternteil eines minderjähri-
gen Deutschen nur zur Ausübung der Personensorge
eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. In der Rechtspre-
chung gibt es schon Urteile, die Fälle des missbräuchli-
chen Zusammenwirkens der Eltern über das allgemeine
Rechtsinstitut des Rechtsmissbrauches regeln, und zwar
völlig unabhängig von der familiengerichtlichen Wirk-
samkeit der Anerkennung.
Aus allen diesen Gründen gibt es nur eine richtige
Entscheidung: Wir lehnen den Gesetzentwurf ab.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Angst geht um! Die
bösen Taliban, die mittels einer Vaterschaftsanerkennung
ins Land kommen, ja sogar kleine Talibane, die durch
die Erklärung deutscher Männer zu deutschen Staats-
angehörigen werden, werden das Land überfluten. Unser
Bundesinnenminister Schäuble kriegt Pickel. Wovor hat
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14027
(A) (C)
(B) (D)
Schäuble Angst? Vor Kindern? Vor Unbekanntem? Oder
hat er Angst davor, dass er nicht weiß, ob es tatsächlich
so ist? Fakten dafür gibt es nicht.
Schnellschüsse wie diesen Gesetzentwurf sollte sich
ein Rechtsstaat nicht leisten. Hier wird die Anfechtung
der Vaterschaft durch eine Behörde geregelt, aber nur
wenn mindestens ein Elternteil Ausländer ist.
Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz – vor dem Gesetz sind alle
gleich – ist ja wohl eindeutig verletzt, da hier eine
Gruppe von Menschen unter Generalverdacht gestellt
wird. Und hier werden Menschen nur wegen ihrer Hei-
mat und Herkunft benachteiligt. Man stelle sich einmal
vor, man würde der Behörde die Möglichkeit eröffnen,
bayerische Vaterschaften anzufechten! Da wär was los
im Bayerischen Wald!
Ich frage mich ernsthaft, wozu der Bundestag Sach-
verständige lädt, um von ihnen Sachverstand ins Haus zu
holen, wenn dieser sich nirgends niederschlägt. Was ha-
ben die Sachverständigen alles ausgeführt! Das Gesetz
ist verfassungswidrig, es verletzt Art. 3, möglicherweise
auch Art. 6; das sind alles Grundrechte. Es ist unverhält-
nismäßig. Es wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen
usw. Es fußt auf Annahmen. Kindeswohl spielt keine
Rolle. – Ist schon komisch, wie die gegenwärtige De-
batte läuft, wenn es um Kinderschutz geht!
Ach ja, ich vergaß fast: Hier geht es um Kinder, bei
denen zumindest ein Elternteil nicht deutsch ist; da ist
das anscheinend egal. Wo sind sie denn, unsere Kinder-
schützer der Koalition? Kinder sind anscheinend doch
nicht gleich. Oder ist einfach der Koalitionszwang wich-
tiger als Kindeswohl? Vor zwei Stunden wurden der
Kinderschutz und das Kindeswohl noch in den höchsten
Tönen gelobt, angepriesen und eingefordert, jeder ver-
suchte den anderen zu übertreffen. Und nun? Alle weg!
Ob die Unterrichtungspflicht der Jugendämter mit der
Föderalismusreform in Einklang zu bringen ist, dürfte
auch der Überprüfung wert sein, ist aber in diesem Zu-
sammenhang wirklich nur Nebensache.
Was die Sachverständigen ausgeführt haben, findet
sich im Gesetzentwurf nirgends wieder. Komisch? Na,
die Aussagen passten offensichtlich nicht zu der geisti-
gen Brandstiftung der Koalition, die mit diesem Gesetz
vollzogen wird. Hier wird die Vaterschaft durch eine Be-
hörde vernichtet.
Das Ganze basiert im Übrigen auf Mutmaßungen,
welche durch keinerlei Zahlen belegt sind. Es wird, wie
die Sachverständigen ausgeführt haben, „mit Kanonen
auf Spatzen geschossen, und der Aufwand steht in kei-
nerlei Verhältnis zum angeblichen Nutzen“.
Das Gesetz strotzt nur so vor Diskriminierungen, es
ist politisch völlig verfehlt, untragbar und gehört abge-
lehnt. Es diskriminiert Kinder ausländischer Frauen ge-
genüber Kindern deutscher Frauen. Es diskriminiert
nichteheliche Kinder gegenüber ehelichen Kindern aus-
ländischer Frauen. Es diskriminiert binationale Verhält-
nisse insgesamt gegenüber nationalen Verhältnissen.
Wie gut, dass die Regierung eine Antidiskriminierungs-
stelle eingerichtet hat. Ist schon klasse, Kinder von Aus-
ländern dürfen dort wahrscheinlich nicht klingeln. Es
war und ist ein ausländerfeindliches Gesetz.
Meine Damen und Herren der Regierung und der ent-
sprechenden Koalition, warum sagen Sie nicht einfach:
„Wir wollen keine Ausländer, wir wollen keine ausländi-
schen Kinder, wir misstrauen binationalen Partnerschaf-
ten“? Wenn sie es schon wollen und machen, dann sagen
sie es doch auch. Aber hier Menschen unter Generalver-
dacht zu stellen, mit Abschreckung, Verunsicherung
usw. zu arbeiten, kennzeichnet Ihre menschenverach-
tende Ausländerpolitik.
Aber das sind ja auch keine Wähler, gell?
Für uns Linke zählt der Mensch, und deshalb werden
wir diesem Gesetz nicht zustimmen.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Seit mehr als einem Jahr liegt der Gesetzent-
wurf der Bundesregierung für eine Ergänzung des
Rechts zur Anfechtung der Vaterschaft nun vor. Vor sie-
ben Monaten fand die Anhörung im Rechtsausschuss
dazu statt. Nun soll offensichtlich die vorweihnachtliche
Stimmung genutzt werden, um ein Gesetz, das unnötiger
nicht sein könnte, zwischen Glühwein und Plätzchen
noch ganz schnell an den Abgeordneten vorbei durch
den Bundestag zu mogeln, – ein Gesetz, das einen massi-
ven Eingriff in die Privatsphäre binationaler Familien
vorsieht, ein Gesetz, das einen enormen bürokratischen
Vollzugsaufwand mit sich bringt, ein Gesetz, das die
Einrichtung einer anfechtungsberechtigten Behörde und
die Durchführung von Anfechtungsverfahren mit nicht
bezifferbaren Kosten mit sich bringt.
Und wozu das alles? Um einige wenige Missbrauchs-
fälle von Vaterschaftsanerkennungen zu verhindern. Ja,
es gibt sie in der Tat. Aber was ihre Größenordnung be-
trifft, tappen wir alle im Dunkeln. Die Datenlage ist völ-
lig unzureichend. Die Innenministerkonferenz hat ermit-
telt, dass zwischen März 2003 und März 2004 1 694
ausländische und ausreisepflichtige Mütter von einer Va-
terschaftsanerkennung theoretisch hätten profitieren
können. Über die Zahl der tatsächlichen Missbräuche
lässt das keine Schlüsse zu.
Die wenigen Experten, die auf der Anhörung im ver-
gangenen Mai versuchten, reale Zahlen zu nennen, ka-
men auf nicht mehr als einen einstelligen Prozentsatz
dieser Zahl. Und dafür wollen Sie nun eine Behörde be-
auftragen, in die innerfamiliären Beziehungen zwischen
Vater und Kind hineinzuschnüffeln, um herauszufinden,
ob eine „sozial-familiäre Beziehung“ zwischen Vater
und Kind besteht? Wie wollen Sie das bewerkstelligen?
Wir wissen alle, wie unpräzise dieser Begriff ist.
In der Gesetzesbegründung nennen Sie ja sehr diffe-
renzierte Beispiele. Wie differenziert wird aber in so
manchem Bundesland die letztlich zuständige Behörde
bei der Wahrheitsfindung vorgehen, wenn sie die Fährte
einer möglichen Aufenthaltserschleichung durch miss-
bräuchliche Vaterschaftsanerkennung erst einmal aufge-
nommen hat?
14028 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
Eine deutliche Mehrheit der Sachverständigen emp-
fahl in der Anhörung im Mai, von diesem Gesetz abzu-
sehen. Denn – um es mit den Worten des Berliner Inte-
grationsbeauftragten Günter Piening zu sagen – Sie
schießen mit ziemlich großen Kanonen auf ziemlich
kleine Spatzen, und sind dabei noch dreist genug, in Ih-
rem Gesetzentwurf zu behaupten, Sie würden mit der
staatlichen Anfechtungsmöglichkeit von Vaterschafts-
anerkennungen der Entstehung eines Generalverdachts
gegen binationale Familien vorbeugen. Wie zynisch das
ist. Das Gegenteil ist natürlich der Fall: Mit dem Gesetz-
entwurf schaffen sie eben gerade einen Generalverdacht.
Wir alle wissen, dass jede Regelung auch Miss-
brauchsmöglichkeiten in sich trägt. In vielen Bereichen
sind wir bereit,: das in Kauf zu nehmen. Der Gedanke
aber, hier könnten ein paar Migrantinnen und Migranten
auf dem Trittbrett mitfahren, ohne dafür bestraft zu wer-
den, ist für die Union natürlich unerträglich.
Aber was ist mit der SPD? Sie haben doch mehrmals
deutlich signalisiert: Auch Sie halten das Gesetz für un-
verhältnismäßig und damit völlig unnötig. Ich bitte Sie,
lassen Sie sich jetzt nicht vorweihnachtlich einlullen.
Wachen Sie noch einmal auf. Und heben Sie jetzt nicht
die Hand für dieses Gesetz!
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Justiz: Wir müssen bei diesem Ge-
setzentwurf zwei Dinge auseinanderhalten: einmal den
völlig legitimen Wunsch von Ausländern, in Deutsch-
land zu bleiben und hier eine Familie zu gründen. Ich
und viele andere haben sich immer dafür eingesetzt, dass
das Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht diesem
Wunsch besser Rechnung trägt. Die Rechtslage ist im-
mer noch nicht optimal, aber sie ist deutlich besser als
noch vor 15 Jahren.
Eine ganz andere Sache sind aber Vaterschaftsaner-
kennungen, die nur den einen Zweck verfolgen, nämlich
sich eine deutsche Staatsangehörigkeit oder einen Auf-
enthaltstitel zu verschaffen. Ich nenne das „Scheinvater-
schaft“, weil solche Anerkennungen nichts mit der leib-
lichen Abstammung zu tun haben und nichts mit der
Gründung einer Familie. Es geht dabei einzig und allein
darum, das deutsche Ausländerrecht zu umgehen.
Dieser Missbrauch kann auf Dauer das geltende
Recht insgesamt infrage stellen und damit auch das, was
wir mit der Kindschaftsrechtsreform von 1998 erreicht
haben: ein familienfreundliches und unbürokratisches
Verfahren zur Annerkennung von Vaterschaften. Das gilt
auch für das Ausländer und Staatsangehörigkeitsrecht.
Eben weil es richtig war, die Tür für echte binationale
Familien weiter zu öffnen, müssen wir dafür sorgen,
dass diese Regelungen nicht durch Scheinvaterschaften
infrage gestellt werden. Deshalb haben wir dieses Gesetz
auf den Weg gebracht. Wir haben lange darüber debat-
tiert.
Die Neuregelung ermöglicht auch weiterhin uneinge-
schränkt die unbürokratische Vaterschaftsanerkennung,
und zwar auch für binationale Familien. Daran soll sich
nichts ändern. Die Anerkennung bringt grundsätzlich
weiterhin die für die Familie günstigen Folgen im Auf-
enthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht. Auch hier bleibt
es beim geltenden Recht.
Was wir mit dem Gesetz neu vorsehen, ist eine zielge-
naue Missbrauchsbekämpfung, die strengen Vorausset-
zungen unterliegt. Zukünftig wird die Vaterschaft auch
von einer Behörde angefochten werden können. Die
Anfechtung hat aber nur Erfolg, wenn – erstens – zwi-
schen dem Kind und dem Anerkennenden keine sozial-
familiäre Beziehung besteht oder im Zeitpunkt der Aner-
kennung bestanden hat, wenn – zweitens – die Vater-
schaftsanerkennung tatsächlich ausländerrechtliche Vor-
teile nach sich gezogen hat und wenn – drittens – der
Anerkennende nicht der biologische Vater des Kindes
ist. Ich bin überzeugt, dass es uns damit gelingt, mit gro-
ßer Treffsicherheit gegen Missbrauchsfälle einzuschrei-
ten, und dass damit auf Dauer auch der Anreiz wegfallen
wird, sich an irgendeiner Ecke einen Scheinvater zu su-
chen.
Die Neuregelung ist damit auch im Interesse der „ehr-
lichen“ binationalen Familien: In der Sachverständigen-
anhörung ist mehr als deutlich geworden: Die Miss-
brauchsproblematik belastet das Verhältnis zwischen
diesen Familien und den Ausländerbehörden. Wenn wir
für Verdachtsfälle ein geordnetes Verfahren für eine ge-
naue und nachvollziehbare Prüfung haben, dann kommt
das auch den „ehrlichen“ Familien zugute. Denn nicht
zuletzt diese Familien sind die Leidtragenden, wenn
Missbrauchsfälle ein schlechtes Licht auf Vaterschafts-
anerkennungen werfen und es keine Möglichkeit zur
Aufklärung gibt. Dementsprechend haben sechs der
neun Sachverständigen unser Regelungskonzept im
Grundsatz begrüßt.
Unser Gesetz weist jetzt der Praxis einen guten Weg
für ein faires Verfahren zur Trennung der „echten“ Väter
von den „Scheinvätern“.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Für ein schärferes
Waffengesetz (Tagesordnungspunkt 12)
Petra Pau (DIE LINKE): Erstens. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen will ein schärferes Waffenrecht.
Sie hat dies beantragt, weil Gewaltdelikte zunehmen und
Konflikte immer häufiger mit Waffen ausgetragen wer-
den. Mit diesem Befund hat Bündnis 90/Die Grünen lei-
der recht. Deshalb nimmt Die Linke auch das Anliegen
des vorliegenden Antrags entsprechend ernst.
Zweitens. Bevor ich zu Details des Antrages spreche,
will ich etwas Grundsätzliches anmerken. In einer Ge-
sellschaft, in der das Recht des Stärkeren immer häufiger
mehr gilt als das Solidar-Prinzip, in einer Gesellschaft,
in der Krieg wider besseren Wissens als Politik gilt, in
einer solchen Gesellschaft ist Gewalt, auch private Ge-
walt, systematisch angelegt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14029
(A) (C)
(B) (D)
Drittens. Gegen diesen Widersinn hilft auch kein
schärferes Waffengesetz. Und genau das ist die Schwä-
che des Antrags der Grünen und ihrer Begründung. Kein
Messer, kein Baseballschläger und keine Kettensäge
sind a priori Totschläger oder Mörder. Ihr Verbot, sei es
zu bestimmten Zeiten oder an bestimmten Orten, wird
daher das eigentliche Problem nicht lösen.
Viertens. Die Linke lehnt die aktuellen Vorschläge der
Grünen deshalb nicht grundsätzlich ab. Das geltende
Waffenrecht hat Lücken. Es ermöglicht zu vielen, zu ein-
fach an Schusswaffen zu gelangen. Und es ist schwer zu
verfolgen, wer wann und wozu eine Schusswaffe erwarb
oder sich eine solche beschafft hat. Dieser Mangel birgt
tödliche Risiken.
Fünftens. Komplizierter wird es bei Gegenständen,
die nicht als Waffen gelten, aber als solche verwendet
werden könnten und auch verwendet werden. Jüngst gab
es in Berlin eine Schlacht, bei der Leute mit Forken und
Spaten aufeinander einhieben, wie seinerzeit im Bauern-
Krieg. Wollten wir diese „Waffen“ verbieten, müssten
wir sofort alle Baumärkte schließen.
Sechstens. Eine andere Überlegung zielt darauf, ge-
fährdete Orte frei von Waffen aller Art zu halten. Ham-
burg strebt das für Sankt Pauli an. Im Land Berlin wie-
derum wird überlegt, ob ein besonderes Großereignis,
wie jüngst die Fußball-WM oder demnächst die Leicht-
athletik-WM, einen solchen rechtlichen Bann rechtfer-
tigt. Darüber sollten wir ernsthaft diskutieren.
Siebtens. Wir sollten es uns auch dabei nicht zu ein-
fach machen und nicht in puren Aktionismus verfallen.
Mein Kollege Stadler von der FDP hat im Innenaus-
schuss gefragt: Wie wäre das, wenn er als Baseballspie-
ler durch Hamburg geht – in welcher Straße würde er ge-
feiert und in welcher Straße würde er verhaftet? Einmal
als Sportler, einmal als potenzieller Nazi?
Achtens. Grundsätzlich bleibt aber richtig: Alles, was
Waffen und Gewalt verherrlicht oder nur legitimiert,
kann nicht gut sein. Wenn Bündnis 90/Die Grünen nun
zu dieser Erkenntnis zurückfindet, dann wird sich Die
Linke dagegen nicht sperren. Im Gegenteil: Wir nehmen
den Grünen-Antrag für eine Änderung des Waffenrechts
gerne auf und an.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und
Beamten in den Ländern (Beamtenstatus-
gesetz – BeamtStG) (Tagesordnungspunkt 15)
Ralf Göbel (CDU/CSU): Nach vielfältigen und in-
tensiven Beratungen in der Föderalismuskommission ha-
ben wir im letzten Jahr die Föderalismusreform be-
schlossen. Einer der Bestandteile in dieser Reform war
die Veränderung der Gesetzgebungszuständigkeiten im
Beamtenrecht. Demzufolge regelt der Bund lediglich
den Status für alle Beamtinnen und Beamten der Länder
und der Gemeinden, wohingegen die Länder selber die
Kompetenz erhalten, den Bereich der Besoldung, Ver-
sorgung und Laufbahn für ihre Beamtinnen und Beam-
ten eigenständig zu regeln.
Das vorliegende Beamtenstatusgesetz stellt somit die
dienstrechtliche Klammerfunktion für alle Beamtinnen
und Beamten der Bundesrepublik Deutschland dar. Das
Ziel, das damit verfolgt wird, ist die Festlegung eines
einheitlichen Dienstrechtes durch beamtenrechtliche
Grundstrukturen, die für alle Beamtinnen und Beamten
gleichermaßen gelten. Daneben wollen wir mit diesem
Gesetz sicherstellen, dass Mobilität möglich ist beim
Wechsel des Dienstherrn, und wir wollen einen Rahmen
schaffen für ein modernes und einheitliches Personal-
management in der öffentlichen Verwaltung. Das Gesetz
gibt den Rahmen dafür, dass die Zukunftsfähigkeit des
öffentlichen Dienstes sichergestellt werden kann und
dass eine Anpassung an die sich wandelnden gesell-
schaftlichen und wirtschaftlichen Anforderungen mög-
lich ist.
Die Bundesgesetzgebungskompetenz für die Beam-
tinnen und Beamten der Länder und der Gemeinden
bezieht sich auf die Festlegung der wesentlichen Grund-
strukturen des Beamtenrechts. Hierzu gehören das We-
sen, die Voraussetzung und die Rechtsform der Begrün-
dung des Beamtenverhältnisses, die Arten, die Dauer
sowie die Nichtigkeits- und Rücknahmegründe des Be-
amtenverhältnisses sowie die Voraussetzungen und For-
men der Beendigung desselben. Ferner sind regelungs-
bedürftig das Institut der Abordnung und Versetzung der
Beamten zwischen den Ländern und zwischen dem
Bund und den Ländern sowie die Festlegung bestimmter
statusrechtlicher Pflichten und die Folgen ihrer Nicht-
erfüllung.
Das besondere Dienst- und Treueverhältnis, das die
Beamtinnen und Beamten gegenüber ihrem Dienstherrn
eingehen, fordert ferner, dass die Dienstpflichten, aber
auch die Rechte der Beamten durch das Statusgesetz
festgelegt werden.
Bei alledem ist zu berücksichtigen, dass die personal-
wirtschaftlichen Gestaltungsspielräume der Länder er-
halten bleiben. Insoweit war es notwendig und auch
sinnvoll, dass der Bundesgesetzgeber bei der Fassung
dieses Gesetzes eng mit den Bundesländern zusammen-
gearbeitet hat. Dies ist durch diesen Gesetzentwurf ein-
drucksvoll dokumentiert. Er gibt den Ländern vielfältige
Möglichkeiten, den vom Bundesgesetzgeber zu setzen-
den Rahmen auszufüllen.
Allerdings – auch das gehört zur Wahrheit – wurden
seitens der Innenpolitiker bei der Verabschiedung der
Föderalismusreform im vergangenen Jahr einige Beden-
ken an dieser Neukonstruktion des Beamtenrechtes gel-
tend gemacht. Wir kehren zumindest in Teilen zu einem
Rechtszustand zurück, der vor 1971 lag und der damals
als unbefriedigend erachtet worden ist. Die damaligen
Debatten, die im Deutschen Bundestag und im Bundes-
rat geführt worden sind, geben hierfür ein beredtes Bei-
spiel. Dennoch hat die überwältigende Mehrheit dieses
Hauses diese neue Konzeption der Verteilung der beam-
14030 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
tenrechtlichen Zuständigkeiten als richtig erachtet. Glei-
ches gilt für den Bundesrat.
In der zu dem Gesetz durchgeführten Anhörung sind
einige Kritikpunkte vorgetragen worden, auf die ich ein-
gehen will. Eine Forderung, die vielfältig an den Gesetz-
geber herangetragen worden ist, ist die Festlegung einer
Regelaltersgrenze im Beamtenstatusgesetz. Über die
rechtliche Notwendigkeit der Festlegung einer solchen
Regelaltersgrenze gibt es divergierende Auffassungen.
Im Einvernehmen mit den Ländern haben wir auf die
Festlegung einer Regelaltersgrenze im Beamtenstatusge-
setz verzichtet. Die Länder sind in Zukunft für die Ver-
sorgung der Beamtinnen und Beamten zuständig, und
insoweit ist es folgerichtig, dass auch sie die Verantwor-
tung für die Festlegung der Altersgrenze erhalten. Die
konkrete Festlegung des Ruhestandsalters gehört nach
meiner Auffassung nicht notwendigerweise zu den sta-
tusrechtlichen Grundstrukturen und bedarf damit nicht
der gesetzgeberischen Festlegung. Entscheidend ist die
Festschreibung der Regelung über das Ausscheiden aus
dem Beamtenverhältnis, und dafür genügt das „Errei-
chen einer Regelaltersgrenze“. Eine weitere Konkretisie-
rung ist aus meiner Sicht nicht notwendig.
Im Übrigen verweise ich darauf, dass wir in speziel-
len Laufbahnen schon seit vielen Jahren besondere
Altersgrenzen haben, die von Land zu Land unterschied-
lich festgelegt sind. Die Unterschiede gehen beispiels-
weise im Polizeibereich so weit, dass mein Bundesland
Rheinland-Pfalz, differenziert nach Laufbahngruppen,
die besondere Altersgrenze zwischen 62 und 65 Jahren
festgelegt hat, wohin dagegen der Bund und andere Bun-
desländer bei Polizeibeamten noch die Regelaltersgrenze
von 60 sehen. Insoweit bleibt es also der jeweiligen Ver-
antwortung des Landesgesetzgebers überlassen, wann er
seinen Beamtinnen und Beamten den Eintritt in den Ru-
hestand ermöglicht.
Ein zweiter Kritikpunkt, dessen Bedeutung nicht
unterschätzt werden darf, ist die Anerkennung der Lauf-
bahnbefähigung. Wir haben keine Regelung der gegen-
seitigen Anerkennung von Laufbahnbefähigungen fest-
gelegt. Derzeit finden in den meisten Bundesländern,
aber auch beim Bund Überlegungen zur Reform des
Laufbahn- und Besoldungsrechts statt. Es ist derzeit
noch nicht konkret absehbar, wohin sich das Laufbahn-
recht entwickeln wird. Nach Art. 74 Abs. l Nr. 27
Grundgesetz liegt die Gesetzgebungskompetenz hier bei
den Bundesländern. Es wird genau zu beobachten sein,
wie sich das Laufbahnrecht entwickelt. Gegebenenfalls
muss hier nachgesteuert werden, um die Mobilität der
Beamtinnen und Beamten innerhalb der öffentlichen
Dienstherren der Bundesrepublik Deutschland zu er-
möglichen.
Wechselt eine Beamtin oder ein Beamter von einem
Dienstherrn zu einem anderen, müssen sich die Dienst-
herren über die Verteilung der Versorgungslasten eini-
gen. Eine gesetzliche Regelung über das Verhältnis der
Verteilung der Versorgungslasten zwischen dem abge-
benden und dem aufnehmenden Dienstherrn ist aus mei-
ner Sicht entbehrlich. Die Beteiligten müssen sich bei ei-
nem Wechsel des Dienstherrn über die Aufteilung der
Versorgungslasten einig werden. Insoweit halte ich
– auch wegen der Zuständigkeit der Länder für die Ver-
sorgung – eine gesetzgeberische Regelung im Beamten-
statusgesetz für entbehrlich.
Am Ende wurde kritisch die Vorschrift über die Ne-
bentätigkeiten der Beamten betrachtet. Ich halte es für
grundsätzlich erforderlich, dass auch im Beamtenstatus-
gesetz deutlich gemacht wird, dass es sich beim Beam-
tenverhältnis um ein Dienstverhältnis mit besonderen
Rechten und Pflichten handelt. Zwar ist der Gesetzestext
sprachlich etwas modernisiert wurden, am Ende gilt aber
weiterhin, dass das Beamtenverhältnis die Beamtin oder
den Beamten zur vollen Hingabe an den Beruf verpflich-
tet. Insoweit können Nebentätigkeiten der Beamtinnen
und Beamten nicht die Regel sein, sondern sie müssen
als Ausnahme betrachtet werden. Wir haben deshalb ein
Modell gewählt, in dem die Nebentätigkeiten als grund-
sätzlich anzeigepflichtig angesehen werden, dem Dienst-
herrn aber vorbehalten ist, einen Erlaubnis- oder
Verbotsvorbehalt dann auszusprechen, wenn die Neben-
tätigkeit geeignet ist, dienstliche Interessen zu beein-
trächtigen.
Mit dieser gesetzgeberischen Regelung sind wir, so
meine ich, den Anforderungen an den Gesetzgeber ge-
recht geworden. Wir wollten keine übermäßige Bürokra-
tisierung, andererseits mussten wir aber auch sicherstel-
len, dass Nebentätigkeiten, die geeignet sind, dienstliche
Interessen zu beeinträchtigen, vom Dienstherrn unter-
sagt werden können. Mit der hier gefundenen Lösung
haben wir den richtigen Ansatz gewählt.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Mit dem Beamten-
statusgesetz haben wir einen guten Rahmen gesetzt, um
die Fortentwicklung des Beamtenrechts in Deutschland
durch die Dienstherren der Länder und der Gemeinden
zu ermöglichen. Wir sind damit dem Auftrag aus der
Föderalismusreform nachgekommen und haben zur
Konkretisierung dieses Verfassungsauftrages einfach ge-
setzlich einen weiten Rahmen gesetzt, indem die Bun-
desländer nun aufgefordert sind, die ihnen übertragenen
Gesetzgebungsbefugnisse auszufüllen. Es liegt nun an
den Ländern und an den Gemeinden, für ihre Beamtin-
nen und Beamten maßgeschneiderte und attraktive Re-
gelungen zu entwickeln, die eine gute und erfolgreiche
Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstes in der Bun-
desrepublik Deutschland ermöglichen.
Ich bedanke mich am Ende bei allen Beteiligten an
diesem bisweilen schwierigen Diskussionsprozess für
die konstruktiven Beiträge und Beratungen.
Siegmund Ehrmann (SPD): Durch die Föderalis-
musreform ist die Rahmenkompetenz des Bundes zum
Erlass des Beamtenrechtsrahmengesetzes (BRRG) ent-
fallen. Stattdessen hat der Bund jetzt nur noch eine kon-
kurrierende Gesetzgebungsbefugnis zur Regelung der
Statusrechte und -pflichten der Angehörigen des öffent-
lichen Dienstes der Länder, Gemeinden und anderen
Körperschaften des öffentlichen Rechts, die in einem
Dienst- und Treueverhältnis stehen. Die Kompetenz er-
streckt sich nicht auf Laufbahnen, Besoldung und Ver-
sorgung. Mit dem Entwurf eines Beamtenstatusgesetzes
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14031
(A) (C)
(B) (D)
wird von dieser Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch ge-
macht, wobei das Gesetz der Zustimmung des Bundes-
rats bedarf.
Vorgesehen ist eine Vereinheitlichung und Moderni-
sierung der statusrechtlichen Grundstrukturen, um die
Mobilität insbesondere bei einem Dienstherrnwechsel zu
gewährleisten. Dazu gehören Wesen, Voraussetzungen,
Rechtsform der Begründung, Arten, Dauer sowie Nich-
tigkeits- und Rücknahmegründe des Beamtenverhältnis-
ses; Abordnungen und Versetzungen der Beamtinnen
und Beamten zwischen den Ländern und zwischen dem
Bund und den Ländern, Zuweisung einer Tätigkeit bei
anderen Einrichtungen und länderübergreifende Umbil-
dung von Körperschaften; Voraussetzungen und Formen
der Beendigung des Beamtenverhältnisses; statusprä-
gende Pflichten der Beamtinnen und Beamten und
Folgen der Nichterfüllung; wesentliche Rechte der Be-
amtinnen und Beamten; Bestimmung der Dienstherrnfä-
higkeit; Spannungs- und Verteidigungsfall und Verwen-
dungen im Ausland.
Zur Berücksichtigung ihrer regionalen Besonderhei-
ten werden den Ländern Gestaltungsspielräume einge-
räumt.
Das Beamtenrechtsrahmengesetz (BRRG) wird mit
Inkrafttreten des Beamtenstatusgesetzes weitgehend auf-
gehoben. Kapitel II und § 135 BRRG bleiben zunächst
bestehen und gelten nach Art. 125 a GG als Bundesrecht
fort. Diese Vorschriften betreffen die einheitlich und un-
mittelbar geltenden Regelungen des BRRG, die für die
Länder bereits weitgehend, aber noch nicht vollständig
im Beamtenstatusgesetz enthalten sind und für den Bund
bis zur Novellierung des Bundesbeamtengesetzes bzw.
für die Länder bis zum Erlass eigener Vorschriften wei-
tergelten.
Bei der Anhörung im Innenausschuss wurden von den
Sachverständigen und Interessenvertretern teilweise
weitergehende Regelungen des Beamtenstatusgesetzes
vorgeschlagen. Würden diese Vorschläge übernommen,
müsste damit gerechnet werden, dass der Bundesrat dem
Gesetzentwurf nicht zustimmte, weil die Länder im Ver-
lauf des Gesetzgebungsverfahrens mehrfach deutlich ge-
macht haben, dass sie eine Einschränkung ihrer Gestal-
tungsspielräume mehrheitlich nicht hinnehmen werden.
Der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen im In-
nenausschuss beschränkt sich deshalb auf Regelungen,
die vom Bundesrat gewünscht wurden oder sonst mit
mehrheitlicher Zustimmung der Länder rechnen können.
Der Deutsche Beamtenbund vertritt allerdings die
Auffassung, dass der Bund verpflichtet sei, seine Gesetz-
gebungsbefugnis weiter auszudehnen, als es in dem vor-
liegenden Entwurf vorgesehen sei. Dabei handelt es sich
allerdings um den untauglichen Versuch, die Kompe-
tenzvorschriften des Grundgesetzes durch eine Berufung
auf Art. 33 Abs. 5 GG auszuhebeln. Festzuhalten bleibt,
dass sich diese Vorschrift an Bund und Länder richtet,
die sie jeweils bei der Regelung des Beamtenrechts in ih-
rem Zuständigkeitsbereich zu beachten haben. Wer zur
Gesetzgebung berufen ist, ergibt sich hingegen nicht aus
dieser Vorschrift, sondern aus den kompetenzrechtlichen
Regelungen des Grundgesetzes. Das Beamtenstatusge-
setz beruht auf einer konkurrierenden Gesetzgebungsbe-
fugnis des Bundes, was nichts anderes bedeutet, als dass
der Bund zur Gesetzgebung zwar befugt, aber nicht ver-
pflichtet ist. Deshalb kann der Bund bei der Inanspruch-
nahme der Gesetzgebungsbefugnis selbstverständlich
auch weniger regeln als er regeln dürfte. Wegen der Zu-
stimmungsbedürftigkeit bleibt ihm auch gar nichts ande-
res übrig, als sich insoweit nach den mehrheitlichen
Wünschen der Länder zu richten.
Dr. Max Stadler (FDP): Mit dem Beamtenstatusge-
setz macht sich der Bundesgesetzgeber in Sachen Beam-
tenrecht noch kleiner, als er es nach der Föderalismusre-
form ohnehin schon ist. Es wird nicht einmal ansatzweise
der Versuch unternommen, die verbliebene Kompetenz
auszuschöpfen. Die Bundesregierung und in ihrem
Schlepptau die Koalitionsfraktionen drücken sich um die
Beantwortung zentraler Fragen schlichtweg herum.
Was ist eine in Berlin erworbene Laufbahnbefähigung
in Bayern wert? Welcher Dienstherr hat in welcher Höhe
für die Versorgung aufzukommen, wenn ein Beamter
von Baden-Württemberg nach Nordrhein-Westfalen
wechselt? Mit diesem Gesetz, liebe Kolleginnen und
Kollegen von CDU/CSU und SPD, betreiben Sie Klein-
staaterei. Sie sind dabei, das Berufsbeamtentum zu pro-
vinzialisieren. Damit machen Sie es gerade solchen Be-
amtinnen und Beamten schwer, die mobil sind, die bereit
sind, für eine neue berufliche Herausforderung erforder-
lichenfalls ihren Wohnsitz auch in ein anderes Bundes-
land zu verlegen, oder die einfach nur den Wunsch ha-
ben, ihrem Partner an einen anderen Ort zu folgen. Für
viele Beamtinnen und Beamte wird sich das Gesetz als
Klotz am Bein, als echtes Mobilitätshemmnis erweisen.
Ich sehe hier erheblichen gesetzgeberischen Nachbes-
serungsbedarf auf den Deutschen Bundestag zukommen.
Auch im Innenausschuss haben Sie auf die anstehen-
den Fragen keine Antworten gegeben. Die Frage, wer für
die Versorgung aufkommt, soll im Einzelfall entschieden
werden. Die Frage der Anerkennung von Laufbahnbefä-
higungen soll erneut aufgerufen werden, wenn die Län-
der ihr Laufbahnrecht geregelt haben. Auf diese Weise
lassen Sie den Langsamsten das Tempo bestimmen. Das
kann man beim Sonntagsspaziergang machen. Das darf
aber nicht Handlungsmaxime zur Regelung des Status-
rechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern und
Gemeinden sein. Hier kommt dem Bundesgesetzgeber
die Funktion zu, gemeinsame Maßstäbe für die Zukunft
des Berufsbeamtentums zu setzen. Art. 33 Abs. 5 des
Grundgesetzes weist dem Bundesgesetzgeber im ge-
samtstaatlichen Interesse eine vorrangige Verantwortung
für die Funktionsfähigkeit des Berufsbeamtentums zu.
Es ist danach Aufgabe des Bundesgesetzgebers, einheit-
liche Grundstrukturen für alle Dienstherren zu schaffen
und die verfassungsrechtlichen Vorgaben durch gesetz-
geberische Entscheidungen auszufüllen. Diesen Anfor-
derungen wird das Beamtenstatusgesetz nicht annähernd
gerecht.
Aus liberaler Sicht ist ein weiterer wichtiger Punkt
zu kritisieren: das Fehlen eines Leitbildes. Wie soll das
Berufsbeamtentum der Zukunft aussehen? In welchen
14032 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
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Bereichen und bei der Erledigung welcher Aufgaben
sollen auch zukünftig Beamtinnen und Beamte zum
Einsatz kommen? Was ist mit der Aufgabe des Beam-
tenrechts, politisch motivierte Personalentwicklung zu
verhindern? Wie geht es weiter mit den verfassungs-
rechtlichen Rahmenbedingungen im Besoldungs- und
Versorgungsrecht? Hierauf gibt das Gesetz keine Ant-
worten. Eine Festlegung der Funktion des Berufsbeam-
tentums unterbleibt. Eine statusrechtliche Absicherung
der Alimentation fehlt. Ebenso fehlen eine Absiche-
rung des Anspruchs auf Teilhabe an der allgemeinen
Einkommensentwicklung und eine Verankerung des
Grundsatzes, dass die Rechtsstellung der Beamtinnen
und Beamten nur durch Gesetz oder aufgrund eines Ge-
setzes geregelt werden kann.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Uns geht es
nicht um Redundanz. Wir sehen aber die Gefahr, dass
der hier praktizierte gesetzgeberische Minimalismus
ganz schnell auch in einen beamtenpolitischen Relativis-
mus umschlagen kann. Hierauf wurde bereits in der
Sachverständigenanhörung hingewiesen. Aus dem Ge-
setz wird nicht klar, warum wir überhaupt noch Beam-
tinnen und Beamte brauchen. Das ist Wasser auf die
Mühlen derer, die das Berufsbeamtentum am liebsten
gleich ganz abschaffen würden. Das ist nicht der Weg
der FDP. Wir bekennen uns zum Berufsbeamtentum und
wollen es durch eine Konzentration auf Kernbereiche
stärken. Ein solches Bekenntnis hätten wir uns auch von
den Koalitionsfraktionen gewünscht. Dem Statusgesetz
ist ein solches Bekenntnis nicht zu entnehmen. Auch
deshalb werden wir es ablehnen.
Petra Pau (DIE LINKE): Mit der sogenannten Föde-
ralismusreform I wurden die Kompetenzen zwischen der
Bundesebene und den Bundesländern neu geregelt – im
Wesentlichen zugunsten der Bundesländer. Das hat Fol-
gen, zum Beispiel auch für Beamtinnen und Beamte und
deren Status. Im schlimmsten Fall bekommen wir
17 verschiedene Grundsatzregelungen für Beamtinnen
und Beamte, je nachdem ob sie beim Bund eingesetzt
sind oder in welchem der 16 Bundesländer. Die Landes-
regelungen wiederum können je nach politischer Cou-
leur oder Kassenlage höchst unterschiedlich sein. Noch
verwirrender kann es werden, wenn Beamtinnen oder
Beamte ihren Dienstsitz wechseln wollen oder müssen,
etwa von der Bundesebene in ein Bundesland oder von
einem Land in ein anderes oder von einer öffentlichen
Einrichtung in ein privatisiertes Unternehmen. Die erste
Frage, die heute per Gesetz beantwortet werden muss, ist
also: Lassen sich bundeseinheitliche Regelungen finden,
die eine unübersichtliche Kleinstaaterei verhindern? Die
zweite Frage, die jede Fraktion beantworten muss, heißt:
Sind diese bundeseinheitlichen Regelungen ausreichend
und gut?
Die Fraktion Die Linke kommt zu dem Schluss: Das
vorliegende Gesetz ist weder ausreichend noch gut. Wir
werden es also ablehnen. Nun ist das – wie immer – eine
Frage der Perspektive. Die einen gucken eher durch die
Brille der Dienstherren oder -frauen. Die anderen fragen:
Was bedeutet das Gesetz für die betroffenen Beamtinnen
und Beamten? Die Linke hat sich beide Fragen gestellt,
aber vorrangig natürlich die nach den Auswirkungen für
Beamtinnen und Beamte. Und da ihr Status mit diesem
Gesetz und mit den darin enthaltenen Regelungen nicht
besser, sondern eher noch unsicherer und schlechter
wird, werden wir mit Nein stimmen. Die Linke hat im
Innenausschuss versucht, das vorliegende Gesetz noch
zu verbessern. Aber unser Antrag wurde abgelehnt, wie
zu erwarten von der Unionsfraktion und von der SPD;
leider auch von der FDP, auch sie hatte die Brille der
Dienstherren auf und nicht die Beamtinnen und Beamten
im Blick. Wir bedauern das.
Nun will ich an zwei Beispielen illustrieren, warum
das Gesetz schlecht ist. Erstes Stichwort: Versorgungs-
bezüge. Sie werden von Land zu Land unterschiedlich
gehandhabt. Allein das ist problematisch. Noch proble-
matischer wird es, wenn eine Beamtin oder ein Beamter
von einem Bundesland in ein anderes wechselt oder ver-
setzt wird. Wie dann mit den erworbenen Versorgungs-
ansprüchen umgegangen wird, das muss zwischen den
einzelnen Bundesländern ausgehandelt und per Staats-
vertrag fixiert werden. Jedes Bundesland muss also mit
jedem anderen Bundesland einen entsprechenden Ver-
trag abschließen. Ich bitte allein mal den bürokratischen
Aufwand zu beachten. Wie und nach welchen Modalitä-
ten diese Staatsverträge ausgehandelt werden, das klärt
derzeit eine Kommission. In dieser Kommission sind
ausschließlich die sogenannten Geberländer, also die rei-
cheren Bundesländer, vertreten. Sie sitzen damit gegen-
über den ärmeren Ländern am längeren Hebel. Man
kann sich ausrechnen, wohin das fuhrt.
Das 1990 im Zuge der Vereinigung eingeführte Soli-
darprinzip bei der Teilung der Versorgungskosten wird
mit diesem Gesetz wieder abgeschafft. Die Kleinstaate-
rei im Beamtenrecht führt noch zu weiteren Problemen.
Sie drohen zumindest, und sie werden durch dieses Ge-
setz nicht gebannt. Auch sie gehen auf Kosten der Be-
amtinnen und Beamten.
Stichwort: Laufbahnbefähigung. Wer als Beamtin
oder Beamter die Dienststelle wechselt oder wechseln
muss, läuft nämlich Gefahr, dass seine bisher erworbene
Befähigung und damit seine Laufbahnchancen beim
neuen Arbeitgeber nicht mehr anerkannt werden. Das
hätte man anders regeln können und – wie Die Linke fin-
det – müssen.
Stichwort: Versetzungen. Dem Gesetz liegt das er-
klärte Ziel zugrunde, die Mobilität von Beamtinnen und
Beamten zu erhöhen. Dieses Ziel wird es auch erreichen,
indem die Rechte der Beamtinnen und Beamten kleiner
und die Rechte der Dienststellen größer geschrieben
werden als bisher. Per Gesetz wird Mitbestimmung ab-
gebaut; auch das kritisieren wir.
Schließlich: Zur Kleinstaaterei gehört auch, dass je-
des Land eine unterschiedliche Altersregel einführen
kann, ab wann Beamtinnen und Beamte in den Ruhe-
stand gehen können. Auch das wird für viel Unruhe und
Unsicherheit sorgen. Kurzum: Die Verhältnisse für Be-
amtinnen und Beamte werden mit diesem Gesetz nicht
besser, sondern schlechter.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Was wir heute erleben, ist die Beerdigung eines
großen Reformvorhabens. Das Eckpunktepapier zur Re-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14033
(A) (C)
(B) (D)
form des öffentlichen Dienstrechtes ist in den Schubla-
den verschwunden, die politischen Ziele – mehr Mobili-
tät, mehr Leistung, mehr Durchlässigkeit – sind zu
Grabe getragen worden. Wieder einmal bestätigt sich:
Das Beamtenrecht ist in Deutschland nicht grundlegend
reformierbar.
Die Föderalismusreform I hat die Kompetenz des
Bundes für die Beamten weitgehend abgeschafft und ein
Loch gerissen, das die Länder bis heute nicht gestopft
haben. Es waren die Ministerpräsidenten und die Finanz-
minister, die unbedingt die Kompetenz haben wollten.
Jetzt können und wollen die Innenminister die Verant-
wortung nicht tragen, und vor wichtigen Landtagswah-
len will es sich niemand mit den Beamten verderben.
Noch hat kein Bundesland ein eigenes Gesetz geschaf-
fen.
Der Bund ist nicht bereit, eine weitgehende Rahmen-
gesetzgebung vorzulegen; er beschränkt sich auf das un-
bedingt Erforderliche. Die ohnehin schon geringe Kom-
petenz des Bundes wird nicht genutzt. In dieser
organisierten Verantwortungslosigkeit bleiben Moderni-
tät und Reformziele zwangsläufig auf der Strecke.
Bei so viel Unwillen nützt auch eine Anhörung we-
nig. Die vielen wichtigen und produktiven Hinweise, die
wir in der Anhörung im März dieses Jahres gehört ha-
ben, wurden auch in den Änderungsanträgen in keiner
Weise aufgenommen. Wenn man nicht handeln will, hel-
fen die besten Anregungen nichts.
Die Entscheidungen der Föderalismusreform I haben
wir nicht begrüßt. Wir sahen den Rückfall in die Klein-
staaterei und sehen uns heute bestätigt. Danach haben
wir Grünen uns stets für eine starke Rahmengesetzge-
bung, die die Mobilität der Beamten sichert, eingesetzt.
Hierzu gehört für uns, sicherzustellen, dass bei einem
Dienstherrenwechsel über Länder- und Kommunengren-
zen hinaus eine wechselseitige Anerkennung der Zulas-
sung zum Vorbereitungsdienst und der Laufbahnbefähi-
gungen erfolgt. Im Gesetz findet man hierzu nichts.
Wir standen und stehen auch dafür, dass der öffentli-
che Dienst geöffnet und ein Quereinstieg erleichtert wer-
den muss. Hierzu gehört, dass es die Möglichkeit für Be-
werberinnen und Bewerber gibt, die die erforderliche
Befähigung für ein Amt durch Lebens- und Berufserfah-
rung außerhalb des öffentlichen Dienstes erworben ha-
ben, in das Beamtenverhältnis aufgenommen werden zu
können. Auch hierzu finden wir hier nichts im Entwurf
von Schwarz-Rot.
Lassen Sie mich abschließend noch einen Punkt an-
sprechen, der mir ganz besonders am Herzen liegt. Die
Förderung der Familie ist ein Thema, das noch nicht
wirklich in der Union angekommen ist. Vielleicht kann
Frau von der Leyen dem Bundesinnenminister Schäuble
behilflich sein, in der Realität der modernen, jungen Fa-
milienwelt anzukommen. Vielleicht hätte dann die Rege-
lung eine Chance, dass Elternteile, die sich im Mutter-
schutz oder Elternzeit befinden, hierdurch nicht bei der
Einstellung benachteiligt werden. Wir haben uns jeden-
falls im Innenausschuss für eine solche Regelung einge-
setzt.
Man kann nur feststellen: Der Bund hat die Chance
vertan, ein Rahmengesetz vorzulegen, an dem sich die
Länder orientieren können. Das Beamtenrecht bleibt
eine Baustelle, die für die Große Koalition ganz offen-
sichtlich eine Nummer zu groß ist.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung der Anträge:
– Wiedererrichtung des Berliner Schlosses –
Bau des Humboldt-Forums im Schlossareal
Berlin – Rekonstruktion der historischen
Fassaden sicherstellen
– Humboldt-Forum statt Fassadenschloss –
Schlossplatz mit Zukunftsorientierung
(Tagesordnungspunkt 17 a und b)
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Mit dem von der
Fraktion Die Linke in den Bundestag eingebrachten An-
trag mit dem Titel „Humboldt-Forum statt Fassaden-
schloss – Schlossplatz mit Zukunftsorientierung“ wird
die Bundesregierung aufgefordert, den Architekturwett-
bewerb auch für zeitgenössische bauliche Lösungen zu
öffnen und von der zwingenden Vorgabe einer Rekon-
struktion des ehemaligen barocken Stadtschlosses Ab-
stand zu nehmen.
Die Linke sieht in dem Bauvorhaben eine große
Chance, das Humboldt-Forum zu einem modernen Be-
gegnungszentrum für die Berlinerinnen und Berliner so-
wie allen in- und ausländischen Besuchern zu machen,
in dem sich Kultur, Naturwissenschaft und ein intensiver
Ideenaustausch zu einer kulturellen und wissenschaftli-
chen Nutzung vereinen.
Lediglich ein Museum innerhalb einer Schlossat-
trappe aufzubauen, wird dem herausragenden Standort
im Zentrum Berlins nicht gerecht, ist einfallslos und ein-
fach zu wenig in die Zukunft gewandt. Ohne ein schlüs-
siges Nutzungskonzept ist die Entscheidung über die
Gestaltung des Humboldt-Forums einschließlich der Fi-
nanzierung ohnehin unverantwortlich und ohne demo-
kratische Legitimation. Die Linke fordert die Bundesre-
gierung auf, ein Konzept über die zukünftige Nutzung
des Humboldt-Forums dem Bundestag vorzulegen. Die
Linke bekennt sich zum Humboldt-Forum, lehnt aber die
geplante Schlosskopie sehr energisch ab.
Der Versuch, die Schlossfassadenkopie mit Spenden
zu finanzieren, ist nach wie vor als gescheitert anzuse-
hen. Damit entfällt aber auch die wesentliche Grundlage
für die Entscheidung des Bundestages vom 4. Juli 2002.
In der Debatte zum Stadtschlossantrag der FDP hatte be-
reits meine Kollegin Gesine Lötzsch nachgefragt, ob je-
mand wisse, dass der Verein bereits circa 14 Millionen
Euro Spenden gesammelt habe? Die Antwort war Nein.
Hat die Bundesregierung mittlerweile Einsicht in die Bü-
cher des Vereins bekommen?
Aber natürlich gibt es schon einen Plan B: Wenn die
Spenden nicht kommen, dann soll die öffentliche Hand
14034 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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einspringen. Ich will noch einmal daran erinnern: Der
Haushaltsausschuss hat die Finanzplanung für das
Schloss schon einmal als mangelhaft zurückgewiesen.
Das Schloss soll – nach Aussagen der Bundesregierung –
480 Millionen Euro kosten. 80 Millionen Euro sollen
durch Spenden gesammelt werden. Herr Tiefensee will
nun plötzlich auch noch 72 Millionen Euro für die Erst-
ausstattung des Gebäudes haben. Davon war bisher nie
die Rede. Falls der Schlüterhof des Humboldt-Forums
überdacht werden sollte – was zunächst nicht geplant
ist –, würden sich die Kosten sogar noch um bis zu
50 Millionen Euro erhöhen. Die Gesamtkosten würden
dann sogar 600 Millionen Euro erreichen. Wir nähern
uns damit den früher einmal genannten Kosten von
670 Millionen Euro.
Der Beschluss des Deutschen Bundestags vom 4. Juli
2002, die historischen Fassaden wiederherzustellen, ba-
siert auf der Zusage eines privaten Vereins, die dafür nö-
tigen 80 Millionen Euro durch Spenden aufzubringen.
Dieses Versprechen wird nicht eingehalten; davon kann
man mit Sicherheit ausgehen. Für die Linke ist der Be-
schluss des Bundestags damit ohne Grundlage und zu
korrigieren. Die Linke lehnt die Finanzierung der Kopie
der Schlossfassade aus öffentlichen Mitteln ab. Wir for-
dern die Bundesregierung auf, den Architekturwettbe-
werb für eine Untersuchung zeitgenössischer baulicher
Lösungen zu öffnen und von der zwingenden Vorgabe
der Rekonstruktion der Fassaden, der Höfe und der Kup-
pel Abstand zu nehmen. Der Entwurf von David
Chipperfield für das neue Eingangsgebäude der Mu-
seumsinsel zeigt, zu welchen herausragenden gestalteri-
schen Leistungen eine sensible zeitgenössische Archi-
tektur in der Lage ist.
Die Mitglieder des Deutschen Bundestages sollten die
Ablehnung der Bevölkerung zur Kenntnis nehmen und
sich mehr der Zukunft, weniger der Vergangenheit zu-
wenden. Sie stünden an der Seite unter anderem von
Axel Schultes, dem Erbauer des Bandes des Bundes,
György Konrad, Präsident der Akademie der Künste,
dem sozialdemokratischen Urgestein und langjährigen
Präsidenten der Bundesarchitektenkammer Peter
Conradi und David Chipperfield, der zur Kritik seines
breit gerühmten Entwurfes für den Eingang zur Mu-
seumsinsel sagt: „Diese Nostalgiker sehen Geschichte
als Hollywoodfilm und wollen eine scheinechte Wieder-
herstellung – das ist heute nicht mehr glaubwürdig.“
Wortgleich lässt sich dieses Zitat auf die Schlossfraktion
dieses Hauses beziehen.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes (Tagesord-
nungspunkt 16)
Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Heute ist ein gro-
ßer Tag für Deutschland, ein großer Tag für Europa und
vor allem ein großer Tag für die Bürger Europas. In Lis-
sabon wurde von den 27 Staats- und Regierungschefs
der Europäischen Union der EU-Reformvertrag unter-
zeichnet. Dies ist ein historischer Erfolg. Die Phase der
Stagnation in Europa ist damit vorbei. Unter der deut-
schen Ratspräsidentschaft wurde ein wichtiger Schritt
getan, um die Europäische Union auf ein neues institutio-
nelles Fundament zu stellen.
Dies ist ein ganz besonderes Verdienst unserer Bun-
deskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. Zu Recht hat der
derzeitige EU-Ratspräsident, Portugals Regierungschef
José Sócrates, festgestellt, „dass nur wegen des Einsat-
zes von Angela Merkel dieser Prozess erfolgreich war,
die das Mandat für die Vertragsverhandlungen ausgehan-
delt hat, ohne das alles nicht möglich gewesen wäre.“ An
dieser Stelle darf ich sagen, wir können stolz sein auf un-
sere Bundeskanzlerin.
Auf Regierungskonferenzen wurden 1986 die Ein-
heitliche Europäische Akte, 1992 der Maastricht-Ver-
trag, 1997 der Vertrag von Amsterdam und 2001 der
Vertrag von Nizza ausgearbeitet. Rein formal ist auch
der Vertrag von Lissabon ein solcher Änderungsvertrag.
In der Sache wurde dadurch jedoch eine Neuausrichtung
und eine Neubegründung der Europäischen Union ange-
stoßen, nachdem der sogenannte Verfassungsvertrag
nach den Volksabstimmungen in den Niederlanden und
in Frankreich noch gescheitert war.
Bevor ich mich zum vorliegenden Gesetzentwurf der
Linken äußere, möchte ich zunächst noch fünf Punkte
hervorheben, die deutlich machen, warum der Vertrag
von Lissabon für jeden Einzelnen von uns ein Gewinn
ist:
Erstens. Der Vertrag bringt ein Mehr an Demokratie.
Einerseits werden die nationalen Parlamente früher in
die europäische Gesetzgebung einbezogen, andererseits
haben die nationalen Parlamente die Möglichkeit, die Ein-
haltung des Subsidiaritätsprinzips zu rügen und – wenn
nötig – per Subsidiaritätsklage vom Europäischen Ge-
richtshof überprüfen zu lassen. Auch das europäische
Parlament gewinnt erheblich an Bedeutung. Das Mitent-
scheidungsverfahren wird zum Regelfall. Europäisches
Parlament und Rat werden damit zu weitgehend gleich-
berechtigten Gesetzgebern.
Zweitens. Die Zuständigkeiten der EU können über-
sichtlicher gestaltet werden. Wie bislang auch werden
sie in drei Kategorien eingeteilt. Zu diesen Zuständig-
keitsbereichen gibt es jeweils Zuständigkeitskataloge. In
Art. 48 sieht der Vertrag erstmals ausdrücklich die Mög-
lichkeit vor, Zuständigkeiten von der EU auf die Mit-
gliedstaaten zurückzuübertragen.
Drittens. Durch das Prinzip der doppelten Mehrheit
werden endlich das Einstimmigkeitsprinzip auf das Not-
wendige eingeschränkt und Mehrheitsentscheidungen
begünstigt. So wird die Handlungsfähigkeit der Europäi-
schen Union gesteigert.
Viertens. In der Gemeinsamen Außen- und Sicher-
heitspolitik wird künftig die „verstärkte Zusammenar-
beit“ einer Gruppe von Mitgliedstaaten möglich sein.
Fünftens. Die Einsetzung eines künftig auf zweiein-
halb Jahre ernannten Kommissionspräsidenten und eines
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14035
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Hohen Vertreters für Außenpolitik wird mehr Kontinui-
tät an die Spitze der Europäischen Union bringen.
All diese Veränderungen waren notwendig, um die
Europäische Union trotz massiver Veränderungen, wie
die Osterweiterung, funktions- und handlungsfähig zu
machen.
Die Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die
Linke wollen mit Ihrem Gesetzentwurf nun das Grundge-
setz ändern, damit per Volksentscheid über den Vertrag
von Lissabon entschieden werden kann. Was sie damit be-
absichtigen, ist nur vermeintlich eine Einzelfallentschei-
dung. Tatsächlich geht es hier jedoch um eine verfas-
sungsrechtliche und politische Grundsatzfrage, nämlich
ob unsere parlamentarische Demokratie in eine direkte
Demokratie umwandelt werden soll. Auch wenn sie
Volksentscheide nur bezüglich der vertraglichen Grund-
lagen der Europäischen Union einführen möchten, so
hätte dies massive Auswirkungen auf die verfassungs-
rechtliche Struktur unseres Staates. Deshalb muss diese
Frage mit großem Ernst und sachorientiert diskutiert
werden. Sie haben allerdings nur ein einziges Argument,
das sie in der Sache vorbringen. Sie behaupten, dass sich
eine demokratische Legitimation der EU nur dadurch
herstellen ließe, dass Bürgerinnen und Bürger durch ei-
nen Volksentscheid über den Lissabon-Vertrag beteiligt
würden. Sie sagen, dass eine Ratifikation durch den
Bundestag, den Bundesrat und den Bundespräsidenten
nicht ausreiche. Damit fordern sie die Einführung der so-
genannten direkten Demokratie.
Auf den ersten Blick scheint die Forderung nach mehr
direkter Demokratie legitim zu sein. Befürworter von
Volksentscheiden sprechen gerne von der wahren Demo-
kratie, unverfälscht von Parteiinteressen, Machterhalt
und Lobbyismus. Diese Vorstellung kann jedoch einer
Überprüfung anhand von Argumenten, Fakten und Er-
fahrungen nicht standhalten. Vielmehr erweist sie sich
als eine – allzu romantische – Verklärung der Realität.
Ich sage: Die direkte Demokratie ist nicht die bessere
Demokratie. Durch Volksabstimmungen erreichte Ent-
scheidungen setzen den Willen der Bevölkerung qualita-
tiv nicht besser um als Entscheidungen durch das Parla-
ment. Auch bei einem Volksentscheid wird sich das Volk
nie einheitlich äußern. Auch bei einem Volksentscheid
repräsentiert die Mehrheit das Ganze. Es gibt also auch
bei der direkten Demokratie starke Elemente der reprä-
sentativen Demokratie. Die Bezeichnung der direkten
Demokratie als „wahre Demokratie“ ist verfehlt und ent-
spricht damit nicht den Tatsachen.
Außerdem ist es ein Irrglaube, dass die direkte Demo-
kratie zu besseren Gesetzen führt. Das Verfahren der Ge-
setzgebung per Volksentscheid ist ja im Prinzip ein sehr
primitives Verfahren. Der Initiator des Volksentscheides
stellt eine Frage. Der Bürger hat dann lediglich die Mög-
lichkeit, mit Ja oder Nein zu antworten. Bei der parla-
mentarischen Demokratie ist es anders. Wir haben ein
„lernendes Verfahren“ – das heißt, dass grundsätzlich
kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es hineinge-
gangen ist. Es gibt mehrere Lesungen, dazu kommt die
intensive Behandlung in den Ausschüssen. Es werden
Sachverständigenanhörungen und Expertengespräche
durchgeführt. Zudem wird eine Folgenabschätzung vor-
genommen, teilweise bewertet ein extra dafür eingerich-
tetes Gremium – der Normenkontrollrat – den entstehen-
den Zuwachs an Bürokratie. Hier zeigt sich die
institutionelle und systematische Überlegenheit der par-
lamentarischen Demokratie. Bei Volksentscheiden ist ein
solch ausgewogenes, auf Kompromissbereitschaft basie-
rendes Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren
nicht möglich.
Bei der gestrigen Debatte hat sich einer der Vertreter
von der Fraktion Die Linke sogar zu der infamen Be-
hauptung verstiegen, der Vertrag von Lissabon sei „hin-
ter dem Rücken der Leute“ erstellt worden. Diese Be-
hauptung ist nicht nur sachlich falsch und geradezu
abwegig, sondern auch bewusste Stimmungsmache.
Richtig ist vielmehr, dass der Vertrag von Lissabon nicht
von den Regierungen der Mitgliedstaaten in geheimen
Zirkeln erarbeitet wurde. Der vorliegende Reformver-
trag übernimmt nämlich große Teile des gescheiterten
Verfassungsvertrages. Dieser wurde in öffentlichen Sit-
zungen von dem Verfassungskonvent erarbeitet. Mehr-
heitlich war dieser Verfassungskonvent mit Vertreterin-
nen und Vertretern der nationalen Parlamente und des
Europäischen Parlaments besetzt, von denen jeder Ein-
zelne demokratisch gewählt war.
Auch im deutschen Ratifikationsverfahren wird es
kein Agieren „hinter dem Rücken der Leute“ geben.
Vielmehr findet ein transparentes Verfahren im Deut-
schen Bundestag statt, in dessen Rahmen zwei Lesun-
gen, eine Sachverständigenanhörung und mehrere Ex-
pertengespräche stattfinden werden. Wie absurd die
Anschuldigung ist, man wolle hinter dem Rücken der
Leute agieren, zeigt sich bereits darin, dass der Vertrag
selbst ein Mehr an Bürgerbeteiligung vorsieht. Bürger-
nähe und Transparenz ist durch Einführung eines plebis-
zitären Elementes gewährleistet. Mit einer Bürgerinitia-
tive können Bürgerinnen und Bürger, deren Anzahl
mindestens eine Million betragen muss, die Kommission
auffordern, Vorschläge zu bestimmten Themen zu unter-
breiten. Das Recht auf Bürgerinitiative kann auf europäi-
scher Ebene konstruktiv und sinnvoll sein, wir dürfen
gespannt sein, wie es sich in der Zukunft bewährt.
Ebenso unzutreffend ist es, dass Plebiszite angeblich
der Europaskepsis und dem Vertrauensverlust in die Po-
litiker entgegen wirken würden. Ich bin der festen Über-
zeugung, dass gerade das Gegenteil der Fall ist. Die bis-
her durchgeführten Plebiszite in anderen Ländern
wurden vor allem von Europagegnern für ihre Zwecke
benutzt. Durch Stimmungsmache gerieten die Abstim-
mungen teilweise zu sogenannten Denkzetteln für die
Regierenden. Das Vertrauen in die Politik wurde da-
durch mit Sicherheit nicht gestärkt. Das Vertrauen der
Bevölkerung können wir Politiker im Übrigen nur da-
durch gewinnen, dass wir uns mehr anstrengen, besser
arbeiten und – vor allem – unsere politischen Entschei-
dungen besser vermitteln. Den oft bemühten Satz: „Wir
müssen die Menschen mitnehmen“, wollte ich eigentlich
nicht verwenden, im Kern drückt er aber eine der ele-
mentarsten Anforderungen an politisches Handeln aus.
Politisches Handeln muss glaubhaft, verlässlich und
nachvollziehbar sein. Anders können wir der Politikver-
14036 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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(B) (D)
drossenheit nicht entgegenwirken – schon gar nicht mit
der Einführung von Volksentscheiden.
Allein aus den bisher genannten Gründen müsste dieser
Gesetzentwurf abgelehnt werden. Da dieser Gesetzent-
wurf jedoch massive Auswirkungen auf unsere verfas-
sungsrechtliche Struktur hätte, müssen wir uns grundsätz-
lich mit der Frage der Sinn- und Zweckmäßigkeit der
Einführung von Volksentscheiden befassen. Das hat den
Deutschen Bundestag auch schon mehrfach beschäftigt.
Gemeinsam ist jedoch allen bisherigen Initiativen, dass
keine die nötige Mehrheit im Parlament gefunden hat.
Sie alle sind gescheitert. Gescheitert – weil zu viele gute
Gründe gegen die Einführung von Volksentscheiden
sprechen! Drei Gründe möchte ich nennen:
Der erste Grund gegen Plebiszite sind die immer
komplexer werdenden Fragestellungen unserer pluralis-
tischen Gesellschaft. Gerade der EU-Reformvertrag ist
derart komplex und umfangreich, dass man wohl kaum
einen Bürger finden wird, der den gesamten Vertragstext
gelesen hat.
Der zweite Grund liegt darin, dass Plebiszite die ver-
fassungsrechtlich garantierte, föderale Grundstruktur un-
seres Staates beeinträchtigen. Unser Grundgesetz ist
keine Aneinanderreihung von einzelnen Regelungen,
vielmehr ist es ein äußerst ausgeklügeltes System von
„checks and balances“. Durch Einführung eines Volks-
entscheides würden vor allem die Mitentscheidungs-
rechte der Länder stark eingeschränkt und unser histo-
risch gewachsener Föderalismus beschädigt.
Drittens schlägt bei Volksabstimmungen häufig die
Stunde der Populisten. Populisten, die bei normalen
Wahlen keinerlei Chancen hätten, könnten sich profilie-
ren, indem sie bestehende Ängste schüren und einfache
Lösungen anbieten. Populismus, Stimmungsmache und
schlagwortartige Parolen können die Entscheidung über
Sachfragen zum unsachlichen Abstimmungskampf de-
gradieren. Lassen Sie mich hier nur zwei Beispiele an-
führen:
In Frankreich geriet bekanntermaßen die Abstim-
mung über den Verfassungsvertrag zu einer Abstrafung
der Regierung Chirac. Die Franzosen machten so ihrem
Unmut über die Regierungsführung Luft.
Das Nein der Niederlande zum Verfassungsvertrag
war Ausdruck der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit
der Lastenteilung innerhalb der EU sowie massiver Vor-
behalte gegen die EU-Erweiterung.
Ich möchte es mit Pat Cox, dem ehemaligen liberalen
Präsidenten des Europäischen Parlamentes, sagen: „Es
geht bei Volksabstimmungen um alles, nur nicht um die
Frage, die gestellt wurde.“ Auch die Kolleginnen und
Kollegen von der Fraktion Die Linke können diese Tat-
sachen nicht ignorieren. Wer das Grundgesetz in dieser
Richtung ändern möchte, darf die Augen nicht vor der
Realität verschließen.
Lassen Sie uns aus diesen gescheiterten Referenden
unsere Lehren ziehen. Deutschland braucht kein Refe-
rendum über den Reformvertrag. Wir brauchen keinen
deutschen Sonderweg. Außer Irland wird kein anderer
europäischer Staat ein Referendum über den Reformver-
trag durchführen.
Das alles sind Gründe gegen eine Ausweitung der un-
mittelbaren Demokratie und zugleich auch ein Plädoyer
für unser bewährtes parlamentarisch-repräsentatives
System.
Die Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die
Linke wollen eine Verfassung ändern, die über 50 Jahre
Demokratie und Stabilität in Deutschland gewährleistet
hat. Dazu sage ich Nein. Nein, weil das Grundgesetz als
bewährtes Fundament unser freiheitlich-demokratischen
Grundordnung nur geändert werden sollte, wenn dies
aus zwingenden Gründen unumgänglich ist. Ausdruck
dessen sind ja auch die hohen Hürden, die einer Verfas-
sungsänderung entgegenstehen. Solche zwingenden
Gründe kann ich aber nicht erkennen. Weder heute noch
in den Debatten der vergangenen Jahre wurde überzeu-
gend dargelegt, warum wir auf Bundesebene mehr
Volksentscheide brauchen.
Die Erfahrungen aus Frankreich und den Niederlan-
den zeigen uns nur allzu deutlich, wie leicht ein Volks-
entscheid zum Ventil für eine bestehende allgemeine Un-
zufriedenheit werden kann. Insbesondere Populisten
möchten das Plebiszit als Vehikel für ihre primitiven Pa-
rolen nutzen. Dies zeigten gestern auch die gespensti-
schen Tumulte bei der Proklamation der Grundrechte-
Charta in Straßburg. Vornehmlich Störenfriede und Ab-
geordnete vom rechten politischen Rand störten die Ze-
remonie. Die Proklamation wurde durch Sprechchöre
mit dem Ruf „Referendum“ übertönt. Diese Szenen erin-
nern schmerzhaft an das Niederschreien des Parlamentes
in der Endphase der Weimarer Republik.
Das Plebiszit ist eine große Bühne für einfache Bot-
schaften. Den gestiegenen Anforderungen einer effekti-
ven Gesetzgebung im modernen Europa des 21. Jahr-
hunderts wird es nicht gerecht!
Michael Roth (Heringen) (SPD): Vor mehr als zwei
Jahren debattierten wir im Bundestag schon einmal über
die Ratifizierung des Verfassungsvertrages der EU.
Auch damals gab es Forderungen, die Bürgerinnen und
Bürger direkt entscheiden zu lassen. Zwischenzeitlich
liegt uns der Vertrag von Lissabon vor, der die Substanz
des ursprünglichen Verfassungsvertrages bewahrt. Wir
haben uns darüber immer wieder intensiv auch hier im
Plenum ausgetauscht. Nichts geändert hat sich hingegen
an den Chancen, plebiszitäre Elemente in unserem
Grundgesetz auszuweiten.
Die SPD befürwortet direkte Demokratie. Dafür wer-
ben wir seit vielen Jahren. Gerade bei Entscheidungen
über die Grundlagen unserer Demokratie und unseres
Staates, bei wichtigen Sachfragen wollen wir die Bürge-
rinnen und Bürgern stärker beteiligen. Wir haben in vie-
len Ländern und auf lokaler Ebene damit durchaus gute
Erfahrungen gemacht.
Für die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge – dazu
zählt auch der Vertrag von Lissabon – sieht das Grund-
gesetz ein parlamentarisches Verfahren vor. Für die An-
nahme des Vertrages von Lissabon ist eine Zweidrittel-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14037
(A) (C)
(B) (D)
mehrheit in Bundestag und Bundesrat notwendig. Dieses
parlamentarische Verfahren ist Teil unserer bewährten
Verfassungswirklichkeit und Staatspraxis. Damit sind
unsere Entscheidungen nicht weniger legitimiert als
durch Volksentscheide.
Voraussetzung für ein Referendum auf Bundesebene
ist nach gegenwärtiger Rechtslage eine Änderung des
Grundgesetzes. Die dafür notwendige Zweidrittelmehr-
heit ist weder im Bundestag noch im Bundesrat auf ab-
sehbare Zeit in Sicht. Ich bedauere dies. Ich halte es aber
für durchaus gerechtfertigt, über das Für und Wider von
plebiszitären Elementen im Grundgesetz zu streiten. Wir
sollten uns als Abgeordnete schließlich nicht den
Schneid abkaufen lassen.
Den vorliegenden Gesetzesentwurf der Linken lehnt
meine Fraktion ab. Und wenn die Autoren dieses Ge-
setzentwurfes ehrlich wären, müssten Sie zugeben, dass
es Ihnen in erster Linie gar nicht um mehr Bürgerbeteili-
gung geht. Im Vordergrund Ihrer Bemühungen steht der
Versuch, den Vertrag von Lissabon zu Fall zu bringen.
Hierfür kämpfen Sie mit zum Teil bedenklichen Mitteln
und inakzeptablen Argumenten seit Jahren.
Während der gesamten Debatte über die Zukunft des
Verfassungsvertrages haben Sie aus ihrer Ablehnung
keinen Hehl gemacht. Über manchen Punkt des neuen
Vertrags lässt sich trefflich streiten. Sie haben jedoch
keine Gelegenheit versäumt, um Unwahrheiten und Ver-
schwörungstheorien über den Verfassungsvertrag in Um-
lauf zu bringen. Und nie haben sie auch nur ansatzweise
einen positiven Beitrag zu der Debatte geleistet, wie wir
Europa sozialer, transparenter und demokratischer ge-
stalten können.
Ihre Ablehnung basiert auf einer ganzen Reihe von
fatalen Irrtümern. Das gilt für die von Ihnen unterstellte
Militarisierung ebenso wie für Ihre Behauptung, der Ver-
fassungsvertrag sei unsozial. Im Gegenteil: Mit dem
Vertrag von Lissabon wird die EU als Friedensmacht ge-
stärkt. Er umfasst mehr soziale Rechte als unser Grund-
gesetz. Er bekennt sich klar und deutlich zur Solidarität.
2005 habe ich mich für ein Referendum über den Ver-
fassungsvertrag ausgesprochen. Auch heute noch bin ich
überzeugt: Ein Referendum wäre eine ausgezeichnete
Gelegenheit, umfassend für den neuen Vertrag zu wer-
ben und eine breite gesellschaftliche Debatte über die
europäische Integration anzustoßen. Die dafür notwen-
dige Zweidrittelmehrheit ist jedoch weder im Bundestag
noch im Bundesrat gegeben. Vorstöße in der vergange-
nen Legislaturperiode scheiterten maßgeblich an der
CDU/CSU. Daran wird auch Ihre fadenscheinige Initia-
tive nichts ändern. Ein gesetzgeberischer Schnellschuss
brächte uns nicht weiter.
Dennoch stehen wir in der Pflicht, im Rahmen der
parlamentarischen Befassung die Öffentlichkeit umfas-
send zu informieren und den Dialog mit den Bürgerin-
nen und Bürgern zu suchen. Hier erwarte ich mir von
den Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion sub-
stanziellere, kreativere und fairere Beiträge als in der
Vergangenheit. Dem Projekt eines sozialen und demo-
kratischen Europas haben Sie bislang einen Bärendienst
erwiesen. Davon zeugt auch der vorliegende Antrag.
Florian Toncar (FDP): Am 16. Dezember 2007 wer-
den die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitglied-
staaten in Lissabon den EU-Reformvertrag feierlich un-
terzeichnen. Dieser soll bis Ende 2008 von allen
Unterzeichnerstaaten ratifiziert werden. Falls dies ge-
lingt, kann die für das Jahr 2009 angesetzte Neuwahl
zum Europäischen Parlament bereits nach den im Ver-
tragswerk enthaltenen neuen Regelungen erfolgen.
Inhaltlich bringt der EU-Reformvertrag eine Reihe
positiver Neuerungen. So wird die demokratische Legiti-
mation der EU durch eine deutliche Stärkung des Euro-
päischen Parlaments verbessert. Künftig wird das Mitbe-
stimmungsverfahren in den meisten politischen Fragen
zur Regel werden. Die Subsidiaritätsklausel ermöglicht
es künftig den nationalen Parlamenten, bereits im Vor-
feld Vorbehalte gegen gesetzgeberische Vorhaben der
EU-Kommission zu äußern. Dies stärkt die parlamenta-
rische Mitwirkung der nationalen Parlamente und somit
die demokratische Legitimation der EU insgesamt. Die
Charta der Grundrechte wird Rechtsverbindlichkeit er-
langen, was die Rechte der einzelnen EU-Bürger auf
eine neue solide Grundlage stellt. Die außenpolitische
Handlungsfähigkeit der EU wird spürbar verbessert, in-
dem die Ämter des Hohen „Beauftragten“ des Rates und
des Außenkommissars durch dieselbe Person wahrge-
nommen werden. Die Einführung der doppelten Mehr-
heit trägt dafür Sorge, die Stimmgewichtung zwischen
den Mitgliedstaaten auf eine Weise neu zu ordnen, die
einerseits die kleineren Staaten vor dem politischen
Übergewicht der bevölkerungsreichen Staaten schützt
und andererseits die demokratische Repräsentanz in den
größeren Staaten verbessert, indem das Stimmgewicht
der Bürger in den größeren EU-Staaten dem Stimmge-
wicht der EU-Bürger in den kleineren Staaten etwas an-
genähert wurde. Hier ist ein guter Ausgleich der Interes-
sen gelungen.
Dies sind nur einige der wichtigsten Neuerungen, die
der EU-Reformvertrag mit sich bringt. Auch wenn
längst nicht alle politischen Wünsche erfüllt werden
konnten, so bedeutet der Vertrag einen Fortschritt für
den europäischen Einigungsprozess. Er stellt sicher, dass
auch die zuletzt stark gewachsene EU künftig weiterhin
handlungsfähig bleibt. In der Summe steht die FDP dem
EU-Reformvertrag daher offen und positiv gegenüber.
Der von der Linksfraktion vorgelegte Antrag will so-
wohl die Ratifikation des EU-Reformvertrags als auch
jede weitere EU-Vertragsänderung unter den Vorbehalt
eines Volksentscheids in Deutschland stellen. Diesen
Vorstoß lehnen wir ab.
Zum einen ist es verfassungsrechtlich nicht möglich,
dass bei einem solchen Volksentscheid alle Personen ab-
stimmen dürften, die bei Wahlen zum Europäischen Par-
lament wahlberechtigt sind, wie es die Linke fordert.
Diese Gruppe würde auch in Deutschland lebende EU-
Ausländer umfassen. Dabei verkennt dieser Ansatz der
Linken, dass es sich bei dem EU-Reformvertrag wie
auch bei vorangegangenen EU-Verträgen um völker-
14038 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
rechtliche Akte des Nationalstaats Deutschland handelt
und nicht um die Wahl zu einer Institution der Europäi-
schen Union. Personen, die keine deutschen Staatsange-
hörigen sind, können wegen Art. 20 Abs. 2 in Verbin-
dung mit Art. 79 III GG nicht über völkerrechtliche
Rechtsakte des deutschen Nationalstaats abstimmen.
Das ist rechtlich etwas komplett anderes als die durch
Art. 19 EG-Vertrag bzw. Art. 28 GG vorgesehene Be-
rechtigung von Unionsbürgern zur Wahl zu EG-Organen
bzw. Körperschaften der kommunalen Selbstverwaltung.
Der Antrag der Fraktion Die Linke verstößt daher offen-
kundig gegen das Grundgesetz.
Eine Volksabstimmung über den EU-Reformvertrag
ist aber auch nicht angezeigt, weil es sich um einen ge-
wöhnlichen völkerrechtlichen Vertrag handelt, der die
bestehenden Verträge lediglich modifiziert. In seiner
Qualität geht er nicht über andere Änderungsverträge
wie Maastricht, Amsterdam oder Nizza hinaus. Für die
Revision existierender Verträge sind der Deutsche Bun-
destag und der Bundesrat als demokratisch legitimierte
Gremien die richtige Instanz.
Die FDP hat sich 2003 für einen Volksentscheid zur
Ratifikation der europäischen Verfassung ausgespro-
chen. Diese Verfassung, so wie sie ursprünglich ange-
dacht war, hätte eine neue Qualität der Souveränitäts-
übertragung an die Europäische Union bedeutet, die eine
breite Legitimierung durch einen Volksentscheid erfor-
dert hätte. Der jetzige EU-Reformvertrag bleibt in seiner
Rechtsqualität deutlich hinter der geplanten Verfassung
zurück. Er bewirkt lediglich eine Modifikation bestehen-
der Verträge und schafft eben kein einheitliches Doku-
ment mit dem Charakter einer Verfassung. Dies wird
umso deutlicher, als die Charta der Grundrechte dem
Vertrag lediglich angefügt wurde, anstatt sie dem Vertrag
voranzustellen. Auf mit dem Begriff Verfassung verbun-
dene Symbole wie beispielsweise die Flagge oder die
Hymne wurde verzichtet. Der EU-Reformvertrag stellt
also nicht den Abschluss einer Entwicklung hin zu einer
europäischen Verfassung dar, sondern ist nur ein weite-
rer Zwischenschritt. Daher erfordert seine Ratifikation
aus unserer Sicht keine Volksabstimmung.
Ich möchte unterstreichen, dass die FDP mit dieser
Einschätzung in Europa nicht alleine steht. Im Gegen-
teil: Bisher hat nur Irland erklärt, ein Referendum abhal-
ten zu wollen. Zahlreiche Staaten, die über die europäi-
sche Verfassung ein Referendum abgehalten haben oder
dies vorhatten, haben bereits erklärt, bei der Ratifikation
dieses EU-Reformvertrags darauf verzichten zu wollen.
Dies gilt beispielsweise für Frankreich, Dänemark und
Großbritannien.
Fest steht jedoch: Sollte es künftig einmal in der EU
einen weiteren Anlauf zur Verabschiedung einer echten
europäischen Verfassung geben, wird die FDP sich auch
weiterhin für einen Volksentscheid einsetzen.
Im Übrigen darf man an dieser Stelle nicht verschwei-
gen, was die eigentliche Absicht der Linken hinter dieser
Initiative ist. Ihr Plan ist es, ein solches Plebiszit zu
missbrauchen, um mit plumpen Parolen gegen das Ver-
tragswerk Polemik machen zu können. Es geht ihnen
weniger um ein faires demokratisches Verfahren als um
die Schaffung einer Möglichkeit, eine destruktive Dis-
kussion gegen den EU-Reformvertrag zu führen. So
wollen sie antieuropäische Reflexe mit konstruierten Ar-
gumenten bedienen. Da macht die FDP nicht mit. Wir
lehnen den vorgelegten Gesetzesentwurf daher aus ver-
fassungsrechtlichen wie politischen Gründen ab.
Alexander Ulrich (DIE LINKE): Manchmal sagen
Bilder mehr als tausend Worte: Heute reiste die gesamte
Entourage der europäischen Staats- und Regierungschefs
nach Lissabon, um den Reformvertrag zu unterzeichnen.
Danach hoben sie ganz klimafreundlich, natürlich je-
weils in einem Flugzeug, nach Brüssel zum EU-Gipfel
ab.
Stil und Inhalt der Europapolitik stimmen überein:
Sie haben jedes Gefühl dafür verloren, was die Men-
schen in Europa bewegt. Sie feiern sich selbst und ver-
gessen darüber, was die Menschen in Europa von der EU
erwarten. Dass wir um diese späte Uhrzeit über Volksab-
stimmungen sprechen, zeigt ihr gestörtes Verhältnis zur
Bevölkerung. Die Linke, hat an anderer Stelle bereits
darauf hingewiesen, warum wir den vorliegenden Ver-
tragsentwurf für europafeindlich halten. Er ist militaris-
tisch, denn der Vertrag löst die strenge Bindung an die
UN-Charta auf und gebietet die ständige Verbesserung
der militärischen Kapazitäten.
Der Vertrag schreibt eine gescheiterte Wirtschaftspo-
litik fest. Preisstabilität genießt Vorrang vor Wachstum
und Beschäftigung und zementiert damit eine internatio-
nal unübliche Geldpolitik. Wer die Preise stabil halten
möchte, sollte eine effektive europäische Regulierungs-
behörde schaffen und die Infrastruktur monopolistischer
Industrien, etwa der Energienetze, in öffentliche Hand
überführen, Der Vertrag verhindert dies mit seiner Fest-
legung auf einen unverfälschten Wettbewerb, der aber
genau in diesen Bereichen nicht möglich ist. Die Da-
seinsvorsorge in den Mitgliedstaaten ist auch im vorlie-
genden Entwurf nicht gesichert.
Der Vertrag bricht mit den Lehren aus der europäi-
schen Geschichte. Eine Lehre aus der europäischen Ge-
schichte war die Unteilbarkeit der politischen und der
sozialen Rechte. Den Sozialstaat durch wettbewerbsfä-
hige soziale Marktwirtschaft zu ersetzen, beerdigt das
europäische Wirtschafts- und Sozialmodell und ist
grundgesetzwidrig. Sie demonstrieren damit ein ähnli-
ches Verhältnis zum Sozialstaat wie China zum Rechts-
staat.
Die wenigen demokratischen Fortschritte des Vertra-
ges werden bei weitem nicht der Bedeutung der EU ge-
recht. 80 Prozent aller nationalen Gesetzesvorhaben
werden von der EU beeinflusst. Doch das Europäische
Parlament kann immer noch keine eigenen Gesetzesini-
tiativen verabschieden. Der Doppelhut des europäischen
Außenministers behindert eine demokratische Kontrolle
der europäischen Außenpolitik.
Sie beschädigen mit Ihrer Politik die europäische
Glaubwürdigkeit. Sie ermahnen in Sonntagsreden gerne
andere Staaten zur Einhaltung der Menschenrechte. Sie
beklagen zu Recht unfaire Wahlen in Russland und kriti-
sieren Hugo Chavez. In Venezuela hatten die Menschen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14039
(A) (C)
(B) (D)
aber Gelegenheit, über ihre Verfassung abzustimmen
und sie abzulehnen.
In Europa verweigert man den Menschen eine Verfas-
sung, wenn sie mit dem Inhalt nicht einverstanden sind.
Man wirft alles aus dem Vertrag, was den Menschen et-
was bedeutet: die Hymne, die Fahne, das Wort Verfas-
sung. Dann packt man den Inhalt, den die Menschen ab-
lehnen, wieder hinein. Zum Schluss werden die
Menschen, außer in Irland, nicht mehr gefragt. Ist das
der Höhepunkt der europäischen Demokratie?
Eine Verfassung muss offen sein für den zukünftigen
Willen der Europäerinnen. Sie darf nicht das Programm
meiner oder irgendeiner anderen Partei abbilden. Dass
Sie die Menschen darüber nicht entscheiden lassen,
zeigt, dass Sie Angst vor den Menschen haben.
In noch einem Punkt stimmen Form und Inhalt über-
ein: Bis heute gibt es keinen öffentlich zugänglichen,
lesbaren Vertrag.
Wir sind die einzige Fraktion im Deutschen Bundes-
tag die an einer Verfassung für Europa festhält. Wir sind
die einzige Fraktion, die möchte, dass die Menschen
wissen, was in Europa entschieden wird. Gemeinsam mit
unseren Partnern in der Europäischen Linkspartei for-
dern wir Volksabstimmungen über diesen Vertrag in Eu-
ropa.
Wir laden SPD und Grüne dazu ein, gemeinsam mit
der Linken mehr Demokratie zu wagen. Wenn Sie es
ernst meinen mit Europa, stimmen Sie der notwendigen
Ergänzung des Grundgesetzes und unserem Antrag zu.
Die Linke sagt der Bundesregierung mit den Worten
eines großen Lyrikers: Wenn der Regierung das Volk
nicht passt, soll sie sich ein neues Volk wählen.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir beraten heute erneut über das Thema der Einführung
von Volksentscheiden und Volksbegehren in das Grund-
gesetz. Es ist das zweite Mal in dieser Wahlperiode, und
über dieses Thema muss so lange geredet werden, bis
auch die Union verstanden hat, dass man seinen Wähle-
rinnen und Wählern vertrauen muss. Wir und die ande-
ren Oppositionsparteien haben dazu Vorschläge unter-
breitet. Die kann man nebeneinanderlegen. Da gibt es
gewisse Unterschiede etwa bei den Quoren, die für die
Einleitung eines Volksentscheides und für die Festellung
der Mehrheit notwendig sind. Aber in der Sache sind wir
uns einig. Wir wollen nach den sehr guten Erfahrungen
auf Landesebene auch im Bund die Bürgerinnen und
Bürger aktiv in die Politik einbeziehen. Die Argumente,
die auch heute wieder dagegen vorgetragen worden sind,
entspringen übersteigerten Angstfantasien. Berlin ist
nicht Weimar.
Jetzt zum Vorschlag der Linken. Sie stellen einen
neuen Antrag, um eine Volksabstimmung allein über den
EU-Reformvertrag zu ermöglichen. Das wäre nicht nötig
gewesen. Ihr alter Antrag war doch schon so ein schöner,
von den lobenswerten Initiativen für mehr direkte De-
mokratie abgeschriebener Best-of-Katalog. Darin haben
Sie alle Beschränkungen, über die man reden muss,
wenn man das Instrument seriös einsetzen will, auf ein
Minimum abgesenkt. Sie wollen ja bereits die Abstim-
mung über einen im Bundestag in jedem Fall als Zustim-
mungsgesetz zu beschließenden völkerrechtlichen Ver-
trag, wie es der Reformvertrag sein wird. Warum also
dieser neue Antrag? Die Antwort ist wie immer bei Ih-
nen genauso simpel wie die Frage. Sie wollen eine Ab-
stimmung, um den Reformvertrag zu verhindern. Das
aber wollen wir nicht. Wir stehen zu Europa. Wir haben
Kritik an Einzelpunkten. Darüber ist zu reden. Aber eine
Anti-Europa-Kampagne gibt es mit uns nicht.
Mit Ihrem Antrag finden sie sich wieder in einer
Reihe mit den Populisten dieses Landes, die von
Maastricht bis zum Euro gegen jede Neuerung in der EU
in den Parlamenten und vor dem Bundesverfassungsge-
richt gewettert haben. Die Herren Gauweiler,
Schachtschneider, Kirchoff werden es Ihnen danken –
auch die FDP, die schon einmal einen ähnlichen Vor-
schlag unterbreitet hat, aber unbedingt einen Außen-
minister Westerwelle stellen will. Herzlichen Glück-
wunsch zu dieser Art von großer Opposition.
Das Ziel Ihres Antrages zeigt auch, dass sie den Sinn
und Zweck von Plebisziten nicht verstanden haben. Die
Bürgerinnen und Bürger fragt man nicht nur dann, wenn
es einem passt. Ein Plebiszit ist nicht nur ein anderes
Mittel, um fehlende parlamentarische Mehrheiten zu er-
setzen. Wir wollen Plebiszite aus Überzeugung und nicht
aus strategischen Gründen. Gerade haben wir in Berlin
einen Volksentscheid verloren. Aber das Verlierenkön-
nen gehört zur Demokratie dazu. Wichtiger ist uns, dass
Politik wieder auf eine breite Grundlage gestellt wird.
Sich dafür den Reformvertrag herauszusuchen, um eine
große Anti-Europa-Volksfront zu schmieden, ist wie
häufig bei Ihnen blanker Populismus.
Es ist auch nicht so, dass die Europäische Union un-
demokratisch verfasst wäre, wie das in ihrem Antrag
durchschimmert. Die Europäische Union ist ein Er-
folgsprojekt, und gerade dieser Reformvertrag bringt uns
mit der Grundrechtecharta ein Mehr an Rechten für die
Bürgerinnen und Bürger. Er bringt auch dem Europäi-
schen Parlament mehr an Kompetenzen. Umgekehrt
sollten Sie bei den Standards, die Sie an die Legitimation
der Europäischen Union anlegen, schwere Sorgen um
ihre eigene innerparteiliche Legitimation haben – in
Ländern wie Hessen beispielsweise.
Haben Sie sich umgekehrt einmal überlegt, was die
Folgen eines weiteren Rückschlages für die Europäische
Union wäre? Meinen Sie, dass wir nach einem geschei-
terten Referendum einfach so in den warmen Schoß des
Nationalstaates zurückfallen? Es muss Ihnen doch auf-
gefallen sein, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen
Union beispielsweise im Bereich der inneren Sicherheit
längst versuchen, an der parlamentarischen Kontrolle
durch das Europäische Parlament vorbei Abkommen wie
den Vertrag von Prüm zu schließen. Sie sollten sich be-
mühen, die europäische Integration zu vertiefen, statt sie
zu torpedieren.
Ich fasse zusammen: Wir sind für Volksentscheide,
notfalls auch über den Reformvertrag, wenn das Grund-
gesetz insgesamt geändert wird. Eine Ad-hoc-Volksab-
stimmung über den Reformvertrag lehnen wir aber ab.
14040 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Pflanzenschutzgesetzes und des BVL-Gesetzes
– Antrag: Schutz vor Pflanzenschutzmittel-
rückständen in Lebensmitteln verstärken
(Tagesordnungspunkt 19 a und b)
Dr. Peter Jahr (CDU/ CSU): Mit dem Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes und
des BVL-Gesetzes werden diese an aktuelle Rechtspre-
chungen und fachliche Erfordernisse der neueren Zeit
angepasst. Da die letzte Änderung des Pflanzenschutz-
gesetzes aus dem Jahre 1998 stammt und auf die Umset-
zung der Richtlinie 91/414/EWG über das Inverkehr-
bringen von Pflanzenschutzmitteln zurückgeht, sind
verschiedene Regeln des Gesetzes nicht mehr aktuell
und bedürfen der Änderung.
Im Januar 2006 hat unter anderem der Europäische
Gerichtshof in der Rechtssache C-98/03 festgestellt, dass
die Formulierung in § 6 Abs. 1 des Pflanzenschutzgeset-
zes ergänzt werden muss, um klarzustellen, dass auch
der Schutz der besonders geschützten Tier- und Pflan-
zenarten nach den Art. 12 und 13 der Richtlinie 92/43/
EWG erfasst wird. Um die festgestellte Vertragsverlet-
zung zu beheben, ist daher eine Ergänzung des § 6
Abs. 1 nötig. Aus diesem Grund ist eine Beschlussfas-
sung des Deutschen Bundestages noch in diesem Jahr
unumgänglich.
Eine Notwendigkeit der Änderung ergibt sich auch
aus der Tatsache, dass das Pflanzenschutzgesetz keine
konkreten Bestimmungen über die Aufzeichnungen der
Anwendung von Pflanzenschutzmitteln nach Maßgabe
des landwirtschaftlichen Fachrechts in der Landwirtschaft
enthält. Anderseits sieht das Bundesnaturschutzgesetz in
§ 5 Abs. 4 eine schlagbezogene Aufzeichnungspflicht vor.
Dazu kommt, dass auch die Verordnungen (EG) Nr. 852/
2004 und (EG) Nr. 183/2005 festlegen, dass Lebens- und
Futtermittelunternehmer Buch über die Verwendung von
Pflanzenschutzmitteln führen müssen. Um eine einheit-
liche und kontrollierbare Regelung für alle Anwender
von Pflanzenschutzmitteln zu erreichen, ist die Festle-
gung von allgemeinen Regelungen über die Aufzeich-
nungspflicht in das Pflanzenschutzgesetz sinnvoll.
Weitere Änderungen betreffen das Verfahren zur Zu-
lassung von Pflanzenschutzmitteln und die sogenannten
Vertriebserweiterungen. Im Gesetzentwurf wird ein ge-
nauer zeitlicher Ablauf für die Behörden festgelegt, die
an dem Verfahren der Zulassung von Pflanzenschutzmit-
teln beteiligt sind, um eine ordnungsgemäße Bear-
beitung der Verfahren zu bewerkstelligen. Vertriebs-
vereinbarungen stellen Vereinbarungen zwischen einem
Zulassungsinhaber und einem Dritten dar, die es diesem
gestatten, ein Pflanzenschutzmittel des Zulassungsinha-
bers unter einer anderen Bezeichnung in Verkehr zu
bringen. Das Ziel effizienter Kontrollen macht es not-
wendig, dass eine Anzeigepflicht für Unternehmer, die
den Ankauf von Pflanzenschutzmitteln vermitteln, ein-
geführt wird.
Im Laufe des parlamentarischen Prozesses fanden
umfangreiche Beratungen statt. Im Rahmen dieser Ge-
spräche wurden mehrere Änderungen des Entwurfes im
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz angenommen. Der Gesetzentwurf trägt dem
Urteil des EuGH Rechnung, indem die Verbote und Be-
schränkungen der Art. 12 und 13 der FFH-Richtlinie
zum Schutz gefährdeter Arten nun explizit in § 6 Abs. 1
des Pflanzenschutzgesetzes aufgenommen werden. In
Ergänzung dazu wird § 6 Abs. 3 dahin gehend geändert,
dass es Möglichkeiten zur Erteilung von Ausnahmerege-
lungen von den Geboten des § 6 Abs. 1 gibt. Mit der
Formulierung des § 6, der sich eng an den Wortlaut der
Richtlinie anlehnt, können weitere Probleme wegen
nicht ausreichender Umsetzung vermieden werden.
Um die Belastungen für die Praxis in Grenzen zu hal-
ten, werden gleichzeitig die von der Europäischen Kom-
mission akzeptierten Interpretationsspielräume genutzt.
So wird beispielsweise bei den besonders geschützten
Arten auf die lokale Population abgestellt und nicht auf
das einzelne Exemplar. Gemäß. § 6 Abs. 1 Satz 4 liegt
eine erhebliche Störung nur dann vor, wenn sich der Er-
haltungszustand der geschützten Art verschlechtert, also
der Fortbestand der lokalen Population gefährdet ist.
Dies wird bei der praktischen Anwendung zu einer er-
heblichen Erleichterung führen.
Weitere Punkte im Entwurf sind die Einführung einer
Entsorgungspflicht für verbotene Pflanzenschutzmittel,
die Straffung des Zulassungsverfahrens für Pflanzen-
schutzmittel durch die Einführung von bestimmten zeit-
lichen Fristen und die Ergänzung der Regeln zu Parallel-
importen zum Schutz gegen Missbrauch. Des Weiteren
wird der Umgang mit Saatgut, das mit Pflanzenschutz-
mitteln behandelt wurde, neu geregelt.
Ein großer Streitpunkt war allerdings die konkrete
Ausgestaltung von Regelungen der Aufzeichnungs- und
Berichtspflichten. § 6 Abs. 4 (neu) des Gesetzentwurfes
sieht vor, dass künftig bei der Anwendung von Pflanzen-
schutzmitteln in einem Betrieb der Landwirtschaft,
Forstwirtschaft und des Gartenbaus Aufzeichnungen zu
führen sind. Dabei müssen der Name des Anwenders,
das Anwendungsdatum, die jeweilige Anwendungsflä-
che, das Anwendungsgebiet, das Pflanzenschutzmittel
und die Aufwendungsmenge aufgezeichnet werden. Die
Aufbewahrungsfrist der Aufzeichnungen wird auf zwei
Jahre verkürzt.
Die Umsetzung im Rahmen von Cross Compliance
wird praxisorientiert erfolgen. Die derzeitigen Regelun-
gen sollen im Jahr 2008 nicht verändert werden, um den
Landwirten die Möglichkeit zu geben sich auf die Anfor-
derungen der Aufzeichnungen einzustellen. An den Auf-
zeichnungspflichten wird allerdings vor allem kritisiert,
dass sie zu doppelten Aufzeichnungspflichten führen
könnten.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass sich die Fraktionen
von CDU/CSU und SPD im Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf eine Erklä-
rung zu diesem Gesetzesentwurf einigen konnten (Aus-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14041
(A) (C)
(B) (D)
schussdrucksache 16 (10) 699). Auf diese Erklärung zur
Klarstellung des Gewollten möchte ich an dieser Stelle
besonders eingehen.
In der Erklärung wird festgestellt, dass erstens mit
den in § 6 Abs. 4 (neu) gesetzlich verankerten Aufzeich-
nungspflichten keine neue Aufzeichnungspflicht einge-
führt wird, sondern verschiedene, bereits bestehende
Rechtsvorschriften im Fachgesetz zusammengeführt und
klar, einheitlich und abschließend geregelt werden;
zweitens mit den in § 6 Abs. 4 (neu) gesetzlich veranker-
ten Aufzeichnungspflichten kein zusätzlicher bürokrati-
scher Aufwand durch eine doppelte Aufzeichnungs-
pflicht für die Landwirtschaft entsteht, da sie bereits
bestehende Vorschriften mit abdecken; drittens es Wille
des Ausschusses ist, dass beim Vollzug des § 6 Abs. 4
(neu) im Regelfall die EU-rechtlichen Sanktionen be-
rücksichtigt und vernünftig und angemessen vollzogen
werden und viertens infolgedessen die in Nr. 3 genann-
ten Sanktionen erst erfolgen sollen, wenn es sich um ei-
nen erheblichen oder vorsätzlichen Verstoß gegen die
Aufzeichnungspflichten handelt oder wenn einer be-
hördlichen Anordnung zur Nachbesserung nicht Folge
geleistet wird.
Damit ist festzuhalten, dass keine weitere bürokrati-
sche Belastung für die Landwirte entsteht und somit den
Bedenken der CDU/CSU- Bundestagsfraktion Rechnung
getragen worden ist.
Gestatten Sie abschließend noch ein paar wenige Be-
merkungen an unsere Landwirte. Ich weiß, dass viele
landwirtschaftliche Unternehmen mit dem vorliegendem
Gesetzentwurf vor allem verschärfte bürokratische Auf-
lagen für ihre Unternehmen verbinden. Es wird an uns
liegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, in der
konkreten Umsetzung des Gesetzes, im konkreten Han-
deln unsere Landwirte vom Gegenteil zu überzeugen.
Ich bitte um die Annahme der Beschlussempfehlung
des Ausschusses und damit um Zustimmung zu dem vor-
liegenden Gesetzesentwurf.
Gustav Herzog (SPD): Wir beraten heute abschlie-
ßend das dritte Gesetz zur Änderung des Pflanzenschutz-
gesetzes und des BVL-Gesetzes sowie den Antrag der
Koalitionsfraktionen zur Verstärkung des Schutzes vor
Rückständen von Pflanzenschutzmitteln in Lebensmit-
teln. Beides hängt eng miteinander zusammen. Denn
Rückstände, unabhängig ob in Lebensmitteln, Biotopen,
Grund- oder Obenflächengewässern, sind Folge der Art
und Weise der Handhabung durch den Anwender.
Mit dem dritten Gesetz zur Änderung des Pflanzen-
schutzgesetzes setzen wir insbesondere Aspekte des
EuGH-Urteils zur FFH-Richtlinie um. Damit wird der
Schutz wild lebender Tiere der besonders geschützten Ar-
ten sowie von Wildpflanzen der besonders geschützten
Arten in Einklang mit der Landschaft nutzenden Wirt-
schaft gebracht. Die Landwirtschaft als Hauptnutzer und
Pfleger unserer Kulturlandschaft erhält dadurch die not-
wendige Rechtssicherheit, um ihr allgemeines betriebli-
ches Handeln auf den Flächen im Einklang mit dem
Naturschutz sicherzustellen. Mit zunehmender Schutz-
würdigkeit der Tier- und Pflanzenarten wachsen folge-
richtig auch die Auflagen und Einschränkungen für die
Nutzung, um den Erhaltungszustand der lokalen Popula-
tion zu gewährleisten. Um den reibungslosen Betrieb der
Landwirtschaft zu sichern, wurden mit vorliegendem Ge-
setz Interpretationsspielräume mit Augenmaß genutzt,
sodass wir Rechtssicherheit mit Schutz der Güter verbin-
den.
Weitere Punkte des Gesetzes sind verschiedene Vor-
schriften zur Einführung von Entsorgungspflichten für
verbotene Pflanzenschutzmittel, zur Straffung des Zulas-
sungsverfahrens, Ergänzungen zur Handhabung von Par-
allelimporten.
Als wichtigen Wegbereiter für eine Anpassung der
Anwendungsbestimmungen geben wir der Bundesregie-
rung eine Verordnungsermächtigung, die dahin gehend
zu nutzen ist, dass bei Erhalt des Schutzniveaus für An-
wender, Verbraucher und Umwelt der Auflagendschun-
gel gelichtet wird und Vorschriften verschlankt werden.
Wir wollen Anwendungsbestimmungen, die verstanden
werden können und die aus ihrer eigenen Logik heraus
Akzeptanz beim Anwender schaffen. Als Basis hierfür
ist die Probabilistik eine wesentliche Grundlage, die von
den Fachbehörden im Einklang mit den Wirtschaftsbe-
teiligten und unter Beteiligung der Interessenvertretun-
gen entwickelt wurde. Ich habe große Erwartungen an
die Häuser der Bundesminister Horst Seehofer und
Sigmar Gabriel und ihre nachgeordneten Behörden, dass
wir einen Systemwechsel bei den Anwendungsbestim-
mungen zeitnah erwarten dürfen. Nur so vermeiden wir
Unmut und damit das Gegenteil dessen, was wir anstre-
ben: Pflanzen- und Umweltschutz miteinander zu ver-
binden.
Nicht zuletzt möchte ich auf die Aufzeichnungs-
pflichten eingehen, die wir mit vorliegendem Gesetz ge-
setzlich verankern. Ich betone „gesetzlich verankern“,
denn untergesetzlich gibt es eine Vielfalt an Vorschrif-
ten, die die schlagbezogene Aufzeichnung von Pflanzen-
schutzmaßnahmen bereits jetzt direkt oder indirekt ver-
langen. Das Bundesnaturschutzgesetz verlangt eine
schlagbezogene Aufzeichnung, das EU-Hygienepaket
verlangt die Rückverfolgbarkeit, die gemeinsamen Re-
geln für Direktzahlungen ziehen die Richtlinie 91/414/
EWG heran, die die Befolgung der guten Pflanzen-
schutzpraxis verlangt, und nicht zuletzt ist die „Gute
fachliche Praxis“ unmissverständliche Grundlage und
Vorschrift für die Anwendung von Pflanzenschutzmit-
teln.
Die schlagbezogene Aufzeichnung ist somit für den
informierten Landwirt keine Neuerung – sollte man den-
ken.
Daher ist es doch höchst verwunderlich, wie massiv
gegen die Verankerung auf Gesetzesebene agiert oder
– muss ich sagen – agitiert wurde. Die Bundesregierung
legt ihren Gesetzentwurf vor, der Bundesrat konkretisiert
und präzisiert ihn mit 16 : 0 Stimmen, und die Koali-
tionsfraktionen sind sich einig, dass eine schlagbezogene
Aufzeichnung nicht nur unumgänglich ist, sondern zu-
dem bereits verbindlich gilt und darüber hinaus auch
vernünftig und folgerichtig ist. Zumal davon auszugehen
ist, dass bereits die allermeisten Landwirte ihren Ver-
14042 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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(B) (D)
pflichtungen längst nachkommen. Alles spricht also für
die Verankerung auf gesetzlicher Ebene, und doch war
die Intervention vonseiten des Deutschen Bauernverban-
des so stark, dass sie den Verfahrensablauf empfindlich
unterbrochen hat. Viele von uns kennen die Protest-
schreiben, die von „überbordender und untragbarer Bü-
rokratie“ sprechen. Das kann ich nur zurückweisen, denn
wir verlangen nichts Neues, nichts Zusätzliches. Wir
verlangen nur, was wir bereits jetzt schon zum Beispiel
vonseiten der guten fachlichen Praxis erwarten können.
Die Betriebe zeichnen also bereits jetzt schon die sechs
Ws auf: wer, wann, wo, was, wie viel und wogegen.
Qualitätssysteme wie GLOBAL-GAP oder QS führen
die detaillierte Aufzeichnung insbesondere aus Gründen
der Rückverfolgbarkeit als K.o.-Kriterium, Wirtschafts-
systeme wie der Ökolandbau oder der Integrierte Pflan-
zenschutz und jeder Vertragsanbau vom Apfel bis zur
Zuckerrübe verlangen deutlich mehr als das, was wir
jetzt gesetzlich verankern. Zum Vorwurf der überborden-
den Bürokratie darf ich den Normenkontrollrat zitieren:
„(…) Bei der in den Gesetzentwurf neu aufgenommenen
Aufzeichnungspflicht über die im Betrieb angewandten
Pflanzenschutzmittel, bei der Kosten in Höhe von jähr-
lich 84 bis 180 Euro je betroffenen Betrieb ermittelt wur-
den, ist davon auszugehen, dass ein Großteil der betrof-
fenen Betriebe eine solche Aufzeichnung bereits
vornimmt. Denn sie ist zum einen durch EU-Recht seit
dem 1. Januar 2006 verbindlich vorgegeben, zum ande-
ren wird die Aufzeichnung seit 1998 als gute landwirt-
schaftliche Praxis empfohlen. Deshalb wird ein mögli-
cher Bürokratiekostenanstieg als gering eingeschätzt.“
Wir haben derzeit eine scheinbar diffuse Rechtslage,
da verschiedene Regelwerke verschiedene Vorschriften
zu den Aufzeichnungspflichten verlangen. Aus diesem
Grund regeln wir jetzt im zuständigen Fachrecht klar
und abschließend, was die Landwirtschaft zu dokumen-
tieren hat. Daher ist die Kritik der „praxisfernen und zu-
sätzlichen Bürokratie“ fachlich falsch und der vonseiten
des Berufsstandes zugespitzte Konflikt überflüssig und
für mich in keiner Weise nachvollziehbar.
Weitere ins Feld geführte Argumente beschreiben das
gestiegene Sanktionsrisiko für die landwirtschaftlichen
Betriebe. Das ist richtig, denn wir wollen Sanktionen für
Betriebe, die sich nicht an gesetzliche Vorschriften hal-
ten. Wir halten die Aufzeichnungen für die eingesetzten
Pflanzenschutzmittel für richtig und für eine wichtige
Hilfestellung für die betrieblichen Entscheidungen im
Umgang mit diesen Betriebsmitteln. Sie sind eine viel-
fach begründbare Vorschrift, und wer diese nicht einhält,
soll einer Sanktion unterworfen werden. Damit aber im
behördlichen Vollzug die Verhältnismäßigkeit gewahrt
bleibt, erachten wir es für notwendig, zu betonen, dass
wir als Gesetzgeber die Nutzung eines Ermessensspiel-
raums für Bagatellfälle erwarten. Wir wollen nicht, dass
kleine und unerhebliche Unregelmäßigkeiten in den
Aufzeichnungen direkt und in aller Strenge behördlich
sanktioniert werden. Hierzu sind Bund und Länder be-
auftragt, Lösungen zu erarbeiten, die den Vollzug einer-
seits sichern und anderseits die Belange der Praxis be-
rücksichtigen.
Ein ebenfalls gerne verwendetes Argument war der
fehlende Zusatznutzen dieser Aufzeichnungen. Nun, da
kann ich nur darauf verweisen, dass der Landwirt zum
einen bewusster entscheidet und fundierter abwägt, was
wann womit zu behandeln ist, wenn er schriftliche Auf-
zeichnungen tätigt und auf diese zurückblicken kann.
Zudem wissen wir alle, wie wichtig die Rückverfolgbar-
keit für die Eingrenzung von Schadensfällen ist, unab-
hängig davon, ob es sich um Funde im Grundwasser
oder um Rückstände in Lebensmitteln handelt. So kön-
nen wir die Ursache des Problems schnell eingrenzen
und die Quelle möglicher Verunreinigungen schnell be-
reinigen.
Dahin zielt auch unser Antrag zum Schutz vor Pflan-
zenschutzmittelrückständen in Lebensmitteln. Als Che-
mielaborant weiß ich, dass man mit der richtigen Labor-
technik die kleinsten Spuren von allen Stoffen
analysieren kann, die jemals mit dem Produkt in Verbin-
dung gekommen sind. Daher wundert es mich nicht, dass
sich die immer weiter verfeinerte Analytik in den Rück-
standskontrollen spiegelt. Wir suchen, und wir werden
finden. Damit habe ich kein großes Problem, doch wenn
wir Werte oberhalb der gesetzlichen Grenzwerte finden
oder Mehrfachrückstände, die mit einem normalen
Pflanzenschutzmanagement nicht plausibel zu erklären
sind, müssen wir handeln.
Wir haben einen sehr hohen Sicherheits- und Quali-
tätsstandard. Das ist ein gutes Ergebnis jahrzehntelangen
Ineinandergreifens von Wirtschaft, Forschung und
Rechtssetzung. Darauf können wir stolz sein, und doch
gibt es immer wieder Grund für Verbesserungen. Grenz-
wertüberschreitungen sind kein Grund für unmittelbare
und übertriebene Panikmache, da unsere Grenzwerte mit
vielfachen Sicherheitsfaktoren ausgestattet sind, sodass
bei geringfügigen Überschreitungen nicht mit gesund-
heitlichen Risiken zu rechnen ist.
Doch Überschreitungen sind klare Warnsignale, die
wir wahrnehmen müssen und die uns zum Handeln moti-
vieren. Wir dürfen Überschreitungen und die zuneh-
mende Belastung durch Mehrfachwirkstoffe nicht hin-
nehmen und fordern daher die Bundesregierung auf,
gemeinsam mit den Bundesländern ihre Anstrengungen
zur Eindämmung zu intensivieren. Das Lebensmittelmo-
nitoring ist gut, doch es soll noch besser werden. Über-
schreitungen muss gerichtlich nachgegangen, und sie
müssen sanktioniert werden. Sie sind kein Kavaliersde-
likt. Eine Überschreitung von Grenzwerten ist ein recht
deutliches Indiz dafür, dass die Anwendungsbestimmun-
gen an mindestens einer Stelle im Herstellungsprozess
nicht eingehalten wurden. Das dürfen wir im Umgang
mit zum Teil hochbedenklichen Stoffen nicht akzeptie-
ren. Das gilt für inländisch wie für ausländisch produ-
zierte Waren gleichermaßen. Daher müssen wir innerhalb
der Gemeinschaft dafür sorgen, dass wir harmonisierte
Bedingungen auf unserem hohen Niveau erreichen, und
zudem auch an unseren Grenzen sicherstellen, dass Wa-
ren aus Drittstaaten unseren Standards entsprechen.
Auch hier müssen Missstände abgeschaltet werden.
Abschließend möchte ich jedoch betonen, dass die
Verantwortung für die Einhaltung der Vorschriften bei
den Wirtschaftsbeteiligten liegt. Es ist an ihnen, sicher-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14043
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zustellen, dass sie im Rahmen der gesetzlichen Bestim-
mungen nur einwandfreie Ware anbieten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns wei-
ter gemeinsam daran arbeiten, dass ein moderner Pflan-
zenschutz die Pflanzenbestände schützt und unseren
Landwirten die Erträge sichert, dabei die Umwelt und
unsere Ressourcen schont und uns Verbraucher mit gu-
ten und gesunden Lebensmitteln versorgt.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Pflicht
zur Novellierung des Pflanzenschutzgesetzes ergibt sich
aus dem Urteil des EuGH vom Januar dieses Jahres, in
dem Deutschland zur Umsetzung der FFH-Richtlinie zur
Novellierung des Pflanzenschutzgesetzes verpflichtet
wird.
Chemischer Pflanzenschutz ist für Landwirtschaft
und Gartenbau in Deutschland unverzichtbar. In den
letzten Jahren ist in Deutschland ein sehr hohes Quali-
tätsniveau im Pflanzenschutzbereich erreicht worden:
Die Beeinträchtigung von Natur und Umwelt durch che-
mische Pflanzenschutzmittel konnte kontinuierlich ver-
ringert werden. Das Lebensmittelmonitoring zeigt auf,
dass gerade bei in Deutschland produziertem Obst und
Gemüse die Rückstände von Pflanzenschutzmitteln nur
in geringem Maß vorkommen. 2004 gab es bei 3,8 Pro-
zent der Proben von Obst und Gemüse aus Deutschland
Höchstmengenüberschreitungen, bei Proben aus den üb-
rigen EU-Staaten waren es 8,4 Prozent, bei Proben aus
Drittstaaten waren es 10,4 Prozent. Vor diesem Hinter-
grund sind Verschärfungen des Gesetzes aus Gründen
des Umweltschutzes oder der Lebensmittelsicherheit
nicht erforderlich. Daher ist eine Eins-zu-eins-Umset-
zung der EU-Bestimmungen gerade auch im Hinblick
auf den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit unserer Be-
triebe erforderlich.
Die im vorliegenden Gesetzentwurf zum Pflanzen-
schutzgesetz geforderten erhöhten Dokumentations-
pflichten lehnt die FDP in dieser Form ab. Bereits heute
erstellt jeder Landwirt genaue Aufzeichnungen über die
im Betrieb angewandten Pflanzenschutzmittel. Alle er-
worbenen Pflanzenschutzmittel werden per Lieferschein
oder Rechnung exakt dokumentiert – das reicht nach un-
serer Einschätzung aus.
Mit der im Gesetzentwurf angeführten, nach unserer
Einschätzung völlig überzogenen Forderung für die par-
zellenscharfe Dokumentation der Ausbringung von
Pflanzenschutzmitteln ist ein erheblicher bürokratischer
Mehraufwand ohne erkennbaren Umweltvorteil verbun-
den. Das sich in dieser Forderung ausdrückende Miss-
trauen gegenüber Land- und Forstwirten sowie gegen-
über Gärtnern und Winzern in unserem Land ist
unbegründet. Wir können im Gegenteil feststellen, dass
entsprechend dem Wasserwirtschaftsbericht der Bundes-
regierung im Grundwasser nur noch punktuell Pflanzen-
schutzmittel gefunden werden und in der Tendenz weiter
rückläufig sind. Die in § 40 des Gesetzentwurfes vorge-
schriebene Bußgeldbewehrung sollte vollständig gestri-
chen werden.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass zukünftig das In-
verkehrbringen oder die Einfuhr von mit Pflanzen-
schutzmitteln behandeltem Saat- und Pflanzgut sowie
Kultursubstraten nur möglich sein soll, „wenn das Pflan-
zenschutzmittel in Deutschland zugelassen ist oder das
Pflanzenschutzmittel im Europäischen Wirtschaftsraum
zugelassen ist und wenn das Bundesamt für Verbrau-
cherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) auf An-
trag festgestellt hat, dass das verwendete Pflanzen-
schutzmittel mit einem in Deutschland zugelassenem
Mittel übereinstimmt“. Die FDP lehnt diesen Vorschlag
ab, da dies zu erheblichen Handelshemmnissen bei der
Vermarktung von Saat- und Pflanzgut führen würde.
Zudem gehen diese Anforderungen über das EU-Recht
hinaus, und eine solche Vorgehensweise würde die
Landwirtschaft und den Gartenbau vor erhebliche
Schwierigkeiten stellen. Die zusätzliche Antragstellung
beim BVL ist außerdem mit einem weiteren bürokrati-
schen Aufwand verbunden, den die FDP ablehnt.
Die Forschung im Pflanzenschutzbereich muss nach
Einschätzung der FDP vorangetrieben werden. In Beant-
wortung der kleinen Anfrage der FDP-Bundestagsfrak-
tion „Ökologische und ökonomische Bedeutung von
Schadorganismen, Drucksache 16/7277, hat die Bundes-
regierung ausgeführt, dass laut einem Gutachten aus
dem Jahr 1996 in Deutschland Schäden durch Einschlep-
pung und Ausbreitung von Schadorganismen in Höhe
von 100 Millionen Euro entstehen. Der Betrag dürfte in-
zwischen deutlich höher sein. In diesem Jahr wurde erst-
malig der Maiswurzelbohrer beobachtet, der sich in Ös-
terreich und der Schweiz bereits etabliert hat. In 2006
hat der Rapsglanzkäfer in Deutschland deutliche Schä-
den verursacht. Er ist inzwischen gegen nahezu alle
Pflanzenschutzmittel – Wirkstoffklasse: Pyrethroide –
resistent. Nur zwei Präparate aus dieser Klasse wirken
überhaupt noch gegen den Käfer. Die Biologische Bun-
desanstalt für Land- und Forstwirtschaft, BBA, prognos-
tiziert für 2008: „Es ist derzeit keine optimale Anti-
Resistenzstrategie gegen den Rapsglanzkäfer möglich.
Gründe hierfür sind die nicht genügend große Palette
verschiedener Pflanzenschutzmittel bzw. Wirkstoffe so-
wie Einschränkungen bei der Zahl der erlaubten Anwen-
dungen.“
Wir sind weit von einer Harmonisierung der Pflan-
zenschutzmittel in der EU entfernt. Über Lebensmittel-
importe kommen Lebensmittel nach Deutschland, die
bei uns nicht zugelassene Pflanzenschutzmittel enthal-
ten. Es gibt zahlreiche Wirkstoffe, die in den Niederlan-
den erlaubt, in Deutschland verboten sind. Der Anbau
zum Beispiel von Porree ist in einigen Regionen auf
Grund von Schadinsekten wie der Thrispe nicht mög-
lich. Die Thrispe hinterlässt dunkle Flecken und Streifen
auf dem Gemüse und erschwert hierdurch die Vermark-
tung. Die in Deutschland gegen die Thrispe zugelasse-
nen Pflanzenschutzmittel, zum Beispiel Kaliseife, wir-
ken nicht. Das in den Niederlanden zugelassene, in
Deutschland aber verbotene Pflanzenschutzmittel Mesu-
rol wirkt sehr gut gegen das Insekt. Die Folge ist: Der
Porree aus den Niederlanden wird nach Deutschland ein-
geführt – der deutsche Landwirt geht leer aus. Es gibt
zahlreiche weitere Beispiele.
Vor dem Hintergrund vieler für Landwirtschaft und
Gartenbau ökonomisch bedeutsamer Schadorganismen
14044 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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sind die Pläne der EU, etwa 90 Prozent der im Pflanzen-
schutz eingesetzten Wirkstoffe zu verbieten, eine Ge-
fährdung für Landwirtschaft und Gartenbau. Die Bun-
desregierung selbst hat das Ziel vorgegeben, das
Auftreten der Schadorganismen mit den verfügbaren
pflanzenbaulichen Verfahren und dem Einsatz von
Pflanzenschutzmitteln unter der wirtschaftlichen Schad-
schwelle zu halten. Das wird, wenn die EU-Pläne ver-
wirklicht werden, nicht mehr möglich sein, wie das Bei-
spiel des Rapsglanzkäfers schon jetzt zeigt. Die
Bundesregierung ist aufgefordert, alles zu tun, um die
Umsetzung der EU-Pläne zu verhindern. Das ist eine
zentrale agrarpolitische Frage, die nicht auf Arbeits-
ebene entschieden werden kann. Hier muss sich der Mi-
nister endlich erkennbar für deutsche Interessen einset-
zen. Die Lebensmittelsicherheit ist in Deutschland nicht
durch Pflanzenschutzmittelrückstände gefährdet – der
Verbraucher wird auch künftig vertrauensvoll die Pro-
dukte aus deutschen Landen genießen können.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Linke be-
grüßt die Neufassung des Pflanzenschutzgesetzes. Sie
bedeutet im Wesentlichen eine Anpassung an EU-Vorga-
ben und die bessere Berücksichtigung der so genannten
Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der EU. Das bedeutet:
Umweltschutz und besonders der Schutz seltener Pflan-
zen- und Tierarten werden im neuen Pflanzenschutzge-
setz etwas verbessert. Das ist nicht viel, aber man kann
das nicht ablehnen. Das Thema ist aber wichtig genug,
um es breiter als nur im Zusammenhang mit dem Ge-
setzentwurf zu besprechen.
Der Schutz der natürlichen Ressourcen auch durch
eine konsequentere Pflanzenschutzmittelgesetzgebung
ist aus unserer Sicht sinnvoll und notwendig. Immerhin
werden noch fast 95 Prozent der landwirtschaftlich
genutzten Fläche in Deutschland konventionell bewirt-
schaftet. Das heißt auf knapp 14 Millionen Hektar
landwirtschaftlicher Fläche gibt es die Möglichkeit für
Landwirtschaftsbetriebe, chemisch-synthetische Pflan-
zenschutzmittel einzusetzen. So wichtig der Ökolandbau
auch ist, es ist angesichts der Flächenverhältnisse auch
wichtig zu erreichen, dass die konventionelle Landwirt-
schaft ökologischer arbeitet. Denn diese Pflanzenschutz-
mittel haben naturgemäß Auswirkungen auf die Umwelt.
Auch in neueren Erhebungen der Biologischen Bundes-
anstalt und der Umweltbehörden aus Bund und Ländern
werden immer wieder zu hohe Rückstände von Pflan-
zenschutzmitteln im Grundwasser gefunden. Dazu kom-
men solche Rückstände in Nahrungsmitteln, die so ge-
ring wie irgend möglich sein müssen.
Dazu sollte auch das Pflanzenschutzmittelreduktions-
programm beitragen. Ein positiver Trend ist der gesun-
kene Wirkstoffaufwand je Hektar, der in den letzten
20 Jahren halbiert wurde. Im Durchschnitt beträgt der
Aufwand somit nur noch 1,7 kg/ha – erhoben in 2006. In
meinem Bundesland in Brandenburg sind es sogar nur
0,9 kg/ha. Im Vergleich: Ende der 80er-Jahre waren das
noch 3,5 kg/ha!
Natürlich haben sich auch die Wirkstoffe verändert.
Die Reduzierung der Aufwandsmengen ist also nur ein
Teil der Wahrheit. Gleichzeitig sind andere Wirkungs-
mechanismen zu berücksichtigen, die hinsichtlich der
ökologischen Auswirkungen aktuell nicht immer end-
gültig beurteilt werden können. Andererseits ist über die
Weiterentwicklung der „guten fachlichen Praxis“ eine
weitere Reduzierung chemischer Anwendungen auf dem
Acker möglich. So werden zum Beispiel Voraussagen
der Prognosemodelle für die Entwicklung des Auftretens
von Schädlingen wie Insekten, Pilzen oder auch Unkräu-
tern besser und die Reaktionsmöglichkeiten selektiver.
Der hohe ökonomische Druck, unter dem die Betriebe in
den vergangenen Jahren bei sinkenden Getreidepreisen
arbeiten mussten, hat auch dabei geholfen, die Schwelle
für den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln anzuheben.
Wir sollten genau beobachten, wie sich die aktuell stei-
genden Erzeugerpreise für Feldfrüchte auf die Einsatz-
schwelle für Pflanzenschutzmittel auswirken.
Der sinkende Verbrauch von Pflanzenschutzmitteln in
den vergangenen Jahren ist eine erfreuliche Entwick-
lung, die aber weiter befördert werden muss. Das größte
Problem im Pflanzenschutz ist nach wie vor die negative
Auswirkung auf die Artenvielfalt. Hier ist die Politik in
der Verantwortung, und mit Blick auf den Erhalt der Ar-
tenvielfalt müssen die Rahmenbedingungen gesteckt
werden.
Was ist aber zu tun? Ein sehr wichtiger, in Deutsch-
land und Europa auch sehr erfolgreicher Weg zur um-
weltgerechten und nachhaltigen, weil ressourcenschüt-
zenden Landnutzung, ist der ökologische Landbau. Das
von der rot-grünen Bundesregierung formulierte Ziel
von 20 Prozent Ökolandbau bis 2020 erscheint aus heuti-
ger Sicht utopisch. Aber selbst der Deutsche Bauernver-
band hält ein Ziel von 10 Prozent für 2015 für machbar.
Die Verbrauchsentwicklung der letzten Jahre hat gezeigt,
dass Bioprodukte beliebt sind und von den deutschen
Verbraucherinnen und Verbrauchern auch zu höheren
Preisen gekauft werden. Leider hält die einheimische
Produktion von Biolebensmitteln nicht mit der rasant
wachsenden Nachfrage mit. Eine Hürde ist die kosten-
intensive und risikoreiche Umstellung. Hier muss es eine
verlässliche und auskömmliche Grundförderung geben.
Das ist dann gleichzeitig praktischer Umweltschutz.
Die mit dem neuen Pflanzenschutzgesetz etwas aus-
geweitete Pflicht zur konkreten Dokumentation der
Pflanzenschutzmittelanwendungen auf den einzelnen
Feldern ist aus Sicht der Linken notwendig und ange-
messen. Moderne Landwirtschaftsbetriebe sind heute
problemlos in der Lage, dieser Pflicht nachzukommen.
Betriebe, die diese Arbeiten nicht selbst erledigen, son-
dern zum Beispiel an Lohnunternehmer übertragen, soll-
ten selbst daran interessiert sein, zu wissen und zu doku-
mentieren, was auf ihren Feldern geschieht. Es kann dem
Image der einheimischen und europäischen Landwirt-
schaft nur nutzen, wenn die Standards maßvoll, aber
konsequent erhöht werden und auch verantwortliches
Handeln transparent und belegbar ist.
Pflanzenschutz ist und bleibt ein sensibler Bereich. Er
leistet seinen Beitrag zu einer effizienten und modernen
Landwirtschaft und hat in den konventionellen Systemen
der Landwirtschaft seinen unverzichtbaren Platz. Das
akzeptiert die Linke genauso, wie sie das Spannungsfeld
zwischen Umweltschutz und Anwendungsnotwendigkeit
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14045
(A) (C)
(B) (D)
sieht. Gleichzeitig ist klar, dass wir gerade in Deutsch-
land und Europa heute zu Maßstäben beitragen müssen
bei der Definition einer modernen, ökologisch verträgli-
chen und nachhaltigen Landwirtschaft.
Diese Maßstäbe sollten im Laufe der Zeit weltweit
Gültigkeit erlangen.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
Bündnisgrüne unterstützen einen großen Teil der hier zur
Abstimmung stehenden Änderungen beim Pflanzen-
schutzgesetz. Sie führen zu einem besseren Schutz von
Umwelt und Verbrauchern. Dies gilt insbesondere für
die Anpassung an die FFH-Richtlinie und für die Auf-
zeichnungspflicht für die Ausbringung von Pflanzen-
schutzmitteln. Wir begrüßen auch die Einführung der
Pflicht zur unverzüglichen Beseitigung nicht mehr zuge-
lassener Mittel und die Vorschrift, dass Pflanzenschutz-
mittel nur mehr zugelassen werden dürfen, wenn vorher
eine Rückstandshöchstmenge festgelegt wurde. Auch
die Einrichtung einer Datenbank zur Erfassung der Ge-
nehmigungen nach § 8 b ist sinnvoll.
Was die Aufzeichnungspflicht betrifft, so ist sie be-
reits im Bundesnaturschutzgesetz geregelt. Daher gibt es
keinen Grund, über zusätzlichen Aufwand für die Land-
wirte zu klagen. Die Aufregung über Bürokratieaufbau,
die die Agrarverbände an diesem Punkt einmal mehr ze-
lebriert haben, ist daher völlig überzogen. Es ist aller-
dings wichtig, dass diese Pflicht auch in entsprechendes
Fachrecht und in den Bußgeldkatalog aufgenommen
wird. Denn was nützt eine Vorschrift, wenn es keinerlei
Handhabe gibt, um die Befolgung durchsetzen zu kön-
nen? Deswegen ist es auch gerechtfertigt, dass diese
Pflicht der Cross Compliance unterliegt.
Genauso wenig ist der Widerstand des Deutschen
Bauernverbandes gegen die Umsetzung des Urteils des
Europäischen Gerichtshofs zur Umsetzung der FFH-
Richtlinie in deutsches Naturschutzrecht nachvollzieh-
bar. EU-Recht muss nun einmal umgesetzt werden.
Sonst wehrt sich der Bauernverband doch regelmäßig
gegen deutsche Alleingänge.
Es ist gut, dass die Koalition die Forderung des Deut-
schen Bauernverbandes und des Bundesrates verworfen
hat, den aus deren Sicht missliebigen Einfluss des Um-
weltbundesamtes bei der Pflanzenschutzmittelzulassung
auszuschalten. Stattdessen wäre es umweltpolitisch so-
gar angebracht, das Einvernehmenserfordernis auch auf
die Ausnahmegenehmigungen auszuweiten.
Falls Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition, nach meinen bisherigen lobenden Worten
glauben sollten, ich würde Sie heute mit Kritik verscho-
nen, dann haben Sie sich allerdings zu früh gefreut. Es
gibt in der Tat einige Änderungen, die wir Bündnisgrüne
durchaus kritisch sehen. Da sind zum Beispiel die Er-
weiterung und Verlängerung der Aufbrauchfristen für
nicht mehr zugelassene Pflanzenschutzmittel. Kritisch
sehen wir auch die Streichung des Selbstbedienungsver-
botes für Pflanzenstärkungsmittel. Pflanzenstärkungs-
mittel sind integraler Bestandteil eines verantwortungs-
vollen Pflanzenschutzes. Deshalb bedürfte es eher der
zusätzlichen Einführung einer Beratungspflicht.
Negativ ist auch Ihr Änderungsantrag, mit dem die
neuen Regelungen zum Teil wieder abgeschwächt wer-
den sollen. Das betrifft vor allem die Ausnahmemöglich-
keiten von den Anwendungsverboten. Wie weit diese
Ausnahmetatbestände greifen und ob damit die FFH-
Richtlinie noch korrekt umgesetzt wird, ist überhaupt
nicht absehbar. Allein schon deshalb haben wir Ihren
Änderungsantrag abgelehnt.
Mit der Novelle des Pflanzenschutzgesetzes hätte
man noch weitergehende Anliegen des Umwelt- und
Verbraucherschutzes umsetzen können. Die Chance ist
leider vertan.
Dazu gehört vor allem, die Ausbringung von Pestizi-
den aus der Luft grundsätzlich zu verbieten, um die Ver-
driftung von Pflanzenschutzmitteln in Gebiete außerhalb
der Zielfläche zu vermindern. Ausnahmen wie beim
Weinbau in Steillagen sollte man auf regionale oder
durch extreme Kalamitäten bedingte Sondersituationen
begrenzen. Hier könnte Deutschland bereits heute eine
Regelung verabschieden. Es wäre nicht unbedingt nötig
gewesen, auf die EU-Richtlinie zur Anwendung von
Pflanzenschutzmitteln zu warten, die eine solche Vor-
gabe aller Voraussicht nach enthalten wird.
Außerdem muss das Zulassungsverfahren biologi-
scher Pflanzenschutzmittel den spezifischen Anforde-
rungen dieser Mittel angepasst werden. So könnte es im
Einzelfall sicher auch einfacher und kostengünstiger ge-
staltet werden.
Auch sollte zur Schließung von Indikationslücken die
Möglichkeit der Anerkennung von Pflanzenschutzmit-
telzulassungen anderer EU-Staaten nach § 5 b besser ge-
nutzt werden. Hier sollten Möglichkeiten zur Erleichte-
rung dieser Anerkennungen geprüft werden.
Wir werden uns bei der Abstimmung über Ihr Gesetz
enthalten, denn es geht uns nicht weit genug und bringt
neben etlichen Fortschritten auch einige Rückschritte.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Antrag: Hilfe für irakische Flüchtlinge aus-
weiten – Im Irak, in Nachbarländern und in
Deutschland
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Irakische Flüchtlinge in die EU auf-
nehmen – In Deutschland lebende Irakerin-
nen und Iraker vor Abschiebung schützen
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Schutz für irakische Flüchtlinge ge-
währleisten
(Tagesordnungspunkt 18 a und b)
Reinhard Grindel (CDU/CSU): Die allgemeine
Sicherheitslage im Irak ist gerade für die christlichen
Minderheiten bedrohlich. Dem tragen die Verantwortli-
chen auf Bundes- und Landesebene Rechnung.
14046 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
Linkspartei und Grüne zeichnen ein Zerrbild von der
Behandlung irakischer Flüchtlinge. Die Durchführung
der Widerrufsverfahren für irakische Asylberechtigte
durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist
richtig. Dabei geht es überhaupt nicht um die Frage, ob
die irakischen Flüchtlinge dann sofort in ihre Heimat ab-
geschoben werden müssen. Es geht ausschließlich um
die Frage, ob die Schutzpflicht unseres Staates für diese
Menschen grundsätzlich noch besteht. Eine solche Prü-
fung ist geradezu zwingend, weil viele Iraker deshalb
Asyl in Deutschland erhalten haben, weil sie Verfolgte
des Regimes von Saddam Hussein waren. Da Saddam
Hussein ersichtlich keinerlei Verfolgungsgefahr mehr im
Irak darstellt, ist insoweit der Schutzzweck der Asylge-
währung weggefallen.
Das bedeutet aber nun nicht, dass die irakischen
Flüchtlinge in Deutschland jetzt schutzlos wären. Der
Widerruf der Asylanerkennung führt nicht zum illegalen
Aufenthalt. Tatsächlich besitzen 75 Prozent dieser iraki-
schen Staatsbürger einen legalen Aufenthaltstitel. Das
entspricht auch der hohen Schutzquote für irakische
Flüchtlinge, die seit 2005 nach Deutschland gekommen
sind. Insbesondere wegen religiöser Verfolgung ist in
87 Prozent der Fälle entweder Asyl oder zumindest ein
Abschiebungsschutz gewährt worden.
Die EU-Richtlinien, die in den Anträgen der Opposi-
tion angesprochen werden und die angeblich nicht aus-
reichend umgesetzt sind, haben gerade in letzter Zeit zu
einer vermehrten Zahl von Asylfolgeanträgen geführt.
Insbesondere vor dem Hintergrund der religiösen Verfol-
gung im Irak, der christliche Minderheiten ausgesetzt
sind, ist umfassend Abschiebungsschutz gewährt wor-
den. Das ist auch vom Bundesverfassungsgericht und
Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich anerkannt wor-
den.
Gerade um die betroffenen Iraker nicht zu verunsi-
chern, hat das Bundesamt für Migration die Widerrufs-
verfahren jetzt sogar auf einen relativ kleinen Personen-
kreis beschränkt: Widerrufsverfahren werden nur noch
bei Straftätern, Gefährdern der inneren Sicherheit, Per-
sonen, die zwischenzeitlich im Irak besuchsweise gewe-
sen sind und alleinstehenden Männern aus dem Nordirak
durchgeführt. Das muss man doch wohl klar festhalten:
Ein umfassender Abschiebungsstopp darf doch nicht
dazu führen, dass selbst gefährlichste Straftäter nicht
mehr abgeschoben werden können. Die staatlichen Insti-
tutionen haben auch eine Schutzpflicht gegenüber den in
Deutschland lebenden Menschen, die nicht ohne Not
von Straftaten bedroht werden dürfen. Deshalb kann im
Einzelfall eine Abschiebung als Ultima Ratio gerechtfer-
tigt sein.
Ich will in diesem Zusammenhang nur darauf verwei-
sen, dass 2006 und auch 2007 mehrere Hundert Iraker
freiwillig in ihr Land zurückgekehrt sind, vor allem in
die Regionen des Nordiraks. So dramatisch können sie
selbst die Sicherheitslage in diesem Teil des Iraks also
nicht eingeschätzt haben.
Personen aus dem Großraum Bagdad, alleinstehende
Frauen, Familien mit Kindern, kranke und alte Men-
schen und Personen, die langfristig in Deutschland auf-
hältig waren und hier gut integriert sind – bei ihnen allen
kommt es noch nicht einmal zu einem Widerrufsverfah-
ren, geschweige denn, dass man sie in den Irak abschie-
ben würde.
Ich wiederhole deshalb: Die verschiedenen Maßnah-
men des Bundes sind eine gerechte Güterabwägung zwi-
schen den berechtigten Interessen der Iraker, nicht in
eine ungewisse und lebensgefährliche Zukunft abge-
schoben zu werden, und den Sicherheitsinteressen unse-
res Landes. Ich will auch nochmals betonen, dass wir
uns in Deutschland in voller Übereinstimmung mit den
Erkenntnissen des UNHCR befinden. Auch der UNHCR
hält Rückführungen in den Irak für zulässig, wenn die
betroffenen Personen in eine Familie oder in eine stabile
soziale Struktur zurückkehren können, wenn sie eine
Chance auf Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt
und eine Wohnung haben. Auch bei der Abschiebung als
Ultima Ratio beachten die Innenminister in Bund und
Ländern die Vorgaben des UNHCR. Abgeschoben wer-
den – übrigens nun wirklich in sehr kleiner Zahl – nur
Straftäter oder Gefährder der inneren Sicherheit, wenn
sie ihren ursprünglichen Aufenthalt im Nordirak haben.
Dementsprechend muss man sich auch mal mit den
tatsächlichen Zahlen vertraut machen: Ganze acht Perso-
nen sind in diesem Jahr in den Nordirak abgeschoben
worden. Dabei handelt es sich ausnahmslos um Perso-
nen, die den Sicherheitsbehörden erhebliche Probleme
bereitet haben. Alle anderen Abschiebungen erfolgten in
die Drittstaaten, über deren Staatsgebiet die irakischen
Flüchtlinge auch eingereist sind.
Nur noch mal zur Klarstellung, weil immer wieder
auf die EU-Ebene bei dieser Debatte verwiesen wird: In
keinem EU-Mitgliedstaat gibt es einen Abschiebestopp.
Das gilt gerade auch für die Länder mit einem relativ ho-
hen Anteil von irakischen Staatsbürgern, die teilweise
auch eine Gefahr für die innere Sicherheit darstellen. In-
soweit ist bei uns in Deutschland ein konzertiertes Vor-
gehen von Bundesinnenminister und Landesinnenminis-
tern durchaus sinnvoll. Angesichts einer schon heute
relativ hohen Zahl von irakischen Flüchtlingen, die sich
in Deutschland aufhalten, muss man ganz klar sagen,
dass ein allgemeiner Abschiebestopp auch einen deutli-
chen Pull-Faktor zur Folge hätte.
Wir wissen ganz genau, dass viele irakische Flücht-
linge in Einrichtungen in den Nachbarstaaten des Irak
darauf warten, dass sie durch eine gezielte Schleusungs-
aktion nach Deutschland gebracht werden können. Es
kommt also darauf an, den Menschen vor Ort zu helfen,
etwa in den Flüchtlingslagern in Grenzregionen. Das
entspricht auch der Linie der übrigen EU-Staaten. Es
gibt keine sonderlich ausgeprägte Bereitschaft innerhalb
der EU zu einer Aufnahmeaktion für irakische Flücht-
linge. Das Augenmerk in dieser Frage liegt deshalb bei
den EU-Mitgliedstaaten auf der massiven Unterstützung
der Nachbarstaaten des Irak, die viele irakische Flücht-
linge aufgenommen haben. Wir wollen den Menschen
vor Ort eine Chance geben. Wir wollen nicht, dass sie ihr
ganzes erspartes Geld irgendwelchen Schlepper- und
Schleuserbanden in den Rachen schmeißen, die tatsäch-
lich nichts zur Verbesserung der Lebensgrundlagen der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14047
(A) (C)
(B) (D)
Menschen beitragen, sondern im Einzelfall auf dem Mit-
telmeer sogar ihren Tod billigend in Kauf nehmen. Das
ist die Sachlage, und die muss auch einmal ganz klar
ausgesprochen werden.
Der Bund hat innerhalb der EU insgesamt 10,2 Mil-
lionen Euro für Hilfen zur Grenzsicherung und zu
Grenzkontrollen und zu einer guten humanitären Unter-
bringung der Menschen beigetragen und nochmals
zusätzlich 2,2 Millionen Euro für humanitäre Hilfen ge-
sondert bereitgestellt. Deshalb sage ich nochmals mit
großem Ernst: Die Politik von Abschiebungen und Wi-
derrufsverfahren gegenüber irakischen Flüchtlingen auf
Bundes- und Landesebene entspricht der geltenden
Rechtslage, und die Hilfe für die Flüchtlinge vor Ort ist
aus humanitären Gründen wirklich beispielhaft. Deshalb
lehnen wir die Anträge von den Grünen und der Links-
partei ab. Der Flüchtlingsschutz ist bei dieser Bundes-
regierung und insbesondere dem jetzigen Innenminister
in guten Händen.
Rüdiger Veit (SPD): Die politische Lage im Irak ist
nicht stabil. Sie ist besorgniserregend. Die Gewaltbereit-
schaft ist erhöht, die Verfolgung ethnischer und religiöser
Minderheiten hält an. Nach Angaben des Flüchtlings-
hochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR)
sind bereits mehr als 2,5 Millionen Iraker ins Ausland ge-
flohen. Allein im Nachbarland Syrien treffen tagtäglich
etwa 2 000 Flüchtlinge ein. Für alle Nachbarländer be-
deuten die irakischen Flüchtlinge eine ungeheure Last;
die öffentliche Infrastruktur ist ausgereizt. Wasser- und
Stromversorgung sind längst überlastet.
Hier bedarf es der Hilfe, wie die Anträge ganz richtig
anmahnen – humanitärer und finanzieller Hilfe, auf EU-
und auf Bundesebene. Es kann von den Nachbarländern
nicht erwartet werden, dass sie die Flüchtlingskrise sel-
ber schultern. Hier müssen wir tätig werden. Hier wur-
den wir aber auch schon tätig:
Das Amt für humanitäre Hilfe der EU hat vier Millio-
nen Euro für Projekte von UNHCR vor Ort zur Verfü-
gung gestellt. Weitere 11 Millionen Euro hat die EU
Syrien für Entwicklungshilfe im Gesundheitswesen und
im Bildungssektor zugesagt. Gleichwohl halte ich es für
wünschenswert, dass sich die EU noch stärker finanziell
engagiert. Auch unsere Entwicklungsministerin Heidi
Wiecoreck-Zeul hat Syrien zugesagt, vier Millionen
Euro für den Bau von Schulen bereitzustellen, um
Flüchtlingskindern den Unterricht zu ermöglichen.
Die in den Anträgen aufgestellten Forderungen sind
darauf gerichtet, einen generellen Abschiebestopp für
irakische Flüchtlinge durchzusetzen und die Wider-
rufpraxis gegenüber allen irakischen Flüchtlingen auszu-
setzen. In den Anträgen wird grundsätzlich ein wichtiges
Problem angesprochen. Dies Problem muss aber diffe-
renziert diskutiert werden. Ich möchte deshalb darauf
hinweisen, dass in Bezug auf beide genannten Forderun-
gen schon einiges geschehen ist. Dies gilt zunächst für
die Forderung nach Aussetzung der Widerrufspraxis:
Auch die SPD hat die durchaus kritisch zu beurtei-
lende Widerrufpraxis in unmittelbarem Dialog mit dem
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehrfach an-
gesprochen. Im Mai dieses Jahres hat das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge (BAMF) seine Entscheidungs-
praxis schließlich der dramatischen Sicherheitslage im
Süd- und Zentralirak angepasst. Seit dieser Zeit werden
kaum mehr Widerrufe eingeleitet, bereits aufgenom-
mene Verfahren ruhen. Dies gilt für Personen aus dem
Großraum Bagdad ohne inländische Fluchtalternative,
für alleinstehenden Frauen ohne Familienbindungen, für
Familien mit minderjährigen Kindern, für kranke und äl-
tere Personen sowie für Personen, die sich bereits lange
in Deutschland aufhalten, gut integriert sind und keine
eigenen Bindungen zu ihrem Herkunftsland haben.
Schließlich und wesentlich gilt der Abschiebungsschutz
auch für religiöse Minderheiten wie Christen, Mandäer
und Yeziden.
In all diesen Fällen wird nicht mehr widerrufen. Bei
Erstasylanträgen wird von einer Gruppenverfolgung aus-
gegangen. Diese geänderte Entscheidungspraxis wirkt
sich erheblich auf die Gesamtschutzquote für irakische
Asylbewerber aus, wie auch die aktuell vom BAMF ver-
öffentlichten Zahlen belegen: Im Jahr 2006 lag die Ge-
samtschutzquote noch bei 8,3 Prozent. Vom 1. Januar bis
18. Mai 2007 erfolgte ein Anstieg auf 14,2 Prozent.
Anschließend, nach der vorgenannten Änderung der
Entscheidungspraxis, stieg die Gesamtschutzquote im
Zeitraum vom 19. Mai bis 30. September 2007 auf
90,4 Prozent an. 90,4 Prozent ist doch eine erfreuliche
Schutzquote.
Im Übrigen ist es wichtig, auf Folgendes hinzuwei-
sen: Der Verlust des Flüchtlingsstatus kann zwar zum
Verlust des Aufenthaltstitels führen. Das ist aber nicht
zwingend. Obwohl die Praxis in den Bundesländern
diesbezüglich unterschiedlich ist, erhalten zahlreiche
Betroffene eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaub-
nis; nach längerfristigem Aufenthalt ist sogar die Ertei-
lung einer Niederlassungserlaubnis möglich.
Der Abschiebungsschutz wird nunmehr nach einem
Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom
19. November 2007 auch für sunnitische Flüchtlinge aus
dem Irak nochmals auszuweiten sein. Der Bayerische
Verwaltungsgerichtshof entschied, „dass irakischen
Staatsangehörigen sunnitischer Religionszugehörigkeit
aus dem Zentralirak bei einer Rückkehr in den Irak mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfol-
gung durch nichtstaatliche Akteure droht und eine inner-
staatliche Fluchtalternative nicht besteht.“
Solange der irakische Staat nicht in der Lage ist, seine
Bürger zu schützen, sollte kein irakischer Flüchtling aus
Deutschland abgeschoben werden. Selbst das lange als
halbwegs sicher geltende Kurdengebiet im Nordirak
wird immer wieder von Gewalttaten erschüttert. Meines
Erachtens kann dies auch nicht mehr als interne
Fluchtalternative angesehen werden.
Auch was die Frage nach Abschiebungen in den Irak
betrifft, ist sich die Bundesregierung ebenso wie die
Länder ihrer humanitären Verantwortung bewusst. Der
Kreis der Betroffenen, die seit neuestem wieder in den
Nordirak zurückgeführt werden, beschränkt sich nach
den letzten IMK-Beschlüssen auf Personen, die straffäl-
14048 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
lig sind und daher die innere Sicherheit gefährden. Dabei
möchte ich betonen, dass sich die genannten IMK-Be-
schlüsse ausdrücklich auf die Beachtung der Möglich-
keiten beziehen, die UNHCR benennt. UNHCR setzt
deutliche Grenzen: Das Amt spricht sich generell gegen
Abschiebungen von Personen aus, die aus dem Süd- und
Zentralirak stammen. Das gilt nicht nur für diese Gebiete
selbst. Es gilt auch für eine Neuansiedlung der Genann-
ten in den kurdischen Autonomiegebieten des Nordirak,
also Sulaymania, Erbil und Dohuk.
Für Personen, die aus den Autonomiegebieten stam-
men und hierher zurückgeführt werden sollen, muss die
Lage differenziert beurteilt werden. UNHCR hält die
Rückkehr in die Autonomiegebiete, wenn die Betroffe-
nen aus diesen Gebieten stammen, teilweise für möglich.
Dass ihnen dabei weder Verfolgung noch andere Men-
schenrechtsverletzungen drohen dürfen, ist selbstver-
ständlich. Hinzu kommt, dass die weiteren von UNHCR
aufgestellten Grundsätze beachtet werden müssen: Ers-
tens muss eine zu große Anzahl an Rückkehrern vermie-
den werden, weil dies die Stabilität der gesamten Region
gefährden kann. Zweitens müssen die Betroffenen von
Familien und Gemeinden aufgenommen werden. Drit-
tens kommt nur eine schrittweise und geregelte Rück-
kehr in enger Abstimmung mit den örtlichen Behörden
infrage.
Allerdings bleibt die Lage auch im Nordirak ange-
spannt und unsicher. Das muss bedeuten, dass die IMK-
Beschlüsse keinen unumkehrbaren Kurs eingeleitet ha-
ben. Im Gegenteil: Sobald sich eine Destabilisierung zei-
gen sollte, muss von weiteren Abschiebungen abgesehen
werden.
Aus all dem wird deutlich, dass die Situation im Irak
weiter beobachtet werden muss. Nur so kann die hiesige
Praxis kontinuierlich überdacht und gegebenenfalls an
die aktuellen Bedrohungen angepasst werden. Die ge-
stellten Anträge übersehen in ihrer Verallgemeinerung,
dass erste wichtige Schritte gegangen worden sind, de-
nen aber – und damit möchte ich schließen – weitere fol-
gen können, gegebenenfalls sogar müssen.
Hartfried Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Menschen-
rechtslage im Irak ist ohne Frage sehr schwierig. Deshalb
ist es richtig, die Frage von Abschiebung dorthin in der ge-
genwärtigen Situation zu hinterfragen und zu diskutieren.
Ob mit der Maximalforderung nach einem unbedingten
Abschiebestopp wünschenswerte Ziele allerdings wirklich
erreicht werden können, muss dahingestellt bleiben.
Dramatische Menschenrechtsentwicklungen, etwa
aufgrund von Bürgerkriegshandlungen wie im Irak, sind
nicht dadurch lösbar, dass sich ein Sechstel einer nicht
ganz kleinen Nation eine neue Heimat sucht. Humani-
täre Katastrophen wie im Irak sind durch Migration nicht
nachhaltig lösbar.
Es ist nicht hilfreich, wenn dem rechtsstaatlichen In-
strumentarium zur Anerkennung von politisch Verfolg-
ten in Deutschland generell misstraut wird. Dieses
grundsätzliche Misstrauen, das durchaus auch in den
vorliegenden Anträgen durchscheint, teile ich nicht.
Vor diesem Hintergrund bezweifelt die FDP, dass ein
genereller, ausschließlicher und unbefristeter Abschie-
bestopp, wie ihn die Grünen und die Linkspartei fordern,
die richtige Antwort ist. Natürlich müssen wir leider da-
von ausgehen, dass es in Irak politische Verfolgung gibt.
Aber dafür besteht nach wie vor das Recht für politisch
Verfolgte, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen.
Der generelle Abschiebestopp ist ein politisches In-
strument im Falle einer akuten Entwicklung, die rasches
Handeln erfordert. Dieses Instrument darf nicht inflatio-
när verwendet werden und stellt uns deshalb immer wie-
der vor die Frage, ob wir dieses Instrument nicht
dadurch entwerten, indem es zur regelmäßigen Anwen-
dung wird.
In Deutschland gehört die Forderung nach dem Ab-
schiebestopp zum fast schon berechenbaren Ritual. Hier
muss auch darauf geachtet werden, dass eine solche Be-
rechenbarkeit nicht zusätzliche Sogeffekte auslöst. Lei-
der besteht diese Gefahr.
Das Instrumentarium des Abschiebestopps kann nur
bei vorübergehenden Katastrophen eine Antwort sein. Es
ist aber sehr schwierig anzuwenden, wenn sich ein Bür-
gerkrieg langfristig zu verfestigen droht. Es verhindert,
wirklich politisch Verfolgten im Einzelfall gerecht wer-
den zu können.
Es verhindert, Straftäter abzuschieben, die ihr Aufent-
haltsrecht hier missbrauchen. Wenn wir verhindern wol-
len, dass solche Straftäter alle Ausländer in Verruf
bringen, dann müssen wir in der Lage sein, Einzelfall-
entscheidungen zu treffen. Ein Abschiebestopp unterbin-
det das.
Die Bundesregierung hat dargelegt, dass Abschiebun-
gen nach Irak außer im Falle von Straftätern kaum mehr
vorkommen, und das es umgekehrt auch eine beträchtli-
che Zahl von freiwilligen Rückkehrern gibt. Vor diesem
Hintergrund scheint der FDP eine differenziertere Hal-
tung angemessen, als sie der Abschiebestopp darstellt.
Dauerhafte Probleme mit der Menschenrechtslage in
einem bestimmten Land können mit dem Abschie-
bestopp ohnehin nicht gelöst werden. Wir müssen uns
darüber im Klaren sein, dass wir nicht alle Nöte der Welt
auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik werden lindern
können. Wir sind allerdings der Auffassung, dass die
Menschenrechtslage im Irak weiterhin großer Aufmerk-
samkeit bedarf und individuelle Entscheidungen viel
stärker die aktuelle Lage vor Ort berücksichtigen müs-
sen.
Die Grünen haben in ihrem neuen Antrag zu Recht
darauf aufmerksam gemacht, dass die Flüchtlingssitua-
tion vor Ort mit entschlosseneren Hilfsmaßnahmen der
europäischen Staaten verbessert werden muss. Diese
Auffassung teilen wir ausdrücklich.
Die FDP unterstützt den neuen Antrag der Grünen in
vielen Punkten, insbesondere, was die Hilfe vor Ort an-
belangt. Allerdings können wir der apodiktischen Forde-
rung, auch Straftäter in jedem Falle von der Abschie-
bung auszuschließen und alle Asylwiderrufe der letzten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14049
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Jahre von Amts wegen neu aufzurollen, nicht zustim-
men.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): In den irakischen Städten
und den ländlichen Regionen tobt die Gewalt. Auch im
Norden des Landes breitet sich Gewalt gegen Minder-
heiten aus. Dort werden vor allem Jeziden immer wieder
Opfer von Anschlägen. Wie zu Zeiten Saddam Husseins
müssen sie ihre Dörfer verlassen, um in den nördlicheren
Städten Schutz zu suchen. Der andauernde Terror hat
dazu geführt, dass es an der Universität von Mosul in-
zwischen keine jezidischen Studentinnen und Studenten
mehr gibt. Noch dazu droht im Norden des Landes ein
regelrechter Krieg zwischen der türkischen Armee und
der PKK. 4 Millionen Menschen befinden sich auf der
Flucht, 2 Millionen davon suchen im benachbarten Aus-
land Zuflucht. Wie heute ein Sprecherin der EU-Kom-
mission mitteilte, gibt es immer wieder neue Wellen von
Flüchtlingen, die das Land verlassen wollen.
In den Nachbarstaaten des Irak geraten die
Flüchtlinge immer stärker unter Druck. Im Libanon wer-
den sie mittlerweile in Beugehaft genommen, um die
Ausreise zu erzwingen. Syrien, das immerhin schon
750 000 Flüchtlinge beherbergt, nimmt keine Irakerin-
nen und Iraker mehr auf. Diese Länder fühlen sich au-
ßerdem von den westlichen Staaten, auch der Europäi-
schen Union, im Stich gelassen.
Tatsächlich werden sie auch im Stich gelassen. Die
EU-Kommision hat zwar heute beschlossen, 50 Millio-
nen Euro im kommenden Jahr bereitzustellen. Aber wir
wollen nicht vergessen, wer die Hauptverantwortung für
die elenden Zustände im Irak trägt. Das sind diejenigen
Staaten, die das Land im Jahr 2003 ohne Grund ange-
griffen und besetzt haben, und es sind diejenigen, die
den Krieg logistisch unterstützt haben. Dazu gehört auch
die Bundesrepublik. Das ist ein Grund, warum die Bun-
desregierung jetzt wenigstens den irakischen Flüchtlin-
gen helfen muss. Das ist das Ziel unseres Antrages.
Das angesprochene finanzielle Engagement der EU
reicht nicht aus. Es kommt einerseits viel zu spät. Ande-
rerseits nimmt die Europäische Union nur eine ver-
schwindend geringe Zahl an Flüchtlingen selbst auf.
Auch die Bundesregierung sperrt sich dagegen, in
Kooperation mit dem UNHCR besonders schutzbedürf-
tige Flüchtlinge nach Deutschland zu holen. In einer
Antwort auf eine Kleine Anfrage zu dieser Problematik
sagt die Bundesregierung: Wenn wir gezielt irakische
Flüchtlinge holen, dann führt das zu einer Sogwirkung.
Was heißt denn „Sogwirkung“? Sinn des Flüchtlings-
schutzes ist es, dass Menschen Schutz vor Gewalt und
Verfolgung finden. Da kann man doch nicht argumentie-
ren: Nein, wir wollen keinen Schutz anbieten, sonst
kommen womöglich Schutzbedürftige. – Das ist absurd,
menschenverachtend und zynisch. Es ist traurig, dass
man dem Bundesinnenminister diese banale Wahrheit
immer und immer wieder sagen muss. Auch während
der EU-Ratspräsidentschaft hat es die Bundesregierung
abgelehnt, sich an einem Aufnahmeprogramm für iraki-
sche Flüchtlinge zu beteiligen. Dabei stehen wir mit die-
ser Forderung nicht allein. Die Synode der Evangeli-
schen Kirche in Deutschland hat sich Anfang November
ganz klar für solche Aufnahmeprogramme ausgespro-
chen. Auch dazu war von der Bundesregierung keine
Stellungnahme zu hören.
Ich komme noch auf einen letzten Punkt zu sprechen.
Nach drei Jahren wird bei jedem anerkannten Asylbe-
werber geprüft, ob die Gründe seiner Flucht noch beste-
hen. Dabei kennen die Behörden offenbar kein Pardon.
Bis Ende September wurden 4 679 Widerrufsverfahren
gegen irakische Flüchtlinge eingeleitet. Das sind mehr
als im gesamten Jahr 2006. Seit Beginn des Krieges im
Irak gab es insgesamt 26 000 Widerrufsverfahren. Auf
dem Höhepunkt, im Jahr 2004, führten fast 7 000 Ver-
fahren zu einem Widerruf des Asyl- oder Flüchtlingssta-
tus. Das war nicht nur ignorant gegenüber den Verhält-
nissen im Irak. Es sollte ganz klar weitere Flüchtlinge
davon abschrecken, nach Deutschland zu kommen. Zum
Glück enden seit Mai nur noch wenige dieser Verfahren
mit dem Widerruf der Asylanerkennung. Aber es ist
doch klar, dass die Betroffenen durch dieses ganze Ver-
fahren in Unsicherheit gestürzt werden. Diese bürokrati-
sche Schikane ist eine reine Beschäftigungsmaßnahme
für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Wir
fordern: Nutzen Sie diese Ressourcen für die Aufnahme
und die angemessene Betreuung von Flüchtlingen.
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Nach Schätzung des Hohen Flüchtlingskommis-
sars der Vereinten Nationen verlassen derzeit jeden Mo-
nat 60 000 Irakerinnen und Iraker ihr Land, weil sie
unmittelbar von Verfolgung durch terroristische und ge-
waltbereite Gruppen, aber auch seitens staatlicher Stel-
len bedroht sind. Derzeit ist nach Angeben des UNHCR
mit circa 4,4 Millionen Menschen fast ein Sechstel aller
Irakerinnen und Iraker auf der Flucht. Davon sind
2,2 Millionen Binnenflüchtlinge und 2,2 Millionen Men-
schen in die Nachbarländer geflüchtet. Damit hat den
Nahen Osten die größte Flüchtlingswelle seit 1948 er-
griffen.
Die Binnenvertriebenen stammen zumeist aus
Bagdad und sind vor der eskalierten Gewalt in der
Hauptstadt in den Norden geflohen. Aufgrund des hohen
wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Drucks ha-
ben die drei kurdischen sowie mehrere andere Provinzen
seit Anfang 2007 den Zugang von Binnenflüchtlingen
massiv eingeschränkt. Flüchtlinge brauchen einen Bür-
gen, unterliegen strengen Sicherheitsauflagen oder kön-
nen gar nicht einreisen. Vor dem Hintergrund der zuneh-
menden Spannungen und verschärften Sicherheitslage
im Nordirak ist zudem zu befürchten, dass Flüchtlingen
der Zugang in die Türkei verwehrt wird und sich ihre
dortige aufenthaltsrechtliche Situation verschlechtert.
Auch die Nachbarländer des Irak sind von der Flücht-
lingskatastrophe betroffen. Durch circa 750 000 Irake-
rinnen und Iraker im lediglich sechs Millionen Einwoh-
ner zählenden Jordanien und circa 1,4 Millionen
irakische Flüchtlinge in Syrien entstehen enorme wirt-
schaftliche, soziale und politische Herausforderungen.
Libanon, Ägypten und die Türkei sind weitere Hauptzu-
fluchtsländer. Sie stehen durch die hohe Zahl von
14050 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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Schutzsuchenden vor enormen Herausforderungen. Die
Einreisebedingungen in Jordanien wurden ebenso ver-
schärft wie in Syrien, wo seit 1. Oktober 2007 keine
Sechsmonatsvisa für arabische Staatsbürgerinnen und
Staatsbürger mehr ausgegeben werden. Die syrische Re-
gierung hat ebenfalls den Arbeitsmarkt für irakische
Flüchtlinge geschlossen. Die Lage der Flüchtlinge vor
allem in Amman und Damaskus ist dramatisch. Allein-
stehende Frauen, Alte, Kranke, traumatisierte Flücht-
linge und arme Familien sind besonders abhängig von
Hilfe.
Die internationale Gemeinschaft reagiert bisher nur
unzureichend auf die Flüchtlingskatastrophe. Die USA
als Hauptakteur im Irak haben lediglich einige hundert
Flüchtlinge seit der Invasion 2003 aufgenommen,
Schweden hingegen allein 9 000 Personen. Der UNHCR
hat über 13 000 besonders hilfsbedürftige Personen zur
Weiterwanderung in Drittländer identifiziert, von denen
bisher nur wenige hundert in die Zielländer ausreisen
konnten. In der EU gab es einen Vorstoß von Großbri-
tannien, den Niederlanden und Schweden für eine ge-
meinsame Aufnahme (Resettlement), die aber von der
deutschen Ratspräsidentschaft unverantwortlicherweise
nicht aufgegriffen wurde.
Das Europäische Parlament hat bereits am 12. Juli
2007 die Mitgliedstaaten aufgefordert, einen Beitrag zur
Linderung der Flüchtlingstragödie durch aktive Auf-
nahme in Europa zu leisten. Geschehen ist in Deutschland
bisher nichts. Angesichts des Ausmaßes der Flüchtlings-
tragödie im Nahen Osten ist dies eine menschenrechtli-
che Bankrotterklärung.
Wir hoffen, dass durch unseren heute eingebrachten
Irak-Antrag die Einsicht wächst, dass auch Deutschland
aktiv irakische Flüchtlinge, insbesondere ethnischen und
religiösen Minderheiten, aufnehmen muss. Diese Forde-
rung wird überdies auch von Kirchen und Menschen-
rechtsorganisationen immer wieder vorgetragen.
Nicht nur die Unterlassungen der Bundesregierung
sind zu kritisieren. Auch das Handeln von Bundes- und
Landesministern gegenüber irakischen Flüchtlingen in
Deutschland ist unverantwortlich. Trotz der schwierigen
Lage im Irak hat die Innenministerkonferenz im Novem-
ber 2006 den Abschiebestopp nach Irak aufgehoben. Ab-
schiebungen aus Deutschland in den kurdischen Norden
sind völlig unverantwortlich, da sie geeignet sind, die
Nordprovinzen in einer Umbruchsituation und schwieri-
gen ökonomischen Lage zu destabilisieren. Ein Abschie-
bestopp muss daher bis auf Weiteres für den gesamten
Irak gelten.
In europaweit einzigartiger Weise hat die Bundes-
republik außerdem in den vergangenen drei Jahren bei
anerkannten irakischen Flüchtlingen in Deutschland
18 000 Widerrufsverfahren durchgeführt. Nach massiver
Kritik an dieser aufenthaltsrechtlichen Verunsicherung
hat das Innenministerium das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge im Mai 2007 angewiesen, die Verfahren
für bestimmte Gruppen auszusetzen. Das ist zwar rich-
tig, reicht aber nicht aus. Zum einen müssen auch dieje-
nigen, deren Flüchtlingsstatus bereits widerrufen wurde,
im Lichte der neuen Erkenntnisse behandelt werden.
Zum anderen wäre aus der Einsicht, dass auch der Nord-
irak keine adäquate Fluchtalternative bietet, die Konse-
quenz eines generellen Abschiebestopps für alle Grup-
pen zu ziehen. Auch der Verweis auf eine inzwischen
verbesserte Anerkennungspraxis kann nicht ausreichen,
solange nur wenige irakische Flüchtlinge überhaupt die
Chance haben, Deutschland zu erreichen.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Bürokratie abbauen – Zeitumstellung
abschaffen und Sommerzeit permanent einfüh-
ren (Tagesordnungspunkt 20)
Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Wer hat an der
Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät? Wenn wir,
wie die FDP es vorschlägt, ganzjährig die Sommerzeit
hätten, wäre es noch später.
Zunächst möchte ich anmerken, dass die CDU/CSU
es begrüßt, dass sich die Mitgliedstaaten in der Europäi-
schen Union auf eine einheitliche Zeitregelung geeinigt
haben. Die mitteleuropäische Sommerzeit beginnt je-
weils am letzten Sonntag im März um 2 Uhr mitteleuro-
päischer Zeit. Zum Zeitpunkt des Beginns der Sommer-
zeit wird die Stundenzählung um eine Stunde von 2 Uhr
auf 3 Uhr vorgestellt. Die Sommerzeit endet jeweils am
letzten Sonntag im Oktober um 3 Uhr mitteleuropäischer
Sommerzeit. Zum Zeitpunkt des Endes der Sommerzeit
wird die Stundenzählung um eine Stunde von 3 Uhr auf
2 Uhr zurückgestellt. Es ist für die Abläufe innerhalb des
EU-Binnenmarktes ein großer Vorteil, dass Tag und Uhr-
zeit des Beginns und des Endes der Sommerzeit in der
gesamten EU einheitlich festgelegt sind. An dieser Ein-
heitlichkeit halten wir fest. Am Ende dieses Jahres wird
die Kommission einen Bericht über die Erfahrungen der
einzelnen Mitgliedstaaten mit der einheitlichen Zeitrege-
lung vorlegen.
In Ihrem Antrag argumentiert die FDP vornehmlich
mit Bürokratieabbau und energiepolitischen Gründen.
Zum Bürokratieabbau: Es ist sicher richtig, dass eine
Zeitumstellung mit einem gewissen Aufwand verbunden
ist. Mittlerweile ist es jedoch dank moderner Software
gelungen, diesen Aufwand zu minimieren. Die Betriebs-
systeme der Computer vollziehen die Zeitumstellung au-
tomatisch. Viele Uhren und Wecker werden mittlerweile
funkgesteuert, sodass die Opposition nur noch fürchten
muss, die politischen Entwicklungen zu verschlafen,
nicht aber die Zeitumstellung.
Auch bei einer Umstellung im Bahnverkehr wird die
Zeitumstellung seit Jahrzehnten routiniert und reibungs-
los vollzogen. Der Flugverkehr, der sowieso über meh-
rere Zeitzonen abgewickelt wird, ist von dieser Rege-
lung direkt nicht betroffen, da dort mit der koordinierten
Weltzeit (UTC) gearbeitet wird. Lediglich die Ankunfts-
und Abflugzeiten vor Ort sind davon betroffen. Auch in
der Seefahrt ist die UTC die Referenzzeit.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14051
(A) (C)
(B) (D)
Zum Energieverbrauch: Durch die Vorverlegung der
Heizzeiten, werden eventuelle Energieeinsparungen wie-
der kompensiert. Dies ist jedoch nichts Neues. Bereits
bei der Formulierung des Zeitgesetzes Ende der 70er-
Jahre, also zu der Zeit, als die Liberalen mit in der Re-
gierung saßen, war dies bekannt und schon damals nicht
mehr der Grund für die Einführung der Sommerzeit ge-
wesen. Das heißt, man erwartet vom bisherigen System
auch keine Energiespareffekte mehr. Auch sind keine
Umweltbelastungen bekannt.
Ein weiterer Aspekt, über den im Zusammenhang mit
der Zeitumstellung diskutiert wird, ist die Gesundheit.
Eine Stunde zu wenig oder eine Stunde zu viel – die
meisten Menschen passieren die Zeitumstellung „im
Schlaf“ und reagieren aus diesem Grund recht unemp-
findlich. Dennoch muss sich auch der menschliche Kör-
per bei der Zeitumstellung anpassen. Vereinzelt gibt es
dann auch Beeinträchtigungen des Wohlbefindens. Diese
dürften jedoch im Zeitalter von Jetlag und Schichtdienst
nicht nennenswert sein. Langfristige gesundheitliche
Auswirkungen sind zudem nicht bekannt.
Auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen wirkt sich
die Zeitumstellung insofern aus, als die Menschen des
Sommers die Tagesphasen optimaler ausnutzen können.
Entsprechend hat sich auch das Freizeitverhalten der
Menschen angepasst. Die Zeitumstellung ist jedoch auch
nur einer von vielen Aspekten, die das Freizeitverhalten
und die Arbeitsbedingungen der Menschen beeinflussen.
Wir könnten jetzt lange die Vor- und Nachteile der jet-
zigen Regelung abwägen. Es ist und bleibt ein Nullsum-
menspiel. Ich schlage daher vor, wir warten erst einmal
den Bericht der EU-Kommission ab. Die Bundesregie-
rung hat ihre Stellungnahme dazu ja bereits abgegeben
und stellt ebenfalls fest, dass es in den angesprochenen
Bereichen keine wesentlichen Beeinträchtigungen durch
die derzeitige Regelung der Europäischen Union gibt.
Abgesehen davon würden wir uns mit der dauerhaften
Einführung der Sommerzeit auch dauerhaft eine Stunde
von unserer geographischen Zeit entfernen.
Ich kann mich nach sorgfältiger Prüfung dieser Auf-
fassung nur anschließen. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt
Ihren Antrag daher ab.
Maik Reichel (SPD): Das Thema Zeitumstellung be-
schäftigt dieses Haus schon eine ganze Weile, zuletzt in
der 15. Wahlperiode, als es ebenfalls die Kollegen der
FDP-Fraktion waren, die sich mit einer Kleinen Anfrage
an die damalige Bundesregierung wandten.
Erstmals eingeführt wurde die Zeitumstellung in
Deutschland im Jahre 1916. Mit Unterbrechungen, zeit-
weise ergänzt durch die sogenannte Hochsommerzeit,
bestand sie sogar bis 1950 fort. Im Zuge der Ölkrise
1973 beschlossen die Europäer in der Absicht, Energie
einzusparen, die Wiedereinführung der Sommerzeit. In
der Bundesrepublik fand dies im Zeitgesetz vom 25. Juli
1978 seinen Niederschlag. In Kraft traten die geplanten
Änderungen erst ab 1980, da der Wunsch bestand, sich
in dieser Frage mit den Nachbarn, vor allem auch mit der
DDR, zu koordinieren, um eine möglichst einheitliche
Regelung zu gewährleisten. Ebenjene Regelungen beste-
hen mit geringen Änderungen bis heute fort. Auf euro-
päischer Ebene geschieht dies durch eine Richtlinie des
Rates und des Europäischen Parlamentes vom Januar
2001, die eine unbefristete Verlängerung vorsieht und in
Deutschland per Verordnung vom 12. Juli 2001 umge-
setzt wird.
Das einstige Hauptargument für die Einführung der
Sommerzeit, nämlich die Möglichkeit, dadurch massive
Energiereinsparungen zu erzielen, ist mittlerweile mehr-
fach entkräftet worden. Gestützt auf Erkenntnisse des
Umweltbundesamtes ist in der Antwort der Bundesregie-
rung auf die bereits erwähnte Anfrage der FDP-Fraktion
vom April 2005 zu lesen, dass die Sommerzeit im Hin-
blick auf den Energieverbrauch keine Vorteile biete. Im
Gegenteil: „Die Einsparung an Strom für Beleuchtung
[wird], insbesondere durch den Mehrverbrauch an Heiz-
energie durch Vorverlegung der Hauptheizzeit, über-
kompensiert.“
Neben der fehlenden Energieersparnis wird im vorlie-
genden Antrag auch das Argument des erhöhten techni-
schen und bürokratischen Mehraufwands in privaten Un-
ternehmen und der öffentlichen Verwaltung ins Feld
geführt. Dies ist sicher ebenfalls ein Punkt, der hier un-
strittig ist.
Seit der Wiedereinführung der Zeitumstellung im
Jahre 1980 ist es in dieser Frage immer wieder zu kon-
troversen Debatten gekommen. Im Sinne einer Harmoni-
sierung der Zeitregelung in Europa hat sich diese Praxis
jedoch bis zum heutigen Tage gehalten. Während der
deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr
2007 standen eine Reihe wichtiger Themen oben auf der
Agenda, sodass die Frage einer möglichen Änderung bis
dato unerörtert blieb. Jedoch ist auch die deutsche Re-
gierung bestrebt, zu diesem Thema eine erneute europa-
weite Debatte anzustoßen. Solange jedoch keine Eini-
gung zwischen den Mitgliedstaaten erzielt werden kann,
sollte auch in der Bundesrepublik an der bisher beste-
henden Regelung festgehalten werden, da es, folgte man
dem Vorschlag, die Sommerzeit dauerhaft einzuführen,
sicher zunächst dazu käme, dass die Bundesrepublik zu
einer Art Zeitinsel in Mitteleuropa würde.
Dennoch werden wir weiter bestrebt sein, das Anlie-
gen der FDP-Fraktion wohlwollend aufzunehmen und
im weiteren Verlauf der bevorstehenden Debatten auf
europäischer Ebene die Frage der Zeitumstellung kri-
tisch zu beleuchten. Die Bundesregierung wird aufgrund
der oben genannten Fakten diese Problematik unter Ein-
beziehung aller notwendigen Kriterien positiv mit den
anderen Mitgliedstaaten der EU erörtern. Aus diesen
Gründen erübrigt sich der Antrag der FDP.
Gudrun Kopp (FDP): Welchen Nutzen hat die seit
1981 EU-weit geltende Zeitumstellung? Energieeinspa-
rung, Gesundheitsförderung, Regelungsabbau, Verkehrs-
sicherheit? Fehlanzeige.
Es gibt nicht einen Bereich in Gesellschaft und Wirt-
schaft, der vom zweimaligen Wechsel von Winter- auf
Sommerzeit und zurück profitiert. Im Gegenteil: In der
14052 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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(B) (D)
Realität haben sich sogar handfeste Nachteile ergeben in
Form von mehr Bürokratie, mehr gesundheitlichen Pro-
blemen durch Störung des Biorhythmus und kein ener-
getischer Nutzen. Ergo sollte gelten: Auf eine Regelung,
die keinen erkennbaren Nutzen hat, sollte verzichtet
werden. Genau diese Forderung erhebt die FDP-Bundes-
tagsfraktion mit ihrem vorliegenden Antrag.
Dies ist die Gelegenheit, sogar fraktionsübergreifend
die vielen verbalen Forderungen nach Bürokratieabbau
in die Realität umzusetzen. Das sehen erfreulicherweise
wohl auch etliche Kollegen und Kolleginnen aus den Re-
gierungsfraktionen so. Ich bekam viele zustimmende
Reaktionen auf diesen Antrag und den Vorschlag, hie-
raus einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Dazu ist
es jedoch leider – wohl aus politisch-taktischen Grün-
den – nicht gekommen.
Dennoch ist allen Beteiligten schon lange klar: Die
Zeitumstellung verfehlt deutlich das ursprüngliche Ziel,
durch bessere Ausnutzung der Tageshelligkeit Energie
einzusparen. Den geringfügigen positiven Energieein-
spareffekten bei der Beleuchtung stehen ein Mehrver-
brauch für Heizenergie sowie ein zusätzlicher Kraftstoff-
verbrauch wegen des erhöhten Verkehrsaufkommens am
Abend, wenn es länger hell ist, gegenüber. In ihrem Be-
richt an die EU-Kommission gesteht die Bundesregie-
rung diese Tatsache denn auch offen ein. Es wäre also
konsequent gewesen, hieraus eine Forderung nach Ab-
schaffung abzuleiten. Erstaunlicherweise und zu meinem
großen Bedauern hat sie das jedoch nicht getan. Fehlan-
zeige auf der ganzen Linie.
Die jährlich zweimalige Zeitumstellung ist das Para-
debeispiel einer überflüssigen Regelung, die keinen Nut-
zen bringt, dabei Schaden anrichtet und nur noch exis-
tiert, weil die Mühe gescheut wird, sie abzuschaffen.
In ihrem abschließenden Bericht, der die Erfahrungen
der europäischen Staaten mit der Zeitumstellung zusam-
menfasst, kommt die EU-Kommission zu dem Schluss,
die Bürger und die Unternehmen hätten die Zeitumstel-
lung „in ihre Aktivitäten integriert“. Die Regelung
müsse weiter bestehen, damit die Zeitzählung aller Mit-
gliedstaaten harmonisiert ist. Das ist wohl die absurdeste
Begründung für einen staatlichen Eingriff in die Lebens-
wirklichkeit der Menschen, die man sich nur denken
kann: Alle haben sich daran gewöhnt, also machen wir
weiter wie bisher. Bürokratische und finanzielle Auf-
wendungen für die Umstellung, gesundheitliche Pro-
bleme bei Menschen sowie bei Tieren in der Landwirt-
schaft, all das soll keine Rolle spielen. Dieses Weiter-so
ist entlarvend, denn genau dieses Verhalten ist häufig die
Ursache dafür, dass Gesetze bestehen bleiben, obwohl
sie keiner mehr braucht.
Klar ist, dass aus Gründen eines funktionierenden
Binnenmarkts die verschiedenen Wirtschaftssektoren in
Europa eine einheitliche Zeitzählung benötigen. Doch
das ständige Hin und Her ist überflüssig. Wir plädieren
daher für die Abschaffung der Zeitumstellung und die
Einführung einer ganzjährig geltenden Zeit. Welche Zeit
das sein soll, ob die jetzige Winter- und frühere Normal-
zeit oder die Sommerzeit – dabei sind wir prinzipiell of-
fen. Wir meinen jedoch, dass die Sommerzeit in Anbe-
tracht der heutigen Lebens- und Arbeitsgewohnheiten
der Winterzeit vorzuziehen ist, wie Sie unserem Antrag
entnehmen können.
Sie haben jetzt noch einmal die Möglichkeit, die „Al-
lianz der Untätigen“ zu durchbrechen und die Bundesre-
gierung aufzufordern, diesem unsinnigen Treiben ein
Ende zu setzen. Bringen Sie mit uns gemeinsam den Bü-
rokratieabbau ein Stück voran. Wenn sich Deutschland
als einer der wichtigsten Staaten der Europäischen
Union für dieses Thema engagiert, besteht auch die
Chance, eine Änderung herbeizuführen. Nutzen wir
diese Chance zum konkreten Bürokratieabbau.
Petra Pau (DIE LINKE): Die FDP hat beantragt, die
jährlichen Zeitumstellungen abzuschaffen und die soge-
nannte Sommerzeit permanent einzuführen. Was so ein-
fach klingt, ist allerdings viel komplexer und sensibler,
als es den Anschein hat. Die Abgeordneten der Fraktion
Die Linke werden daher abstimmen, wie es sich gehört,
ihrem jeweiligen Gewissen folgend und nur dem. Des-
halb werde ich die Widersprüchlichkeit illustrieren.
Was ist die gegenwärtige Praxis? Im März und im Ok-
tober werden die Uhren um eine Stunde verstellt. Viele
wissen oftmals nicht, wohin sie die Zeit stellen sollen,
nach vorn oder nach hinten. Das verschafft den Medien
immer wieder dieselbe Quizfrage. Das mag unterhaltsam
sein. Aber diese Unterhaltung geht auf Kosten der Bür-
gerinnen und Bürger. Das ist würdelos und das wie-
derum scheint für den FDP-Antrag zu sprechen.
Aber die Wahrheit ist schlimmer. Regelmäßig im
März werden die Bürgerinnen und Bürger des Nachts
um eine Stunde beraubt. Dieser Beutezug umfasst allein
in Deutschland circa 80 Millionen Stunden. Diese Stun-
den werden zwar im Herbst wieder zurückgegeben, aber
ohne Zins und Zinseszins. Das wirft natürlich die Frage
auf: Wer bereichert sich daran? Die Linke stellt diese
Frage, die FDP verschleiert sie.
Stattdessen will die FDP diesen Aderlass legalisieren,
indem sie permanent die Sommerzeit einführen will. Da-
mit wären aber auch die 80 Millionen Stunden futsch.
Nun weiß gerade die FDP: Zeit ist Geld. Und das ist des
Pudels Kern. Die FDP will den Bürgerinnen und Bür-
gern wieder mal ans Geld. Das ist die Wahrheit, auch
wenn die FDP sich gern als Partei der kleinen Leute lob-
preist. Das Gegenteil ist der Fall.
Ich appelliere zudem ausdrücklich an den aktivierba-
ren Rest christlichen Glaubens in den Reihen der CDU/
CSU. Denn wie steht schon in der Bibel: „Ein Jegliches
hat seine Zeit …“ Genau das aber will die FDP nicht. Sie
will stattdessen eine Einheitszeit für jeden und alles. Die
FDP als neue Einheitspartei, das ist die Botschaft, die
hier so schön versteckt daherkommt. Aber damit kann
man Die Linke nicht täuschen.
Obendrein ist der FDP-Plan wider die Natur. Seit al-
ters her ergibt sich die Zeit aus dem himmlischen Gang
der Sterne. Die FDP will nun eine künstliche Zeit ein-
führen. Das wiederum ist typisch: Sie versprechen den
Leuten eine permanente Sommerzeit, egal ob es draußen
fröstelt oder schneit. Solche Täuschungen bewirken aber
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14053
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letztlich nur eines: noch mehr Parteien- und Politikver-
druss. Genau das will Die Linke nicht.
Der neue Wirrwarr beträfe übrigens nicht nur die
Menschen. Auch Flora und Fauna würden erfasst. Ich
sage nur: „Colchicum autumnale“ oder auf gut Deutsch:
Die Herbstzeitlose. Auch sie, die „Zeitlose“, würde in
das Sommerkorsett der FDP gespannt. Das ist nicht frei-
heitlich, das ist nicht libertär, das ist einfach nur unan-
ständig. Also lassen Sie bitte die Finger davon, zumal
die Herbstzeitlose höchst giftig werden kann.
Ich könnte auch noch über Wintergerste reden oder
über Frühlingsblüher. Aber auch in der Tierwelt würde
einiges durcheinander geraten. Als Stichwort nenne ich
nur den Winterschlaf! Wie wollen Sie denn ihren Kin-
dern und Enkeln erklären, warum sich zum Beispiel die
Bären ausgerechnet zur schönsten FDP-Sommerzeit auf
die faule Haut legen. Und das Ganze auch noch eine
Stunde später, als bislang gewohnt.
Nun sagte ich eingangs: Die Meinungen in der Links-
fraktion sind gespalten. So vermuten unsere Umwelt-
schützer, dass die FDP im vorauseilenden Gehorsam für
die permanente Sommerzeit plädiert. Richtig ist: Es
droht eine globale Erderwärmung. Aber wäre es nicht
klüger, endlich wirklich etwas gegen die Klimakatastro-
phe zu unternehmen, als bürokratisch eine neue Zeit-
rechnung zu erfinden?
Gleichwohl gibt es auch Gründe für den FDP-Antrag.
So werden die meisten Kinder hierzulande im November
bzw. im Dezember gezeugt. In dieser Zeit sind die
Nächte länger und der Kuschelbedarf steigt. Bei einer
permanenten Sommerzeit würde es noch früher finster
als normal. Das spräche für den FDP-Antrag. Ich glaube
nur nicht recht, dass die FDP unter Reichtum neuerdings
vorwiegend Kinderreichtum versteht.
Übrigens: Eine permanente Sommerzeit ist eine staat-
liche Reglementierung im Schlafzimmer. Die FDP will,
dass alle für immer eine Stunde früher aufstehen müs-
sen. Übrigens: Sachsen-Anhalt wirbt mit dem Slogan
„Land der Frühaufsteher“. Die FDP will also aus uns al-
len Sachsen-Anhaltiner machen. Das haben Sie sich fein
ausgedacht, Frau Pieper. Aber auch diesen Trick hat Die
Linke natürlich durchschaut.
Abschließend: Einige Fraktionsmitglieder hatten
schon eine Änderung vorbereitet. Im Original der FDP
heißt es: „Zeitumstellung abschaffen und Sommerzeit
permanent einführen“. Wir hätten beantragt, das Wört-
chen Zeit zu streichen. Geblieben wäre: Umstellung ab-
schaffen – Sommer permanent einführen. Das wäre für-
wahr revolutionär gewesen, scheiterte aber dann doch
am Veto unserer linken Südstaatler und Bergvölker.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Das Topthema dieser Weihnachtssitzungs-
woche mit der Marathonplenumszeit setzt die FDP mit
ihrem Antrag: Schluss mit dem Uhrenumstellen – Som-
merzeit permanent einführen. Kurz vor Weihnachten ist
dem Guido Westerwelle ein Lichtlein aufgegangen. Im
Herbst ihres Daseins will die FDP uns jetzt die Erleuch-
tung bringen.
Es ist zu erwarten, dass die FDP hier begeisterte Un-
terstützung von der Linksfraktion erhält. Ihr neues Idol,
der Sozialist Chavez aus Venezuela, hat gerade verord-
net, dass die Uhren in Venezuela eine halbe Stunde vor-
gestellt werden. Damit ticken die Uhren in Venezuela ab
sofort anders als im Rest der Welt. Der Sozialist, Herr
Chavez, ist fest davon überzeugt, dass diese Maßnahme
zur Beglückung des Volkes beiträgt. Vielleicht ist die
halbe Stunde ja auch ein geeigneter Kompromissvor-
schlag für die Große Koalition. Sie kann sich ja auch
sonst nur auf halbherzige Kompromisse, die nichts lösen
und nichts bewegen, verständigen.
Wir lernen durch den FDP-Antrag, dass Zeit etwas
Hochpolitisches ist. Wir sollten allerdings nicht den Feh-
ler begehen und jetzt bei der Begründung für die Ab-
schaffung der Zeitumstellung die Erwartungen erneut
überhöhen. Eine Vermeidung von Unfällen, weniger
Spritverbrauch und andere Wunderlichkeiten sind kaum
zu erwarten. Die Zahl der Verkehrsunfälle wird nicht
wegen der Zeitumstellung zurückgehen, sondern nur
durch eine vernünftige Tempobegrenzung auf der Auto-
bahn, liebe Kollegin Kopp.
Schon bei der Einführung der Sommerzeit war die
Euphorie, wie wir heute wissen, fehl am Platz. Bereits
1916 führten Großbritannien und Irland eine Sommer-
zeit ein. In den 70er-Jahren hatten die meisten EU-Mit-
gliedstaaten die Sommerzeit eingeführt, Deutschland
schloss sich 1980 an. Seit dem Jahre 2002 ist die Som-
merzeit in Deutschland durch eine Verordnung auf unbe-
stimmte Zeit eingeführt.
Einer der Gründe für die Zeitumstellung war seiner-
zeit die Hoffnung, die Tageshelligkeit im Sommer besser
zu nutzen und somit Energie einzusparen. In ihrer Ant-
wort auf eine Kleine Anfrage musste die damalige rot-
grüne Bundesregierung 2005 jedoch einräumen, dass im
Hinblick auf den Energieverbrauch die Sommerzeit
keine Veränderungen gebracht hat. Die energiepoliti-
schen Auswirkungen wurden mithin deutlich über-
schätzt. Umweltpolitisch haben sich die damaligen Hoff-
nungen nicht erfüllt. Es ist also berechtigt, zu fragen,
welchen Sinn dieses zweimalige Umstellen der Uhren
im Jahr hat.
Die Bundesregierung hat die große Chance der deut-
schen EU-Präsidentschaft hier vertan. Wie weiter mit der
EU-Sommerzeit-Richtlinie 2000/84/EG verfahren wer-
den soll, ist ungelöst. Die EU-Richtlinie einfach nur fort-
schreiben und verlängern ist unbefriedigend. Einen
nationalen Alleingang kann es in dieser schwierigen
Zeitfrage auch nicht geben.
Mir persönlich ist diese ewige Umstellerei der Uhren
eher lästig. Ich weiß auch nach so vielen Jahren nie, ob
ich die Zeit jetzt vor- oder zurückstellen soll. Zum Glück
gibt es heute Funkuhren, die über Nacht automatisch die
Winter- oder Sommerzeit übernehmen. Dies empfinde
ich jedoch als einen massiven Eingriff in meinen ganz
persönlichen Biorythmus. Von mir aus können wir uns
diese ständige Zeitverschiebung schenken.
Das halbjährliche Hü und Hott zwischen Winter- auf
Sommerzeit gehört auf den Prüfstand. Deswegen stim-
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men wir dem Antrag der FDP zu. Möge die Regierung
prüfen, ob Europa sich darauf verständigen kann, die
ewige Sommerzeit einzuführen.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Entwicklungsorientierte Wirtschaftspartner-
schaften zwischen der EU und den AKP-
Staaten – Chancen für politische, wirtschaft-
liche und soziale Stabilität
– EU-AKP-Abkommen: Faire Handelspolitik
statt Freihandelsdiktat
– Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und
Interimsabkommen zwischen EU und AKP-
Staaten entwicklungsfreundlich gestalten
(Tagesordnungspunkt 23 a und b und Zusatz-
tagesordnungspunkt 7)
Anette Hübinger (CDU/CSU): Wir beraten heute ei-
nen Antrag der Koalitionsfraktionen, der zu den laufenden
Verhandlungen zwischen der EU-Kommission und den
Staaten der AKP-Region über den Abschluss neuer Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen Stellung nimmt.
Und ich sage es angesichts der derzeitigen Diskussion
um die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen gleich zu
Anfang: Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die
eben keine reinen Freihandelsabkommen sind, werden
den AKP-Staaten völlig neue Möglichkeiten und Chan-
cen eröffnen, sich schrittweise und abgefedert in die
Weltwirtschaft zu integrieren und die Entwicklung in ih-
ren Staaten voranbringen. Die bisher einseitig geltenden
Handelspräferenzen haben in den vergangenen 30 Jahren
leider nicht zu einer stärkeren Teilhabe dieser Länder am
Welthandel geführt. Ein Umdenken ist daher nötig.
In Afrika, wo sich ein Großteil der AKP-Staaten be-
findet, ist die Hälfte der Bevölkerung jünger als
18 Jahre. Diese jungen Menschen hoffen auf ein nach-
haltig besseres Leben als das ihrer Eltern und Groß-
eltern. Und auch wir tragen dabei Verantwortung. Die
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen allein werden es
nicht schaffen, die prekäre Situation in vielen dieser
Länder nachhaltig zu verbessern.
Der Aufbau wettbewerbsfähiger Industrien, die Ge-
währung von innerpolitischer Stabilität, funktionierende
Gesundheitssysteme oder auch verbindliche Rahmenbe-
dingungen für internationale Investitionen, um hier nur
einige Faktoren zu nennen, sind gleichermaßen notwen-
dig, damit Entwicklungsländer endlich die Chancen der
Globalisierung auch für sich und ihre Menschen nutzen
können. Es wird noch vieler weiterer Anstrengungen be-
dürfen, bevor die millionenfachen Hoffnungen und Er-
wartungen dieser afrikanischen jungen Menschen auch
wahr werden. Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
werden diesen Prozess jedoch wesentlich unterstützen.
Und wir als CDU/CSU-Fraktion appellieren an die Bun-
desregierung, sich auch weiterhin so engagiert für einen
erfolgreichen Abschluss der Wirtschaftspartnerschafts-
abkommen einzusetzen wie bisher.
Der jetzt gewählte zweistufige Ansatz ist ein guter
Weg im Sinne der Entwicklungsländer. Er zeigt zugleich
einen wesentlichen Charakter dieser Abkommen, näm-
lich die sehr flexible Ausgestaltung dieser Verträge. Zu-
nächst werden im ersten Verhandlungsabschnitt bis Ende
2007 Interimsabkommen abgeschlossen werden, die ab
2008 die Konformität mit den WTO-Regeln gewährleis-
ten.
In der zweiten Stufe wird dann über die entwicklungs-
politischen Aspekte verhandelt. Mit diesem Ansatz soll
verhindert werden, dass Länder, die nicht zu den ärmsten
gehören, ab 2008 eventuell handelsrechtliche Nachteile
hinnehmen müssen und es zu einer Unterbrechung der
Güterströme kommt. Nach derzeitigem Stand müssen
sich noch etwa fünf afrikanische Nicht-LDC-Länder, un-
ter anderem Angola, Ghana und Kamerun, auf ein Inte-
rimsabkommen einigen. Aber auch hier hat sich die EU
schon bereiterklärt, mögliche erhöhte Zollzahlungen den
Entwicklungsländern wieder zurückzuzahlen.
Die WTO-Konformität der Verträge hat meines Er-
achtens eine politische Dimension, die noch nicht genug
herausgestellt wird. Die bisher größtenteils bilateral aus-
gestaltete Entwicklungspolitik muss endlich in einen
globalgültigen Rahmen eingebunden werden. Gerade für
die Entwicklungsländer sind weltweit geltende handels-
und finanzpolitische Regelwerke bedeutungsvoll, um sie
vor der Willkür von machtpolitischen Einzelinteressen
zu schützen. Wenn unsere Bundeskanzlerin auf ihrer
Afrikareise Anfang Oktober 2007 nach einer neuen Ent-
wicklungspolitik, die „weit über die traditionelle Ent-
wicklungshilfe“ hinausgeht, verlangt, und Bundespräsi-
dent Horst Köhler in seiner zweiten Berliner Rede
betont: „Wir brauchen eine Entwicklungspolitik für den
ganzen Planeten“, dann sprechen beide auch von der
Notwendigkeit, im Sinne von Entwicklungsländern end-
lich multilateral einheitliche Regeln zu schaffen: allge-
meingültige Regeln, an denen sich erstens alle messen
lassen müssen und die zweitens besser überprüfbar sind.
Für die CDU/CSU-Fraktion war immer Kernpunkt der
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen deren entwicklungs-
förderliche Ausgestaltung über den Charakter bloßer Frei-
handelsabkommen hinaus. Denn wir wissen: Zusätzliche
Wirtschaftschancen führen keineswegs automatisch zu bes-
seren Entwicklungschancen für die betroffenen Menschen.
Es ist deshalb unser Ziel, handels- und entwicklungspoliti-
sche Aspekte so zu verbinden, dass die Handelspolitik in
den Dienst einer wirksamen Armutsbekämpfung und einer
nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung in unseren Partner-
ländern gestellt wird. Der vorliegende Antrag der Koalition
unterstreicht dieses Ziel.
Auf Initiative der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
hat die EU im Mai dieses Jahres ein sehr weitreichendes
Marktzugangsangebot an die AKP-Staaten beschlossen.
Dieses Angebot beinhaltet einen zoll- und quotenfreien
Zugang aller AKP-Staaten zu den europäischen Märk-
ten; für sogenannte „sensible“ Produkte, wie Reis und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14055
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Zucker, soll bis 2015 zunächst eine Übergangsregelung
gelten. Das ist ein ebenso großzügiges wie weltweit ein-
maliges Angebot. Zugleich sind die AKP-Staaten nicht
verpflichtet, ihre eigenen Märkte in gleichem Umfang zu
öffnen: Für den Schutz von in ihren Wirtschaftsstruktu-
ren besonders entwicklungssensiblen Produkten und
Sektoren können sie sehr lange Übergangsfristen für de-
ren Liberalisierung von bis zu 25 Jahren in Anspruch
nehmen. Mit diesem Angebot wird das auch von meiner
Fraktion befürwortete Konzept einer asymmetrischen,
flexiblen und entwicklungsunterstützenden Marktöff-
nung mit politischem Inhalt gefüllt.
Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen bieten her-
vorragende Wirtschafts- und Entwicklungschancen für
unsere Partner. Die schrittweise Öffnung ihrer Märkte
werden für die AKP-Staaten auch Anpassungslasten,
zum Beispiel sinkende Zolleinnahmen, nach sich ziehen.
Die jedoch von einigen NGOs aufgestellten hohen Pro-
gnosen sind für mich nicht nachvollziehbar und werden
auch von unabhängigen Experten als weit überschätzt
bewertet. Zum derzeitigen Zeitpunkt sind auch aufgrund
der noch nicht vollständig verhandelten Liberalisie-
rungsszenarien der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
keine seriösen Angaben über den realen Verlust an Zoll-
einnahmen aufseiten der AKP-Staaten möglich.
Wichtig ist jedoch, zu wissen, dass bei den Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen die Effekte der Han-
delsliberalisierung nicht sofort eintreten. Durch lange
Übergangsfristen im Liberalisierungsprozess, wie oben
schon erwähnt, kann sich der Reformprozess über meh-
rere Jahre hinstrecken. Sinkende Zolleinahmen müssen
daher nicht kurzfristig bewältigt werden, sondern in ei-
nem graduellen Prozess.
Die EU stellt weitreichende finanzielle Mittel zur Be-
gleitung der Umstrukturierungslasten zur Verfügung. Im
9. Europäischen Entwicklungsfonds wurden, um den
EPA-Prozess zu unterstützen, insgesamt 730 Millionen
Euro bereitgestellt. Im 10. EEF, der zeitgleich mit den
EPAs in Kraft treten wird, wurden regionale Integration
und Handel als Schwerpunkte aufgenommen, um die
Unterstützung des EPA-Prozesses nochmals zu verstär-
ken. So wird ein substanzieller Teil des EEF für die Um-
setzung der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ver-
wendet werden können.
Neben der schrittweisen Öffnung für den Weltmarkt
sind die EPAs nicht zuletzt für die regionale Integration
der AKP-Länder von großer Bedeutung. Der Abbau re-
gionaler Handelsschranken und die Errichtung einer
Zollunion dienen dem wirtschaftlichen Wachstum inner-
halb der jeweiligen Region und sind zugleich ein we-
sentlicher Faktor zur Stabilisierung und Intensivierung
der Beziehungen untereinander. Wir in Europa wissen
am besten, dass von regionaler wirtschaftlicher Integra-
tion alle Beteiligten profitieren. Es kann nicht sein, dass
es in Afrika durchaus Länder gibt, die einen Nahrungs-
mittelüberschuss produzieren, aber aufgrund von beste-
henden Handelsbeschränkungen in den benachbarten
Ländern die Menschen an den Folgen von Hunger ster-
ben. Dieses darf es nicht länger geben.
Es ist auch keineswegs so, dass mit dem Inkrafttreten
der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen die AKP-Staa-
ten sich selbst überlassen sind, ganz im Gegenteil. Maß-
geblich auf Initiative der deutschen Präsidentschaft
werden die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ein Mo-
nitoringsystem enthalten, mit dem die Entwicklungswir-
kung der EPAs fortlaufend begleitend bewertet wird;
Kurskorrekturen können gegebenenfalls eingeleitet wer-
den. Ab dem Jahr 2010 werden den AKP-Staaten im
Rahmen von „Aid for trade“ 2 Milliarden Euro jährlich
von der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
zusätzlich zur Verfügung gestellt.
Die Zusage der EU, bis 2013 alle Formen von Agrar-
subventionen auslaufen zu lassen, ist einerseits ein wich-
tiger Schritt, um die Chancen der Produkte der AKP-
Staaten zu erhöhen. Zum anderen ist es ein Erfolg auf
dem Weg zu einer verbesserten Politikkohärenz. Es be-
weist, dass Handels- und Entwicklungspolitik sich im
Zuge der Globalisierung gegenseitig befördern können.
Dieser Erfolg sollte uns alle ermutigen, uns weiter und
stärker für mehr Kohärenz zwischen den einzelnen Poli-
tikfeldern einzusetzen.
Die Zusagen der EU und deren Beschlüsse im Rah-
men der EPA-Verhandlungen sind wichtige Schritte zur
Sicherung der Entwicklungsförderlichkeit der Abkom-
men. Jede Maßnahme wird die Entwicklung der einzel-
nen Länder und Regionen wirksam unterstützen. Den
größten Nutzen werden die Länder jedoch haben, wenn
sie es schaffen, sich regional auf eine gemeinsame Aus-
gestaltung der EPAs zu einigen. Deshalb möchte ich an
dieser Stelle nochmals unser gemeinsames politisches
Anliegen unterstreichen, im Entwicklungsinteresse der
AKP-Staaten bis zum Jahresabschluss 2007 ein WTO-
kompatibles Marktzugangsangebot vorzulegen.
Entwicklung ohne regionale Integration und Teilhabe
am Handel ist in unserer Welt nicht möglich. Hier setzen
die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen an: nicht als
bloße Freihandelsabkommen, sondern in einer klaren
entwicklungsförderlichen Ausgestaltung als Entwick-
lungsinstrumente eines völlig neuen Typus in einer glo-
balisierten Welt zum Nutzen der Entwicklung unserer
Partnerländer, im Interesse der Menschen, besonders der
Armen dort, und im wohlverstandenen – gegenseitigen –
Interesse von Frieden und Stabilität weltweit.
Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Dr. Sascha Raabe (SPD): Alle, die mit Blick auf
die schwierigen Verhandlungen zu den Economic Part-
nership Agreements, den EPAs, zwischen der EU und
den Staaten Afrikas sowie des karibischen und pazifi-
schen Raumes auf einen versöhnlichen Jahresausklang
gehofft hatten, sind in dieser Woche eines Besseren be-
lehrt worden. Auf dem EU-Afrika-Gipfel am vergange-
nen Wochenende hat die europäische Seite erleben dür-
fen, was afrikanischer Stolz ist. Man könnte wohl sagen,
der afrikanische Löwe hat gebrüllt und Europa seine
Krallen gezeigt.
Vielleicht waren die Gipfelgeschehnisse ein Weckruf
zur rechten Zeit. Um im Tierbild zu bleiben: In mancher-
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(A) (C)
(B) (D)
lei Hinsicht haben sich die Verhandlungsführer der EU-
Kommission bewegt wie der berühmte Elefant im Por-
zellanladen. Am Ende waren die Vorbehalte der Afrika-
ner gegen die EPAs größer als die damit verbundenen
Hoffnungen. Möglicherweise hat es daher dieser unge-
wohnt harten Reaktion der Afrikanischen Union bedurft,
um den bisherigen Verhandlungsansatz seitens der EU
zu überdenken.
Die EU-Kommission hätte sich viel Ärger ersparen
können, hätte sie sich in den Verhandlungen an unserem
heute hier debattierten Antrag orientiert. Der Antrag
setzt die Akzente eindeutig auf eine nachhaltige und
partnerschaftliche Entwicklung der Beziehungen zwi-
schen der EU und den AKP-Staaten, und das umfassend
auf mehreren Ebenen unter Beachtung wirtschaftlicher,
politischer und sozialer Aspekte. Der Kollege Ruck und
ich haben für die entwicklungspolitischen Arbeitsgrup-
pen der Koalitionsfraktionen unsere Vorstellungen den
Kommissaren Mandelson und Michel bereits vorab in ei-
nem Brief mitgeteilt.
Die aktuelle Entwicklung der letzten Tage ist nicht
unumkehrbar, aber bedauerlich; denn sie bremst einen
notwendigen Prozess des Zusammenwachsens sowohl
innerhalb der AKP-Regionalgruppen als auch zwischen
der EU und den AKP-Staaten. Schuldzuweisungen aber
bringen nichts. Gleichwohl dürfen wir in unserem Be-
mühen um ein Abkommen nicht nachlassen. Im Grund-
satz gilt doch: WTO-konforme Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen sind im gegenseitigen Interesse,
zumindest dann, wenn der Begriff Partnerschaft betont
wird und keine Worthülse bleibt. Daher ist es jetzt umso
wichtiger, schnell an den Verhandlungstisch zurückzu-
kehren und zunächst über Interimsabkommen zügig kon-
struktive Lösungen zu erzielen.
Die Tür ist nicht zugeschlagen. Die Verhandlungen
mit einigen Regionalgruppen, so zum Beispiel der Kari-
bikregion, sind weit fortgeschritten und unproblemati-
scher als die Verhandlungen mit den afrikanischen Re-
gionen. Und selbst die afrikanischen Staaten bilden ja
keine einheitliche ablehnende Front. Einige von ihnen,
unter anderem Kenia und Tansania, haben bereits Inte-
rimsabkommen unterzeichnet. Trotzdem müssen wir die
Bedenken derer, die dem Abkommen skeptisch gegen-
überstehen, ernst nehmen. Wir müssen besonders in
Afrika verloren gegangenes oder vielleicht nie vorhan-
den gewesenes Vertrauen zurückgewinnen. Wir müssen
faire Angebote machen, und wir müssen deutlich ma-
chen, dass es uns nicht um die pure Liberalisierung des
Marktes und um das Erschließen neuer Absatzmärkte für
europäische Produkte geht.
Was wir wollen, sind gerechte Handelsbedingungen.
Jeder muss die Chance haben, am Welthandel teilzuha-
ben. Und dazu reicht eben nicht ein quoten- und zoll-
freier Marktzugang alleine, wie ihn die AKP-Staaten
und LDC-Länder bis auf wenige Produktausnahmen bis-
her im Rahmen des geltenden Präferenzsystems hatten.
Die 49 am wenigsten entwickelten Länder verfügen zu-
sammen noch nicht einmal über die Exportkapazität
Südkoreas. Es kommt also darauf an, die Entwicklungs-
länder in die Lage zu versetzen, auch weiterverarbeitete
Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen produzieren zu
können und die Infrastruktur zu schaffen, damit diese
auch exportiert werden können. Die beste Fabrik ist auf
sich alleine gestellt, wenn es keine Straßen, Häfen oder
Flughäfen gibt, um die Produkte weltweit zu verkaufen,
oder schlicht das Know-how, die Technik und die Mar-
ketingkonzepte fehlen, wie die Produkte den Anforde-
rungen europäischer Märkte einschließlich der sanitären
und anderen Standards genügen können. Deshalb ist es
gut, dass die EU ab 2010 jährlich insgesamt 2 Milliarden
Euro für handelsbezogene Entwicklungszusammenarbeit
aufbringen will und etwa 50 Prozent davon für die AKP-
Staaten zur Umsetzung der Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen vorgesehen sind. Darüber hinaus leistet
Deutschland im Rahmen seiner bilateralen und multila-
teralen Entwicklungszusammenarbeit wertvolle Hilfen
zur nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung in den AKP-
Staaten. Diese Mittel werden gemäß des ODA-Stufen-
plans in den nächsten Jahren noch deutlich ansteigen.
In unserem Antrag haben wir deshalb eine sehr starke
Betonung darauf gelegt, dass wir ein entwicklungsorien-
tiertes Partnerschaftsabkommen und nicht primär ein
Freihandelsabkommen wollen. Wenn sich der Weg der
Globalisierung nicht in eine Gewinner- und eine Ver-
liererstraße gabeln soll, dann kommt es entscheidend
darauf an, dass die europäische Seite nicht zum jetzigen
Zeitpunkt und mit dem WTO-Spruch im Rücken auf
eine vollständige gegenseitige Marktöffnung drängt.
Vielmehr muss die Marktöffnung asymmetrisch erfol-
gen. Die EU muss ihre Märkte sofort und vollständig
öffnen – aus meiner Sicht ohne Übergangsfristen für Zu-
cker und Reis – und gleichzeitig den AKP-Staaten – und
hier nicht nur den am wenigsten entwickelten Ländern –
lange Übergangsfristen für Liberalisierungsmaßnahmen
einräumen. Zudem müssen sensible Produkte von einer
Liberalisierung ausgenommen und geschützt werden.
Die Asymmetrie, die aus europäischer Sicht auf den
ersten Blick manchem ungerecht erscheinen mag, ist nur
logisch. Noch immer werden europäische Produkte, ins-
besondere Agrarprodukte, durch interne Stützungen oder
auch durch Exportsubventionen gefördert. Diese han-
delsverzerrende Subventionierung ermöglicht es europäi-
schen Produzenten, Waren zu Dumpingpreisen zu expor-
tieren. Sensible heimische Märkte in Entwicklungsländern
würden ohne Schutz zerstört. Als beispielsweise Kenia
vor einigen Jahren seine Importzölle für Milch abge-
senkt hatte und in der Folge der kenianische Markt mit
Milchpulver aus der EU überschwemmt wurde, brach
die heimische Milchproduktion fast komplett ein. Tau-
sende kenianische Milchbauern standen vor dem Nichts.
Heute, nach einer erheblichen Anhebung der Einfuhr-
zölle für Milchpulver im Jahr 2002, bildet die erholte
Milchwirtschaft wieder das Rückgrat der kenianischen
Agrarwirtschaft.
Solche Beispiele gibt es auch aus anderen Ländern
und mit anderen Produktgruppen. Sie zeigen, dass
Schutzmechanismen zwingend notwendig sind, damit
sich die Wirtschaft in den Entwicklungsländern entwi-
ckeln kann. Das gilt zumindest so lange, bis Europa
seine Exportsubventionen und sonstigen Stützungen zu-
rückgefahren hat. Erst danach ist Chancengleichheit an-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14057
(A) (C)
(B) (D)
nähernd denkbar. Das zarte Grün, das in manchen Volks-
wirtschaften Afrikas durchaus erkennbar ist, darf nicht
vorher unter dem groben Schuh einer marktradikalen Li-
beralisierung zertreten werden.
Wir dürfen auch nicht außer Acht lassen, dass viele
der Staaten, von denen wir hier reden, kaum eigene Steu-
ereinnahmen haben und die Importzölle so oft eine der
wichtigsten staatlichen Einnahmequellen darstellen.
Dieses Problem lässt sich nicht von heute auf morgen
aus der Welt schaffen und verlangt ebenfalls nach ausrei-
chend bemessenen Übergangsfristen. Langfristig ist es
allerdings sicher besser, die Importzölle, die oft in frem-
den Taschen landen, durch Steuereinnahmen zu ersetzen,
die durch eine florierende Wirtschaft möglich werden.
Wir müssen also die von der WTO eingeforderten Li-
beralisierungsschritte mit großer Behutsamkeit und mit
Weitblick vorantreiben. Die Erfahrung zeigt, dass solche
Entwicklungen nicht übers Knie gebrochen werden dür-
fen. So haben sich weder die Länder gut entwickelt, die
sich komplett abgeschottet haben, noch die Länder, die
ihre Zölle mit einem Federstrich abgeschafft und ihre
Märkte komplett liberalisiert haben. Immer waren die
Länder am erfolgreichsten, die sich Schritt für Schritt
geöffnet haben. Deswegen fordern wir in unserem An-
trag ausdrücklich, dass den AKP-Staaten nicht nur für
ihren Agrarbereich, sondern auch für die im Aufbau be-
findlichen Dienstleistungs- und Industriezweige ange-
messene Schutzmöglichkeiten gewährt werden müssen.
Falls Liberalisierungsmaßnahmen zu negativen Effek-
ten führen, sollen diese wieder rückgängig gemacht wer-
den können. Wir fordern in unserem Antrag, dass diese
Überprüfung kontinuierlich durch ein Monitoringsystem
erfolgen soll, das einen zentralen Platz in dem Abkom-
men einnehmen soll.
Ich sage aber auch: Schritt für Schritt sollte eine Inte-
gration in den Weltmarkt erfolgen. Schließlich ist es
nicht das Ziel, dass Entwicklungsländer ewig Entwick-
lungsländer bleiben, sondern nachhaltig starke Wirt-
schaftsnationen.
Denjenigen, die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
generell ablehnen und die bisherige Abschottung der
AKP-Märkte bei gleichzeitigem Präferenzzugang zur
EU preisen, sei gesagt, dass die Präferenzregelungen in
einigen Bereichen zu Fehlentwicklungen und nicht zur
nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung beigetragen haben.
Ein Beispiel hierfür ist der Zuckermarkt. Hier sind oft
ineffiziente Rentensysteme mit veralteten Zuckerrohr-
plantagen und Fabriken entstanden, während in den la-
teinamerikanischen Ländern, insbesondere Brasilien,
eine wettbewerbsfähige moderne Zuckerindustrie ent-
standen ist, gerade weil diese Länder aufgrund fehlender
Präferenzen dies durch Effizienz ausgleichen mussten
und deshalb heute im Vorteil sind.
Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Wirtschafts-
partnerschaftsabkommen auf den richtigen Weg kom-
men. Dabei geht Qualität vor Schnelligkeit. Denjenigen
Ländern, die sich bis zum Jahresende noch nicht in der
Lage sehen zu unterzeichnen, sollten ab Januar 2008
keine Nachteile drohen. Die nach Abschluss der auf den
Warenverkehr bezogenen Interimsabkommen zu verhan-
delnden Themen wie Investitionsschutz und Transparenz
im öffentlichen Beschaffungswesen müssen die Ver-
handlungskapazitäten und Interessen der AKP-Staaten
berücksichtigen und dürfen ihnen nicht aufgezwungen
werden. Auch dies ist eine wichtige Forderung in unse-
rem Antrag. Allerdings stehen wir dazu, dass sinnvolle
ökologische und soziale Kriterien berücksichtigende Re-
geln zum Investitionsschutz für die Entwicklung der
AKP-Länder ebenso wichtig sein können wie transpa-
rente und damit nicht korruptionsanfällige Regeln bei öf-
fentlichen Ausschreibungen. Es kommt eben immer auf
die Ausgestaltung und die Akzeptanz beim Partner an.
Ebenfalls halten wir es in unserem Antrag für wichtig,
dass im Rahmen der Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
men auch die internationalen Umwelt-, Sozial- und
Menschenrechtstandards und die Transparenz der Kapi-
talflüsse gefordert und gefördert werden.
Mit den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen soll vor
allem auch der Süd-Süd-Handel gestärkt werden. Nur
mit regionalen Zusammenschlüssen und der Schaffung
größerer Binnenmärkte können die AKP-Staaten im glo-
balisierten Wettbewerb bestehen.
Europa ist über den gemeinsamen Binnenmarkt zu-
sammengewachsen. Es könnte den AKP-Regionen als
Vorbild dafür dienen, dass über gemeinsame Wirt-
schaftsinteressen weitere Gemeinsamkeiten zu entde-
cken sind. Der Wille dazu muss allerdings aus den Län-
dern selber kommen und darf nicht aufgezwungen
werden. Das europäische Modell ist aber natürlich nicht
eins zu eins übertragbar. Außerdem ist auch in Europa
die Entwicklung des Zusammenfindens nach mehr als
50 Jahren noch keineswegs abgeschlossen. Europäische
Arroganz wäre daher völlig fehl am Platze.
Wenn sich das Gipfelgewitter vom vergangenen Wo-
chenende verzogen hat, wird es in den kommenden Wo-
chen und Monaten darauf ankommen, dass sich beide
Seiten aufeinanderzubewegen. Dann könnten stärker
entwicklungsorientierte Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
men doch noch zu einem Erfolgsmodell werden und ei-
nen wichtigen Baustein im Kampf gegen Hunger und
Armut bilden.
Hellmut Königshaus (FDP): Gestern hat die Bun-
deskanzlerin an dieser Stelle noch die Erfolge der Bun-
desregierung auf dem EU-Afrika-Gipfel überschweng-
lich gelobt. Das kann man nur als Versuch bezeichnen,
dem Parlament und der Öffentlichkeit hier etwas vorzu-
spielen. Zwar wurden die Strategischen Partnerschaften
und ein Aktionsplan zwischen EU und Afrika abge-
schlossen, bei der entscheidenden Frage der handelspoli-
tischen Beziehungen gab es aber einen bestürzenden
Misserfolg. Die Kanzlerin hatte zuvor erklärt, dass die
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, WPA, demnächst
unterschrieben werden. Nun werden aber lediglich Inte-
rimsabkommen geschlossen. Die Koalition versucht mit
Ihrem Antrag, uns und die Öffentlichkeit zu täuschen.
Sie vertuscht, dass wir vor einem ganz großen Scherben-
haufen stehen.
14058 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
Aber lassen Sie mich die komplizierte Materie der
Reihe nach durchgehen: Es ist schon lange bekannt, dass
die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ab dem 1. Ja-
nuar 2008 in Kraft treten müssten, da die Präferenzrege-
lungen zwischen der EU und Afrika ab diesem Zeitpunkt
nicht mehr WTO-konform sind. Das wissen wir nicht
erst seit gestern, sondern seit dem Jahr 2000, als das
Cotonou-Abkommen geschlossen und ratifiziert wurde.
Seitdem wissen wir auch, dass die Beziehungen zwi-
schen der EU und Afrika ab dem 1. Januar 2008 durch
neue Wirtschaftpartnerschaftsabkommen geregelt wer-
den müssen. Für die Ratifizierung dieser Abkommen ha-
ben wir heute also noch genau 18 Tage Zeit, und zwar
brutto und ohne die Berücksichtigung der Feiertage.
Der deutschen EU-Ratspräsidentschaft kam auch in
diesem Zusammenhang zeitlich ein besonderer Stellen-
wert zu. Im ersten Halbjahr dieses Jahres hätte sie die
entscheidenden Weichenstellungen vornehmen müssen,
zumal die portugiesische Seite wegen ihrer nachfolgen-
den EU-Ratspräsidentschaft ausdrücklich auf ihre
schwierige Situation als ehemalige Kolonialmacht hin-
gewiesen hatte.
Dennoch hat die Bundesregierung ihre Position nicht
genutzt, um den Verhandlungsprozess voranzubringen.
Vielmehr hat sie sich zurückgelehnt und Schauveranstal-
tungen mit afrikanischen Staaten – wie etwa die auf dem
Petersberg – durchgeführt. Noch im Mai hat die Bundes-
regierung erklärt, dass es keine Alternative zu den Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen gebe, und auch keinen
„Plan B“ für den Fall, dass die angestrebten sechs Ab-
kommen nicht bis Ende des Jahres unterzeichnet wür-
den. Anstatt also selber entscheidend tätig zu werden,
hat sie die schwierigen und entscheidenden Verhandlun-
gen auf die portugiesische Präsidentschaft abgewälzt.
Das Ergebnis ist nun ein Desaster: Keines der sechs
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen konnte abgeschlos-
sen werden.
Es ist daher schlicht Augenwischerei, wenn die Bun-
desregierung nun so tut, als ob die Interimsabkommen,
die jetzt abgeschlossen werden, den eigentlich ange-
strebten Abkommen gleichwertig wären. Sie sind es na-
türlich nicht, denn sonst hätten deren Inhalte ja als Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen verabschiedet werden
können.
Für das Scheitern der Verhandlungen über die Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen mit Afrika trägt die
Bundesregierung also eine traurige Mitverantwortung,
weil sie ihre Rolle als EU-Ratspräsidenten nicht ausrei-
chend wahrgenommen hat. Wenn jetzt so getan wird, als
ob dieses katastrophale Ergebnis allein auf die unzurei-
chende Verhandlungsführung der EU-Kommission zu-
rückzuführen sei, dann wird der Anteil der Bundesregie-
rung verschleiert.
Dass die Koalition nun in ihrem Antrag diesen Miss-
erfolg aber auch noch als Erfolg zu verkaufen versucht,
das setzt dem Ganzen die Krone auf!
Lassen Sie uns die Fakten noch einmal in Erinnerung
rufen:
Erstens. Nicht einmal ein Wirtschaftspartnerschafts-
abkommen wurde unterzeichnet, sondern lediglich ein-
zelne Interimsabkommen zum Warenverkehr.
Zweitens. Die schwierigen Verhandlungen über In-
vestitionen, Transparenz im öffentlichen Beschaffungs-
wesen sowie Wettbewerb und Dienstleistungen wurden
noch nicht einmal begonnen.
Drittens. Der ab dem 1. Januar 2008 sanktionsbe-
drohte Verstoß gegen die WTO-Regelungen kann
schmerzhafte Gegenmaßnahmen der WTO auslösen.
Eine konkrete Folgenabschätzung können derzeit weder
die Bundesregierung noch die EU-Kommission abge-
ben.
Zu diesem traurigen Ergebnis hat beigetragen, dass
die EU auch in dieser Frage nicht mit einer Stimme
spricht. Das wurde auch auf dem EU-Afrika-Gipfel
deutlich. Während noch bis vor kurzem die „Hardliner“
erklärten, dass es zu den Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen keine Alternative gebe, erklärt Kommissions-
präsident Barroso jetzt, dass „asymmetrische“ Verhand-
lungen geführt werden sollten. Die Kanzlerin spricht von
„flexiblen Lösungen“, und der französische Staatspräsi-
dent erklärt, dass Afrika nicht überlastet werden dürfe,
und fordert deshalb längere Übergangszeiten. In Anbe-
tracht der Tatsache, dass die Verhandlungen schon seit
2000 geführt werden, muss man daher nochmals fragen,
weshalb die Bundesregierung Anfang des Jahres nicht
aktiver auf den Prozess Einfluss genommen hat. Machen
Sie, Frau Bundeskanzlerin, mit der Kommission Ihre
Hausaufgaben! Wenn Sie nicht wollen, dass Sanktionen
der WTO auf uns zukommen, dann müssen Sie sich be-
eilen, um wenigstens noch Schadensbegrenzung zu be-
treiben.
Ich glaube aber nicht wirklich, dass Sie, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der Koalition, die Dringlichkeit der
Angelegenheit wirklich erkannt haben. Wie es um Ihre
Bereitschaft steht, sich mit diesem Thema ernsthaft aus-
einanderzusetzen, sieht man ja auch an der heutigen
Platzierung dieses Themas in der Tagesordnung des
Bundestages. Sie verstecken die Debatte über dieses
wichtige Thema auf einen der letzten Tagesordnungs-
punkte – lange nach Mitternacht. Das zeigt ja, übrigens
mit großer Deutlichkeit, bereits, wie „stolz“ Sie selbst
auf diese Leistung ihrer Regierung sind.
Es ist übrigens erstaunlich, dass Sie den Mut haben,
noch eine Woche nach dem Scheitern der Verhandlungen
hier im Plenum über die Chancen dieser neuen Partner-
schaften zu fabulieren. Sie hätten wenigstens den Mut
aufbringen sollen, das Scheitern einzugestehen und Ih-
ren Antrag mit dem vor dem eben erörterten Hintergrund
fast schon lächerlich wirkenden Titel komplett zurück-
zuziehen.
Wachen Sie endlich auf und handeln – verhandeln –
Sie! Es ist dringend nötig, endlich Rechtssicherheit in
den Handel mit den AKP-Staaten zu bringen. Es wird
dramatische Folgen für die Entwicklung haben, dass es
jetzt keine Sicherheit für den Handel gibt. Dass neben
den WTO-Verhandlungen nun auch noch die EPA-Ver-
handlungen auf Eis liegen, ist eine Katastrophe.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14059
(A) (C)
(B) (D)
Immerhin haben Sie von der Koalition den positiven
Zusammenhang zwischen Handel und Entwicklung ja
inzwischen offenbar verstanden. Wohl deshalb haben Sie
in Ihrem Antrag große Teile unseres Antrags zur Aus-
dehnung der Handelsliberalisierungen der WPA auf an-
dere Entwicklungsländer in Ihrem Antrag übernommen.
Das immerhin spricht für Sie, obwohl Sie darauf auch
selbst ohne Abschreiben hätten kommen können.
Die Linken und Grünen bringen in ihren Anträgen da-
gegen leider zum Ausdruck, dass sie den positiven Zu-
sammenhang zwischen Handel und Entwicklung noch
immer nicht verstanden haben. Ich will darum noch ein-
mal die Gelegenheit nutzen, um auf die Vorzüge des
freien Warenaustausches hinzuweisen. Diese gelten übri-
gens nicht nur für die AKP-Staaten, sondern für alle Ent-
wicklungsländer gleichermaßen. Diese Unterscheidung
ist, ganz nebenbei, sowieso nicht mehr nachvollziehbar.
Offene Märkte verbessern vor allem die Entwick-
lungschancen der ärmsten Länder der Welt. Alle empiri-
schen Untersuchungen belegen: Die Öffnung eigener
Märkte führt zu mehr Wohlstand, Bildung, Gesundheit
und Rechtssicherheit, und zwar unabhängig davon, wel-
che Politik andere Staaten betreiben. Umgekehrt lehrt
das Beispiel Simbabwe: Wo Marktkräfte gelähmt oder
gar ausgeschaltet werden, verarmen die Menschen und
verlieren alle Perspektiven.
Die Öffnung der Märkte darf natürlich keine Einbahn-
straße sein. Nicht nur die Entwicklungsländer müssen
ihre Märkte öffnen, sondern selbstverständlich auch die
entwickelten Länder. Das müssen wir uns gelegentlich
selbst immer wieder in Erinnerung rufen. Dennoch: Die
Entwicklungsländer stehen zuallererst selbst in der Ver-
antwortung. Nur der Aufbau von Demokratie, Markt-
wirtschaft und funktionierenden Rechtssystemen ermög-
licht auf Dauer eine nachhaltige Entwicklung ihrer
Länder.
Heike Hänsel (DIE LINKE): Ich beglückwünsche
die afrikanischen Regierungen zu ihrem neuen Selbstbe-
wusstsein. Noch vor kurzem versuchte Frau Wieczorek-
Zeul uns weiszumachen, es herrsche völliges Einverneh-
men zwischen der EU und den AKP-Staaten – Afrika,
Karibik, Pazifik – bezüglich der Verhandlungen über die
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die EPAs.
Am letzten Wochenende haben wir dann auf dem
EU-Afrika-Gipfel den senegalesischen Präsidenten
Abdoulaye Wade gehört, der über die EPA-Verhandlun-
gen sagte: Für uns ist es aus. Etliche Staaten kündigten
an, keine EPAs unterzeichnen zu wollen. Der AU-Präsi-
dent Alpha Oumar Konaré äußerste die Befürchtung, die
EPAs brächten „dramatische Kosten für die afrikanische
Bevölkerung“. Und er schrieb der EU ins Stammbuch:
Die afrikanischen Staaten sind nicht mehr nur Ex-
porteure von Rohstoffen oder einfache Export-
märkte.
Nicht nur die Regierungen, auch viele soziale Bewe-
gungen in den AKP-Staaten sehen in den EPAs, die auf
die weitgehende Abschaffung von Schutzzöllen und auf
die Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte abzielen,
eine Gefahr für die wirtschaftliche und soziale Entwick-
lung ihrer Länder. Sie lehnen diese Freihandelsabkom-
men deshalb ab.
Mit dem Gipfel von Lissabon wurde offensichtlich,
was sich schon lange abgezeichnet hat: Die EU-Kom-
mission ist komplett gescheitert mit ihrer neoliberalen
Handelspolitik. Und mit der EU ist auch die Bundes-
regierung gescheitert, die die Verhandlungsführung der
Kommission voll unterstützt hat. Da gibt es nichts zu be-
schönigen, auch wenn Frau Merkel gestern noch einmal
versucht hat, abzuwiegeln. Sie haben die AKP-Staaten
gegängelt, unter Druck gesetzt, nicht für voll genom-
men. Jetzt erhalten Sie die Quittung: Die Zeiten, in de-
nen die europäischen Regierungen den Menschen im Sü-
den sagen konnten, wo es langgeht, sind vorbei.
Das heißt: Die EU und die Bundesregierung müssen
jetzt neu nachdenken, welche Art von Partnerschaft sie
den AKP-Staaten anbieten wollen. Wir fordern bereits
seit langem, dass die EU einen solidarischen Ansatz ei-
ner gleichberechtigten Partnerschaft entwickeln muss,
und zwar gemeinsam mit den AKP-Staaten. Das heißt
auch: gemeinsam mit den sozialen Organisationen, den
Gewerkschaften, den Parlamenten hier und dort. Ob sie
dazu bereit ist, muss allerdings bezweifelt werden.
Nach dem Gipfel reagierten Bundesregierung und
Kommission zunächst mit der üblichen Ignoranz. Die
Kanzlerin hat gestern in ihrer Rede zum Reformvertrag
noch einmal betont, dass sie weiter an der Verhandlung
von EPAs festhalten will. Aus der Kommission wurde
gar die alte Drohung wiederholt, ohne neue Freihandels-
abkommen müssten einige AKP-Staaten mit höheren
Zöllen für ihre Produkte rechnen.
Die angemessene Reaktion auf das, was sich in Lissa-
bon abgespielt hat, und eigentlich schon längst überfällig
wäre, wäre ein Moratorium für die Verhandlungen gewe-
sen, damit alle Beteiligten die Gelegenheit bekommen,
neu über die Ausgestaltung künftiger Abkommen nach-
zudenken. Stattdessen wird unter Hochdruck weiter-
verhandelt, und in totaler Verkehrung des Anspruchs,
regionale Integration fördern zu wollen, werden Einzel-
abkommen von völlig unterschiedlichem Zuschnitt mit
Staaten oder Teilregionen abgeschlossen. Das haben etli-
che entwicklungspolitische Organisationen zu Recht als
Politik nach dem Motto „Teile und herrsche“ kritisiert.
Gleichzeitig beginnt die EU mit einer Sache, die sie
bis vor kurzem noch für unmöglich erklärt hat: Sie führt
Verhandlungen mit der WTO über die Verlängerung der
Sonderregelung, auf der das bisherige Handelssystem
zwischen EU und AKP basiert. Damit böte sich den
AKP-Staaten zumindest ein kleiner Aufschub. Plötzlich
geht es also doch, was AKP-Regierungen, soziale Bewe-
gungen und auch die Linke hier im Bundestag immer
wieder gefordert haben. Das zeigt: Die EPAs sind nicht
alternativlos. Es gibt immer Alternativen, wenn der poli-
tische Wille vorhanden ist.
Vollkommen unverständlich ist mir deshalb, weswe-
gen die Koalitionsfraktionen nun einen Antrag vorlegen,
der gerade so tut, als wäre nichts gewesen. Der Protest
aus den AKP-Staaten wird schlichtweg ignoriert. Warum
14060 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
knüpfen Sie nicht an die neuen Möglichkeiten an, die
jetzt diskutiert werden? Stattdessen halten Sie unbeirrt
an den EPAs fest.
Die Forderungen im Antrag der Grünen hingegen
stimmen mit unseren Forderungen weitgehend überein.
Ich sehe da auch eine positive Entwicklung vom ersten
Antrag zum aktuellen, der viel kritischer ist. Also, die
Grünen sind lernfähig, zumindest in manchen Bereichen.
Die oberste Maßgabe muss sein: Kein Land darf ab
2008 in seinen Handelsbeziehungen zur EU schlechter
gestellt sein als bisher. Alle Drohungen in diese Rich-
tung sind strikt zurückzuweisen. Zweitens: Es muss
ohne Zeitdruck und ergebnisoffen verhandelt werden.
Zwang zur Liberalisierung darf nicht ausgeübt werden.
Schon gar nicht darf die Liberalisierung der öffentlichen
Beschaffungsmärkte vorangetrieben werden. An die
Stelle der gescheiterten neoliberalen Konzepte von Frei-
handel und Liberalisierung muss eine solidarische und
partnerschaftliche Politik treten, die die Entwicklungs-
rechte der Menschen im Süden in den Vordergrund stellt
und nicht die Profitinteressen der europäischen Export-
wirtschaft. Dafür brauchen wir die Einbeziehung breiter
gesellschaftlicher Kräfte wie Gewerkschaften, soziale
Organisationen und Bewegungen. Statt EPAs von oben
gerechte Beziehungen von unten.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auf
dem EU-Afrika-Gipfel in Lissabon sind die Streitigkei-
ten, die die Verhandlungen der Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen begleiteten, ans Tageslicht gekom-
men. Man fragt sich als Unbeteiligter – Unbeteiligte sind
wir ja leider in gewisser Weise, denn weder hier noch in
den AKP-Staaten sind die Parlamente und die Zivilge-
sellschaft in die Verbandlungen wirklich einbezogen
worden –, wie es möglich ist, dass so wichtige und weit-
reichende internationale Handelsabkommen in letzter
Minute im Hauruckverfahren durchgebracht werden.
Oder ist dies gar politisches Kalkül gewesen, um die
Verhandlungen im Sinne der EU-Kommission bis zur
Deadline am 31. Dezember durchzupeitschen?
Der neueste Stand der Dinge ist nun, dass die Kom-
mission es wohl geschafft hat, statt mit regionalen Han-
delsblöcken der Entwicklungsländer mit sehr vielen Un-
tergruppen oder gar einzelnen AKP-Staaten separate
Interimsabkommen abzuschließen. Wie diese Abkom-
men im Detail aussehen, wissen wir noch nicht. Aber wir
können davon ausgehen, dass diese für die Bemühungen
um regionale Integration – besonders in Afrika – ein
Rückschlag sind. Dabei war es doch eines der erklärten
Ziele der Abkommen, auch die regionale Integration der
AKP-Länder zu fördern.
Da mutet es schon etwas merkwürdig an, wenn im Ko-
alitionsantrag zu den EPAs davon gesprochen wird, dass
„die Bundesregierung während der deutschen EU-Rats-
präsidentschaft den fristgemäßen Abschluss entwick-
lungsorientierter Wirtschaftspartnerschaftsabkommen bis
Ende 2007 entscheidend vorangebracht hat“. Tatsache
ist dass während der Ratspräsidentschaft die EPAs an-
scheinend nicht wichtig genug waren, um auf der Priori-
tätenliste im Tagesgeschäft weit genug oben zu stehen.
Immer noch ist es nicht möglich, genaue Informationen
darüber zu bekommen, wie es um die nun verhandelten
Interimsabkommen steht, wie weit die Verhandlungen
mit den regionalen Handelsblöcken waren, wie die in-
haltliche Ausgestaltung der Verträge ist, welche Länder
nun beigetreten sind und zu welchen Bedingungen.
Über eines jedoch gab es keine Missverständnisse:
dass die Verhandlungen immer wieder von Drohgebär-
den und Säbelgerassel begleitet wurden, während auf
dem diplomatischen Parkett einer neuen Partnerschaft
mit Afrika auf Augenhöhe das Wort geredet wurde. Da
hat zum Beispiel ein ranghoher EU-Vertreter zum Besten
gegeben, dass AKP-Staaten, die nicht bereit seien, frist-
gerecht EPAs nach dem Willen der EU-Kommission ab-
zuschließen, mit einem extremen Anstieg von Einfuhr-
zöllen rechnen müssten – für Waren, die sie auf dem
europäischen Markt absetzen wollen, und dass sie oben-
drein mit Kürzungen von Mitteln aus dem Europäischen
Entwicklungsfonds zu rechnen hätten. Tatsächlich bleibt
den meisten AKP-Staaten nichts anderes übrig, EPAs
oder zumindest erst einmal Interimsabkommen zu unter-
zeichnen, wenn sie weiter zu günstigen Konditionen in
die EU exportieren wollen.
Ich stimme dem Koalitionsantrag durchaus zu, wenn
da angemessene Schutzmöglichkeiten für Emährungssi-
cherheit verlangt werden. Doch was bedeutet dies für die
Umsetzung? Hier müssen wir viel weiter gehen. Wir
brauchen volle Flexibilität bei den Interimsabkommen
und den EPAs selbst, eine Flexibilität, die es den AKP-
Staaten erlaubt, den Rhythmus und die Bedingungen der
Marktintegration entscheidend selbst zu gestalten. Die
AKP-Staaten dürfen nicht gezwungen werden, andere
Bereiche wie Liberalisierungen im Dienstleistungsbe-
reich oder Regelungen zum Schutz des geistigen Eigen-
tums in spätere EPA-Verhandlungen automatisch einbe-
ziehen zu müssen. Die fragilen Volkswirtschaften der
AKP-Staaten müssen Sich schützen können gegen die
subventionierte Dumpingkonkurrenz aus der EU und die
regelmäßigen Importfluten an Billiggeflügel, Reis und
Dosentomaten. Deswegen brauchen wir eine vollkom-
mene Neugestaltung der EU-Landwirtschafts- und Han-
delpolitik, und zwar unabhängig vom Ausgang der fest-
gefahrenen WTO-Verhandlungen.
Zollpolitik kann eine entscheidende Rolle bei natio-
naler Strukturpolitik spielen, wenn Staaten eine ganz-
heitliche Bekämpfung von Armut und Hunger wollen.
Da nützt auch eine Übergangsregelung von 20 Jahren bis
zur vollkommenen Liberalisierung der Märkte nur we-
nig. Denn auch damit macht die EU unmissverständlich
klar, wo die Musik spielt. Politik, die langfristig Armut
beseitigen und dabei die Wirtschaft wachsen lassen soll,
braucht nicht nur stabile Rahmenbedingungen, sondern
viel Zeit und periodische Kurskorrekturen. Handelspoli-
tische Abkommen müssen in ihren Folgen ständig auf
die Wahrung der Menschenrechte, des Rechts auf Nah-
rung, des Rechts auf Bildung, der Rechte von Frauen
und Kindern überprüft werden und notfalls eben geän-
dert werden können.
Die Palette von Produkten, die durch Zölle geschützt
werden können, muss nach Bedarf erweitert oder verän-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14061
(A) (C)
(B) (D)
dert werden können. Hier wünschen wir uns eine viel
stärkere Beteiligung und Mitentscheidung der Zivilge-
sellschaft und der Parlamente bei der Aushandlung und
Bewertung der Folgen der Partnerschaftsabkommen.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Für eine neue
effektive und an den Bedürfnissen der Hun-
gernden ausgerichtete Nahrungsmittelkonven-
tion (Tagesordnungspunkt 22)
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Die weltweite Ernäh-
rungssicherung ist eine der größten Herausforderungen
unserer Zeit. Nicht von ungefähr steht die Bekämpfung
des Hungers an erster Stelle der Millenniumsziele. Über
850 Millionen Menschen in der Welt hungern; das sind
mehr Menschen als die Bevölkerung der USA, Kanadas,
Europas und Japans zusammengenommen. Über
815 Millionen von ihnen leben in Entwicklungsländern.
Die derzeitige Nahrungsmittelhilfekonvention – Food
Aid Convention, FAC – ist ein Abkommen zwischen
23 traditionellen Geberländern. Sie wurde 1967 eta-
bliert, nachdem es in einigen Entwicklungsländern zu
Missernten gekommen war. Ursprüngliches Ziel war es,
die Nahrungsmittelüberschüsse in Europa und den USA
sinnvoll für die weltweite Bekämpfung des Hungers ein-
zusetzen. Der Grundgedanke war an und für sich richtig:
Die Länder mit Nahrungsmittelüberschuss stellen Nah-
rungsmittel zur Verfügung, sodass im Notfall darauf zu-
rückgegriffen werden kann. Im Rahmen des Nahrungs-
mittelhilfeübereinkommens verpflichten sich die Geber,
den Entwicklungsländern jährlich festgelegte Minimal-
mengen an Nahrungsmittelhilfe in Form von Getreide
und anderen Produkten bereitzustellen.
Die Nahrungsmittelhilfekonvention wurde um letzten
Mal l999 neu verhandelt. Die letzte, 1999 ausgehandelte
FAC wurde 2000 vom Deutschen Bundestag ratifiziert.
Danach ist Deutschland verpflichtet, jährlich Nahrungs-
mittelhilfe im Wert von über 56 Millionen Euro zu leis-
ten. An dieser Stelle sollte auch erwähnt werden, dass
sich Deutschland im Rahmen der Not- und Übergangs-
hilfe für 2008 verpflichtet hat, über 91 Millionen Euro
bereitzustellen.
Im Vergleich zu den 70er-Jahren, als die Nahrungsmit-
telhilfekonvention begründet wurde, hat sich die Situa-
tion erheblich verändert. Die Industrieländer haben
immer geringere Nahrungsmittelüberschüsse. Schwel-
lenländer wie China und Indien haben einen immer grö-
ßer werdenden Bedarf an Lebensmitteln, was wiederum
die Lebensmittelpreise in die Höhe treibt. Zudem gewin-
nen Lebensmittel im Zusammenhang mit Biokraftstoffen
eine neue Bedeutung. Nicht vergessen werden dürfen
auch die Auswirkungen der Klimaveränderungen.
Kurzum: Die Nahrungsmittelhilfekonvention, die 2008
ausläuft, steht vor neuen Herausforderungen. Insofern
weist der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in
die richtige Richtung. Es hat jedoch sehr viele Unzuläng-
lichkeiten, weshalb die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
dem Antrag nicht zustimmen kann. Ich will das gerne be-
gründen:
Erstens: In diesem Antrag steht, dass sich die Nah-
rungsmittelhilfe nicht primär nach den Bedürfnissen der-
jenigen Länder richten würde, die von Hunger und Ar-
mut am stärksten betroffen sind, sondern sich „an den
Agrarinteressen der Industrienationen“ orientiert. Ich
denke diese Aussage trifft in dieser pauschalen Form
nicht zu. Wesentliche Beweggründe deutscher – und,
wie ich denke, auch europäischer – Entwicklungszusam-
menarbeit sind die Solidarität mit den ärmsten Ländern
dieser Welt und der Wunsch, sie auf ihrem Weg aus der
Armut zu unterstützen. Trotz aller Unzulänglichkeiten
der Nahrungsmittelhilfekonvention ist ihr Ziel eindeutig:
Sie will zur weltweiten Ernährungssicherung beitragen
und die Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft, auf
Notsituationen bei Nahrungsmitteln zu reagieren, ver-
bessern. Ich will nicht sagen, dass in diesem Bereich al-
les optimal gelaufen ist; aber ich wehre mich gegen eine
pauschale Verurteilung der Geberländer, wie sie in dem
Antrag formuliert ist.
Zweitens. Viele Forderungen des Antrags erübrigen
sich, da die Bundesregierung bereits aktiv ist. Das BMZ
hat frühzeitig die Notwendigkeit des Handelns erkannt
und im Mai 2007 in Berlin eine Konferenz zu den He-
rausforderungen, denen die Nahrungsmittelhilfe in Zu-
kunft gegenübersteht, organisiert. Das Ziel dieser Konfe-
renz war gerade, die relevanten Fragen zu identifizieren
und zu diskutieren. Sie sollen dann bei der Neuverhand-
lung der Konvention berücksichtigt werden. Ich möchte
betonen, dass diese Konferenz bewusst in den Kontext
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und unseres G-8-
Vorsitzes gestellt wurde. Daran können Sie sehen, wie
wichtig dieses Thema der Bundesregierung war und ist.
Die Experten sprachen sich auf der Konferenz in Ber-
lin dafür aus, dass die Nahrungsmittelhilfekonvention
fortgeführt und verbessert wird. Der Kern des derzeiti-
gen Vertragswerks, nämlich die bindenden Zusagen für
Nahrungsmittelhilfe, soll gestärkt werden. Zudem hat
die Konferenz konkrete Reformvorschläge hervorge-
bracht, die von der Bundesregierung in den ausstehen-
den Verhandlungen mit Sicherheit berücksichtigt wer-
den. In meinen Augen ist es sehr wichtig, dass die
Nahrungsmittelhilfe Teil einer umfassenden Gesamtstra-
tegie zur Bekämpfung des Hungers wird. Nahrungsmit-
telhilfe allein kann eine grundlegende Ernährungssicher-
heit nicht ersetzen. Wichtig finde ich auch die Forderung
der Konferenz nach mehr Transparenz bei der Nahrungs-
mittelhilfe und die Beteiligung von NGOs im Rahmen
der Nahrungsmittelhilfekonvention.
Darüber hinaus ist meiner Meinung nach eine stärkere
Einbindung der Empfängerländer notwendig. Es kann
nicht sein, dass es zu völlig abstrusen Situationen kommt
wie Anfang 2006, als im Westen Kenias Bauern nach ei-
ner erfolgreichen Ernte auf Maisüberschüssen saßen,
während im Norden über 2 Millionen Menschen zu ver-
hungern drohten. Die Bauern weigerten sich, staatlichen
Institutionen den Mais zu verkaufen, weil sie kein Ver-
trauen in die Zahlungsmoral der Regierung hatten.
14062 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
Ein dritter Punkt in Ihrem Antrag, der problematisch
ist, bezieht sich auf den Komplex Biotechnologie bzw.
Grüne Gentechnik. Sie erwecken den Eindruck, dass es
grundsätzlich einen Konsens gegen die Grüne Gentech-
nik gibt, sowohl bei uns als auch in den Empfängerlän-
dern. Das trifft so nicht zu. Auch auf der Konferenz in
Berlin wurden keineswegs eindeutige Empfehlungen in
dieser Hinsicht gegeben. Ausdrücklich heißt es in dem
Bericht, dass dieses Thema kontrovers diskutiert wurde.
Ich bin durchaus für eine offene Diskussion; aber ich bin
gegen ideologische Scheuklappen.
Das Problem ist nämlich, dass die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen grundsätzlich skeptisch – wenn nicht
gar ablehnend – gegenüber neuen Technologien in der
Landwirtschaft ist. Das betrifft die Entwicklungsländer
in hohem Maße; denn wir müssen uns fragen, wie wir
die Welternährung sicherstellen können. Zurzeit liegt die
Weltbevölkerung bei über 6,5 Milliarden Menschen.
Schätzungen zufolge wird sie bis 2050 auf über 9 Mil-
liarden ansteigen. Zu 99 Prozent findet das Wachstum
der Bevölkerung in den Entwicklungsländern statt.
Die Nachfrage nach Nahrungsmitteln wird drama-
tisch ansteigen. Ein wesentliches Problem sind jedoch
die begrenzten Ressourcen Ackerland und Wasser. Jähr-
lich gehen über 7 Millionen Hektar landwirtschaftlicher
Nutzfläche und über 9 Millionen Hektar Waldfläche
durch Bebauung und Erosion verloren. Zum Vergleich:
Deutschland hat eine landwirtschaftliche Fläche von
17 Millionen Hektar. Ein weiteres Problem ist die immer
schlechter werdende Bodenqualität. Bereits heute sind
40 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Welt
durch Erosion, Versalzung und Wüstenbildung so stark
geschädigt, dass die Ertragsfähigkeit der Böden sinkt.
Fakt ist, dass bei wachsender Weltbevölkerung die Le-
bensmittelnachfrage steigt, aber die verfügbare Fläche je
Einwohner sinkt.
Wenn wir die Welternährung sichern wollen, müssen
wir folgende Schwerpunkte beachten: Wir brauchen eine
Agrarpolitik, die allen neuen Technologien in der Land-
wirtschaft offen gegenübersteht und die Forschung und
Entwicklung ohne ideologische Vorbehalte unterstützt.
Gerade in der Entwicklungszusammenarbeit muss eine
umfassende Agrarforschung besser unterstützt und besser
koordiniert werden. Die Agrarreformen in den Entwick-
lungsländern müssen unterstützt werden. Die Nahrungs-
mittelproduktion in den Entwicklungsländern könnte
jährlich um 2 Prozent gesteigert werden, wenn die Er-
neuerung der Landwirtschaft Fortschritte machen würde.
Gerade die Entwicklungspolitik kann bei den Agrarrefor-
men wichtige Hilfestellungen geben.
Die nachhaltige Sicherung der Ernährung und die Re-
duzierung der Armut einer wachsenden Bevölkerung ist
die vordringliche Aufgabe. Hier sind Politik, aber auch
Wirtschaft und Wissenschaft gefordert.
Ich will nicht leugnen, dass der vorliegende Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wichtige Punkte im
Hinblick auf die Nahrungsmittelhilfekonvention auf-
greift. Dennoch weist er viele Unzulänglichkeiten auf.
Deshalb lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den
Antrag ab.
Dr. Sascha Raabe (SPD): Täglich sterben etwa
25 000 Menschen an den Folgen von Hunger und Armut,
circa 850 Millionen Menschen in der Welt sind unterer-
nährt. Jedes Jahr ist die Ernährung von circa 50 bis
60 Millionen Menschen durch Kriege oder Natur- und
Umweltkatastrophen gefährdet. Dabei trifft es in der Re-
gel die ärmsten Menschen unserer Erde. Ihre schon
schwache Existenzgrundlage wird dann nicht selten der
allerletzten Grundlage beraubt.
Zur Linderung der Not bei Krisen und Katastrophen
hat sich die Bundesregierung noch unter der rot-grünen
Regierung verpflichtet, Nahrungsmittelhilfe im Wert von
56,24 Millionen Euro jährlich zu leisten und damit den
betroffenen Menschen aktive Hilfe zukommen zu lassen.
Das ist gut und eine wichtige Stütze umfassender Ent-
wicklungszusammenarbeit. Nichtsdestotrotz muss die
Nahrungsmittelhilfekonvention weiterentwickelt wer-
den. Auf der Expertentagung, die das Bundesministe-
rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung Anfang Mai dieses Jahres organisierte, war als
Ergebnis dieser Tagung der Auftrag eindeutig: Es bedarf
mutiger Reformen, um das Instrument der Nahrungsmit-
telhilfe zu verbessern und effektiver für die Reduktion
von Hunger und Unterernährung einzusetzen.
Der hier vorliegende Antrag „Für eine neue, effektive
und an den Bedürfnissen der Hungernden ausgerichtete
Nahrungsmittelhilfekonvention“ der Bundestagsfrak-
tion Bündnis 90/Die Grünen geht prinzipiell in die rich-
tige Richtung, denn die Rahmenbedingungen seit der
ersten Nahrungsmittelhilfekonvention von 1967 haben
sich erheblich verändert. Es bedarf also einer Erneue-
rung.
Die ursprüngliche Intention, wachsende Nahrungs-
mittelüberschüsse der europäischen Staaten und der
USA sinnvoll für die Hungerbekämpfung einzusetzen,
ist so nicht mehr zeitgemäß. Nicht nur das, es wurde und
wird häufig auch viel Schindluder mit der Nahrungsmit-
telhilfe getrieben, indem die großen Exportländer, insbe-
sondere die USA, die Nahrungsmittelhilfe dazu nutzen,
den Abbau eigener Agrarüberschüsse voranzutreiben.
Dies kann und darf nicht Sinn und Zweck einer nachhal-
tigen und damit langfristig auf Selbstständigkeit der be-
troffenen Länder ausgerichteten Politik sein.
Nicht zu Unrecht wird daher von verschiedenen Orga-
nisationen der Status quo der Nahrungsmittelhilfe kriti-
siert. Entscheidend ist, dass wir auf die neuen weltweiten
Veränderungen angemessen reagieren und neue Instru-
mente entwickeln und Regelungen treffen, die diesen
Herausforderungen gewachsen sind. Die Situation auf
den Weltagrarmärkten verändert sich gravierend, da be-
völkerungsreiche Staaten wie China und Indien einen
enorm wachsenden Bedarf an Nahrungsmitteln vorwei-
sen. Zusätzlich kommt es in einigen Ländern zu einer
Konkurrenz zwischen dem Anbau von Nahrungsmitteln
und dem Anbau von Biokraftstoffen. Diese Entwicklung
lässt die Preise für bestimmte Agrarprodukte erheblich
steigen.
Dazu kommt – gerade davor sollten wir nicht unsere
Augen verschließen – dass durch die zusehends verän-
derten Umweltbedingungen, insbesondere die Klima-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14063
(A) (C)
(B) (D)
erwärmung, für die wir als westliche Industrienation
zum überwiegenden Teil die Verantwortung tragen, die
Häufigkeit von Naturkatastrophen erheblich zunimmt.
Das hat zwei verheerende Auswirkungen: Zum einen
wird die Nahrungsmittelhilfe vermehrt in Anspruch ge-
nommen werden müssen, zum anderen wird damit der
schon oft spärlich vorhandenen Grundlage für die eigene
Herstellung von Nahrungsmitteln in diesen Regionen die
letzte Basis entzogen.
Dieser Entwicklung müssen wir vereint entgegentre-
ten. Daher will ich auch ein wesentliches Ergebnis der
Konferenz im Mai aufgreifen. Es reicht einfach nicht,
nur bilateral die Lösung der Probleme der Nahrungsmit-
telhilfe anzugehen. Es muss gemeinsam und internatio-
nal an den strukturellen Ursachen gearbeitet werden mit
dem Ziel, die negativen Auswirkungen notwendiger
Nahrungsmittelhilfeleistungen zu begrenzen.
Diese umfassende Perspektive, die hier die Ebene der
Zusammenarbeit streift, vermisse ich leider in dem vor-
liegenden Antrag. Ich würde mir wünschen, wenn sich
hier nicht nur instrumentenorientiert, sondern auch, so
wie es verstärkt einzelne NGOs fordern, programmorien-
tiert der ganzen Sache angenommen werden würde. Das
zukünftige Nahrungsmittelhilferegime bedarf daher ei-
nes weit umfassenderen Konzeptes, als es hier dargelegt
ist.
Es ist schlicht unzureichend, wenn die Kolleginnen
und Kollegen der Opposition selbst von einer mittel- und
langfristigen Perspektive der Nahrungsmittelhilfe spre-
chen, dann jedoch nicht den passenden Instrumentenkof-
fer öffnen. Die „Humanitarian Aid Convention“ ist für
eine solche langfristige Perspektive unpassend.
Der hier vorliegende Antrag enthält einige gute und
einige weniger ausgereifte detaillierte Regelungen, die
auch eine konkrete Umsetzung erfordern. Diese detail-
lierten Regelungen und die operative Umsetzung können
nicht in einem solch allgemeinen und weitläufigen Kon-
zept, wie Sie es vorschlagen, angesiedelt sein. Das ist
schlichtweg der falsche Weg. Es muss allen Beteiligten
daran gelegen sein, eine umfassend neue Struktur und
Architektur der Ernährungssicherung zu entwickeln, die
das Problem konzeptionell erfasst und dann auch umset-
zen kann. Daher plädieren wir dafür, einen neuen institu-
tionellen Rahmen für die Nahrungsmittelhilfekonvention
zu errichten. Dieser kann unserer Meinung sowie der
Meinung vieler NGOs nach nur in einer „Food Assis-
tance Convention“ gefunden werden. Diese geht über
die klassische Nahrungsmittelhilfe von „Food Aid“ hi-
naus. „Food Assistance“ vereint somit eine große Band-
breite von Interventionen, angefangen von der Versor-
gung mit Waren über therapeutische Ernährung und
Gutscheinprojekte bis hin zu Barauszahlungen und wei-
teren finanziellen Systemen.
Ich frage mich auch, warum Sie in Ihrem Antrag fest-
legen, dass die Nahrungsmittelhilfekonvention unter
dem VN-Dach bei der FAO anzusiedeln sei. Der Prozess
der Erneuerung wurde – das möchte ich hier noch einmal
betonen – durch die eingeleitete Konferenz der Bundes-
regierung Anfang Mai überhaupt ins Rollen gebracht.
Sich jetzt schon festzulegen und einen Akteur für das
operative Geschäft zu bestimmen, kann nicht richtig
sein. Darüber hinaus ist es überhaupt fraglich, warum die
FAO hierzu, wenn überhaupt, geeignet sein soll. Was
hier benötigt wird, ist eine Vertretung, die über gut aus-
gebaute Strukturen in den jeweiligen Empfängerländern
verfügt und die notwendigen Kontakte hat. Beides ist bei
der FAO so nicht gegeben.
Was wir uns hier eher vorstellen könnten, wäre, dass
man die Nahrungsmittelhilfekonvention bei dem unserer
Meinung nach offensichtlich stärker aufgestellten Welt-
ernährungsprogramm (WEP) ansiedelt. Möglich wäre
auch eine Kombination verschiedener Vertreter. Aber in
diesem Punkt – und das ist das Entscheidende – greift
Ihr Antrag ins Leere. Wenn über ein neues Konzept von
Nahrungsmittelhilfe diskutiert und debattiert wird, dann
muss dieses Konzept wohldurchdacht und in einzelnen
Schritten vorangebracht werden. Eine sofortige Festle-
gung würde bedeuten, dass man der Planung dieses um-
fangreichen und weitsichtigen Konzeptes die nötige Dy-
namik entziehen würde, die gebraucht wird, um der
geforderten Zielsetzung zu entsprechen.
Ihr Antrag greift viele wichtige und notwendige
Punkte auf, die einer Reform der Nahrungsmittelhilfe-
konvention gerecht werden. Allerdings – das habe ich in
meiner Rede dargelegt – hat er noch zu viele Schwach-
stellen.
In zwei Wochen ist Weihnachten, das Fest der Liebe,
in dem es auch darum geht, durch Nächstenliebe denen,
die wenig bis gar nichts haben, zu helfen. Um dieses Ziel
nicht nur auf die Zeit während der Festtage zu reduzie-
ren, sondern den Menschen in den betroffenen Regionen
langfristig zu helfen, greift der hier debattierte Antrag
konzeptionell zu kurz. Trotz seiner nicht zu verleugnen-
den guten Ansätze brauchen wir ein umfassenderes und
weitreichenderes Konzept. Nur so können wir wirklich
Nahrungsmittelhilfe leisten, die nachhaltig den Empfän-
gerländern nutzt.
Dr. Karl Addicks (FDP): Der aktuelle Welthunger-
bericht 2007 hat es wieder einmal gezeigt: Es sind kaum
Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers vorzuwei-
sen. Besonders in Subsahara-Afrika zeichnet sich ein be-
drückendes Bild mit nur wenigen Lichtblicken. Im Ge-
genteil, die absolute Zahl der Hungernden weltweit ist
seit 1980 nur leicht zurückgegangen, seit einigen Jahren
steigen die Zahlen wieder. Und das, obwohl sich die in-
ternationale Gemeinschaft dazu verpflichtet hat, mehr
Geld zu investieren, um Armut, Krankheit und Hunger
besser und auch schneller zu bekämpfen. Angesichts
dieser Entwicklungen müssen wir uns die Frage stellen,
was wir falsch machen. Denn bisher ist dies nicht von
großem Erfolg gekrönt.
Die Beseitigung des Hungers ist und bleibt eine der
größten Herausforderungen. Warum hungern Menschen
gerade in den ländlichen Gebieten, wo doch die Nahrung
herkommt? Hat das vielleicht etwas mit der Verteilung
des Agrarlandes zu tun? Ja, aber nicht nur. Krieg, Krank-
heit, Korruption sind nur einige der Gründe für den Hun-
ger in der Welt. Deshalb nutzen isolierte Nahrungsmit-
14064 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
telprogramme auch nur, um punktuelle Hungerkrisen zu
bekämpfen und akute Notlagen zu beseitigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
freue mich, dass auch Sie dies so sehen und Nahrungs-
mittelhilfe in Notsituationen als zwingend notwendig
und alternativlos ansehen. Natürlich muss dabei beachtet
werden, dass es nicht zu einem Missbrauch der Nah-
rungsmittelhilfe kommt, indem Agrarüberschüsse in
Entwicklungsländer geschickt werden. Dies hat die FDP
im Hinblick auf die USA auch schon mehrfach gefor-
dert. Derartige handelsverzerrende Praktiken müssen
über die WTO abgebaut werden. Da stimmen wir mit Ih-
nen überein.
Wie schon gesagt, Nahrungsmittelhilfe ist in Not-
situationen alternativlos. Gleichwohl können auf Dauer
jedoch nur die Maßnahmen Hunger und Armut beseiti-
gen, die Staaten auf den Weg zu wirtschaftlicher Ent-
wicklung, zu Freiheit, Demokratie und Menschenrechten
bringen. Denn wer Afrika kennt, der weiß, dass dieser
Kontinent enorme Land- und Agrarreserven besitzt. Der
afrikanische Kontinent wäre in der Lage, 2 Milliarden
Menschen zu ernähren. Doch häufig fehlt es an den
schon angesprochenen Elementen wie Demokratie und
Freiheit. Denn nur durch politische Stabilität wird inves-
tiert, und Menschen können durch ihrer Hände Arbeit ih-
ren Lebensunterhalt bestreiten. Dazu müssen die Rah-
menbedingungen sie in die Lage versetzen. Das ist die
kausale Bekämpfung des Hungers. Und das müssen wir
fördern und fordern.
wir haben es selbst auf einigen Besuchen in Afrika
gesehen: Es kann funktionieren. Jedoch sind dies nur
vereinzelte Projekte, die eine positive Entwicklung ge-
nommen haben. Leider noch zu wenige.
Neben politischer Stabilität sind natürlich mehr Inves-
titionen in die ländliche Entwicklung nötig, und das von
allen Seiten. Sowohl Entwicklungs-, Schwellen- als auch
Industrieländer müssen auf diesem Gebiet mehr machen.
In den letzten 20 Jahren wurde dieser Bereich der Ent-
wicklungszusammenarbeit stark vernachlässigt. Der ak-
tuelle Weltbankbericht hat dies glücklicherweise er-
kannt, auch wenn ich mich frage, warum die Erkenntnis
so lang gedauert hat. So hoffe ich, dass sich diese Er-
kenntnis auch in den Taten der Weltbank zeigt und viele
Nachahmer, insbesondere in der deutschen Entwick-
lungszusammenarbeit, findet. Es kann nicht sein, dass
dieser Bereich weiter so sträflich vernachlässigt wird,
obwohl gerade bei der Förderung der ländlichen Ent-
wicklung mit den größten Entwicklungsergebnissen zu
rechnen ist. Laut Weltbank erreicht man mit der Förde-
rung der ländlichen Entwicklung einen um den Faktor 4
höheren Erfolg als in allen anderen Bereichen. Aus die-
sem Grund haben wir Liberale immer gefordert, dass
mehr, und zwar viel mehr in Agrarforschung und in den
Aufbau funktionsfähiger Agrarstrukturen investiert wer-
den muss; denn nur dann ist dies mittel- und vor allem
langfristig Hilfe zur Selbsthilfe.
Ich komme nun zu einigen Punkten in Ihrem Antrag,
denen ich als Liberaler und Entwicklungspolitiker nicht
zustimmen kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, warum können Sie sich nicht von dem
Dogma Ihrer Ablehnung der grünen Gentechnik verab-
schieden? Nicht alles, was diese Technik hervorbringt,
ist Teufelswerk, manches ist geradezu segensreich. Das
hat sogar Greenpeace erkannt. Erkennen Sie es auch!
Die Chancen überwiegen die hypothetischen Risiken.
Darüber hinaus fehlen mir aber auch noch entschei-
dende Punkte in Ihrem Antrag. Wo bleiben Punkte wie
Bildung und Ausbildung der Landbevölkerung, wo spre-
chen Sie die Verstärkung der Agrarforschung und den
Ausbau der Agrarstrukturen durch Industrie-, Entwick-
lungs- und Schwellenländer an? Ich vermisse dies in Ih-
rem Antrag.
Und noch ein weiterer zentraler Punkt wird in ihrem
Antrag nicht ausreichend berücksichtigt: die zuneh-
mende Konkurrenz zwischen Lebensmitteln und nach-
wachsenden Rohstoffen. Sie erwähnen es nur in einem
Halbsatz, aber eine Lösung bleiben Sie schuldig. In den
letzten Monaten haben ganz zentrale agrarpolitische Ver-
änderungen stattgefunden: Die weltweiten Getreidevor-
räte wurden wegen der enorm gestiegenen Nachfrage
abgebaut. Wir haben nicht mehr das jahrzehntelange
Überschussproblem, sondern es entstehen erste Nachfra-
geprobleme. Dies hat zum einen mit einem weiteren Be-
völkerungswachstum, aber auch mit der steigenden
Nachfrage nach Biokraftstoffen zu tun. Hier entsteht
eine Konkurrenz zwischen Nahrungsmitteln und nach-
wachsenden Rohstoffen, die sich in den nächsten Jahren
weiter verschärfen wird. Besonders für Entwicklungs-
und Schwellenländer wird diese Entwicklung verhee-
rende Folgen haben. Dies sind Herausforderungen, de-
nen wir uns stellen müssen.
Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Hunger hat
viele Ursachen. Nur die wenigsten sind natürlich be-
dingt. Heutzutage ist Hunger vor allem die Folge der rui-
nösen Konkurrenz auf dem internationalen Agrarmarkt.
Dies lässt sich an einem Umstand ablesen: Nach FAO-
Angaben leben drei Viertel der weltweit 854 Millionen
Hungernden auf dem Land.
Nehmen wir als Beispiel Ghana. In den 80er-Jahren
wurden in Ghana fast nur einheimische Tomaten geges-
sen. Heute aber gehört Ghana auf dem afrikanischen
Kontinent zu den größten Importeuren von Tomaten-
mark. Ursache: Mit den Billigimporten der europäischen
Anbieter können die Bauern nicht mithalten. Die ghane-
sischen Konservenfabriken, die bis vor kurzem noch den
Bauern die Ware abgenommen haben, verfallen.
Zwei Effekte sind zu beobachten: Die Gemüsebauern
auf dem Land verdienen nicht mehr genug. Das Geld
wird knapp. Zu bestimmten Jahreszeiten, insbesondere
vor der Erntezeit, gibt es nur noch eine Mahlzeit pro Tag.
Und: Die Jugend wandert in die Städte ab. Doch auch
dort ist Arbeit knapp, weil die einheimische Industrie
immer weniger einheimische Produkte zu verarbeiten
hat. Was bringt der freie Handel, wenn er unter dem
Strich nur zur Zerstörung der Lebensperspektiven der
Ghanesen führt?
Doch nicht genug. Es sind dieselben Apostel des un-
gebremsten Freihandels, die dann hinterher erklären, die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14065
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Entwicklungszusammenarbeit sei schuld an dem ganzen
Desaster. Nein, die Freihändler selbst verschärfen das
Problem, und zwar ganz bewusst. Eine neue Studie von
FIAN und „Brot für die Welt“ – die uns im Entwick-
lungsausschuss jüngst vorgestellt wurde – hat das ver-
deutlicht. Wir können dort lesen, dass das Parlament
2003 in Ghana auf die Importflut von Billigreis reagierte
und über eine mäßige Zollanhebung von 20 auf 25 Pro-
zent. die einheimischen Reisbauern zu schützen ver-
suchte. Doch die Regierung nahm, unter dem massiven
Druck des IWF, nach vier Tagen die entsprechende ge-
setzliche Regelung zurück. Ich kann mich nicht daran
erinnern, dass die Bundesregierung oder das Bundesent-
wicklungsministerium dieses undemokratische und ent-
wicklungsfeindliche Verhalten als einen Ausdruck von
„schlechter Regierungsführung“ gebrandmarkt hätte.
Aber genau das ist es. Die ghanesische Regierung beugt
sich einer übermächtigen Finanzinstitution, damit den
Reisexportgiganten aus den USA und Fernost die Tore
nach Ghana offen stehen, obwohl das eindeutig gegen
die Interessen der eigenen Bevölkerung geht. Das Nach-
sehen haben die einheimischen Reisbauern, die nicht
mithalten können.
Solange keine entwickelten industriellen Kerne beste-
hen, die auf dem freien Markt mitspielen können, so
lange ist die Absenkung der Außenhandelsmauern
gleichbedeutend mit der Vernichtung von Einkommens-
quellen für die Bevölkerung. Muss ich Sie daran erin-
nern, dass sich auch im Deutschland des 19. Jahrhun-
derts niemals eine einheimische Industrie gegen die
englische Konkurrenz hätte entwickeln können, wenn
Bismarck sie nicht unter den Schutz des Staates gestellt
hätte?
Schlimmer: Unter dem Druck des freien Marktes wer-
den die Reserven dünner, mit denen eine Bauernfamilie
heutzutage auf dem Land in Schwarzafrika leben muss.
Wenn dann eine natürlich bedingte Minderung der Ern-
teeinnahmen eintritt – wie jüngst infolge der Über-
schwemmungen in vielen Ländern Schwarzafrikas –,
dann macht sich gleich in ganzen Landstrichen eine
Hungerepidemie breit. Alle Welt sagt dann: Hunger ist
Folge einer Naturkatastrophe. In Wirklichkeit ist er
nichts als die Folge des von IWF und WTO erzwunge-
nen Freihandelsregimes.
Nun nutzt es den Betroffenen solcher vermeintlichen
Naturkatastrophen unmittelbar wenig, wenn die Abge-
ordneten in Deutschland über die Ursachen des Elends
debattieren. Zunächst einmal muss im Falle einer Hun-
gerepidemie sofort geholfen werden. Der vorliegende
Antrag der Grünen widmet sich diesem Problem, und er
findet die volle Unterstützung meiner Fraktion Die
Linke. Die bestehenden internationalen Regelungen für
den Notfall sind in keiner Weise ausreichend. Insbeson-
dere ist es zynisch, dass die Freihandelspolitiker selbst
die Hungerepidemien noch für ihre Zwecke ausnutzen
wollen.
Im Antrag wird richtig festgestellt, dass kostenlos ein-
geflogene Nahrungsmittelhilfe häufig die Zerstörung der
einheimischen Produktionsgrundlage aufgrund des
Dumpingeffektes noch beschleunigt und insofern das
Problem mittelfristig verschlimmert statt verbessert.
Eine Konvention muss her, die hier gegensteuert. Es
geht darum, dass im Krisenfall ausreichend finanzielle
Mittel zur Verfügung stehen, um so weit wie möglich re-
gional produzierte Lebensmittel aufzukaufen und zu ver-
teilen.
Dies sollte überhaupt zum Prinzip der Entwicklungs-
zusammenarbeit werden: dass Werkzeuge, Schaufeln,
Zelte, Verpflegung etc. so weit wie möglich vor Ort ge-
kauft werden und so der einheimische Mittelstand geför-
dert wird. Denn Hilfe zur Selbsthilfe darf keine leere
Phrase sein. Das gilt auch für den Notfall. Und genau
darauf zielen die im vorliegenden Antrag getroffenen
Feststellungen und Forderungen. Deshalb sollte er ernst
genommen und nicht aus kurzsichtigen, parteiegoisti-
schen Überlegungen heraus vom Tisch gewischt werden.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nah-
rungsmittelhilfe ist elementar wichtig und notwendig.
Ich bin sicher, in diesem Punkt sind wir uns alle einig.
Wenn Menschen aufgrund von politischen Konflikten,
Kriegen, Naturkatastrophen oder ökonomischen Desas-
tern keinen Zugang zu Nahrungsmitteln haben, dann ist
es unsere Aufgabe, diesen Menschen zu helfen. In Dar-
fur werden im Moment 3,7 Millionen Sudanesen vom
Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen mit
Lebensmitteln versorgt. Ohne diese Hilfe würden sie
wahrscheinlich nicht überleben.
Grundlegend für die internationale Nahrungsmittel-
hilfe ist die sogenannte Nahrungsmittelhilfekonvention.
Dieses internationale Abkommen legt die Bedingungen
der Hilfe fest, es setzt Standards, umfasst verbindliche
Produktlisten und enthält die Zusagen der Gebergemein-
schaft. Die erste Nahrungsmittelhilfekonvention wurde
1967 verabschiedet. Damals hatten die westlichen Indus-
trienationen zum Ziel, ihre Getreideüberschüsse sinnvoll
für die Hungerbekämpfung in Entwicklungsländern ein-
zusetzen. Inzwischen wurde das Übereinkommen mehr-
mals neu verhandelt. Seit 2001 steht eine solche Neuver-
handlung aus. Herausforderungen wie die steigenden
Nahrungsmittelpreise weltweit, die wachsende Anzahl
an Naturkatastrophen, der vermehrte Anbau von Pflan-
zen zur Energiegewinnung und die Tatsache, dass es
noch immer 850 Millionen hungernde Menschen auf der
Welt gibt, verdeutlichen einen dringenden Handlungsbe-
darf. Bisher musste jedoch aufgrund divergierender Inte-
ressen der Geberländer die Neuregelung der Nahrungs-
mittelhilfe immer wieder verschoben werden. In 2008
läuft das gegenwärtige Abkommen aus. Damit besteht
die Hoffnung, dass die dringend notwendige Neuver-
handlung nun endlich in Angriff genommen werden
kann.
Die gegenwärtige Nahrungsmittelhilfe muss refor-
miert werden. Das sagen nicht nur wir Grünen, sondern
das sagen auch alle Experten: von NGOs über internatio-
nale Organisationen bis hin zu unseren zuständigen Mi-
nisterien. Wir fordern deswegen die Bundesregierung
14066 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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auf, sich bei den internationalen Verhandlungen im kom-
menden Jahr für eine Neuausrichtung der Nahrungsmit-
telhilfe einzusetzen. Wir brauchen eine Nahrungsmittel-
hilfe, die effektiv ist, die sich an den Problemen der
betroffenen hungernden Menschen ausrichtet und die
den Bogen von kurzfristiger Nothilfe zu langfristigen Er-
nährungssicherungsmaßnahmen schlägt.
Diese Forderungen sind zwar schon jetzt in Art. 1 der
Nahrungsmittelhilfekonvention als Ziele benannt, nur
gibt es – wie so oft – eine große Diskrepanz zwischen
dem, was auf dem Papier steht, und dem, was in der Pra-
xis geschieht. In der Realität wird leider immer wieder
deutlich, dass sich Nahrungsmittelhilfe nicht primär an
den Bedürfnissen derjenigen orientiert, die von Hunger
und Armut am stärksten betroffen sind. Lassen Sie mich
hierfür zwei Beispiele kurz anführen.
Erstens. Nahrungsmittelhilfe wird von den Industrie-
nationen zum Teil noch immer als Instrument zur Au-
ßenwirtschaftsförderung benutzt, um eigene Überpro-
duktionen kostengünstig in Übersee abzusetzen. Wir
haben das im vorliegenden Antrag am Beispiel der soge-
nannten Monetarisierung aufgezeigt. Diese US-amerika-
nische Praxis der gebundenen Nahrungsmittelhilfe dient
der Agrarlobby des Geberlandes, sie dient den amerika-
nischen Reedereien, die das – häufig noch subventio-
nierte – Getreide aus den USA in die Entwicklungslän-
der verschiffen, und sie dient den US-amerikanischen
NGOs, die diese Nahrungsmittel auf den lokalen Märk-
ten der Entwicklungsländer zu Dumpingpreisen verkau-
fen, um aus den Einnahmen ihre Armutsbekämpfungs-
programme vor Ort zu finanzieren. Eine solche Praxis ist
absurd. Sie beeinträchtigt die Agrarproduktion in den
Empfängerländern negativ und führt schlimmstenfalls
sogar dazu, dass die Existenzgrundlage von Kleinbauern
und Händlern gefährdet wird.
Zweitens. Ein weiteres Beispiel verdeutlicht, dass
sich Nahrungsmittelhilfe nicht am Bedarf ausrichtet,
sondern abhängig ist von den Lebensmittelpreisen auf
dem Weltmarkt. So stellen Geberländer – die Nahrungs-
mittelhilfe in Form von Naturalien leisten und nicht wie
die EU in Form von Geld – immer dann ein bestimmtes
Produkt als Nahrungsmittelhilfe bereit, wenn die Preise
für dieses Produkt am niedrigsten sind. Andererseits re-
duzieren sie ihre Schenkungen, sobald die Preise wieder
ansteigen. Dieses Vorgehen ist paradox, wenn wir be-
denken, dass es sich eigentlich um eine Maßnahme han-
delt, die darauf abzielt, den ärmsten Ländern zu helfen.
Was wir brauchen ist Nahrungsmittelhilfe, die schnell
verfügbar ist; die zu allererst den Menschen zukommt,
die sie am dringendsten benötigen; die für jede Krisen-
situation ausreichend Nahrungsmittel bereitstellt, und
zwar unabhängig von den Lebensmittelpreisen auf dem
Weltmarkt; die verschiedene Instrumente beinhaltet, da-
mit sie jederzeit flexibel auf den ausgemachten Bedarf
reagieren kann.
Wir brauchen Nahrungsmittelhilfe, die die Qualität
der Nahrungsmittel gewährleistet und den Ernährungs-
gewohnheiten der bedürftigen Menschen entspricht; die
garantiert, dass keine gentechnisch veränderten Lebens-
mittel geliefert werden, wenn diese nicht erwünscht
sind; die nicht als politisches Instrument missbraucht
wird, um agrarische Überproduktionen aus dem eigenen
Land kostengünstig abzusetzen; die keinen negativen
Einfluss ausübt auf die Preise und Produktion von Le-
bensmitteln in den Empfängerländern; die nicht als Er-
satz dient für andere Instrumente der Nothilfe, sondern
komplementär mit anderen humanitären Aktivitäten ab-
gestimmt wird. Und wir brauchen eine Nahrungsmittel-
hilfe, die in langfristige, wirtschaftliche Entwicklungs-
und Armutsbekämpfungskonzepte integriert ist.
Für eine solche Nahrungsmittelhilfe setzen wir uns
mit unserem Antrag ein. Dabei sind zwei grundlegende
Erneuerungen entscheidend: Erstens. Inhaltlich fordern
wir eine Nahrungsmittelhilfekonvention, die Bezug
nimmt auf das Menschenrecht auf adäquate Nahrung ge-
mäß Art. 11 des Internationalen Pakts für wirtschaftli-
che, soziale und kulturelle Menschenrechte sowie auf
die hiermit verbundenen freiwilligen Leitlinien der Welt-
ernährungsorganisation zur progressiven Umsetzung
dieses Menschenrechts auf Nahrung.
Zweitens. Strukturell fordern wir eine deutliche Ver-
besserung der Steuerungsstruktur der Nahrungsmittelkon-
vention. Bisher besteht hier ein enormes Transparenz-,
Partizipations- und Kontrolldefizit, das aufgehoben wer-
den muss. Im Moment werden noch nicht einmal die Be-
richte der Treffen des Nahrungsmittelhilfekomitees öf-
fentlich gemacht, und es gibt keine Mechanismen, mit
denen überprüft wird, ob die Geberländer ihren Ver-
pflichtungen nachkommen. Wichtige Interessenvertreter
wie die Regierungen der Empfängerländer und die VN-
Agenturen, also die Welternährungsorganisation und das
Welternährungsprogramm, haben bisher keinerlei for-
male Möglichkeiten, in die Entscheidungsprozesse ein-
bezogen zu werden. Dies muss sich ändern.
Ich bitte um Ihre Unterstützung unseres Antrags.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Begrenzung der mit Finanzinvestitionen ver-
bundenen Risiken (Risikobegrenzungsgesetz)
(Tagesordnungspunkt 25)
Leo Dautzenberg (CDU/CSU): In den letzten zwei
Jahren hat die Große Koalition vieles geleistet, um die
Attraktivität des deutschen Finanzmarkts zu erhöhen.
Mit dem REIT-Gesetz haben wir ein neues, interna-
tional anerkanntes Finanzprodukt auf dem deutschen
Markt eingeführt. Durch die Änderung des Investment-
gesetzes haben wir überflüssige Regulierungen abgebaut
und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als Ver-
triebs- und Produktionsstandort für Fondsprodukte ver-
bessert. Im nächsten Jahr werden wir mit dem „Gesetz
zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapi-
talbeteiligungen“ – kurz MoRaKG – neue Anreize für
Investoren und Unternehmen der Wagniskapitalbranche
schaffen und so besonders Hightechgründer und junge
Technologieunternehmen fördern.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14067
(A) (C)
(B) (D)
Die Einführung dieser neuen Finanzprodukte und der
damit verbundene Anstieg internationaler Finanzinvesti-
tionen stellen uns als Gesetzgeber vor eine neue Auf-
gabe: Wir haben die Pflicht, eine ausreichende Transpa-
renz aller neuen Marktteilnehmer und Marktstrukturen
sicherzustellen, um so unerwünschten Entwicklungen in
Bereichen, in denen Finanzinvestoren tätig sind, entge-
genzuwirken. Dieser Pflicht wollen wir mit dem „Gesetz
zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbunde-
nen Risiken“ nachkommen, das wir heute in erster
Lesung beraten. In dem Gesetz geht es um eine Verbes-
serung der Transparenz und Rechtssicherheit in ver-
schiedenen Bereichen des Kapitalmarktgeschehens. Die
vorgeschlagenen Regelungen betreffen zum Teil börsen-
notierte, zum Teil aber auch nicht börsennotierte Unter-
nehmen. Im Einzelnen umfasst das Gesetz folgende
Maßnahmen: erstens Konkretisierung der bisherigen
Acting-in-Concert-Regelung, zweitens Verstärkung der
Aussagekraft wertpapierhandelsrechtlicher Meldungen,
drittens mehr Informationen über Inhaber wesentlicher
Beteiligungen, viertens Verschärfung der Rechtsfolgen
bei Verletzung von gesetzlichen Mitteilungspflichten,
fünftens verbesserte Identifizierung der Inhaber von Na-
mensaktien, sechstens Konkretisierung der Informa-
tionsrechte der Belegschaften.
Die anhaltenden Turbulenzen an den internationalen
Finanzmärkten haben einmal mehr gezeigt, wie wichtig
Transparenz, Klarheit und Rechtssicherheit auf dem Ka-
pitalmarkt sind. Deshalb unterstützt die Unionsfraktion
die Ziele des Gesetzes im Grundsatz. Wir möchten, dass
damit die Transparenz auf dem Finanzmarkt erhöht wird.
Die Emittenten sollen rechtzeitig erfahren, wer ihre wah-
ren Eigentümer sind und welche Ziele sie verfolgen.
Deshalb begrüßen wir vor allem die von der Regierung
vorgeschlagenen Maßnahmen zur verbesserten Identifi-
zierung der Inhaber von Namensaktien. Sie werden dazu
führen, mehr Licht in die Aktionärsstrukturen zu brin-
gen.
Gleichzeitig ist es uns aber auch wichtig, dass das Ge-
setz – wie im Entwurf im Übrigen auch angekündigt –
solche Finanz- oder Unternehmensaktionen nicht beein-
trächtigt, die effizienzfördernd wirken. Wenn wir die
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Finanzstandortes
bewahren und weiter ausbauen wollen, müssen wir eine
nationale Überreglementierung in jedem Fall vermeiden.
Wir begrüßen es deshalb sehr, dass die zunächst vorgese-
henen und von Unionsseite kritisierten Regelungen zu
Meldungen bei Leerverkäufen und zur Einführung eines
Präsenzbonus bei Hauptversammlungen aus dem Ge-
setzentwurf gestrichen wurden.
Auch das weitere Gesetzgebungsverfahren wird die
Union kritisch begleiten, um überzogene Sanktionen für
den Finanzplatz Deutschland zu vermeiden. Eine solche
Gefahr der Überregulierung sehe ich durchaus noch bei
der Ausgestaltung von drei der vorgeschlagenen Maß-
nahmen.
Erstens. Die geplanten neuen Regelungen zum abge-
stimmten Verhalten von Investoren – das sogenannte
Acting in Concert – halte ich in der Tendenz für zu res-
triktiv. Die Tatsache, dass Acting in Concert künftig be-
reits bei einer Abstimmung im Einzelfall sowie beim
Austausch von Informationen im Vorfeld von Jahres-
hauptversammlungen vorliegen soll, wird zu einer er-
heblichen Verunsicherung gerade bei ausländischen In-
vestoren führen. Es kann aber nicht in unserem Interesse
sein, die Attraktivität deutscher Unternehmen für verant-
wortungsbewusste und effizienzfördernde Investoren zu
schmälern.
Zweitens. Bessere Informationen über Inhaber we-
sentlicher Beteiligungen werden von der Unionsfraktion
grundsätzlich befürwortet. Wir möchten, dass die Emit-
tenten rechtzeitig erfahren, welche Ziele mit einer Betei-
ligung verfolgt werden. Eine Offenlegung der Mittel-
herkunft, unterteilt in Fremd- und Eigenkapital, wird
unserer Ansicht nach allerdings zu Wettbewerbsnachtei-
len sowohl für die Kreditgeber als auch für die Mittei-
lungspflichtigen führen. Zudem geht eine solche Offen-
legung der Mittel über die EU-Transparenzrichtlinie
hinaus, die erst im vergangenen Jahr in deutsches Recht
umgesetzt wurde. Sie stellt also eindeutig ein sogenann-
tes Goldplating dar.
Ein dritter Punkt, bei dem wir noch Klärungsbedarf
sehen, ist die Konkretisierung der Informationsrechte
der Belegschaften von nicht börsennotierten Unterneh-
men. Es ist richtig, den Schutz der Belegschaften durch
Informationspflichten bei Übernahme des Unternehmens
zu verbessern. Dabei muss unserer Ansicht nach aber
auch sichergestellt werden, dass auch die Betriebs- und
Geschäftsgeheimnisse des Übernehmers gewahrt blei-
ben.
Lassen Sie mich nun auf einen Punkt zu sprechen
kommen, der in dem Gesetzentwurf zwar nur unter der
Überschrift „weitere Maßnahmen“ aufgeführt wird, der
aber aufgrund der aktuellen Entwicklung immer mehr an
Bedeutung gewinnt. Ich spreche von dem Thema Kredit-
verkauf, das in den letzten Monaten häufig für negative
Schlagzeilen in den Medien gesorgt hat. Nicht zuletzt
das nichtöffentliche Fachgespräch zu diesem Thema im
Finanzausschuss hat klar gezeigt, dass hier gesetzgeberi-
scher Handlungsbedarf besteht, um Kreditkunden besser
zu schützen. Dabei muss aber auch bedacht werden, dass
der Verkauf und die Verbriefung von Krediten aus volks-
wirtschaftlicher Sicht grundsätzlich zu begrüßen sind.
Für mich heißt das: Wir müssen den Schutz der Darle-
hensnehmer erhöhen, ohne dabei den erfolgreichen deut-
schen Verbriefungsmarkt zu gefährden. Hier ist eine Er-
höhung der Transparenz von Kreditverkäufen unserer
Ansicht nach das geeignete Mittel, um beide Ziele zu er-
reichen.
Konkret stellen wir drei Forderungen auf. Erstens soll
der Kreditnehmer bei Vertragsabschluss darüber infor-
miert werden, dass sein Kredit verkauft werden kann.
Gleichzeitig soll er die Möglichkeit erhalten, einen Ver-
kauf auszuschließen. Eine solche Verpflichtung wird
dazu führen, dass es künftig sowohl Kredite geben wird,
die verkauft werden können als auch solche, die vermut-
lich etwas teurer sein werden, aber bei denen dafür ein
Verkauf ausgeschlossen sein wird.
Zweitens wollen wir, dass der Kunde beim Verkauf
des Kredites unverzüglich davon in Kenntnis gesetzt
14068 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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wird und auch erfährt, wer sein neuer Gläubiger ist. Eine
solche Informationspflicht sollte allerdings entfallen,
wenn die Bearbeitung des Kredits – das sogenannte Ser-
vicing – weiterhin bei der ursprünglichen Bank ver-
bleibt. Denn in einem solchen Fall ändert sich für den
Kreditnehmer praktisch nichts.
Drittens halten wir es für wichtig, dass der Kredit-
kunde rechtzeitig vor dem Auslaufen der Zinsbindung
darüber informiert wird, damit er sich rechtzeitig um
eine Anschlussfinanzierung bemühen kann.
Darüber hinausgehende Forderungen, insbesondere
die Forderung nach einem Sonderkündigungsrecht und
einem Wegfall der Vorfälligkeitsentschädigung – über
einen solchen Vorschlag wurde in der Presse ja bereits
berichtet – lehnen wir ab. Eine solche Regelung würde
den Verkauf von Krediten generell unmöglich machen
und den Markt für Kreditverbriefungen zum Erliegen
bringen. Gerade die Vorfälligkeitsentschädigung ist eine
wichtige Voraussetzung für die in Deutschland üblichen
Festzinskredite und Pfandbriefe. Die Subprimekrise in
den Vereinigten Staaten hat die Vorteile unseres Systems
der langfristigen Kreditfinanzierung aufgezeigt. Konti-
nuierliche Zinserhöhungen bei sogenannten Subprime-
krediten, die in den USA zu Zahlungsausfällen geführt
und die Immobilienkrise ausgelöst haben, sind bei uns
ausgeschlossen. Dieses – meiner Ansicht nach vorbildli-
che – System der langfristigen Kreditfinanzierung, für
dessen Erhalt wir gerade auf europäischer Ebene noch
gekämpft haben, würde durch ein Sonderkündigungs-
recht der Kreditnehmer erheblich gefährdet werden.
Ich bin davon überzeugt, dass wir gemeinsam mit un-
serem Koalitionspartner sowohl bei dem Thema Kredit-
verkauf als auch bei den übrigen Punkten des Gesetzes
zu einvernehmlichen und guten Lösungen kommen wer-
den, um das Ziel des Gesetzes, eine Erhöhung der Trans-
parenz auf dem deutschen Finanzmarkt, zu erreichen.
Die Union wird sich dabei dafür einsetzen, Überregulie-
rungen und überzogene Sanktionen zu vermeiden und
die Attraktivität des Finanzstandortes Deutschland wei-
terhin sicherzustellen.
Nina Hauer (SPD): Die Finanzmärkte eröffnen Anle-
gerinnen und Anlegern immer komplexere Anlagemög-
lichkeiten. In den letzten Jahren haben sich aber auch die
Akteure auf den Finanzmärkten verändert. Hedgefonds
und Private-Equity-Firmen spielen inzwischen auf den
modernen Finanzmärkten eine wichtige Rolle. Manche
Fonds investieren in börsennotierte, manche in nichtbör-
sennotierte Unternehmen. Der Anlagehorizont der In-
vestoren kann kurz- oder langfristig sein. Gesamtwirt-
schaftlich sind Finanztransaktionen deshalb notwendig,
weil sie Unternehmen den Zugang zu neuem Kapital er-
möglichen.
Die Politik steht mit dem Anstieg dieser Finanzinves-
titionen vor neuen Herausforderungen. Es passt nicht
zum Bild eines transparenten Finanzmarktes, wenn die
Vorstände börsennotierter Unternehmen trotz der Aus-
gabe von Namensaktien ihre größten Aktionäre nicht
kennen, weil sich diese nicht mit ihrem wirklichen Na-
men in das Namensregister eintragen.
Es ist zum Wohle der übrigen Aktionäre, wenn wir
unsere Regelungen zum Acting in Concert überarbeiten,
damit nicht Aktionäre mit eher geringfügigen Aktienpa-
keten die Strategie des Unternehmens maßgeblich beein-
flussen können, weil sie sich mit anderen heimlich ab-
sprechen.
Ich weiß, wie verunsichert die Mitarbeiter und Mit-
arbeiterinnen von Unternehmen sind, wenn sie sich
plötzlich mit einem neuen einflussreichen Investor kon-
frontiert sehen: Welche Ziele verfolgt der neue Eigen-
tümer mit diesem Investment? Mit welchen finanziellen
Mitteln wurde die Transaktion finanziert?
Diese Beispiele zeigen, was nötig ist, um faire Spiel-
regeln auf den Finanzmärkten weiter sicherzustellen:
Wir brauchen in erster Linie mehr Transparenz für alle,
die an Finanzinvestitionen beteiligt sind. Mit dem vorlie-
genden Gesetzesentwurf werden die mit Finanzinvesti-
tionen verbundenen Risiken begrenzt, indem wir vor al-
lem besagte Transparenz herstellen, aber auch klar die
rechtlichen Rahmenbedingungen verbessern, um ge-
samtwirtschaftlich unerwünschten Auswirkungen entge-
genzuwirken.
Eine rechtliche Klarstellung ist insbesondere beim ab-
gestimmten Verhalten von Investoren, dem sogenannten
Acting in Concert erforderlich. Unsere derzeitigen kapi-
talmarktrechtlichen Vorschriften sind veraltet und er-
schweren, Acting in Concert nachzuweisen, wenn hier
mittels moderner Kommunikationswege eine Abstim-
mung vorgenommen wird.
Wir möchten dem Markt zuverlässige und aussage-
kräftige Informationen zur Verfügung stellen, welcher
Investor wesentliche Beteiligungen an einem Unterneh-
men hält. Einen wichtigen Schritt haben wir mit dem
Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetz Anfang dieses
Jahres bereits gemacht: Seitdem müssen Investoren be-
reits eine Beteiligung von 3 Prozent melden. Im vorlie-
genden Gesetzesentwurf ist nun vorgesehen, dass
Stimmrechte aus Aktien und aus vergleichbaren Positio-
nen in anderen Finanzinstrumenten zusammengerechnet
werden. Damit werden aussagefähige Schwellenwerte
früher erreicht.
Nach dem Gesetzesentwurf wird es künftig auch bes-
sere Informationen über Inhaber von Beteiligungen ge-
ben, die mehr als 10 Prozent eines börsennotierten Un-
ternehmens halten. Eine ähnliche Regelung haben die
USA und Frankreich bereits schon vor einiger Zeit ein-
geführt. Die Investoren müssen bei Erreichen der Anla-
gegrenze offenlegen, welche Ziele sie mit der Beteili-
gung verfolgen, ob sie beispielweise nur kurzfristige
Handelsgewinne erzielen wollen oder ein langfristiges
strategisches Engagement in dem Unternehmen verfol-
gen. Außerdem wird offengelegt, inwieweit der Investor
beim Erwerb der Stimmrechte Fremd- oder Eigenmittel
einsetzt.
Das sind wichtige Informationen, die sowohl dem
Unternehmensvorstand als auch der Belegschaft An-
haltspunkte geben, was von dem neuen Eigentümer zu
erwarten ist.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14069
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Der Gesetzentwurf setzt weiter der häufigen Praxis
ein Ende, dass ein Aktionär zwischen zwei Hauptver-
sammlungen seinen Meldepflichten nicht nachkommt,
ohne rechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen, so-
lange er die Meldung zum Stichtag nachholt. Er kann
sich also unbemerkt an das Zielunternehmen anschlei-
chen, indem er sich ein Aktienpaket aufbaut, dieses aber
vorläufig nicht meldet. Mit der nachgeholten Meldung
kurz vor der Hauptversammlung kann er jedoch den
lange ahnungslosen Emittenten Probleme bereiten, in-
dem er auf der Hauptversammlung seine Stimmrechte
nutzt. Künftig hat eine Verletzung der Mitteilungspflicht
bezüglich der Höhe des Stimmrechtsanteils zur Folge,
dass der Aktionär die Mitverwaltungsrechte, also insbe-
sondere das Stimmrecht, die folgenden sechs Monate
nicht ausüben kann.
In eine ähnliche Kerbe schlägt die Regelung des Ge-
setzentwurfs, die Aktiengesellschaften ermöglicht, die
wirtschaftlichen Eigentümer von Aktien festzustellen.
Die Emittenten können sogar festlegen, dass Stimm-
rechte aus Namensaktien nur dann ausgeübt werden kön-
nen, wenn der Aktiengesellschaft der wirtschaftliche
Eigentümer bekannt ist. Einige börsennotierte Unterneh-
men dürften an einer solchen Regelung Interesse haben,
um eine effiziente und transparente Investor-Relations-
Arbeit zu betreiben.
Von besonderer Bedeutung für die SPD-Fraktion sind
Informationsrechte für die betroffenen Belegschaften.
Gute Erfahrungen mit entsprechenden Regelungen, wie
sie der Gesetzesentwurf vorsieht, haben bereits Unter-
nehmen, Belegschaften und Finanzinvestoren bei der
Übernahme börsennotierter Unternehmen gemacht.
Auch für den Fall, dass ein Finanzinvestor bei einem
nichtbörsennotierten Unternehmen die Kontrolle er-
wirbt, sieht der Gesetzentwurf künftig eine Unterrich-
tungspflicht des Unternehmens gegenüber der Beleg-
schaft vor. Für eine erfolgreiche Übernahme ist es
wichtig, auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des
Zielunternehmens zu informieren. Die Belegschaft soll
sich selbst ein Bild vom neuen Besitzer machen können.
Mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf stellen wir für
die Zukunft sicher, dass Finanzinvestitionen in Deutsch-
land transparenter werden. Risiken für die Wirtschaft,
den Finanzmarkt, die Unternehmen und auch die Beleg-
schaften dämmen wir so ein. Wir nehmen den Gesetzes-
entwurf positiv auf und werden ihn eingehend beraten.
Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Vor kurzem haben
wir in erster Lesung unter anderem das neue Wagniska-
pitlabeteiligungsgesetz vorgestellt, welches die Rahmen-
bedingungen Kapitalbeteiligungen neu regeln, verbes-
sern sowie vereinfachen soll. Dies haben wir deshalb
gemacht, damit gerade am Finanzmarkt Deutschland
junge, innovative Unternehmen – vor allem in der High-
tech- und IT-Branche – besser mit Kapital ausgestattet
werden können, um ihre oft sehr teueren Forschungsvor-
haben finanzieren und realisieren zu können. Dies
schafft nicht nur neue Arbeitsplätze in Deutschland, son-
dern sorgt dafür, dass der Finanzstandort Deutschland
weiter an Attraktivität gewinnt.
Schon bei der Vorstellung dieses Gesetzentwurfs hat
die Regierungskoalition angekündigt, dass parallel zum
oben erwähnten Entwurf auch Rahmenbedingungen ge-
schaffen werden müssen, die unerwünschte Aktivitäten
von zwielichtigen und nur auf schnelle Rendite orientier-
ten Finanzinvestoren erschweren sollen. Gleichzeitig
sollen aber auch Rahmenbedingungen geschaffen wer-
den, dass Effizienz fördernde und gewollte Finanztrans-
aktionen nicht beeinträchtigt werden.
Dies regelt der heute vorgestellte Entwurf eines Ge-
setzes zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen ver-
bundenen Risiken, kurz: Risikobegrenzungsgesetz.
Ein Aspekt, mit dem ich mich etwas näher beschäfti-
gen möchte und der derzeit in vieler Munde ist und auch
Bestandteil des vorgestellten Gesetzentwurfs werden
soll, ist die verbesserte Regelung bei Verkäufen von Kre-
ditforderungen.
Hierbei ist vor allem die wirtschaftliche Schlechter-
stellung von Kreditnehmern einschließlich möglicher
Verletzungen von Datenschutz und Bankgeheimnis zu
Ungunsten der Betroffenen problematisch. Meist handelt
es sich dabei um sogenannte notleidende Immobilienkre-
dite, also Kredite, bei denen der Schuldner in finanziel-
len Schwierigkeiten ist und die durch das Kreditinstitut
bereits gekündigt wurden oder kündbar sind. Zurzeit
schätzt man, dass das gehandelte Volumen dieser notlei-
denden Kredite allein in Deutschland circa 10 bis
12 Milliarden Euro pro Jahr ausmacht.
Dass ein Verkauf von solchen Krediten für die
Schuldner nichts Gutes bedeutet, liegt klar auf der Hand,
da die Käufer solcher Forderungen häufig nicht die Fort-
setzung der Kreditverträge, sondern die Zwangsvollstre-
ckung der Immobilien zum Ziel haben.
An dieser Stelle möchte ich auf das verweisen, was
ich bereits in meiner Rede zum Thema „Rechte der Ver-
braucherinnen und Verbraucher beim Verkauf von Im-
mobilienkrediten“ am 11. Oktober 2007 in diesem Hause
gesagt habe. Dass sich Banken in zunehmendem Maße
der Verantwortung gegenüber ihren Kunden entziehen
und einer Lösung mit den in Schwierigkeiten geratenen
Kreditnehmern immer weniger Interesse haben, zeigt die
Info-Broschüre einer großen deutschen Bank mit dem
Titel „Notleidende Kredite – eine etablierte Asset-
Klasse“ vom 5. April dieses Jahres. Dort heißt es auf den
Seiten 7 und 8:
Während Banken im Allgmeinen und vorwiegend
regional tätige Institute im Besonderen Rücksicht
auf ihren Ruf nehmen und deshalb bei der Abwick-
lung von Krediten behutsamer vorgehen, können
Abwicklungsgesellschaften ihre bzw. die Interessen
ihrer Auftraggeber bei den Verhandlungen und – im
Falle des Scheiterns – bei der Zwangsvollstreckung
offener durchzusetzen versuchen.“
Die Arroganz, die hinter einem solchen brutalen
Marktgeschehen steckt, kann nicht oft genug – auch in
diesem Hause wiederholt werden. Jedenfalls kann eine
solche Entwicklung von uns Sozialdemokraten nicht ak-
zeptiert werden und muss daher gesetzlich geregelt wer-
den.
14070 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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Aus diesem Grund ist die Politik gefragt, damit der
Verbraucherschutz nicht auf der Strecke bleibt. Denn es
sind vor allem die Kreditnehmer, die die wirtschaftlichen
Konsequenzen solcher Transaktionen zu tragen haben.
Ich denke, der vorliegende Gesetzentwurf zur Risikobe-
grenzung ist daher bestens geeignet, um einen möglichst
umfassenden Verbraucherschutz bei Verkäufen von Im-
mobilienforderungen aufzunehmen.
Folgende Maßnahmen sind hierbei denkbar: Einfüh-
rung eines Abtretungsverbots von Krediten an Nicht-
Banken, also speziell an Finanzinvestoren. Jede Bank
sollte fähig sein, einem – auch in Finanzschwierigkeiten
gekommenen – Kreditnehmer eine Lösung inklusive An-
schlussfinanzierung bieten zu können.
Banken sollten ihren Kunden spezielle Kredite anbie-
ten, die ein Abtretungsverbot vorsehen. Die Kunden
können dann selbst entscheiden, wie wichtig ihnen der
vertragliche Ausschluss von Forderungsabtretungen ist.
Ferner sollten Banken verpflichtet werden, ihren
Kunden eventuell bereits bei Vertragsabschluss über die
Möglichkeit von Kreditverkäufen zu informieren und
nicht – wie derzeit üblich – bloß in den immer noch
ziemlich kleingedruckten AGBs oder aber spätestens bei
erfolgter Abtretung bzw. Übertragung der Forderung.
Auch dies ist heute fast nirgendwo der Fall mit der
Folge, dass der Kreditnehmer häufig Post von einem ihm
unbekannten Finanzinvestor erhält, der sich dann als oft-
mals unnachgiebiger Finanzhai outet.
Weiterhin sollte der Kreditgeber verpflichtet werden,
dem Darlehensnehmer rechtzeitig ein Folgeangebot zu
unterbreiten oder ihn auf die Nichtverlängerung des Ver-
trages hinzuweisen. Dies schafft Planungssicherheit und
gibt dem Kreditnehmer die Möglichkeit, sich frühzeitig
auf eventuelle Veränderungen vorzubereiten.
Darüber hinaus halte ich die Einführung eines mögli-
cherweise befristeten Sonderkündigungsrechts ohne
Vorfälligkeitsentschädigung bzw. anteilige Rückzahlung
des Disagios für ein geeignetes Mittel, Kreditnehmer
besser zu schützen. Denn jede Form des Forderungsver-
kaufs ist mit der Kündigung eines Vertragsverhältnisses
gleichzustellen. Schuldner und Gläubiger sollten – nein:
müssen – sich auf gleicher Augenhöhe begegnen.
Auch ein verschuldensunabhängiger Schadenersatz-
anspruch bei unberechtigter Zwangsvollstreckung wird
zu prüfen sein. Tilgt der Kreditnehmer ordentlich seinen
Kredit und der Kreditgeber betreibt dennoch die
Zwangsvollstreckung, haftet er nach derzeitiger Rechts-
lage nur, wenn ihm ein Verschulen nachgewiesen wird.
Bei einem verschuldensunabhängigen Schadenersatzan-
spruch wird deshalb ein betroffener Darlehensnehmer
schneller und wesentlich einfacher seinen Schaden er-
setzt bekommen.
Auch sollte man nicht abtretbare Unternehmenskre-
dite vereinbaren können. Unternehmer sind derzeit nicht
in der Lage, mit ihrer Bank zu vereinbaren, dass vorhan-
dene Darlehensforderungen nicht abgetreten werden
können. Dies muss sich ändern. Auch Unternehmer soll-
ten die Möglichkeit erhalten, Kreditverträge mit ihrer
Bank zu schließen, die nicht abtretbar sind.
Mit diesen Forderungen sollten wir deutliche Akzente
zugunsten von Häuslebauern setzen. Für die Mehrheit
der Deutschen stellt die eigene Wohnimmobilie eines der
wichtigsten Standbeine der eigenen Altersvorsorge dar.
Eine Tatsache, die wir im Übrigen auch noch gesondert
fördern wollen. Deshalb ist es mir sehr wichtig, dass wir
im Bereich dieser Thematik die Verbraucherrechte so
stärken werden, dass der Traum von den eigenen vier
Wänden nicht zum Albtraum wird.
Der Handel mit Krediten in Deutschland wird in Zu-
kunft um ein Vielfaches zunehmen. Bei einem prognos-
tizierten Volumen von bis zu 300 Milliarden Euro an
notleidenden Krediten ist es unsere Pflicht, uns gezielt
für die Stärkung der Verbraucherrechte einzusetzen. Der
Kreditnehmer, auch der in Not geratene Kreditnehmer
darf nicht der Dumme sein, ohne die Chance zu erhalten,
seine Situation – eventuell mithilfe der kreditgebenden
Bank – wieder in den Griff zu kriegen und den Kredit or-
dentlich zu begleichen.
Das hier vorgestellte Risikobegrenzungsgesetz wird
aus gesetzlicher Sicht jedenfalls diese Chance formulie-
ren.
Frank Schäffler (FDP): Der vorliegende Gesetzent-
wurf müsste besser Investitionsbegrenzungsgesetz ge-
nannt werden, denn es begrenzt nicht Risiken, sondern
die Effektivität des Kapitalmarkts. Die Bundesregierung
sorgt mit Ihrem Gesetzentwurf dafür, dass Investoren er-
heblich verunsichert und einen Bogen um Deutschland
machen werden.
Sie will „gesamtwirtschaftlich unerwünschte Aktivi-
täten von Finanzinvestoren“ erschweren oder sogar ver-
hindern. Damit setzen CDU/CSU und SPD ihren Kurs
fort, in die Eigentumsordnung und die Vertragsfreiheit
einzugreifen. Dies ist ein weiterer Schlag gegen die so-
ziale Marktwirtschaft. Die SPD will entscheiden, was
am Markt gut und was schlecht ist, und die Union reicht
ihr dazu die Hand. Anfangs sah es noch so aus, als gäbe
es dafür eine Gegenleistung, nämlich ein Private-Equity-
Gesetz. Das tatsächlich von der Bundesregierung vorge-
legte Gesetz zur Modernisierung der Rahmenbedingun-
gen für Kapitalbeteiligungen war aber eine einzige
Enttäuschung und wurde als solche auch von den Sach-
verständigen in der Anhörung des Finanzausschusses be-
zeichnet. Seitdem liegt es auf Eis, Hoffnung auf Besse-
rung besteht jedoch nicht. Einig ist sich die Koalition
immer nur dann, wenn es darum geht, lenkend in den
Markt einzugreifen.
Mit dem Risikobegrenzungsgesetz sollen die Vor-
schriften im Wertpapierhandelsgesetz und im Wertpapier-
übernahmegesetz zum abgestimmten Verhalten von
Investoren – Acting in Concert – erweitert und konkreti-
siert werden. Diese wurden jedoch erst mit dem Transpa-
renzrichtlinie-Umsetzungsgesetz, TUG, vom Beginn die-
ses Jahres überarbeitet. Die Bundesregierung will also
ein eigenes Gesetz, das seine Wirkung noch gar nicht
zeigen konnte, schon wieder verschärfen. Eine vernünf-
tige Begründung dafür liefert sie nicht. Tatsächlich
werden durch diesen Aktionismus die Akteure am
Finanzmarkt nur kurze Zeit nachdem sie sich auf die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14071
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Neuregelung durch das TUG eingestellt hatten mit neuen
bürokratischen Pflichten belegt. Dies widerspricht auch
dem Ziel einer europäischen Harmonisierung. Die vor-
gesehene Definition des Acting in Concert geht viel zu
weit. Bei jeder Form von Opposition gegenüber den Un-
ternehmensleitungen drohen künftig unkalkulierbare
Rechtsfolgen. Dies liegt daran, dass die Bundesregie-
rung nicht den Schutz der Unternehmen, sondern den
Schutz der Unternehmensleitungen im Blick hat.
Zum Thema Kreditverkauf haben Sie seitens der Re-
gierung noch kein Konzept. Sie haben deshalb im
Finanzausschuss eine Liste möglicher Maßnahmen vor-
gelegt, und diese soll nun auch den Sachverständigen für
die Anhörung zur Verfügung gestellt werden. Dabei
wurde seitens der Koalition darauf aufmerksam ge-
macht, dass es doch gut sei, wenn das Parlament offen
diskutieren könnte. Eine solche offene Diskussion gab es
jedoch schon bei einem Fachgespräch des Finanzaus-
schusses am 19. September im Rahmen einer Selbstbe-
fassung. Eine Anhörung im Rahmen eines Gesetzge-
bungsverfahrens kann sinnvoll jedoch nur auf der Basis
von konkreten Regelungsvorschlägen geschehen, da der
Teufel oft im Detail steckt. Solche konkreten Vorschläge
gibt es seitens der Bundesregierung auch schon. Die
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hat am 11. De-
zember, also einen Tag vor unserer Beratung im Finanz-
ausschuss, gegenüber der Presse erklärt, sie habe „dem
Deutschen Bundestag deshalb konkrete Gesetzesvor-
schläge unterbreitet, um redliche Darlehensnehmer bes-
ser zu schützen“. Wir erwarten seitens der FDP-Frak-
tion, dass diese Vorschläge auch Gegenstand der
Anhörung werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht auch neue Infor-
mationspflichten im Betriebsverfassungsgesetz vor.
Auch hier handelt es sich um Aktionismus und nicht um
wirklich notwendige Regelungen, da das bestehende Be-
triebsverfassungsrecht schon umfassende Informations-
rechte bietet.
Der Gesetzentwurf ist insgesamt von einem tiefen
Misstrauen gegenüber dem Markt und gegenüber Inves-
toren durchzogen. Deutschland braucht jedoch Kapital,
auch aus dem Ausland. Das Risikobegrenzungsgesetz
geht genau in die gegenteilige Richtung und ist damit ein
Rückschritt für den Finanzplatz Deutschland.
Axel Troost (DIE LINKE): Risikobegrenzung, das
ist doch einmal ein guter Vorsatz. Besser wäre es frei-
lich, man würde die Risiken gar nicht erst schaffen, statt
sie im Nachhinein zu begrenzen.
Wir haben uns natürlich darüber gefreut, dass Herr
Müntefering mit dem Begriff Heuschrecken eine breite
Debatte über Finanzinvestoren ausgelöst hat. Das Bild
der Heuschrecke führt aber in die Irre: Finanzinvestoren
sind keine Naturgewalt, die über den Standort Deutsch-
land hereingebrochen sind. Vielmehr sind Finanzinves-
toren in den vergangenen Jahren im Rahmen des Stand-
ortwettbewerbs politisch wohl kalkuliert zum Beispiel
durch Steuergeschenke nach Deutschland gelockt wor-
den. Wenn die Bundesregierung nun also die Risiken
von Finanzinvestoren begrenzen will, dann möchte sie
ein bisschen die übelsten Erscheinungsformen der Geis-
ter wieder loswerden, die sie nicht zuletzt selber vorher
gerufen hat.
Die Bundesregierung gibt vor, mit diesem Gesetz die
Risiken für die Beschäftigten von solchen Unternehmen
zu begrenzen, die von Private-Equity- und Hedgefonds
übernommen werden. Selbstverständlich ist eine Siche-
rung der Rechte der Beschäftigten richtig und notwen-
dig. Statt Sicherheit zu schaffen, wiegt der Gesetzent-
wurf die Beschäftigten aber in falscher Sicherheit, denn
er räumt ihnen nur einige Informationsrechte, aber keine
wirksame Mitbestimmung ein. Durch das vorliegende
Gesetz würden Betriebsräte dann früher wissen, was mit
den Belegschaften gemacht wird, aber ohne dass sie da-
rauf ernstlich Einfluss nehmen könnten.
Als Fraktion Die Linke fordern wir stattdessen, dass
Übernahmen als „Betriebsänderungen“ im Sinne des Be-
triebsverfassungsgesetzes eingestuft werden, was der
Belegschaft deutlich stärkere Mitbestimmungsrechte
einräumen würde. Ein solcher Schritt müsste mittel- und
langfristig durch eine weitgehende Mitbestimmung der
Beschäftigten auch in wirtschaftlichen Fragen des Unter-
nehmens fortgeführt werden.
Es gibt eine Vielzahl weiterer gesetzlicher Schritte,
die die Bundesregierung gehen könnte, wenn sie es mit
der Begrenzung von Risiken durch Finanzinvestoren
ernst meinen würde. Der wichtigste Schritt bestünde da-
rin, das Geschäftsmodell der Heuschrecken unattraktiver
zu machen. Sie leihen sich Geld, kaufen damit ein Unter-
nehmen und bürden die Rückzahlung der Kredite dem
übernommenen Unternehmen auf. Dem könnte einer-
seits durch höhere Eigenkapitalanforderungen für Bank-
kredite an Finanzinvestoren begegnet werden. Auch
könnte man übermäßig kreditfinanzierte Unternehmens-
übernahmen insgesamt verbieten. Ferner sind die steuer-
lichen Privilegien, zum Beispiel im Bereich der Gewer-
besteuer und der Managergehälter, sofort abzuschaffen.
Darüber hinaus muss verhindert werden, dass Unter-
nehmen durch Finanzinvestoren nach der Übernahme
ausgesaugt werden. Heute können Heuschrecken durch
Kreditaufnahme Sonderausschüttungen finanzieren und
auf diesem Wege das Eigenkapital aus den Unternehmen
ziehen. Das muss in Zukunft verboten werden.
Um Investoren dazu zu zwingen, ihre Unternehmens-
engagements wieder langfristiger auszurichten, sollte die
Bindung des Stimmrechts an die Haltedauer der Aktien
angestrebt werden. Denn es ist gerade der kurze Investi-
tionszeitraum, der die Finanzinvestoren dazu verleitet,
ihr Geschäftsmodell auf Kosten der Beschäftigten und
der langfristigen Innovations- und Wachstumspoten-
ziale der Unternehmen durchzusetzen.
All das sind nur einige Beispiele, wie eine ernst ge-
meinte Risikobegrenzung aussehen müsste. Der vorlie-
gende Gesetzentwurf hingegen wird seinem Namen
nicht gerecht und wird von uns daher klar abgelehnt.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der vorliegende Gesetzesentwurf macht sich aus-
weislich des Namens und der Begründung zur Aufgabe,
14072 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
Risiken im Zusammenhang mit Finanzinvestoren zu be-
grenzen. Der Entwurf der Bundesregierung für das Risi-
kobegrenzungsgesetz krankt jedoch an einem undiffe-
renzierten Regulierungsansatz. Die Regelungen werden
der Komplexität der unterschiedlichen Bereiche, na-
mentlich der Übernahmen durch Private-Equity-Fonds,
Einflussnahmen auf die Leitung von Aktiengesellschaf-
ten durch Hedgefonds sowie dem Handel mit immobi-
lienbesicherten Darlehen, nicht gerecht.
Das Risikobegrenzungsgesetz lässt zunächst eine Be-
schreibung der Risiken vermissen, die es zu begrenzen
wünscht. Nimmt man die Verknüpfung, die die Bundes-
regierung nennt, und sieht das Gesetz als ausgleichendes
Korrektiv zum Gesetz zur Modernisierung der Rahmen-
bedingungen bei Kapitalbeteiligungen, MoRaKG, würde
das implizieren, dass das Risikobegrenzungsgesetz einer
Regulierung der Private-Equity-Branche dient. Aller-
dings ist mit der Forderung nach Informationsrechten
der Belegschaften nicht börsennotierter Unternehmen le-
diglich ein einziger Regulierungsvorschlag im Gesetz
enthalten, der direkt im Zusammenhang mit Private-
Equity-Übernahmen steht. Dieses Minimum an Transpa-
renz für Belegschaften ist eine unzureichende Reaktion,
um den Problemen, die bei Private-Equity-Übernahmen
entstehen können, zu begegnen. Ein Gesetz zur Begren-
zung von Risiken der Private-Equity-Branche hätte bei-
spielsweise einer näheren Auseinandersetzung mit typi-
schen Abläufen bei Leveraged Buy-outs bedurft.
Notwendig sind Regelungen, die jenseits bestehender
Kapitalerhaltsvorschriften gewährleisten, dass Zielge-
sellschaften von Private-Equity-Übernahmen durch
überhöhte Verschuldung nicht in die Nähe einer Insol-
venz geführt werden. Zudem bedarf es Vorschriften, die
dem Betriebsrat oder Wirtschaftsausschuss einer Zielge-
sellschaft stärkere Rechte bei Verhandlungen einräumen.
Dabei geht es nicht darum, einer Minderheit Blockade-
möglichkeiten einzuräumen. Gleichwohl kann es für ei-
nen reibungslosen Eigentümerwechsel von Vorteil sein,
wenn Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter frühzei-
tig eingebunden werden und etwa bei wesentlichen Fra-
gen einen Zustimmungsvorbehalt fordern können. Das
sichert einen verträglichen Verlauf der Übernahme und
kann auch zur höheren Akzeptanz neuer Eigentümer
durch die Belegschaft führen.
Zum überwiegenden Teil enthält das Risikobegren-
zungsgesetz Vorschriften, die den Beteiligungsaufbau an
Aktiengesellschaften durch Hedgefonds betreffen. So
sollen die Aktionärsstruktur sowie die Absichten bedeu-
tender Anteilseigner transparenter werden. Des Weiteren
wird die Sanktion für Verletzungen gegen Meldepflich-
ten ausgeweitet. Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen
stimmen wir im Grundsatz überein. Transparenz ist ein
wesentlicher Bestandteil funktionierender Kapital-
märkte. Informationspflichten werden von den Kapital-
marktakteuren außerdem nur dann nachgekommen,
wenn bei Verstoß mit Nachteilen von gewisser Erheb-
lichkeit zu rechnen ist.
Die konkrete Art und Weise, wie die Bundesregierung
diese Regelungsziele zu erreichen beabsichtigt, lehnen
wir allerdings ab.
Zunächst ist der neue Tatbestand des Acting in Con-
cert, der das abgestimmte Verhalten von Investoren er-
fassen soll, konturenlos. Nicht Rechtssicherheit, sondern
ausufernde Interpretationsmöglichkeiten wären die
Folge. Gerade an dieser Stelle muss der Gesetzgeber
eine klare Trennlinie zwischen erwünschten Abreden im
Sinne guten „shareholder activism“ und solchen Verhal-
tensweisen ziehen, die eine wechselseitige Zurechnung
der Stimmen mit entsprechenden Folgen berechtigt.
Hätte die Bundesregierung genau vor Augen, welche Ri-
siken es zu begrenzen gilt, könnte in diesem Fall sinn-
vollerweise mit einem Regelkatalog gearbeitet werden.
In der gegenwärtigen Fassung wird sich die neue Vor-
schrift in puncto Rechtssicherheit als kontraproduktiv er-
weisen.
Auch hinsichtlich der verbesserten Informationen
über Inhaber wesentlicher Beteiligungen und Inhaber
von Namensaktien ist das Regelungsziel zu begrüßen,
der beschrittene Weg jedoch nicht zielführend. Der Um-
stand, dass die Informationspflicht der Aktionäre von ei-
ner Aufforderung der Aktiengesellschaft abhängig ist
und der einhergehende Stimmrechtsverlust für sechs
Monate bei Pflichtverletzung, macht die neuen Regelun-
gen zu einem strategischen Instrument für Vorstände
deutscher Aktiengesellschaften. So könnten Auskunfts-
verlangen kurz vor Hauptversammlungsterminen erfol-
gen und anschließend eine nicht fristgerechte oder un-
vollständige Angabe behauptet werden, um unliebsamer
Opposition das Stimmrecht zu nehmen. Allein der Mög-
lichkeit eines solchen Missbrauchs darf kein Raum gege-
ben werden.
Die Offenlegungspflicht von Investoren, die 10 Pro-
zent der Stimmrechtsanteile auf sich vereinen, sollte da-
her automatisch ausgelöst werden und nicht im Ermes-
sen des Vorstands liegen. Die Vorschrift würde letztlich
auch zu einer Ungleichbehandlung der Aktionäre führen.
Bei Namensaktien sind die Informationen über den
wahren Aktionär außerdem dem gesamten Kapitalmarkt-
publikum zur Verfügung zu stellen und nicht lediglich
gegenüber dem Unternehmen zu erklären. Diese Infor-
mationen sind für die Aktionäre auch vor dem Hinter-
grund eines Aktionärsforums, das bisher nicht als
Kommunikationsplattform angenommen wird, von Be-
deutung. Nimmt man die genannten Punkte einmal zu-
sammen, sieht man, dass die große Koalition sich weni-
ger um die allgemeine Transparenz am Kapitalmarkt
oder um die Risiken für die Unternehmen, sondern vor
allem um die Risiken der Vorstände sorgt: Ihr Vorschlag
führt zu einem Vorstandsrisiko-Begrenzungsgesetz. Ei-
nen solchen Ansatz lehnen wir ab. Unternehmen beste-
hen nicht nur aus Vorständen.
Ein Punkt, der sicher in der Anhörung eine große
Rolle spielen wird, ist die Problematik verkaufter Immo-
bilienkredite. Gut, dass Sie das aufgreifen, nachdem Sie
schon viel zu lange abgewartet haben. Eine Initiative des
Gesetzgebers ist dringend notwendig, zumal die Verun-
sicherung bei Bürgerinnen und Bürgern sowie dem Mit-
telstand stetig zunimmt. Erst kürzlich wurde in den Me-
dien dargestellt, dass zunehmend auch ordnungsgemäß
bediente Kredite veräußert wurden und die Finanzinves-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14073
(A) (C)
(B) (D)
toren isoliert aus der vereinbarten Sicherheit vollstreck-
ten. Vor diesem Hintergrund ist es allerdings enttäu-
schend, dass die Bundesregierung die entsprechende
Passage im Risikobegrenzungsgesetz trotz vorausgehen-
der Anhörung mit Sachverständigen im Finanzausschuss
und ausreichend zeitlichem Nachlauf erst kurzfristig vor
der ersten Lesung konkretisiert hat.
Inhaltlich finden sich in den nun vom Bundesjustiz-
ministerium und in den von den Koalitionsfraktionen im
Ausschuss vorgelegten Regulierungsvorschlägen eine
Reihe von Forderungen unseres Antrags vom 13. Juni
2007. Das können wir nur begrüßen. Aber nach monate-
langer Diskussion müssten wir nun eigentlich weiter sein
als bei einer unverbindlichen Vorschlagsliste. Sie lassen
die Verbraucherinnen und Verbraucher einmal mehr im
Regen stehen.
Was in den Vorschlägen fehlt, ist eine klare gesetzli-
che Definition des Begriffs notleidender Kredit oder
Non-performing Loan. Da sich an die bankinterne Ein-
stufung eines Kredites als „notleidend“ weitreichende
Folgen anschließen, müssen betroffene Kreditnehmer
Rechtsklarheit haben. Außerdem sollte es bei ordnungs-
gemäß bedienten Kreditforderungen die Pflicht des ver-
äußernden Bankinstituts geben, eine Zustimmung des
Schuldners einzuholen. Das beschränkt zwar die Ver-
kehrsfähigkeit dieser Kredite. Andererseits ist nicht er-
kenntlich, warum die Handelbarkeit von Immobilienkre-
diten, deren Schuldner regelmäßig zahlen, gegeben sein
muss. Schließlich halten wir es für die Eindämmung von
Missbrauch bei Immobilienverwertungen für angezeigt,
wenn die Schuldner vor Einleitung der Zwangsvollstre-
ckung durch den Gläubiger für einen angemessenen
Zeitraum die Möglichkeit eines freihändigen Verkaufs
der Immobilie erhalten.
Das Risikobegrenzungsgesetz wird in der vorliegen-
den Form also nicht das erreichen, was es sich zum Ziel
gesetzt hat. Leidtragende sind am Ende die mittelständi-
schen Unternehmen, die Aktionäre sowie die Kreditneh-
menden, die in Zeiten veränderter Rahmenbedingungen
und unruhiger Finanzmärkte klare ordnungspolitische
Maßnahmen erwarten.
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Zukunftschancen
des Ostseeraums – Wirtschaft, Ökologie, Kultur
und Tourismus
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Den FDP-Antrag
„Zukunftschancen des Ostseeraumes – Wirtschaft, Öko-
logie, Kultur und Tourismus“, Drucksache 16/5251, des-
sen erste Beratung am 6. Juli 2007 erfolgte, wollen wir
heute abschließend beraten.
Der Antrag enthält ohne Zweifel wichtige und rich-
tige Aussagen und Forderungen, was den Ostsee-Raum
angeht, wie zum Beispiel die Themen Verkehrssicher-
heit, Fischerei, Tourismus, Kultur, Meeresumweltschutz
und Meeresforschung. Der Antrag ist allerdings bereits
überholt und daher abzulehnen.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktio-
nen von CDU/CSU und SPD haben es geschafft, die ma-
ritime Politik viel stärker in den Fokus der Öffentlichkeit
zu rücken, als dies vorher je der Fall war. Mit unseren
gemeinsam im Plenum des Deutschen Bundestages
verabschiedeten Anträgen „Maritime Wirtschaft in
Deutschland stärken“ (Drucksache 16/4423), „Für eine
zukunftsgerichtete europäische Meerespolitik“ (Druck-
sache 16/5731), „Die Tourismusregion Ostsee voranbrin-
gen“ (Drucksache 16/5906), „Ostseekooperation weiter
stärken und Chancen nutzen“ (Drucksache 16/5910) und
„Kreuzfahrttourismus und Fährtourismus in Deutschland
voranbringen“ (Drucksache 16/5957) haben wir bereits
notwendige und wichtige Weichenstellungen vorgenom-
men, die den gesamten Ostsee-Raum mit seinen vor- und
nachgelagerten maritimen Bereichen voranbringen.
Die maritime Politik der Großen Koalition steht voll
und ganz in der Kontinuität der bisherigen Maritimen
Konferenzen der Bundesregierung – von der Ersten Na-
tionalen Maritimen Konferenz am 13. Juni 2000 in Em-
den bis zur Fünften Nationalen Maritimen Konferenz am
4. Dezember 2006 in Hamburg. Seit der letzten Konfe-
renz ist ein Jahr vergangen, Zeit, um eine Zwischenbi-
lanz zu ziehen.
Wichtige Punkte im Bereich maritime Wirtschaft sind
unter anderem: Die Einführung eines wettbewerbsfähi-
gen CIRR-Systems (Commercial Interest Reference
Rate) – Regelung für Exportkredite für Schiffe – unter
Einschluss einer einvernehmlichen Lösung mit den Küs-
tenländern kommt unserer starken Schiffbauindustrie zu-
gute und hält sie international wettbewerbsfähig.
Wir haben für das Haushaltsjahr 2008 und für die Fol-
gejahre eine Aufstockung der Innovationsförderung von
2 Millionen Euro auf insgesamt 10 Millionen Euro errei-
chen können. Zusätzlich wurde für die Haushaltsjahre
2009 bis 2011 die Verpflichtungsermächtigung von
10,5 Millionen auf 20 Millionen Euro mehr als verdop-
pelt. Dies führt zu mehr Planungssicherheit für die mari-
time Forschung und Werftindustrie. Heute, im Jahr 2007,
kann ich auch mit ein wenig Stolz sagen: Es gibt in mei-
nem Heimat-Bundesland Mecklenburg-Vorpommern an
den Standorten Warnemünde, Wismar, Stralsund und
Wolgast nicht nur europa-, sondern auch weltweit die
modernsten Werften.
Der Deutsche Bundestag hat zusätzliche Mittel für die
so immens notwendige Seehafenhinterlandanbindung im
Haushalt 2008 sowie für die kommenden Haushalte be-
reitgestellt. Wir machen uns stark für leistungsfähige
Hinterlandanbindungen und seewärtige Erreichbarkeit.
Angesichts anhaltend hoher Wachstumsraten insbeson-
dere im interkontinentalen Containerverkehr ist unser
Land auf den zügigen Ausbau der seewärtigen Zugänge
der deutschen Seehäfen und deren landseitiger Anbin-
dungen über Straße (zum Beispiel Ausbau A 14; Neubau
A 39 Wolfsburg–Lüneburg; 6-spuriger Ausbau A 7 in
Hamburg auf dem Weg, Planungsrecht und Finanzierung
weiterer Bauabschnitte gesichert; Weiterbau A 20 von
Lübeck–Stade im Bau, zusätzliche Mittel für weitere
14074 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
Bauabschnitte bereitgestellt; Neubau A 26 Stade–Ham-
burg im Bau), Schiene (zum Beispiel Ausbau der Stre-
cken Rostock–Berlin, Berlin–Pasewalk–Stralsund, Elek-
trifizierung der Strecke Hamburg–Lübeck–Travemünde,
zurzeit auf dem Weg Hamburg–Lübeck) und Binnen-
wasserstraße angewiesen. Hier ist in den letzten Jahren
schon viel geschehen. Weiteres muss forciert und umge-
setzt werden. Denn zwei Drittel der Wertschöpfung im
Bereich Schiffbau, Seeverkehr- und Hafenwirtschaft ent-
stehen in den Küstenhinterländern. Dies kann nicht al-
lein Sache der norddeutschen Bundesländer sein.
400 000 Beschäftigte in der maritimen Wirtschaft in
Deutschland erwirtschaften 54 Milliarden Euro an Brut-
towertschöpfung.
Wir haben uns dafür eingesetzt, dass die Seeverkehrs-
und Hafenwirtschaft als die Schlüsselfunktion für den
inner- und außergemeinschaftlichen Handel angemes-
sene Berücksichtigung im Masterplan „Güterverkehr
und Logistik“ der Bundesregierung findet. Nicht nur die
Bundesregierung, sondern auch die Landesregierungen
und Parlamente der Küstenländer sind aufgefordert, wei-
ter in den zügigen Ausbau der Hafeninfrastruktur aller
deutschen Nord- und Ostsee-Häfen zu investieren.
Schifffahrt, Häfen und Logistik leisten einen wichti-
gen Beitrag für Arbeit und Beschäftigung in Deutsch-
land. Die Hafen- und Logistikbetriebe der deutschen
Seehäfen wollen bis zum Jahr 2012 rund 2 800 Men-
schen ohne Job eine neue Beschäftigungsperspektive
bieten. Der Zentralverband der deutschen Seehafenbe-
triebe (ZDS) hat dazu in Zusammenarbeit mit dem Bun-
desverkehrsministerium (BMVBS) und der Bundesagen-
tur für Arbeit (BA) eine Qualifizierungsoffensive für
Langzeitarbeitslose gestartet. Die Initiative wurde in der
Folge der Nationalen Maritimen Konferenz 2006 entwi-
ckelt. Die Qualifizierungsoffensive richtet sich zu 75 Pro-
zent an Langzeitarbeitslose; davon sind 75 Prozent bis
27 Jahre alt. Die Mindestvoraussetzung für eine Teil-
nahme an dem Programm ist ein Hauptschulabschluss.
Am Ende einer erfolgreichen Qualifizierung steht eine
garantierte Übernahme in ein Beschäftigungsverhältnis
(Pressemitteilung BMVBS vom 7. Dezember 2007). Da-
nach liegt der Personalqualifizierungsbedarf in allen
deutschen Seehäfen für das Jahr 2008 bei 800 Personen,
für 2009 bei 700, für 2010 bei 500 und für die Jahre
2010 und 2011 jeweils bei 400 Personen.
Der Ostsee-Raum hat große Zukunftschancen, die wir
nicht verspielen dürfen. Der Ostsee-Raum ist zu einer
Boomregion geworden. In Finnland, Polen, Russland,
den baltischen Staaten ist das Wirtschaftswachstum grö-
ßer als 6 Prozent. Die Seeverkehrsprognose der Bundes-
regierung sagt für die deutschen Ostsee-Häfen wegen
der Entwicklung im Ostsee-Raum, insbesondere wegen
der Entwicklung in den baltischen Ländern und in Russ-
land, Wachstumsraten von 5, 6, 7 Prozent voraus. Natür-
lich gibt es an dieser Stelle Konkurrenzsituationen, de-
nen wir uns zu stellen haben.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Meeressicherheit.
Schrottreife Schiffe gehören auf den Müll und nicht auf
die Weltmeere. Einhüllentanker gehören runter von den
Weltmeeren und rein ins Museum. Wir setzen uns mit
Nachdruck für die Identifizierung fester Seerouten und
die Einführung einer Lotsenpflicht für Öltanker und an-
dere Schiffe mit gefährlicher Ladung in der Ostsee ein
sowie für eine allgemeine Lotsenpflicht in engen
Schiffspassagen wie Kadettrinne oder Öresund.
Ein weiteres Problem ist die illegale Fischerei. Die
Große Koalition und die Bundesregierung setzen sich
mit Nachdruck für wirksame Maßnahmen zum Stopp
von Überfischung und illegaler Fischerei ein; Stichwort
Dorschfangquote. Die 16. Ostseeparlamentarierkonfe-
renz Ende August dieses Jahres in Berlin war in dieser
Hinsicht ein voller Erfolg. Die verabschiedeten Be-
schlüsse hinsichtlich Schiffsicherheit und illegaler Fi-
scherei werden geprägt durch die Initiative des Deut-
schen Bundestages; Antrag auf Drucksache 16/5910.
Für die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD
bleibt es vorrangiges Ziel, die erfolgreiche Entwicklung
der maritimen Wirtschaft weiter abzusichern. For-
schung/Entwicklung, Innovation, Bildung und Ausbil-
dung einschließlich der Nachwuchsgewinnung sind
Kernfelder für die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit
dieser für unser Land so bedeutenden Branche. Vorran-
gige Aufgabe ist und bleibt die Stärkung und Weiter-
entwicklung der Vernetzungspotenziale innerhalb der
maritimen Wertschöpfungsketten am Schiffbau-, See-
schifffahrts- und Hafenstandort Deutschland.
Wir haben es geschafft, die maritime Politik in den
Fokus der Öffentlichkeit zu stellen. Bereichert wurden
die Debatten durch Initiativen aller im Deutschen Bun-
destag vertreten Fraktionen, wofür ich mich ausdrück-
lich bedanken möchte.
Andrea Wicklein (SPD): Der Ostsee-Raum lebt von
uralten Verflechtungen im Norden Europas. Er verbindet
die Anrainerstaaten zu einem gemeinsamen Wirtschafts-
und Kulturraum. Die Seefahrt ist das Bindeglied. Sie
knüpft Kontakte zwischen Petersburg und Kiel, Kopen-
hagen und Helsinki oder Stockholm und Riga. Zur Zeit
des Kalten Krieges war auch die Ostsee geteilt, die
Bande zerschnitten. Es ist daher nicht verwunderlich,
dass nun im Zeichen der Einheit Europas neue Chancen
im Ostsee-Raum gesehen und neue Potenziale entdeckt
werden.
Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg können
alte Verbindungen nach Skandinavien wieder auferste-
hen lassen. Schleswig-Holstein braucht sich nicht mehr
allein nach Großbritannien oder Skandinavien zu orien-
tieren, sondern kann das Baltikum wieder für sich entde-
cken. Arbeitsteilung im Ostsee-Raum ist wieder mög-
lich, traditionelle Produkte können eine Wiedergeburt
erleben.
Natürlich rücken damit auch die gemeinsamen Pro-
bleme in den Fokus, so zum Beispiel die Überfischung
der See oder die Verunreinigung des Meeres – Probleme,
die man gemeinsam lösen muss, die man aber auch ge-
meinsam lösen kann.
Die Große Koalition hat sich bereits mehrfach mit
dem Ostsee-Raum beschäftigt. Wir haben mit mehreren
Anträgen deutlich gemacht, dass wir in den Bereichen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14075
(A) (C)
(B) (D)
Wirtschaft, Verkehr, Schiffssicherheit, Fischerei, Touris-
mus, Kultur und Umwelt mit den Anrainern der Ostsee
zusammenarbeiten wollen. Dabei ist Kooperation der
Schlüssel, so wie sie sich im Ostsee-Rat manifestiert.
Die Forderungspunkte der FDP widersprechen teil-
weise bereits gefassten Beschlüssen – so zur Unterneh-
menssteuerreform oder zum Bundesverkehrswegeplan.
Außerdem sind im FDP-Antrag die Arbeits- und Be-
schäftigungsbedingungen im Seeverkehr unerwähnt ge-
blieben. Gerade sie sind uns als SPD-Fraktion aber be-
sonders wichtig. Neue Beschäftigungschancen und ein
Wachstum der maritimen Wirtschaft entstehen im Ost-
see-Raum vor allem, wenn die Ziele der Lissabon-Stra-
tegie mit sozialer Gerechtigkeit, Umweltschutz, fairen
Wettbewerbsbedingungen und dem Schutz des geistigen
Eigentums verbunden werden.
Erhebliche Chancen liegen für den Ostseeraum zwei-
felsfrei im Tourismus. Die Zusammenarbeit muss in die-
sem Bereich überregional und grenzüberschreitend er-
folgen. So sind gemeinsame Vermarktungskampagnen,
wassertouristische Leitsysteme oder Jugendaustausch
möglich. Leider kommt im FDP-Antrag die internatio-
nale Zusammenarbeit überhaupt nicht zur Sprache. Da-
bei ist doch gerade sie der Schlüssel für einen Erfolg im
Ostsee-Raum. Wer die Ostsee als gemeinsame Region
im europäischen Maßstab verstehen will, der muss die
Zusammenarbeit unterstützen – auch im Bereich des
Tourismus.
Die Zusammenarbeit wird auch durch die Euro-
päische Union gefördert. An dieser Stelle möchte ich auf
die INTERREG-Förderung hinweisen, die grenzüber-
schreitende Projekte möglich macht. Die Menschen in
der Region können ihre Erfahrungen austauschen, gelun-
gene Maßnahmen auch in anderen Teilen der Ostsee-Re-
gion umsetzen und so voneinander lernen. Der euro-
päische Gedanke wird damit auch im Ostseeraum
lebendig, sogar über die Grenzen der Europäischen
Union hinweg. Um dies zu fördern, unterstützen wir den
Vorschlag des Europäischen Parlaments, eine „grenzen-
lose Ostsee“ zu schaffen. So soll ein reibungsloses Über-
schreiten der Grenzen in der Region möglich werden.
Um den Umweltschutz zu fördern, haben wir das Ziel
ausgegeben, bis 2015 die Ostsee zum sichersten und sau-
bersten Meer Europas zu machen. Dazu haben wir ein
Netz ökologisch repräsentativer und wertvoller Mee-
resschutzgebiete vorgeschlagen. Außerdem ist ein
Engagement der Regierungen und der EU nötig, um
Schadstoff- und Nährstoffeinträge aus der Landwirt-
schaft, der Schifffahrt und der Industrie zu vermeiden.
Die EU-Osterweiterung hat die Basis für eine Intensi-
vierung der Zusammenarbeit im Ostsee-Raum gelegt.
Sie bietet die einmalige Chance, dass sich die Anrainer-
staaten auf einen sensiblen und ökologisch verträglichen
Entwicklungspfad für die Ostsee-Region begeben. Die
Bundesregierung wird – auch durch die Beschlüsse, die
der Bundestag dazu bereits getroffen hat – ihren Beitrag
dafür leisten.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Mitglie-
der der Ostsee-Parlamentarierkonferenz hatten sich An-
fang des Jahres darauf geeinigt, dass wir im Deutschen
Bundestag in Vorbereitung der Ostsee-Parlamentarier-
konferenz, die im August in Berlin stattgefunden hat,
eine Debatte über die Ostsee führen wollen. Dazu hat die
FDP-Bundestagsfraktion den Antrag „Zukunftschancen
des Ostsee-Raums“ erarbeitet.
Die Ostsee-Parlamentarierkonferenz war eine ein-
drucksvolle Demonstration, dass die Menschen im Ost-
see-Raum sich seit dem Zusammenbruch des Ostblocks
zunehmend als zusammengehörig empfinden. Seit dem
Beitritt der drei baltischen Länder und Polen im Jahr
2004 in die EU ist die Ostsee nahezu ein EU-Meer, ein-
ziger weiterer Anrainer ist Russland mit dem Kaliningra-
der Gebiet und St. Petersburg. Wir sind uns alle einig in
unserer Vision einer reinen, einer gesunden Ostsee. Das
ist eine sehr, sehr schöne Vision, aber wir wissen, dass
der Weg dorthin sehr lang sein wird. Die Schadstoffein-
träge in die Ostsee der letzten Jahrzehnte können wir
nicht in wenigen Jahren ungeschehen machen. In den
letzten 50 Jahren hat sich das Klarwassermeer Ostsee in
ein etwas trübes Wasser entwickelt. Seit 20 Jahren sind
deutliche Minderungen der Schadstoffeinträge zu ver-
zeichnen. Wir freuen uns über Erfolge im Umwelt-
schutz. Trotz aller Probleme durch die Eutrophierung der
Ostsee ist der Ostsee-Raum ein einzigartiger Natur- und
Kulturraum, der in jedem Jahr von vielen Urlaubern be-
sucht wird.
In dem Beschluss, den wir auf der Ostsee-Parlamenta-
rierkonferenz verabschiedet haben, sind wichtige Maß-
nahmen zur Verbesserung der Kläranlagen, zur Vermei-
dung von Schadstoffemissionen aus dem Schiffsverkehr,
zur Minderung von Nährstoffemissionen aus der Land-
wirtschaft benannt worden. Diese Forderungen sind gut
und richtig. In unserer Resolution fordern wir gemein-
same Anstrengungen, um die Ostsee-Region vor allem
in Bezug auf Energiefragen, eine integrierte Meerespoli-
tik sowie Fragen des Arbeitsmarktes und der sozialen
Wohlfahrt zu einer europäischen Modellregion zu entwi-
ckeln.
Mitte November kamen die Umweltminister der Ost-
see-Anrainerstaaten in Krakau zu einer Sondersitzung
der Helsinki-Kommission zum Schutz der Ostsee
(HELCOM) zusammen. Dort wurde ein Ostsee-Aktions-
plan verabschiedet. Zentrale Punkte des Plans sind die
Minderung der Eutrophierung, die Schadstoffeinträge,
die maritimen Aktivitäten und die Biodiversität der Ost-
see. Es ist gut und richtig, dass sich die Ostsee-Anrainer
auf gemeinsame Linien einigen und sich dann nach die-
sen richten. Es ist unbedingt notwendig, dass Russland,
das sich bisher als Bremser erwiesen hat, in Zukunft mit-
zieht. Es ist ebenso notwendig, dass sich die Länder an
die Absprachen halten. Ein unrühmliches Beispiel haben
die polnischen Fischer abgegeben, die sich – gebilligt
von Warschau – nicht an den Fangstopp für Ostsee-
Dorsch gehalten haben.
Die kürzliche Neufestsetzung der Dorschfangquoten
für 2008 durch die EU stoßen nicht nur bei mir, sondern
vor allem bei den deutschen Fischern auf großes Unver-
ständnis. Die Fangquote soll für die westliche Ostsee um
29 Prozent sinken, für die östliche Ostsee nur um 5 Pro-
14076 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
zent. Dies entspricht einer Gesamtreduzierung von
19 Prozent. Durch die ungleichmäßige Verteilung der
Ost-/Westquoten bei den einzelnen Mitgliedstaaten be-
deutet diese Reduzierung zum Beispiel für Polen nur ein
Minus von 10 Prozent. Vor dem Hintergrund der Tatsa-
che, dass Polen den von der EU verhängten Fangstopp
nicht eingehalten hat, wirkt diese Entscheidung in den
Augen der deutschen Fischer wie der blanke Hohn. Ille-
gale Fischerei darf sich nicht lohnen.
Die FDP will mit ihrem Antrag Anstöße geben zur
wirtschaftlichen und kulturellen Weiterentwicklung im
Ostsee-Raum, zur Stärkung des Natur- und Umwelt-
schutzes, zur Verbesserung der Schiffssicherheit, zum
Ausbau der Meeresforschung. Der Ostsee-Raum hat alle
Chancen, an gute Zeiten in der gemeinsamen Geschichte
anzuknüpfen und die Altlasten der Kriege sowie der
durch die Blockbildung geprägten Nachkriegszeit abzu-
tragen. Im Ostsee-Raum bestehende Gegensätze wie die
unterschiedlichen Vorstellungen über den Bau der Ost-
see-Pipeline können ausgeräumt werden, wenn wir alle
Planungsschritte transparent machen und den Schutz der
Umwelt gewährleisten. Es ist nicht zu übersehen, dass
die Entstehungsgeschichte des Projektes Ostsee-Pipeline
Ursache für zahlreiche Widerstände ist. Wir müssen da-
ran arbeiten, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Dieses
ist eine wichtige politische Aufgabe.
Lutz Heilmann (DIE LINKE): Da der Antrag der
FDP anscheinend nicht einmal im federführenden Aus-
schuss diskutiert wurde, möchte ich ihm auch jetzt nicht
die Ehre erweisen, mich mit dieser unausgegorenen Zu-
sammenstellung beliebiger und in sich widersprüchli-
cher Forderungen auseinanderzusetzen. Ich beschränke
mich daher auf zwei Themen, die mir als Schleswig-
Holsteiner am Herzen liegen. Das eine ist die unendliche
Geschichte der Fehmarnbelt-Querung, das andere ist die
Verseuchung der Ostsee mit Altmunition aus dem Zwei-
ten Weltkrieg. Die rostenden Altlasten sind nicht nur
eine Gefährdung für Badende, Sporttaucher und Fischer,
sondern auch für die Lebewesen der Ostsee. Zunehmend
passiert es, dass Tiere, insbesondere Wale, durch unkon-
trollierte Detonationen getötet werden. Haben sie weni-
ger „Glück“, werden sie durch die artfremde Geräusch-
kulisse der Detonationen – die sich im Wasser stärker,
schneller und weiter ausbreiten als in der Luft – in ihrer
Ortung fehlgeleitet. So kommt es immer wieder vor,
dass Wale nicht nur in der Flensburger oder Kieler Bucht
gesehen werden. Sicher ein imposantes Schauspiel für
die Anwohner, aber oft ein qualvoller Tod für die Tiere.
Es ist an der Zeit, zu handeln!
Einerseits ist die Gefahrenabwehr Ländersache, so-
weit diese Aufgabe nicht dem Bund zugewiesen ist.
Nach dem Seeaufgabengesetz hat der Bund in Küstenge-
wässern die Aufgabe, Gefahren für die Sicherheit und
Leichtigkeit des Schiffsverkehrs abzuwehren. Anderer-
seits ist die Abwehr von Gefahren für Badende, Sport-
taucher und Fischer, die sich außerhalb der Seewasser-
trassen bewegen, Ländersache, obwohl es sich um die
gleiche Gefahr, die Kampfmittel aus dem Zweiten Welt-
krieg bergen, handelt.
Dieser Wirrwarr an Zuständigkeiten, zum Beispiel
nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, aus der allgemei-
nen Gefahrenabwehr, nach dem Grundgesetz, dem See-
aufgabengesetz oder nach dem Allgemeinen Kriegsfol-
gengesetz, muss beendet werden.
Die Fraktion Die Linke fordert eine einheitliche Zu-
ständigkeit für die Beseitigung der Altmunition. Da es
sich hierbei um ehemals reichseigene Munition aus dem
Zweiten Weltkrieg handelt, hat letztlich der Bund – auch
als Eigentümer des Gewässers vor der Küste – dafür
Sorge zu tragen, dass diese Munition beseitigt wird.
Wir können gerade im Dezember singen: Alle Jahre
wieder … kommt nicht nur das Christkind, sondern auch
die Diskussion über die Fehmarnbelt-Querung auf. So
haben wir nicht nur vor einem Jahr über einen Antrag
meiner Fraktion gesprochen; mittlerweile wird schon
45 Jahre über eine feste Querung des Fehmarnbelts de-
battiert.
Wann ist endlich Schluss damit? Die erhofften positi-
ven Effekte sind mehr als fragwürdig. Das sagt auch das
Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel. Die
negativen Folgen liegen auf der Hand: erstens, der Ver-
lust von mehreren Tausend Arbeitsplätzen, nicht nur auf
Fehmarn, sondern auch in Mecklenburg-Vorpommern;
zweitens, die Gefahr der Beeinträchtigung der Meeres-
ökologie und der Zugvögel; drittens, die Verkehrssicher-
heit: Seit 1963 gab es auf der Fährverbindung in Folge
eines Unglücks nur eine Tote. Die Gefahr tödlicher Un-
fälle wäre auf der Brücke wesentlich größer als auf einer
normalen Autobahn. Viertens besteht keine Notwendig-
keit für eine Brücke: Seit kurzem fährt sogar der ICE mit
der Fähre. Über 4 Milliarden Euro für fünfzehn Minuten
weniger Fahrzeit auszugeben, wäre Geldverschwen-
dung. Dagegen sind Sie von der FDP doch immer! Ganz
abgesehen davon wird es bei dieser Summe kaum blei-
ben, wie andere Großprojekte immer wieder zeigen. Am
Rande: 4 Milliarden Euro sind so viel, wie die Bahn vom
Bund pro Jahr für das gesamte Schienennetz zur Verfü-
gung hat. Diese Milliarden könnten, vernünftig einge-
setzt, vielen Menschen ein schnelleres Reisen auf der
Schiene ermöglichen.
Zudem steht die Finanzierung durch die EU noch
nicht auf stabilen Fundamenten. Deutschland und Däne-
mark gingen immer von einer Förderung von bis zu
1,5 Milliarden Euro aus. Jetzt hat die EU 350 Millionen
in Aussicht gestellt. Gibt es danach noch mehr Geld?
Die Aussagen aus dem Hause Tiefensee sind wider-
sprüchlich: Der Minister sagt Nein, sein Staatssekretär
weiß es nicht. Was denn nun, Herr Minister?
Gänzlich verwirrend waren am Anfang der Woche
Meldungen der Landesregierung Schleswig-Holsteins,
dass die Brücke schon 2014 fertig sein soll. Da frage ich
mich, ob Herr Carstensen nicht richtig lesen kann, ob
hier der Wunsch Vater des Gedanken war. Oder gibt es
da interne Überlegungen, die der Öffentlichkeit bislang
verschwiegen wurden?
Die FDP offenbart wieder einmal ihre Inkonsequenz:
Tagein, tagaus hören wir von Ihnen, dass die Staatsquote
und die Steuern sinken müssen. Doch wenn es um Infra-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14077
(A) (C)
(B) (D)
struktur geht, ist der FDP nichts zu teuer. Fehmarnbelt-
Querung, A 7, A 14 etc., alles soll aus Staatsgeldern ge-
baut werden. Es fragt sich nur: Von welchen Staatsgel-
dern? Auch deswegen lehnen wir diesen Antrag ab.
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN):
Wir begrüßen den weitgehend integrierten Ansatz der
FDP-Fraktion, die Bereiche Wirtschaft, Fischerei, Öko-
logie, Meeresnaturschutz, Seeverkehrssicherheit, Mee-
resforschung, Kultur und Tourismus vernetzt zu denken.
Wir begrüßen den Kampf gegen illegalen Dorschfang,
den Schutz der Schweinswale, die Begrenzung der
Schiffsemissionen, eine Verschärfung der Lotsenpflicht
in der Kadetrinne, die Förderung maritimer Beschäfti-
gungsmöglichkeiten und die verpflichtende Umsetzung
des Baltic Sea Act Plan der HELCOM (Helsinki-Komis-
sion), um die Luft und Meeresverschmutzung einzudäm-
men.
Wir gehen auch konform damit, das Problem der ver-
senkten Munitionsaltlasten aus dem Zweiten Weltkrieg
anzugehen, denn die touristische Attraktivität einer Re-
gion steht in direktem Zusammenhang mit ihrem Um-
weltzustand.
Der Ostsee-Raum wird von Ihnen – liebe Kollegen
und Kolleginnen der FDP – überwiegend als wirtschaft-
liche Ressource und nicht als Lebensraum für Mensch
und Tier betrachtet. Tourismus als ein reiner Wachs-
tumsfaktor. Dabei sind eine intakte Meeresumwelt und
intakte Küstenlandschaften die Voraussetzung für den
Tourismusstandort Ostsee-Küste.
Als tourismuspolitische Sprecherin meiner Fraktion
kann ich nur bestätigen, dass die Inseln und Küsten-
regionen des Ostsee-Raums ein wichtiger Wirtschafts-
und Wachstumsfaktor für die Region sind. Aber gerade
die touristische Nutzung des Ostsee-Raumes unterliegt
auch natürlichen Grenzen! Es gilt, das Natur- und Kul-
turgut dieser Region zu erhalten und zu schützen.
Der Tourismus lebt von einer gesunden Lebenswelt
für Bewohner und Gäste. Es ist deshalb unerlässlich,
dass die touristische Landschaftserschließung auch um-
weltverträglichen Standards folgt. Die individuellen Be-
lastbarkeiten einer Destination müssen zwingend be-
rücksichtigt werden, und die touristischen Konzepte gilt
es auf die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort abzustim-
men.
Die zu erwartenden Klimaveränderungen werden
auch vor dem Ostsee-Raum nicht haltmachen. Wir müs-
sen mit Extremsituationen, wie massiven Algenblüten,
Hitzewellen, Wirbelstürmen oder gar mit dem Verlust
ganzer Küstengebiete infolge ansteigender Flutwasser-
stände, rechnen.
Darauf müssen sowohl die Tourismuswirtschaft als
auch die öffentliche Tourismusförderung reagieren. Ge-
rade angesichts des Klimawandels ist es unverzichtbar,
Fördergelder für die touristische Entwicklung von Desti-
nationen an Nachhaltigkeitskriterien zu knüpfen und ein
einheitliches touristisches Konzept für eine nachhaltige
Entwicklung des Küstentourismus zu erstellen. – Wir ha-
ben das in unseren eigenen Anträgen zum Ostsee-Raum
ja bereits gefordert.
Auch der Aus- bzw. Aufbau einer Infrastruktur, die
ein umweltverträgliches Reisen ermöglicht, ist zu för-
dern. Das heißt aber nicht – liebe Kolleginnen und Kol-
legen der FDP –, dass wir uns dem von Ihnen in Ihrem
Antrag geforderten massiven Aus- und Neubau der di-
versen Autobahnen anschließen.
Die FDP setzt in dem uns hier vorliegenden Antrag
weitgehend auf Selbstverpflichtungen statt auf ord-
nungspolitische Instrumente wie Steuern und Abgaben.
Hier wären zum Beispiel reduzierte Hafengebühren für
umweltfreundliche Schiffe mit geringen Emissionen
oder an die Ökobilanz der Landwirte gekoppelte Agrar-
subventionen vorstellbar.
Uns gehen die Forderungen der FDP nicht weit ge-
nug. Im Prinzip ein guter Ansatz, aber der notwendige
Tiefgang fehlt. Wir lehnen den Antrag daher ab.
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Wahl- und Abgeordnetenrechts
– Entwurf eines Achtzehnten Gesetzes zur
Änderung des Bundeswahlgesetzes
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Wahlprüfungsgesetzes
– Antrag: Wahlmanipulationen wirksam ver-
hindern
(Tagesordnungspunkt 27 a bis d)
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Aufgrund
der Erfahrungen, die wir seit den letzten Änderungen des
Bundeswahlrechts gemacht haben, war es notwendig,
die Regelungen des Wahlrechts auf den Prüfstand zu
stellen. Dabei haben wir vor allem die Erfahrungen bei
den Bundestagswahlen 2002 sowie 2005 und der Euro-
pawahl 2004 bewertet und sind in der Koalition zur
Überzeugung gekommen, dass einige Anpassungen im
Bundeswahlrecht und im Europawahlrecht notwendig
sind. Wir haben hier intensiv beraten und waren als Koa-
lition in enger Abstimmung mit der Bundesregierung,
weil hier selbstverständlich auch einige ausgesprochen
technische Fragen zu klären waren.
Wir haben bei unseren Beratungen auch über die Posi-
tionen und Vorstellungen anderer Stellen diskutiert, bei-
spielsweise des Wahlprüfungsausschusses des Deutschen
Bundestages, des Bundeswahlausschusses, des Bundes-
rates und des Bundeswahlleiters. Der Wahlprüfungsaus-
schuss des Deutschen Bundestages in der 15. und
16. Wahlperiode beispielsweise hat mehrere Prüfbitten
ausgesprochen. Auch der Bundesrat hat eine Änderung
vorgeschlagen für den Fall des Todes eines Wahlkreisbe-
14078 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
werbers nach der Zulassung des Kreiswahlvorschlags,
aber noch vor der Wahl. Hierzu komme ich später.
Letztlich sind wir übereingekommen, in mehreren
Punkten Änderungen vorzunehmen, die ich hier kurz
darstellen möchte.
Wir möchten, dass bei der Verteilung der Bundestags-
sitze auf die verbundenen Landeslisten der Parteien ent-
sprechend dem Zweitstimmenergebnis künftig die
Berechnungsmethode nach St. Laguë/Schepers zur An-
wendung kommt. Diese Berechnungsmethode ist gegen-
über der derzeitigen Methode Hare/Niemeyer, also der
Quotenmethode mit Ausgleich nach größten Resten,
vorzugswürdig. Das Verfahren Hare/Niemeyer ermög-
licht zwar eine sehr exakte Zuteilung der Sitze entspre-
chend dem Zweitstimmenanteil einer Partei. Dieses Ver-
fahren kann aber in bestimmten, wenn auch seltenen
Konstellationen zu paradoxen Ergebnissen führen, die
sich im ungünstigsten Fall auf die Mandatsvergabe und
sogar auf die Mehrheitsverhältnisse auswirken können.
Im Extremfall kann eine Zunahme von Zweitstimmen ei-
ner Partei in bestimmten Konstellationen zu einer Ab-
nahme der Anzahl der Sitze führen. Auch die umge-
kehrte Wirkung ist zumindest denkbar.
Aus diesem Grunde hat der Wahlprüfungsausschuss
in einer Prüfbitte vom September 2004 eine solche Än-
derung angeregt. Der Innenausschuss und der Wahlprü-
fungsausschuss haben nach gemeinsamer Beratung da-
raufhin noch im Jahre 2004 den Wechsel zum Verfahren
St. Laguë/Schepers empfohlen. Auch wenn sich die ge-
nannte problematische mathematische Besonderheit der
Methode Hare/Niemeyer in der Vergangenheit bislang
noch nicht ausgewirkt hat, halte ich es für richtig, dass
wir dieses Risiko ausschließen. Dies ist vor allem vor
dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Grundsat-
zes der Gleichheit der Wahl die bessere Lösung.
Eine Klarstellung nehmen wir beim anzuwendenden
Berechnungsverfahren für die Verteilung der Wahlkreise
auf die Länder vor. Der bisherige § 3 Abs.1 Bundes-
wahlgesetz enthielt keine Vorgabe für ein bestimmtes
Verfahren. Bislang wurde hierfür in der Praxis in Anleh-
nung an die Verteilung der Sitze auf die Landeslisten die
Quotenmethode Hare/Niemeyer verwendet. Das Verfah-
ren St. Laguë/Schepers hat auch hier Vorteile, insbeson-
dere wird das Hin- und Herpendeln von Wahlkreisen
zwischen Bundesländern bei diesem Verfahren tenden-
ziell reduziert. Die Wahlkreiskontinuität wird somit bes-
ser gewährleistet.
Eine wichtige Vereinheitlichung nehmen wir beim ak-
tiven Wahlrecht zum Deutschen Bundestag für die im
Ausland lebenden Deutschen vor. Ursprünglich setzte
das aktive Wahlrecht voraus, dass der betreffende deut-
sche Staatsbürger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der
Bundesrepublik hat. Für Beschäftigte des öffentlichen
Dienstes, die im Ausland leben, sowie die Angehörigen
ihres Hausstands, gab es seit 1953 eine Sonderregelung,
die ihnen in jedem Fall das aktive Wahlrecht für die
Wahl zum Deutschen Bundestag einräumte. Im Jahre
1985 wurde dies auf andere Auslandsdeutsche ausgewei-
tet. Hier wurde aber differenziert zwischen solchen
Deutschen, die innerhalb, und solchen, die außerhalb der
Mitgliedstaaten des Europarates wohnen. Bei Ersteren
durften nicht mehr als 25 Jahre seit dem Fortzug aus
Deutschland verstrichen sein, bei Letzteren nicht mehr
als zehn Jahre. Dem lag die Überlegung zugrunde, dass
die Mitgliedstaaten des Europarats stärkere politische
und sonstige Ähnlichkeiten zu Deutschland aufweisen,
sodass anzunehmen sei, dass die dort lebenden Deut-
schen mit den Verhältnissen in Deutschland besser ver-
traut seien als diejenigen, die außerhalb der Mitglied-
staaten des Europarats leben. Diese Unterscheidung ist
vor dem Hintergrund der rasant verbesserten Informa-
tions- und Kommunikationsmöglichkeiten in den letzten
Jahren nicht mehr zeitgemäß. Künftig wird es ein zeit-
lich unbefristetes aktives Wahlrecht für alle im Ausland
lebenden Deutschen geben.
Der Gesetzentwurf beendet des Weiteren einen über-
flüssigen Bürokratismus bei der Beantragung eines
Wahlscheins. Bislang muss der Wahlberechtigte einen be-
stimmten Grund für die Wahlscheinbeantragung glaubhaft
machen, etwa dass er am Wahltag während der Wahlzeit
sich aus wichtigem Grunde außerhalb seines Wahlbe-
zirks aufhält. Hier besteht in der Praxis keinerlei Über-
prüfungsmöglichkeit, sodass wir auf diese unnötige
Glaubhaftmachung verzichten wollen. Dies ist auch eine
Frage der Akzeptanz bei den Wählern. Außerdem ist es
in der heutigen Zeit, in der die Menschen wesentlich mo-
biler sind als noch vor Jahren, auch in der Sache nicht
mehr zeitgemäß, die Briefwahl nach der Konzeption des
Gesetzes vom Vorliegen bestimmter eng definierter Hin-
derungsgründe abhängig zu machen.
Eine Verfahrensvereinfachung führen wir im Zusam-
menhang mit dem Erwerb des Mandates im Deutschen
Bundestag ein, zumindest für die durch die Hauptwahl
gewählten Bewerber. Hier wird künftig keine förmliche
Mandatsannahmeerklärung mehr erforderlich sein. Auf
diese förmliche Erklärung kann verzichtet werden, weil
die Tatsache, dass sich ein Bewerber zur Wahl stellt und
nominiert wird, die Vermutung nahe legt, dass er bereit
ist, das Mandat anzunehmen, wenn er gewählt wird. Nur
für den Fall, dass er entgegen dieser Vermutung das
Mandat nicht annehmen will, soll er dies ausdrücklich
erklären müssen.
Wir stellen ferner im Gesetz explizit klar, dass eine
Nachwahl auch am Tag der Hauptwahl möglich ist.
Stirbt ein Wahlkreisbewerber im Zeitraum zwischen der
Zulassung des Kreiswahlvorschlags und der Wahl selbst,
so findet eine Nachwahl statt, und zwar spätestens inner-
halb von sechs Wochen nach der Hauptwahl. In der Pra-
xis wurde eine Nachwahl auch am selben Tag der Haupt-
wahl für möglich angesehen, so zum Beispiel bei der
Bundestagswahl 2002 in den Wahlkreisen Zollernalb-
Sigmaringen und Passau. Diese Praxis ist sinnvoll, schon
weil sie „taktisches“ Wahlverhalten und die Verzögerung
der Feststellung des Wahlergebnisses vermeidet. Aus
diesem Grunde wollen wir diese Praxis auch durch eine
entsprechende gesetzliche Klarstellung sichern.
Das Europawahlgesetz wird an die Änderungen, die
wir beim Bundeswahlgesetz vornehmen, unter Berück-
sichtigung der von der Sache her gebotenen Unter-
schiede im Wesentlichen angepasst.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14079
(A) (C)
(B) (D)
Ich möchte aber auch etwas zu einigen Punkten sa-
gen, bei denen wir über möglichen Änderungsbedarf be-
raten haben, uns aber im Ergebnis gegen Gesetzesände-
rungen entschieden haben.
Wir als CDU/CSU haben in der letzten Wahlperiode
eine Änderung beim Umgang mit bestimmten Zweit-
stimmen vorgeschlagen. Es handelt sich um Zweitstim-
men von Wählern, die mit ihrer Erststimme einen erfolg-
reichen Wahlkreisbewerber gewählt haben, dessen Partei
aber nicht den Sprung in den Bundestag geschafft hat,
die aber gleichzeitig mit ihrer Zweitstimme eine andere
Liste gewählt haben, der der Einzug in den Bundestag
gelungen ist. Wir meinen, dass der Zweitstimme in die-
sem – sicherlich in der Praxis seltenen – Fall ein doppel-
tes Stimmgewicht zukommt und hätten uns hier deshalb
eine Änderung vorstellen können.
Diskutiert haben wir auch über die Fälle, in denen ein
Wahlkreisbewerber im Zeitraum zwischen der Zulas-
sung des Kreiswahlvorschlags und der Wahl verstorben
ist. Das geltende Recht sieht hier Nachwahl im betroffe-
nen Wahlkreis vor; das habe ich schon ausgeführt. Bei
der letzten Bundestagswahl musste im Wahlkreis Dres-
den 1 aus diesem Grund eine Nachwahl nach dem Tag
der Hauptwahl durchgeführt werden. Dies war Anlass
für mehrere Wahleinsprüche und eine Gesetzesinitiative
des Bundesrates. Mit dieser Gesetzesinitiative sollte es
ermöglicht werden, dass die Parteien und anderen Listen
für solche Fälle Ersatzbewerber aufstellen können. Wir
haben uns hier gegen eine Änderung entschieden. Diese
Fälle sind zum einen sehr selten. Bislang gab es bei Bun-
destagswahlen erst sechs Nachwahlen infolge des Todes
eines Bewerbers, wobei in zwei Fällen die Nachwahl am
selben Tag wie die Hauptwahl möglich war. Für noch
wichtiger halte ich aber, dass die geltende Regelung si-
cherstellt, dass durch die Nachwahl im Wahlkreis eine
echte Persönlichkeitswahl stattfindet. Die Wähler wäh-
len einen Abgeordneten, der ihren Wahlkreis vertritt.
Das ist der Sinn der Erststimme, und dieses Prinzip wol-
len wir auch in diesen Fällen beibehalten.
Diskutiert haben wir auch über die Frage, ob das
Nachrücken von Listenplätzen ermöglicht werden soll,
wenn ein Wahlkreisabgeordneter aus einem Land aus-
scheidet, in dem seine Partei Überhangmandate errungen
hat. Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts im Februar 1998 fand auch in diesen Fällen ein
Nachrücken statt. Es war zumindest zu prüfen, ob durch
eine gesetzliche Änderung das Nachrücken in Überhang-
mandate wieder ermöglicht werden sollte. Wir haben uns
schließlich dagegen entschieden. Dies halte ich im Er-
gebnis auch für die bessere Lösung, weil Überhangman-
date im geltenden Wahlrecht eine Ausnahme sind, bei
der die Erststimme auch auf die Sitzverteilung im Bun-
destag Einfluss hat. Um die Auswirkungen dieser Aus-
nahme möglichst gering zu halten, soll es dabei bleiben,
dass in diesen Fällen kein wie auch immer gearteter Er-
satz erfolgt.
Noch ein Wort zur Wahlkreiseinteilung. Wir haben
die beiden Berichte der Wahlkreiskommission sehr sorg-
fältig analysiert. Ich bin der Auffassung, dass dem Ge-
sichtspunkt der Wahlkreiskontinuität eine große Bedeu-
tung beikommt. Hier geht es um die Verwurzelung der
Wahlkreisabgeordneten vor Ort in ihren Wahlkreisen
und um gewachsene Strukturen. Wir schlagen aus die-
sem Grunde letztlich nur dort Änderungen beim Wahl-
kreiszuschnitt vor, wo dies angesichts der aktuellen und
zu erwartenden Bevölkerungsentwicklung zwingend
notwendig ist, um den gesetzlichen Wahlrechtsgrundsät-
zen, insbesondere dem Grundsatz der Gleichheit der
Wahl, gerecht zu werden. Dementsprechend war eine
Reduzierung der Wahlkreise um jeweils einen Wahlkreis
in Sachsen und Sachsen-Anhalt und die Aufstockung um
jeweils einen Wahlkreis in Baden-Württemberg und Nie-
dersachsen unumgänglich. Insofern war hier den Vor-
schlägen der Wahlkreiskommission zu folgen.
Nur kurz möchte ich auf den heute ebenfalls zur Ent-
scheidung anstehenden Antrag der Linken eingehen. Wir
haben es hier mit einem klassischen Schaufensterantrag
zu tun. Es gibt keinerlei Überlegungen in der Koalition,
bei Bundestags- oder Europawahlen eine Stimmabgabe
per Internet zu ermöglichen. Es handelt sich hierbei so-
mit um eine völlig überflüssige Debatte. Was den Ein-
satz von Wahlgeräten betrifft, so sind nach meiner
Kenntnis bislang in keinem Falle auch nur irgendwelche
Anhaltspunkte für Manipulationen oder Manipulations-
versuche bei Wahlen mit Wahlgeräten in Deutschland
bekannt geworden. Es handelt sich somit um eine
Scheindebatte ohne irgendeinen substanziierten Anlass.
Der Antrag ist deshalb völlig neben der Sache, populis-
tisch und daher abzulehnen.
Zuletzt noch eine Anmerkung zur Änderung des
Wahlprüfungsgesetzes. Wir wollen eine Klarstellung im
Gesetzestext entsprechend der langjährigen Praxis des
Wahlprüfungsausschusses vornehmen. Nach dem bishe-
rigen Wortlaut hat der Wahlprüfungsausschuss des Deut-
schen Bundestages bei Wahleinsprüchen in der Regel
eine mündliche Verhandlung durchzuführen. In der Pra-
xis hat sich aber gezeigt, dass in aller Regel eine mündli-
che Verhandlung entbehrlich ist, weil von ihr keinerlei
Mehrwert zu erwarten ist. Seit November 1973 ist keine
mündliche Verhandlung mehr durchgeführt worden. Mit
der künftigen Regelung lehnen wir uns an die Vorausset-
zungen für mündliche Verhandlungen vor dem Bundes-
verfassungsgericht bei Wahlprüfungsbeschwerden an.
Die mündliche Verhandlung wird somit künftig nur statt-
finden, wenn von ihr eine Förderung des Verfahrens zu
erwarten ist.
Klaus Uwe Benneter (SPD): Wir haben ein bewähr-
tes Wahlrecht. Trotzdem ist es veränderungswürdig. Da-
für gibt es verschiedene Gründe. Zum einen passieren
bei jeder Bundestagswahl Fehler; Stichwort Briefwahl
Dortmund. Tausende von Briefwahlstimmen konnten
nicht gezählt werden. Der Gesetzgeber muss prüfen, ob
er zu einer Fehlervermeidung oder zumindest zu einer
Schadensminderung beitragen kann. Zum anderen än-
dern sich die Verhältnisse, unter denen Wahlen stattfin-
den. Beispielsweise hat der Wegfall des Postmonopols
Auswirkungen auf die Regelungen zur Beförderung von
Wahlbriefen. Auch das Wahlverhalten ändert sich. Ein
Beispiel ist die immer stärker in Anspruch genommene
Briefwahl; auch darauf sollte der Gesetzgeber reagieren.
14080 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
Schließlich führen die Erfahrungen der Vergangenheit,
aber auch die Erfahrungen aus den Ländern immer wie-
der zu einer Überprüfung der mathematischen Berech-
nungsmethoden, die Grundlage der Ermittlung des
Wahlergebnisses sind.
Aus allen diesen Gründen sieht der Gesetzentwurf
Änderungen des Wahlrechts vor, die ich nun im Einzel-
nen ansprechen möchte.
Zur Umstellung des Berechnungsverfahrens von der
Quotenmethode mit Ausgleich nach größten Resten
Hare/Niemeyer auf das Divisorverfahren mit Standard-
rundung St. Laguë/Schepers. Die neue Berechnungs-
methode soll sowohl für die Verteilung der Wahlkreise
auf die Länder nach § 3 BWahlG als auch für die Vertei-
lung der Sitze auf die Landeslisten der Parteien nach § 6
BWahlG Anwendung finden. Die Wahlkreiskommission
für die 16. Wahlperiode hat in ihrem Bericht unter Be-
zugnahme auf ein Gutachten des Statistischen Bundes-
amtes diese Umstellung der Berechnungsmethode emp-
fohlen. Warum? Ich will die Auswirkungen der neuen
Berechnungsmethode für die Verteilung der Wahlkreise
auf die Länder an einem Beispiel erläutern: In der
15. Wahlperiode ergab sich bei Anwendung des bisheri-
gen Hare/Niemeyer-Verfahrens ein Wahlkreisverlust für
Schleswig-Holstein. Dies war jedoch kaum nachvoll-
ziehbar, weil Schleswig-Holstein erst in der 14. Wahl-
periode einen neuen Wahlkreis hinzubekommen hatte
und seitdem einen leichten Bevölkerungsanstieg ver-
zeichnete. Dieses äußerst ungute Hin- und Herpendeln
von Wahlkreisen wäre durch die neue Berechnungs-
methode vermieden worden. Die neue Methode ist damit
kontinuitätswahrender.
Aber auch für die Berechnung der Verteilung der
Sitze auf die Landeslisten der Parteien ist die neue ma-
thematische Berechnungsmethode besser. Denn sie kann
paradoxe Ergebnisse vermeiden, wie sie bei der jetzigen
Berechnungsmethode entstehen können. Bisher ist es
zum Beispiel möglich, dass ein erhebliches Minus an
Zweitstimmen nicht etwa dazu führt, dass die betroffene
Partei einen Sitz weniger erhält. Vielmehr kann stattdes-
sen eine Sitzverschiebung zwischen zwei anderen
Parteien eintreten. Das neue Berechnungsverfahren
St. Laguë/Schepers führt jedoch in diesem Fall zu dem
erwarteten und besseren Ergebnis, dass die vom Zweit-
stimmenminus betroffene Partei einen Sitz zugunsten ei-
ner anderen Partei verliert, die bisher im Rundungsver-
fahren am schlechtesten wegkam. Der Bundestag selbst
verwendet die neue Methode St. Laguë/Schepers bereits
für die Berechnung der Zahl der auf die Fraktionen ent-
fallenden Sitze im Ältestenrat und in den Ausschüssen.
Auch im Landtagswahlrecht von Bremen, Baden-
Württemberg und Hamburg ist St. Laguë/Schepers be-
reits eingeführt.
Es handelt sich aber – um das klarzustellen – insge-
samt um eine Verfeinerung der Berechnungsmethode,
keineswegs um eine revolutionäre Neuerung, die nun bei
gleicher Stimmabgabe gänzlich andere Ergebnisse er-
warten lässt. Denn hinsichtlich der Verteilung der Sitze
nach Zweitstimmen auf die Parteien insgesamt hätten
wir bei den beiden letzten Bundestagswahlen sowohl
nach alter als auch nach neuer Berechnungsmethode die
gleichen Ergebnisse bekommen.
Deutlich einfacher als das bisherige Recht ist auch die
vorgesehene Regelung, wonach alle im Ausland leben-
den Deutschen künftig ein zeitlich unbefristetes Wahl-
recht besitzen. Bisher werden hier feine Unterscheide
gemacht zwischen Auslandsdeutschen, die in den Mit-
gliedstaaten des Europarates leben und unbefristet mit-
wählen können, und sonstigen Auslandsdeutschen, deren
Wahlrecht nur 25 Jahre lang nach Wegzug bestehen soll.
Diese im Zeitalter der Globalisierung schwer zu recht-
fertigende Differenzierung soll nun abgeschafft werden.
Eine weitere Änderung betrifft die Briefwahl, die ur-
sprünglich als enge Ausnahme konstruiert wurde.
Nichtsdestotrotz nimmt der Anteil der Briefwähler kon-
tinuierlich zu. Bei der letzten Bundestagswahl haben
18,7 Prozent der Wähler per Briefwahl gewählt. Für die
Teilnahme an der Briefwahl müssen Wahlberechtigte ei-
nen Wahlschein beantragen und dabei bisher auch den
Grund für ihre Verhinderung am Wahltag angeben und
glaubhaft machen. Diese Regelung erfüllt keinerlei
Funktion mehr, denn eine Nachprüfung dieser Hinde-
rungsgründe ist weder möglich noch erwünscht. Auch
eine Appellfunktion kann diese Regelung leider, wie ich
meine, nicht erfüllen, wie die Erfahrungen in Nordrhein-
Westfalen und Berlin zeigen. Dort wird seit vielen Jah-
ren auf die Angabe von Gründen für die Briefwahl ver-
zichtet. Der Briefwähleranteil hat sich jedoch nicht an-
ders entwickelt als in anderen Bundesländern.
In diesem Zusammenhang soll auch bemerkt werden,
dass die Beförderung der Wahlbriefe wie bisher kosten-
frei für den Briefwähler möglich ist. Nach Wegfall der
Exklusivlizenz der Deutschen Post für Briefe bis zu
50 Gramm ist hierfür künftig die Durchführung eines
Vergabeverfahrens erforderlich, auf dessen Grundlage
der Bund mit entsprechenden Postdienstleistern Beför-
derungsverträge abschließen wird.
Bewerber, die anderen Parteien angehören, sollen
künftig auf Landeslisten von Parteien nicht mehr zuge-
lassen werden. Bei der letzten Bundestagswahl wurde
die Aufstellung von Kandidaten der WASG auf den Lan-
deslisten der Linkspartei von den Landeswahlausschüs-
sen zugelassen. Denn das Wahlrecht enthält keine Rege-
lung dieses Falles. Problematisch ist diese Handhabung
aber deshalb, weil nach dem Bundeswahlgesetz Listen-
vereinigungen und Listenverbindungen verschiedener
Parteien nicht zulässig sind. Das Gesetz möchte auf
diese Weise klare Wahlentscheidungen ermöglichen und
außerdem einer Zersplitterung des im Parlament vertre-
tenen Parteienspektrums vorbeugen. Denn eine solche
Zersplitterung gefährdet die parlamentarische Hand-
lungsfähigkeit und damit die politische Stabilität des
Landes.
Verschiedene Regelungen sichern diese Zielsetzung
ab, etwa die Fünfprozenthürde bzw. die Grundmandats-
klausel für den Einzug in das Parlament, aber auch das
Unterschriftenquorum für Wahlkreisvorschläge von Par-
teien ohne bisherige hinreichende parlamentarische Ver-
tretung. Parteien haben außerdem nach § 27 Abs. 1
BWahlG das Monopol zur Aufstellung von Landeslisten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14081
(A) (C)
(B) (D)
Alle diese Hürden können durch die Zulassung von Mit-
gliedern anderer Parteien auf der Landesliste einer Partei
umgangen werden. Das ist nicht sinnvoll.
Die Kandidatur parteiloser Bewerber auf der Landes-
liste einer Partei wäre übrigens von dieser beabsichtigten
Neuregelung nicht betroffen. Sie soll weiterhin möglich
sein.
Bei vertauschten Stimmzetteln sollen die bisherigen
harten Folgerungen abgemildert werden. Leider kann
auch das schönste Wahlrecht Fehler bei einer bundes-
weiten Wahl mit über 60 Millionen Wahlberechtigten
nicht verhindern. Nicht immer sind allerdings gleich
Tausende von Wählern betroffen, wie es bei der letzten
Bundestagswahl in Dortmund der Fall war. Dort wurden
massenweise Briefwahlunterlagen mit Stimmzetteln für
den falschen Wahlkreis versandt. Im Ergebnis haben
über 10 000 Wähler auf falschen Stimmzetteln gewählt.
Die bisherige Regelung sieht vor: Falscher Stimmzettel,
Stimme ungültig. Deshalb wurden diese Stimmen, also
Erststimmen und Zweitstimmen, überhaupt nicht ge-
zählt. Da die Stimmen im konkreten Fall auf die Man-
datsverteilung keinen Einfluss hätten haben können,
blieben alle diese Briefwahlstimmen ohne weitere Fol-
gerungen einfach unberücksichtigt. Künftig sollen in ei-
nem vergleichbaren Fall – den sich keiner wünschen
kann – wenigstens die Zweitstimmen gezählt werden
und gültig sein. Denn für die Zweitstimme ist die
Stimmzettelverwechslung ohne Belang.
Weitere kleinere Änderungen möchte ich noch kurz
erwähnen. Der neue Begriff Stimmzettelumschlag an-
stelle des bisherigen Begriffs Wahlumschlag soll für eine
bessere Verständlichkeit der Begriffe sorgen; falls eine
Nachwahl stattfinden muss, soll klargestellt werden,
dass das vorläufige Wahlergebnis sofort nach der Haupt-
wahl ermittelt und auch bekannt gegeben wird. Für Ab-
geordnete wird die förmliche Erklärung zur Mandatsan-
nahme entfallen. Auf der Grundlage der Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts wird die Wahlkampfkosten-
erstattung für unabhängige Wahlkreisbewerber rückwir-
kend erhöht und an die Wahlkampfkostenerstattung für
Parteien ohne zugelassene Landesliste angeglichen.
Entsprechende Änderungen gibt es auch im Europa-
wahlrecht. Auch dort wird das mathematische Berech-
nungsverfahren auf St. Laguë/Schepers umgestellt. Das
Verbot parteifremder Bewerber auf Parteilisten wird
ebenfalls eingeführt. Des Weiteren wird der Verlust der
Mitgliedschaft im Europäischen Parlament aufgrund der
Wahl in das nationale Parlament künftig richtigerweise
durch das Europäische Parlament festgestellt und nicht
mehr durch den Ältestenrat des Bundestages.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen.
Unter der Überschrift „Geheimoperation Überhangman-
date“ hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
darüber berichtet, dass die Koalition über eine Nachfol-
geregelung bei Überhangmandaten nachgedacht hat.
Lassen Sie mich Folgendes klarstellen: Es ist keine kon-
spirative Aktion, sondern üblich und richtig, wenn die
Einbringer eines Gesetzentwurfs vor der Einbringung
prüfen, welche Änderungen sinnvoll sind. Und ich will
ganz deutlich sagen: Ich halte die Nachfolge in Über-
hangmandate für sinnvoll. Sie steht leider noch nicht in
diesem Gesetzentwurf, obwohl es ein Unding ist, dass
Mandate während der Legislaturperiode ersatzlos weg-
fallen können. Eine der wichtigsten Funktionen des
Wahlrechts ist es, dass das am Wahltag festgestellte
Wahlergebnis eine möglichst stabile Grundlage für eine
stabile Regierung über die gesamte Legislaturperiode
bildet. Wir können im staatspolitischen Interesse nicht
wollen, dass die parlamentarische Mehrheit wechselt,
weil zufällig Abgeordnete aus Überhangländern sterben
oder aus anderen Gründen ausscheiden. Ich würde es
deshalb für richtig halten, wenn wir in den kommenden
Beratungen in dieser Frage zu einer Änderung des Ent-
wurfs kommen könnten.
Änderungen des Grundgesetzes haben wir in unserem
Gesetzentwurf nicht vorgesehen. Die Frage einer Verlän-
gerung der Legislaturperiode, die Einführung von Volks-
entscheiden auf Bundesebene oder die Möglichkeit der
Selbstauflösung des Parlaments bleiben damit auf der
politischen Tagesordnung – aber erst in künftigen Wahl-
perioden. Die damit verbundenen Fragen bedürfen sehr
gründlicher Prüfung.
Lassen Sie mich noch kurz auf die Änderung der
Wahlkreiseinteilung eingehen, wie sie in dem Entwurf
eines Achtzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-
wahlgesetzes vorgesehen ist. Die Bevölkerungsentwick-
lung in den Ländern zwingt uns, die bestehende
Wahlkreiseinteilung zu ändern. Denn das Bundesverfas-
sungsgericht hat dem Gesetzgeber aufgegeben, im Rah-
men des Möglichen annähernd gleich große Wahlkreise
zu bilden. Der Gesetzgeber hat die sich daraus ergeben-
den Anforderungen in § 3 Bundeswahlgesetz näher kon-
kretisiert. Danach sind bei der Wahlkreiseinteilung die
Ländergrenzen einzuhalten; die Zahl der Wahlkreise in
den einzelnen Ländern muss deren Bevölkerungsanteil
soweit wie möglich entsprechen; die Bevölkerungszahl
eines Wahlkreises soll von der durchschnittlichen Wahl-
kreisbevölkerungszahl nicht um mehr als 15 Prozent ab-
weichen, sie darf nicht um mehr als 25 Prozent abwei-
chen; Gemeinde- und Landkreisgrenzen sollen nach
Möglichkeit eingehalten werden.
Ausgehend von diesen Vorgaben und auf der Grund-
lage der Bevölkerungszahlen aus der amtlichen Statistik
zum Stand 31. Dezember 2006 verlieren nach dem Ge-
setzentwurf die Länder Sachsen und Sachsen-Anhalt je
einen Wahlkreis, während Baden-Württemberg und Nie-
dersachsen je einen hinzugewinnen. In der Folge und
entsprechend der weiteren Vorgaben des § 3 BWahlG
müssen in Sachsen und Sachsen-Anhalt je ein Wahlkreis
aufgelöst und verbleibende Wahlkreise neu geordnet und
bezeichnet werden. Auch in anderen Bundesländern
werden Wahlkreise neu geordnet und bezeichnet, um
erstens sicherzustellen, dass kein Wahlkreis die 25 Pro-
zent-Marke überschreitet, und um zweitens eine Anpas-
sung an aktuelle und künftige Kreis- und Gemeinde-
grenzen vorzunehmen.
Durch die Änderung des Wahlprüfungsgesetzes sollen
die gesetzlichen Vorschriften an die tatsächlichen Erfor-
dernisse der Wahlprüfung angepasst werden. Es hat sich
in jahrzehntelanger Übung erwiesen, dass eine mündli-
14082 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
che Verhandlung in Wahlprüfungssachen nicht erforder-
lich ist. Aus dem bisherigen gesetzlichen Regelfall ist
deshalb faktisch die Ausnahme geworden. Die letzte
mündliche Verhandlung in Wahlprüfungssachen wurde
im Jahre 1973 durchgeführt. Deshalb soll nach der künf-
tigen gesetzlichen Regelung ein Termin zur mündlichen
Verhandlung nur dann anberaumt werden, wenn die Vor-
prüfung ergibt, dass davon eine weitere Förderung des
Verfahrens zu erwarten ist.
Die Fraktion Die Linke möchte mit ihrem Antrag
„Wahlmanipulationen wirksam verhindern“ auf das Ver-
bot von Wahlcomputern – die es in Deutschland bereits
gibt – und auf das Verbot der Internetwahl – die es in
Deutschland bei politischen Wahlen noch nicht gibt –
hinwirken. Wir schließen uns diesem Antrag nicht an.
Denn wir haben bisher keinen ernst zu nehmenden Hin-
weis darauf, dass es bei dem bisherigen Einsatz von
elektronischen Wahlgeräten tatsächlich zu Wahlmanipu-
lationen gekommen ist. Es ist auch nicht richtig, dass
– wie die Linksfraktion meint – eine allgemeine, unmit-
telbare, freie, gleiche und geheime Wahl mit der Stimm-
abgabe per Wahlcomputer nicht vereinbar sei.
Gisela Piltz (FDP): Seit den 80er-Jahren sinkt die
Wahlbeteiligung kontinuierlich ab. Kritiker bezeichnen
das Wahlsystem in Deutschland als unverständlich, in-
transparent und partizipationsfeindlich. Es ist daher zu
begrüßen, dass die Regierungsfraktionen einen Gesetz-
entwurf zur Änderung des Wahl- und Abgeordneten-
rechts vorgelegt haben. Innovative Ideen enthalten die
Entwürfe jedoch nicht.
Außerdem ist wieder einmal das parlamentarische
Verfahren zu kritisieren. Man bekommt den Eindruck,
sobald in der Großen Koalition eine Einigung erzielt
wurde, wird das parlamentarische Verfahren im Hau-
ruckverfahren durchgeführt. Die von der Großen Koali-
tion eingebrachten Gesetzentwürfe sind am Dienstag um
19.44 Uhr – und damit auch für unsere Verhältnisse au-
ßerhalb der üblichen Bürozeiten – verschickt worden.
Heute steht schon die erste Lesung an. Eine ausführliche
Prüfung dieser Entwürfe war in der kurzen Zeit inner-
halb meiner Fraktion nicht möglich. Ein solches Verfah-
ren wird damit dem Anliegen, eine Fortentwicklung des
Wahlrechts zu erreichen, erst einmal nicht gerecht.
Der Gesetzentwurf sieht vor, das Berechnungsverfah-
ren zu ändern, um eine bessere Verwirklichung des
Grundsatzes der Gleichheit der Wahl zu erreichen. Durch
Ersetzung des Hare-Niemeyer-Verfahrens sollen gerade
bei diesem Verfahren vermehrt auftretende Ungereimthei-
ten zukünftig vermieden werden. Ob das St. Lague/
Schepers-Verfahren aber wirklich vorzugswürdiger ge-
genüber dem Hare-Niemeyer-Verfahren ist, wird sich in
den Beratungen zeigen. Denn auch durch einen Wechsel
lässt sich möglicherweise das Problem des negativen
Stimmgewichts nicht grundsätzlich verbessern.
Das negative Stimmgewicht bezeichnet einen Effekt
bei Wahlen, bei dem sich Stimmen gegen den Wähler-
willen auswirken. Durch das Berechnungsverfahren
kann trotz Stimmenabgabe für eine Partei dieser Effekt
ein Verlust an Sitzen bewirken oder umgekehrt Stim-
men, die für eine Partei nicht abgegeben wurden, einen
Gewinn an Sitzen für die jeweilige Partei bedeuten. Die-
ser Effekt widerspricht dem Anspruch, dass jede Stimme
gleich viel zählen sollte. Er widerspricht auch dem An-
spruch, dass sich die Stimme nicht explizit gegen den
Wählerwillen auswirken darf. Auch Ausgleichsmandate
lösen das Problem nicht, weil die betroffene Partei regel-
mäßig keine Ausgleichsmandate erhält. Hier wäre eine
Lösung erstrebenswert.
Den im Ausland lebenden Deutschen ein zeitlich un-
befristetes Wahlrecht einzuräumen, ist im Zeitalter des
Internets zu begrüßen. Denn in der heutigen Zeit ist eine
informierte Mitwirkung bei Wahlen auch möglich, ohne
am Ort des Geschehens zu wohnen.
In diesem Zusammenhang ist auch der Vorschlag im
Gesetzentwurf positiv zu bewerten, die Nennung von
Antragsgründen bei der Briefwahl abzuschaffen. In den
Beratungen wird allerdings zu erörtern sein, ob die
Wahlgrundsätze der „geheimen und freien Wahl“ durch
eine verstärkte Inanspruchnahme der Briefwahl beein-
trächtigt sein könnten.
Eine weitere Änderung im Bundeswahlgesetz sieht
die Änderung des Zuschnitts der Bundestagwahlkreise
aufgrund der Bevölkerungsentwicklung vor. Um die
Chancengleichheit aller Wahlbewerber zu garantieren,
ist eine Überprüfung der Zuschnitte sinnvoll. Wir wer-
den in den Berechnungen aber darauf achten, dass Ver-
änderungen nicht aus politischen Motiven vorgenommen
werden.
Der von der Großen Koalition und uns eingebrachte
Antrag zur Änderung des Wahlprüfungsgesetzes stellt
lediglich eine Anpassung an eine geübte Praxis dar. Seit
der 7. Wahlperiode (1973) ist keine mündliche Verhand-
lung für die Schlussentscheidung des Ausschusses über
Einsprüche mehr durchgeführt worden. Der Gesetzent-
wurf stellt daher lediglich den Zustand her, der ohnehin
besteht.
Der von den Linken eingebrachte Antrag „Wahlmani-
pulationen wirksam verhindern“ geht auf eine Petition
gegen Wahlcomputer zurück, die von 45 126 Bürgerin-
nen und Bürgern unterzeichnet wurde. Die Befürchtun-
gen der Bürger sind berechtigt. Wahlcomputer zeigen
keine nachprüfbaren Ergebnisse an, Wahlcomputer
schließen menschliche Fehler nicht aus, und Wahlcom-
puter bergen Sicherheitsrisiken. In der Bundesrepublik
gibt es lediglich drei Personen, die nachvollziehen kön-
nen, wie bereits eingesetzte Wahlcomputer für politische
Wahlen funktionieren. Und diese drei Personen bürgen
auch für die Integrität der Wahl, denn laut Gerichtsent-
scheidung des VG Braunschweig erhalten keine weite-
ren Personen Einblicke in die technischen Vorgänge. Da-
bei sind Wahlcomputer schon manipuliert worden,
sodass die Datenintegrität nicht gewährleistet ist. Fehler
können auch durch das Auslesen der Stimmenmodule
verursacht werden oder beim Transport der Module ins
Wahlamt.
Wahlcomputer werden damit den Grundanforderun-
gen demokratischer Wahlen nicht gerecht, denn wesent-
liche Schritte des Wahlablaufs sind der öffentlichen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14083
(A) (C)
(B) (D)
Kontrolle entzogen. Ohne eine verlässliche Nachprüfung
des Wahlsystems und damit einer Nachzählung von
Stimmen kann Demokratie aber nicht funktionieren.
Denn nicht selten ist eine Stimme ausschlaggebend für
den Sieg oder die Niederlage des Kandidaten.
Mit der Anschaffung von Wahlcomputern sind erheb-
liche Kosten verbunden. Die Entwicklung geht aber in
Richtung Onlinewahlen. Die FDP-Fraktion ist der Mei-
nung, dass man sich technischen Entwicklungen nicht
generell verschließen sollte. Insofern geht der Antrag der
Linken auch zu weit, der die Internetwahl für alle Zeiten
ausschließen will. Wir können doch heute noch nicht ab-
sehen, in welche Richtung sich die Technik in den
nächsten Jahren entwickeln wird und welche Lösungen
für Onlinewahlen uns angeboten werden. Schließlich
gibt es schon andere Länder, wie zum Beispiel Estland,
die Onlinewahlen als zusätzliche Option für die Wähler
anbieten. Die Entwicklung technischer und juristischer
Lösungen wird von der FDP unterstützt. Der Antrag der
Linken lässt keinen Spielraum für solche Lösungen und
ist von unserer Seite in dieser Form nicht zustimmungs-
fähig.
Jan Korte (DIE LINKE): Heute werden zum wieder-
holten Male nicht nur die Abgeordneten des Deutschen
Bundestages, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger
mit einem Verfahren der Großen Koalition konfrontiert,
das die Prinzipien und politischen Kategorien der Trans-
parenz und der Demokratie ad absurdum führt.
Ich spreche davon, dass wiederholt wenige Stunden
vor einer parlamentarischen Beratung, den Mitgliedern
des Bundestages umfangreiche Gesetzentwürfe durch
die Koalitionsfraktionen nicht vorliegen. Erst in den
Abendstunden des vergangenen Dienstages erreichten
die Abgeordneten der Opposition die angekündigten drei
Gesetzentwürfe von CDU/CSU und SPD zur Änderung
des Wahl- und Abgeordnetenrechts, zur Änderung des
Wahlprüfungsgesetzes und zur Änderung des Bundes-
wahlgesetzes. Der Antrag der Fraktion Die Linke „Wahl-
manipulation wirksam verhindern“ lag dagegen rechtzei-
tig vor. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den
Gesetzentwürfen durch die Bürgerinnen und Bürger
wird durch das Vorgehen der Koalitionsfraktionen ver-
hindert. Auch deshalb ist es wichtig, dass es eine linke
Fraktion im Parlament gibt, die Aufklärung leistet und
für bürgernahe Debatten sorgt.
„Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung in den Län-
dern sowie in einigen Wahlkreisen ist die Einteilung der
Wahlkreise für die Wahl zum Deutschen Bundestag […]
nicht mehr im Einklang mit den Grundsätzen für die
Wahlkreiseinteilung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3
BWG“ und eine Änderung geboten. Diesem Ansinnen
ist erst mal nichts Negatives entgegenzusetzen. Dennoch
zeigen die späte Einbringung des Entwurfes und der vor-
geschlagene Neuzuschnitt der Wahlkreise, dass eine po-
litische Debatte der verwaltungstechnischen untergeord-
net wird.
Grund für die teilweise Neueinteilung der Wahlkreise
besonders im Osten der Republik beispielsweise ist die
nach wie vor anhaltende Abwanderung der Bürgerinnen
und Bürger aus diesem Teil Deutschlands. Wir haben in
diesem Jahr in diesem Rahmen öfter über den sogenann-
ten Aufbau Ost und die Wirtschaftsförderung für die
neuen Bundesländern diskutiert, auch um Anreize zu
schaffen, das Absterben ganzer Landstriche zu stoppen.
Wirkliche Alternativen aber zu den gescheiterten Versu-
chen der vorangegangenen Bundesregierungen, Zuzug
und nicht Abzug aus und in den Osten der Republik zu
generieren, hat die Große Koalition bis heute nicht vor-
gelegt. Die Folge ist unter anderem der Neuzuschnitt der
Wahlkreise. Ein Beispiel: In meinem Kreis, in dem ich
politisch aktiv bin, dem Salzlandkreis, wirkt sich die
Neueinteilung der Wahlkreise in Sachsen-Anhalt beson-
ders stark aus. Der Salzlandkreis wird völlig zerstückelt
und auf die Wahlkreise 69, 70 und 72 aufgeteilt. Dabei
steht in dem Gesetzentwurf, dass dieser das Gesetz zur
Kreisgebietsreform, das am 1. Juli 2007 in Kraft getreten
ist, berücksichtigt.
Dem Bundesland Sachsen-Anhalt geht mit der Neuein-
teilung darüber hinaus ein ganzer Wahlkreis verloren. Zu-
künftig wird es nicht mehr zehn, sondern nur noch neun
Wahlkreise geben. Weiter heißt es im Gesetzentwurf, dass
„die Toleranzgrenze von plus/minus 15 Prozent durch die
neuen Wahlkreise 69 und 72 (plus 17,6 Prozent) über-
schritten“ wird. Dies wird als vertretbar hingenommen, da
dies „durch den zu erwartenden weiteren Bevölkerungs-
rückgang kompensiert werden“ dürfte. Dies mag statis-
tisch sicher richtig sein, eine politische Strategie jedoch
zur Verhinderung dieser Abwanderung und zur Steigerung
der Geburtenrate, beispielsweise durch eine wirklich fa-
milien- und kinderfreundliche Politik, lässt die Bundesre-
gierung seit nunmehr zwei Jahren nicht erkennen. Ich
möchte aber hier erneut die Gelegenheit nutzen, um für
eine solche gesellschaftspolitische Auseinandersetzung zu
werben.
Auch der Gesetzentwurf zur Änderung des Wahl- und
Abgeordnetenrechts hält einige brisante Änderungen be-
reit. Ich möchte mich aber nur auf ein oder zwei Sach-
verhalte hierin konzentrieren, so zum Beispiel auf die
Änderung des § 12, in dem die Voraussetzungen für eine
Wahlbeteiligung für jene deutschen Staatsangehörigen
geregelt werden, die sich am Wahltag außerhalb der
Bundesrepublik aufhalten. Die Änderung des Paragrafen
wird unter anderem damit begründet, dass die bisherige
Eingrenzung auf die Mitgliedstaaten des Europarates
nicht mehr aufrechterhalten werden könne, da die „Ho-
mogenität“ zwischen den Mitgliedstaaten des Europara-
tes durch dessen Erweiterung von 21 auf 46 Staaten
nicht mehr gegeben sei. Es soll also zukünftig ein zeit-
lich unbegrenztes Wahlrecht für sogenannte Auslands-
deutsche eingerichtet werden, die nach dem 23. Mai
1949 und vor ihrem Fortzug mindestens drei Monate un-
unterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland eine
Wohnung innegehabt haben.
Der Gedanke ist so falsch nicht. Jedoch stellt sich
dem aufmerksamen Wähler und Demokraten nicht ganz
zu Unrecht die Frage, warum nicht im gleichen Atemzug
das Wahlrecht für seit vielen Jahren in Deutschland le-
bende Ausländerinnen und Ausländern eingerichtet
wird. Dies wäre doch einmal eine Änderung, die die de-
mokratische Mitbestimmung durch die Menschen, die
14084 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
sich in diesem Land aufhalten, verbessern und verstär-
ken könnte. Denn das Missverhältnis, einerseits Men-
schen mit deutschem Pass, die seit Jahrzehnten keinen
festen Wohnsitz in der Bundesrepublik ihr eigen nennen
können, das vollständige Wahlrecht zu garantieren und
andererseits in Deutschland seit Jahrzehnten fest verwur-
zelten und verankerten Ausländerinnen und Ausländern
ein solches Recht weiterhin zu verweigern, wird mit die-
sem Änderungsvorschlag nicht aufgelöst.
Interessant liest sich allerdings auch der Änderungs-
entwurf der Großkoalitionäre zum § 21. Fortan soll es
nun nicht mehr möglich sein, dass Parteimitglieder auf
den Wahllisten einer anderen Partei kandidieren. Auch
die Kandidatur als Doppelmitglied oder das Nachrücken
in den Bundestag als Doppelmitglied soll mit dieser
Rechtsänderung unterbunden werden. Ich finde diese
Änderung, gelinde gesagt, kleinkariert. Es ist ja bei wei-
tem nicht so, dass die Kandidatur eines Parteimitgliedes
auf den Listen einer anderen Partei massenhaft vorkam
oder vorkommen würde. Im Übrigen hat die Kandidatur
des einen oder der anderen parteigebundenen Kandida-
ten und Kandidatin auf den Listen einer anderen Partei,
der Demokratie ja wohl kaum geschadet.
Ich möchte die verbleibende Zeit aber auch dafür nut-
zen, etwas zum vorliegenden Antrag der Fraktion Die
Linke „Wahlmanipulation wirksam verhindern“ zu sa-
gen. Ein fundamentales Prinzip der Demokratie ist die
Öffentlichkeit des gesamten Ablaufs von Wahlen. Bei
Wahlen per Stimmzettel und Urne kann jede und jeder
die Korrektheit des Wahlablaufs von der Aufstellung der
Urne bis zur Auszählung und Feststellung des Ergebnis-
ses kontrollieren. Diese Möglichkeit der Kontrolle durch
jedermann wird aus dem Demokratieprinzip des Art. 20
GG abgeleitet. Werden jedoch Wahlcomputer eingesetzt,
was in den Kommunen aufgrund immer größer werden-
der Probleme, genug Wahlhelfer zu finden, immer öfter
der Fall ist, ändert sich die Sachlage völlig: Beim Ein-
satz von Wahlcomputern werden wesentliche Schritte
des Wahlablaufs in das Innere eines Gerätes verlegt und
damit der öffentlichen Kontrolle entzogen. Wähler, Öf-
fentlichkeit und selbst Wahlvorstände können nicht mehr
nachvollziehen, was im Inneren des Gerätes mit den
Stimmen geschieht und wie die Ergebnisermittlung im
Einzelnen vor sich geht. Somit wird ein einfaches, er-
probtes, evaluiertes und bewährtes System durch ein
komplexes, nur von wenigen überprüfbares System er-
setzt. Ordnungsgemäßes Funktionieren und Manipula-
tionssicherheit der eingesetzten Wahlcomputer werden
zur unabdingbaren Voraussetzung der Integrität einer
Wahl. Doch jedem x-beliebigen Menschen, der jemals
einen Geldautomaten oder einen PC benutzt hat, ist klar:
Das ist absurd. Computer versagen andauernd. Das weiß
auch das Innenministerium, das erst kürzlich mitteilte,
dass es keinen absoluten technischen Schutz vor Wahl-
manipulationen geben wird. „Sehr richtig“, kann ich
dem nur hinzufügen.
Einen klaren Beleg dafür lieferte erst kürzlich der
Chaos-Computer-Club in Hamburg, dem es gelungen
war, das für die Hamburg-Wahl am 24. Februar 2008 ge-
plante Digitale-Wahlstift-System zu manipulieren. Ham-
burg hat als Reaktion darauf von einer Nutzung der
Wahlstifte abgesehen. Die SPD war aufgrund des fahr-
lässig niedrigen Sicherheitsniveaus nicht bereit, den
Wahlstift länger mitzutragen. Ich hoffe, dass sich die
Bundestagsfraktion der SPD dieser Einsicht anschließen
und auch deshalb unserem Antrag ihre Zustimmung ge-
ben wird.
Florida, das von massiven Wahlmanipulationen mit
Wahlcomputern erschüttert wurde, kehrte schon vor eini-
ger Zeit zur Stimmzettelwahl zurück. Die Anschaffung
der Wahlcomputer hatte Millionen verschlungen. Aber
für die Verantwortlichen war der Weg auf den Schrott-
platz für die schicken, hochmodernen Wahlcomputer das
kleinere Übel.
Die niederländische Regierung hat ebenfalls die dort
flächendeckend eingesetzten NEDAP-Wahlcomputer auf-
grund ihrer nachgewiesenen Manipulierbarkeit aus dem
Verkehr gezogen. Und was macht die Bundesregierung?
Das Innenministerium erteilt von all dem völlig ungerührt
neue Bauartzulassungen für NEDAP-Wahlcomputer und
suggeriert, dass jetzt alle Sicherheitslücken geschlossen
seien. Das ist hanebüchen! Die Zulassung eines Gerätes
zur Wahl wird nach § 35 BWahlG und anderen Vorschrif-
ten im Wesentlichen erteilt, wenn die Physikalisch-Tech-
nische-Bundesanstalt im Auftrag des Innenministeriums
bei der Prüfung eines einzigen Geräts einer Bauart keine
Mängel feststellt. Im Gegensatz zu einer Wahl mit Zettel
und Urne wird einfachen Bürgerinnen und Bürgern eine
Prüfung der Wahlcomputer verwehrt und deren interne
Funktionsweise geheimgehalten. Ein einzelnes Gerät
kann von einer Gemeinde eingesetzt werden, wenn der
Hersteller versichert, dass es baugleich zu einem geprüf-
ten Gerät ist. Eine Kontrolle, ob dies der Fall ist oder ob
das Gerät möglicherweise bis zu seinem Einsatz von Drit-
ten manipuliert wurde, ist nicht vorgesehen, ist weder für
Wahlvorstand, noch für Wählerinnen und Wähler sowie
Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter möglich. Die
einzige Kontrolle der Geräte findet nach § 35 BWahlG
durch das Innenministerium und den Hersteller statt. Dies
ist im Gegensatz zur Kontrolle durch jederman bei Wahl
mit Wahlzettel und Urne nicht akzeptabel.
Das Prinzip der öffentlichen Kontrolle ist nicht dele-
gierbar, schon gar nicht an das Innenministerium oder
den Hersteller der Wahlgeräte. Die demokratische und
öffentliche Kontrolle wird durch den Einsatz von Wahl-
computern wesentlich erschwert, wenn nicht gar unmög-
lich gemacht.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich dem Chaos-
Computer-Club, der sich trotz aller Geheimniskrämerei
bei der Aufdeckung der gravierenden Sicherheitsmängel
ein großes Verdienst erworben hat, herzlich für seinen
unermüdlichen Einsatz danken.
Unser Antrag, für den ich um Ihre Zustimmung
werbe, fordert daher die Bundesregierung auf, durch Än-
derung des Bundeswahlgesetzes den Einsatz von Wahl-
computern und eine Internetwahl bei Wahlen zum Deut-
schen Bundestag und des Europäischen Parlaments
ausdrücklich auszuschließen und die Bundeswahlgeräte-
verordnung entsprechend anzupassen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14085
(A) (C)
(B) (D)
Wahlcomputer müssen in Deutschland verboten wer-
den, bevor wir auch hier Zustände wie in den USA be-
kommen. Die hier verwendeten NEDAP-Computer sind
mindestens genauso unsicher und manipulierbar wie die
aus den Wahlskandalen in den USA bekannten Systeme.
Es liegt in unser aller Interesse, dass Wahlmanipulatio-
nen wirksam verhindert werden.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Lassen Sie mich in aller Kürze etwas zu den
uns hier vorliegenden drei Gesetzentwürfen und dem
Antrag der Linken sagen.
Beginnen möchte ich mit dem Antrag der Linken, in
dem sie die Abschaffung der Wahlcomputer fordert. Es
wird Sie nicht verwundern, dass ich für diesen Antrag
große Sympathien hege. Gerade die Union wird mich
hier verstehen. Wenn es um Wahlen geht, bin ich konser-
vativ und will Bewährtes bewahren. Ich greife lieber
zum Bleistift und mache damit bei der Wahl mein Kreuz.
Ich brauche dafür keinen elektronischen Stift und keinen
Computer. Nur so kann ich genau kontrollieren, ob ich
auch wirklich mein Kreuz an der richtigen Stelle ge-
macht habe, und bei der anschließenden Auszählung
kann ich live dabei sein. Ein transparenteres Verfahren
kann ich mir nicht vorstellen.
Wir sollten nicht die gleichen Fehler wie die Nieder-
lande machen. Dort wurden Computer flächendeckend
eingesetzt, doch der Chaos-Computer-Club überzeugte
die Regierung von den erheblichen Risiken, sodass jetzt
wieder auf Papier und Bleistift zurückgegriffen wird.
Auch hierzulande warnt der CCC vor den Risiken der
Geräte der Firma Nedap, die fast baugleich sind mit den
Geräten in den Niederlanden. Der Bundesinnenminister
geht hier ohne Not ein Sicherheitsrisiko ein. Wir wollen
über Politikinhalte diskutieren und nicht darüber, ob die
Wahlergebnisse womöglich manipuliert worden sind.
Vielleicht wird es eines Tages sichere Verfahren bei der
elektronischen Wahl geben. Solange es berechtigte
Zweifel gibt, darf es weder Wahlstifte noch Wahlcompu-
ter geben. Wir stimmen hier dem Antrag der Linksfrak-
tion zu.
Kommen wir nun zu den uns vorliegenden Gesetzent-
würfen. Die Neueinteilung der Wahlkreise ist erforder-
lich. Zuletzt haben wir in der letzten Legislatur eine der
Bevölkerungsentwicklung in den einzelnen Regionen
unseres Landes entsprechende behutsame Anpassung
der Wahlkreise vorgenommen. Auch in dieser Legisla-
turperiode macht die Wahlkommission entsprechende
Vorschläge, die in diesen Entwurf eingeflossen sind. Ich
gehe davon aus, dass die Große Koalition erneut alle
Fraktionen einlädt und wir uns bemühen, zu einer sach-
lich begründeten, gemeinsamen Anpassung der Wahl-
kreisgrenzen zu kommen.
Der mit dem zweiten uns vorliegenden Gesetzentwurf
angestrebten Umstellung auf ein neues Berechnungsver-
fahren für die Sitzverteilung und Verteilung der Wahl-
kreise auf die Länder stehen wir offen gegenüber. Für
die Verteilung der Ausschusssitze im Bundestag wird es
ja bereits angewendet und auch in den Bundesländern er-
freut es sich immer größerer Beliebtheit. Sollten die
beim Hare-Niemeyer-Verfahren auftretenden Paradoxe
beim St. Laguë/Schepers-Verfahren tatsächlich nicht vor-
kommen und damit dem Prinzip der Gleichheit der Wahl
besser Rechnung getragen werden, werden wir uns dem
nicht verschließen. Auch ein zeitlich unbeschränktes ak-
tives Wahlrecht für im Ausland lebende Deutsche oder
die Vereinfachung der Briefwahl tragen wir mit.
Lassen Sie mich zum letzten Entwurf kommen. Es ist
richtig, das Wahlprüfungsgesetz der jahrzehntelangen
Praxis des Wahlprüfungsausschusses anzupassen. Das
Gesetz sieht zwar bisher vor, in jeder Anfechtungssache
mündliche Verhandlung anzuberaumen. Doch seit
34 Jahren ist keine solche mündliche Verhandlung mehr
angesetzt worden. Diese Praxis wird gegenüber den
Einspruchsführern überwiegend damit begründet, der
Einspruch sei offensichtlich unbegründet. Die Durchfüh-
rung einer mündlichen Anhörung mit dieser Begründung
abzulehnen ist zwar im Gesetz ausdrücklich vorgesehen.
Doch häufig trifft die Bewertung des Einspruchs als „of-
fensichtlich unbegründet“ bei den Einspruchsführern auf
großes Unverständnis. Um auf diese Begründung gegen-
über den Einspruchsführern künftig verzichten zu kön-
nen, ist zu begrüßen, wenn aus dem bisherigen Regelfall
einer mündlichen Verhandlung künftig der Ausnahme-
fall wird.
Allerdings sollte es von diesem Grundsatz zwei Aus-
nahmen geben. Erstens sollte eine mündliche Verhand-
lung ausnahmsweise anberaumt werden, wenn der Ein-
spruch Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft.
In der bisherigen Begründung des Gesetzentwurfs (II. zu
Art. 1 Nr. 2) ist diese Ausnahme schon ausdrücklich ge-
nannt. Folglich ist es zur Klarstellung angebracht, diese
Ausnahme auch in den Gesetzestext aufzunehmen.
Zweitens sollte dies der Fall sein, wenn ein Einspruch in
der Öffentlichkeit großes Interesse gefunden hat und
breit diskutiert wurde. Für diesen Vorschlag wollen wir
im parlamentarischen Verfahren werben.
Für die Einspruchsführer und auch für die Öffentlich-
keit ist häufig schwer nachzuvollziehen, wenn in einer
wichtigen Streitfrage zur Gültigkeit der Wahl von ange-
sehenen Experten gewichtige Argumente für die unter-
schiedlichen Auffassungen öffentlich vorgebracht und
monatelang diskutiert werden, dass dann aber der Wahl-
prüfungsausschuss des Deutschen Bundestages quasi in
eigener Sache den Einspruch trotzdem ohne öffentliche
Verhandlung abhandelt und verwirft. Demgegenüber
könnte eine öffentliche Verhandlung solcher Einsprüche
die Akzeptanz und öffentliche Vermittlung der Wahlprü-
fungsentscheidungen verbessern.
Lassen Sie uns diese Fragen in der gewohnten Sach-
lichkeit im Ausschuss offen diskutieren.
Gert Winkelmeier (fraktionslos): In Art. 20 des
Grundgesetzes lesen wir:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird
vom Volke in freien und geheimen Wahlen und Ab-
stimmungen … ausgeübt.
Um diese Wahlen geht es heute; und zwar unter Aus-
schluss des eigentlichen Souveräns.
14086 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
Nun könnte man argumentieren, die drei hier vorge-
legten Gesetzentwürfe befassten sich mit Kleinigkeiten
oder Spitzfindigkeiten, die den Wähler nicht interessie-
ren. Nur geben die Volksvertreter dem Volk nicht einmal
die Chance, der Debatte beizuwohnen, da sie ausschließ-
lich in den Anlagen zum stenografischen Protokoll die-
ses Sitzungstages stattfindet.
Dabei wäre eine breitangelegte Diskussion zu Wahlen
und zur Beteiligung des Volkes an politischen Entschei-
dungen angebracht. Aber die Regierung und die Koali-
tionsfraktionen gehen einer solchen Auseinandersetzung
bewusst aus dem Weg, indem sie die heute am Donnerstag
zu debattierenden Gesetze in einer Nacht- und Nebelaktion
von Dienstag auf Mittwoch den Abgeordneten haben zu-
kommen lassen, und das nur, weil sich SPD und Union
nicht auf eine Regelung zu den Überhangmandaten eini-
gen konnten.
Wie soll man denn da noch kritisch prüfen, was einem
auf den Tisch gelegt wurde? Wenn nicht einmal die Ver-
treterinnen und Vertreter des eigentlichen Souveräns die
Gelegenheit erhalten, sich mit den geplanten Änderun-
gen auseinanderzusetzen, kann man auch nicht wirklich
erwarten, dass sich die Menschen hier im Lande mit dem
Gegenstand befassen. Dabei geht es sie etwas an, wenn
sich ihre derzeit einzige Möglichkeit, politisch zu ent-
scheiden, ändern soll. Es wäre auch kein Zacken aus der
Krone gebrochen, wenn die Debatte ins kommende Jahr
verschoben worden wäre.
Die Änderungen im Wahlprüfungsgesetz lassen sich
abhaken; aber wir brauchen eine breitangelegte Diskus-
sion über den veränderten Zuschnitt der Wahlkreise: Es
deutet sich doch an, dass im Laufe der Jahre – wenn wei-
terhin viele Menschen aus den ländlichen Gebieten, vor
allem im Osten, abwandern – diesen Landstrichen auch
weniger Wahlkreise, sprich: Abgeordnete, zustehen. Das
läuft darauf hinaus, dass deren Interessen hier im Bun-
destag immer weniger vertreten werden können. Das
kann man nicht einfach so hinnehmen.
Im Bundeswahlgesetz fehlt außerdem eine konkrete
Regelung, um Wahlmanipulationen zu verhindern und
die Kontrolle von Wahlergebnissen geräteunabhängig si-
cherzustellen, wie im Antrag der Linksfraktion gefor-
dert. Hier muss dringend nachgebessert werden.
Auch die Änderungen im Wahl- und Abgeordneten-
gesetz sind an der einen oder anderen Stelle problema-
tisch und müssen öffentlich diskutiert werden. Ich nenne
hier nur die rückwirkende Entfristung beim Wahlrecht
für im Ausland lebende Deutsche – bisher war nach
25 Jahren Schluss. Sie könnte dazu führen, dass ein NS-
Kriegsverbrecher, der nach Südamerika abgehauen ist,
jetzt wieder in unserem Land wählen darf.
In diesem Zusammenhang müssen wir zudem darüber
streiten, weshalb Menschen, die seit Jahrzehnten in
Deutschland leben, weiterhin keine Möglichkeit erhalten
sollen, hier auch zu wählen. Teilhabe an demokratischen
Prozessen und politischen Entscheidungen muss auch
für diese Menschen gewährleistet sein!
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Bodenprivatisierung
neu ausrichten (Tagesordnungspunkt 26)
Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Mit der Drucksache
16/7135 hat uns die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
zum Jahresende noch ein kleines Geschenk in unsere ge-
putzten Nikolausstiefel gelegt: die Neuausrichtung der
Bodenprivatisierung. Das Thema hat uns im Ausschuss
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ja
schon wiederholt beschäftigt. Also nun auf ein Neues im
kommenden Jahr. So wenig ich unserer Diskussion im
ELV-Ausschuss vorgreifen möchte: Auf dieses „Ge-
schenk“ hätten wir gut verzichten können.
Die bisherige Vermarktung landwirtschaftlicher Flä-
chen, insbesondere in Ostdeutschland nach der Wieder-
vereinigung, ist durchaus eine Erfolgsgeschichte. Sie hat
dazu beigetragen, landwirtschaftliche Betriebe in Ost-
deutschland anzusiedeln und unter schweren Bedingun-
gen marktfähig zu erhalten bzw. konkurrenzfähig zu ma-
chen. Zahlreiche Arbeitsplätze wurden gesichert und
sind zunehmend sicher. Und das unter dem erschweren-
den Aspekt des europäischen Wettbewerbs und der EU-
Osterweiterung.
Nun präsentiert uns die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen ein bürokratisches Monstrum, in dem zahlreiche Be-
dingungen an die Käufer der möglichen Restflächen ge-
knüpft werden. Eine Neuausrichtung ist das wirklich
nicht, weit eher jedoch eine zusätzliche Verbürokratisie-
rung mit einem dafür noch zu schaffenden notwendigen
Kontroll- und Verwaltungsaufwand unvorstellbaren
Ausmaßes. So sollen die möglichen Betriebskonzepte
innerhalb einer Frist von 20 – ich wiederhole das lang-
sam zum Mitschreiben: 20 – Jahren geprüft werden, und
es kann vom Kaufvertrag eventuell zurückgetreten wer-
den, wenn vom Konzept erheblich abgewichen wird.
Statt bürokratischer Maßnahmen plädiere ich für die
tatsächliche Stärkung der landwirtschaftlichen Betriebe,
besonders in Ostdeutschland. So müssen verstärkter als
bisher der regionale Markt und der Absatz gefördert
werden. Die Erzeugung von Bioprodukten aus der Re-
gion ist in regionalen Kreisläufen zu verbessern. So blei-
ben die Unternehmensgewinne in der Region. Diese
Aufgaben sind jedoch nicht durch die geförderte Neu-
ausrichtung, der Bodenprivatisierung zu erzielen.
Die Bodenprivatisierung stellt eine durchaus lösbare
und überschaubare Maßnahme dar und sollte nicht mehr
nach neuen Regularien erfolgen, die eher zu einer Verzö-
gerung beitragen werden als die Privatisierung so schnell
wie möglich abzuschließen. Mit der Bodenprivatisierung
wird bereits den ökonomischen, ökologischen, struktu-
rellen und eigentumsrechtlichen Besonderheiten Rech-
nung getragen, und auch im Koalitionsvertrag ist verein-
bart, dass bei der Privatisierung der Treuhandflächen die
agrarstrukturellen Interessen der neuen Länder Berück-
sichtigung finden. Und dies geschieht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14087
(A) (C)
(B) (D)
Die Bundesregierung ist sich der ökonomischen und
sozialen Bedeutung der Landwirtschaft in den neuen
Ländern bewusst und versucht, mit der bestehenden Pri-
vatisierungspolitik die wirtschaftliche Tätigkeit der land-
wirtschaftlichen Betriebe dauerhaft zu sichern. Sie be-
rücksichtigt zudem die Interessen derjenigen Betriebe,
denen eine Sicherung der Produktionsgrundlage durch
Kauf noch nicht möglich ist, weil sie nicht über ausrei-
chend liquide Mittel verfügen. Dies gilt insbesondere für
Unternehmen, die in Wertschöpfung und damit Arbeits-
plätze im ländlichen Raum investieren. Diese Betriebe
sind besonders auf eine längerfristige Pacht angewiesen,
um eine mittelfristige Planung gewährleisten zu können.
Aufgrund dieser Tatsache und im Sinne eines rei-
bungslosen Ablaufes der Veräußerungen werden ein
Großteil der circa 600 000 Hektar landwirtschaftlicher
Flächen auch weiterhin verpachtet. Insofern wird die
BVVG Flächen, deren langfristige Pachtverträge ab
1. Januar 2007 auslaufen, nur zum Teil bei Auslaufen
der Pachtverträge zur Neuvergabe ausschreiben. Mit
dem Zusammenwirken aus Verpachtung und Verkauf
wird der Spielraum landwirtschaftlicher Unternehmen
für anders produktive Investitionen geschont. Detailliert
bedeutet dass, das von den noch verfügbaren rund
600 000 Hektar nur circa 350 000 zur Veräußerung zur
Verfügung stehen. Davon sollen nicht mehr als
25 000 im Jahr zum Verkehrswert verkauft werden.
Etwa 250 000 Hektar werden für den begünstigten Er-
werb nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleis-
tungsgesetz (EALG) benötigt. Die entsprechenden Kauf-
optionen sind an den Bestand langfristiger Pachtverträge
gebunden und enden mit der Laufzeit dieser Verträge
größtenteils im Zeitraum zwischen 2010 bis 2014. Neue
Kaufoptionen nach dem EALG werden nicht begründet
und bestehende nicht verlängert. Das bedeutet, dass der
begünstigte Flächenerwerb im Wesentlichen bis zum
Ende des Jahres 2014 abgeschlossen sein wird.
Obwohl als Vergabeverfahren grundsätzlich die öf-
fentliche Ausschreibung verwendet werden soll, sind
auch nach geltendem Recht Direktvergaben an Pächter
und beschränkte Ausschreibungen für Unternehmen mit
arbeitsintensiven Betriebsformen möglich. So sollen zur
Vermeidung von Wettbewerbsnachteilen pro Jahr
2 000 Hektar im Wege dieser beschränkten Ausschrei-
bungen zum Kauf oder zur Pacht für diese Unternehmer
zur Verfügung stehen. Im Rahmen der bestehenden Pri-
vatisierung kann keinesfalls davon die Rede sein, dass
landwirtschaftsferne gegenüber landwirtschaftlichen
Unternehmen bevorzugt werden, da überhaupt nur ein
geringer Teil jedes Jahr zum Verkauf steht und der Groß-
teil für einen vergünstigten Erwerb nach dem EAGL
vorgesehen ist.
Selbstverständlich werden wir im Ausschuss noch
sehr detailliert die Dinge besprechen, und ich freue mich
auf die Diskussion im Landwirtschaftsausschuss.
Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grü-
nen: Ihr Anliegen, dass wir eine möglichst große Wert-
schöpfung in der Landwirtschaft der neuen Bundeslän-
der unterstützen wollen, ist richtig. Selbstverständlich ist
die Schaffung von vielen Arbeitsplätzen eine deutlich
positive Indikation. Die Ausstattung landwirtschaftlicher
Unternehmen mit Boden ist ein entscheidender Faktor –
übrigens nur ein entscheidender Faktor.
Die von Ihnen gemachten Vorschläge würden zu ei-
nem hyperbürokratischen Monstrum führen, das von den
zuständigen Behörden kaum beherrschbar und nicht
rechtssicher wäre. Es wäre zudem mit europäischem
Recht unvereinbar. Mein Fazit lautet deshalb: Ihr Anlie-
gen ist zwar nachvollziehbar, aber die Mittel sind völlig
unzweckmäßig.
Dr. Gerhard Botz (SPD): Gleich zu Beginn meines
Beitrages will ich klarstellen, dass meine Fraktion den
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Neuausrichtung
der Bodenprivatisierung ablehnen wird.
Mit folgenden Begründungen kommen wir zu dieser
klaren Entscheidung. Die Antragsteller schränken den
tatsächlich vonseiten der Bundesregierung bestehenden
Handlungsspielraum zu Recht selbst ein, da sie auch auf
den „verfassungs- und europarechtlichen Zulässigkeits-
spielraum“ hinweisen.
In der Tat ist allen mit der Thematik Vertrauten klar,
dass die EU-Kommission seit der Entschädigungs- und
Ausgleichsleistungsgesetzgebung und bei allen weiteren
Novellen äußerst kritisch auf den damit auf einen sehr
eingeschränkten Personenkreis zugeschnittenen Subven-
tionssachverhalt geschaut hat. Und dies wird die EU-
Kommission auch weiterhin verstärkt tun, da die dama-
lige historisch untersetzte Begründung inzwischen an
Überzeugungskraft verliert.
Entscheidend ist aber der folgende Sachverhalt: Seit
dem 1. Januar 2007 gilt eine Verwaltungsvereinbarung
zwischen Bund und Ländern bezüglich der weiteren Pra-
xis im Privatisierungskonzept. Diese hat zwei wichtige
Schutzkomponenten für bisherige Pächter zum Inhalt,
die nach einjähriger Einschätzung, auch der Länder, sehr
gut tragen. Die erste Schutzkomponente besagt, dass bis-
herige Pachtbetriebe nicht mehr als 20 Prozent der ge-
pachteten Flächen verlieren dürfen, um nicht in ihrer
Existenz gefährdet zu werden. Die zweite Schutzkompo-
nente erlaubt den dauerhaften Erwerb von 50 Prozent der
gepachteten Flächen in einem Schritt durch die bisheri-
gen Pächter.
Die Intention des Antrages insgesamt erweckt den
Verdacht, man neige – zwar im Interesse einer anderen,
aber eher kleinen Klientel – zu einer Rückkehr zur Plan-
wirtschaft. Die grundsätzliche und endgültige Zielstel-
lung der Privatisierungspolitik der BWG muss aber eine
Ausrichtung auf den Wettbewerb bleiben. Das natürlich
umso mehr, als wir alle landwirtschaftlichen Unterneh-
men im Zuge der letzten europäischen Agrarreform
Schritt für Schritt in den Wettbewerb am Markt hinein-
führen.
14088 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
Eine der Intentionen des Antrags von Bündnis 90/Die
Grünen, die stärkere Berücksichtigung arbeitsintensiver
Betriebsformen bei weiterer Flächenvergabe, will der
Bund ohnehin durch Direktvergaben und beschränkte
Ausschreibungen weiterhin möglich machen. Eine gene-
relle Privilegierung ökologisch wirtschaftender Betriebe
widerspräche wiederum dem EU-Recht. Wenn eine sol-
che politische Zielstellung von der Bundesregierung ver-
folgt werden würde, müsste dazu ein spezielles Förder-
programm aufgelegt und von der Kommission in Brüssel
genehmigt werden. Nicht zuletzt würde ein Vorgehen,
wie es Bündnis 90/Die Grünen hier vorschlagen, mit der
Prüfung, Genehmigung und noch bis 20 Jahre nach Ver-
tragsabschluss vorzunehmender Kontrolle einen unange-
messen hohen Verwaltungsaufwand nach sich ziehen.
Ein solches Vorgehen widerspricht aber dem von der
Großen Koalition angestrebten Abbau von Bürokratie
und Verwaltung.
Damit kann man zum entscheidenden Fazit kommen:
Dort, wo es praktikable Intentionen des Antrages gibt,
hat die Bundesregierung bereits konkret gehandelt. Dort,
wo die Zielstellung eindeutig die Umsetzungsmöglich-
keiten verletzt, lehnen wir die beantragten Punkte ab.
Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Der Antrag der
Grünen behandelt zwar ein wichtiges Thema, doch er
löst nicht die Probleme bei der Bodenprivatisierung.
Die Forderung nach Bevorzugung arbeitsintensiver
Betriebe geht ins Leere. Jeder Betriebsteil muss für sich
wirtschaftlich sein, damit der Betrieb zukunftsfähig ist.
Hier sollte der Staat bei der Flächenvergabe nicht falsche
Anreize setzen.
Ebenso wenig sinnvoll ist die Forderung, Betriebe mit
höchstens zwei Großvieheinheiten zu bevorzugen. Das
Land Mecklenburg-Vorpommern hat bei der Verpach-
tung seiner Landesflächen einmal das Gegenteil gemacht
und als Vergabekriterium einen Mindestviehbesatz vor-
geschrieben, um so Vieh haltende Betriebe zu fördern.
Das hat ebenso wenig funktioniert. Solche Regelungen
schaffen nur neue Ungerechtigkeiten und konservieren
Strukturen. Moderne Landwirtschaft, vor allem junge
Landwirte brauchen aber Strukturwandel.
Der Sinn der Forderung, diversifizierte Betriebe zu
bevorzugen, erschließt sich auch nicht. Sollen wir jetzt
vom grünen Tisch aus in die Konzepte der Unternehmer
eingreifen? Soll ich also künftig den Edeka vor Ort oder
die Bäckerei kaufen oder Touristen beherbergen, damit
ich Anspruch auf den Erwerb von staatlichen Flächen
habe? Nein, hier sollten wir uns tunlichst heraushalten.
Die öffentliche Hand hat in den letzten 40 Jahren genug
falsche Marktlenkung betrieben, in Ost wie in West. Da-
mit muss endlich Schluss sein. Lassen wir doch die
Landwirte darüber entscheiden, wo sie ihren unterneh-
merischen Erfolg sehen.
Das gilt auch für die Forderung, Ökolandbetriebe zu
bevorzugen. Die FDP hat überhaupt nichts gegen den
Ökolandbau. Im Gegenteil, angesichts der Marktlage
halten wir es durchaus für erfolgversprechend in den
Ökolandbau zu investieren. Wir haben nur etwas dage-
gen, wenn die öffentliche Hand durch ihre Förderung
glaubt, Signale dafür setzen zu müssen, was objektiv die
„richtige Landwirtschaft“ ist. Es gibt nur einen der quali-
fiziert ist, dies im Einzelfall zu entscheiden: der Land-
wirt, der sein Geld in seinen Betrieb investiert.
Angesichts der Diskussion um den Beitrag der Land-
wirtschaft zum Klimawandel bzw. Klimaschutz muss
man sich fragen, ob der Ökolandbau in Bezug auf das
Ziel Klimaschutz wirklich der Weisheit letzter Schluss
ist. Jedenfalls sollten wir nicht auch noch zusätzliche
Anreize setzen, indem wir nur noch diesen Betrieben
staatliche Flächen verpachten oder verkaufen wollen.
Während man die Forderungen des grünen Antrags
soweit ja noch unter den üblichen grünen ideologischen
Forderungen abhaken kann, bin ich doch einigermaßen
sprachlos über die Forderung, dass Kaufverträge rückab-
gewickelt werden sollen, wenn ein Landwirt innerhalb
von 20 Jahren von seinem Betriebskonzept abweichen
sollte. Ich konnte erst gar nicht glauben, was ich da las.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, denken sie doch bitte
einmal ins Jahr 1987 zurück. Wollen sie wirklich verlan-
gen, dass niemand auf Marktentwicklungen 20 Jahre
lang reagieren darf? Denken sie doch alleine einmal zu-
rück, wie sich die staatlichen Rahmenbedingungen in
den letzten 20 Jahren verändert haben. Über diesen
Punkt sollten die Grünen noch einmal ganz in Ruhe
nachdenken. Dann werden sie sicher einsehen, das Sie
sich hier vertan haben. Die FDP jedenfalls möchte nicht
zurück in die DDR.
Ebenso wenig, wie die obigen Forderungen sinnvoll
sind oder funktionieren, ist die Forderung nach der Orts-
ansässigkeit in letzter Konsequenz sinnvoll. Schon die
bisherige gesetzliche Regelung ist Gegenstand vieler
heftiger Diskussionen gewesen. Zu Recht hat auch der
Bauernverband hier Korrekturen verlangt. Gerade bei
der Erbfolge hat das Ortsansässigkeitsprinzip zu erhebli-
chen Problemen geführt.
Zu Recht kritisieren die Grünen und die Bauernver-
bände allerdings, dass landwirtschaftsferne Kaufinteres-
senten Landwirten vor Ort das Land streitig machen.
Doch die Antwort darauf kann doch nicht sein, sich in
die Betriebskonzepte der Landwirte einzumischen. Ge-
rade die Konkurrenz zu den Kaufinteressenten, die nach-
wachsende Rohstoffe für Biogasanlagen anbauen wol-
len, hat doch nicht die Ursache in den Regelungen zur
Bodenprivatisierung in den neuen Ländern, sondern in
der Überforderung des Biogases in ganz Deutschland.
Wenn wir stattdessen bei der EEG-Novelle die Wirt-
schaftskreisläufe – also die Nutzung von Reststoffen der
Land- und Ernährungswirtschaft, wie insbesonde Gülle –
fördern und nicht ausschließlich nachwachsende Roh-
stoffe, werden wir Druck vom Markt nehmen. Solche
Folgen kommen nämlich dabei heraus, wenn der Staat
aus vermeintlich übergeordneten Zielen, ohne das Ganze
zu betrachten, einzelne Förderungen implementiert. Gut
gemeint ist auch hier das Gegenteil von gut gemacht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14089
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Nicht nur die
Erzeugerpreise steigen aktuell – was ja erfreulich ist –,
sondern auch die Produktionsmittelkosten und die Bo-
denpreise, was betriebswirtschaftlich die Freude über
den Anstieg der Erzeugerpreise zumindest deutlich
dämpft. Die steigenden Bodenpreise kriegen zuallererst
die Landwirtschaftsbetriebe zu spüren, die Pachtland be-
wirtschaften. In Ostdeutschland beträgt der Anteil von
Pachtland im Durchschnitt 80 Prozent. Die kommen zu-
erst in wirtschaftliche Schwierigkeiten, und zwar auf
zwei Wegen: erstens über das steigende Pachtpreisni-
veau und zweitens über die verteuerten Landzukäufe, die
für die meist eigenkapitalschwachen Betriebe besonders
nötig, aber gleichzeitig aus Liquiditätsgründen schwierig
zu leisten sind.
Das Ansteigen der Bodenpreise wird durch verschie-
dene Faktoren ausgelöst. Steigende Gewinne, vor allem
im Ackerbau, sowie wirtschaftlich positive Erwartungen
für den Agrar- und Agrarenergiesektor tragen dazu bei.
Aber auch das Agieren der Nachfolgegesellschaft der
Treuhand, der BVVG, trägt offensichtlich dazu bei. Da-
bei ist es nicht nur der von uns immer kritisierte Privati-
sierungszwang der BVVG, sondern auch die Art und
Weise, wie dieser umgesetzt wird. Es geht zum Beispiel
um die öffentliche Ausschreibung großer Bodenlose und
um das Ausschreibungsverfahren selbst, nachdem der
Höchstbietende den Zuschlag bekommt. Schon das al-
lein wirkt angesichts der nur begrenzten Verfügbarkeit
der Ressource Boden preistreibend.
Nach langen Jahren stagnierender Boden- und Grund-
stückspreise geht es aktuell um einen neuen Spekula-
tionsmarkt. Was ist es anderes als Bodenspekulation,
wenn in Nordrhein-Westfalen vor einigen Wochen eine
eigene Investitionsgesellschaft zum Landkauf in Ost-
deutschland gegründet wurde mit dem Ziel, mindestens
18 000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche zu erwer-
ben? In der Nähe von Prenzlau im Nordosten Branden-
burgs standen Grundstücksgrößen von über 100 Hektar
zum Verkauf.
Zu dieser Entwicklung tragen die Verkäufe der
BVVG als größter öffentlicher Anbieter zumindest bei.
Die Grünen beleuchten nun in ihrem Antrag die Ver-
käufe der BVVG, die im Auftrag des Bundesfinanz-
ministeriums enteignete und in das staatliche Eigentum
der DDR übergegangene Flächen verkauft bzw. zwi-
schenzeitlich verpachtet. Den politischen Auftrag an die
BVVG zum Flächenverkauf haben wir immer kritisiert.
Die Beibehaltung des öffentlichen Eigentums würde aus
unserer Sicht das gesellschaftliche Interesse an einer
nachhaltigen Landnutzung garantieren. Auch die Folgen
der Kapitalbindung in die Kaufsumme ist eher negativ
für die Betriebe – vorausgesetzt, die Pachtrechte sind
längerfristig gesichert. Das Anliegen der Grünen, die
Bodenprivatisierung neu auszurichten, kann daher für
uns eigentlich nur Argumente liefern, wenigstens die
dramatischsten Risiken des Flächenverkaufs durch die
BVVG abzuwenden.
Natürlich ist es inakzeptabel, wenn Boden aus öffent-
lichem Eigentum auch noch nach Kriterien verteilt wird
wie den gebotenen Höchstpreis eines beliebigen Anbie-
ters. Weitere Faktoren wie geschaffene oder erhaltene
Arbeitsplätze, ökologische Bewirtschaftungskriterien,
ökologischer Landbau oder Grad der Diversifizierung
wären aber in jedem Fall gesellschaftliche Anforderun-
gen an die Flächennutzer, denn Boden ist eine natürliche
Ressource.
Aber gerade weil klar ist, dass mit dem Eigentum am
Produktionsmittel Boden wesentliche Weichen für die
Entwicklung auf dem Land gestellt werden, fragt die
Linke noch einmal nach: Warum muss mit der Privatisie-
rung des öffentlichen Bodeneigentums überhaupt ein Ri-
siko eingegangen werden?
Das Mindeste ist aber in jedem Fall die Verhinderung
der Bodenspekulation. Verlierer wären viele Ortsansäs-
sige, die oft direkt oder indirekt von den Einkommens-
möglichkeiten in der Landwirtschaft abhängig sind. Ar-
beitsplätze, existenzsichernd bezahlt, sind in den
ländlichen Räumen überlebenswichtig. Dörfer ohne
Landwirtschaft sind undenkbar – eine Landwirtschaft
ohne Dörfer allerdings auch.
Aber die BVVG ist für die Entwicklung des Boden-
marktes nicht allein verantwortlich. Auch viele kleinere
Landbesitzer verkaufen ihren Grund und Boden, zum
Teil weil sie aus ihrer sozialen Situation heraus dazu ge-
zwungen sind, zum Teil weil die gestiegenen Boden-
preise einen Anreiz selbst darstellen.
Mit dem Grundstückverkehrsgesetz hat der Gesetzge-
ber ein Instrument geschaffen, um ungewollte Eingriffe
in die Agrarstruktur über Bodenverkäufe zu verhindern.
Die Linke hat gerade eine Studie zur Anwendung des
Grundstückverkehrsgesetzes anfertigen lassen, die unter
anderem etwas umfassender die Entwicklung auf den
Bodenmärkten nachzeichnet. Dabei wird deutlich, dass
das vor 50 Jahren in Westdeutschland verabschiedete
Gesetz sehr wirksam angewendet werden kann gegen
ungerechte Bodenverteilung und Bodenspekulation.
Auch aktuelle Entwicklungen in der EU-Rechtsspre-
chung erlauben durchaus staatliche Eingriffe und Rege-
lungen, damit Grund und Boden nicht zu einer Spekula-
tionsware verkommen.
Finanzheuschrecken und andere nichtlandwirtschaft-
liche Interessenten sind oft weitaus besser in der Lage,
Höchstpreise für Boden zu bezahlen. Das ist historisch
auch nichts Neues.
Genau das war der Sinn des Grundstückverkehrsge-
setzes: der Landwirtschaft als eigenem Wirtschaftsbe-
reich, dessen Grundlage die Flächennutzung ist, dauer-
haft die Existenzsicherung zu ermöglichen. Nur ist
dieses Gesetz offensichtlich seit 1990 in den neuen Bun-
desländern nur unzureichend oder gar nicht zur Anwen-
dung gekommen.
Eine weitere Erkenntnis aus dem Gutachten: das Ver-
kaufsgebaren der BVVG muss dringend überprüft wer-
14090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
den. Und eines steht auch fest: Die BVVG ist auch als
staatliche Behörde nicht per se vom Grundstückver-
kehrsgesetz befreit.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Entwicklung zukunftsfähiger ländlicher Räume in
Deutschland ist eine zentrale Aufgabe, der wir uns in der
Politik gegenübersehen. Schließlich gibt uns die Verfas-
sung auf, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Re-
gionen dieser Republik anzustreben. Angesichts der Tat-
sache, dass der Anteil der alten Menschen in unserer
Gesellschaft stetig zunimmt und dass verhältnismäßig
mehr Alte in ländlichen als in urbanen Regionen leben,
sind wir mit der großen Herausforderung konfrontiert,
die politischen Rahmenbedingungen so zu gestalten,
dass diese Menschen auf dem Lande auch in Zukunft
noch lebenswerte Strukturen vorfinden.
Lebenswerte Strukturen im ländlichen Raum, das sind
vor allem Arbeit und Daseinsvorsorge. Die Politik muss
also die Steigerung der regionalen Wertschöpfung zum
Ziel haben, und zwar durch Schaffung zusätzlicher Ar-
beitsplätze und neuer Einkommensperspektiven. So
kann es auch gelingen, wieder mehr junge Menschen auf
dem Lande zu halten. Dabei darf man nicht nur den seit
Jahren wachsenden Dienstleistungsbereich im Blick ha-
ben, sondern das gilt auch für die Land- und Forstwirt-
schaft, die die ländlichen Räume als gewachsene Kultur-
landschaften in besonderer Weise prägen.
Voraussetzung für jeden erfolgreich wirtschaftenden
Landwirtschaftsbetrieb ist die ausreichende Verfügbar-
keit des zu bearbeitenden Bodens. Mit dem Steigen der
Preise für agrarische Rohstoffe – erstmals seit Jahrzehn-
ten – gerät der Boden zunehmend in den Fokus auch
landwirtschaftsferner Kaufinteressenten. Und auch in-
nerhalb der land- und forstwirtschaftlichen Konkurrenz
wird der Boden zunehmend zu einem knappen Gut, was
seinen Marktpreis nach oben schnellen lässt.
Die hohen Bodenpreise in Verbindung mit dieser
Konkurrenzsituation wirken sich auf den Strukturwandel
in der Landwirtschaft insofern aus, als sich Wertschöp-
fung auf immer weniger Akteure konzentrieren wird und
Arbeitsplätze weiter abgebaut werden. Eine verantwor-
tungsvolle Politik für ländliche Räume aber muss auf
den Erhalt einer Agrarstruktur setzen, die zur Mehrung
der Wertschöpfung für viele beiträgt und Arbeitsplätze
für die Menschen vor Ort initiiert.
Nur wenn ortsansässige Betriebe über die nötige Flä-
che für ein existenzsicherndes Wirtschaften verfügen,
kann die steigende Tendenz der Betriebsaufgaben aufge-
halten und eine vielfältige Agrarstruktur erhalten wer-
den. Wirtschaftlich solide Agrarbetriebe, die regional
verwurzelt sind, sind ein Rückgrat der ländlichen Ent-
wicklung. Deshalb müssen diese Betriebe die Chance er-
halten, ihre Flächen arrondieren zu können, wenn Boden
in der Region angeboten wird.
Bei der Frage der Bodenverkäufe kommt dem Bund
eine besondere Verantwortung zu, da er noch circa
535 000 Hektar landwirtschaftliche und circa 130 000 Hek-
tar forstwirtschaftliche Nutzfläche zur Privatisierung be-
reithält.
Mit unserem Antrag, die Bodenprivatisierung neu
auszurichten, setzen wir uns für eine Neugestaltung der
politischen Rahmenbedingungen bei der Privatisierung
bundeseigener Land- und Forstwirtschaftsflächen ein.
Wir fordern mit unserem Antrag, dass vor allem orts-
ansässige land- und forstwirtschaftliche Betriebe zum
Zuge kommen und arbeitsintensive Unternehmen bei der
Vergabe bundeseigener Flächen besonders berücksich-
tigt werden. Dazu gehören beispielsweise Tierhaltungs-
betriebe mit einer flächengebundenen Tierhaltung von
maximal 2 Großvieheinheiten (GV) pro Hektar, Be-
triebe, die Ökologischen Landbau betreiben, oder diver-
sifizierende Betriebe, die neben ihrer landwirtschaftli-
chen Tätigkeit mindestens einen weiteren Betriebszweig
wie Direktvermarktung oder „Urlaub auf dem Bauern-
hof“ etabliert haben. Um Betriebe, die diese Kriterien
zum Zeitpunkt des Landerwerbs noch nicht erfüllen,
nicht zu benachteiligen, wollen wir die Vorlage eines
entsprechenden Betriebskonzeptes zur Grundlage der
Verkaufsverhandlung machen, so wie es bereits heute in
der Flächenerwerbsverordnung geregelt ist.
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den
Anträgen: Indisch-Deutschen Studierenden-
und Wissenschaftleraustausch fördern –
Mobilitätsprogramm zum Jahr der Geistes-
wissenschaften in Deutschland
– Antrag: Indisch-Deutschen Studierenden-
und Wissenschaftleraustausch fördern –
Mobilitätsprogramm zum Jahr der Geistes-
wissenschaften in Deutschland
(Tagesordnungspunkt 29 a und b)
Marcus Weinberg (CDU/CSU): Der erst seit dem
22. November 2007 vorliegende Antrag der FDP (16/7262)
ist mit der Annahme des Koalitionsantrages (16/6945) zum
jetzigen Zeitpunkt überholt und eine Debatte daher un-
nötig.
Deutschland braucht mehr Nachwuchs mit Indien-
Kompetenz, das ist der Grundgedanke der vorgelegten
Anträge: „Indisch-Deutschen Studierenden- und Wissen-
schaftleraustausch fördern – Mobilitätsprogramm zum
Jahr der Geisteswissenschaften in Deutschland“. Der
Antrag der Koalitionsfraktionen unterscheidet sich von
den Anträgen der anderen Fraktionen insbesondere
durch entwicklungspolitische Komponenten. Zudem
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14091
(A) (C)
(B) (D)
nimmt er aktuell Bezug auf die Indien-Reise der Bundes-
kanzlerin (29. Oktober bis zum 1. November 2007).
Die gemeinsame Delegationsreise des Bildungsaus-
schusses war sehr erfolgreich, besonders vor dem Hin-
tergrund der Einmaligkeit der Wissenschaftsminister-
konferenz außerhalb der EU, der Vereinbarungen
zwischen Bundesministerin Schavan und dem indischen
Wissenschaftsminister Sibal, über 500 000 Euro im Rah-
men des 7. Europäischen Forschungsrahmenprogramms
für Anbahnungsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen,
sowie der Vereinbarungen zum Aufbau eines deutsch-in-
dischen Wissenschafts- und Technologiezentrums.
In Indien habe ich ein starkes Interesse an der Zusam-
menarbeit mit Deutschland festgestellt. Dieses Interesse
und das hohe Ansehen, das Deutschland in Indien hat,
müssen wir nutzen, denn von der gegenseitigen Mobili-
tät und vom Austausch können beide Seiten profitieren.
Daher ist zu begrüßen, dass die Bundeskanzlerin,
Dr. Angela Merkel und die Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung, Dr. Annette Schavan, im Jahr 2007
die Bedeutung Indiens als Kooperationspartner unterstri-
chen und mit der Einleitung konkreter Maßnahmen vor
Ort den bilateralen Wissenschaftsbeziehungen neue Im-
pulse verliehen haben, zum Beispiel Verabschiedung der
mobilen Wissenschaftsausstellung, sogenannter Science-
Express.
Der Vernetzung junger indischer Wissenschaftler mit
deutschen Kollegen sowie der laufenden Angebote und
der konkreten Einbindung der Gäste in Forschungspro-
jekte und wissenschaftliche Einrichtungen wird mit
Recht eine hohe Bedeutung zugemessen.
Vor diesem Hintergrund wird die Bundesregierung auf-
gefordert, in Zusammenarbeit mit den Wissenschafts- und
Mittlerorganisationen, wie der Deutschen Forschungsge-
meinschaft (DFG), der Alexander-von-Humboldt-
Stiftung (AvH) und dem Deutschen Akademischen Aus-
tauschdienst (DAAD), den deutsch-indischen Studieren-
den- und Wissenschaftleraustausch vor allem in den
Geisteswissenschaften durch ein Mobilitätsprogramm zu
fördern.
Die Delegationsreise zeigte allerdings auch Mängel in
der deutsch-indischen Zusammenarbeit auf. Ein Aufent-
halt indischer Studierender in Deutschland beispiels-
weise scheitert häufig an den eingeschränkten finan-
ziellen Mitteln. Deutschland ist aber für indische
Wissenschaftler nur dann attraktiv, wenn ihnen langfris-
tige Arbeits- und Aufenthaltsmöglichkeiten eröffnet
werden. Ferner tendiert die Fachauswahl indischer Stu-
dierender stark in Richtung mathematisch-naturwissen-
schaftlicher Fächer. Andererseits nehmen zu wenig
deutsche Studierende aller Fachrichtungen einen Stu-
dienaufenthalt in Indien war.
Derzeit sind in Indien lediglich knapp 500 deutsche
Studierende registriert. 1996 waren es sogar nur 200.
Umgekehrt waren vor einigen Jahren noch 800 indische
Studentinnen und Studenten in Deutschland eingeschrie-
ben, heute sind es rund 4 000. Hier ist eine Verdoppe-
lung der Zahlen anzustreben.
Diese und viele andere ambivalenten Eindrücke wäh-
rend der Indienreise haben mich überzeugt, Initiativen
zur Verbesserung der Nachhaltigkeit der Kooperationen
zu ergreifen und diese zu fördern. Deutsche Studierende
müssten bereits in Deutschland die Chance haben, ihre
„Indienkompetenz“ an Lehrstühlen der Indologie zu ent-
wickeln. In diesem Zusammenhang fordern wir die Bun-
desregierung auf, Gespräche mit Vertretern von Unter-
nehmen zu führen und für die Kooperation zwischen
Wirtschaft und Hochschulen, das Angebot von Praktika
und anschließende Arbeitsmöglichkeiten sowie die Ein-
richtung von Stiftungslehrstühlen für Indologie zu wer-
ben. Die Bundesländer werden gebeten, die Möglichkei-
ten eines Schüleraustausches zwischen Deutschland und
Indien zu prüfen.
Eine besondere Bedeutung kommt der Stärkung der
Zusammenarbeit im Bereich der Umwelttechnologien
zu; aber neben Ingenieuren und Naturwissenschaftlern
ist auch eine Intensivierung des Austausches und der
Kooperation von Geistes- und Sozialwissenschaftlern er-
forderlich. Unter Bezug auf das „Jahr der Geisteswissen-
schaften“ in Deutschland plädiere ich ausdrücklich für
eine Intensivierung des Austausches und der Koopera-
tion von Geistes- und Sozialwissenschaftlern, wie im
Koalitionsantrag und den Oppositionsanträgen gefor-
dert. Ziel ist es, deutsche Studierende aller Fachrichtun-
gen und Studiengänge – Diplom-, Magister-, Staats-
examens-, Bachelor- und Masterstudiengänge, auch
Doktoranden und Wissenschaftler – für einen Studien-
oder Forschungsaufenthalt in Indien zu begeistern. Auf
diese Weise soll eine breite „Humusbildung“ möglichst
schon bei jüngeren Studierenden und Nachwuchsfor-
schern betrieben werden, auf die weiterführende Pro-
jekte aufbauen können.
Als flankierende Maßnahmen sind unter anderem In-
dien-Tage an deutschen Hochschulen, Plakataktionen,
Informations- und Studienreisen zu planen. Bestehende
und neu zu gründende Kooperationsbeziehungen deut-
scher und indischer Hochschulen und Forschungsein-
richtungen sowie Kontakte einzelner Wissenschaftler,
zum Beispiel DAAD- und AvH-Alumni, sollen als
Schiene genutzt werden, Studierenden und Graduierten
den Weg zu kürzeren und längeren Studien- und For-
schungsaufenthalten in Indien zu bereiten. Gerade be-
währte Muster wie ISAP (Internationale Studien- und
Ausbildungspartnerschaften) oder PPP (Programme des
Projektbezogenen Personenaustauschs) sollen hier als
Grundlage dienen. Das Angebot soll für alle Fachberei-
che offen sein.
Viele Ideen, die der Koalitionsantrag, aber auch die
Oppositionsanträge enthalten, werden bereits durch das
auf Bitten des BMBF im Frühjahr 2007 vom DAAD
vorgelegte Maßnahmenpaket „A New Passage to India“
verwirklicht. Dieses Maßnahmenpaket mit einem Fi-
nanzvolumen von insgesamt rund 4,3 Millionen Euro
14092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(A) (C)
(B) (D)
soll ab 2009 operationalisiert werden; dies wurde am
30./31. Oktober 2007 in Delhi bekanntgegeben.
Zu dem Maßnahmenpaket gehören neben der Aner-
kennung der Studien- und Forschungsaufenthalte als re-
gulären Bestandteilen des Studiums die Errichtung bina-
tionaler Masterstudiengänge, Doppeldiplomen sowie die
Errichtung eines Exzellenz-Zentrums „Ingenieur- und
Umweltwissenschaften“ am „Indian Institute of Techno-
logy“ (IIT) in Madras. Hier sollen deutsch-indische
Forschungsprojekte umgesetzt sowie Kooperationen ko-
ordiniert werden. Außerdem sollen an deutschen Hoch-
schulen Zentren für zeitgenössische Indologie gegründet
werden.
Die deutschen Hochschulen, Forschungsinstitute oder
Wissenschaftler können Fördermittel beantragen für die
Studienaufenthalte ihrer jeweiligen Studierenden – Sti-
pendien und Reisekostenpauschalen gemäß den üblichen
Raten des DAAD – sowie Mittel für die ausländische
Partnerhochschule zur Betreuung der entsandten deut-
schen Studierenden während des Aufenthaltes in Indien.
Die Geförderten erhalten für ihren Aufenthalt – bis zu ei-
nem Jahr – von der Partnerhochschule einen Leistungs-
nachweis. Die fachliche und allgemeine Betreuung der
entsandten deutschen Studierenden wird zwischen Hei-
mat- und Gasteinrichtungen abgestimmt.
Die deutsch-indischen Wirtschaftsbeziehungen ha-
ben sich in den letzten Jahren besonders dynamisch ent-
wickelt. In nur drei Jahren, 2004 bis 2006, ist es gelun-
gen, den bilateralen Handel von 5 Milliarden Euro auf
10,4 Milliarden Euro zu verdoppeln. Auch bei den Di-
rektinvestitionen können wir eine weitere Belebung fest-
stellen – erfreulicherweise in jüngster Zeit auch von In-
dien nach Deutschland. Allerdings sind die Potenziale
hier bei weitem nicht ausgeschöpft: Konsequenterweise
haben beide Regierungschefs im Rahmen des Indien-Be-
suchs der Bundeskanzlerin Ende Oktober 2007 verein-
bart, eine weitere Verdopplung des Handelsvolumens bis
2012 anzustreben.
Eine Intensivierung des Wissenschaftleraustauschs
zwischen unseren Ländern kann auch einen wichtigen
Beitrag zum Aufbau der wirtschaftlichen Zusammenar-
beit leisten. Längere Lern- und Forschungsaufenthalte
führen erfahrungsgemäß zu einer besonders engen Bin-
dung an das Gastland, die auch nach Rückkehr in das
Heimatland fortwirkt. Darüber hinaus kann ein solcher
Aufenthalt auch zu einer engeren institutionellen Zusam-
menarbeit von Wissenschafts- und Forschungseinrich-
tungen in beiden Ländern beitragen. Dort, wo Forschung
unternehmensnah stattfindet, können Forschungsergeb-
nisse überdies direkt den beteiligten Unternehmen zu-
gute kommen.
Ulla Burchardt (SPD): Heute liegen zur abschlie-
ßenden Beratung insgesamt vier Anträge mit derselben
Zielsetzung vor: den Indisch-Deutschen Studierenden-
und Wissenschaftleraustausch im Allgemeinen und den
Austausch von Geisteswissenschaftlern im Besonderen
mit einem Mobilitätsprogramm zu fördern.
Ich möchte zunächst kurz auf ihre Vorgeschichte ein-
gehen. Der Bildungs- und Forschungsausschuss hat in
den vergangenen Jahren bewusst Länder im Umbruch,
Schwellenländer als Ziele seiner Delegationsreisen aus-
gewählt, um die Potenziale aber auch Hindernisse von
Kooperationen in Bildung, Wissenschaft und Forschung
und Möglichkeiten ihrer Förderung auszuloten. Im Jahr
2004 besuchte er China, und für den Herbst 2007 war
eine Reise nach Indien vorgesehen.
Das „Indienjahr“ 2006 in Deutschland und vor allem
das Jahr 2007 spielten eine herausragende Rolle für die
Weiterentwicklung der strategischen Partnerschaft zwi-
schen Deutschland und Indien. Vor dem Hintergrund der
deutschen EU-Ratspräsidentschaft und des Ziels, auch
die deutsch-indischen Partnerschaften in Bildung, Wis-
senschaft und Forschung zu stärken, besuchte die Bil-
dungs- und Forschungsministerin im Februar und die
Bundeskanzlerin im Oktober Indien.
Wir haben die Einladung von Frau Schavan daher
gerne angenommen, denn die gemeinsame Reise einer
großen politischen, Wissenschafts- und Wirtschaftsdele-
gation setzt ein eindrucksvolles Zeichen, dass Deutsch-
land über die Grenzen von Regierung und Parlament,
über die Grenzen von Fraktionen hinweg stark an einer
Vertiefung der indisch-deutschen Kooperationen interes-
siert ist.
Indien ist als größte Demokratie der Welt dabei, die
Schwelle zu überspringen. Aber ein Land mit circa
1,1 Milliarden Einwohnern, wovon knapp ein Viertel un-
terhalb der Armutsgrenze von einem US-Dollar lebt, das
Durchschnittseinkommen pro Person und Tag bei etwa
1,5 US-Dollar liegt, 35 Prozent der Erwachsenen An-
alphabeten sind, Hightechzeitalter und mittelalterliche
Agrarstrukturen nebeneinander existieren, braucht Part-
ner, um die eigenen Ressourcen ausschöpfen zu können.
Deutschland könnte in Zukunft als Kooperationspartner
eine größere Rolle spielen als bisher.
Ich kann mir der Zustimmung der gesamten Aus-
schussdelegation sicher sein, wenn ich hervorhebe, dass
unsere Delegationsreise sehr erfolgreich war. Aufgrund
der Ergebnisse der zahlreichen offiziellen und informel-
len Gespräche mit Vertretern deutscher Forschungs- und
Mittlerorganisationen, der Begegnungen mit hochmoti-
vierten indischen Studierenden und Wissenschaftlern hat
die Delegation bereits während der Reise beschlossen,
sich mit einem gemeinsamen Antrag für die Stärkung
des Studierenden- und Wissenschaftleraustausches zwi-
schen Indien und Deutschland einzusetzen.
Bildung, Wissenschaft und Forschung, eine aufge-
klärte Wissensgesellschaft gehören mit zu den zentra-
len Grundlagen für Wirtschaftswachstum und nachhal-
tige Entwicklung. Wirtschaft und technologische
Leistungsfähigkeit des Boom-Landes Indien entwi-
ckeln sich rasant. Indien erbringt in den IuK-Technolo-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14093
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gien, der Raumfahrt und der Biotechnologie Spitzen-
leistungen. Das BIP ist 2006/2007 um 9,2 Prozent
gewachsen. Über 10 Millionen Studierende lernen an
den Hochschulen.
Aber: Das indische Hochschulsystem wird die interne
Nachfrage nach universitärer Bildung nicht befriedigen
können. Zurzeit studieren bereits über 150 000 indische
Studierende vorwiegend im englischsprachigen Ausland.
Die prognostizierte „demografische Dividende“ im Jahr
2020 bis 325 Millionen potenzielle Arbeitskräfte im Al-
ter von 20 bis 35 Jahren – zahlt sich nur aus, wenn die
Kluft zwischen dem rasant steigenden Bedarf an qualifi-
zierten Arbeitskräften und der Zahl tatsächlich gut aus-
gebildeter Fachkräfte überbrückt werden kann. Der
Fachkräftebedarf wird sich beim Aufbau und der Siche-
rung der Infrastruktur, in den Bereichen Energie, Um-
welt und Verkehr mittelfristig drastisch erhöhen.
Die Beziehungen zwischen Indien und Deutschland
sind traditionell gut. Wir konnten uns überzeugen, dass
die Deutsche Botschaft, die DFG, die MPG, der DAAD
und die AvH vor Ort hervorragende und engagierte Ar-
beit leisten. Aber sie brauchen Unterstützung. In
Deutschland studieren knapp 4 000 Inder, in Indien be-
trägt die Anzahl deutscher Studierender nicht einmal ein
Zehntel davon. Die Sozial- und Geisteswissenschaften
spielen bei den Studienaufenthalten und Austauschpro-
grammen bisher keine wesentliche Rolle.
Die USA räumen der Kooperation mit Indien höchste
Priorität ein, Großbritannien macht 12 Millionen Pfund
„fresh money“ in drei Jahren zusätzlich für Bildungs-
und Forschungskooperationen mit Indien locker. „The
window of opportunity“ ist weit offen. Es ist gut, dass
der Science Express in Indien auf der Schiene ist und in
zahlreichen indischen Städten deutsche Hightech zeigt
und junge Leute über wissenschaftliche Themen und
Ausbildungsmöglichkeiten in Indien und Deutschland
informiert und die Einrichtung des deutsch-indischen
Wissenschafts- und Technologiezentrums unmittelbar
bevorsteht.
Die vorliegenden Anträge haben wichtige Anregun-
gen aus dem Kreis der Mittler- und Forschungsorganisa-
tionen berücksichtigt. Das Interesse für ein Land muss
bereits in den Schulen geweckt werden. Hier erreicht
man die meisten Menschen eines Jahrgangs. Die An-
sprache der jungen Menschen in Indien und Deutschland
muss direkt und konkret erfolgen, um die Hemmschwel-
len abzusenken. Daher begrüße ich das Angebot kurzzei-
tiger Orientierungsaufenthalte als Einstieg, die Einbin-
dung von Studierenden und Wissenschaftlern in Projekte
und Maßnahmen zu ihrer Vernetzung.
Das reicht aber noch nicht. Nachhaltigen Erfolg kön-
nen Anbahnungsmaßnahmen und Austauschprogramme
auf beiden Seiten nur haben, wenn es gelingt, die Einrei-
semodalitäten zu erleichtern, eine umfassende Betreuung
für Erstaufenthalte zu gewährleisten, das Stipendienange-
bot für Inder zu vergrößern, langfristige Aufenthalts- und
Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen, englischsprachige Stu-
diengänge in Deutschland auszuweiten, die Indologie in
Deutschland zu stärken und um Aspekte des modernen
Indiens zu erweitern und die Wirtschaft in die Koopera-
tions- und Austauschprogramme einzubinden.
Alle Anträge sind im Prinzip zustimmungswürdig. Ei-
nige Zahlen im Koalitionsantrag sind auf einem neueren
Stand, und er konnte noch aktuelle Entwicklungen ein-
beziehen. Wir halten uns an die Vereinbarungen mit un-
serem Koalitionspartner und werden deshalb die Anträge
der Oppositionsfraktion ablehnen. Das ist von der Sache
her sehr bedauerlich, denn alle Fraktionen sind sich ei-
nig. Ein interfraktioneller Antrag wäre der bessere, weil
inhaltlich angemessene Weg gewesen.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Der Präsident der
Helmholtz-Gemeinschaft, Prof. Jürgen Mlynek, zeigte
sich nach einer Indienreise im April diesen Jahres glei-
chermaßen überrascht von den technologischen Fort-
schritten wie von den riesigen Problemen im Bildungs-,
aber auch im Gesundheitsbereich, die dieses Land
prägen. Er sprach von einer Aufholjagd, die zu fördern
sei.
Die Reise unseres Ausschusses, die ein Teil der Mit-
glieder des Bildungs- und Forschungsausschusses im Fe-
bruar gemeinsam mit der Wissenschaftsministerin Schavan
unternahm, hat uns alle ebenso beeindruckt. Indien wird
aus europäischer Sicht als Boomregion mit einem zwei-
stelligen Wirtschaftswachstum, mit einem schier uner-
schöpflichen Arbeitskräftepotenzial und mit einer aufstre-
benden technologischen Leistungsfähigkeit etwa in der
Raumfahrt, der IT-Branche oder der Energietechnologie
wahrgenommen. Wir haben auf der Reise die Indian Insti-
tutes gesehen, die wie britische oder amerikanische Eli-
teunis angelegt und auch ausgestattet sind. Die Studieren-
den, mit denen wir dort diskutiert haben, waren froh, die
Auserwählten zu sein, und hatten ihre beruflichen Ziele
fest im Auge. Wie der DAAD berichtet, wollen immer
noch viele von ihnen nach einer Studienaufnahme in In-
dien das Land in Richtung USA oder Großbritannien ver-
lassen, um dort einen international besser anerkannten
Abschluss zu ergattern.
Doch die Kapazitäten dieser und anderer Hochschu-
len in Indien genügen an keiner Stelle, obwohl ein Stu-
dium häufig die einzige Möglichkeit für eine berufliche
Qualifikation ist. An den viel schlechter ausgestatteten
„normalen“ Hochschulen und Colleges kommen immer
noch 80 Ablehnungen auf eine Zulassung. Insgesamt
studieren nur etwa 7 Prozent eines Jahrgangs – das sind
in diesem großen Land gut 10 Millionen Menschen –,
die allermeisten in Bachelorstudiengängen vergleichbar
unserer Berufsausbildung. Für die benachteiligten Volks-
gruppen und -stämme halten Hochschulen eine be-
stimmte Anzahl von Studienplätzen frei. Dass der Vor-
schlag des Bildungsministers Arjun Singh im letzten
Jahr, diese Quoten auf die Indian Institutes auszuweiten,
mit Entrüstung zurückgewiesen wurde, zeigt die Spal-
tung der Gesellschaft im Hochschulbereich – und in der
Gesellschaft.
14094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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Erfahrungsberichte von deutschen Studierenden, die
in Indien einen Teil ihrer Studienzeit verbracht haben,
bestätigen diesen Eindruck. Übereinstimmend berichten
sie von weitgehend guten Bedingungen an den Eliteunis,
und zugleich wird vor dem Besuch einer „normalen“
Universität wegen der bürokratischen Hürden sowie der
schlechten Ausbildung eindringlich gewarnt.
Allerdings verhindert schon die Situation an den
Schulen eine breitere Beteiligung der Bevölkerung an
höheren Bildungsgängen. Ein Drittel der Bevölkerung,
vor allem auf dem Land, aber auch in den Slums der
Städte sind immer noch Analphabeten. Von Bildungsar-
mut betroffen sind besonders Frauen.
Ich will damit zeigen, wie stark die Gegensätze zwi-
schen dem wirtschaftlichen Boom im Kernbereich der
Städte und der Armut der Landbevölkerung bis auf den
Wissenschaftsbereich durchschlagen. Damit soll nicht
schwarzgemalt, sondern der reale Hintergrund einer Ko-
operation in Forschung und Lehre aufgefächert werden.
Denn Kooperation kann ja nicht heißen, wie DAAD-Prä-
sident Berchem im November verkündete, das riesige
Land als riesigen Markt zu sehen. Kooperation unter
ökonomisch so ungleichen Partnern bedeutet für die
Linke, gemeinsam an der Überwindung dieser Ungleich-
heit zu arbeiten.
Was können wir nun dafür tun? Unsere Gespräche mit
Vertretern geistes- und sozialwissenschaftlicher Einrich-
tungen, etwa der germanistischen und romanistischen
Abteilung der Delhi-Universität, zeigten, dass diese Fel-
der gegenüber den aufstrebenden Natur- und Technik-
wissenschaften deutlich geringer ausgestattet werden.
Dabei sind gerade diese Disziplinen in der Lage, die He-
rausforderungen eines solch dramatischen Um- und Auf-
bruchs, wie ihn Indien erlebt, zu begleiten und Politikbe-
ratung auf wissenschaftlich abgesichertem Niveau zu
betreiben.
Zudem wird Wissenschafts- und Forschungspolitik
zunehmend zur Außenpolitik. Denn wenn die Erfor-
schung der jeweiligen Landeskulturen besonders geför-
dert wird, verbessern sich mit steigendem Wissen bilate-
rale Beziehungen zwischen Ländern. Je genauer man
sich kennt, je mehr Forschungsergebnisse über das an-
dere Land vor Ort diskutiert und rückgekoppelt werden,
umso stärker strahlt diese Kooperation in andere Berei-
che der Gesellschaften aus.
Und hier muss unser Land zuerst vor der eigenen
Haustür kehren: Allgemein wird der Niedergang der so-
genannten kleinen Fächer beklagt. Davon ist auch die In-
dologie betroffen. Die Hochschulrektorenkonferenz be-
richtete, dass drei Standorte seit 1987 ganz weggefallen
sind. Es gibt zudem keinen einzigen Lehrstuhl für zeit-
genössische Indienstudien. Dazu kann ich nur sagen: Es
ist ja ehrenwert, dass die DFG den Austausch mit Indien
unter deutschen Sozial- und Geisteswissenschaftlern ge-
sondert fördert. Dazu muss allerdings auch jemand da
sein, der sich austauschen kann.
An dieser Stelle zeigt sich wieder einmal, wie falsch
die Föderalismusreform gestrickt ist; denn der Bund
kann gegen die Streichungsmaßnahmen der Länder nur
wenig unternehmen. Die Exzellenzinitiative verstärkt
eher noch das Sterben der kleinen Fächer, als dass diese
in die Profilbildung der Unis einbezogen werden. Da,
geehrte Frau Ministerin Schavan, haben Sie es in der
Hand, mit einer Förderung für kleine Fächer in Projekten
auch die Indologie wenigstens vor dem Aussterben zu
bewahren.
Die von den Fraktionen hier eingebrachten Anträge
formulieren zum Jahr der Geisteswissenschaften Pro-
jekte und Vorhaben, die sich nicht einfach als Selbstläu-
fer aus der wachsenden ökonomischen Verflechtung
zwischen Deutschland und Indien ergeben. Wir begrü-
ßen in dem Zusammenhang, dass das BMBF dem Deut-
schen Akademischen Auslandsdienst im November über
vier Millionen Euro zur Förderung von Auslandsstudien
Deutscher in Indien in Aussicht gestellt hat. Es ist rich-
tig, dass in Deutschland diese Studienleistungen leichter
anerkannt werden und Zentren für zeitgenössische Indo-
logie errichtet werden sollen. Die Bundesministerin ver-
rät uns sicher demnächst, wie sie das konkret umsetzen
will. Doch auch die Förderung der Studienaufenthalte
des indischen Nachwuchses in Deutschland sollte ange-
sichts rückläufiger Zahlen seit einigen Jahren nicht ver-
nachlässigt werden. Die äußerst schwierige finanzielle
Situation setzt die Hürden für viele indische Studierende
und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ungleich
höher als für Deutsche in Indien. Ein Aufenthalt in
Deutschland scheitert schnell an Reise- und Unterbring-
ungskosten.
Eine Anmerkungen muss ich zur Entstehung der vier
fast wortgleichen Anträge doch noch loswerden: Meiner
Fraktion wird manchmal vorgeworfen, wir würden Posi-
tionen von vorgestern vertreten. Das will ich nicht kom-
mentieren. Wenn aber die gleichen, die da am lautesten
rufen, zugleich mit Kalter-Kriegs-Manier ihren Fachpo-
litikerinnen die Mitzeichnung eines interfraktionell be-
reits fest vereinbarten Antrags verbieten, dann zeigt
dass, dass sie seit vorgestern die Augen vor der Politik-
entwicklung in diesem Land geschlossen halten. Schade
ist es um die aus der Reise entstandenen parteiübergrei-
fenden Impulse, die nun von allen Fraktionen einzeln
vertreten werden müssen.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der deutsch-indische Wissenschaftleraustausch
liegt allen am Herzen. Dies zeigen die vorliegenden
Fraktionsanträge, die fast alle wortgleich lauten. Wir
sind uns einig, dass wir mehr Stipendien für indische
Studierende brauchen, die in Deutschland Hochschulen
besuchen wollen. Insbesondere brauchen wir aber auch
Werbung und Unterstützung für Studierende aus
Deutschland, die Interesse an einem Auslandsaufenthalt
in Indien haben, und in Indien studieren wollen. Wir sind
uns auch einig, den Austausch von Nachwuchswissen-
schaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern zu stär-
ken. Hier sollte vor allem ein Förderschwerpunkt auf
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14095
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den Geisteswissenschaften liegen. Es ist lobenswert,
dass die Bundeskanzlerin auf ihrer Indien-Reise nun
schon einiges von dem umgesetzt hat, was wir bei unse-
rer Reise mit der Forschungsministerin als wichtig er-
kannt haben, so zum Beispiel das gemeinsame Zentrum
für Wissenschaft, Forschung und Technologie.
Es bleibt aber noch viel zu tun: Es fehlen noch Stif-
tungslehrstühle für Indologie mit Schwerpunkt auf dem
modernen Indien, für die die deutsche Wirtschaft zur
Kooperation mit interessierten Hochschulen gewonnen
werden muss. Bei der Schaffung von Praktikumsplätzen
und anschließenden Arbeitsmöglichkeiten für junge in-
dische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in
Deutschland ist die Wirtschaft auch gefragt. Genauso ge-
fragt ist aber auch die Bundesregierung, die Regelungen
im Aufenthaltsrecht so zu ändern, dass es für Hochquali-
fizierte leichter wird, in Deutschland zu arbeiten, ihre
Familie mitzubringen und sich auch selbstständig wirt-
schaftlich zu betätigen. Gerade für Hochqualifizierte ist
das eine notwendige Option.
In all diesen Punkten waren wir uns einig. Ein inter-
fraktioneller Antrag, wie wir auf unserer Delegierten-
reise mit Ministerin Schavan in Indien verabredet hatten,
wäre ein wichtiges Signal für den DAAD, die
Alexander-von-Humboldt-Stiftung und für die Wissen-
schafterinnen und Wissenschaftler im Kooperationsland
Indien gewesen. Ich finde es sehr bedauerlich, dass die
Union nicht über ihren Schatten springen kann mit ihrem
Grundsatzbeschluss, nie mit den Linken gemeinsame
Anträge zu tragen. Sie entscheidet sich stattdessen für ei-
nen kleinkarierten Parteienstreit. Dass diese gemeinsame
Initiative so endet, diskreditiert dieses für alle wichtige
Thema. Es sollte um Inhalte gehen, nicht um Attitüden.
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Defizite bei der
Umsetzung der Europa-Vereinbarung abstellen
(Tagesordnungspunkt 28)
Michael Stübgen (CDU/CSU): Am 22. September
2006 hat der Deutsche Bundestag nach mehrmonatigen
Gesprächen mit der Bundesregierung unter der Feder-
führung des Europaausschusses die Vereinbarung über
die Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Bundes-
tag und der Bundesregierung in Angelegenheiten der Eu-
ropäischen Union beschlossen. Der wichtigste Grund für
die Zusammenarbeitsvereinbarung war es, den Deut-
schen Bundestag zu einer aktiveren Rolle in der europäi-
schen Gesetzgebung zu befähigen und die im europäi-
schen Verfassungsvertrag – zukünftigem Vertrag von
Lissabon – verankerten neuen Rechte der nationalen Par-
lamente besser zu nutzen.
Das erste Ziel lautete daher, früher und besser unter-
richtet zu werden, das zweite war darauf gerichtet, die
Bundesregierung im europäischen Rechtssetzungspro-
zess aktiv zu begleiten, wohlwollend, aber auch kritisch,
ohne dabei die Kompetenzen oder die Handlungsspiel-
räume der Regierung einzuschränken. Es ging darum,
Leitplanken zu setzen für eine europäische Politik, in der
sich der Deutsche Bundestag – wie in einem Fußball-
spiel – als Mitspieler sieht, der etwas zum Ergebnis bei-
trägt, indem er Tore schießt und Eigentore verhindert
und nicht nur das Ergebnis beglaubigt. Nach dem ersten
Jahr können wir sagen: Wir hatten eine Reihe von gut
gelaufenen Trainingsspielen. Wir waren in der Regel
auch gut vorbereitet. Wir haben die Berichte und Ver-
merke der Bundesregierung gelesen. Wir haben als Bun-
destag dennoch nicht in allen Spielen geglänzt.
Nach einem Jahr BBV können wir sagen – da sind wir
uns ja auch fraktionsübergreifend einig –: Die Zusam-
menarbeit zwischen Bundestag und Bundesregierung ist
im vergangenen Jahr besser geworden. Dies gilt vor al-
lem für den Teil der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung. Dabei ist wahr, dass auch die Bundesregierung
ihre Anlaufschwierigkeiten hatte; so waren sich zum
Beispiel nicht alle Ressorts von Beginn an über die
neuen Aufgaben im Klaren. Und deshalb ist es auch
nicht verwunderlich, dass wir bei den sogenannten um-
fassenden Bewertungen für europäische Rechtssetzungs-
vorschläge erhebliche Lücken festgestellt haben und na-
türlich auch die Qualität der Berichte nicht immer
unseren Erwartungen entsprochen hat. Aber die Bundes-
regierung hat hier Besserung versprochen, nicht zuletzt
bei der Debatte im EU-Ausschuss am 19. September
2007.
Die neuen Instrumente für das Zusammenwirken bei-
der Verfassungsorgane an den europapolitischen Ent-
scheidungen, die Stellungnahmen in Verbindung mit
Art. 23 GG sowie – auf der Ebene der Bundesregierung –
den sogenannten Parlamentsvorbehalt könnten wir noch
deutlich häufiger in Anspruch nehmen, als das bislang
der Fall war.
Ich möchte aber auch noch einige konkrete Punkte
benennen, bei denen wir gemeinsam nachsteuern müs-
sen. Ich möchte beginnen mit der Unterrichtung des
Bundestages nach Ziffer I der Zusammenarbeitsverein-
barung. Die Unterrichtungspflicht der Bundesregierung
bezieht sich unter anderem auf „die Berichte der Ständi-
gen Vertretung über Sitzungen des Rates und der Ar-
beitsgruppen des Rates, der informellen Ministertreffen
und des Ausschusses der Ständigen Vertreter“ (I. 2. c.
der Vereinbarung). Die Übermittlung der Berichte an
den Bundestag funktioniert grundsätzlich gut. Die Be-
richte selbst weisen jedoch häufig große Defizite auf.
Dies gilt insbesondere für die Sitzungen des Ausschus-
ses der Ständigen Vertreter (AstV I und AstV II). Abge-
sehen von einer oft verklausulierten Sprache befindet
sich in den Berichten wiederholt ein Verweis auf Doku-
mente, Stellungnahmen oder Tagesordnungen mit dem
Hinweis: „Liegt in Berlin vor“. Diese Verweistechnik ist
nicht akzeptabel.
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Es handelt sich
um den Bericht über den Trilog zur Finanzierung des
14096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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Europäischen Technologieinstituts vom 19. Juni 2007;
der Bericht datiert vom 20. Juni 2007. In dem Bericht
heißt es: „KOM wolle die wichtige Frage der Finanzie-
rung so schnell wie möglich klären und lege daher ein
NON-Paper mit Optionen zur Finanzierung des EIT vor
(wurde erst kurz vor Beginn der Sitzung verteilt, liegt in
Berlin vor).“ Und etwas später: „Eine Einigung solle an-
hand der folgenden Elemente gefunden werden (Basis
Verhandlungsmandat des Rates, liegt in Berlin vor).“
Dieses schöne Beispiel zeigt wohl anschaulich, dass
die Berichte in dieser Form völlig unverständlich sind.
Es ist unbedingt erforderlich, dass die Bezugsdokumente
dem Bericht selbst als Anhang beigefügt werden. Glei-
ches gilt für die Tagesordnungen der Ratssitzungen, die
für die Vorbereitung insbesondere des EU-Ausschusses
von großer Wichtigkeit sind, da nur so eine sinnvolle
Entscheidung über die Notwendigkeit einer Ratsbericht-
erstattung getroffen werden kann.
Zu der Berichterstattung über die Ratsarbeitsgruppen-
sitzungen lässt sich noch ein wichtiger Punkt ergänzen.
Bislang erfolgt eine Berichterstattung nur, wenn Mitar-
beiter der Ständigen Vertretung aus Brüssel an den Sit-
zungen teilnehmen („Brüsseler Format“). Für Sitzungen,
die durch Vertreter der Ressorts wahrgenommen werden
(„Hauptstadtformat“), wird dem Bundestag kein und bei
„gemischt“ im „Brüsseler“ wie im „Hauptstadtformat“
tagenden Ratsarbeitsgruppen nur lückenhaft Bericht er-
stattet. Dies führt zu einem beträchtlichen Informations-
defizit auf der für Ratsentscheidungen maßgeblichen
Ebene der Arbeitsgruppen und ist unbedingt zu ändern.
Nur bei vollständiger Berichterstattung, das heißt bei
Zuleitung auch der Berichte im Hauptstadtformat, kann
der Bundestag den Sachstand zu einem Dossier umfas-
send bewerten. Nur so werden ihm nicht entscheidende
Teile der Verhandlungen vorenthalten.
Darüber hinaus ist es für den Bundestag und das neu
eingerichtete Verbindungsbüro des Bundestages in Brüs-
sel von großer Bedeutung, dass die Mitarbeiter des Bü-
ros an den ständigen Briefings, die in Brüssel durch den
Ständigen Vertreter Deutschlands bei der Europäischen
Union mit den Ländervertretern durchgeführt werden,
teilnehmen dürfen. Da die Briefings aber nicht immer
auf Einladung der Ständigen Vertretung stattfinden,
könnte ein eigenes Briefing für das Verbindungsbüro des
Bundestages das Problem lösen. Ein Recht des Bundes-
tages, in die Information der Ständigen Vertretung ein-
bezogen zu werden, ergibt sich aus Ziffer VII der
Zusammenarbeitsvereinbarung. Darin heißt es: „Die
Bundesregierung unterstützt über die Ständige Vertre-
tung und gegebenenfalls die bilaterale Botschaft im
Rahmen der gegebenen Möglichkeiten und soweit erfor-
derlich das Büro des Deutschen Bundestages in Einzel-
fragen im Hinblick auf seine Aufgaben.“ Unter das
„Büro des Deutschen Bundestages“ fallen natürlich nicht
nur die Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung, sondern
auch die Mitarbeiter der Fraktionen.
Darüber hinaus möchten wir Informationen darüber
erhalten, inwiefern die Bundesregierung den Bundestag
über eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gegen die
Bundesrepublik Deutschland informiert. Ein Anspruch
darauf ergibt sich aus Ziffer IV der Vereinbarung, worin
es heißt: „Die Bundesregierung unterrichtet den Deut-
schen Bundestag unverzüglich über Vorabentschei-
dungsverfahren und Gutachtenverfahren und diejenigen
Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof und dem
Gericht Erster Instanz, bei denen die Bundesrepublik
Deutschland Verfahrensbeteiligte ist. Zu Verfahren, an
denen sich die Bundesregierung beteiligt, übermittelt sie
die entsprechenden Dokumente. Dies gilt auch für Ur-
teile zu Verfahren, an denen sich die Bundesregierung
beteiligt.“
Der wichtigste Punkt, über den wir in dieser Debatte
aber zu reden haben, ist die Frage nach der Herstellung
des Einvernehmens nach Ziffer VI der BBV. Die Bun-
desregierung soll sich um das Einvernehmen bei Ände-
rungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen
Union und vor Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
mit dem Deutschen Bundestag bemühen, heißt es in der
Vereinbarung. Für die CDU/CSU-Fraktion sage ich hier
noch einmal ausdrücklich, dass wir uns nach den Irrita-
tionen vom Sommer im Zusammenhang mit dem Man-
dat des Europäischen Rates für die Erarbeitung des Lis-
sabonner Vertrages ein geordnetes und verlässliches
Verfahren hinsichtlich der Form und des Zeitpunktes der
Einvernehmensherstellung wünschen. Wir haben dazu in
Gesprächen mit der Bundesregierung auch einen konkre-
ten Vorschlag vorgelegt. Mein Eindruck ist, dass auch
die Bundesregierung eine für beide Seiten zufriedenstel-
lende Lösung anstrebt. Ich bin sehr zuversichtlich, dass
wir schon bald den Streit beenden können und zu einer
vernünftigen und für die Zukunft Missverständnisse ver-
meidenden Verständigung kommen werden.
Michael Roth (Heringen) (SPD): Die Vereinbarung
zwischen Bundestag und Bundesregierung über die Zu-
sammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen
Union ist seit Oktober vergangenen Jahres in Kraft. Sie
muss sich noch in der Praxis bewähren. Trotz mancher
Fortschritte sind wir noch nicht so weit, wie wir sein
könnten und sollten. Aber es hilft nicht, nur zu meckern.
Da machen Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen
der Grünen, es sich zu einfach: Wir alle sind bemüht,
den Weg zu einer besseren Zusammenarbeit zu finden.
Die Vereinbarung ist Bestandteil des Koalitionsver-
trages. Ihre Unterzeichnung war ein Meilenstein auf dem
Weg zur besseren Europatauglichkeit des Deutschen
Bundestages. Sie schafft die Voraussetzungen, mit denen
die in Art. 23 des Grundgesetzes verankerte Mitwirkung
des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen
Union wirksam umgesetzt werden kann.
In der Praxis hapert es bei der Umsetzung aber noch.
Viele der Mängel, die in dem Antrag der Grünen aufge-
führt werden, kann meine Fraktion durchaus bestätigen.
Aber wir sollten nicht nur der Bundesregierung allein
Defizite und Versäumnisse vorwerfen. Auch seitens des
Bundestages gibt es noch erheblichen Verbesserungsbe-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14097
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darf. Das Verfahren zur Sortierung der wichtigen und der
weniger wichtigen Dokumente wird gerade erst einge-
führt. Vom Recht, der Bundesregierung Vorgaben für
ihre Verhandlungen in Brüssel zu machen, machen wir
noch viel zu selten Gebrauch.
Enttäuschung hat häufig etwas mit überhöhten Erwar-
tungen zu tun. Ich rate eher zu einer nüchternen Selbst-
einschätzung unserer eigenen Kräfte und Möglichkeiten.
Wir haben mit der Vereinbarung zur Zusammenarbeit in
Angelegenheiten der Europäischen Union die Vorausset-
zungen geschaffen, um in der Europapolitik mehr
Verantwortung zu übernehmen. Aber das braucht natur-
gemäß Zeit. Wie gehen wir intern mit Vorlagen und Do-
kumenten um? Wie kooperieren Fachausschüsse und
Europaausschuss? Brauchen wir weitere Verfahrens- und
Strukturveränderungen? Notwendige Änderungen der
Geschäftsordnung stehen noch aus.
Auch die Bundesregierung muss ihre Abläufe auf die
neue Vereinbarung ausrichten. Gerade dort, wo Ratsar-
beitssitzungen in Brüssel durch Referenten aus Berlin
wahrgenommen werden, gibt es immer wieder Probleme
bei der Berichterstattung gegenüber dem Bundestag.
Hier sehe ich Nachbesserungsbedarf.
Aber an der grundsätzlichen Qualität der Vereinba-
rung darf kein Zweifel herrschen. Die Bundesregierung
hat mit dieser Vereinbarung den Bundestag entschieden
gestärkt. Welchen Fortschritt diese Vereinbarung dar-
stellt, zeigt sich an den neidischen Blicken vieler Abge-
ordneter anderer Mitgliedstaaten der EU und aus dem
Bundesrat. Zwischenzeitlich ist unser Modell Vorbild für
andere nationale Parlamente. Darauf sollten wir durch-
aus ein wenig stolz sein.
Wir sind bemüht, die Defizite bei der Umsetzung die-
ser Vereinbarung im konstruktiven Dialog mit der Bun-
desregierung abzuschaffen, seien es die fehlenden Draht-
berichte, die Zuleitung von Dokumenten in den
Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik oder auch die
stärkere Einbindung in vertragsändernde Verhandlun-
gen.
Alle Fraktionen des Bundestages haben die Vereinba-
rung gemeinsam verhandelt. Darin liegt ihre besondere
Qualität. In dieser zentralen Frage war es wichtig, ge-
genüber der Bundesregierung parteiübergreifend die
Stellung des Bundestages zu stärken. Umso mehr bedau-
ere ich, dass nun einige meinen, ihre Oppositionsrolle
gerade in dieser Frage ausleben zu müssen. Sie tun ja ge-
radezu so, als hätten Sie diese Vereinbarung nicht mit
unterzeichnet, und als wären nicht auch Sie an den Ge-
sprächen zur Umsetzung im Bundestag umfassend betei-
ligt, und als wüssten nicht auch Sie, dass viele der von
Ihnen kritisierten Punkte bereits mit der Bundesregie-
rung besprochen sind und eine Klärung in Arbeit ist.
Ob Sie mit Ihrem Antrag der besseren Umsetzung
wirklich dienen, wage ich zu bezweifeln. Das Gegenteil
ist der Fall. Und im Prinzip wissen Sie das auch. Wir
sollten am selbstbewussten Dialog mit der Regierung
festhalten. Bleiben wir alle an Bord, um unseren berech-
tigten Interessen weiterhin gemeinsam zum Durchbruch
zu verhelfen. Ihr Antrag leistet dazu leider keinen kon-
struktiven Beitrag.
Michael Link (Heilbronn) (FDP): Als am
22. September 2006 der Bundestag – endlich, zehn Jahre
nach dem Bundesrat – eine Vereinbarung mit der Bun-
desregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenhei-
ten der Europäischen Union schloss, feierten wir dies
alle als großen parlamentarischen Erfolg. Jedoch war
uns auch allen klar, dass diese Vielzahl an ausformulier-
ten Beteiligungs- und Informationsrechten für den Bun-
destag nur ein erster, wichtiger Schritt in der notwendi-
gen „Verbesserung der Europafähigkeit“ des Deutschen
Bundestages sein konnte. Denn bei der wesentlichen
Aufgabe, der Umsetzung der Vereinbarung, – sei es tech-
nischer oder politischer Art – befinden wir uns erst am
Anfang.
Es ist wichtig, dass der Deutsche Bundestag diesen
Prozess selbst- und auch regierungskritisch kontinuier-
lich verfolgt, damit er seinen Rechten und Pflichten bei
der Mitgestaltung der Europäischen Union – wie dies
auch das Bundesverfassungsgericht angemahnt hat – ge-
recht werden kann. Es ist deshalb richtig, dass der Deut-
sche Bundestag nach knapp über einem Jahr eine erste
Bilanz zur Umsetzung der Europa-Vereinbarung zieht.
Im Grundsatz teilen wir Liberalen dabei die Analyse der
Grünen (Antrag Drucksache 16/7139), dass viel erreicht
wurde, jedoch eine Reihe von Defiziten fortbestehen.
Diese gilt es, zügig zu beseitigen. Insbesondere sind
diese Versäumnisse der Informationsweitergabe im Be-
reich der zweiten und dritten Säule zu bemerken, was
besonders unverzeihlich ist, da gerade in diesen Berei-
chen auch das Europaparlament nicht oder nicht voll-
ständig als parlamentarisches Kontrollorgan in den Ge-
setzgebungsprozess eingebunden ist.
Bei der Betonung der Informationsrechte muss darauf
hingewiesen werden, dass es dem Deutschen Bundestag
nicht nur um die Quantität der Informationen geht. Denn
dass Menge nicht alles ist, mussten die Abgeordneten
schon durch Stapel von Akten und überlaufende E-Mail-
Briefkästen in ihren eigenen Büros erfahren. Wichtig ist
es, ein effizientes Filtersystem aufzubauen, um die we-
sentlichen Informationen herauszukristallisieren. Dabei
befinden wir uns mit dem Priorisierungsverfahren mei-
nes Erachtens auf dem richtigen Wege. Zweitens muss
der Bundestag nicht nur die wesentlichen Informationen
aus der Vielzahl herausfiltern, sondern auch aufpassen,
dass die „Qualität“ der „formalisierten“ Berichte, bei-
spielsweise der Drahtberichte, nicht abnimmt, indem die
essenziellen Informationen auf anderen Wegen weiterge-
geben werden, die nicht wörtlich unter die Vorgaben der
Vereinbarung fallen.
Nach einer intensiven Diskussion im EU-Ausschuss,
in der alle Fraktionen gegenüber der Bundesregierung
die bestehenden Informationsdefizite deutlich gemacht
haben, erwarten wir Liberalen, dass die Bundesregierung
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tatkräftig an der Beseitigung dieser Mängel arbeitet.
Durch Staatsminister Gloser und den Parlamentarischen
Staatssekretär Hintze wurde dies bereits von Regie-
rungsseite zugesichert.
Selbstkritisch ist anzumerken, dass der Bundestag
noch stärker lernen muss, mit den neu gewonnenen In-
formations- und Beteiligungsrechten effizient umzuge-
hen. So mutet es makaber an, dass die Bundesregierung
den Bundestag ermutigen muss, seine Beteiligungs-
rechte verstärkt wahrzunehmen. In diesem Punkt muss
der Bundestag sich an die eigene Nase fassen. Denn was
dient jegliche Information, wenn der Bundestag diese
nicht dazu benutzt, seiner Kernaufgabe in der Europapo-
litik, der Regierungskontrolle im Rat, gerecht zu wer-
den? Hierbei muss der Bundestag der Bundesregierung
mit größerer Entschlossenheit gegenübertreten. Dabei
sind vor allem die Regierungsfraktionen gefragt; denn
solange diese unabhängig von der Sachmaterie immer
nur die Bundesregierung im Rat stützen, ohne ihren par-
lamentarischen Kontrollpflichten nachzukommen, ver-
pufft der Nutzen der zusätzlichen Informationen.
Für uns Liberale hat es mit parlamentarischem Selbst-
verständnis zu tun, die rechtlichen Möglichkeiten des
Bundestages zur Mitgestaltung der EU – beispielsweise
eine Stellungnahme an die Bundesregierung nach
Art. 23 Abs. III des Grundgesetzes – auch zu nutzen.
Dabei geht es uns Liberalen nicht darum, den Ver-
handlungsspielraum der Bundesregierung derart einzu-
schränken, dass die Sprechzettel der deutschen Regie-
rungsvertreter in den jeweiligen Ratsformationen quasi
vom Parlament vorgegeben werden. Uns ist vielmehr
wichtig, dass der Deutsche Bundestag gerade bei großen,
wegweisenden Entscheidungen, die Deutschland lange
politisch oder finanziell binden, beispielsweise die EU-
Haushaltsrevision und bei wichtigen Einzelentscheidun-
gen wie der Vorratsdatenspeicherung, qualitativ in die
Entscheidungsfindung einbezogen wird. Dies wird dem
Deutschen Bundestag ausdrücklich durch die Europa-
Vereinbarung (BBV) zugesichert.
Vor diesem Hintergrund ist es besonders schlimm,
dass vor der Eröffnung der Regierungskonferenz zur Än-
derung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen
Union kein Einvernehmen mit den Fraktionen hergestellt
wurde. Dieser „Sündenfall“ bei der ersten, nach Ab-
schluss der Vereinbarung anstehenden substanziellen
Entscheidung ist nicht mehr rückgängig zu machen.
Wichtig ist nun, dass ein solches Versäumnis in Zukunft
nicht mehr geschieht, will sich der Deutsche Bundestag
in der Europapolitik endlich vom Rockzipfel der Bun-
desregierung lösen.
Wie wir alle wissen, hat dieser Vorfall viel Unmut
zwischen den Fraktionen ausgelöst. Zurückzuführen ist
dies unter anderem auf unterschiedliche Deutung des
Art. 6 BBV. Deshalb unterstützen wir Liberalen nach-
drücklich die Forderung der Grünen an die Bundesregie-
rung, eine Klärung zu diesem Artikel herbeizuführen,
mit der die Abläufe zur Herstellung des Einvernehmens
der Bundesregierung mit dem Bundestag vor Aufnahme
von Verhandlungen zur Vorbereitung von Beitritten zur
Europäischen Union sowie zur Aufnahme von Verhand-
lungen zur Änderung der vertraglichen Grundlagen der
Europäischen Union eindeutig festgelegt werden.
Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass wir
uns als Bundestag nicht auf die Informations- und Deu-
tungshoheit der Bundesregierung beschränken sollten.
Neben den Informationen aus dem neuen Verbindungs-
büro in Brüssel sollten wir uns auch stärker mit unseren
parlamentarischen Kollegen im Europaparlament vernet-
zen. Die FDP-Fraktion hat den engen Austausch mit den
liberalen Europaabgeordneten auch in einer gemeinsa-
men Arbeitsgruppe institutionalisiert, um damit eine
ständige zweite parlamentarische Informationsquelle zu
generieren.
Der Bundestag ist erst vor kurzem aus seinem Dorn-
röschenschlaf in der Europapolitik erwacht. Noch ist er
in der Wahrnehmung seiner Rechte nicht geübt, weshalb
es für eine abschließende Bewertung der BVV viel zu
früh ist. Deshalb sollte der Deutsche Bundestag in einem
Jahr eine weitere Evaluierung der Europa-Vereinbarung
durchführen und überprüfen, ob die Bundesregierung ih-
ren Verpflichtungen bei der Umsetzung nun vollständig
nachkommt oder gegebenenfalls der Deutsche Bundes-
tag im Sinne von Best-Practice-Vergleichen in Europa
weitere Anregungen aus Nachbarländern wie den Nie-
derlanden oder Schweden aufgreifen sollte, um seinen
Mitwirkungsrechten nach Art. 23 gerecht werden zu
können.
Alexander Ulrich (DIE LINKE): Selten hat ein An-
trag bei mir ein so zwiespältiges Empfinden hervorgeru-
fen wie dieser. Natürlich stimme ich, stimmt auch die
Fraktion Die Linke den wesentlichen Inhalten Ihres An-
trags zu. Das gilt für die positive Bewertung der Verein-
barung zwischen Bundestag und Bundesregierung, die
tatsächlich einen ganz wichtigen Fortschritt in unserer
europapolitischen Arbeit darstellt. Ich gebe zu, ich bin
auch ein bisschen stolz, an dem Abschluss dieser Verein-
barung mitgewirkt zu haben.
Richtig ist auch, dass die Möglichkeiten der Vereinba-
rung bei weitem noch nicht voll genutzt und umgesetzt
werden. Das liegt – das sollten wir nicht verschweigen –
auch daran, dass wir auf der Seite des Bundestags, im
EU-Ausschuss und in den Fraktionen, uns noch nicht ge-
nügend diese Möglichkeiten zu eigen gemacht haben.
Das sollten wir selbstkritisch auch anerkennen und an
praktischen Verbesserungen in unserem Verantwortungs-
bereich arbeiten.
Diese auch selbstkritische Sicht und auch die Aner-
kennung des Beitrags der Koalitionsfraktionen ändern
nichts daran, dass die Bundesregierung in mehrfacher
Hinsicht ihren Verpflichtungen aus der Vereinbarung nur
sehr unvollkommen nachkommt. Schlicht skandalös war
das Verhalten, das Mandat für die Regierungskonferenz
am Bundestag vorbei beschließen zu lassen und die Ver-
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handlungen um den Reformvertrag ohne Legitimation
durch den Bundestag zu beginnen. So etwas darf es nicht
wieder geben.
Kritikwürdig ist auch – da teilen wir die Stoßrichtung
des Antrags – die zögerliche und unvollständige Unter-
richtung des Bundestags, das Zurückhalten einer Vielzahl
von wesentlichen Hintergrunddokumenten und Vorarbei-
ten. Das muss entschieden anders werden. Es kann auch
nicht sein, dass einerseits eine Vielzahl von Beamten,
auch nicht wenige Pressevertreter, bestens und frühzeitig
informiert sind, ihnen interne Schriftstücke vorliegen,
dass andererseits aber die gewählten Volksvertreterinnen
und Volksvertreter erst zuletzt in den Besitz von Informa-
tionen und Dokumenten gelangen. Hier verlangen wir
umgehende und vollständige Abhilfe.
Ich bin allerdings nicht ganz sicher, ob es sinnvoll ist,
den vorliegenden Antrag sehr schnell zur zweiten Le-
sung ins Plenum des Bundestags zurückzugeben, um
hier eine Entscheidung herbeizuführen. Was soll hier
denn geschehen? Erwarten Sie ernsthaft eine parlamen-
tarische Mehrheit gegen die Bundesregierung? Oder
wollen Sie den Antrag mit seinen vernünftigen und vor-
wärtsweisenden Inhalten ablehnen und in der Versen-
kung verschwinden lassen?
Wir sind entschieden der Meinung, dass der in den
EU-Ausschuss überwiesene Antrag dort intensiv mit
dem Ziel der Einigung zwischen Oppositions- und Ko-
alitionsfraktionen behandelt werden muss. Wir hoffen
darauf, dass wir im Ausschuss und in Gesprächen mit
Regierungsvertretern – dem Wortlaut und dem Geist der
BBV entsprechend – die praktische Umsetzung der Ver-
einbarung einvernehmlich weiter voranbringen. Wenn
das gelingt, erübrigt sich eine zweite Plenardebatte über
den Antrag.
Eine letzte Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen:
Wenn die Grünen sich im Bundestag als Opposition dar-
stellen wollen, dann ist das Thema BBV ungeeignet. Das
ist kein Thema für öffentliche Polemiken. Die sind bei
anderen Themen geboten, zum Beispiel gegen eine Poli-
tik, die Europa an den Menschen und an ihren Interessen
vorbei gestalten will. Da wäre es doch viel besser gewe-
sen, wir hätten gemeinsam dafür gekämpft, den „Vertrag
von Lissabon“ einem Referendum zu unterwerfen und
die Voraussetzungen für eine Volksabstimmung zu
schaffen. Aber auch das kann ja immer noch geschehen.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Heute wird der EU-Reformvertrag unterzeichnet.
Er ermöglicht überfällige Reformen an der EU und
macht die EU handlungsfähiger. Er stärkt das Europäi-
sche Parlament und führt mit dem Bürgerbegehren ein
Element direkter Demokratie ein. Er macht die EU bür-
gernäher, transparenter und effizienter.
Trotz dieser Reformen bleibt der Bundestag für die
politische Legitimität der europäischen Institutionen
aber weiterhin sehr wichtig. Denn wir sind als Volksver-
treter gewählt, um die Regierung zu kontrollieren und
ihr Handeln zu legitimieren. Wir bilden wie auch das Eu-
ropäische Parlament eine direkte Verbindung zwischen
den Bürgerinnen und Bürgern vom Wahlkreis bis nach
Brüssel. Wir entscheiden gemeinsam mit der Bundesre-
gierung über die Europapolitik, und das ist im Grundge-
setz auch festgelegt.
Deshalb war die EU-Vereinbarung, die wir im letzten
Jahr gefeiert haben, so zentral. Mit ihr hat der Bundestag
längst überfällige Rechte erhalten, die es ermöglichen,
an den Rechten und Pflichten, die aus der deutschen Mit-
gliedschaft in der EU entstehen, mitzuwirken und mitzu-
entscheiden. Wir alle wissen, dass die damalige Situa-
tion nach den Neuwahlen von 2005 diese Vereinbarung
sehr stark begünstigt hat. Ein sehr weitreichendes Papier
der CDU/CSU-Fraktion, das noch aus Oppositionszeiten
stammte, ebnete den Weg. Und vier ehemalige Mitglie-
der des EU-Ausschusses standen nun für die Regierung
auf der Verhandlungsseite. So haben wir eine gute Ver-
einbarung treffen können, die dem Bundestag weitrei-
chende Informations-, Beteiligungs- und Mitwirkungs-
rechte in EU-Angelegenheiten einräumt. Zwar haben
andere nationale Parlamente in der EU, wie das
dänische, noch weiter reichende Rechte. Wir unterstüt-
zen aber diese Vereinbarung, so wie wir sie getroffen ha-
ben.
Mit der Vereinbarung haben wir bereits viel erreicht:
Wir haben Büros in Berlin und in Brüssel eingerichtet,
die uns mit zentralen Informationen versorgen und her-
vorragende Arbeit leisten. Wir haben in diesem Jahr über
das Strategie- und das Arbeitsprogramm der Europäi-
schen Kommission im Bundestag diskutiert und uns so
auf das kommende Jahr gut vorbereitet. Ich denke, wir
haben insgesamt den Bundestag für europäische Angele-
genheiten stark sensibilisiert.
Aber viele entscheidende Punkte der Vereinbarung
hält die Bundesregierung nicht ein. In einem unabhängi-
gen Monitoringbericht werden gravierende Mängel auf-
gezählt; Mängel, die verhindern, dass wir uns als Parla-
ment frühzeitig in EU-Angelegenheiten einbringen
können, Mängel, die dazu führen, dass der Bundestag
seiner Rolle zur Mitentscheidung und Mitgestaltung in
EU-Angelegenheiten nicht angemessen erfüllen kann.
Diese Mängel möchte ich anhand dreier Beispiele ver-
deutlichen.
Erstens. Es wurde kein Einvernehmen mit dem Bun-
destag vor Eröffnung der Regierungskonferenz gesucht.
Was heißt das? Die Vereinbarung besagt, dass die Bun-
desregierung mit dem Bundestag eine Einigung suchen
muss, bevor die zentrale Konferenz zur Änderung der
vertraglichen Grundlagen der EU eröffnet wird. Dies
war nicht der Fall. Wir wurden nur über die Eröffnung
informiert. Eine angekündigte Bundestagsdebatte hie-
rüber wurde kurzfristig abgesetzt. Bei der von uns dann
erzwungenen Debatte durfte über unsere Anträge nicht
abgestimmt werden. Der erste Praxistest der Vereinba-
rung ist also gescheitert.
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Zweitens. Wir erhalten nicht alle Dokumente, die wir
zur Kontrolle und Mitwirkung brauchen. Vor allem in
den Bereichen der Außenpolitik und der polizeilichen
und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen erhalten
wir gar nicht oder nur teilweise die nötigen Dokumente.
Die Vereinbarung legt eine fortlaufende und in der Regel
schriftliche Unterrichtung durch die Bundesregierung
fest, die aber nicht stattfindet.
Drittens. Wir erhalten nur lückenhafte Berichte über
die Ratsarbeitsgruppen. Nach der Vereinbarung sollen
wir Berichte über die Arbeitsgruppen des Ministerrates
erhalten, also des Gremiums, das in der EU vorrangig
Gesetze macht. Diese Berichte fallen jedoch lückenhaft
aus. Denn sie werden zunehmend in einem Format ver-
fasst, das wenig darüber Aufschluss gibt, was tatsäch-
lich in diesen Arbeitsgruppen besprochen wird. Da-
durch werden wir nicht ausreichend informiert über
Vorentscheidungen, die in diesen Gruppen getroffen
werden.
Deshalb fordern wir in unserem Antrag von der Bun-
desregierung, die EU-Vereinbarung vollständig umzu-
setzen. Wir fordern, den Unterrichtungspflichten voll-
ständig nachzukommen und uns alle für die Arbeit des
Bundestages notwendigen und vereinbarten Informatio-
nen zuzuleiten. Nur wenn die Vereinbarung mit Leben
erfüllt wird, können wir unsere Rechte und Pflichten in
EU-Angelegenheiten wahrnehmen.
Wir bedauern sehr, dass dieser Antrag kein interfrak-
tioneller Antrag geworden ist. Obwohl alle Fraktionen
unsere Kritik teilen, wurde unser Angebot, gemeinsam
für die Rechte des Parlaments zu kämpfen, abgelehnt.
Dies ist im Sinne eines bürgernahen demokratischen und
transparenten Europas sehr zu bedauern.
133. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21