Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14021
        (A) (C)
        (B) (D)
        Kinder entschlossen vor Vernachlässigung
        schützen (Tagesordnungspunkt 6)Dr. Tabillion, Rainer SPD 13.12.2007
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Jörn Wunderlich (DIE
        LINKE) zur Abstimmung über den Antrag:
        Ströbele, Hans-Christian BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        13.12.2007
        Strothmann, Lena CDU/CSU 13.12.2007
        Anlage 1
        Liste der entschuldi
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Ahrendt, Christian FDP 13.12.2007
        Bismarck, Carl-Eduard
        von
        CDU/CSU 13.12.2007
        Bülow, Marco SPD 13.12.2007
        Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 13.12.2007
        Dr. Däubler-Gmelin,
        Herta
        SPD 13.12.2007
        Dağdelen, Sevim DIE LINKE 13.12.2007
        Fischbach, Ingrid CDU/CSU 13.12.2007
        Gabriel, Sigmar SPD 13.12.2007
        Göppel, Josef CDU/CSU 13.12.2007
        Granold, Ute CDU/CSU 13.12.2007
        Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        13.12.2007
        Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        13.12.2007
        Irber, Brunhilde SPD 13.12.2007
        Jung (Konstanz),
        Andreas
        CDU/CSU 13.12.2007
        Kauch, Michael FDP 13.12.2007
        Kühn-Mengel, Helga SPD 13.12.2007
        Müller (Gera), Bernward CDU/CSU 13.12.2007
        Müntefering, Franz SPD 13.12.2007
        Ortel, Holger SPD 13.12.2007
        Rauen, Peter CDU/CSU 13.12.2007
        Rehberg, Eckardt CDU/CSU 13.12.2007
        Schaaf, Anton SPD 13.12.2007
        Schwabe, Frank SPD 13.12.2007
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        gten Abgeordneten
        Anlage 2
        Antwort
        der Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl auf die Frage
        des Abgeordneten Hans-Kurt Hill (DIE LINKE)
        (132. Sitzung, Drucksache 16/7433, Frage 26):
        Wie beurteilt die Bundesregierung die absehbaren Verzöge-
        rungen beim Börsengang des sogenannten weißen Bereichs der
        ehemaligen RAG, jetzt Evonik, aufgrund der krisenhaften Situ-
        ation auf den Finanzmärkten sowie die von Konzern und Stif-
        tung öffentlich diskutierte Erwägung, Aktienpakete an einzelne
        Investoren zu verkaufen, und die daraus resultierenden Folgen
        für das zu erwartende Vermögen der RAG-Stiftung?
        Die kohlepolitische Verständigung vom 7. Februar
        2007 und das Steinkohlefinanzierungsgesetz haben den
        Weg für einen Börsengang des RAG-Beteiligungskon-
        zerns, jetzt der Evonik Industries AG, frei gemacht. Die
        Bundesregierung hat sich klar für einen Börsengang des
        integrierten Beteiligungskonzerns und nicht für dessen
        Zerschlagung entschieden. Dies schließt nicht aus, dass
        Anteile an der Evonik Industries AG vor einem Börsen-
        gang bei einem dritten Investor platziert werden. Die
        Durchführung des Börsengangs einschließlich der Ent-
        scheidung über dessen Zeitpunkt und die Frage der Plat-
        zierung von Anteilen bei einem dritten Investor obliegen
        der RAG-Stiftung und der Evonik Industries AG. Mit
        dem Vermögen der RAG-Stiftung werden die Ewigkeits-
        lasten des subventionierten Steinkohlenbergbaus der
        RAG nach dessen Beendigung gedeckt. Ziel muss es
        deshalb sein, einen optimalen Erlös für die im Wege des
        Börsengangs veräußerten Anteile an der Evonik Indus-
        tries AG zu erreichen. Die Bundesregierung geht davon
        aus, dass die RAG-Stiftung und die Evonik Industries
        AG bei ihren Planungen die Gesamtsituation an den Ak-
        tienmärkten berücksichtigen werden.
        Anlage 3
        Wieczorek-Zeul,
        Heidemarie
        SPD 13.12.2007
        Wolf (Frankfurt),
        Margareta
        BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        13.12.2007
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        14022 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ich habe mich bei dem Antrag der Fraktion Bünd-
        nis 90/Die Grünen enthalten, da es aus meiner Sicht
        nicht ausreichend ist, Probleme ansatzweise zu benen-
        nen, zu deren Lösung aber nichts weiter beizutragen als
        fromme Wünsche und Appelle an die Bundesregierung,
        auf die Länder hinzuwirken, ohne konkret zu benennen,
        wie die Lösungen umzusetzen sind.
        Die Linke hat sich zum Kinderschutz deutlich positio-
        niert, und die Anträge, mit denen Kinderschutz hätte
        umgesetzt werden können, wurden durch die anderen
        Koalitionen abgelehnt.
        Sich jetzt hinzustellen und im Nachgang zu Dingen
        aufzurufen, deren Finanzierung man zuvor abgelehnt
        hat, dem kann ich nach meiner Überzeugung nicht zu-
        stimmen. Hier handelt es sich um einen allgemein gehal-
        tenen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, wo-
        bei Analyse und Forderungen hinter den umsetzbaren
        Möglichkeiten zurückbleiben, im Ergebnis wohl nur ge-
        stellt, um der gegenwärtigen hitzigen Debatte über Kin-
        derschutz mit einem Schnellschuss nachzukommen.
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Norbert Schindler (CDU/
        CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines
        Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutz-
        gesetzes und des BVL-Gesetzes (Tagesord-
        nungspunkt 19 a)
        Ich werde dem obigen Gesetzentwurf – entgegen der
        Meinung meiner Fraktion – nicht zustimmen.
        Mit der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
        Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wird
        entgegen unserer Aussage und unserem Anliegen, den
        Bürokratieabbau voranzutreiben, eine EU-Vorgabe nicht
        nur 1:1 umgesetzt, sondern im typisch deutschen voraus-
        eilenden Gehorsam auch noch um nationale Regelungen
        zur Buchführung ergänzt, die den Aufwand ins Uner-
        messliche treiben. Hier wird etwas auf Gesetzesniveau
        gehievt – mit allen daraus resultierenden auch strafrecht-
        lichen Konsequenzen –, das eine absolute Zumutung für
        alle Betroffenen darstellt.
        Wenn, wie in der Empfehlung argumentiert wird, ein-
        zelne Betriebe die vom Gesetz geforderten Daten bereits
        jetzt erheben, so ist dies eine freiwillige und möglicher-
        weise für diese Betriebe auch notwendige Leistung. Da-
        raus kann man nicht schließen, dass es für andere – be-
        sonders kleinere Höfe und Sonderkulturbetriebe – ein
        Leichtes wäre, den erforderlichen Verwaltungsaufwand
        zu erbringen.
        Wenn ein Landwirt nach 12 bis 14 Stunden harter Ar-
        beit auf dem Feld endlich wieder auf dem Hof ankommt,
        muss er sofort akribisch festhalten, welche Mittel in wel-
        cher Dosierung er auf welchem Schlag ausgebracht hat.
        Diese Aufzeichnungen werden dann nach zwei Jahren
        weggeworfen. Damit schießen wir deutlich über das EU-
        Ziel hinaus und verletzen in gravierender Weise das
        selbst gesetzte Ziel, dem Kriterium der Praxistauglich-
        keit gerecht zu werden. Auch die vom Normenkontroll-
        rat geschätzten jährlichen Kosten von 80 bis 120 Euro
        pro Betrieb, die laut Begründung des Gesetzentwurfes
        als zumutbar gelten, halte ich für deutlich untertrieben.
        Man sollte unseren gelernten Landwirten doch wohl
        zutrauen, dass sie, wie bei der von uns hart erkämpften
        Düngemittelverordnung, im Rahmen einer Hofbilanz ei-
        genverantwortlich und gewissenhaft den Pflanzenschutz
        ausbringen. Es kann nicht sein, dass ein ganzer Berufs-
        stand diskreditiert und als unlauter dargestellt wird. Es
        kann nicht angehen, dass die landwirtschaftlichen Be-
        triebe ständig fremdbestimmt mit neuen Vorschriften
        überzogen werden.
        Ich erkenne wohl an, dass dieser Gesetzentwurf in der
        Koalition zu Auseinandersetzungen geführt hat, und be-
        daure sehr, dass sich meine Kollegen nicht meinem Vo-
        tum anschließen konnten. Auch die Agrarministerkonfe-
        renz der Länder hat die Bedenken der Praktiker wider
        besseres Wissen vom Tisch gewischt.
        Eine halbherzige Protokollerklärung zur Buchfüh-
        rungspflicht auf einer Ausschussdrucksache, die das
        Gewollte noch einmal klarstellen muss, macht die be-
        sondere handwerkliche Qualität und die Umsetzbarkeit
        dieses Gesetzentwurfes deutlich.
        Abschließend möchte ich noch mal betonen, dass ich
        nicht gegen eine EU-Harmonisierung im Bereich des
        Pflanzenschutzrechts votiere, sondern lediglich die Auf-
        sattelung zu einem Mehr an Bürokratie missbillige und
        deshalb diesem Gesetzentwurf nicht zustimme.
        Anlage 5
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Ralf Göbel (CDU/CSU) zur
        Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
        zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes und
        des BVL-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 19 a)
        Ich werde dem obigen Gesetzentwurf – entgegen der
        Meinung meiner Fraktion – nicht zustimmen.
        Mit der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
        Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wird
        entgegen unserer Aussage und unserem Anliegen, den
        Bürokratieabbau voranzutreiben, eine EU-Vorgabe nicht
        nur 1:1 umgesetzt, sondern im typisch deutschen voraus-
        eilenden Gehorsam auch noch um nationale Regelungen
        zur Buchführung ergänzt, die den Aufwand ins Uner-
        messliche treiben. Hier wird etwas auf Gesetzesniveau
        gehievt – mit allen daraus resultierenden auch strafrecht-
        lichen Konsequenzen –, das eine absolute Zumutung für
        alle Betroffenen darstellt.
        Wenn, wie in der Empfehlung argumentiert wird, ein-
        zelne Betriebe die vom Gesetz geforderten Daten bereits
        jetzt erheben, so ist dies eine freiwillige und möglicher-
        weise für diese Betriebe auch notwendige Leistung. Da-
        raus kann man nicht schließen, dass es für andere – be-
        sonders kleinere Höfe und Sonderkulturbetriebe – ein
        Leichtes wäre, den erforderlichen Verwaltungsaufwand
        zu erbringen.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14023
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wenn ein Landwirt nach 12 bis 14 Stunden harter Ar-
        beit auf dem Feld endlich wieder auf dem Hof ankommt,
        muss er sofort akribisch festhalten, welche Mittel in wel-
        cher Dosierung er auf welchem Schlag ausgebracht hat.
        Diese Aufzeichnungen werden dann nach zwei Jahren
        weggeworfen. Damit schießen wir deutlich über das EU-
        Ziel hinaus und verletzen in gravierender Weise das
        selbst gesetzte Ziel, dem Kriterium der Praxistauglich-
        keit gerecht zu werden. Auch die vom Normenkontroll-
        rat geschätzten jährlichen Kosten von 80 bis 120 Euro
        pro Betrieb, die laut Begründung des Gesetzentwurfes
        als zumutbar gelten, halte ich für deutlich untertrieben.
        Man sollte unseren gelernten Landwirten doch wohl
        zutrauen, dass sie, wie bei der von uns hart erkämpften
        Düngemittelverordnung, im Rahmen einer Hofbilanz ei-
        genverantwortlich und gewissenhaft den Pflanzenschutz
        ausbringen. Es kann nicht sein, dass ein ganzer Berufs-
        stand diskreditiert und als unlauter dargestellt wird. Es
        kann nicht angehen, dass die landwirtschaftlichen Be-
        triebe ständig fremdbestimmt mit neuen Vorschriften
        überzogen werden.
        Ich erkenne wohl an, dass dieser Gesetzentwurf in der
        Koalition zu Auseinandersetzungen geführt hat, und be-
        daure sehr, dass sich meine Kollegen nicht meinem Vo-
        tum anschließen konnten. Auch die Agrarministerkonfe-
        renz der Länder hat die Bedenken der Praktiker wider
        besseres Wissen vom Tisch gewischt.
        Eine halbherzige Protokollerklärung zur Buchfüh-
        rungspflicht auf einer Ausschussdrucksache, die das
        Gewollte noch einmal klarstellen muss, macht die be-
        sondere handwerkliche Qualität und die Umsetzbarkeit
        dieses Gesetzentwurfes deutlich.
        Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass
        ich nicht gegen eine EU-Harmonisierung im Bereich des
        Pflanzenschutzrechts votiere, sondern lediglich die Auf-
        sattelung mit einem Mehr an Bürokratie missbillige und
        deshalb diesem Gesetzentwurf nicht zustimme.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Entwurf eines
        Gesetzes zur Ergänzung des Rechts zur Anfech-
        tung der Vaterschaft (Tagesordnungspunkt 13)
        Ute Granold (CDU/CSU): Wir beraten heute in
        zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf der Bun-
        desregierung zur Ergänzung des Rechts der Vaterschaft.
        Seit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts im
        Jahr 1993 vermittelt ein deutscher Vater dem Kind einer
        ausländischen Frau durch Anerkennung der Vaterschaft
        die deutsche Staatsangehörigkeit. In Folge der Kind-
        schaftsrechtsreform im Jahre 1998 und der damit verbun-
        denen Abschaffung der Amtspflegschaft des Jugendamtes
        für nichteheliche Kinder erfordert die Anerkennung der
        Vaterschaft – zu Recht – nur noch die formgebundene
        Erklärung des Mannes sowie die Zustimmung durch die
        Mutter.
        In den letzten Jahren wurden die neuen Möglichkei-
        ten der Vaterschaftsanerkennung leider verstärkt genutzt,
        um aufenthaltsrechtliche Vorschriften zu umgehen. Der
        Evaluationsbericht des Bundesinnenministeriums zum
        Zuwanderungsgesetz hat mit Blick auf diese Entwick-
        lung an den „dringenden gesetzgeberischen Handlungs-
        bedarf zur Bekämpfung von Scheinvaterschaften“ erin-
        nert.
        In der Praxis der Ausländerbehörden und Standesbe-
        amten gibt es bereits seit 2001 Erkenntnisse darüber,
        dass das Rechtsinstrument der Vaterschaftsanerkennung
        zunehmend missbraucht wird, um Ausländerinnen und
        Ausländern ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu ver-
        schaffen. Wenn beispielsweise eine alleinerziehende
        ausländische Mutter mit ihrem Kind in Deutschland lebt,
        ihr Aufenthaltsrecht abläuft und auch, nicht verlängert
        werden soll, wäre sie an sich ausreisepflichtig. Dies kann
        umgangen werden, wenn ein deutscher Mann gegen
        Zahlung eines Geldbetrages die Vaterschaft anerkennt.
        Dabei haben weder er noch die Mutter das geringste In-
        teresse daran, dass zwischen dem „Vater“ und dem Kind
        jemals irgendeine soziale Beziehung zustande kommt.
        Da die Männer zudem oft einkommens- und vermögens-
        los sind, steht in diesen Fällen von vornherein fest, dass
        der Mann für „sein“ Kind niemals Unterhalt zahlen wird
        und die Allgemeinheit auch hier einspringen muss.
        Die vom anerkennenden Vater abgeleitete deutsche
        Staatsangehörigkeit des Kindes vermittelt der Mutter so-
        wie etwaigen Familienangehörigen nicht nur ein eigenes
        Aufenthaltsrecht, sondern auch die mit diesem Rechts-
        status verbundenen sozialen Absicherungen.
        Ebenso gibt es Fälle, bei denen eine im Ausland le-
        bende Mutter die Vaterschaftsanerkennung durch einen
        deutschen Mann genutzt hat, um erstmals nach Deutsch-
        land einreisen zu können, oder in denen ein ausländi-
        scher Mann die Vaterschaft für das Kind einer deutschen
        Mutter anerkennt, wobei der „Vater“ dann ein eigenstän-
        diges, vom deutschen Kind abgeleitetes Aufenthaltsrecht
        erhält.
        Eine Erhebung der Bundesinnenministerkonferenz
        hat ergeben, dass allein im Zeitraum April 2003 bis
        März 2004 deutsche Behörden in 2 338 Fällen einer un-
        verheirateten ausländischen Mutter eines deutschen Kin-
        des eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hat. In 1 694 dieser
        Fälle wiederum waren die Mütter und ihre Kinder zum
        Zeitpunkt der Vaterschaftsanerkennung ausreisepflich-
        tig.
        Die Erfahrungen der Behörden zeigen, dass in einem
        Großteil dieser Sachverhalte zwischen dem anerkennen-
        den Vater und dem Kind überhaupt keine sozial-fami-
        liäre Beziehung bestanden hat. In den Fällen, in denen
        auch niemals beabsichtigt war, dass der Vater Kontakt zu
        „seinem“ Kind hat und eine echte familiäre Beziehung
        aufbaut, müssen wir von einer missbräuchlichen Vater-
        schaftsanerkennung ausgehen, bei der es einzig darum
        geht, dem Kind die deutsche Staatsbürgerschaft und da-
        mit verbunden der Mutter ein Aufenthaltsrecht sowie so-
        ziale Leistungen zu verschaffen.
        14024 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        An dieser Stelle wird von Kritikern eingewendet, dass
        es keine belastbaren Zahlen über tatsächliche Miss-
        brauchsfälle gebe, bzw. aus der Tatsache, dass die Mütter
        zum Zeitpunkt der Vaterschaftsanerkennung ausreise-
        pflichtig sind, könne nicht geschlussfolgert werden,dass
        auch ein Missbrauch vorliege. Belastbare Zahlen über
        Missbrauchsfälle kann es naturgemäß noch nicht geben,
        da nach derzeitiger Rechtslage kein Gesetzesverstoß
        vorliegt und wir ja gerade jetzt die bestehende Gesetzes-
        lücke schließen wollen. Für den Moment müssen wir uns
        also auf Indizien sowie die Erfahrungen der Praxis ver-
        lassen, und die zeigen eindeutig Anhaltspunkte für einen
        zunehmenden Missbrauch der Vaterschaftsanerkennung.
        Es gibt keinen Grund, an dem Urteilsvermögen und
        den Berichten der Ausländerbehörden und Standesämter
        zu zweifeln. Es sind vor allem die zuständigen Mitarbei-
        ter vor Ort, die in ihrem Berufsalltag Entwicklungen wie
        diese beobachten und aufgrund ihrer langjährigen Erfah-
        rungen ein feines Gespür dafür entwickelt haben, ob hier
        jemand die Möglichkeiten des geltenden Rechts bewusst
        ausnutzt, um für sich rechtliche und finanzielle Vorteile
        zu erlangen, oder ob hier jemand tatsächlich die Liebe zu
        seinem Kind rechtlich manifestieren möchte.
        Nicht zuletzt die Anhörung hat erneut den zunehmen-
        den Missbrauch bestätigt. Vor allem die Sachverständi-
        gen, die aus der Praxis kommen und mit konkreten Fäl-
        len konfrontiert sind, haben die Anhaltspunkte für einen
        zunehmenden Missbrauch überzeugend dargelegt. Wir
        müssen leider auch feststellen, dass sich inzwischen Ge-
        schäftsmodelle herausgebildet haben, die Vaterschafts-
        anerkennungen durch vermögenslose deutsche Männer
        zum Gegenstand haben, ganz nach dem Motto: Wo eine
        Nachfrage ist, ist auch ein Angebot.
        Die CDU/CSU-Fraktion hat bereits in der letzten Le-
        gislaturperiode die Notwendigkeit eines behördlichen
        Anfechtungsrechts gesehen und deshalb im Oktober
        2004 einen entsprechenden Antrag in den Deutschen
        Bundestag eingebracht. Umso mehr freuen wir uns, dass
        das Gesetz heute verabschiedet werden kann. Lassen Sie
        mich kurz auf dessen wesentliche Merkmale eingehen.
        Kernpunkt des Entwurfs ist die Ergänzung der Rege-
        lungen zur Anfechtung der Vaterschaft in § 1600 BGB.
        Das Gesetz sieht hierzu die Einführung eines Anfech-
        tungsrechts durch eine öffentliche Stelle vor. Aus prakti-
        schen Gründen ist es sinnvoll, dass die Länder entspre-
        chend den jeweiligen Bedürfnissen vor Ort selbst
        bestimmen können, welche Behörde für die Anfechtung
        zuständig sein soll. Wir haben deshalb bewusst auf eine
        bundeseinheitliche Zuständigkeitsregelung verzichtet
        und überlassen diese den Ländern.
        Die Anfechtung setzt voraus, dass zwischen dem
        Kind und dem Anerkennenden keine sozialfamiliäre Be-
        ziehung besteht oder im Zeitpunkt der Anerkennung be-
        standen hat. Daneben müssen gerade durch die Anerken-
        nung der Vaterschaft die rechtlichen Voraussetzungen
        für die erlaubte Einreise oder den erlaubten Aufenthalt
        des Kindes oder eines Elternteils geschaffen werden.
        Aus Gründen des Vertrauensschutzes wird in
        § 1600 b BGB eine absolute Ausschlussfrist für die An-
        fechtung der Vaterschaft von fünf Jahren, gerechnet ab
        Wirksamkeit der Anerkennung, festgeschrieben. Für den
        Fall, dass die Anfechtungsklage Erfolg hat, entfällt die
        Vaterschaft des Anerkennenden mit Rückwirkung auf
        den Tag der Geburt des Kindes.
        Damit in der Praxis tatsächlich gewährleistet ist, dass
        die anfechtungsberechtigte Behörde überhaupt von den
        die Anfechtung begründenden Umständen Kenntnis er-
        langt, werden die aufenthaltsrechtlichen Mitteilungs-
        pflichten ergänzt. Alle öffentlichen Stellen haben künftig
        die Pflicht, die zuständige Ausländerbehörde zu unter-
        richten, wenn sie von konkreten Tatsachen Kenntnis er-
        langen, die die Annahme rechtfertigen, dass die Voraus-
        setzungen für das neue behördliche Anfechtungsrecht
        vorliegen. Eine Einschränkung soll hierbei lediglich für
        Jugendämter gelten. Um Konfliktsituationen zu vermei-
        den, sollen diese nur dann zur Mitteilung verpflichtet
        sein, soweit dadurch nicht die Erfüllung der eigenen
        Aufgaben gefährdet wird.
        Im Rahmen der Ausschussberatungen haben wir im
        Vergleich zum ursprünglichen Gesetzentwurf noch zwei
        kleine Änderungen vorgenommen, die im Wesentlichen
        Rechtsänderungen geschuldet sind, die zwischenzeitlich
        im Aufenthaltsgesetz und im Personenstandsgesetz vor-
        genommen wurden.
        An dieser Stelle ist es mir wichtig, klar und deutlich
        festzustellen: Wir wollen mit diesem Gesetz die Er-
        schleichung von Aufenthaltstiteln und den damit einher-
        gehenden Sozialmissbrauch unterbinden. In erster Linie
        geht es uns jedoch um die Kinder selbst. Das Recht des
        Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung sowie auf Um-
        gang mit seinem tatsächlichen Vater ist verfassungs-
        rechtlich von überragender Bedeutung. Eine miss-
        bräuchliche Vaterschaftsanerkennung richtet sich
        folglich vor allem auch gegen das Kind selbst. Dem
        Kind wird für immer der leibliche Vater vorenthalten.
        Staatlich sanktioniert wird ihm die Kenntnis seiner Ab-
        stammung und der Umgang mit seinem leiblichen Vater
        entzogen.
        Dieser Verlust kann keineswegs im Interesse des Kin-
        des sein und wird bei Weitem auch nicht durch etwaige
        materielle, mit dem Aufenthalt in Deutschland verbun-
        dene Vorteile kompensiert. So zu argumentieren wäre im
        Übrigen überheblich, würde man doch unterstellen, dass
        ein Leben in Deutschland in jedem Fall einem Aufwach-
        sen in der eigentlichen Heimat vorzuziehen und im Inte-
        resse des Kindes sei.
        Das neue Anfechtungsrecht hat somit gerade die be-
        troffenen Kinder im Blick und steht in der Kontinuität
        der Kindschaftsrechtsreform. Die Anerkennung der so-
        zialen, das heißt rechtlichen Vaterschaft im vereinfach-
        ten Verfahren bleibt grundsätzlich anerkannt.
        Der Gesetzgeber hat durch die Abschaffung der
        Amtspflegschaft im Wege der Kindschaftsrechtsreform
        bewusst die Beziehung zwischen dem anerkennenden
        Vater und dem nicht leiblichen Kind gestärkt und die
        Entstehung sozial-familiärer Beziehungen der biologi-
        schen Abstammung gleichgestellt. Folgerichtig setzt das
        neue Anfechtungsrecht genau an dieser Stelle an, indem
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14025
        (A) (C)
        (B) (D)
        es eine Anfechtung davon abhängig macht, dass es zwi-
        schen dem Kind und dem Anerkennenden gerade keine
        solche sozial-familiäre Beziehung besteht oder im Zeit-
        punkt der Anerkennung bestanden hat. Das neue An-
        fechtungsrecht stellt sich somit als konsequente Fortset-
        zung der Kindschaftsrechtsreform dar.
        Wir sehen bei der praktischen Anwendung des Geset-
        zes im Gegensatz zu einigen Kritikern keine Probleme;
        denn die Erfahrungen vor Ort, insbesondere in den Aus-
        länderbehörden und Standesämtern, zeigen, dass es sehr
        wohl eindeutige, leicht zu erkennende und nachweisbare
        Anhaltspunkte gibt, die auf eine reine Scheinvaterschaft
        hinweisen. Dabei lohnt sich ein Blick auf die positiven
        Erfahrungen im Zusammenhang mit den Scheinehen.
        Auch hier stehen die Behörden vor den gleichen Schwie-
        rigkeiten, wenn sie eine fehlende familiäre Beziehung
        zwischen den Eheleuten nachweisen müssen.
        Die Sachverständigen haben in der öffentlichen An-
        hörung im Übrigen bestätigt, dass der Gesetzentwurf
        eine ausgewogene Lösung darstellt, die die Rechtsein-
        griffe so gering wie möglich hält und die Grundentschei-
        dung der Kindschaftsrechtsreform unberührt lässt.
        Wir dürfen als Gesetzgeber die Augen vor Fehlent-
        wicklungen wie die der missbräuchlichen Vaterschafts-
        anerkennungen nicht verschließen. Es ist unsere Pflicht,
        zu reagieren, wenn der zunehmende Missbrauch einer an
        sich sinnvollen gesetzlichen Möglichkeit offensichtlich
        wird.
        Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung zu dem vor-
        liegenden Gesetzentwurf und hoffe auf eine breite Mehr-
        heit.
        Klaus Uwe Benneter (SPD): Mit dem Entwurf ei-
        nes Gesetzes zur Ergänzung des Rechts auf Vaterschaf-
        ten stellen wir weder sämtliche alleinerziehende auslän-
        dische Mütter unter Generalverdacht noch fallen wir mit
        dem Gesetzentwurf hinter die Kindschaftsrechtsreform
        zurück. Seit der Kindschaftsrechtsreform ist für das Zu-
        standekommen einer wirksamen Vaterschaftsanerken-
        nung die Zustimmung des Amtspflegers nicht mehr er-
        forderlich. Man braucht nur noch eine formgebundene
        Erklärung des Vaters und die Zustimmung der Mutter.
        Durch diese Reform haben wir die Elternautonomie ge-
        stärkt und das Entstehen von Familien gefördert. Dabei
        bleibt es.
        Aber, nicht immer werden Vaterschaften anerkannt,
        um ein soziales Vater-Kind-Verhältnis aufzubauen. Dass
        Vaterschaften teilweise nur anerkannt werden, um einen
        Aufenthaltstitel zu erlangen, ist eine Tatsache. Wir haben
        zwar keine belastbaren Zahlen über die Häufigkeit die-
        ses Phänomens. Aber wir alle kennen die Fälle: Ein viet-
        namesisches Ehepaar hat drei Kinder und soll ausreisen.
        Die Frau erwartet ihr viertes Kind. Kurz vor der Geburt
        wird die Ehe plötzlich geschieden, und wie aus dem
        Nichts taucht ein Arbeitsloser aus Sachsen auf, der die
        Vaterschaft des vierten Kindes anerkennt. Später räumt
        der deutsche Vater ein, dass er für die Anerkennung der
        Vaterschaft 2 600 Euro bekommen hat. Ein anderer er-
        kennt zwischen 1999 und 2004 die Vaterschaft von sie-
        ben Kindern verschiedener vietnamesischer Mütter an,
        und zwar in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Bran-
        denburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen.
        Dieser Missbrauch findet nicht nur regelmäßig, son-
        dern mit steigender Tendenz statt! Indem wir die Vater-
        schaftsanerkennung erleichtert haben, haben wir auch
        den Missbrauch dieses Instituts gefördert. Wenn wir das
        weiter zulassen, leisten wir der latent vorhandenen
        Fremdenfeindlichkeit Vorschub.
        Deshalb haben wir jetzt gehandelt, und zwar mit Au-
        genmaß. Wir haben uns gefragt, welche Kriterien symp-
        tomatisch für den Missbrauch stehen. Das sind: erstens
        das Entstehen eines ausländerrechtlichen Vorteils durch
        die Anerkennung und, zweitens das Fehlen einer sozial-
        familiären Bindung zwischen Vater und Kind. Nur für
        den Fall, dass diese beiden Kriterien erfüllt sind, haben
        wir die behördliche Anfechtung der Vaterschaft ermög-
        licht.
        Dadurch ist auch klar: Wir rütteln nicht an Art. 6 GG.
        Auch binationale Familien stehen weiter unter dem vol-
        len Schutz des Grundgesetzes. Ich betone: Familien! Um
        eine Familie handelt es sich nämlich nur dann, wenn die
        Eltern-Kind-Gemeinschaft auch verantwortungsvoll ge-
        lebt wird, wenn eine sozial-familiäre Bindung wirklich
        vorliegt.
        Der Begriff der sozial-familiären Bindung ist nicht zu
        unbestimmt. Mit dem Begriff orientieren wir uns eins zu
        eins an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
        richtes. Das Bundesverfassungsgericht benennt die Kri-
        terien zur Auslegung des Begriffes: Es muss ein persön-
        licher Kontakt zwischen dem Vater und dem Kind
        vorliegen. Es muss eine geistige und emotionale Ausei-
        nandersetzung zwischen den beiden stattfinden. Der Va-
        ter muss sich um das Kind kümmern und Verantwortung
        übernehmen. Ein Indiz hierfür sind zum Beispiel Unter-
        haltszahlungen. Wichtig ist also die Qualität der Bezie-
        hung, nicht die Quantität des gemeinsamen Kontakts. Es
        wird deshalb nicht zulässig sein, all denjenigen Bezie-
        hungen, bei denen Vater und Kind nicht zusammenleben,
        per se diese Bindung abzusprechen.
        Die Schaffung eines behördlichen Anfechtungsrech-
        tes ist nicht unverhältnismäßig. Was wäre denn die Al-
        ternative gewesen? Wir hätten natürlich bestimmen
        können, dass die Vaterschaftsanerkennung ihre Wir-
        kung im Ausländerrecht verliert. Die Vaterschaftsaner-
        kennung hätte dann nicht automatisch die Erlangung
        eines Aufenthaltstitels zur Folge gehabt. Dann hätten
        wir aber den Ausländerbehörden das Recht auf eine ge-
        sonderte Prüfung geben müssen. Oder noch besser:
        Hätten wir vielleicht den bestehenden Automatismus
        im Staatsangehörigkeitsrecht abschaffen und den Er-
        werb der Staatsangehörigkeit von DNA-Tests abhängig
        machen sollen? Wir sind uns ja wohl alle einig, dass
        das keine milderen, keine geeigneteren Vorschläge zur
        Lösung des Problems gewesen wären.
        Zum Schluss möchte ich noch einen letzten Vorwurf
        aus dem Weg räumen: Wir werden mit dem Gesetzent-
        wurf nicht die Jugendämter anhalten, als Spitzel der
        Ausländerbehörden aufzutreten. Gegen die Forderung,
        14026 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Jugendämter uneingeschränkt zu verpflichten, den An-
        fechtungsbehörden den Verdacht auf Vorliegen einer
        missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennung mitzuteilen,
        haben wir uns erfolgreich zur Wehr gesetzt. Der Gesetz-
        entwurf verpflichtet Jugendämter nur dann zur Mittei-
        lung, wenn sie hierdurch die Erfüllung ihrer eigenen
        Aufgaben nicht gefährdet sehen. Wir drängen sie also
        nicht in Interessenkonflikte. Jugendämter werden auch
        weiterhin das erforderliche Vertrauensverhältnis zu den
        von ihnen betreuten Familien aufbauen können.
        Mechthild Dyckmans (FDP): „Die Gesetzespro-
        duktion muss, ähnlich wie die Industrieproduktion, noch
        stärker als bisher einer Erforderlichkeits-, Qualitäts-, und
        Erfolgskontrolle unterworfen werden.“ – Diese Worte
        unseres ehemaligen Kollegen und Justizministers Herrn
        Engelhard gelten auch heute noch. Wir sollten uns diese
        Worte immer wieder in Erinnerung rufen, wenn es da-
        rum geht, neue Gesetze zu verabschieden und beste-
        hende Gesetze zu ändern. Bei dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf zur Ergänzung des Rechts zur Anfechtung der
        Vaterschaft jedenfalls scheint man diese Worte verges-
        sen zu haben.
        Schon die Erforderlichkeitskontrolle zwingt dazu,
        diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Das einzig vorlie-
        gende Zahlenmaterial zur Problematik der Vaterschafts-
        anerkennung zum Zwecke der Erlangung eines Auf-
        enthaltstitels bzw. der deutschen Staatsangehörigkeit
        stammt aus einer Erhebung der Innenministerien der
        Länder aus dem Zeitraum 2003/2004. Danach ist circa
        1 700 unverheirateten ausländischen Müttern eines deut-
        schen Kindes, die im Zeitpunkt der Vaterschaftsanerken-
        nung ausreisepflichtig waren, ein Aufenthaltstitel erteilt
        worden. Welchen Aussagewert hat diese Zahl? – Eigent-
        lich gar keinen. Selbst in der Begründung des Gesetzent-
        wurfes heißt es dazu: „Die Zahlen können ... nicht bele-
        gen, in wie vielen Fällen es sich tatsächlich um
        missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen handelt.“
        Auch der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages
        hat sich in seiner Sachverständigenanhörung mit dieser
        Problematik beschäftigt. Doch über die Nennung von
        exemplarischen Einzelfällen hinaus konnte auch dort ein
        konkreter Handlungsbedarf nicht nachgewiesen werden.
        Selbst bei diesen genannten Einzelfällen war nur von
        Vermutungen und Zufallsfunden die Rede. Auf solch
        eine ungesicherte Tatsachengrundlage darf kein Gesetz
        gestützt werden, das zu einer grundlegenden Änderung
        der Vaterschaftsanfechtung im Kindschaftsrecht führt.
        Denn was bewirkt dieses Gesetz? Verankert werden
        soll ein Anfechtungsrecht einer öffentlichen Stelle bei
        vermutetem Missbrauch der Vaterschaftsanerkennung.
        Im Bürgerlichen Gesetzbuch soll diese Änderung erfol-
        gen, genau genommen im Familienrecht über die Ab-
        stammung. Diese staatliche Einmischung in die familiä-
        ren Beziehungen kennt das Familienrecht bisher nicht.
        Die derzeitigen Regeln zur Anfechtung der Vaterschaft
        gehen auf eine Grundentscheidung der Kindschafts-
        rechtsreform von 1998 zurück. Damals hat sich der
        Deutsche Bundestag aus gutem Grund dafür ausgespro-
        chen, dass im Interesse und zum Schutz der Intimität der
        Familie nicht Jedermann und insbesondere keine öffent-
        lichen Stellen die Möglichkeit haben sollten, die Ab-
        stammung eines Kindes infrage zu stellen. Es wurde
        bewusst die Elternautonomie gestärkt. Das Zustande-
        kommen einer wirksamen Anerkennung wurde allein an
        formgebundene Erklärungen des Vaters und der Mutter
        geknüpft. Vor der Kindschaftsrechtsreform war die An-
        erkennung von der Zustimmung des Jugendamtes abhän-
        gig.
        Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf setzt die be-
        hördliche Anfechtung voraus, dass zwischen dem Kind
        und dem Anerkennenden weder eine „sozial-familiäre“
        Beziehung noch eine leibliche Vaterschaft besteht. Um-
        stände wie fehlendes Zusammenleben in häuslicher Ge-
        meinschaft, Nichtzahlung von Unterhalt oder nicht re-
        gelmäßige Betreuung und Erziehung stellen nach der
        Gesetzesbegründung Anknüpfungstatsachen dar, die auf
        eine fehlende sozial-familiäre Beziehung schließen las-
        sen. Dies gilt jedoch nur bei binationalen Partnerschaf-
        ten und kommt damit einem Generalverdacht gegen alle
        binationalen und ausländischen Familien nah. Unverhei-
        ratete Eltern werden unnötig stigmatisiert.
        Wenn Frau Zypries in ihrer heutigen PI schreibt, „Va-
        terschaften sollen um der Kinder Willen anerkannt wer-
        den, nicht allein wegen der Papiere“, so muss dies
        ebenso für die Vaterschaftsanfechtung gelten. Mit der
        Vaterschaftsanfechtung durch öffentliche Stellen wird
        eben nicht etwa die Familie oder das Kind geschützt.
        Nein, Ziel des Gesetzentwurfs ist – man muss immer
        wieder darauf hinweisen –, das Erschleichen miss-
        bräuchlicher Aufenthaltstitel zu verhindern und damit al-
        lein das Staatsinteresse.
        Dann müssen jedoch Regelungen – wenn überhaupt –
        im Ausländer- und Aufenthaltsgesetz getroffen werden.
        Der völlig falsche Weg ist es, das Familien- und Ab-
        stammungsrecht mit staatlichen Eingriffen zu versehen.
        Das Aufenthaltsrecht bietet schon heute mit den
        §§ 27, 28 Aufenthaltsgesetz in den meisten Fallkonstel-
        lationen eine zufriedenstellende Lösung an. Danach ist
        ein Familiennachzug nicht zuzulassen, wenn das Ver-
        wandtschaftsverhältnis ausschließlich zu dem Zweck be-
        gründet wurde, dem Nachziehenden die Einreise in das
        und den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen.
        Auch ist dem ausländischen Elternteil eines minderjähri-
        gen Deutschen nur zur Ausübung der Personensorge
        eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. In der Rechtspre-
        chung gibt es schon Urteile, die Fälle des missbräuchli-
        chen Zusammenwirkens der Eltern über das allgemeine
        Rechtsinstitut des Rechtsmissbrauches regeln, und zwar
        völlig unabhängig von der familiengerichtlichen Wirk-
        samkeit der Anerkennung.
        Aus allen diesen Gründen gibt es nur eine richtige
        Entscheidung: Wir lehnen den Gesetzentwurf ab.
        Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Angst geht um! Die
        bösen Taliban, die mittels einer Vaterschaftsanerkennung
        ins Land kommen, ja sogar kleine Talibane, die durch
        die Erklärung deutscher Männer zu deutschen Staats-
        angehörigen werden, werden das Land überfluten. Unser
        Bundesinnenminister Schäuble kriegt Pickel. Wovor hat
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14027
        (A) (C)
        (B) (D)
        Schäuble Angst? Vor Kindern? Vor Unbekanntem? Oder
        hat er Angst davor, dass er nicht weiß, ob es tatsächlich
        so ist? Fakten dafür gibt es nicht.
        Schnellschüsse wie diesen Gesetzentwurf sollte sich
        ein Rechtsstaat nicht leisten. Hier wird die Anfechtung
        der Vaterschaft durch eine Behörde geregelt, aber nur
        wenn mindestens ein Elternteil Ausländer ist.
        Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz – vor dem Gesetz sind alle
        gleich – ist ja wohl eindeutig verletzt, da hier eine
        Gruppe von Menschen unter Generalverdacht gestellt
        wird. Und hier werden Menschen nur wegen ihrer Hei-
        mat und Herkunft benachteiligt. Man stelle sich einmal
        vor, man würde der Behörde die Möglichkeit eröffnen,
        bayerische Vaterschaften anzufechten! Da wär was los
        im Bayerischen Wald!
        Ich frage mich ernsthaft, wozu der Bundestag Sach-
        verständige lädt, um von ihnen Sachverstand ins Haus zu
        holen, wenn dieser sich nirgends niederschlägt. Was ha-
        ben die Sachverständigen alles ausgeführt! Das Gesetz
        ist verfassungswidrig, es verletzt Art. 3, möglicherweise
        auch Art. 6; das sind alles Grundrechte. Es ist unverhält-
        nismäßig. Es wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen
        usw. Es fußt auf Annahmen. Kindeswohl spielt keine
        Rolle. – Ist schon komisch, wie die gegenwärtige De-
        batte läuft, wenn es um Kinderschutz geht!
        Ach ja, ich vergaß fast: Hier geht es um Kinder, bei
        denen zumindest ein Elternteil nicht deutsch ist; da ist
        das anscheinend egal. Wo sind sie denn, unsere Kinder-
        schützer der Koalition? Kinder sind anscheinend doch
        nicht gleich. Oder ist einfach der Koalitionszwang wich-
        tiger als Kindeswohl? Vor zwei Stunden wurden der
        Kinderschutz und das Kindeswohl noch in den höchsten
        Tönen gelobt, angepriesen und eingefordert, jeder ver-
        suchte den anderen zu übertreffen. Und nun? Alle weg!
        Ob die Unterrichtungspflicht der Jugendämter mit der
        Föderalismusreform in Einklang zu bringen ist, dürfte
        auch der Überprüfung wert sein, ist aber in diesem Zu-
        sammenhang wirklich nur Nebensache.
        Was die Sachverständigen ausgeführt haben, findet
        sich im Gesetzentwurf nirgends wieder. Komisch? Na,
        die Aussagen passten offensichtlich nicht zu der geisti-
        gen Brandstiftung der Koalition, die mit diesem Gesetz
        vollzogen wird. Hier wird die Vaterschaft durch eine Be-
        hörde vernichtet.
        Das Ganze basiert im Übrigen auf Mutmaßungen,
        welche durch keinerlei Zahlen belegt sind. Es wird, wie
        die Sachverständigen ausgeführt haben, „mit Kanonen
        auf Spatzen geschossen, und der Aufwand steht in kei-
        nerlei Verhältnis zum angeblichen Nutzen“.
        Das Gesetz strotzt nur so vor Diskriminierungen, es
        ist politisch völlig verfehlt, untragbar und gehört abge-
        lehnt. Es diskriminiert Kinder ausländischer Frauen ge-
        genüber Kindern deutscher Frauen. Es diskriminiert
        nichteheliche Kinder gegenüber ehelichen Kindern aus-
        ländischer Frauen. Es diskriminiert binationale Verhält-
        nisse insgesamt gegenüber nationalen Verhältnissen.
        Wie gut, dass die Regierung eine Antidiskriminierungs-
        stelle eingerichtet hat. Ist schon klasse, Kinder von Aus-
        ländern dürfen dort wahrscheinlich nicht klingeln. Es
        war und ist ein ausländerfeindliches Gesetz.
        Meine Damen und Herren der Regierung und der ent-
        sprechenden Koalition, warum sagen Sie nicht einfach:
        „Wir wollen keine Ausländer, wir wollen keine ausländi-
        schen Kinder, wir misstrauen binationalen Partnerschaf-
        ten“? Wenn sie es schon wollen und machen, dann sagen
        sie es doch auch. Aber hier Menschen unter Generalver-
        dacht zu stellen, mit Abschreckung, Verunsicherung
        usw. zu arbeiten, kennzeichnet Ihre menschenverach-
        tende Ausländerpolitik.
        Aber das sind ja auch keine Wähler, gell?
        Für uns Linke zählt der Mensch, und deshalb werden
        wir diesem Gesetz nicht zustimmen.
        Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Seit mehr als einem Jahr liegt der Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung für eine Ergänzung des
        Rechts zur Anfechtung der Vaterschaft nun vor. Vor sie-
        ben Monaten fand die Anhörung im Rechtsausschuss
        dazu statt. Nun soll offensichtlich die vorweihnachtliche
        Stimmung genutzt werden, um ein Gesetz, das unnötiger
        nicht sein könnte, zwischen Glühwein und Plätzchen
        noch ganz schnell an den Abgeordneten vorbei durch
        den Bundestag zu mogeln, – ein Gesetz, das einen massi-
        ven Eingriff in die Privatsphäre binationaler Familien
        vorsieht, ein Gesetz, das einen enormen bürokratischen
        Vollzugsaufwand mit sich bringt, ein Gesetz, das die
        Einrichtung einer anfechtungsberechtigten Behörde und
        die Durchführung von Anfechtungsverfahren mit nicht
        bezifferbaren Kosten mit sich bringt.
        Und wozu das alles? Um einige wenige Missbrauchs-
        fälle von Vaterschaftsanerkennungen zu verhindern. Ja,
        es gibt sie in der Tat. Aber was ihre Größenordnung be-
        trifft, tappen wir alle im Dunkeln. Die Datenlage ist völ-
        lig unzureichend. Die Innenministerkonferenz hat ermit-
        telt, dass zwischen März 2003 und März 2004 1 694
        ausländische und ausreisepflichtige Mütter von einer Va-
        terschaftsanerkennung theoretisch hätten profitieren
        können. Über die Zahl der tatsächlichen Missbräuche
        lässt das keine Schlüsse zu.
        Die wenigen Experten, die auf der Anhörung im ver-
        gangenen Mai versuchten, reale Zahlen zu nennen, ka-
        men auf nicht mehr als einen einstelligen Prozentsatz
        dieser Zahl. Und dafür wollen Sie nun eine Behörde be-
        auftragen, in die innerfamiliären Beziehungen zwischen
        Vater und Kind hineinzuschnüffeln, um herauszufinden,
        ob eine „sozial-familiäre Beziehung“ zwischen Vater
        und Kind besteht? Wie wollen Sie das bewerkstelligen?
        Wir wissen alle, wie unpräzise dieser Begriff ist.
        In der Gesetzesbegründung nennen Sie ja sehr diffe-
        renzierte Beispiele. Wie differenziert wird aber in so
        manchem Bundesland die letztlich zuständige Behörde
        bei der Wahrheitsfindung vorgehen, wenn sie die Fährte
        einer möglichen Aufenthaltserschleichung durch miss-
        bräuchliche Vaterschaftsanerkennung erst einmal aufge-
        nommen hat?
        14028 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Eine deutliche Mehrheit der Sachverständigen emp-
        fahl in der Anhörung im Mai, von diesem Gesetz abzu-
        sehen. Denn – um es mit den Worten des Berliner Inte-
        grationsbeauftragten Günter Piening zu sagen – Sie
        schießen mit ziemlich großen Kanonen auf ziemlich
        kleine Spatzen, und sind dabei noch dreist genug, in Ih-
        rem Gesetzentwurf zu behaupten, Sie würden mit der
        staatlichen Anfechtungsmöglichkeit von Vaterschafts-
        anerkennungen der Entstehung eines Generalverdachts
        gegen binationale Familien vorbeugen. Wie zynisch das
        ist. Das Gegenteil ist natürlich der Fall: Mit dem Gesetz-
        entwurf schaffen sie eben gerade einen Generalverdacht.
        Wir alle wissen, dass jede Regelung auch Miss-
        brauchsmöglichkeiten in sich trägt. In vielen Bereichen
        sind wir bereit,: das in Kauf zu nehmen. Der Gedanke
        aber, hier könnten ein paar Migrantinnen und Migranten
        auf dem Trittbrett mitfahren, ohne dafür bestraft zu wer-
        den, ist für die Union natürlich unerträglich.
        Aber was ist mit der SPD? Sie haben doch mehrmals
        deutlich signalisiert: Auch Sie halten das Gesetz für un-
        verhältnismäßig und damit völlig unnötig. Ich bitte Sie,
        lassen Sie sich jetzt nicht vorweihnachtlich einlullen.
        Wachen Sie noch einmal auf. Und heben Sie jetzt nicht
        die Hand für dieses Gesetz!
        Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
        Bundesministerin für Justiz: Wir müssen bei diesem Ge-
        setzentwurf zwei Dinge auseinanderhalten: einmal den
        völlig legitimen Wunsch von Ausländern, in Deutsch-
        land zu bleiben und hier eine Familie zu gründen. Ich
        und viele andere haben sich immer dafür eingesetzt, dass
        das Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht diesem
        Wunsch besser Rechnung trägt. Die Rechtslage ist im-
        mer noch nicht optimal, aber sie ist deutlich besser als
        noch vor 15 Jahren.
        Eine ganz andere Sache sind aber Vaterschaftsaner-
        kennungen, die nur den einen Zweck verfolgen, nämlich
        sich eine deutsche Staatsangehörigkeit oder einen Auf-
        enthaltstitel zu verschaffen. Ich nenne das „Scheinvater-
        schaft“, weil solche Anerkennungen nichts mit der leib-
        lichen Abstammung zu tun haben und nichts mit der
        Gründung einer Familie. Es geht dabei einzig und allein
        darum, das deutsche Ausländerrecht zu umgehen.
        Dieser Missbrauch kann auf Dauer das geltende
        Recht insgesamt infrage stellen und damit auch das, was
        wir mit der Kindschaftsrechtsreform von 1998 erreicht
        haben: ein familienfreundliches und unbürokratisches
        Verfahren zur Annerkennung von Vaterschaften. Das gilt
        auch für das Ausländer und Staatsangehörigkeitsrecht.
        Eben weil es richtig war, die Tür für echte binationale
        Familien weiter zu öffnen, müssen wir dafür sorgen,
        dass diese Regelungen nicht durch Scheinvaterschaften
        infrage gestellt werden. Deshalb haben wir dieses Gesetz
        auf den Weg gebracht. Wir haben lange darüber debat-
        tiert.
        Die Neuregelung ermöglicht auch weiterhin uneinge-
        schränkt die unbürokratische Vaterschaftsanerkennung,
        und zwar auch für binationale Familien. Daran soll sich
        nichts ändern. Die Anerkennung bringt grundsätzlich
        weiterhin die für die Familie günstigen Folgen im Auf-
        enthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht. Auch hier bleibt
        es beim geltenden Recht.
        Was wir mit dem Gesetz neu vorsehen, ist eine zielge-
        naue Missbrauchsbekämpfung, die strengen Vorausset-
        zungen unterliegt. Zukünftig wird die Vaterschaft auch
        von einer Behörde angefochten werden können. Die
        Anfechtung hat aber nur Erfolg, wenn – erstens – zwi-
        schen dem Kind und dem Anerkennenden keine sozial-
        familiäre Beziehung besteht oder im Zeitpunkt der Aner-
        kennung bestanden hat, wenn – zweitens – die Vater-
        schaftsanerkennung tatsächlich ausländerrechtliche Vor-
        teile nach sich gezogen hat und wenn – drittens – der
        Anerkennende nicht der biologische Vater des Kindes
        ist. Ich bin überzeugt, dass es uns damit gelingt, mit gro-
        ßer Treffsicherheit gegen Missbrauchsfälle einzuschrei-
        ten, und dass damit auf Dauer auch der Anreiz wegfallen
        wird, sich an irgendeiner Ecke einen Scheinvater zu su-
        chen.
        Die Neuregelung ist damit auch im Interesse der „ehr-
        lichen“ binationalen Familien: In der Sachverständigen-
        anhörung ist mehr als deutlich geworden: Die Miss-
        brauchsproblematik belastet das Verhältnis zwischen
        diesen Familien und den Ausländerbehörden. Wenn wir
        für Verdachtsfälle ein geordnetes Verfahren für eine ge-
        naue und nachvollziehbare Prüfung haben, dann kommt
        das auch den „ehrlichen“ Familien zugute. Denn nicht
        zuletzt diese Familien sind die Leidtragenden, wenn
        Missbrauchsfälle ein schlechtes Licht auf Vaterschafts-
        anerkennungen werfen und es keine Möglichkeit zur
        Aufklärung gibt. Dementsprechend haben sechs der
        neun Sachverständigen unser Regelungskonzept im
        Grundsatz begrüßt.
        Unser Gesetz weist jetzt der Praxis einen guten Weg
        für ein faires Verfahren zur Trennung der „echten“ Väter
        von den „Scheinvätern“.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Antrags: Für ein schärferes
        Waffengesetz (Tagesordnungspunkt 12)
        Petra Pau (DIE LINKE): Erstens. Die Fraktion
        Bündnis 90/Die Grünen will ein schärferes Waffenrecht.
        Sie hat dies beantragt, weil Gewaltdelikte zunehmen und
        Konflikte immer häufiger mit Waffen ausgetragen wer-
        den. Mit diesem Befund hat Bündnis 90/Die Grünen lei-
        der recht. Deshalb nimmt Die Linke auch das Anliegen
        des vorliegenden Antrags entsprechend ernst.
        Zweitens. Bevor ich zu Details des Antrages spreche,
        will ich etwas Grundsätzliches anmerken. In einer Ge-
        sellschaft, in der das Recht des Stärkeren immer häufiger
        mehr gilt als das Solidar-Prinzip, in einer Gesellschaft,
        in der Krieg wider besseren Wissens als Politik gilt, in
        einer solchen Gesellschaft ist Gewalt, auch private Ge-
        walt, systematisch angelegt.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14029
        (A) (C)
        (B) (D)
        Drittens. Gegen diesen Widersinn hilft auch kein
        schärferes Waffengesetz. Und genau das ist die Schwä-
        che des Antrags der Grünen und ihrer Begründung. Kein
        Messer, kein Baseballschläger und keine Kettensäge
        sind a priori Totschläger oder Mörder. Ihr Verbot, sei es
        zu bestimmten Zeiten oder an bestimmten Orten, wird
        daher das eigentliche Problem nicht lösen.
        Viertens. Die Linke lehnt die aktuellen Vorschläge der
        Grünen deshalb nicht grundsätzlich ab. Das geltende
        Waffenrecht hat Lücken. Es ermöglicht zu vielen, zu ein-
        fach an Schusswaffen zu gelangen. Und es ist schwer zu
        verfolgen, wer wann und wozu eine Schusswaffe erwarb
        oder sich eine solche beschafft hat. Dieser Mangel birgt
        tödliche Risiken.
        Fünftens. Komplizierter wird es bei Gegenständen,
        die nicht als Waffen gelten, aber als solche verwendet
        werden könnten und auch verwendet werden. Jüngst gab
        es in Berlin eine Schlacht, bei der Leute mit Forken und
        Spaten aufeinander einhieben, wie seinerzeit im Bauern-
        Krieg. Wollten wir diese „Waffen“ verbieten, müssten
        wir sofort alle Baumärkte schließen.
        Sechstens. Eine andere Überlegung zielt darauf, ge-
        fährdete Orte frei von Waffen aller Art zu halten. Ham-
        burg strebt das für Sankt Pauli an. Im Land Berlin wie-
        derum wird überlegt, ob ein besonderes Großereignis,
        wie jüngst die Fußball-WM oder demnächst die Leicht-
        athletik-WM, einen solchen rechtlichen Bann rechtfer-
        tigt. Darüber sollten wir ernsthaft diskutieren.
        Siebtens. Wir sollten es uns auch dabei nicht zu ein-
        fach machen und nicht in puren Aktionismus verfallen.
        Mein Kollege Stadler von der FDP hat im Innenaus-
        schuss gefragt: Wie wäre das, wenn er als Baseballspie-
        ler durch Hamburg geht – in welcher Straße würde er ge-
        feiert und in welcher Straße würde er verhaftet? Einmal
        als Sportler, einmal als potenzieller Nazi?
        Achtens. Grundsätzlich bleibt aber richtig: Alles, was
        Waffen und Gewalt verherrlicht oder nur legitimiert,
        kann nicht gut sein. Wenn Bündnis 90/Die Grünen nun
        zu dieser Erkenntnis zurückfindet, dann wird sich Die
        Linke dagegen nicht sperren. Im Gegenteil: Wir nehmen
        den Grünen-Antrag für eine Änderung des Waffenrechts
        gerne auf und an.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und
        Beamten in den Ländern (Beamtenstatus-
        gesetz – BeamtStG) (Tagesordnungspunkt 15)
        Ralf Göbel (CDU/CSU): Nach vielfältigen und in-
        tensiven Beratungen in der Föderalismuskommission ha-
        ben wir im letzten Jahr die Föderalismusreform be-
        schlossen. Einer der Bestandteile in dieser Reform war
        die Veränderung der Gesetzgebungszuständigkeiten im
        Beamtenrecht. Demzufolge regelt der Bund lediglich
        den Status für alle Beamtinnen und Beamten der Länder
        und der Gemeinden, wohingegen die Länder selber die
        Kompetenz erhalten, den Bereich der Besoldung, Ver-
        sorgung und Laufbahn für ihre Beamtinnen und Beam-
        ten eigenständig zu regeln.
        Das vorliegende Beamtenstatusgesetz stellt somit die
        dienstrechtliche Klammerfunktion für alle Beamtinnen
        und Beamten der Bundesrepublik Deutschland dar. Das
        Ziel, das damit verfolgt wird, ist die Festlegung eines
        einheitlichen Dienstrechtes durch beamtenrechtliche
        Grundstrukturen, die für alle Beamtinnen und Beamten
        gleichermaßen gelten. Daneben wollen wir mit diesem
        Gesetz sicherstellen, dass Mobilität möglich ist beim
        Wechsel des Dienstherrn, und wir wollen einen Rahmen
        schaffen für ein modernes und einheitliches Personal-
        management in der öffentlichen Verwaltung. Das Gesetz
        gibt den Rahmen dafür, dass die Zukunftsfähigkeit des
        öffentlichen Dienstes sichergestellt werden kann und
        dass eine Anpassung an die sich wandelnden gesell-
        schaftlichen und wirtschaftlichen Anforderungen mög-
        lich ist.
        Die Bundesgesetzgebungskompetenz für die Beam-
        tinnen und Beamten der Länder und der Gemeinden
        bezieht sich auf die Festlegung der wesentlichen Grund-
        strukturen des Beamtenrechts. Hierzu gehören das We-
        sen, die Voraussetzung und die Rechtsform der Begrün-
        dung des Beamtenverhältnisses, die Arten, die Dauer
        sowie die Nichtigkeits- und Rücknahmegründe des Be-
        amtenverhältnisses sowie die Voraussetzungen und For-
        men der Beendigung desselben. Ferner sind regelungs-
        bedürftig das Institut der Abordnung und Versetzung der
        Beamten zwischen den Ländern und zwischen dem
        Bund und den Ländern sowie die Festlegung bestimmter
        statusrechtlicher Pflichten und die Folgen ihrer Nicht-
        erfüllung.
        Das besondere Dienst- und Treueverhältnis, das die
        Beamtinnen und Beamten gegenüber ihrem Dienstherrn
        eingehen, fordert ferner, dass die Dienstpflichten, aber
        auch die Rechte der Beamten durch das Statusgesetz
        festgelegt werden.
        Bei alledem ist zu berücksichtigen, dass die personal-
        wirtschaftlichen Gestaltungsspielräume der Länder er-
        halten bleiben. Insoweit war es notwendig und auch
        sinnvoll, dass der Bundesgesetzgeber bei der Fassung
        dieses Gesetzes eng mit den Bundesländern zusammen-
        gearbeitet hat. Dies ist durch diesen Gesetzentwurf ein-
        drucksvoll dokumentiert. Er gibt den Ländern vielfältige
        Möglichkeiten, den vom Bundesgesetzgeber zu setzen-
        den Rahmen auszufüllen.
        Allerdings – auch das gehört zur Wahrheit – wurden
        seitens der Innenpolitiker bei der Verabschiedung der
        Föderalismusreform im vergangenen Jahr einige Beden-
        ken an dieser Neukonstruktion des Beamtenrechtes gel-
        tend gemacht. Wir kehren zumindest in Teilen zu einem
        Rechtszustand zurück, der vor 1971 lag und der damals
        als unbefriedigend erachtet worden ist. Die damaligen
        Debatten, die im Deutschen Bundestag und im Bundes-
        rat geführt worden sind, geben hierfür ein beredtes Bei-
        spiel. Dennoch hat die überwältigende Mehrheit dieses
        Hauses diese neue Konzeption der Verteilung der beam-
        14030 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        tenrechtlichen Zuständigkeiten als richtig erachtet. Glei-
        ches gilt für den Bundesrat.
        In der zu dem Gesetz durchgeführten Anhörung sind
        einige Kritikpunkte vorgetragen worden, auf die ich ein-
        gehen will. Eine Forderung, die vielfältig an den Gesetz-
        geber herangetragen worden ist, ist die Festlegung einer
        Regelaltersgrenze im Beamtenstatusgesetz. Über die
        rechtliche Notwendigkeit der Festlegung einer solchen
        Regelaltersgrenze gibt es divergierende Auffassungen.
        Im Einvernehmen mit den Ländern haben wir auf die
        Festlegung einer Regelaltersgrenze im Beamtenstatusge-
        setz verzichtet. Die Länder sind in Zukunft für die Ver-
        sorgung der Beamtinnen und Beamten zuständig, und
        insoweit ist es folgerichtig, dass auch sie die Verantwor-
        tung für die Festlegung der Altersgrenze erhalten. Die
        konkrete Festlegung des Ruhestandsalters gehört nach
        meiner Auffassung nicht notwendigerweise zu den sta-
        tusrechtlichen Grundstrukturen und bedarf damit nicht
        der gesetzgeberischen Festlegung. Entscheidend ist die
        Festschreibung der Regelung über das Ausscheiden aus
        dem Beamtenverhältnis, und dafür genügt das „Errei-
        chen einer Regelaltersgrenze“. Eine weitere Konkretisie-
        rung ist aus meiner Sicht nicht notwendig.
        Im Übrigen verweise ich darauf, dass wir in speziel-
        len Laufbahnen schon seit vielen Jahren besondere
        Altersgrenzen haben, die von Land zu Land unterschied-
        lich festgelegt sind. Die Unterschiede gehen beispiels-
        weise im Polizeibereich so weit, dass mein Bundesland
        Rheinland-Pfalz, differenziert nach Laufbahngruppen,
        die besondere Altersgrenze zwischen 62 und 65 Jahren
        festgelegt hat, wohin dagegen der Bund und andere Bun-
        desländer bei Polizeibeamten noch die Regelaltersgrenze
        von 60 sehen. Insoweit bleibt es also der jeweiligen Ver-
        antwortung des Landesgesetzgebers überlassen, wann er
        seinen Beamtinnen und Beamten den Eintritt in den Ru-
        hestand ermöglicht.
        Ein zweiter Kritikpunkt, dessen Bedeutung nicht
        unterschätzt werden darf, ist die Anerkennung der Lauf-
        bahnbefähigung. Wir haben keine Regelung der gegen-
        seitigen Anerkennung von Laufbahnbefähigungen fest-
        gelegt. Derzeit finden in den meisten Bundesländern,
        aber auch beim Bund Überlegungen zur Reform des
        Laufbahn- und Besoldungsrechts statt. Es ist derzeit
        noch nicht konkret absehbar, wohin sich das Laufbahn-
        recht entwickeln wird. Nach Art. 74 Abs. l Nr. 27
        Grundgesetz liegt die Gesetzgebungskompetenz hier bei
        den Bundesländern. Es wird genau zu beobachten sein,
        wie sich das Laufbahnrecht entwickelt. Gegebenenfalls
        muss hier nachgesteuert werden, um die Mobilität der
        Beamtinnen und Beamten innerhalb der öffentlichen
        Dienstherren der Bundesrepublik Deutschland zu er-
        möglichen.
        Wechselt eine Beamtin oder ein Beamter von einem
        Dienstherrn zu einem anderen, müssen sich die Dienst-
        herren über die Verteilung der Versorgungslasten eini-
        gen. Eine gesetzliche Regelung über das Verhältnis der
        Verteilung der Versorgungslasten zwischen dem abge-
        benden und dem aufnehmenden Dienstherrn ist aus mei-
        ner Sicht entbehrlich. Die Beteiligten müssen sich bei ei-
        nem Wechsel des Dienstherrn über die Aufteilung der
        Versorgungslasten einig werden. Insoweit halte ich
        – auch wegen der Zuständigkeit der Länder für die Ver-
        sorgung – eine gesetzgeberische Regelung im Beamten-
        statusgesetz für entbehrlich.
        Am Ende wurde kritisch die Vorschrift über die Ne-
        bentätigkeiten der Beamten betrachtet. Ich halte es für
        grundsätzlich erforderlich, dass auch im Beamtenstatus-
        gesetz deutlich gemacht wird, dass es sich beim Beam-
        tenverhältnis um ein Dienstverhältnis mit besonderen
        Rechten und Pflichten handelt. Zwar ist der Gesetzestext
        sprachlich etwas modernisiert wurden, am Ende gilt aber
        weiterhin, dass das Beamtenverhältnis die Beamtin oder
        den Beamten zur vollen Hingabe an den Beruf verpflich-
        tet. Insoweit können Nebentätigkeiten der Beamtinnen
        und Beamten nicht die Regel sein, sondern sie müssen
        als Ausnahme betrachtet werden. Wir haben deshalb ein
        Modell gewählt, in dem die Nebentätigkeiten als grund-
        sätzlich anzeigepflichtig angesehen werden, dem Dienst-
        herrn aber vorbehalten ist, einen Erlaubnis- oder
        Verbotsvorbehalt dann auszusprechen, wenn die Neben-
        tätigkeit geeignet ist, dienstliche Interessen zu beein-
        trächtigen.
        Mit dieser gesetzgeberischen Regelung sind wir, so
        meine ich, den Anforderungen an den Gesetzgeber ge-
        recht geworden. Wir wollten keine übermäßige Bürokra-
        tisierung, andererseits mussten wir aber auch sicherstel-
        len, dass Nebentätigkeiten, die geeignet sind, dienstliche
        Interessen zu beeinträchtigen, vom Dienstherrn unter-
        sagt werden können. Mit der hier gefundenen Lösung
        haben wir den richtigen Ansatz gewählt.
        Lassen Sie mich zusammenfassen: Mit dem Beamten-
        statusgesetz haben wir einen guten Rahmen gesetzt, um
        die Fortentwicklung des Beamtenrechts in Deutschland
        durch die Dienstherren der Länder und der Gemeinden
        zu ermöglichen. Wir sind damit dem Auftrag aus der
        Föderalismusreform nachgekommen und haben zur
        Konkretisierung dieses Verfassungsauftrages einfach ge-
        setzlich einen weiten Rahmen gesetzt, indem die Bun-
        desländer nun aufgefordert sind, die ihnen übertragenen
        Gesetzgebungsbefugnisse auszufüllen. Es liegt nun an
        den Ländern und an den Gemeinden, für ihre Beamtin-
        nen und Beamten maßgeschneiderte und attraktive Re-
        gelungen zu entwickeln, die eine gute und erfolgreiche
        Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstes in der Bun-
        desrepublik Deutschland ermöglichen.
        Ich bedanke mich am Ende bei allen Beteiligten an
        diesem bisweilen schwierigen Diskussionsprozess für
        die konstruktiven Beiträge und Beratungen.
        Siegmund Ehrmann (SPD): Durch die Föderalis-
        musreform ist die Rahmenkompetenz des Bundes zum
        Erlass des Beamtenrechtsrahmengesetzes (BRRG) ent-
        fallen. Stattdessen hat der Bund jetzt nur noch eine kon-
        kurrierende Gesetzgebungsbefugnis zur Regelung der
        Statusrechte und -pflichten der Angehörigen des öffent-
        lichen Dienstes der Länder, Gemeinden und anderen
        Körperschaften des öffentlichen Rechts, die in einem
        Dienst- und Treueverhältnis stehen. Die Kompetenz er-
        streckt sich nicht auf Laufbahnen, Besoldung und Ver-
        sorgung. Mit dem Entwurf eines Beamtenstatusgesetzes
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14031
        (A) (C)
        (B) (D)
        wird von dieser Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch ge-
        macht, wobei das Gesetz der Zustimmung des Bundes-
        rats bedarf.
        Vorgesehen ist eine Vereinheitlichung und Moderni-
        sierung der statusrechtlichen Grundstrukturen, um die
        Mobilität insbesondere bei einem Dienstherrnwechsel zu
        gewährleisten. Dazu gehören Wesen, Voraussetzungen,
        Rechtsform der Begründung, Arten, Dauer sowie Nich-
        tigkeits- und Rücknahmegründe des Beamtenverhältnis-
        ses; Abordnungen und Versetzungen der Beamtinnen
        und Beamten zwischen den Ländern und zwischen dem
        Bund und den Ländern, Zuweisung einer Tätigkeit bei
        anderen Einrichtungen und länderübergreifende Umbil-
        dung von Körperschaften; Voraussetzungen und Formen
        der Beendigung des Beamtenverhältnisses; statusprä-
        gende Pflichten der Beamtinnen und Beamten und
        Folgen der Nichterfüllung; wesentliche Rechte der Be-
        amtinnen und Beamten; Bestimmung der Dienstherrnfä-
        higkeit; Spannungs- und Verteidigungsfall und Verwen-
        dungen im Ausland.
        Zur Berücksichtigung ihrer regionalen Besonderhei-
        ten werden den Ländern Gestaltungsspielräume einge-
        räumt.
        Das Beamtenrechtsrahmengesetz (BRRG) wird mit
        Inkrafttreten des Beamtenstatusgesetzes weitgehend auf-
        gehoben. Kapitel II und § 135 BRRG bleiben zunächst
        bestehen und gelten nach Art. 125 a GG als Bundesrecht
        fort. Diese Vorschriften betreffen die einheitlich und un-
        mittelbar geltenden Regelungen des BRRG, die für die
        Länder bereits weitgehend, aber noch nicht vollständig
        im Beamtenstatusgesetz enthalten sind und für den Bund
        bis zur Novellierung des Bundesbeamtengesetzes bzw.
        für die Länder bis zum Erlass eigener Vorschriften wei-
        tergelten.
        Bei der Anhörung im Innenausschuss wurden von den
        Sachverständigen und Interessenvertretern teilweise
        weitergehende Regelungen des Beamtenstatusgesetzes
        vorgeschlagen. Würden diese Vorschläge übernommen,
        müsste damit gerechnet werden, dass der Bundesrat dem
        Gesetzentwurf nicht zustimmte, weil die Länder im Ver-
        lauf des Gesetzgebungsverfahrens mehrfach deutlich ge-
        macht haben, dass sie eine Einschränkung ihrer Gestal-
        tungsspielräume mehrheitlich nicht hinnehmen werden.
        Der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen im In-
        nenausschuss beschränkt sich deshalb auf Regelungen,
        die vom Bundesrat gewünscht wurden oder sonst mit
        mehrheitlicher Zustimmung der Länder rechnen können.
        Der Deutsche Beamtenbund vertritt allerdings die
        Auffassung, dass der Bund verpflichtet sei, seine Gesetz-
        gebungsbefugnis weiter auszudehnen, als es in dem vor-
        liegenden Entwurf vorgesehen sei. Dabei handelt es sich
        allerdings um den untauglichen Versuch, die Kompe-
        tenzvorschriften des Grundgesetzes durch eine Berufung
        auf Art. 33 Abs. 5 GG auszuhebeln. Festzuhalten bleibt,
        dass sich diese Vorschrift an Bund und Länder richtet,
        die sie jeweils bei der Regelung des Beamtenrechts in ih-
        rem Zuständigkeitsbereich zu beachten haben. Wer zur
        Gesetzgebung berufen ist, ergibt sich hingegen nicht aus
        dieser Vorschrift, sondern aus den kompetenzrechtlichen
        Regelungen des Grundgesetzes. Das Beamtenstatusge-
        setz beruht auf einer konkurrierenden Gesetzgebungsbe-
        fugnis des Bundes, was nichts anderes bedeutet, als dass
        der Bund zur Gesetzgebung zwar befugt, aber nicht ver-
        pflichtet ist. Deshalb kann der Bund bei der Inanspruch-
        nahme der Gesetzgebungsbefugnis selbstverständlich
        auch weniger regeln als er regeln dürfte. Wegen der Zu-
        stimmungsbedürftigkeit bleibt ihm auch gar nichts ande-
        res übrig, als sich insoweit nach den mehrheitlichen
        Wünschen der Länder zu richten.
        Dr. Max Stadler (FDP): Mit dem Beamtenstatusge-
        setz macht sich der Bundesgesetzgeber in Sachen Beam-
        tenrecht noch kleiner, als er es nach der Föderalismusre-
        form ohnehin schon ist. Es wird nicht einmal ansatzweise
        der Versuch unternommen, die verbliebene Kompetenz
        auszuschöpfen. Die Bundesregierung und in ihrem
        Schlepptau die Koalitionsfraktionen drücken sich um die
        Beantwortung zentraler Fragen schlichtweg herum.
        Was ist eine in Berlin erworbene Laufbahnbefähigung
        in Bayern wert? Welcher Dienstherr hat in welcher Höhe
        für die Versorgung aufzukommen, wenn ein Beamter
        von Baden-Württemberg nach Nordrhein-Westfalen
        wechselt? Mit diesem Gesetz, liebe Kolleginnen und
        Kollegen von CDU/CSU und SPD, betreiben Sie Klein-
        staaterei. Sie sind dabei, das Berufsbeamtentum zu pro-
        vinzialisieren. Damit machen Sie es gerade solchen Be-
        amtinnen und Beamten schwer, die mobil sind, die bereit
        sind, für eine neue berufliche Herausforderung erforder-
        lichenfalls ihren Wohnsitz auch in ein anderes Bundes-
        land zu verlegen, oder die einfach nur den Wunsch ha-
        ben, ihrem Partner an einen anderen Ort zu folgen. Für
        viele Beamtinnen und Beamte wird sich das Gesetz als
        Klotz am Bein, als echtes Mobilitätshemmnis erweisen.
        Ich sehe hier erheblichen gesetzgeberischen Nachbes-
        serungsbedarf auf den Deutschen Bundestag zukommen.
        Auch im Innenausschuss haben Sie auf die anstehen-
        den Fragen keine Antworten gegeben. Die Frage, wer für
        die Versorgung aufkommt, soll im Einzelfall entschieden
        werden. Die Frage der Anerkennung von Laufbahnbefä-
        higungen soll erneut aufgerufen werden, wenn die Län-
        der ihr Laufbahnrecht geregelt haben. Auf diese Weise
        lassen Sie den Langsamsten das Tempo bestimmen. Das
        kann man beim Sonntagsspaziergang machen. Das darf
        aber nicht Handlungsmaxime zur Regelung des Status-
        rechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern und
        Gemeinden sein. Hier kommt dem Bundesgesetzgeber
        die Funktion zu, gemeinsame Maßstäbe für die Zukunft
        des Berufsbeamtentums zu setzen. Art. 33 Abs. 5 des
        Grundgesetzes weist dem Bundesgesetzgeber im ge-
        samtstaatlichen Interesse eine vorrangige Verantwortung
        für die Funktionsfähigkeit des Berufsbeamtentums zu.
        Es ist danach Aufgabe des Bundesgesetzgebers, einheit-
        liche Grundstrukturen für alle Dienstherren zu schaffen
        und die verfassungsrechtlichen Vorgaben durch gesetz-
        geberische Entscheidungen auszufüllen. Diesen Anfor-
        derungen wird das Beamtenstatusgesetz nicht annähernd
        gerecht.
        Aus liberaler Sicht ist ein weiterer wichtiger Punkt
        zu kritisieren: das Fehlen eines Leitbildes. Wie soll das
        Berufsbeamtentum der Zukunft aussehen? In welchen
        14032 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bereichen und bei der Erledigung welcher Aufgaben
        sollen auch zukünftig Beamtinnen und Beamte zum
        Einsatz kommen? Was ist mit der Aufgabe des Beam-
        tenrechts, politisch motivierte Personalentwicklung zu
        verhindern? Wie geht es weiter mit den verfassungs-
        rechtlichen Rahmenbedingungen im Besoldungs- und
        Versorgungsrecht? Hierauf gibt das Gesetz keine Ant-
        worten. Eine Festlegung der Funktion des Berufsbeam-
        tentums unterbleibt. Eine statusrechtliche Absicherung
        der Alimentation fehlt. Ebenso fehlen eine Absiche-
        rung des Anspruchs auf Teilhabe an der allgemeinen
        Einkommensentwicklung und eine Verankerung des
        Grundsatzes, dass die Rechtsstellung der Beamtinnen
        und Beamten nur durch Gesetz oder aufgrund eines Ge-
        setzes geregelt werden kann.
        Um Missverständnissen vorzubeugen: Uns geht es
        nicht um Redundanz. Wir sehen aber die Gefahr, dass
        der hier praktizierte gesetzgeberische Minimalismus
        ganz schnell auch in einen beamtenpolitischen Relativis-
        mus umschlagen kann. Hierauf wurde bereits in der
        Sachverständigenanhörung hingewiesen. Aus dem Ge-
        setz wird nicht klar, warum wir überhaupt noch Beam-
        tinnen und Beamte brauchen. Das ist Wasser auf die
        Mühlen derer, die das Berufsbeamtentum am liebsten
        gleich ganz abschaffen würden. Das ist nicht der Weg
        der FDP. Wir bekennen uns zum Berufsbeamtentum und
        wollen es durch eine Konzentration auf Kernbereiche
        stärken. Ein solches Bekenntnis hätten wir uns auch von
        den Koalitionsfraktionen gewünscht. Dem Statusgesetz
        ist ein solches Bekenntnis nicht zu entnehmen. Auch
        deshalb werden wir es ablehnen.
        Petra Pau (DIE LINKE): Mit der sogenannten Föde-
        ralismusreform I wurden die Kompetenzen zwischen der
        Bundesebene und den Bundesländern neu geregelt – im
        Wesentlichen zugunsten der Bundesländer. Das hat Fol-
        gen, zum Beispiel auch für Beamtinnen und Beamte und
        deren Status. Im schlimmsten Fall bekommen wir
        17 verschiedene Grundsatzregelungen für Beamtinnen
        und Beamte, je nachdem ob sie beim Bund eingesetzt
        sind oder in welchem der 16 Bundesländer. Die Landes-
        regelungen wiederum können je nach politischer Cou-
        leur oder Kassenlage höchst unterschiedlich sein. Noch
        verwirrender kann es werden, wenn Beamtinnen oder
        Beamte ihren Dienstsitz wechseln wollen oder müssen,
        etwa von der Bundesebene in ein Bundesland oder von
        einem Land in ein anderes oder von einer öffentlichen
        Einrichtung in ein privatisiertes Unternehmen. Die erste
        Frage, die heute per Gesetz beantwortet werden muss, ist
        also: Lassen sich bundeseinheitliche Regelungen finden,
        die eine unübersichtliche Kleinstaaterei verhindern? Die
        zweite Frage, die jede Fraktion beantworten muss, heißt:
        Sind diese bundeseinheitlichen Regelungen ausreichend
        und gut?
        Die Fraktion Die Linke kommt zu dem Schluss: Das
        vorliegende Gesetz ist weder ausreichend noch gut. Wir
        werden es also ablehnen. Nun ist das – wie immer – eine
        Frage der Perspektive. Die einen gucken eher durch die
        Brille der Dienstherren oder -frauen. Die anderen fragen:
        Was bedeutet das Gesetz für die betroffenen Beamtinnen
        und Beamten? Die Linke hat sich beide Fragen gestellt,
        aber vorrangig natürlich die nach den Auswirkungen für
        Beamtinnen und Beamte. Und da ihr Status mit diesem
        Gesetz und mit den darin enthaltenen Regelungen nicht
        besser, sondern eher noch unsicherer und schlechter
        wird, werden wir mit Nein stimmen. Die Linke hat im
        Innenausschuss versucht, das vorliegende Gesetz noch
        zu verbessern. Aber unser Antrag wurde abgelehnt, wie
        zu erwarten von der Unionsfraktion und von der SPD;
        leider auch von der FDP, auch sie hatte die Brille der
        Dienstherren auf und nicht die Beamtinnen und Beamten
        im Blick. Wir bedauern das.
        Nun will ich an zwei Beispielen illustrieren, warum
        das Gesetz schlecht ist. Erstes Stichwort: Versorgungs-
        bezüge. Sie werden von Land zu Land unterschiedlich
        gehandhabt. Allein das ist problematisch. Noch proble-
        matischer wird es, wenn eine Beamtin oder ein Beamter
        von einem Bundesland in ein anderes wechselt oder ver-
        setzt wird. Wie dann mit den erworbenen Versorgungs-
        ansprüchen umgegangen wird, das muss zwischen den
        einzelnen Bundesländern ausgehandelt und per Staats-
        vertrag fixiert werden. Jedes Bundesland muss also mit
        jedem anderen Bundesland einen entsprechenden Ver-
        trag abschließen. Ich bitte allein mal den bürokratischen
        Aufwand zu beachten. Wie und nach welchen Modalitä-
        ten diese Staatsverträge ausgehandelt werden, das klärt
        derzeit eine Kommission. In dieser Kommission sind
        ausschließlich die sogenannten Geberländer, also die rei-
        cheren Bundesländer, vertreten. Sie sitzen damit gegen-
        über den ärmeren Ländern am längeren Hebel. Man
        kann sich ausrechnen, wohin das fuhrt.
        Das 1990 im Zuge der Vereinigung eingeführte Soli-
        darprinzip bei der Teilung der Versorgungskosten wird
        mit diesem Gesetz wieder abgeschafft. Die Kleinstaate-
        rei im Beamtenrecht führt noch zu weiteren Problemen.
        Sie drohen zumindest, und sie werden durch dieses Ge-
        setz nicht gebannt. Auch sie gehen auf Kosten der Be-
        amtinnen und Beamten.
        Stichwort: Laufbahnbefähigung. Wer als Beamtin
        oder Beamter die Dienststelle wechselt oder wechseln
        muss, läuft nämlich Gefahr, dass seine bisher erworbene
        Befähigung und damit seine Laufbahnchancen beim
        neuen Arbeitgeber nicht mehr anerkannt werden. Das
        hätte man anders regeln können und – wie Die Linke fin-
        det – müssen.
        Stichwort: Versetzungen. Dem Gesetz liegt das er-
        klärte Ziel zugrunde, die Mobilität von Beamtinnen und
        Beamten zu erhöhen. Dieses Ziel wird es auch erreichen,
        indem die Rechte der Beamtinnen und Beamten kleiner
        und die Rechte der Dienststellen größer geschrieben
        werden als bisher. Per Gesetz wird Mitbestimmung ab-
        gebaut; auch das kritisieren wir.
        Schließlich: Zur Kleinstaaterei gehört auch, dass je-
        des Land eine unterschiedliche Altersregel einführen
        kann, ab wann Beamtinnen und Beamte in den Ruhe-
        stand gehen können. Auch das wird für viel Unruhe und
        Unsicherheit sorgen. Kurzum: Die Verhältnisse für Be-
        amtinnen und Beamte werden mit diesem Gesetz nicht
        besser, sondern schlechter.
        Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Was wir heute erleben, ist die Beerdigung eines
        großen Reformvorhabens. Das Eckpunktepapier zur Re-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14033
        (A) (C)
        (B) (D)
        form des öffentlichen Dienstrechtes ist in den Schubla-
        den verschwunden, die politischen Ziele – mehr Mobili-
        tät, mehr Leistung, mehr Durchlässigkeit – sind zu
        Grabe getragen worden. Wieder einmal bestätigt sich:
        Das Beamtenrecht ist in Deutschland nicht grundlegend
        reformierbar.
        Die Föderalismusreform I hat die Kompetenz des
        Bundes für die Beamten weitgehend abgeschafft und ein
        Loch gerissen, das die Länder bis heute nicht gestopft
        haben. Es waren die Ministerpräsidenten und die Finanz-
        minister, die unbedingt die Kompetenz haben wollten.
        Jetzt können und wollen die Innenminister die Verant-
        wortung nicht tragen, und vor wichtigen Landtagswah-
        len will es sich niemand mit den Beamten verderben.
        Noch hat kein Bundesland ein eigenes Gesetz geschaf-
        fen.
        Der Bund ist nicht bereit, eine weitgehende Rahmen-
        gesetzgebung vorzulegen; er beschränkt sich auf das un-
        bedingt Erforderliche. Die ohnehin schon geringe Kom-
        petenz des Bundes wird nicht genutzt. In dieser
        organisierten Verantwortungslosigkeit bleiben Moderni-
        tät und Reformziele zwangsläufig auf der Strecke.
        Bei so viel Unwillen nützt auch eine Anhörung we-
        nig. Die vielen wichtigen und produktiven Hinweise, die
        wir in der Anhörung im März dieses Jahres gehört ha-
        ben, wurden auch in den Änderungsanträgen in keiner
        Weise aufgenommen. Wenn man nicht handeln will, hel-
        fen die besten Anregungen nichts.
        Die Entscheidungen der Föderalismusreform I haben
        wir nicht begrüßt. Wir sahen den Rückfall in die Klein-
        staaterei und sehen uns heute bestätigt. Danach haben
        wir Grünen uns stets für eine starke Rahmengesetzge-
        bung, die die Mobilität der Beamten sichert, eingesetzt.
        Hierzu gehört für uns, sicherzustellen, dass bei einem
        Dienstherrenwechsel über Länder- und Kommunengren-
        zen hinaus eine wechselseitige Anerkennung der Zulas-
        sung zum Vorbereitungsdienst und der Laufbahnbefähi-
        gungen erfolgt. Im Gesetz findet man hierzu nichts.
        Wir standen und stehen auch dafür, dass der öffentli-
        che Dienst geöffnet und ein Quereinstieg erleichtert wer-
        den muss. Hierzu gehört, dass es die Möglichkeit für Be-
        werberinnen und Bewerber gibt, die die erforderliche
        Befähigung für ein Amt durch Lebens- und Berufserfah-
        rung außerhalb des öffentlichen Dienstes erworben ha-
        ben, in das Beamtenverhältnis aufgenommen werden zu
        können. Auch hierzu finden wir hier nichts im Entwurf
        von Schwarz-Rot.
        Lassen Sie mich abschließend noch einen Punkt an-
        sprechen, der mir ganz besonders am Herzen liegt. Die
        Förderung der Familie ist ein Thema, das noch nicht
        wirklich in der Union angekommen ist. Vielleicht kann
        Frau von der Leyen dem Bundesinnenminister Schäuble
        behilflich sein, in der Realität der modernen, jungen Fa-
        milienwelt anzukommen. Vielleicht hätte dann die Rege-
        lung eine Chance, dass Elternteile, die sich im Mutter-
        schutz oder Elternzeit befinden, hierdurch nicht bei der
        Einstellung benachteiligt werden. Wir haben uns jeden-
        falls im Innenausschuss für eine solche Regelung einge-
        setzt.
        Man kann nur feststellen: Der Bund hat die Chance
        vertan, ein Rahmengesetz vorzulegen, an dem sich die
        Länder orientieren können. Das Beamtenrecht bleibt
        eine Baustelle, die für die Große Koalition ganz offen-
        sichtlich eine Nummer zu groß ist.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung der Anträge:
        – Wiedererrichtung des Berliner Schlosses –
        Bau des Humboldt-Forums im Schlossareal
        Berlin – Rekonstruktion der historischen
        Fassaden sicherstellen
        – Humboldt-Forum statt Fassadenschloss –
        Schlossplatz mit Zukunftsorientierung
        (Tagesordnungspunkt 17 a und b)
        Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Mit dem von der
        Fraktion Die Linke in den Bundestag eingebrachten An-
        trag mit dem Titel „Humboldt-Forum statt Fassaden-
        schloss – Schlossplatz mit Zukunftsorientierung“ wird
        die Bundesregierung aufgefordert, den Architekturwett-
        bewerb auch für zeitgenössische bauliche Lösungen zu
        öffnen und von der zwingenden Vorgabe einer Rekon-
        struktion des ehemaligen barocken Stadtschlosses Ab-
        stand zu nehmen.
        Die Linke sieht in dem Bauvorhaben eine große
        Chance, das Humboldt-Forum zu einem modernen Be-
        gegnungszentrum für die Berlinerinnen und Berliner so-
        wie allen in- und ausländischen Besuchern zu machen,
        in dem sich Kultur, Naturwissenschaft und ein intensiver
        Ideenaustausch zu einer kulturellen und wissenschaftli-
        chen Nutzung vereinen.
        Lediglich ein Museum innerhalb einer Schlossat-
        trappe aufzubauen, wird dem herausragenden Standort
        im Zentrum Berlins nicht gerecht, ist einfallslos und ein-
        fach zu wenig in die Zukunft gewandt. Ohne ein schlüs-
        siges Nutzungskonzept ist die Entscheidung über die
        Gestaltung des Humboldt-Forums einschließlich der Fi-
        nanzierung ohnehin unverantwortlich und ohne demo-
        kratische Legitimation. Die Linke fordert die Bundesre-
        gierung auf, ein Konzept über die zukünftige Nutzung
        des Humboldt-Forums dem Bundestag vorzulegen. Die
        Linke bekennt sich zum Humboldt-Forum, lehnt aber die
        geplante Schlosskopie sehr energisch ab.
        Der Versuch, die Schlossfassadenkopie mit Spenden
        zu finanzieren, ist nach wie vor als gescheitert anzuse-
        hen. Damit entfällt aber auch die wesentliche Grundlage
        für die Entscheidung des Bundestages vom 4. Juli 2002.
        In der Debatte zum Stadtschlossantrag der FDP hatte be-
        reits meine Kollegin Gesine Lötzsch nachgefragt, ob je-
        mand wisse, dass der Verein bereits circa 14 Millionen
        Euro Spenden gesammelt habe? Die Antwort war Nein.
        Hat die Bundesregierung mittlerweile Einsicht in die Bü-
        cher des Vereins bekommen?
        Aber natürlich gibt es schon einen Plan B: Wenn die
        Spenden nicht kommen, dann soll die öffentliche Hand
        14034 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        einspringen. Ich will noch einmal daran erinnern: Der
        Haushaltsausschuss hat die Finanzplanung für das
        Schloss schon einmal als mangelhaft zurückgewiesen.
        Das Schloss soll – nach Aussagen der Bundesregierung –
        480 Millionen Euro kosten. 80 Millionen Euro sollen
        durch Spenden gesammelt werden. Herr Tiefensee will
        nun plötzlich auch noch 72 Millionen Euro für die Erst-
        ausstattung des Gebäudes haben. Davon war bisher nie
        die Rede. Falls der Schlüterhof des Humboldt-Forums
        überdacht werden sollte – was zunächst nicht geplant
        ist –, würden sich die Kosten sogar noch um bis zu
        50 Millionen Euro erhöhen. Die Gesamtkosten würden
        dann sogar 600 Millionen Euro erreichen. Wir nähern
        uns damit den früher einmal genannten Kosten von
        670 Millionen Euro.
        Der Beschluss des Deutschen Bundestags vom 4. Juli
        2002, die historischen Fassaden wiederherzustellen, ba-
        siert auf der Zusage eines privaten Vereins, die dafür nö-
        tigen 80 Millionen Euro durch Spenden aufzubringen.
        Dieses Versprechen wird nicht eingehalten; davon kann
        man mit Sicherheit ausgehen. Für die Linke ist der Be-
        schluss des Bundestags damit ohne Grundlage und zu
        korrigieren. Die Linke lehnt die Finanzierung der Kopie
        der Schlossfassade aus öffentlichen Mitteln ab. Wir for-
        dern die Bundesregierung auf, den Architekturwettbe-
        werb für eine Untersuchung zeitgenössischer baulicher
        Lösungen zu öffnen und von der zwingenden Vorgabe
        der Rekonstruktion der Fassaden, der Höfe und der Kup-
        pel Abstand zu nehmen. Der Entwurf von David
        Chipperfield für das neue Eingangsgebäude der Mu-
        seumsinsel zeigt, zu welchen herausragenden gestalteri-
        schen Leistungen eine sensible zeitgenössische Archi-
        tektur in der Lage ist.
        Die Mitglieder des Deutschen Bundestages sollten die
        Ablehnung der Bevölkerung zur Kenntnis nehmen und
        sich mehr der Zukunft, weniger der Vergangenheit zu-
        wenden. Sie stünden an der Seite unter anderem von
        Axel Schultes, dem Erbauer des Bandes des Bundes,
        György Konrad, Präsident der Akademie der Künste,
        dem sozialdemokratischen Urgestein und langjährigen
        Präsidenten der Bundesarchitektenkammer Peter
        Conradi und David Chipperfield, der zur Kritik seines
        breit gerühmten Entwurfes für den Eingang zur Mu-
        seumsinsel sagt: „Diese Nostalgiker sehen Geschichte
        als Hollywoodfilm und wollen eine scheinechte Wieder-
        herstellung – das ist heute nicht mehr glaubwürdig.“
        Wortgleich lässt sich dieses Zitat auf die Schlossfraktion
        dieses Hauses beziehen.
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes
        zur Änderung des Grundgesetzes (Tagesord-
        nungspunkt 16)
        Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Heute ist ein gro-
        ßer Tag für Deutschland, ein großer Tag für Europa und
        vor allem ein großer Tag für die Bürger Europas. In Lis-
        sabon wurde von den 27 Staats- und Regierungschefs
        der Europäischen Union der EU-Reformvertrag unter-
        zeichnet. Dies ist ein historischer Erfolg. Die Phase der
        Stagnation in Europa ist damit vorbei. Unter der deut-
        schen Ratspräsidentschaft wurde ein wichtiger Schritt
        getan, um die Europäische Union auf ein neues institutio-
        nelles Fundament zu stellen.
        Dies ist ein ganz besonderes Verdienst unserer Bun-
        deskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. Zu Recht hat der
        derzeitige EU-Ratspräsident, Portugals Regierungschef
        José Sócrates, festgestellt, „dass nur wegen des Einsat-
        zes von Angela Merkel dieser Prozess erfolgreich war,
        die das Mandat für die Vertragsverhandlungen ausgehan-
        delt hat, ohne das alles nicht möglich gewesen wäre.“ An
        dieser Stelle darf ich sagen, wir können stolz sein auf un-
        sere Bundeskanzlerin.
        Auf Regierungskonferenzen wurden 1986 die Ein-
        heitliche Europäische Akte, 1992 der Maastricht-Ver-
        trag, 1997 der Vertrag von Amsterdam und 2001 der
        Vertrag von Nizza ausgearbeitet. Rein formal ist auch
        der Vertrag von Lissabon ein solcher Änderungsvertrag.
        In der Sache wurde dadurch jedoch eine Neuausrichtung
        und eine Neubegründung der Europäischen Union ange-
        stoßen, nachdem der sogenannte Verfassungsvertrag
        nach den Volksabstimmungen in den Niederlanden und
        in Frankreich noch gescheitert war.
        Bevor ich mich zum vorliegenden Gesetzentwurf der
        Linken äußere, möchte ich zunächst noch fünf Punkte
        hervorheben, die deutlich machen, warum der Vertrag
        von Lissabon für jeden Einzelnen von uns ein Gewinn
        ist:
        Erstens. Der Vertrag bringt ein Mehr an Demokratie.
        Einerseits werden die nationalen Parlamente früher in
        die europäische Gesetzgebung einbezogen, andererseits
        haben die nationalen Parlamente die Möglichkeit, die Ein-
        haltung des Subsidiaritätsprinzips zu rügen und – wenn
        nötig – per Subsidiaritätsklage vom Europäischen Ge-
        richtshof überprüfen zu lassen. Auch das europäische
        Parlament gewinnt erheblich an Bedeutung. Das Mitent-
        scheidungsverfahren wird zum Regelfall. Europäisches
        Parlament und Rat werden damit zu weitgehend gleich-
        berechtigten Gesetzgebern.
        Zweitens. Die Zuständigkeiten der EU können über-
        sichtlicher gestaltet werden. Wie bislang auch werden
        sie in drei Kategorien eingeteilt. Zu diesen Zuständig-
        keitsbereichen gibt es jeweils Zuständigkeitskataloge. In
        Art. 48 sieht der Vertrag erstmals ausdrücklich die Mög-
        lichkeit vor, Zuständigkeiten von der EU auf die Mit-
        gliedstaaten zurückzuübertragen.
        Drittens. Durch das Prinzip der doppelten Mehrheit
        werden endlich das Einstimmigkeitsprinzip auf das Not-
        wendige eingeschränkt und Mehrheitsentscheidungen
        begünstigt. So wird die Handlungsfähigkeit der Europäi-
        schen Union gesteigert.
        Viertens. In der Gemeinsamen Außen- und Sicher-
        heitspolitik wird künftig die „verstärkte Zusammenar-
        beit“ einer Gruppe von Mitgliedstaaten möglich sein.
        Fünftens. Die Einsetzung eines künftig auf zweiein-
        halb Jahre ernannten Kommissionspräsidenten und eines
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14035
        (A) (C)
        (B) (D)
        Hohen Vertreters für Außenpolitik wird mehr Kontinui-
        tät an die Spitze der Europäischen Union bringen.
        All diese Veränderungen waren notwendig, um die
        Europäische Union trotz massiver Veränderungen, wie
        die Osterweiterung, funktions- und handlungsfähig zu
        machen.
        Die Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die
        Linke wollen mit Ihrem Gesetzentwurf nun das Grundge-
        setz ändern, damit per Volksentscheid über den Vertrag
        von Lissabon entschieden werden kann. Was sie damit be-
        absichtigen, ist nur vermeintlich eine Einzelfallentschei-
        dung. Tatsächlich geht es hier jedoch um eine verfas-
        sungsrechtliche und politische Grundsatzfrage, nämlich
        ob unsere parlamentarische Demokratie in eine direkte
        Demokratie umwandelt werden soll. Auch wenn sie
        Volksentscheide nur bezüglich der vertraglichen Grund-
        lagen der Europäischen Union einführen möchten, so
        hätte dies massive Auswirkungen auf die verfassungs-
        rechtliche Struktur unseres Staates. Deshalb muss diese
        Frage mit großem Ernst und sachorientiert diskutiert
        werden. Sie haben allerdings nur ein einziges Argument,
        das sie in der Sache vorbringen. Sie behaupten, dass sich
        eine demokratische Legitimation der EU nur dadurch
        herstellen ließe, dass Bürgerinnen und Bürger durch ei-
        nen Volksentscheid über den Lissabon-Vertrag beteiligt
        würden. Sie sagen, dass eine Ratifikation durch den
        Bundestag, den Bundesrat und den Bundespräsidenten
        nicht ausreiche. Damit fordern sie die Einführung der so-
        genannten direkten Demokratie.
        Auf den ersten Blick scheint die Forderung nach mehr
        direkter Demokratie legitim zu sein. Befürworter von
        Volksentscheiden sprechen gerne von der wahren Demo-
        kratie, unverfälscht von Parteiinteressen, Machterhalt
        und Lobbyismus. Diese Vorstellung kann jedoch einer
        Überprüfung anhand von Argumenten, Fakten und Er-
        fahrungen nicht standhalten. Vielmehr erweist sie sich
        als eine – allzu romantische – Verklärung der Realität.
        Ich sage: Die direkte Demokratie ist nicht die bessere
        Demokratie. Durch Volksabstimmungen erreichte Ent-
        scheidungen setzen den Willen der Bevölkerung qualita-
        tiv nicht besser um als Entscheidungen durch das Parla-
        ment. Auch bei einem Volksentscheid wird sich das Volk
        nie einheitlich äußern. Auch bei einem Volksentscheid
        repräsentiert die Mehrheit das Ganze. Es gibt also auch
        bei der direkten Demokratie starke Elemente der reprä-
        sentativen Demokratie. Die Bezeichnung der direkten
        Demokratie als „wahre Demokratie“ ist verfehlt und ent-
        spricht damit nicht den Tatsachen.
        Außerdem ist es ein Irrglaube, dass die direkte Demo-
        kratie zu besseren Gesetzen führt. Das Verfahren der Ge-
        setzgebung per Volksentscheid ist ja im Prinzip ein sehr
        primitives Verfahren. Der Initiator des Volksentscheides
        stellt eine Frage. Der Bürger hat dann lediglich die Mög-
        lichkeit, mit Ja oder Nein zu antworten. Bei der parla-
        mentarischen Demokratie ist es anders. Wir haben ein
        „lernendes Verfahren“ – das heißt, dass grundsätzlich
        kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es hineinge-
        gangen ist. Es gibt mehrere Lesungen, dazu kommt die
        intensive Behandlung in den Ausschüssen. Es werden
        Sachverständigenanhörungen und Expertengespräche
        durchgeführt. Zudem wird eine Folgenabschätzung vor-
        genommen, teilweise bewertet ein extra dafür eingerich-
        tetes Gremium – der Normenkontrollrat – den entstehen-
        den Zuwachs an Bürokratie. Hier zeigt sich die
        institutionelle und systematische Überlegenheit der par-
        lamentarischen Demokratie. Bei Volksentscheiden ist ein
        solch ausgewogenes, auf Kompromissbereitschaft basie-
        rendes Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren
        nicht möglich.
        Bei der gestrigen Debatte hat sich einer der Vertreter
        von der Fraktion Die Linke sogar zu der infamen Be-
        hauptung verstiegen, der Vertrag von Lissabon sei „hin-
        ter dem Rücken der Leute“ erstellt worden. Diese Be-
        hauptung ist nicht nur sachlich falsch und geradezu
        abwegig, sondern auch bewusste Stimmungsmache.
        Richtig ist vielmehr, dass der Vertrag von Lissabon nicht
        von den Regierungen der Mitgliedstaaten in geheimen
        Zirkeln erarbeitet wurde. Der vorliegende Reformver-
        trag übernimmt nämlich große Teile des gescheiterten
        Verfassungsvertrages. Dieser wurde in öffentlichen Sit-
        zungen von dem Verfassungskonvent erarbeitet. Mehr-
        heitlich war dieser Verfassungskonvent mit Vertreterin-
        nen und Vertretern der nationalen Parlamente und des
        Europäischen Parlaments besetzt, von denen jeder Ein-
        zelne demokratisch gewählt war.
        Auch im deutschen Ratifikationsverfahren wird es
        kein Agieren „hinter dem Rücken der Leute“ geben.
        Vielmehr findet ein transparentes Verfahren im Deut-
        schen Bundestag statt, in dessen Rahmen zwei Lesun-
        gen, eine Sachverständigenanhörung und mehrere Ex-
        pertengespräche stattfinden werden. Wie absurd die
        Anschuldigung ist, man wolle hinter dem Rücken der
        Leute agieren, zeigt sich bereits darin, dass der Vertrag
        selbst ein Mehr an Bürgerbeteiligung vorsieht. Bürger-
        nähe und Transparenz ist durch Einführung eines plebis-
        zitären Elementes gewährleistet. Mit einer Bürgerinitia-
        tive können Bürgerinnen und Bürger, deren Anzahl
        mindestens eine Million betragen muss, die Kommission
        auffordern, Vorschläge zu bestimmten Themen zu unter-
        breiten. Das Recht auf Bürgerinitiative kann auf europäi-
        scher Ebene konstruktiv und sinnvoll sein, wir dürfen
        gespannt sein, wie es sich in der Zukunft bewährt.
        Ebenso unzutreffend ist es, dass Plebiszite angeblich
        der Europaskepsis und dem Vertrauensverlust in die Po-
        litiker entgegen wirken würden. Ich bin der festen Über-
        zeugung, dass gerade das Gegenteil der Fall ist. Die bis-
        her durchgeführten Plebiszite in anderen Ländern
        wurden vor allem von Europagegnern für ihre Zwecke
        benutzt. Durch Stimmungsmache gerieten die Abstim-
        mungen teilweise zu sogenannten Denkzetteln für die
        Regierenden. Das Vertrauen in die Politik wurde da-
        durch mit Sicherheit nicht gestärkt. Das Vertrauen der
        Bevölkerung können wir Politiker im Übrigen nur da-
        durch gewinnen, dass wir uns mehr anstrengen, besser
        arbeiten und – vor allem – unsere politischen Entschei-
        dungen besser vermitteln. Den oft bemühten Satz: „Wir
        müssen die Menschen mitnehmen“, wollte ich eigentlich
        nicht verwenden, im Kern drückt er aber eine der ele-
        mentarsten Anforderungen an politisches Handeln aus.
        Politisches Handeln muss glaubhaft, verlässlich und
        nachvollziehbar sein. Anders können wir der Politikver-
        14036 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        drossenheit nicht entgegenwirken – schon gar nicht mit
        der Einführung von Volksentscheiden.
        Allein aus den bisher genannten Gründen müsste dieser
        Gesetzentwurf abgelehnt werden. Da dieser Gesetzent-
        wurf jedoch massive Auswirkungen auf unsere verfas-
        sungsrechtliche Struktur hätte, müssen wir uns grundsätz-
        lich mit der Frage der Sinn- und Zweckmäßigkeit der
        Einführung von Volksentscheiden befassen. Das hat den
        Deutschen Bundestag auch schon mehrfach beschäftigt.
        Gemeinsam ist jedoch allen bisherigen Initiativen, dass
        keine die nötige Mehrheit im Parlament gefunden hat.
        Sie alle sind gescheitert. Gescheitert – weil zu viele gute
        Gründe gegen die Einführung von Volksentscheiden
        sprechen! Drei Gründe möchte ich nennen:
        Der erste Grund gegen Plebiszite sind die immer
        komplexer werdenden Fragestellungen unserer pluralis-
        tischen Gesellschaft. Gerade der EU-Reformvertrag ist
        derart komplex und umfangreich, dass man wohl kaum
        einen Bürger finden wird, der den gesamten Vertragstext
        gelesen hat.
        Der zweite Grund liegt darin, dass Plebiszite die ver-
        fassungsrechtlich garantierte, föderale Grundstruktur un-
        seres Staates beeinträchtigen. Unser Grundgesetz ist
        keine Aneinanderreihung von einzelnen Regelungen,
        vielmehr ist es ein äußerst ausgeklügeltes System von
        „checks and balances“. Durch Einführung eines Volks-
        entscheides würden vor allem die Mitentscheidungs-
        rechte der Länder stark eingeschränkt und unser histo-
        risch gewachsener Föderalismus beschädigt.
        Drittens schlägt bei Volksabstimmungen häufig die
        Stunde der Populisten. Populisten, die bei normalen
        Wahlen keinerlei Chancen hätten, könnten sich profilie-
        ren, indem sie bestehende Ängste schüren und einfache
        Lösungen anbieten. Populismus, Stimmungsmache und
        schlagwortartige Parolen können die Entscheidung über
        Sachfragen zum unsachlichen Abstimmungskampf de-
        gradieren. Lassen Sie mich hier nur zwei Beispiele an-
        führen:
        In Frankreich geriet bekanntermaßen die Abstim-
        mung über den Verfassungsvertrag zu einer Abstrafung
        der Regierung Chirac. Die Franzosen machten so ihrem
        Unmut über die Regierungsführung Luft.
        Das Nein der Niederlande zum Verfassungsvertrag
        war Ausdruck der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit
        der Lastenteilung innerhalb der EU sowie massiver Vor-
        behalte gegen die EU-Erweiterung.
        Ich möchte es mit Pat Cox, dem ehemaligen liberalen
        Präsidenten des Europäischen Parlamentes, sagen: „Es
        geht bei Volksabstimmungen um alles, nur nicht um die
        Frage, die gestellt wurde.“ Auch die Kolleginnen und
        Kollegen von der Fraktion Die Linke können diese Tat-
        sachen nicht ignorieren. Wer das Grundgesetz in dieser
        Richtung ändern möchte, darf die Augen nicht vor der
        Realität verschließen.
        Lassen Sie uns aus diesen gescheiterten Referenden
        unsere Lehren ziehen. Deutschland braucht kein Refe-
        rendum über den Reformvertrag. Wir brauchen keinen
        deutschen Sonderweg. Außer Irland wird kein anderer
        europäischer Staat ein Referendum über den Reformver-
        trag durchführen.
        Das alles sind Gründe gegen eine Ausweitung der un-
        mittelbaren Demokratie und zugleich auch ein Plädoyer
        für unser bewährtes parlamentarisch-repräsentatives
        System.
        Die Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die
        Linke wollen eine Verfassung ändern, die über 50 Jahre
        Demokratie und Stabilität in Deutschland gewährleistet
        hat. Dazu sage ich Nein. Nein, weil das Grundgesetz als
        bewährtes Fundament unser freiheitlich-demokratischen
        Grundordnung nur geändert werden sollte, wenn dies
        aus zwingenden Gründen unumgänglich ist. Ausdruck
        dessen sind ja auch die hohen Hürden, die einer Verfas-
        sungsänderung entgegenstehen. Solche zwingenden
        Gründe kann ich aber nicht erkennen. Weder heute noch
        in den Debatten der vergangenen Jahre wurde überzeu-
        gend dargelegt, warum wir auf Bundesebene mehr
        Volksentscheide brauchen.
        Die Erfahrungen aus Frankreich und den Niederlan-
        den zeigen uns nur allzu deutlich, wie leicht ein Volks-
        entscheid zum Ventil für eine bestehende allgemeine Un-
        zufriedenheit werden kann. Insbesondere Populisten
        möchten das Plebiszit als Vehikel für ihre primitiven Pa-
        rolen nutzen. Dies zeigten gestern auch die gespensti-
        schen Tumulte bei der Proklamation der Grundrechte-
        Charta in Straßburg. Vornehmlich Störenfriede und Ab-
        geordnete vom rechten politischen Rand störten die Ze-
        remonie. Die Proklamation wurde durch Sprechchöre
        mit dem Ruf „Referendum“ übertönt. Diese Szenen erin-
        nern schmerzhaft an das Niederschreien des Parlamentes
        in der Endphase der Weimarer Republik.
        Das Plebiszit ist eine große Bühne für einfache Bot-
        schaften. Den gestiegenen Anforderungen einer effekti-
        ven Gesetzgebung im modernen Europa des 21. Jahr-
        hunderts wird es nicht gerecht!
        Michael Roth (Heringen) (SPD): Vor mehr als zwei
        Jahren debattierten wir im Bundestag schon einmal über
        die Ratifizierung des Verfassungsvertrages der EU.
        Auch damals gab es Forderungen, die Bürgerinnen und
        Bürger direkt entscheiden zu lassen. Zwischenzeitlich
        liegt uns der Vertrag von Lissabon vor, der die Substanz
        des ursprünglichen Verfassungsvertrages bewahrt. Wir
        haben uns darüber immer wieder intensiv auch hier im
        Plenum ausgetauscht. Nichts geändert hat sich hingegen
        an den Chancen, plebiszitäre Elemente in unserem
        Grundgesetz auszuweiten.
        Die SPD befürwortet direkte Demokratie. Dafür wer-
        ben wir seit vielen Jahren. Gerade bei Entscheidungen
        über die Grundlagen unserer Demokratie und unseres
        Staates, bei wichtigen Sachfragen wollen wir die Bürge-
        rinnen und Bürgern stärker beteiligen. Wir haben in vie-
        len Ländern und auf lokaler Ebene damit durchaus gute
        Erfahrungen gemacht.
        Für die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge – dazu
        zählt auch der Vertrag von Lissabon – sieht das Grund-
        gesetz ein parlamentarisches Verfahren vor. Für die An-
        nahme des Vertrages von Lissabon ist eine Zweidrittel-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14037
        (A) (C)
        (B) (D)
        mehrheit in Bundestag und Bundesrat notwendig. Dieses
        parlamentarische Verfahren ist Teil unserer bewährten
        Verfassungswirklichkeit und Staatspraxis. Damit sind
        unsere Entscheidungen nicht weniger legitimiert als
        durch Volksentscheide.
        Voraussetzung für ein Referendum auf Bundesebene
        ist nach gegenwärtiger Rechtslage eine Änderung des
        Grundgesetzes. Die dafür notwendige Zweidrittelmehr-
        heit ist weder im Bundestag noch im Bundesrat auf ab-
        sehbare Zeit in Sicht. Ich bedauere dies. Ich halte es aber
        für durchaus gerechtfertigt, über das Für und Wider von
        plebiszitären Elementen im Grundgesetz zu streiten. Wir
        sollten uns als Abgeordnete schließlich nicht den
        Schneid abkaufen lassen.
        Den vorliegenden Gesetzesentwurf der Linken lehnt
        meine Fraktion ab. Und wenn die Autoren dieses Ge-
        setzentwurfes ehrlich wären, müssten Sie zugeben, dass
        es Ihnen in erster Linie gar nicht um mehr Bürgerbeteili-
        gung geht. Im Vordergrund Ihrer Bemühungen steht der
        Versuch, den Vertrag von Lissabon zu Fall zu bringen.
        Hierfür kämpfen Sie mit zum Teil bedenklichen Mitteln
        und inakzeptablen Argumenten seit Jahren.
        Während der gesamten Debatte über die Zukunft des
        Verfassungsvertrages haben Sie aus ihrer Ablehnung
        keinen Hehl gemacht. Über manchen Punkt des neuen
        Vertrags lässt sich trefflich streiten. Sie haben jedoch
        keine Gelegenheit versäumt, um Unwahrheiten und Ver-
        schwörungstheorien über den Verfassungsvertrag in Um-
        lauf zu bringen. Und nie haben sie auch nur ansatzweise
        einen positiven Beitrag zu der Debatte geleistet, wie wir
        Europa sozialer, transparenter und demokratischer ge-
        stalten können.
        Ihre Ablehnung basiert auf einer ganzen Reihe von
        fatalen Irrtümern. Das gilt für die von Ihnen unterstellte
        Militarisierung ebenso wie für Ihre Behauptung, der Ver-
        fassungsvertrag sei unsozial. Im Gegenteil: Mit dem
        Vertrag von Lissabon wird die EU als Friedensmacht ge-
        stärkt. Er umfasst mehr soziale Rechte als unser Grund-
        gesetz. Er bekennt sich klar und deutlich zur Solidarität.
        2005 habe ich mich für ein Referendum über den Ver-
        fassungsvertrag ausgesprochen. Auch heute noch bin ich
        überzeugt: Ein Referendum wäre eine ausgezeichnete
        Gelegenheit, umfassend für den neuen Vertrag zu wer-
        ben und eine breite gesellschaftliche Debatte über die
        europäische Integration anzustoßen. Die dafür notwen-
        dige Zweidrittelmehrheit ist jedoch weder im Bundestag
        noch im Bundesrat gegeben. Vorstöße in der vergange-
        nen Legislaturperiode scheiterten maßgeblich an der
        CDU/CSU. Daran wird auch Ihre fadenscheinige Initia-
        tive nichts ändern. Ein gesetzgeberischer Schnellschuss
        brächte uns nicht weiter.
        Dennoch stehen wir in der Pflicht, im Rahmen der
        parlamentarischen Befassung die Öffentlichkeit umfas-
        send zu informieren und den Dialog mit den Bürgerin-
        nen und Bürgern zu suchen. Hier erwarte ich mir von
        den Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion sub-
        stanziellere, kreativere und fairere Beiträge als in der
        Vergangenheit. Dem Projekt eines sozialen und demo-
        kratischen Europas haben Sie bislang einen Bärendienst
        erwiesen. Davon zeugt auch der vorliegende Antrag.
        Florian Toncar (FDP): Am 16. Dezember 2007 wer-
        den die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitglied-
        staaten in Lissabon den EU-Reformvertrag feierlich un-
        terzeichnen. Dieser soll bis Ende 2008 von allen
        Unterzeichnerstaaten ratifiziert werden. Falls dies ge-
        lingt, kann die für das Jahr 2009 angesetzte Neuwahl
        zum Europäischen Parlament bereits nach den im Ver-
        tragswerk enthaltenen neuen Regelungen erfolgen.
        Inhaltlich bringt der EU-Reformvertrag eine Reihe
        positiver Neuerungen. So wird die demokratische Legiti-
        mation der EU durch eine deutliche Stärkung des Euro-
        päischen Parlaments verbessert. Künftig wird das Mitbe-
        stimmungsverfahren in den meisten politischen Fragen
        zur Regel werden. Die Subsidiaritätsklausel ermöglicht
        es künftig den nationalen Parlamenten, bereits im Vor-
        feld Vorbehalte gegen gesetzgeberische Vorhaben der
        EU-Kommission zu äußern. Dies stärkt die parlamenta-
        rische Mitwirkung der nationalen Parlamente und somit
        die demokratische Legitimation der EU insgesamt. Die
        Charta der Grundrechte wird Rechtsverbindlichkeit er-
        langen, was die Rechte der einzelnen EU-Bürger auf
        eine neue solide Grundlage stellt. Die außenpolitische
        Handlungsfähigkeit der EU wird spürbar verbessert, in-
        dem die Ämter des Hohen „Beauftragten“ des Rates und
        des Außenkommissars durch dieselbe Person wahrge-
        nommen werden. Die Einführung der doppelten Mehr-
        heit trägt dafür Sorge, die Stimmgewichtung zwischen
        den Mitgliedstaaten auf eine Weise neu zu ordnen, die
        einerseits die kleineren Staaten vor dem politischen
        Übergewicht der bevölkerungsreichen Staaten schützt
        und andererseits die demokratische Repräsentanz in den
        größeren Staaten verbessert, indem das Stimmgewicht
        der Bürger in den größeren EU-Staaten dem Stimmge-
        wicht der EU-Bürger in den kleineren Staaten etwas an-
        genähert wurde. Hier ist ein guter Ausgleich der Interes-
        sen gelungen.
        Dies sind nur einige der wichtigsten Neuerungen, die
        der EU-Reformvertrag mit sich bringt. Auch wenn
        längst nicht alle politischen Wünsche erfüllt werden
        konnten, so bedeutet der Vertrag einen Fortschritt für
        den europäischen Einigungsprozess. Er stellt sicher, dass
        auch die zuletzt stark gewachsene EU künftig weiterhin
        handlungsfähig bleibt. In der Summe steht die FDP dem
        EU-Reformvertrag daher offen und positiv gegenüber.
        Der von der Linksfraktion vorgelegte Antrag will so-
        wohl die Ratifikation des EU-Reformvertrags als auch
        jede weitere EU-Vertragsänderung unter den Vorbehalt
        eines Volksentscheids in Deutschland stellen. Diesen
        Vorstoß lehnen wir ab.
        Zum einen ist es verfassungsrechtlich nicht möglich,
        dass bei einem solchen Volksentscheid alle Personen ab-
        stimmen dürften, die bei Wahlen zum Europäischen Par-
        lament wahlberechtigt sind, wie es die Linke fordert.
        Diese Gruppe würde auch in Deutschland lebende EU-
        Ausländer umfassen. Dabei verkennt dieser Ansatz der
        Linken, dass es sich bei dem EU-Reformvertrag wie
        auch bei vorangegangenen EU-Verträgen um völker-
        14038 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        rechtliche Akte des Nationalstaats Deutschland handelt
        und nicht um die Wahl zu einer Institution der Europäi-
        schen Union. Personen, die keine deutschen Staatsange-
        hörigen sind, können wegen Art. 20 Abs. 2 in Verbin-
        dung mit Art. 79 III GG nicht über völkerrechtliche
        Rechtsakte des deutschen Nationalstaats abstimmen.
        Das ist rechtlich etwas komplett anderes als die durch
        Art. 19 EG-Vertrag bzw. Art. 28 GG vorgesehene Be-
        rechtigung von Unionsbürgern zur Wahl zu EG-Organen
        bzw. Körperschaften der kommunalen Selbstverwaltung.
        Der Antrag der Fraktion Die Linke verstößt daher offen-
        kundig gegen das Grundgesetz.
        Eine Volksabstimmung über den EU-Reformvertrag
        ist aber auch nicht angezeigt, weil es sich um einen ge-
        wöhnlichen völkerrechtlichen Vertrag handelt, der die
        bestehenden Verträge lediglich modifiziert. In seiner
        Qualität geht er nicht über andere Änderungsverträge
        wie Maastricht, Amsterdam oder Nizza hinaus. Für die
        Revision existierender Verträge sind der Deutsche Bun-
        destag und der Bundesrat als demokratisch legitimierte
        Gremien die richtige Instanz.
        Die FDP hat sich 2003 für einen Volksentscheid zur
        Ratifikation der europäischen Verfassung ausgespro-
        chen. Diese Verfassung, so wie sie ursprünglich ange-
        dacht war, hätte eine neue Qualität der Souveränitäts-
        übertragung an die Europäische Union bedeutet, die eine
        breite Legitimierung durch einen Volksentscheid erfor-
        dert hätte. Der jetzige EU-Reformvertrag bleibt in seiner
        Rechtsqualität deutlich hinter der geplanten Verfassung
        zurück. Er bewirkt lediglich eine Modifikation bestehen-
        der Verträge und schafft eben kein einheitliches Doku-
        ment mit dem Charakter einer Verfassung. Dies wird
        umso deutlicher, als die Charta der Grundrechte dem
        Vertrag lediglich angefügt wurde, anstatt sie dem Vertrag
        voranzustellen. Auf mit dem Begriff Verfassung verbun-
        dene Symbole wie beispielsweise die Flagge oder die
        Hymne wurde verzichtet. Der EU-Reformvertrag stellt
        also nicht den Abschluss einer Entwicklung hin zu einer
        europäischen Verfassung dar, sondern ist nur ein weite-
        rer Zwischenschritt. Daher erfordert seine Ratifikation
        aus unserer Sicht keine Volksabstimmung.
        Ich möchte unterstreichen, dass die FDP mit dieser
        Einschätzung in Europa nicht alleine steht. Im Gegen-
        teil: Bisher hat nur Irland erklärt, ein Referendum abhal-
        ten zu wollen. Zahlreiche Staaten, die über die europäi-
        sche Verfassung ein Referendum abgehalten haben oder
        dies vorhatten, haben bereits erklärt, bei der Ratifikation
        dieses EU-Reformvertrags darauf verzichten zu wollen.
        Dies gilt beispielsweise für Frankreich, Dänemark und
        Großbritannien.
        Fest steht jedoch: Sollte es künftig einmal in der EU
        einen weiteren Anlauf zur Verabschiedung einer echten
        europäischen Verfassung geben, wird die FDP sich auch
        weiterhin für einen Volksentscheid einsetzen.
        Im Übrigen darf man an dieser Stelle nicht verschwei-
        gen, was die eigentliche Absicht der Linken hinter dieser
        Initiative ist. Ihr Plan ist es, ein solches Plebiszit zu
        missbrauchen, um mit plumpen Parolen gegen das Ver-
        tragswerk Polemik machen zu können. Es geht ihnen
        weniger um ein faires demokratisches Verfahren als um
        die Schaffung einer Möglichkeit, eine destruktive Dis-
        kussion gegen den EU-Reformvertrag zu führen. So
        wollen sie antieuropäische Reflexe mit konstruierten Ar-
        gumenten bedienen. Da macht die FDP nicht mit. Wir
        lehnen den vorgelegten Gesetzesentwurf daher aus ver-
        fassungsrechtlichen wie politischen Gründen ab.
        Alexander Ulrich (DIE LINKE): Manchmal sagen
        Bilder mehr als tausend Worte: Heute reiste die gesamte
        Entourage der europäischen Staats- und Regierungschefs
        nach Lissabon, um den Reformvertrag zu unterzeichnen.
        Danach hoben sie ganz klimafreundlich, natürlich je-
        weils in einem Flugzeug, nach Brüssel zum EU-Gipfel
        ab.
        Stil und Inhalt der Europapolitik stimmen überein:
        Sie haben jedes Gefühl dafür verloren, was die Men-
        schen in Europa bewegt. Sie feiern sich selbst und ver-
        gessen darüber, was die Menschen in Europa von der EU
        erwarten. Dass wir um diese späte Uhrzeit über Volksab-
        stimmungen sprechen, zeigt ihr gestörtes Verhältnis zur
        Bevölkerung. Die Linke, hat an anderer Stelle bereits
        darauf hingewiesen, warum wir den vorliegenden Ver-
        tragsentwurf für europafeindlich halten. Er ist militaris-
        tisch, denn der Vertrag löst die strenge Bindung an die
        UN-Charta auf und gebietet die ständige Verbesserung
        der militärischen Kapazitäten.
        Der Vertrag schreibt eine gescheiterte Wirtschaftspo-
        litik fest. Preisstabilität genießt Vorrang vor Wachstum
        und Beschäftigung und zementiert damit eine internatio-
        nal unübliche Geldpolitik. Wer die Preise stabil halten
        möchte, sollte eine effektive europäische Regulierungs-
        behörde schaffen und die Infrastruktur monopolistischer
        Industrien, etwa der Energienetze, in öffentliche Hand
        überführen, Der Vertrag verhindert dies mit seiner Fest-
        legung auf einen unverfälschten Wettbewerb, der aber
        genau in diesen Bereichen nicht möglich ist. Die Da-
        seinsvorsorge in den Mitgliedstaaten ist auch im vorlie-
        genden Entwurf nicht gesichert.
        Der Vertrag bricht mit den Lehren aus der europäi-
        schen Geschichte. Eine Lehre aus der europäischen Ge-
        schichte war die Unteilbarkeit der politischen und der
        sozialen Rechte. Den Sozialstaat durch wettbewerbsfä-
        hige soziale Marktwirtschaft zu ersetzen, beerdigt das
        europäische Wirtschafts- und Sozialmodell und ist
        grundgesetzwidrig. Sie demonstrieren damit ein ähnli-
        ches Verhältnis zum Sozialstaat wie China zum Rechts-
        staat.
        Die wenigen demokratischen Fortschritte des Vertra-
        ges werden bei weitem nicht der Bedeutung der EU ge-
        recht. 80 Prozent aller nationalen Gesetzesvorhaben
        werden von der EU beeinflusst. Doch das Europäische
        Parlament kann immer noch keine eigenen Gesetzesini-
        tiativen verabschieden. Der Doppelhut des europäischen
        Außenministers behindert eine demokratische Kontrolle
        der europäischen Außenpolitik.
        Sie beschädigen mit Ihrer Politik die europäische
        Glaubwürdigkeit. Sie ermahnen in Sonntagsreden gerne
        andere Staaten zur Einhaltung der Menschenrechte. Sie
        beklagen zu Recht unfaire Wahlen in Russland und kriti-
        sieren Hugo Chavez. In Venezuela hatten die Menschen
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14039
        (A) (C)
        (B) (D)
        aber Gelegenheit, über ihre Verfassung abzustimmen
        und sie abzulehnen.
        In Europa verweigert man den Menschen eine Verfas-
        sung, wenn sie mit dem Inhalt nicht einverstanden sind.
        Man wirft alles aus dem Vertrag, was den Menschen et-
        was bedeutet: die Hymne, die Fahne, das Wort Verfas-
        sung. Dann packt man den Inhalt, den die Menschen ab-
        lehnen, wieder hinein. Zum Schluss werden die
        Menschen, außer in Irland, nicht mehr gefragt. Ist das
        der Höhepunkt der europäischen Demokratie?
        Eine Verfassung muss offen sein für den zukünftigen
        Willen der Europäerinnen. Sie darf nicht das Programm
        meiner oder irgendeiner anderen Partei abbilden. Dass
        Sie die Menschen darüber nicht entscheiden lassen,
        zeigt, dass Sie Angst vor den Menschen haben.
        In noch einem Punkt stimmen Form und Inhalt über-
        ein: Bis heute gibt es keinen öffentlich zugänglichen,
        lesbaren Vertrag.
        Wir sind die einzige Fraktion im Deutschen Bundes-
        tag die an einer Verfassung für Europa festhält. Wir sind
        die einzige Fraktion, die möchte, dass die Menschen
        wissen, was in Europa entschieden wird. Gemeinsam mit
        unseren Partnern in der Europäischen Linkspartei for-
        dern wir Volksabstimmungen über diesen Vertrag in Eu-
        ropa.
        Wir laden SPD und Grüne dazu ein, gemeinsam mit
        der Linken mehr Demokratie zu wagen. Wenn Sie es
        ernst meinen mit Europa, stimmen Sie der notwendigen
        Ergänzung des Grundgesetzes und unserem Antrag zu.
        Die Linke sagt der Bundesregierung mit den Worten
        eines großen Lyrikers: Wenn der Regierung das Volk
        nicht passt, soll sie sich ein neues Volk wählen.
        Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wir beraten heute erneut über das Thema der Einführung
        von Volksentscheiden und Volksbegehren in das Grund-
        gesetz. Es ist das zweite Mal in dieser Wahlperiode, und
        über dieses Thema muss so lange geredet werden, bis
        auch die Union verstanden hat, dass man seinen Wähle-
        rinnen und Wählern vertrauen muss. Wir und die ande-
        ren Oppositionsparteien haben dazu Vorschläge unter-
        breitet. Die kann man nebeneinanderlegen. Da gibt es
        gewisse Unterschiede etwa bei den Quoren, die für die
        Einleitung eines Volksentscheides und für die Festellung
        der Mehrheit notwendig sind. Aber in der Sache sind wir
        uns einig. Wir wollen nach den sehr guten Erfahrungen
        auf Landesebene auch im Bund die Bürgerinnen und
        Bürger aktiv in die Politik einbeziehen. Die Argumente,
        die auch heute wieder dagegen vorgetragen worden sind,
        entspringen übersteigerten Angstfantasien. Berlin ist
        nicht Weimar.
        Jetzt zum Vorschlag der Linken. Sie stellen einen
        neuen Antrag, um eine Volksabstimmung allein über den
        EU-Reformvertrag zu ermöglichen. Das wäre nicht nötig
        gewesen. Ihr alter Antrag war doch schon so ein schöner,
        von den lobenswerten Initiativen für mehr direkte De-
        mokratie abgeschriebener Best-of-Katalog. Darin haben
        Sie alle Beschränkungen, über die man reden muss,
        wenn man das Instrument seriös einsetzen will, auf ein
        Minimum abgesenkt. Sie wollen ja bereits die Abstim-
        mung über einen im Bundestag in jedem Fall als Zustim-
        mungsgesetz zu beschließenden völkerrechtlichen Ver-
        trag, wie es der Reformvertrag sein wird. Warum also
        dieser neue Antrag? Die Antwort ist wie immer bei Ih-
        nen genauso simpel wie die Frage. Sie wollen eine Ab-
        stimmung, um den Reformvertrag zu verhindern. Das
        aber wollen wir nicht. Wir stehen zu Europa. Wir haben
        Kritik an Einzelpunkten. Darüber ist zu reden. Aber eine
        Anti-Europa-Kampagne gibt es mit uns nicht.
        Mit Ihrem Antrag finden sie sich wieder in einer
        Reihe mit den Populisten dieses Landes, die von
        Maastricht bis zum Euro gegen jede Neuerung in der EU
        in den Parlamenten und vor dem Bundesverfassungsge-
        richt gewettert haben. Die Herren Gauweiler,
        Schachtschneider, Kirchoff werden es Ihnen danken –
        auch die FDP, die schon einmal einen ähnlichen Vor-
        schlag unterbreitet hat, aber unbedingt einen Außen-
        minister Westerwelle stellen will. Herzlichen Glück-
        wunsch zu dieser Art von großer Opposition.
        Das Ziel Ihres Antrages zeigt auch, dass sie den Sinn
        und Zweck von Plebisziten nicht verstanden haben. Die
        Bürgerinnen und Bürger fragt man nicht nur dann, wenn
        es einem passt. Ein Plebiszit ist nicht nur ein anderes
        Mittel, um fehlende parlamentarische Mehrheiten zu er-
        setzen. Wir wollen Plebiszite aus Überzeugung und nicht
        aus strategischen Gründen. Gerade haben wir in Berlin
        einen Volksentscheid verloren. Aber das Verlierenkön-
        nen gehört zur Demokratie dazu. Wichtiger ist uns, dass
        Politik wieder auf eine breite Grundlage gestellt wird.
        Sich dafür den Reformvertrag herauszusuchen, um eine
        große Anti-Europa-Volksfront zu schmieden, ist wie
        häufig bei Ihnen blanker Populismus.
        Es ist auch nicht so, dass die Europäische Union un-
        demokratisch verfasst wäre, wie das in ihrem Antrag
        durchschimmert. Die Europäische Union ist ein Er-
        folgsprojekt, und gerade dieser Reformvertrag bringt uns
        mit der Grundrechtecharta ein Mehr an Rechten für die
        Bürgerinnen und Bürger. Er bringt auch dem Europäi-
        schen Parlament mehr an Kompetenzen. Umgekehrt
        sollten Sie bei den Standards, die Sie an die Legitimation
        der Europäischen Union anlegen, schwere Sorgen um
        ihre eigene innerparteiliche Legitimation haben – in
        Ländern wie Hessen beispielsweise.
        Haben Sie sich umgekehrt einmal überlegt, was die
        Folgen eines weiteren Rückschlages für die Europäische
        Union wäre? Meinen Sie, dass wir nach einem geschei-
        terten Referendum einfach so in den warmen Schoß des
        Nationalstaates zurückfallen? Es muss Ihnen doch auf-
        gefallen sein, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen
        Union beispielsweise im Bereich der inneren Sicherheit
        längst versuchen, an der parlamentarischen Kontrolle
        durch das Europäische Parlament vorbei Abkommen wie
        den Vertrag von Prüm zu schließen. Sie sollten sich be-
        mühen, die europäische Integration zu vertiefen, statt sie
        zu torpedieren.
        Ich fasse zusammen: Wir sind für Volksentscheide,
        notfalls auch über den Reformvertrag, wenn das Grund-
        gesetz insgesamt geändert wird. Eine Ad-hoc-Volksab-
        stimmung über den Reformvertrag lehnen wir aber ab.
        14040 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Pflanzenschutzgesetzes und des BVL-Gesetzes
        – Antrag: Schutz vor Pflanzenschutzmittel-
        rückständen in Lebensmitteln verstärken
        (Tagesordnungspunkt 19 a und b)
        Dr. Peter Jahr (CDU/ CSU): Mit dem Entwurf eines
        Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes und
        des BVL-Gesetzes werden diese an aktuelle Rechtspre-
        chungen und fachliche Erfordernisse der neueren Zeit
        angepasst. Da die letzte Änderung des Pflanzenschutz-
        gesetzes aus dem Jahre 1998 stammt und auf die Umset-
        zung der Richtlinie 91/414/EWG über das Inverkehr-
        bringen von Pflanzenschutzmitteln zurückgeht, sind
        verschiedene Regeln des Gesetzes nicht mehr aktuell
        und bedürfen der Änderung.
        Im Januar 2006 hat unter anderem der Europäische
        Gerichtshof in der Rechtssache C-98/03 festgestellt, dass
        die Formulierung in § 6 Abs. 1 des Pflanzenschutzgeset-
        zes ergänzt werden muss, um klarzustellen, dass auch
        der Schutz der besonders geschützten Tier- und Pflan-
        zenarten nach den Art. 12 und 13 der Richtlinie 92/43/
        EWG erfasst wird. Um die festgestellte Vertragsverlet-
        zung zu beheben, ist daher eine Ergänzung des § 6
        Abs. 1 nötig. Aus diesem Grund ist eine Beschlussfas-
        sung des Deutschen Bundestages noch in diesem Jahr
        unumgänglich.
        Eine Notwendigkeit der Änderung ergibt sich auch
        aus der Tatsache, dass das Pflanzenschutzgesetz keine
        konkreten Bestimmungen über die Aufzeichnungen der
        Anwendung von Pflanzenschutzmitteln nach Maßgabe
        des landwirtschaftlichen Fachrechts in der Landwirtschaft
        enthält. Anderseits sieht das Bundesnaturschutzgesetz in
        § 5 Abs. 4 eine schlagbezogene Aufzeichnungspflicht vor.
        Dazu kommt, dass auch die Verordnungen (EG) Nr. 852/
        2004 und (EG) Nr. 183/2005 festlegen, dass Lebens- und
        Futtermittelunternehmer Buch über die Verwendung von
        Pflanzenschutzmitteln führen müssen. Um eine einheit-
        liche und kontrollierbare Regelung für alle Anwender
        von Pflanzenschutzmitteln zu erreichen, ist die Festle-
        gung von allgemeinen Regelungen über die Aufzeich-
        nungspflicht in das Pflanzenschutzgesetz sinnvoll.
        Weitere Änderungen betreffen das Verfahren zur Zu-
        lassung von Pflanzenschutzmitteln und die sogenannten
        Vertriebserweiterungen. Im Gesetzentwurf wird ein ge-
        nauer zeitlicher Ablauf für die Behörden festgelegt, die
        an dem Verfahren der Zulassung von Pflanzenschutzmit-
        teln beteiligt sind, um eine ordnungsgemäße Bear-
        beitung der Verfahren zu bewerkstelligen. Vertriebs-
        vereinbarungen stellen Vereinbarungen zwischen einem
        Zulassungsinhaber und einem Dritten dar, die es diesem
        gestatten, ein Pflanzenschutzmittel des Zulassungsinha-
        bers unter einer anderen Bezeichnung in Verkehr zu
        bringen. Das Ziel effizienter Kontrollen macht es not-
        wendig, dass eine Anzeigepflicht für Unternehmer, die
        den Ankauf von Pflanzenschutzmitteln vermitteln, ein-
        geführt wird.
        Im Laufe des parlamentarischen Prozesses fanden
        umfangreiche Beratungen statt. Im Rahmen dieser Ge-
        spräche wurden mehrere Änderungen des Entwurfes im
        Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
        cherschutz angenommen. Der Gesetzentwurf trägt dem
        Urteil des EuGH Rechnung, indem die Verbote und Be-
        schränkungen der Art. 12 und 13 der FFH-Richtlinie
        zum Schutz gefährdeter Arten nun explizit in § 6 Abs. 1
        des Pflanzenschutzgesetzes aufgenommen werden. In
        Ergänzung dazu wird § 6 Abs. 3 dahin gehend geändert,
        dass es Möglichkeiten zur Erteilung von Ausnahmerege-
        lungen von den Geboten des § 6 Abs. 1 gibt. Mit der
        Formulierung des § 6, der sich eng an den Wortlaut der
        Richtlinie anlehnt, können weitere Probleme wegen
        nicht ausreichender Umsetzung vermieden werden.
        Um die Belastungen für die Praxis in Grenzen zu hal-
        ten, werden gleichzeitig die von der Europäischen Kom-
        mission akzeptierten Interpretationsspielräume genutzt.
        So wird beispielsweise bei den besonders geschützten
        Arten auf die lokale Population abgestellt und nicht auf
        das einzelne Exemplar. Gemäß. § 6 Abs. 1 Satz 4 liegt
        eine erhebliche Störung nur dann vor, wenn sich der Er-
        haltungszustand der geschützten Art verschlechtert, also
        der Fortbestand der lokalen Population gefährdet ist.
        Dies wird bei der praktischen Anwendung zu einer er-
        heblichen Erleichterung führen.
        Weitere Punkte im Entwurf sind die Einführung einer
        Entsorgungspflicht für verbotene Pflanzenschutzmittel,
        die Straffung des Zulassungsverfahrens für Pflanzen-
        schutzmittel durch die Einführung von bestimmten zeit-
        lichen Fristen und die Ergänzung der Regeln zu Parallel-
        importen zum Schutz gegen Missbrauch. Des Weiteren
        wird der Umgang mit Saatgut, das mit Pflanzenschutz-
        mitteln behandelt wurde, neu geregelt.
        Ein großer Streitpunkt war allerdings die konkrete
        Ausgestaltung von Regelungen der Aufzeichnungs- und
        Berichtspflichten. § 6 Abs. 4 (neu) des Gesetzentwurfes
        sieht vor, dass künftig bei der Anwendung von Pflanzen-
        schutzmitteln in einem Betrieb der Landwirtschaft,
        Forstwirtschaft und des Gartenbaus Aufzeichnungen zu
        führen sind. Dabei müssen der Name des Anwenders,
        das Anwendungsdatum, die jeweilige Anwendungsflä-
        che, das Anwendungsgebiet, das Pflanzenschutzmittel
        und die Aufwendungsmenge aufgezeichnet werden. Die
        Aufbewahrungsfrist der Aufzeichnungen wird auf zwei
        Jahre verkürzt.
        Die Umsetzung im Rahmen von Cross Compliance
        wird praxisorientiert erfolgen. Die derzeitigen Regelun-
        gen sollen im Jahr 2008 nicht verändert werden, um den
        Landwirten die Möglichkeit zu geben sich auf die Anfor-
        derungen der Aufzeichnungen einzustellen. An den Auf-
        zeichnungspflichten wird allerdings vor allem kritisiert,
        dass sie zu doppelten Aufzeichnungspflichten führen
        könnten.
        Ich bin sehr dankbar dafür, dass sich die Fraktionen
        von CDU/CSU und SPD im Ausschuss für Ernährung,
        Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf eine Erklä-
        rung zu diesem Gesetzesentwurf einigen konnten (Aus-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14041
        (A) (C)
        (B) (D)
        schussdrucksache 16 (10) 699). Auf diese Erklärung zur
        Klarstellung des Gewollten möchte ich an dieser Stelle
        besonders eingehen.
        In der Erklärung wird festgestellt, dass erstens mit
        den in § 6 Abs. 4 (neu) gesetzlich verankerten Aufzeich-
        nungspflichten keine neue Aufzeichnungspflicht einge-
        führt wird, sondern verschiedene, bereits bestehende
        Rechtsvorschriften im Fachgesetz zusammengeführt und
        klar, einheitlich und abschließend geregelt werden;
        zweitens mit den in § 6 Abs. 4 (neu) gesetzlich veranker-
        ten Aufzeichnungspflichten kein zusätzlicher bürokrati-
        scher Aufwand durch eine doppelte Aufzeichnungs-
        pflicht für die Landwirtschaft entsteht, da sie bereits
        bestehende Vorschriften mit abdecken; drittens es Wille
        des Ausschusses ist, dass beim Vollzug des § 6 Abs. 4
        (neu) im Regelfall die EU-rechtlichen Sanktionen be-
        rücksichtigt und vernünftig und angemessen vollzogen
        werden und viertens infolgedessen die in Nr. 3 genann-
        ten Sanktionen erst erfolgen sollen, wenn es sich um ei-
        nen erheblichen oder vorsätzlichen Verstoß gegen die
        Aufzeichnungspflichten handelt oder wenn einer be-
        hördlichen Anordnung zur Nachbesserung nicht Folge
        geleistet wird.
        Damit ist festzuhalten, dass keine weitere bürokrati-
        sche Belastung für die Landwirte entsteht und somit den
        Bedenken der CDU/CSU- Bundestagsfraktion Rechnung
        getragen worden ist.
        Gestatten Sie abschließend noch ein paar wenige Be-
        merkungen an unsere Landwirte. Ich weiß, dass viele
        landwirtschaftliche Unternehmen mit dem vorliegendem
        Gesetzentwurf vor allem verschärfte bürokratische Auf-
        lagen für ihre Unternehmen verbinden. Es wird an uns
        liegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, in der
        konkreten Umsetzung des Gesetzes, im konkreten Han-
        deln unsere Landwirte vom Gegenteil zu überzeugen.
        Ich bitte um die Annahme der Beschlussempfehlung
        des Ausschusses und damit um Zustimmung zu dem vor-
        liegenden Gesetzesentwurf.
        Gustav Herzog (SPD): Wir beraten heute abschlie-
        ßend das dritte Gesetz zur Änderung des Pflanzenschutz-
        gesetzes und des BVL-Gesetzes sowie den Antrag der
        Koalitionsfraktionen zur Verstärkung des Schutzes vor
        Rückständen von Pflanzenschutzmitteln in Lebensmit-
        teln. Beides hängt eng miteinander zusammen. Denn
        Rückstände, unabhängig ob in Lebensmitteln, Biotopen,
        Grund- oder Obenflächengewässern, sind Folge der Art
        und Weise der Handhabung durch den Anwender.
        Mit dem dritten Gesetz zur Änderung des Pflanzen-
        schutzgesetzes setzen wir insbesondere Aspekte des
        EuGH-Urteils zur FFH-Richtlinie um. Damit wird der
        Schutz wild lebender Tiere der besonders geschützten Ar-
        ten sowie von Wildpflanzen der besonders geschützten
        Arten in Einklang mit der Landschaft nutzenden Wirt-
        schaft gebracht. Die Landwirtschaft als Hauptnutzer und
        Pfleger unserer Kulturlandschaft erhält dadurch die not-
        wendige Rechtssicherheit, um ihr allgemeines betriebli-
        ches Handeln auf den Flächen im Einklang mit dem
        Naturschutz sicherzustellen. Mit zunehmender Schutz-
        würdigkeit der Tier- und Pflanzenarten wachsen folge-
        richtig auch die Auflagen und Einschränkungen für die
        Nutzung, um den Erhaltungszustand der lokalen Popula-
        tion zu gewährleisten. Um den reibungslosen Betrieb der
        Landwirtschaft zu sichern, wurden mit vorliegendem Ge-
        setz Interpretationsspielräume mit Augenmaß genutzt,
        sodass wir Rechtssicherheit mit Schutz der Güter verbin-
        den.
        Weitere Punkte des Gesetzes sind verschiedene Vor-
        schriften zur Einführung von Entsorgungspflichten für
        verbotene Pflanzenschutzmittel, zur Straffung des Zulas-
        sungsverfahrens, Ergänzungen zur Handhabung von Par-
        allelimporten.
        Als wichtigen Wegbereiter für eine Anpassung der
        Anwendungsbestimmungen geben wir der Bundesregie-
        rung eine Verordnungsermächtigung, die dahin gehend
        zu nutzen ist, dass bei Erhalt des Schutzniveaus für An-
        wender, Verbraucher und Umwelt der Auflagendschun-
        gel gelichtet wird und Vorschriften verschlankt werden.
        Wir wollen Anwendungsbestimmungen, die verstanden
        werden können und die aus ihrer eigenen Logik heraus
        Akzeptanz beim Anwender schaffen. Als Basis hierfür
        ist die Probabilistik eine wesentliche Grundlage, die von
        den Fachbehörden im Einklang mit den Wirtschaftsbe-
        teiligten und unter Beteiligung der Interessenvertretun-
        gen entwickelt wurde. Ich habe große Erwartungen an
        die Häuser der Bundesminister Horst Seehofer und
        Sigmar Gabriel und ihre nachgeordneten Behörden, dass
        wir einen Systemwechsel bei den Anwendungsbestim-
        mungen zeitnah erwarten dürfen. Nur so vermeiden wir
        Unmut und damit das Gegenteil dessen, was wir anstre-
        ben: Pflanzen- und Umweltschutz miteinander zu ver-
        binden.
        Nicht zuletzt möchte ich auf die Aufzeichnungs-
        pflichten eingehen, die wir mit vorliegendem Gesetz ge-
        setzlich verankern. Ich betone „gesetzlich verankern“,
        denn untergesetzlich gibt es eine Vielfalt an Vorschrif-
        ten, die die schlagbezogene Aufzeichnung von Pflanzen-
        schutzmaßnahmen bereits jetzt direkt oder indirekt ver-
        langen. Das Bundesnaturschutzgesetz verlangt eine
        schlagbezogene Aufzeichnung, das EU-Hygienepaket
        verlangt die Rückverfolgbarkeit, die gemeinsamen Re-
        geln für Direktzahlungen ziehen die Richtlinie 91/414/
        EWG heran, die die Befolgung der guten Pflanzen-
        schutzpraxis verlangt, und nicht zuletzt ist die „Gute
        fachliche Praxis“ unmissverständliche Grundlage und
        Vorschrift für die Anwendung von Pflanzenschutzmit-
        teln.
        Die schlagbezogene Aufzeichnung ist somit für den
        informierten Landwirt keine Neuerung – sollte man den-
        ken.
        Daher ist es doch höchst verwunderlich, wie massiv
        gegen die Verankerung auf Gesetzesebene agiert oder
        – muss ich sagen – agitiert wurde. Die Bundesregierung
        legt ihren Gesetzentwurf vor, der Bundesrat konkretisiert
        und präzisiert ihn mit 16 : 0 Stimmen, und die Koali-
        tionsfraktionen sind sich einig, dass eine schlagbezogene
        Aufzeichnung nicht nur unumgänglich ist, sondern zu-
        dem bereits verbindlich gilt und darüber hinaus auch
        vernünftig und folgerichtig ist. Zumal davon auszugehen
        ist, dass bereits die allermeisten Landwirte ihren Ver-
        14042 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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        pflichtungen längst nachkommen. Alles spricht also für
        die Verankerung auf gesetzlicher Ebene, und doch war
        die Intervention vonseiten des Deutschen Bauernverban-
        des so stark, dass sie den Verfahrensablauf empfindlich
        unterbrochen hat. Viele von uns kennen die Protest-
        schreiben, die von „überbordender und untragbarer Bü-
        rokratie“ sprechen. Das kann ich nur zurückweisen, denn
        wir verlangen nichts Neues, nichts Zusätzliches. Wir
        verlangen nur, was wir bereits jetzt schon zum Beispiel
        vonseiten der guten fachlichen Praxis erwarten können.
        Die Betriebe zeichnen also bereits jetzt schon die sechs
        Ws auf: wer, wann, wo, was, wie viel und wogegen.
        Qualitätssysteme wie GLOBAL-GAP oder QS führen
        die detaillierte Aufzeichnung insbesondere aus Gründen
        der Rückverfolgbarkeit als K.o.-Kriterium, Wirtschafts-
        systeme wie der Ökolandbau oder der Integrierte Pflan-
        zenschutz und jeder Vertragsanbau vom Apfel bis zur
        Zuckerrübe verlangen deutlich mehr als das, was wir
        jetzt gesetzlich verankern. Zum Vorwurf der überborden-
        den Bürokratie darf ich den Normenkontrollrat zitieren:
        „(…) Bei der in den Gesetzentwurf neu aufgenommenen
        Aufzeichnungspflicht über die im Betrieb angewandten
        Pflanzenschutzmittel, bei der Kosten in Höhe von jähr-
        lich 84 bis 180 Euro je betroffenen Betrieb ermittelt wur-
        den, ist davon auszugehen, dass ein Großteil der betrof-
        fenen Betriebe eine solche Aufzeichnung bereits
        vornimmt. Denn sie ist zum einen durch EU-Recht seit
        dem 1. Januar 2006 verbindlich vorgegeben, zum ande-
        ren wird die Aufzeichnung seit 1998 als gute landwirt-
        schaftliche Praxis empfohlen. Deshalb wird ein mögli-
        cher Bürokratiekostenanstieg als gering eingeschätzt.“
        Wir haben derzeit eine scheinbar diffuse Rechtslage,
        da verschiedene Regelwerke verschiedene Vorschriften
        zu den Aufzeichnungspflichten verlangen. Aus diesem
        Grund regeln wir jetzt im zuständigen Fachrecht klar
        und abschließend, was die Landwirtschaft zu dokumen-
        tieren hat. Daher ist die Kritik der „praxisfernen und zu-
        sätzlichen Bürokratie“ fachlich falsch und der vonseiten
        des Berufsstandes zugespitzte Konflikt überflüssig und
        für mich in keiner Weise nachvollziehbar.
        Weitere ins Feld geführte Argumente beschreiben das
        gestiegene Sanktionsrisiko für die landwirtschaftlichen
        Betriebe. Das ist richtig, denn wir wollen Sanktionen für
        Betriebe, die sich nicht an gesetzliche Vorschriften hal-
        ten. Wir halten die Aufzeichnungen für die eingesetzten
        Pflanzenschutzmittel für richtig und für eine wichtige
        Hilfestellung für die betrieblichen Entscheidungen im
        Umgang mit diesen Betriebsmitteln. Sie sind eine viel-
        fach begründbare Vorschrift, und wer diese nicht einhält,
        soll einer Sanktion unterworfen werden. Damit aber im
        behördlichen Vollzug die Verhältnismäßigkeit gewahrt
        bleibt, erachten wir es für notwendig, zu betonen, dass
        wir als Gesetzgeber die Nutzung eines Ermessensspiel-
        raums für Bagatellfälle erwarten. Wir wollen nicht, dass
        kleine und unerhebliche Unregelmäßigkeiten in den
        Aufzeichnungen direkt und in aller Strenge behördlich
        sanktioniert werden. Hierzu sind Bund und Länder be-
        auftragt, Lösungen zu erarbeiten, die den Vollzug einer-
        seits sichern und anderseits die Belange der Praxis be-
        rücksichtigen.
        Ein ebenfalls gerne verwendetes Argument war der
        fehlende Zusatznutzen dieser Aufzeichnungen. Nun, da
        kann ich nur darauf verweisen, dass der Landwirt zum
        einen bewusster entscheidet und fundierter abwägt, was
        wann womit zu behandeln ist, wenn er schriftliche Auf-
        zeichnungen tätigt und auf diese zurückblicken kann.
        Zudem wissen wir alle, wie wichtig die Rückverfolgbar-
        keit für die Eingrenzung von Schadensfällen ist, unab-
        hängig davon, ob es sich um Funde im Grundwasser
        oder um Rückstände in Lebensmitteln handelt. So kön-
        nen wir die Ursache des Problems schnell eingrenzen
        und die Quelle möglicher Verunreinigungen schnell be-
        reinigen.
        Dahin zielt auch unser Antrag zum Schutz vor Pflan-
        zenschutzmittelrückständen in Lebensmitteln. Als Che-
        mielaborant weiß ich, dass man mit der richtigen Labor-
        technik die kleinsten Spuren von allen Stoffen
        analysieren kann, die jemals mit dem Produkt in Verbin-
        dung gekommen sind. Daher wundert es mich nicht, dass
        sich die immer weiter verfeinerte Analytik in den Rück-
        standskontrollen spiegelt. Wir suchen, und wir werden
        finden. Damit habe ich kein großes Problem, doch wenn
        wir Werte oberhalb der gesetzlichen Grenzwerte finden
        oder Mehrfachrückstände, die mit einem normalen
        Pflanzenschutzmanagement nicht plausibel zu erklären
        sind, müssen wir handeln.
        Wir haben einen sehr hohen Sicherheits- und Quali-
        tätsstandard. Das ist ein gutes Ergebnis jahrzehntelangen
        Ineinandergreifens von Wirtschaft, Forschung und
        Rechtssetzung. Darauf können wir stolz sein, und doch
        gibt es immer wieder Grund für Verbesserungen. Grenz-
        wertüberschreitungen sind kein Grund für unmittelbare
        und übertriebene Panikmache, da unsere Grenzwerte mit
        vielfachen Sicherheitsfaktoren ausgestattet sind, sodass
        bei geringfügigen Überschreitungen nicht mit gesund-
        heitlichen Risiken zu rechnen ist.
        Doch Überschreitungen sind klare Warnsignale, die
        wir wahrnehmen müssen und die uns zum Handeln moti-
        vieren. Wir dürfen Überschreitungen und die zuneh-
        mende Belastung durch Mehrfachwirkstoffe nicht hin-
        nehmen und fordern daher die Bundesregierung auf,
        gemeinsam mit den Bundesländern ihre Anstrengungen
        zur Eindämmung zu intensivieren. Das Lebensmittelmo-
        nitoring ist gut, doch es soll noch besser werden. Über-
        schreitungen muss gerichtlich nachgegangen, und sie
        müssen sanktioniert werden. Sie sind kein Kavaliersde-
        likt. Eine Überschreitung von Grenzwerten ist ein recht
        deutliches Indiz dafür, dass die Anwendungsbestimmun-
        gen an mindestens einer Stelle im Herstellungsprozess
        nicht eingehalten wurden. Das dürfen wir im Umgang
        mit zum Teil hochbedenklichen Stoffen nicht akzeptie-
        ren. Das gilt für inländisch wie für ausländisch produ-
        zierte Waren gleichermaßen. Daher müssen wir innerhalb
        der Gemeinschaft dafür sorgen, dass wir harmonisierte
        Bedingungen auf unserem hohen Niveau erreichen, und
        zudem auch an unseren Grenzen sicherstellen, dass Wa-
        ren aus Drittstaaten unseren Standards entsprechen.
        Auch hier müssen Missstände abgeschaltet werden.
        Abschließend möchte ich jedoch betonen, dass die
        Verantwortung für die Einhaltung der Vorschriften bei
        den Wirtschaftsbeteiligten liegt. Es ist an ihnen, sicher-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14043
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        zustellen, dass sie im Rahmen der gesetzlichen Bestim-
        mungen nur einwandfreie Ware anbieten.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns wei-
        ter gemeinsam daran arbeiten, dass ein moderner Pflan-
        zenschutz die Pflanzenbestände schützt und unseren
        Landwirten die Erträge sichert, dabei die Umwelt und
        unsere Ressourcen schont und uns Verbraucher mit gu-
        ten und gesunden Lebensmitteln versorgt.
        Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Pflicht
        zur Novellierung des Pflanzenschutzgesetzes ergibt sich
        aus dem Urteil des EuGH vom Januar dieses Jahres, in
        dem Deutschland zur Umsetzung der FFH-Richtlinie zur
        Novellierung des Pflanzenschutzgesetzes verpflichtet
        wird.
        Chemischer Pflanzenschutz ist für Landwirtschaft
        und Gartenbau in Deutschland unverzichtbar. In den
        letzten Jahren ist in Deutschland ein sehr hohes Quali-
        tätsniveau im Pflanzenschutzbereich erreicht worden:
        Die Beeinträchtigung von Natur und Umwelt durch che-
        mische Pflanzenschutzmittel konnte kontinuierlich ver-
        ringert werden. Das Lebensmittelmonitoring zeigt auf,
        dass gerade bei in Deutschland produziertem Obst und
        Gemüse die Rückstände von Pflanzenschutzmitteln nur
        in geringem Maß vorkommen. 2004 gab es bei 3,8 Pro-
        zent der Proben von Obst und Gemüse aus Deutschland
        Höchstmengenüberschreitungen, bei Proben aus den üb-
        rigen EU-Staaten waren es 8,4 Prozent, bei Proben aus
        Drittstaaten waren es 10,4 Prozent. Vor diesem Hinter-
        grund sind Verschärfungen des Gesetzes aus Gründen
        des Umweltschutzes oder der Lebensmittelsicherheit
        nicht erforderlich. Daher ist eine Eins-zu-eins-Umset-
        zung der EU-Bestimmungen gerade auch im Hinblick
        auf den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit unserer Be-
        triebe erforderlich.
        Die im vorliegenden Gesetzentwurf zum Pflanzen-
        schutzgesetz geforderten erhöhten Dokumentations-
        pflichten lehnt die FDP in dieser Form ab. Bereits heute
        erstellt jeder Landwirt genaue Aufzeichnungen über die
        im Betrieb angewandten Pflanzenschutzmittel. Alle er-
        worbenen Pflanzenschutzmittel werden per Lieferschein
        oder Rechnung exakt dokumentiert – das reicht nach un-
        serer Einschätzung aus.
        Mit der im Gesetzentwurf angeführten, nach unserer
        Einschätzung völlig überzogenen Forderung für die par-
        zellenscharfe Dokumentation der Ausbringung von
        Pflanzenschutzmitteln ist ein erheblicher bürokratischer
        Mehraufwand ohne erkennbaren Umweltvorteil verbun-
        den. Das sich in dieser Forderung ausdrückende Miss-
        trauen gegenüber Land- und Forstwirten sowie gegen-
        über Gärtnern und Winzern in unserem Land ist
        unbegründet. Wir können im Gegenteil feststellen, dass
        entsprechend dem Wasserwirtschaftsbericht der Bundes-
        regierung im Grundwasser nur noch punktuell Pflanzen-
        schutzmittel gefunden werden und in der Tendenz weiter
        rückläufig sind. Die in § 40 des Gesetzentwurfes vorge-
        schriebene Bußgeldbewehrung sollte vollständig gestri-
        chen werden.
        Der Gesetzentwurf sieht vor, dass zukünftig das In-
        verkehrbringen oder die Einfuhr von mit Pflanzen-
        schutzmitteln behandeltem Saat- und Pflanzgut sowie
        Kultursubstraten nur möglich sein soll, „wenn das Pflan-
        zenschutzmittel in Deutschland zugelassen ist oder das
        Pflanzenschutzmittel im Europäischen Wirtschaftsraum
        zugelassen ist und wenn das Bundesamt für Verbrau-
        cherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) auf An-
        trag festgestellt hat, dass das verwendete Pflanzen-
        schutzmittel mit einem in Deutschland zugelassenem
        Mittel übereinstimmt“. Die FDP lehnt diesen Vorschlag
        ab, da dies zu erheblichen Handelshemmnissen bei der
        Vermarktung von Saat- und Pflanzgut führen würde.
        Zudem gehen diese Anforderungen über das EU-Recht
        hinaus, und eine solche Vorgehensweise würde die
        Landwirtschaft und den Gartenbau vor erhebliche
        Schwierigkeiten stellen. Die zusätzliche Antragstellung
        beim BVL ist außerdem mit einem weiteren bürokrati-
        schen Aufwand verbunden, den die FDP ablehnt.
        Die Forschung im Pflanzenschutzbereich muss nach
        Einschätzung der FDP vorangetrieben werden. In Beant-
        wortung der kleinen Anfrage der FDP-Bundestagsfrak-
        tion „Ökologische und ökonomische Bedeutung von
        Schadorganismen, Drucksache 16/7277, hat die Bundes-
        regierung ausgeführt, dass laut einem Gutachten aus
        dem Jahr 1996 in Deutschland Schäden durch Einschlep-
        pung und Ausbreitung von Schadorganismen in Höhe
        von 100 Millionen Euro entstehen. Der Betrag dürfte in-
        zwischen deutlich höher sein. In diesem Jahr wurde erst-
        malig der Maiswurzelbohrer beobachtet, der sich in Ös-
        terreich und der Schweiz bereits etabliert hat. In 2006
        hat der Rapsglanzkäfer in Deutschland deutliche Schä-
        den verursacht. Er ist inzwischen gegen nahezu alle
        Pflanzenschutzmittel – Wirkstoffklasse: Pyrethroide –
        resistent. Nur zwei Präparate aus dieser Klasse wirken
        überhaupt noch gegen den Käfer. Die Biologische Bun-
        desanstalt für Land- und Forstwirtschaft, BBA, prognos-
        tiziert für 2008: „Es ist derzeit keine optimale Anti-
        Resistenzstrategie gegen den Rapsglanzkäfer möglich.
        Gründe hierfür sind die nicht genügend große Palette
        verschiedener Pflanzenschutzmittel bzw. Wirkstoffe so-
        wie Einschränkungen bei der Zahl der erlaubten Anwen-
        dungen.“
        Wir sind weit von einer Harmonisierung der Pflan-
        zenschutzmittel in der EU entfernt. Über Lebensmittel-
        importe kommen Lebensmittel nach Deutschland, die
        bei uns nicht zugelassene Pflanzenschutzmittel enthal-
        ten. Es gibt zahlreiche Wirkstoffe, die in den Niederlan-
        den erlaubt, in Deutschland verboten sind. Der Anbau
        zum Beispiel von Porree ist in einigen Regionen auf
        Grund von Schadinsekten wie der Thrispe nicht mög-
        lich. Die Thrispe hinterlässt dunkle Flecken und Streifen
        auf dem Gemüse und erschwert hierdurch die Vermark-
        tung. Die in Deutschland gegen die Thrispe zugelasse-
        nen Pflanzenschutzmittel, zum Beispiel Kaliseife, wir-
        ken nicht. Das in den Niederlanden zugelassene, in
        Deutschland aber verbotene Pflanzenschutzmittel Mesu-
        rol wirkt sehr gut gegen das Insekt. Die Folge ist: Der
        Porree aus den Niederlanden wird nach Deutschland ein-
        geführt – der deutsche Landwirt geht leer aus. Es gibt
        zahlreiche weitere Beispiele.
        Vor dem Hintergrund vieler für Landwirtschaft und
        Gartenbau ökonomisch bedeutsamer Schadorganismen
        14044 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
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        sind die Pläne der EU, etwa 90 Prozent der im Pflanzen-
        schutz eingesetzten Wirkstoffe zu verbieten, eine Ge-
        fährdung für Landwirtschaft und Gartenbau. Die Bun-
        desregierung selbst hat das Ziel vorgegeben, das
        Auftreten der Schadorganismen mit den verfügbaren
        pflanzenbaulichen Verfahren und dem Einsatz von
        Pflanzenschutzmitteln unter der wirtschaftlichen Schad-
        schwelle zu halten. Das wird, wenn die EU-Pläne ver-
        wirklicht werden, nicht mehr möglich sein, wie das Bei-
        spiel des Rapsglanzkäfers schon jetzt zeigt. Die
        Bundesregierung ist aufgefordert, alles zu tun, um die
        Umsetzung der EU-Pläne zu verhindern. Das ist eine
        zentrale agrarpolitische Frage, die nicht auf Arbeits-
        ebene entschieden werden kann. Hier muss sich der Mi-
        nister endlich erkennbar für deutsche Interessen einset-
        zen. Die Lebensmittelsicherheit ist in Deutschland nicht
        durch Pflanzenschutzmittelrückstände gefährdet – der
        Verbraucher wird auch künftig vertrauensvoll die Pro-
        dukte aus deutschen Landen genießen können.
        Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Linke be-
        grüßt die Neufassung des Pflanzenschutzgesetzes. Sie
        bedeutet im Wesentlichen eine Anpassung an EU-Vorga-
        ben und die bessere Berücksichtigung der so genannten
        Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der EU. Das bedeutet:
        Umweltschutz und besonders der Schutz seltener Pflan-
        zen- und Tierarten werden im neuen Pflanzenschutzge-
        setz etwas verbessert. Das ist nicht viel, aber man kann
        das nicht ablehnen. Das Thema ist aber wichtig genug,
        um es breiter als nur im Zusammenhang mit dem Ge-
        setzentwurf zu besprechen.
        Der Schutz der natürlichen Ressourcen auch durch
        eine konsequentere Pflanzenschutzmittelgesetzgebung
        ist aus unserer Sicht sinnvoll und notwendig. Immerhin
        werden noch fast 95 Prozent der landwirtschaftlich
        genutzten Fläche in Deutschland konventionell bewirt-
        schaftet. Das heißt auf knapp 14 Millionen Hektar
        landwirtschaftlicher Fläche gibt es die Möglichkeit für
        Landwirtschaftsbetriebe, chemisch-synthetische Pflan-
        zenschutzmittel einzusetzen. So wichtig der Ökolandbau
        auch ist, es ist angesichts der Flächenverhältnisse auch
        wichtig zu erreichen, dass die konventionelle Landwirt-
        schaft ökologischer arbeitet. Denn diese Pflanzenschutz-
        mittel haben naturgemäß Auswirkungen auf die Umwelt.
        Auch in neueren Erhebungen der Biologischen Bundes-
        anstalt und der Umweltbehörden aus Bund und Ländern
        werden immer wieder zu hohe Rückstände von Pflan-
        zenschutzmitteln im Grundwasser gefunden. Dazu kom-
        men solche Rückstände in Nahrungsmitteln, die so ge-
        ring wie irgend möglich sein müssen.
        Dazu sollte auch das Pflanzenschutzmittelreduktions-
        programm beitragen. Ein positiver Trend ist der gesun-
        kene Wirkstoffaufwand je Hektar, der in den letzten
        20 Jahren halbiert wurde. Im Durchschnitt beträgt der
        Aufwand somit nur noch 1,7 kg/ha – erhoben in 2006. In
        meinem Bundesland in Brandenburg sind es sogar nur
        0,9 kg/ha. Im Vergleich: Ende der 80er-Jahre waren das
        noch 3,5 kg/ha!
        Natürlich haben sich auch die Wirkstoffe verändert.
        Die Reduzierung der Aufwandsmengen ist also nur ein
        Teil der Wahrheit. Gleichzeitig sind andere Wirkungs-
        mechanismen zu berücksichtigen, die hinsichtlich der
        ökologischen Auswirkungen aktuell nicht immer end-
        gültig beurteilt werden können. Andererseits ist über die
        Weiterentwicklung der „guten fachlichen Praxis“ eine
        weitere Reduzierung chemischer Anwendungen auf dem
        Acker möglich. So werden zum Beispiel Voraussagen
        der Prognosemodelle für die Entwicklung des Auftretens
        von Schädlingen wie Insekten, Pilzen oder auch Unkräu-
        tern besser und die Reaktionsmöglichkeiten selektiver.
        Der hohe ökonomische Druck, unter dem die Betriebe in
        den vergangenen Jahren bei sinkenden Getreidepreisen
        arbeiten mussten, hat auch dabei geholfen, die Schwelle
        für den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln anzuheben.
        Wir sollten genau beobachten, wie sich die aktuell stei-
        genden Erzeugerpreise für Feldfrüchte auf die Einsatz-
        schwelle für Pflanzenschutzmittel auswirken.
        Der sinkende Verbrauch von Pflanzenschutzmitteln in
        den vergangenen Jahren ist eine erfreuliche Entwick-
        lung, die aber weiter befördert werden muss. Das größte
        Problem im Pflanzenschutz ist nach wie vor die negative
        Auswirkung auf die Artenvielfalt. Hier ist die Politik in
        der Verantwortung, und mit Blick auf den Erhalt der Ar-
        tenvielfalt müssen die Rahmenbedingungen gesteckt
        werden.
        Was ist aber zu tun? Ein sehr wichtiger, in Deutsch-
        land und Europa auch sehr erfolgreicher Weg zur um-
        weltgerechten und nachhaltigen, weil ressourcenschüt-
        zenden Landnutzung, ist der ökologische Landbau. Das
        von der rot-grünen Bundesregierung formulierte Ziel
        von 20 Prozent Ökolandbau bis 2020 erscheint aus heuti-
        ger Sicht utopisch. Aber selbst der Deutsche Bauernver-
        band hält ein Ziel von 10 Prozent für 2015 für machbar.
        Die Verbrauchsentwicklung der letzten Jahre hat gezeigt,
        dass Bioprodukte beliebt sind und von den deutschen
        Verbraucherinnen und Verbrauchern auch zu höheren
        Preisen gekauft werden. Leider hält die einheimische
        Produktion von Biolebensmitteln nicht mit der rasant
        wachsenden Nachfrage mit. Eine Hürde ist die kosten-
        intensive und risikoreiche Umstellung. Hier muss es eine
        verlässliche und auskömmliche Grundförderung geben.
        Das ist dann gleichzeitig praktischer Umweltschutz.
        Die mit dem neuen Pflanzenschutzgesetz etwas aus-
        geweitete Pflicht zur konkreten Dokumentation der
        Pflanzenschutzmittelanwendungen auf den einzelnen
        Feldern ist aus Sicht der Linken notwendig und ange-
        messen. Moderne Landwirtschaftsbetriebe sind heute
        problemlos in der Lage, dieser Pflicht nachzukommen.
        Betriebe, die diese Arbeiten nicht selbst erledigen, son-
        dern zum Beispiel an Lohnunternehmer übertragen, soll-
        ten selbst daran interessiert sein, zu wissen und zu doku-
        mentieren, was auf ihren Feldern geschieht. Es kann dem
        Image der einheimischen und europäischen Landwirt-
        schaft nur nutzen, wenn die Standards maßvoll, aber
        konsequent erhöht werden und auch verantwortliches
        Handeln transparent und belegbar ist.
        Pflanzenschutz ist und bleibt ein sensibler Bereich. Er
        leistet seinen Beitrag zu einer effizienten und modernen
        Landwirtschaft und hat in den konventionellen Systemen
        der Landwirtschaft seinen unverzichtbaren Platz. Das
        akzeptiert die Linke genauso, wie sie das Spannungsfeld
        zwischen Umweltschutz und Anwendungsnotwendigkeit
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14045
        (A) (C)
        (B) (D)
        sieht. Gleichzeitig ist klar, dass wir gerade in Deutsch-
        land und Europa heute zu Maßstäben beitragen müssen
        bei der Definition einer modernen, ökologisch verträgli-
        chen und nachhaltigen Landwirtschaft.
        Diese Maßstäbe sollten im Laufe der Zeit weltweit
        Gültigkeit erlangen.
        Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
        Bündnisgrüne unterstützen einen großen Teil der hier zur
        Abstimmung stehenden Änderungen beim Pflanzen-
        schutzgesetz. Sie führen zu einem besseren Schutz von
        Umwelt und Verbrauchern. Dies gilt insbesondere für
        die Anpassung an die FFH-Richtlinie und für die Auf-
        zeichnungspflicht für die Ausbringung von Pflanzen-
        schutzmitteln. Wir begrüßen auch die Einführung der
        Pflicht zur unverzüglichen Beseitigung nicht mehr zuge-
        lassener Mittel und die Vorschrift, dass Pflanzenschutz-
        mittel nur mehr zugelassen werden dürfen, wenn vorher
        eine Rückstandshöchstmenge festgelegt wurde. Auch
        die Einrichtung einer Datenbank zur Erfassung der Ge-
        nehmigungen nach § 8 b ist sinnvoll.
        Was die Aufzeichnungspflicht betrifft, so ist sie be-
        reits im Bundesnaturschutzgesetz geregelt. Daher gibt es
        keinen Grund, über zusätzlichen Aufwand für die Land-
        wirte zu klagen. Die Aufregung über Bürokratieaufbau,
        die die Agrarverbände an diesem Punkt einmal mehr ze-
        lebriert haben, ist daher völlig überzogen. Es ist aller-
        dings wichtig, dass diese Pflicht auch in entsprechendes
        Fachrecht und in den Bußgeldkatalog aufgenommen
        wird. Denn was nützt eine Vorschrift, wenn es keinerlei
        Handhabe gibt, um die Befolgung durchsetzen zu kön-
        nen? Deswegen ist es auch gerechtfertigt, dass diese
        Pflicht der Cross Compliance unterliegt.
        Genauso wenig ist der Widerstand des Deutschen
        Bauernverbandes gegen die Umsetzung des Urteils des
        Europäischen Gerichtshofs zur Umsetzung der FFH-
        Richtlinie in deutsches Naturschutzrecht nachvollzieh-
        bar. EU-Recht muss nun einmal umgesetzt werden.
        Sonst wehrt sich der Bauernverband doch regelmäßig
        gegen deutsche Alleingänge.
        Es ist gut, dass die Koalition die Forderung des Deut-
        schen Bauernverbandes und des Bundesrates verworfen
        hat, den aus deren Sicht missliebigen Einfluss des Um-
        weltbundesamtes bei der Pflanzenschutzmittelzulassung
        auszuschalten. Stattdessen wäre es umweltpolitisch so-
        gar angebracht, das Einvernehmenserfordernis auch auf
        die Ausnahmegenehmigungen auszuweiten.
        Falls Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
        Koalition, nach meinen bisherigen lobenden Worten
        glauben sollten, ich würde Sie heute mit Kritik verscho-
        nen, dann haben Sie sich allerdings zu früh gefreut. Es
        gibt in der Tat einige Änderungen, die wir Bündnisgrüne
        durchaus kritisch sehen. Da sind zum Beispiel die Er-
        weiterung und Verlängerung der Aufbrauchfristen für
        nicht mehr zugelassene Pflanzenschutzmittel. Kritisch
        sehen wir auch die Streichung des Selbstbedienungsver-
        botes für Pflanzenstärkungsmittel. Pflanzenstärkungs-
        mittel sind integraler Bestandteil eines verantwortungs-
        vollen Pflanzenschutzes. Deshalb bedürfte es eher der
        zusätzlichen Einführung einer Beratungspflicht.
        Negativ ist auch Ihr Änderungsantrag, mit dem die
        neuen Regelungen zum Teil wieder abgeschwächt wer-
        den sollen. Das betrifft vor allem die Ausnahmemöglich-
        keiten von den Anwendungsverboten. Wie weit diese
        Ausnahmetatbestände greifen und ob damit die FFH-
        Richtlinie noch korrekt umgesetzt wird, ist überhaupt
        nicht absehbar. Allein schon deshalb haben wir Ihren
        Änderungsantrag abgelehnt.
        Mit der Novelle des Pflanzenschutzgesetzes hätte
        man noch weitergehende Anliegen des Umwelt- und
        Verbraucherschutzes umsetzen können. Die Chance ist
        leider vertan.
        Dazu gehört vor allem, die Ausbringung von Pestizi-
        den aus der Luft grundsätzlich zu verbieten, um die Ver-
        driftung von Pflanzenschutzmitteln in Gebiete außerhalb
        der Zielfläche zu vermindern. Ausnahmen wie beim
        Weinbau in Steillagen sollte man auf regionale oder
        durch extreme Kalamitäten bedingte Sondersituationen
        begrenzen. Hier könnte Deutschland bereits heute eine
        Regelung verabschieden. Es wäre nicht unbedingt nötig
        gewesen, auf die EU-Richtlinie zur Anwendung von
        Pflanzenschutzmitteln zu warten, die eine solche Vor-
        gabe aller Voraussicht nach enthalten wird.
        Außerdem muss das Zulassungsverfahren biologi-
        scher Pflanzenschutzmittel den spezifischen Anforde-
        rungen dieser Mittel angepasst werden. So könnte es im
        Einzelfall sicher auch einfacher und kostengünstiger ge-
        staltet werden.
        Auch sollte zur Schließung von Indikationslücken die
        Möglichkeit der Anerkennung von Pflanzenschutzmit-
        telzulassungen anderer EU-Staaten nach § 5 b besser ge-
        nutzt werden. Hier sollten Möglichkeiten zur Erleichte-
        rung dieser Anerkennungen geprüft werden.
        Wir werden uns bei der Abstimmung über Ihr Gesetz
        enthalten, denn es geht uns nicht weit genug und bringt
        neben etlichen Fortschritten auch einige Rückschritte.
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Antrag: Hilfe für irakische Flüchtlinge aus-
        weiten – Im Irak, in Nachbarländern und in
        Deutschland
        – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
        Antrag: Irakische Flüchtlinge in die EU auf-
        nehmen – In Deutschland lebende Irakerin-
        nen und Iraker vor Abschiebung schützen
        – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
        Antrag: Schutz für irakische Flüchtlinge ge-
        währleisten
        (Tagesordnungspunkt 18 a und b)
        Reinhard Grindel (CDU/CSU): Die allgemeine
        Sicherheitslage im Irak ist gerade für die christlichen
        Minderheiten bedrohlich. Dem tragen die Verantwortli-
        chen auf Bundes- und Landesebene Rechnung.
        14046 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Linkspartei und Grüne zeichnen ein Zerrbild von der
        Behandlung irakischer Flüchtlinge. Die Durchführung
        der Widerrufsverfahren für irakische Asylberechtigte
        durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist
        richtig. Dabei geht es überhaupt nicht um die Frage, ob
        die irakischen Flüchtlinge dann sofort in ihre Heimat ab-
        geschoben werden müssen. Es geht ausschließlich um
        die Frage, ob die Schutzpflicht unseres Staates für diese
        Menschen grundsätzlich noch besteht. Eine solche Prü-
        fung ist geradezu zwingend, weil viele Iraker deshalb
        Asyl in Deutschland erhalten haben, weil sie Verfolgte
        des Regimes von Saddam Hussein waren. Da Saddam
        Hussein ersichtlich keinerlei Verfolgungsgefahr mehr im
        Irak darstellt, ist insoweit der Schutzzweck der Asylge-
        währung weggefallen.
        Das bedeutet aber nun nicht, dass die irakischen
        Flüchtlinge in Deutschland jetzt schutzlos wären. Der
        Widerruf der Asylanerkennung führt nicht zum illegalen
        Aufenthalt. Tatsächlich besitzen 75 Prozent dieser iraki-
        schen Staatsbürger einen legalen Aufenthaltstitel. Das
        entspricht auch der hohen Schutzquote für irakische
        Flüchtlinge, die seit 2005 nach Deutschland gekommen
        sind. Insbesondere wegen religiöser Verfolgung ist in
        87 Prozent der Fälle entweder Asyl oder zumindest ein
        Abschiebungsschutz gewährt worden.
        Die EU-Richtlinien, die in den Anträgen der Opposi-
        tion angesprochen werden und die angeblich nicht aus-
        reichend umgesetzt sind, haben gerade in letzter Zeit zu
        einer vermehrten Zahl von Asylfolgeanträgen geführt.
        Insbesondere vor dem Hintergrund der religiösen Verfol-
        gung im Irak, der christliche Minderheiten ausgesetzt
        sind, ist umfassend Abschiebungsschutz gewährt wor-
        den. Das ist auch vom Bundesverfassungsgericht und
        Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich anerkannt wor-
        den.
        Gerade um die betroffenen Iraker nicht zu verunsi-
        chern, hat das Bundesamt für Migration die Widerrufs-
        verfahren jetzt sogar auf einen relativ kleinen Personen-
        kreis beschränkt: Widerrufsverfahren werden nur noch
        bei Straftätern, Gefährdern der inneren Sicherheit, Per-
        sonen, die zwischenzeitlich im Irak besuchsweise gewe-
        sen sind und alleinstehenden Männern aus dem Nordirak
        durchgeführt. Das muss man doch wohl klar festhalten:
        Ein umfassender Abschiebungsstopp darf doch nicht
        dazu führen, dass selbst gefährlichste Straftäter nicht
        mehr abgeschoben werden können. Die staatlichen Insti-
        tutionen haben auch eine Schutzpflicht gegenüber den in
        Deutschland lebenden Menschen, die nicht ohne Not
        von Straftaten bedroht werden dürfen. Deshalb kann im
        Einzelfall eine Abschiebung als Ultima Ratio gerechtfer-
        tigt sein.
        Ich will in diesem Zusammenhang nur darauf verwei-
        sen, dass 2006 und auch 2007 mehrere Hundert Iraker
        freiwillig in ihr Land zurückgekehrt sind, vor allem in
        die Regionen des Nordiraks. So dramatisch können sie
        selbst die Sicherheitslage in diesem Teil des Iraks also
        nicht eingeschätzt haben.
        Personen aus dem Großraum Bagdad, alleinstehende
        Frauen, Familien mit Kindern, kranke und alte Men-
        schen und Personen, die langfristig in Deutschland auf-
        hältig waren und hier gut integriert sind – bei ihnen allen
        kommt es noch nicht einmal zu einem Widerrufsverfah-
        ren, geschweige denn, dass man sie in den Irak abschie-
        ben würde.
        Ich wiederhole deshalb: Die verschiedenen Maßnah-
        men des Bundes sind eine gerechte Güterabwägung zwi-
        schen den berechtigten Interessen der Iraker, nicht in
        eine ungewisse und lebensgefährliche Zukunft abge-
        schoben zu werden, und den Sicherheitsinteressen unse-
        res Landes. Ich will auch nochmals betonen, dass wir
        uns in Deutschland in voller Übereinstimmung mit den
        Erkenntnissen des UNHCR befinden. Auch der UNHCR
        hält Rückführungen in den Irak für zulässig, wenn die
        betroffenen Personen in eine Familie oder in eine stabile
        soziale Struktur zurückkehren können, wenn sie eine
        Chance auf Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt
        und eine Wohnung haben. Auch bei der Abschiebung als
        Ultima Ratio beachten die Innenminister in Bund und
        Ländern die Vorgaben des UNHCR. Abgeschoben wer-
        den – übrigens nun wirklich in sehr kleiner Zahl – nur
        Straftäter oder Gefährder der inneren Sicherheit, wenn
        sie ihren ursprünglichen Aufenthalt im Nordirak haben.
        Dementsprechend muss man sich auch mal mit den
        tatsächlichen Zahlen vertraut machen: Ganze acht Perso-
        nen sind in diesem Jahr in den Nordirak abgeschoben
        worden. Dabei handelt es sich ausnahmslos um Perso-
        nen, die den Sicherheitsbehörden erhebliche Probleme
        bereitet haben. Alle anderen Abschiebungen erfolgten in
        die Drittstaaten, über deren Staatsgebiet die irakischen
        Flüchtlinge auch eingereist sind.
        Nur noch mal zur Klarstellung, weil immer wieder
        auf die EU-Ebene bei dieser Debatte verwiesen wird: In
        keinem EU-Mitgliedstaat gibt es einen Abschiebestopp.
        Das gilt gerade auch für die Länder mit einem relativ ho-
        hen Anteil von irakischen Staatsbürgern, die teilweise
        auch eine Gefahr für die innere Sicherheit darstellen. In-
        soweit ist bei uns in Deutschland ein konzertiertes Vor-
        gehen von Bundesinnenminister und Landesinnenminis-
        tern durchaus sinnvoll. Angesichts einer schon heute
        relativ hohen Zahl von irakischen Flüchtlingen, die sich
        in Deutschland aufhalten, muss man ganz klar sagen,
        dass ein allgemeiner Abschiebestopp auch einen deutli-
        chen Pull-Faktor zur Folge hätte.
        Wir wissen ganz genau, dass viele irakische Flücht-
        linge in Einrichtungen in den Nachbarstaaten des Irak
        darauf warten, dass sie durch eine gezielte Schleusungs-
        aktion nach Deutschland gebracht werden können. Es
        kommt also darauf an, den Menschen vor Ort zu helfen,
        etwa in den Flüchtlingslagern in Grenzregionen. Das
        entspricht auch der Linie der übrigen EU-Staaten. Es
        gibt keine sonderlich ausgeprägte Bereitschaft innerhalb
        der EU zu einer Aufnahmeaktion für irakische Flücht-
        linge. Das Augenmerk in dieser Frage liegt deshalb bei
        den EU-Mitgliedstaaten auf der massiven Unterstützung
        der Nachbarstaaten des Irak, die viele irakische Flücht-
        linge aufgenommen haben. Wir wollen den Menschen
        vor Ort eine Chance geben. Wir wollen nicht, dass sie ihr
        ganzes erspartes Geld irgendwelchen Schlepper- und
        Schleuserbanden in den Rachen schmeißen, die tatsäch-
        lich nichts zur Verbesserung der Lebensgrundlagen der
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14047
        (A) (C)
        (B) (D)
        Menschen beitragen, sondern im Einzelfall auf dem Mit-
        telmeer sogar ihren Tod billigend in Kauf nehmen. Das
        ist die Sachlage, und die muss auch einmal ganz klar
        ausgesprochen werden.
        Der Bund hat innerhalb der EU insgesamt 10,2 Mil-
        lionen Euro für Hilfen zur Grenzsicherung und zu
        Grenzkontrollen und zu einer guten humanitären Unter-
        bringung der Menschen beigetragen und nochmals
        zusätzlich 2,2 Millionen Euro für humanitäre Hilfen ge-
        sondert bereitgestellt. Deshalb sage ich nochmals mit
        großem Ernst: Die Politik von Abschiebungen und Wi-
        derrufsverfahren gegenüber irakischen Flüchtlingen auf
        Bundes- und Landesebene entspricht der geltenden
        Rechtslage, und die Hilfe für die Flüchtlinge vor Ort ist
        aus humanitären Gründen wirklich beispielhaft. Deshalb
        lehnen wir die Anträge von den Grünen und der Links-
        partei ab. Der Flüchtlingsschutz ist bei dieser Bundes-
        regierung und insbesondere dem jetzigen Innenminister
        in guten Händen.
        Rüdiger Veit (SPD): Die politische Lage im Irak ist
        nicht stabil. Sie ist besorgniserregend. Die Gewaltbereit-
        schaft ist erhöht, die Verfolgung ethnischer und religiöser
        Minderheiten hält an. Nach Angaben des Flüchtlings-
        hochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR)
        sind bereits mehr als 2,5 Millionen Iraker ins Ausland ge-
        flohen. Allein im Nachbarland Syrien treffen tagtäglich
        etwa 2 000 Flüchtlinge ein. Für alle Nachbarländer be-
        deuten die irakischen Flüchtlinge eine ungeheure Last;
        die öffentliche Infrastruktur ist ausgereizt. Wasser- und
        Stromversorgung sind längst überlastet.
        Hier bedarf es der Hilfe, wie die Anträge ganz richtig
        anmahnen – humanitärer und finanzieller Hilfe, auf EU-
        und auf Bundesebene. Es kann von den Nachbarländern
        nicht erwartet werden, dass sie die Flüchtlingskrise sel-
        ber schultern. Hier müssen wir tätig werden. Hier wur-
        den wir aber auch schon tätig:
        Das Amt für humanitäre Hilfe der EU hat vier Millio-
        nen Euro für Projekte von UNHCR vor Ort zur Verfü-
        gung gestellt. Weitere 11 Millionen Euro hat die EU
        Syrien für Entwicklungshilfe im Gesundheitswesen und
        im Bildungssektor zugesagt. Gleichwohl halte ich es für
        wünschenswert, dass sich die EU noch stärker finanziell
        engagiert. Auch unsere Entwicklungsministerin Heidi
        Wiecoreck-Zeul hat Syrien zugesagt, vier Millionen
        Euro für den Bau von Schulen bereitzustellen, um
        Flüchtlingskindern den Unterricht zu ermöglichen.
        Die in den Anträgen aufgestellten Forderungen sind
        darauf gerichtet, einen generellen Abschiebestopp für
        irakische Flüchtlinge durchzusetzen und die Wider-
        rufpraxis gegenüber allen irakischen Flüchtlingen auszu-
        setzen. In den Anträgen wird grundsätzlich ein wichtiges
        Problem angesprochen. Dies Problem muss aber diffe-
        renziert diskutiert werden. Ich möchte deshalb darauf
        hinweisen, dass in Bezug auf beide genannten Forderun-
        gen schon einiges geschehen ist. Dies gilt zunächst für
        die Forderung nach Aussetzung der Widerrufspraxis:
        Auch die SPD hat die durchaus kritisch zu beurtei-
        lende Widerrufpraxis in unmittelbarem Dialog mit dem
        Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehrfach an-
        gesprochen. Im Mai dieses Jahres hat das Bundesamt für
        Migration und Flüchtlinge (BAMF) seine Entscheidungs-
        praxis schließlich der dramatischen Sicherheitslage im
        Süd- und Zentralirak angepasst. Seit dieser Zeit werden
        kaum mehr Widerrufe eingeleitet, bereits aufgenom-
        mene Verfahren ruhen. Dies gilt für Personen aus dem
        Großraum Bagdad ohne inländische Fluchtalternative,
        für alleinstehenden Frauen ohne Familienbindungen, für
        Familien mit minderjährigen Kindern, für kranke und äl-
        tere Personen sowie für Personen, die sich bereits lange
        in Deutschland aufhalten, gut integriert sind und keine
        eigenen Bindungen zu ihrem Herkunftsland haben.
        Schließlich und wesentlich gilt der Abschiebungsschutz
        auch für religiöse Minderheiten wie Christen, Mandäer
        und Yeziden.
        In all diesen Fällen wird nicht mehr widerrufen. Bei
        Erstasylanträgen wird von einer Gruppenverfolgung aus-
        gegangen. Diese geänderte Entscheidungspraxis wirkt
        sich erheblich auf die Gesamtschutzquote für irakische
        Asylbewerber aus, wie auch die aktuell vom BAMF ver-
        öffentlichten Zahlen belegen: Im Jahr 2006 lag die Ge-
        samtschutzquote noch bei 8,3 Prozent. Vom 1. Januar bis
        18. Mai 2007 erfolgte ein Anstieg auf 14,2 Prozent.
        Anschließend, nach der vorgenannten Änderung der
        Entscheidungspraxis, stieg die Gesamtschutzquote im
        Zeitraum vom 19. Mai bis 30. September 2007 auf
        90,4 Prozent an. 90,4 Prozent ist doch eine erfreuliche
        Schutzquote.
        Im Übrigen ist es wichtig, auf Folgendes hinzuwei-
        sen: Der Verlust des Flüchtlingsstatus kann zwar zum
        Verlust des Aufenthaltstitels führen. Das ist aber nicht
        zwingend. Obwohl die Praxis in den Bundesländern
        diesbezüglich unterschiedlich ist, erhalten zahlreiche
        Betroffene eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaub-
        nis; nach längerfristigem Aufenthalt ist sogar die Ertei-
        lung einer Niederlassungserlaubnis möglich.
        Der Abschiebungsschutz wird nunmehr nach einem
        Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom
        19. November 2007 auch für sunnitische Flüchtlinge aus
        dem Irak nochmals auszuweiten sein. Der Bayerische
        Verwaltungsgerichtshof entschied, „dass irakischen
        Staatsangehörigen sunnitischer Religionszugehörigkeit
        aus dem Zentralirak bei einer Rückkehr in den Irak mit
        beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfol-
        gung durch nichtstaatliche Akteure droht und eine inner-
        staatliche Fluchtalternative nicht besteht.“
        Solange der irakische Staat nicht in der Lage ist, seine
        Bürger zu schützen, sollte kein irakischer Flüchtling aus
        Deutschland abgeschoben werden. Selbst das lange als
        halbwegs sicher geltende Kurdengebiet im Nordirak
        wird immer wieder von Gewalttaten erschüttert. Meines
        Erachtens kann dies auch nicht mehr als interne
        Fluchtalternative angesehen werden.
        Auch was die Frage nach Abschiebungen in den Irak
        betrifft, ist sich die Bundesregierung ebenso wie die
        Länder ihrer humanitären Verantwortung bewusst. Der
        Kreis der Betroffenen, die seit neuestem wieder in den
        Nordirak zurückgeführt werden, beschränkt sich nach
        den letzten IMK-Beschlüssen auf Personen, die straffäl-
        14048 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        lig sind und daher die innere Sicherheit gefährden. Dabei
        möchte ich betonen, dass sich die genannten IMK-Be-
        schlüsse ausdrücklich auf die Beachtung der Möglich-
        keiten beziehen, die UNHCR benennt. UNHCR setzt
        deutliche Grenzen: Das Amt spricht sich generell gegen
        Abschiebungen von Personen aus, die aus dem Süd- und
        Zentralirak stammen. Das gilt nicht nur für diese Gebiete
        selbst. Es gilt auch für eine Neuansiedlung der Genann-
        ten in den kurdischen Autonomiegebieten des Nordirak,
        also Sulaymania, Erbil und Dohuk.
        Für Personen, die aus den Autonomiegebieten stam-
        men und hierher zurückgeführt werden sollen, muss die
        Lage differenziert beurteilt werden. UNHCR hält die
        Rückkehr in die Autonomiegebiete, wenn die Betroffe-
        nen aus diesen Gebieten stammen, teilweise für möglich.
        Dass ihnen dabei weder Verfolgung noch andere Men-
        schenrechtsverletzungen drohen dürfen, ist selbstver-
        ständlich. Hinzu kommt, dass die weiteren von UNHCR
        aufgestellten Grundsätze beachtet werden müssen: Ers-
        tens muss eine zu große Anzahl an Rückkehrern vermie-
        den werden, weil dies die Stabilität der gesamten Region
        gefährden kann. Zweitens müssen die Betroffenen von
        Familien und Gemeinden aufgenommen werden. Drit-
        tens kommt nur eine schrittweise und geregelte Rück-
        kehr in enger Abstimmung mit den örtlichen Behörden
        infrage.
        Allerdings bleibt die Lage auch im Nordirak ange-
        spannt und unsicher. Das muss bedeuten, dass die IMK-
        Beschlüsse keinen unumkehrbaren Kurs eingeleitet ha-
        ben. Im Gegenteil: Sobald sich eine Destabilisierung zei-
        gen sollte, muss von weiteren Abschiebungen abgesehen
        werden.
        Aus all dem wird deutlich, dass die Situation im Irak
        weiter beobachtet werden muss. Nur so kann die hiesige
        Praxis kontinuierlich überdacht und gegebenenfalls an
        die aktuellen Bedrohungen angepasst werden. Die ge-
        stellten Anträge übersehen in ihrer Verallgemeinerung,
        dass erste wichtige Schritte gegangen worden sind, de-
        nen aber – und damit möchte ich schließen – weitere fol-
        gen können, gegebenenfalls sogar müssen.
        Hartfried Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Menschen-
        rechtslage im Irak ist ohne Frage sehr schwierig. Deshalb
        ist es richtig, die Frage von Abschiebung dorthin in der ge-
        genwärtigen Situation zu hinterfragen und zu diskutieren.
        Ob mit der Maximalforderung nach einem unbedingten
        Abschiebestopp wünschenswerte Ziele allerdings wirklich
        erreicht werden können, muss dahingestellt bleiben.
        Dramatische Menschenrechtsentwicklungen, etwa
        aufgrund von Bürgerkriegshandlungen wie im Irak, sind
        nicht dadurch lösbar, dass sich ein Sechstel einer nicht
        ganz kleinen Nation eine neue Heimat sucht. Humani-
        täre Katastrophen wie im Irak sind durch Migration nicht
        nachhaltig lösbar.
        Es ist nicht hilfreich, wenn dem rechtsstaatlichen In-
        strumentarium zur Anerkennung von politisch Verfolg-
        ten in Deutschland generell misstraut wird. Dieses
        grundsätzliche Misstrauen, das durchaus auch in den
        vorliegenden Anträgen durchscheint, teile ich nicht.
        Vor diesem Hintergrund bezweifelt die FDP, dass ein
        genereller, ausschließlicher und unbefristeter Abschie-
        bestopp, wie ihn die Grünen und die Linkspartei fordern,
        die richtige Antwort ist. Natürlich müssen wir leider da-
        von ausgehen, dass es in Irak politische Verfolgung gibt.
        Aber dafür besteht nach wie vor das Recht für politisch
        Verfolgte, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen.
        Der generelle Abschiebestopp ist ein politisches In-
        strument im Falle einer akuten Entwicklung, die rasches
        Handeln erfordert. Dieses Instrument darf nicht inflatio-
        när verwendet werden und stellt uns deshalb immer wie-
        der vor die Frage, ob wir dieses Instrument nicht
        dadurch entwerten, indem es zur regelmäßigen Anwen-
        dung wird.
        In Deutschland gehört die Forderung nach dem Ab-
        schiebestopp zum fast schon berechenbaren Ritual. Hier
        muss auch darauf geachtet werden, dass eine solche Be-
        rechenbarkeit nicht zusätzliche Sogeffekte auslöst. Lei-
        der besteht diese Gefahr.
        Das Instrumentarium des Abschiebestopps kann nur
        bei vorübergehenden Katastrophen eine Antwort sein. Es
        ist aber sehr schwierig anzuwenden, wenn sich ein Bür-
        gerkrieg langfristig zu verfestigen droht. Es verhindert,
        wirklich politisch Verfolgten im Einzelfall gerecht wer-
        den zu können.
        Es verhindert, Straftäter abzuschieben, die ihr Aufent-
        haltsrecht hier missbrauchen. Wenn wir verhindern wol-
        len, dass solche Straftäter alle Ausländer in Verruf
        bringen, dann müssen wir in der Lage sein, Einzelfall-
        entscheidungen zu treffen. Ein Abschiebestopp unterbin-
        det das.
        Die Bundesregierung hat dargelegt, dass Abschiebun-
        gen nach Irak außer im Falle von Straftätern kaum mehr
        vorkommen, und das es umgekehrt auch eine beträchtli-
        che Zahl von freiwilligen Rückkehrern gibt. Vor diesem
        Hintergrund scheint der FDP eine differenziertere Hal-
        tung angemessen, als sie der Abschiebestopp darstellt.
        Dauerhafte Probleme mit der Menschenrechtslage in
        einem bestimmten Land können mit dem Abschie-
        bestopp ohnehin nicht gelöst werden. Wir müssen uns
        darüber im Klaren sein, dass wir nicht alle Nöte der Welt
        auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik werden lindern
        können. Wir sind allerdings der Auffassung, dass die
        Menschenrechtslage im Irak weiterhin großer Aufmerk-
        samkeit bedarf und individuelle Entscheidungen viel
        stärker die aktuelle Lage vor Ort berücksichtigen müs-
        sen.
        Die Grünen haben in ihrem neuen Antrag zu Recht
        darauf aufmerksam gemacht, dass die Flüchtlingssitua-
        tion vor Ort mit entschlosseneren Hilfsmaßnahmen der
        europäischen Staaten verbessert werden muss. Diese
        Auffassung teilen wir ausdrücklich.
        Die FDP unterstützt den neuen Antrag der Grünen in
        vielen Punkten, insbesondere, was die Hilfe vor Ort an-
        belangt. Allerdings können wir der apodiktischen Forde-
        rung, auch Straftäter in jedem Falle von der Abschie-
        bung auszuschließen und alle Asylwiderrufe der letzten
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14049
        (A) (C)
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        Jahre von Amts wegen neu aufzurollen, nicht zustim-
        men.
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): In den irakischen Städten
        und den ländlichen Regionen tobt die Gewalt. Auch im
        Norden des Landes breitet sich Gewalt gegen Minder-
        heiten aus. Dort werden vor allem Jeziden immer wieder
        Opfer von Anschlägen. Wie zu Zeiten Saddam Husseins
        müssen sie ihre Dörfer verlassen, um in den nördlicheren
        Städten Schutz zu suchen. Der andauernde Terror hat
        dazu geführt, dass es an der Universität von Mosul in-
        zwischen keine jezidischen Studentinnen und Studenten
        mehr gibt. Noch dazu droht im Norden des Landes ein
        regelrechter Krieg zwischen der türkischen Armee und
        der PKK. 4 Millionen Menschen befinden sich auf der
        Flucht, 2 Millionen davon suchen im benachbarten Aus-
        land Zuflucht. Wie heute ein Sprecherin der EU-Kom-
        mission mitteilte, gibt es immer wieder neue Wellen von
        Flüchtlingen, die das Land verlassen wollen.
        In den Nachbarstaaten des Irak geraten die
        Flüchtlinge immer stärker unter Druck. Im Libanon wer-
        den sie mittlerweile in Beugehaft genommen, um die
        Ausreise zu erzwingen. Syrien, das immerhin schon
        750 000 Flüchtlinge beherbergt, nimmt keine Irakerin-
        nen und Iraker mehr auf. Diese Länder fühlen sich au-
        ßerdem von den westlichen Staaten, auch der Europäi-
        schen Union, im Stich gelassen.
        Tatsächlich werden sie auch im Stich gelassen. Die
        EU-Kommision hat zwar heute beschlossen, 50 Millio-
        nen Euro im kommenden Jahr bereitzustellen. Aber wir
        wollen nicht vergessen, wer die Hauptverantwortung für
        die elenden Zustände im Irak trägt. Das sind diejenigen
        Staaten, die das Land im Jahr 2003 ohne Grund ange-
        griffen und besetzt haben, und es sind diejenigen, die
        den Krieg logistisch unterstützt haben. Dazu gehört auch
        die Bundesrepublik. Das ist ein Grund, warum die Bun-
        desregierung jetzt wenigstens den irakischen Flüchtlin-
        gen helfen muss. Das ist das Ziel unseres Antrages.
        Das angesprochene finanzielle Engagement der EU
        reicht nicht aus. Es kommt einerseits viel zu spät. Ande-
        rerseits nimmt die Europäische Union nur eine ver-
        schwindend geringe Zahl an Flüchtlingen selbst auf.
        Auch die Bundesregierung sperrt sich dagegen, in
        Kooperation mit dem UNHCR besonders schutzbedürf-
        tige Flüchtlinge nach Deutschland zu holen. In einer
        Antwort auf eine Kleine Anfrage zu dieser Problematik
        sagt die Bundesregierung: Wenn wir gezielt irakische
        Flüchtlinge holen, dann führt das zu einer Sogwirkung.
        Was heißt denn „Sogwirkung“? Sinn des Flüchtlings-
        schutzes ist es, dass Menschen Schutz vor Gewalt und
        Verfolgung finden. Da kann man doch nicht argumentie-
        ren: Nein, wir wollen keinen Schutz anbieten, sonst
        kommen womöglich Schutzbedürftige. – Das ist absurd,
        menschenverachtend und zynisch. Es ist traurig, dass
        man dem Bundesinnenminister diese banale Wahrheit
        immer und immer wieder sagen muss. Auch während
        der EU-Ratspräsidentschaft hat es die Bundesregierung
        abgelehnt, sich an einem Aufnahmeprogramm für iraki-
        sche Flüchtlinge zu beteiligen. Dabei stehen wir mit die-
        ser Forderung nicht allein. Die Synode der Evangeli-
        schen Kirche in Deutschland hat sich Anfang November
        ganz klar für solche Aufnahmeprogramme ausgespro-
        chen. Auch dazu war von der Bundesregierung keine
        Stellungnahme zu hören.
        Ich komme noch auf einen letzten Punkt zu sprechen.
        Nach drei Jahren wird bei jedem anerkannten Asylbe-
        werber geprüft, ob die Gründe seiner Flucht noch beste-
        hen. Dabei kennen die Behörden offenbar kein Pardon.
        Bis Ende September wurden 4 679 Widerrufsverfahren
        gegen irakische Flüchtlinge eingeleitet. Das sind mehr
        als im gesamten Jahr 2006. Seit Beginn des Krieges im
        Irak gab es insgesamt 26 000 Widerrufsverfahren. Auf
        dem Höhepunkt, im Jahr 2004, führten fast 7 000 Ver-
        fahren zu einem Widerruf des Asyl- oder Flüchtlingssta-
        tus. Das war nicht nur ignorant gegenüber den Verhält-
        nissen im Irak. Es sollte ganz klar weitere Flüchtlinge
        davon abschrecken, nach Deutschland zu kommen. Zum
        Glück enden seit Mai nur noch wenige dieser Verfahren
        mit dem Widerruf der Asylanerkennung. Aber es ist
        doch klar, dass die Betroffenen durch dieses ganze Ver-
        fahren in Unsicherheit gestürzt werden. Diese bürokrati-
        sche Schikane ist eine reine Beschäftigungsmaßnahme
        für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Wir
        fordern: Nutzen Sie diese Ressourcen für die Aufnahme
        und die angemessene Betreuung von Flüchtlingen.
        Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Nach Schätzung des Hohen Flüchtlingskommis-
        sars der Vereinten Nationen verlassen derzeit jeden Mo-
        nat 60 000 Irakerinnen und Iraker ihr Land, weil sie
        unmittelbar von Verfolgung durch terroristische und ge-
        waltbereite Gruppen, aber auch seitens staatlicher Stel-
        len bedroht sind. Derzeit ist nach Angeben des UNHCR
        mit circa 4,4 Millionen Menschen fast ein Sechstel aller
        Irakerinnen und Iraker auf der Flucht. Davon sind
        2,2 Millionen Binnenflüchtlinge und 2,2 Millionen Men-
        schen in die Nachbarländer geflüchtet. Damit hat den
        Nahen Osten die größte Flüchtlingswelle seit 1948 er-
        griffen.
        Die Binnenvertriebenen stammen zumeist aus
        Bagdad und sind vor der eskalierten Gewalt in der
        Hauptstadt in den Norden geflohen. Aufgrund des hohen
        wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Drucks ha-
        ben die drei kurdischen sowie mehrere andere Provinzen
        seit Anfang 2007 den Zugang von Binnenflüchtlingen
        massiv eingeschränkt. Flüchtlinge brauchen einen Bür-
        gen, unterliegen strengen Sicherheitsauflagen oder kön-
        nen gar nicht einreisen. Vor dem Hintergrund der zuneh-
        menden Spannungen und verschärften Sicherheitslage
        im Nordirak ist zudem zu befürchten, dass Flüchtlingen
        der Zugang in die Türkei verwehrt wird und sich ihre
        dortige aufenthaltsrechtliche Situation verschlechtert.
        Auch die Nachbarländer des Irak sind von der Flücht-
        lingskatastrophe betroffen. Durch circa 750 000 Irake-
        rinnen und Iraker im lediglich sechs Millionen Einwoh-
        ner zählenden Jordanien und circa 1,4 Millionen
        irakische Flüchtlinge in Syrien entstehen enorme wirt-
        schaftliche, soziale und politische Herausforderungen.
        Libanon, Ägypten und die Türkei sind weitere Hauptzu-
        fluchtsländer. Sie stehen durch die hohe Zahl von
        14050 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
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        Schutzsuchenden vor enormen Herausforderungen. Die
        Einreisebedingungen in Jordanien wurden ebenso ver-
        schärft wie in Syrien, wo seit 1. Oktober 2007 keine
        Sechsmonatsvisa für arabische Staatsbürgerinnen und
        Staatsbürger mehr ausgegeben werden. Die syrische Re-
        gierung hat ebenfalls den Arbeitsmarkt für irakische
        Flüchtlinge geschlossen. Die Lage der Flüchtlinge vor
        allem in Amman und Damaskus ist dramatisch. Allein-
        stehende Frauen, Alte, Kranke, traumatisierte Flücht-
        linge und arme Familien sind besonders abhängig von
        Hilfe.
        Die internationale Gemeinschaft reagiert bisher nur
        unzureichend auf die Flüchtlingskatastrophe. Die USA
        als Hauptakteur im Irak haben lediglich einige hundert
        Flüchtlinge seit der Invasion 2003 aufgenommen,
        Schweden hingegen allein 9 000 Personen. Der UNHCR
        hat über 13 000 besonders hilfsbedürftige Personen zur
        Weiterwanderung in Drittländer identifiziert, von denen
        bisher nur wenige hundert in die Zielländer ausreisen
        konnten. In der EU gab es einen Vorstoß von Großbri-
        tannien, den Niederlanden und Schweden für eine ge-
        meinsame Aufnahme (Resettlement), die aber von der
        deutschen Ratspräsidentschaft unverantwortlicherweise
        nicht aufgegriffen wurde.
        Das Europäische Parlament hat bereits am 12. Juli
        2007 die Mitgliedstaaten aufgefordert, einen Beitrag zur
        Linderung der Flüchtlingstragödie durch aktive Auf-
        nahme in Europa zu leisten. Geschehen ist in Deutschland
        bisher nichts. Angesichts des Ausmaßes der Flüchtlings-
        tragödie im Nahen Osten ist dies eine menschenrechtli-
        che Bankrotterklärung.
        Wir hoffen, dass durch unseren heute eingebrachten
        Irak-Antrag die Einsicht wächst, dass auch Deutschland
        aktiv irakische Flüchtlinge, insbesondere ethnischen und
        religiösen Minderheiten, aufnehmen muss. Diese Forde-
        rung wird überdies auch von Kirchen und Menschen-
        rechtsorganisationen immer wieder vorgetragen.
        Nicht nur die Unterlassungen der Bundesregierung
        sind zu kritisieren. Auch das Handeln von Bundes- und
        Landesministern gegenüber irakischen Flüchtlingen in
        Deutschland ist unverantwortlich. Trotz der schwierigen
        Lage im Irak hat die Innenministerkonferenz im Novem-
        ber 2006 den Abschiebestopp nach Irak aufgehoben. Ab-
        schiebungen aus Deutschland in den kurdischen Norden
        sind völlig unverantwortlich, da sie geeignet sind, die
        Nordprovinzen in einer Umbruchsituation und schwieri-
        gen ökonomischen Lage zu destabilisieren. Ein Abschie-
        bestopp muss daher bis auf Weiteres für den gesamten
        Irak gelten.
        In europaweit einzigartiger Weise hat die Bundes-
        republik außerdem in den vergangenen drei Jahren bei
        anerkannten irakischen Flüchtlingen in Deutschland
        18 000 Widerrufsverfahren durchgeführt. Nach massiver
        Kritik an dieser aufenthaltsrechtlichen Verunsicherung
        hat das Innenministerium das Bundesamt für Migration
        und Flüchtlinge im Mai 2007 angewiesen, die Verfahren
        für bestimmte Gruppen auszusetzen. Das ist zwar rich-
        tig, reicht aber nicht aus. Zum einen müssen auch dieje-
        nigen, deren Flüchtlingsstatus bereits widerrufen wurde,
        im Lichte der neuen Erkenntnisse behandelt werden.
        Zum anderen wäre aus der Einsicht, dass auch der Nord-
        irak keine adäquate Fluchtalternative bietet, die Konse-
        quenz eines generellen Abschiebestopps für alle Grup-
        pen zu ziehen. Auch der Verweis auf eine inzwischen
        verbesserte Anerkennungspraxis kann nicht ausreichen,
        solange nur wenige irakische Flüchtlinge überhaupt die
        Chance haben, Deutschland zu erreichen.
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts: Bürokratie abbauen – Zeitumstellung
        abschaffen und Sommerzeit permanent einfüh-
        ren (Tagesordnungspunkt 20)
        Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Wer hat an der
        Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät? Wenn wir,
        wie die FDP es vorschlägt, ganzjährig die Sommerzeit
        hätten, wäre es noch später.
        Zunächst möchte ich anmerken, dass die CDU/CSU
        es begrüßt, dass sich die Mitgliedstaaten in der Europäi-
        schen Union auf eine einheitliche Zeitregelung geeinigt
        haben. Die mitteleuropäische Sommerzeit beginnt je-
        weils am letzten Sonntag im März um 2 Uhr mitteleuro-
        päischer Zeit. Zum Zeitpunkt des Beginns der Sommer-
        zeit wird die Stundenzählung um eine Stunde von 2 Uhr
        auf 3 Uhr vorgestellt. Die Sommerzeit endet jeweils am
        letzten Sonntag im Oktober um 3 Uhr mitteleuropäischer
        Sommerzeit. Zum Zeitpunkt des Endes der Sommerzeit
        wird die Stundenzählung um eine Stunde von 3 Uhr auf
        2 Uhr zurückgestellt. Es ist für die Abläufe innerhalb des
        EU-Binnenmarktes ein großer Vorteil, dass Tag und Uhr-
        zeit des Beginns und des Endes der Sommerzeit in der
        gesamten EU einheitlich festgelegt sind. An dieser Ein-
        heitlichkeit halten wir fest. Am Ende dieses Jahres wird
        die Kommission einen Bericht über die Erfahrungen der
        einzelnen Mitgliedstaaten mit der einheitlichen Zeitrege-
        lung vorlegen.
        In Ihrem Antrag argumentiert die FDP vornehmlich
        mit Bürokratieabbau und energiepolitischen Gründen.
        Zum Bürokratieabbau: Es ist sicher richtig, dass eine
        Zeitumstellung mit einem gewissen Aufwand verbunden
        ist. Mittlerweile ist es jedoch dank moderner Software
        gelungen, diesen Aufwand zu minimieren. Die Betriebs-
        systeme der Computer vollziehen die Zeitumstellung au-
        tomatisch. Viele Uhren und Wecker werden mittlerweile
        funkgesteuert, sodass die Opposition nur noch fürchten
        muss, die politischen Entwicklungen zu verschlafen,
        nicht aber die Zeitumstellung.
        Auch bei einer Umstellung im Bahnverkehr wird die
        Zeitumstellung seit Jahrzehnten routiniert und reibungs-
        los vollzogen. Der Flugverkehr, der sowieso über meh-
        rere Zeitzonen abgewickelt wird, ist von dieser Rege-
        lung direkt nicht betroffen, da dort mit der koordinierten
        Weltzeit (UTC) gearbeitet wird. Lediglich die Ankunfts-
        und Abflugzeiten vor Ort sind davon betroffen. Auch in
        der Seefahrt ist die UTC die Referenzzeit.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14051
        (A) (C)
        (B) (D)
        Zum Energieverbrauch: Durch die Vorverlegung der
        Heizzeiten, werden eventuelle Energieeinsparungen wie-
        der kompensiert. Dies ist jedoch nichts Neues. Bereits
        bei der Formulierung des Zeitgesetzes Ende der 70er-
        Jahre, also zu der Zeit, als die Liberalen mit in der Re-
        gierung saßen, war dies bekannt und schon damals nicht
        mehr der Grund für die Einführung der Sommerzeit ge-
        wesen. Das heißt, man erwartet vom bisherigen System
        auch keine Energiespareffekte mehr. Auch sind keine
        Umweltbelastungen bekannt.
        Ein weiterer Aspekt, über den im Zusammenhang mit
        der Zeitumstellung diskutiert wird, ist die Gesundheit.
        Eine Stunde zu wenig oder eine Stunde zu viel – die
        meisten Menschen passieren die Zeitumstellung „im
        Schlaf“ und reagieren aus diesem Grund recht unemp-
        findlich. Dennoch muss sich auch der menschliche Kör-
        per bei der Zeitumstellung anpassen. Vereinzelt gibt es
        dann auch Beeinträchtigungen des Wohlbefindens. Diese
        dürften jedoch im Zeitalter von Jetlag und Schichtdienst
        nicht nennenswert sein. Langfristige gesundheitliche
        Auswirkungen sind zudem nicht bekannt.
        Auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen wirkt sich
        die Zeitumstellung insofern aus, als die Menschen des
        Sommers die Tagesphasen optimaler ausnutzen können.
        Entsprechend hat sich auch das Freizeitverhalten der
        Menschen angepasst. Die Zeitumstellung ist jedoch auch
        nur einer von vielen Aspekten, die das Freizeitverhalten
        und die Arbeitsbedingungen der Menschen beeinflussen.
        Wir könnten jetzt lange die Vor- und Nachteile der jet-
        zigen Regelung abwägen. Es ist und bleibt ein Nullsum-
        menspiel. Ich schlage daher vor, wir warten erst einmal
        den Bericht der EU-Kommission ab. Die Bundesregie-
        rung hat ihre Stellungnahme dazu ja bereits abgegeben
        und stellt ebenfalls fest, dass es in den angesprochenen
        Bereichen keine wesentlichen Beeinträchtigungen durch
        die derzeitige Regelung der Europäischen Union gibt.
        Abgesehen davon würden wir uns mit der dauerhaften
        Einführung der Sommerzeit auch dauerhaft eine Stunde
        von unserer geographischen Zeit entfernen.
        Ich kann mich nach sorgfältiger Prüfung dieser Auf-
        fassung nur anschließen. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt
        Ihren Antrag daher ab.
        Maik Reichel (SPD): Das Thema Zeitumstellung be-
        schäftigt dieses Haus schon eine ganze Weile, zuletzt in
        der 15. Wahlperiode, als es ebenfalls die Kollegen der
        FDP-Fraktion waren, die sich mit einer Kleinen Anfrage
        an die damalige Bundesregierung wandten.
        Erstmals eingeführt wurde die Zeitumstellung in
        Deutschland im Jahre 1916. Mit Unterbrechungen, zeit-
        weise ergänzt durch die sogenannte Hochsommerzeit,
        bestand sie sogar bis 1950 fort. Im Zuge der Ölkrise
        1973 beschlossen die Europäer in der Absicht, Energie
        einzusparen, die Wiedereinführung der Sommerzeit. In
        der Bundesrepublik fand dies im Zeitgesetz vom 25. Juli
        1978 seinen Niederschlag. In Kraft traten die geplanten
        Änderungen erst ab 1980, da der Wunsch bestand, sich
        in dieser Frage mit den Nachbarn, vor allem auch mit der
        DDR, zu koordinieren, um eine möglichst einheitliche
        Regelung zu gewährleisten. Ebenjene Regelungen beste-
        hen mit geringen Änderungen bis heute fort. Auf euro-
        päischer Ebene geschieht dies durch eine Richtlinie des
        Rates und des Europäischen Parlamentes vom Januar
        2001, die eine unbefristete Verlängerung vorsieht und in
        Deutschland per Verordnung vom 12. Juli 2001 umge-
        setzt wird.
        Das einstige Hauptargument für die Einführung der
        Sommerzeit, nämlich die Möglichkeit, dadurch massive
        Energiereinsparungen zu erzielen, ist mittlerweile mehr-
        fach entkräftet worden. Gestützt auf Erkenntnisse des
        Umweltbundesamtes ist in der Antwort der Bundesregie-
        rung auf die bereits erwähnte Anfrage der FDP-Fraktion
        vom April 2005 zu lesen, dass die Sommerzeit im Hin-
        blick auf den Energieverbrauch keine Vorteile biete. Im
        Gegenteil: „Die Einsparung an Strom für Beleuchtung
        [wird], insbesondere durch den Mehrverbrauch an Heiz-
        energie durch Vorverlegung der Hauptheizzeit, über-
        kompensiert.“
        Neben der fehlenden Energieersparnis wird im vorlie-
        genden Antrag auch das Argument des erhöhten techni-
        schen und bürokratischen Mehraufwands in privaten Un-
        ternehmen und der öffentlichen Verwaltung ins Feld
        geführt. Dies ist sicher ebenfalls ein Punkt, der hier un-
        strittig ist.
        Seit der Wiedereinführung der Zeitumstellung im
        Jahre 1980 ist es in dieser Frage immer wieder zu kon-
        troversen Debatten gekommen. Im Sinne einer Harmoni-
        sierung der Zeitregelung in Europa hat sich diese Praxis
        jedoch bis zum heutigen Tage gehalten. Während der
        deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr
        2007 standen eine Reihe wichtiger Themen oben auf der
        Agenda, sodass die Frage einer möglichen Änderung bis
        dato unerörtert blieb. Jedoch ist auch die deutsche Re-
        gierung bestrebt, zu diesem Thema eine erneute europa-
        weite Debatte anzustoßen. Solange jedoch keine Eini-
        gung zwischen den Mitgliedstaaten erzielt werden kann,
        sollte auch in der Bundesrepublik an der bisher beste-
        henden Regelung festgehalten werden, da es, folgte man
        dem Vorschlag, die Sommerzeit dauerhaft einzuführen,
        sicher zunächst dazu käme, dass die Bundesrepublik zu
        einer Art Zeitinsel in Mitteleuropa würde.
        Dennoch werden wir weiter bestrebt sein, das Anlie-
        gen der FDP-Fraktion wohlwollend aufzunehmen und
        im weiteren Verlauf der bevorstehenden Debatten auf
        europäischer Ebene die Frage der Zeitumstellung kri-
        tisch zu beleuchten. Die Bundesregierung wird aufgrund
        der oben genannten Fakten diese Problematik unter Ein-
        beziehung aller notwendigen Kriterien positiv mit den
        anderen Mitgliedstaaten der EU erörtern. Aus diesen
        Gründen erübrigt sich der Antrag der FDP.
        Gudrun Kopp (FDP): Welchen Nutzen hat die seit
        1981 EU-weit geltende Zeitumstellung? Energieeinspa-
        rung, Gesundheitsförderung, Regelungsabbau, Verkehrs-
        sicherheit? Fehlanzeige.
        Es gibt nicht einen Bereich in Gesellschaft und Wirt-
        schaft, der vom zweimaligen Wechsel von Winter- auf
        Sommerzeit und zurück profitiert. Im Gegenteil: In der
        14052 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Realität haben sich sogar handfeste Nachteile ergeben in
        Form von mehr Bürokratie, mehr gesundheitlichen Pro-
        blemen durch Störung des Biorhythmus und kein ener-
        getischer Nutzen. Ergo sollte gelten: Auf eine Regelung,
        die keinen erkennbaren Nutzen hat, sollte verzichtet
        werden. Genau diese Forderung erhebt die FDP-Bundes-
        tagsfraktion mit ihrem vorliegenden Antrag.
        Dies ist die Gelegenheit, sogar fraktionsübergreifend
        die vielen verbalen Forderungen nach Bürokratieabbau
        in die Realität umzusetzen. Das sehen erfreulicherweise
        wohl auch etliche Kollegen und Kolleginnen aus den Re-
        gierungsfraktionen so. Ich bekam viele zustimmende
        Reaktionen auf diesen Antrag und den Vorschlag, hie-
        raus einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Dazu ist
        es jedoch leider – wohl aus politisch-taktischen Grün-
        den – nicht gekommen.
        Dennoch ist allen Beteiligten schon lange klar: Die
        Zeitumstellung verfehlt deutlich das ursprüngliche Ziel,
        durch bessere Ausnutzung der Tageshelligkeit Energie
        einzusparen. Den geringfügigen positiven Energieein-
        spareffekten bei der Beleuchtung stehen ein Mehrver-
        brauch für Heizenergie sowie ein zusätzlicher Kraftstoff-
        verbrauch wegen des erhöhten Verkehrsaufkommens am
        Abend, wenn es länger hell ist, gegenüber. In ihrem Be-
        richt an die EU-Kommission gesteht die Bundesregie-
        rung diese Tatsache denn auch offen ein. Es wäre also
        konsequent gewesen, hieraus eine Forderung nach Ab-
        schaffung abzuleiten. Erstaunlicherweise und zu meinem
        großen Bedauern hat sie das jedoch nicht getan. Fehlan-
        zeige auf der ganzen Linie.
        Die jährlich zweimalige Zeitumstellung ist das Para-
        debeispiel einer überflüssigen Regelung, die keinen Nut-
        zen bringt, dabei Schaden anrichtet und nur noch exis-
        tiert, weil die Mühe gescheut wird, sie abzuschaffen.
        In ihrem abschließenden Bericht, der die Erfahrungen
        der europäischen Staaten mit der Zeitumstellung zusam-
        menfasst, kommt die EU-Kommission zu dem Schluss,
        die Bürger und die Unternehmen hätten die Zeitumstel-
        lung „in ihre Aktivitäten integriert“. Die Regelung
        müsse weiter bestehen, damit die Zeitzählung aller Mit-
        gliedstaaten harmonisiert ist. Das ist wohl die absurdeste
        Begründung für einen staatlichen Eingriff in die Lebens-
        wirklichkeit der Menschen, die man sich nur denken
        kann: Alle haben sich daran gewöhnt, also machen wir
        weiter wie bisher. Bürokratische und finanzielle Auf-
        wendungen für die Umstellung, gesundheitliche Pro-
        bleme bei Menschen sowie bei Tieren in der Landwirt-
        schaft, all das soll keine Rolle spielen. Dieses Weiter-so
        ist entlarvend, denn genau dieses Verhalten ist häufig die
        Ursache dafür, dass Gesetze bestehen bleiben, obwohl
        sie keiner mehr braucht.
        Klar ist, dass aus Gründen eines funktionierenden
        Binnenmarkts die verschiedenen Wirtschaftssektoren in
        Europa eine einheitliche Zeitzählung benötigen. Doch
        das ständige Hin und Her ist überflüssig. Wir plädieren
        daher für die Abschaffung der Zeitumstellung und die
        Einführung einer ganzjährig geltenden Zeit. Welche Zeit
        das sein soll, ob die jetzige Winter- und frühere Normal-
        zeit oder die Sommerzeit – dabei sind wir prinzipiell of-
        fen. Wir meinen jedoch, dass die Sommerzeit in Anbe-
        tracht der heutigen Lebens- und Arbeitsgewohnheiten
        der Winterzeit vorzuziehen ist, wie Sie unserem Antrag
        entnehmen können.
        Sie haben jetzt noch einmal die Möglichkeit, die „Al-
        lianz der Untätigen“ zu durchbrechen und die Bundesre-
        gierung aufzufordern, diesem unsinnigen Treiben ein
        Ende zu setzen. Bringen Sie mit uns gemeinsam den Bü-
        rokratieabbau ein Stück voran. Wenn sich Deutschland
        als einer der wichtigsten Staaten der Europäischen
        Union für dieses Thema engagiert, besteht auch die
        Chance, eine Änderung herbeizuführen. Nutzen wir
        diese Chance zum konkreten Bürokratieabbau.
        Petra Pau (DIE LINKE): Die FDP hat beantragt, die
        jährlichen Zeitumstellungen abzuschaffen und die soge-
        nannte Sommerzeit permanent einzuführen. Was so ein-
        fach klingt, ist allerdings viel komplexer und sensibler,
        als es den Anschein hat. Die Abgeordneten der Fraktion
        Die Linke werden daher abstimmen, wie es sich gehört,
        ihrem jeweiligen Gewissen folgend und nur dem. Des-
        halb werde ich die Widersprüchlichkeit illustrieren.
        Was ist die gegenwärtige Praxis? Im März und im Ok-
        tober werden die Uhren um eine Stunde verstellt. Viele
        wissen oftmals nicht, wohin sie die Zeit stellen sollen,
        nach vorn oder nach hinten. Das verschafft den Medien
        immer wieder dieselbe Quizfrage. Das mag unterhaltsam
        sein. Aber diese Unterhaltung geht auf Kosten der Bür-
        gerinnen und Bürger. Das ist würdelos und das wie-
        derum scheint für den FDP-Antrag zu sprechen.
        Aber die Wahrheit ist schlimmer. Regelmäßig im
        März werden die Bürgerinnen und Bürger des Nachts
        um eine Stunde beraubt. Dieser Beutezug umfasst allein
        in Deutschland circa 80 Millionen Stunden. Diese Stun-
        den werden zwar im Herbst wieder zurückgegeben, aber
        ohne Zins und Zinseszins. Das wirft natürlich die Frage
        auf: Wer bereichert sich daran? Die Linke stellt diese
        Frage, die FDP verschleiert sie.
        Stattdessen will die FDP diesen Aderlass legalisieren,
        indem sie permanent die Sommerzeit einführen will. Da-
        mit wären aber auch die 80 Millionen Stunden futsch.
        Nun weiß gerade die FDP: Zeit ist Geld. Und das ist des
        Pudels Kern. Die FDP will den Bürgerinnen und Bür-
        gern wieder mal ans Geld. Das ist die Wahrheit, auch
        wenn die FDP sich gern als Partei der kleinen Leute lob-
        preist. Das Gegenteil ist der Fall.
        Ich appelliere zudem ausdrücklich an den aktivierba-
        ren Rest christlichen Glaubens in den Reihen der CDU/
        CSU. Denn wie steht schon in der Bibel: „Ein Jegliches
        hat seine Zeit …“ Genau das aber will die FDP nicht. Sie
        will stattdessen eine Einheitszeit für jeden und alles. Die
        FDP als neue Einheitspartei, das ist die Botschaft, die
        hier so schön versteckt daherkommt. Aber damit kann
        man Die Linke nicht täuschen.
        Obendrein ist der FDP-Plan wider die Natur. Seit al-
        ters her ergibt sich die Zeit aus dem himmlischen Gang
        der Sterne. Die FDP will nun eine künstliche Zeit ein-
        führen. Das wiederum ist typisch: Sie versprechen den
        Leuten eine permanente Sommerzeit, egal ob es draußen
        fröstelt oder schneit. Solche Täuschungen bewirken aber
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14053
        (A) (C)
        (B) (D)
        letztlich nur eines: noch mehr Parteien- und Politikver-
        druss. Genau das will Die Linke nicht.
        Der neue Wirrwarr beträfe übrigens nicht nur die
        Menschen. Auch Flora und Fauna würden erfasst. Ich
        sage nur: „Colchicum autumnale“ oder auf gut Deutsch:
        Die Herbstzeitlose. Auch sie, die „Zeitlose“, würde in
        das Sommerkorsett der FDP gespannt. Das ist nicht frei-
        heitlich, das ist nicht libertär, das ist einfach nur unan-
        ständig. Also lassen Sie bitte die Finger davon, zumal
        die Herbstzeitlose höchst giftig werden kann.
        Ich könnte auch noch über Wintergerste reden oder
        über Frühlingsblüher. Aber auch in der Tierwelt würde
        einiges durcheinander geraten. Als Stichwort nenne ich
        nur den Winterschlaf! Wie wollen Sie denn ihren Kin-
        dern und Enkeln erklären, warum sich zum Beispiel die
        Bären ausgerechnet zur schönsten FDP-Sommerzeit auf
        die faule Haut legen. Und das Ganze auch noch eine
        Stunde später, als bislang gewohnt.
        Nun sagte ich eingangs: Die Meinungen in der Links-
        fraktion sind gespalten. So vermuten unsere Umwelt-
        schützer, dass die FDP im vorauseilenden Gehorsam für
        die permanente Sommerzeit plädiert. Richtig ist: Es
        droht eine globale Erderwärmung. Aber wäre es nicht
        klüger, endlich wirklich etwas gegen die Klimakatastro-
        phe zu unternehmen, als bürokratisch eine neue Zeit-
        rechnung zu erfinden?
        Gleichwohl gibt es auch Gründe für den FDP-Antrag.
        So werden die meisten Kinder hierzulande im November
        bzw. im Dezember gezeugt. In dieser Zeit sind die
        Nächte länger und der Kuschelbedarf steigt. Bei einer
        permanenten Sommerzeit würde es noch früher finster
        als normal. Das spräche für den FDP-Antrag. Ich glaube
        nur nicht recht, dass die FDP unter Reichtum neuerdings
        vorwiegend Kinderreichtum versteht.
        Übrigens: Eine permanente Sommerzeit ist eine staat-
        liche Reglementierung im Schlafzimmer. Die FDP will,
        dass alle für immer eine Stunde früher aufstehen müs-
        sen. Übrigens: Sachsen-Anhalt wirbt mit dem Slogan
        „Land der Frühaufsteher“. Die FDP will also aus uns al-
        len Sachsen-Anhaltiner machen. Das haben Sie sich fein
        ausgedacht, Frau Pieper. Aber auch diesen Trick hat Die
        Linke natürlich durchschaut.
        Abschließend: Einige Fraktionsmitglieder hatten
        schon eine Änderung vorbereitet. Im Original der FDP
        heißt es: „Zeitumstellung abschaffen und Sommerzeit
        permanent einführen“. Wir hätten beantragt, das Wört-
        chen Zeit zu streichen. Geblieben wäre: Umstellung ab-
        schaffen – Sommer permanent einführen. Das wäre für-
        wahr revolutionär gewesen, scheiterte aber dann doch
        am Veto unserer linken Südstaatler und Bergvölker.
        Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Das Topthema dieser Weihnachtssitzungs-
        woche mit der Marathonplenumszeit setzt die FDP mit
        ihrem Antrag: Schluss mit dem Uhrenumstellen – Som-
        merzeit permanent einführen. Kurz vor Weihnachten ist
        dem Guido Westerwelle ein Lichtlein aufgegangen. Im
        Herbst ihres Daseins will die FDP uns jetzt die Erleuch-
        tung bringen.
        Es ist zu erwarten, dass die FDP hier begeisterte Un-
        terstützung von der Linksfraktion erhält. Ihr neues Idol,
        der Sozialist Chavez aus Venezuela, hat gerade verord-
        net, dass die Uhren in Venezuela eine halbe Stunde vor-
        gestellt werden. Damit ticken die Uhren in Venezuela ab
        sofort anders als im Rest der Welt. Der Sozialist, Herr
        Chavez, ist fest davon überzeugt, dass diese Maßnahme
        zur Beglückung des Volkes beiträgt. Vielleicht ist die
        halbe Stunde ja auch ein geeigneter Kompromissvor-
        schlag für die Große Koalition. Sie kann sich ja auch
        sonst nur auf halbherzige Kompromisse, die nichts lösen
        und nichts bewegen, verständigen.
        Wir lernen durch den FDP-Antrag, dass Zeit etwas
        Hochpolitisches ist. Wir sollten allerdings nicht den Feh-
        ler begehen und jetzt bei der Begründung für die Ab-
        schaffung der Zeitumstellung die Erwartungen erneut
        überhöhen. Eine Vermeidung von Unfällen, weniger
        Spritverbrauch und andere Wunderlichkeiten sind kaum
        zu erwarten. Die Zahl der Verkehrsunfälle wird nicht
        wegen der Zeitumstellung zurückgehen, sondern nur
        durch eine vernünftige Tempobegrenzung auf der Auto-
        bahn, liebe Kollegin Kopp.
        Schon bei der Einführung der Sommerzeit war die
        Euphorie, wie wir heute wissen, fehl am Platz. Bereits
        1916 führten Großbritannien und Irland eine Sommer-
        zeit ein. In den 70er-Jahren hatten die meisten EU-Mit-
        gliedstaaten die Sommerzeit eingeführt, Deutschland
        schloss sich 1980 an. Seit dem Jahre 2002 ist die Som-
        merzeit in Deutschland durch eine Verordnung auf unbe-
        stimmte Zeit eingeführt.
        Einer der Gründe für die Zeitumstellung war seiner-
        zeit die Hoffnung, die Tageshelligkeit im Sommer besser
        zu nutzen und somit Energie einzusparen. In ihrer Ant-
        wort auf eine Kleine Anfrage musste die damalige rot-
        grüne Bundesregierung 2005 jedoch einräumen, dass im
        Hinblick auf den Energieverbrauch die Sommerzeit
        keine Veränderungen gebracht hat. Die energiepoliti-
        schen Auswirkungen wurden mithin deutlich über-
        schätzt. Umweltpolitisch haben sich die damaligen Hoff-
        nungen nicht erfüllt. Es ist also berechtigt, zu fragen,
        welchen Sinn dieses zweimalige Umstellen der Uhren
        im Jahr hat.
        Die Bundesregierung hat die große Chance der deut-
        schen EU-Präsidentschaft hier vertan. Wie weiter mit der
        EU-Sommerzeit-Richtlinie 2000/84/EG verfahren wer-
        den soll, ist ungelöst. Die EU-Richtlinie einfach nur fort-
        schreiben und verlängern ist unbefriedigend. Einen
        nationalen Alleingang kann es in dieser schwierigen
        Zeitfrage auch nicht geben.
        Mir persönlich ist diese ewige Umstellerei der Uhren
        eher lästig. Ich weiß auch nach so vielen Jahren nie, ob
        ich die Zeit jetzt vor- oder zurückstellen soll. Zum Glück
        gibt es heute Funkuhren, die über Nacht automatisch die
        Winter- oder Sommerzeit übernehmen. Dies empfinde
        ich jedoch als einen massiven Eingriff in meinen ganz
        persönlichen Biorythmus. Von mir aus können wir uns
        diese ständige Zeitverschiebung schenken.
        Das halbjährliche Hü und Hott zwischen Winter- auf
        Sommerzeit gehört auf den Prüfstand. Deswegen stim-
        14054 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        men wir dem Antrag der FDP zu. Möge die Regierung
        prüfen, ob Europa sich darauf verständigen kann, die
        ewige Sommerzeit einzuführen.
        Anlage 14
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Anträge:
        – Entwicklungsorientierte Wirtschaftspartner-
        schaften zwischen der EU und den AKP-
        Staaten – Chancen für politische, wirtschaft-
        liche und soziale Stabilität
        – EU-AKP-Abkommen: Faire Handelspolitik
        statt Freihandelsdiktat
        – Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und
        Interimsabkommen zwischen EU und AKP-
        Staaten entwicklungsfreundlich gestalten
        (Tagesordnungspunkt 23 a und b und Zusatz-
        tagesordnungspunkt 7)
        Anette Hübinger (CDU/CSU): Wir beraten heute ei-
        nen Antrag der Koalitionsfraktionen, der zu den laufenden
        Verhandlungen zwischen der EU-Kommission und den
        Staaten der AKP-Region über den Abschluss neuer Wirt-
        schaftspartnerschaftsabkommen Stellung nimmt.
        Und ich sage es angesichts der derzeitigen Diskussion
        um die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen gleich zu
        Anfang: Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die
        eben keine reinen Freihandelsabkommen sind, werden
        den AKP-Staaten völlig neue Möglichkeiten und Chan-
        cen eröffnen, sich schrittweise und abgefedert in die
        Weltwirtschaft zu integrieren und die Entwicklung in ih-
        ren Staaten voranbringen. Die bisher einseitig geltenden
        Handelspräferenzen haben in den vergangenen 30 Jahren
        leider nicht zu einer stärkeren Teilhabe dieser Länder am
        Welthandel geführt. Ein Umdenken ist daher nötig.
        In Afrika, wo sich ein Großteil der AKP-Staaten be-
        findet, ist die Hälfte der Bevölkerung jünger als
        18 Jahre. Diese jungen Menschen hoffen auf ein nach-
        haltig besseres Leben als das ihrer Eltern und Groß-
        eltern. Und auch wir tragen dabei Verantwortung. Die
        Wirtschaftspartnerschaftsabkommen allein werden es
        nicht schaffen, die prekäre Situation in vielen dieser
        Länder nachhaltig zu verbessern.
        Der Aufbau wettbewerbsfähiger Industrien, die Ge-
        währung von innerpolitischer Stabilität, funktionierende
        Gesundheitssysteme oder auch verbindliche Rahmenbe-
        dingungen für internationale Investitionen, um hier nur
        einige Faktoren zu nennen, sind gleichermaßen notwen-
        dig, damit Entwicklungsländer endlich die Chancen der
        Globalisierung auch für sich und ihre Menschen nutzen
        können. Es wird noch vieler weiterer Anstrengungen be-
        dürfen, bevor die millionenfachen Hoffnungen und Er-
        wartungen dieser afrikanischen jungen Menschen auch
        wahr werden. Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
        werden diesen Prozess jedoch wesentlich unterstützen.
        Und wir als CDU/CSU-Fraktion appellieren an die Bun-
        desregierung, sich auch weiterhin so engagiert für einen
        erfolgreichen Abschluss der Wirtschaftspartnerschafts-
        abkommen einzusetzen wie bisher.
        Der jetzt gewählte zweistufige Ansatz ist ein guter
        Weg im Sinne der Entwicklungsländer. Er zeigt zugleich
        einen wesentlichen Charakter dieser Abkommen, näm-
        lich die sehr flexible Ausgestaltung dieser Verträge. Zu-
        nächst werden im ersten Verhandlungsabschnitt bis Ende
        2007 Interimsabkommen abgeschlossen werden, die ab
        2008 die Konformität mit den WTO-Regeln gewährleis-
        ten.
        In der zweiten Stufe wird dann über die entwicklungs-
        politischen Aspekte verhandelt. Mit diesem Ansatz soll
        verhindert werden, dass Länder, die nicht zu den ärmsten
        gehören, ab 2008 eventuell handelsrechtliche Nachteile
        hinnehmen müssen und es zu einer Unterbrechung der
        Güterströme kommt. Nach derzeitigem Stand müssen
        sich noch etwa fünf afrikanische Nicht-LDC-Länder, un-
        ter anderem Angola, Ghana und Kamerun, auf ein Inte-
        rimsabkommen einigen. Aber auch hier hat sich die EU
        schon bereiterklärt, mögliche erhöhte Zollzahlungen den
        Entwicklungsländern wieder zurückzuzahlen.
        Die WTO-Konformität der Verträge hat meines Er-
        achtens eine politische Dimension, die noch nicht genug
        herausgestellt wird. Die bisher größtenteils bilateral aus-
        gestaltete Entwicklungspolitik muss endlich in einen
        globalgültigen Rahmen eingebunden werden. Gerade für
        die Entwicklungsländer sind weltweit geltende handels-
        und finanzpolitische Regelwerke bedeutungsvoll, um sie
        vor der Willkür von machtpolitischen Einzelinteressen
        zu schützen. Wenn unsere Bundeskanzlerin auf ihrer
        Afrikareise Anfang Oktober 2007 nach einer neuen Ent-
        wicklungspolitik, die „weit über die traditionelle Ent-
        wicklungshilfe“ hinausgeht, verlangt, und Bundespräsi-
        dent Horst Köhler in seiner zweiten Berliner Rede
        betont: „Wir brauchen eine Entwicklungspolitik für den
        ganzen Planeten“, dann sprechen beide auch von der
        Notwendigkeit, im Sinne von Entwicklungsländern end-
        lich multilateral einheitliche Regeln zu schaffen: allge-
        meingültige Regeln, an denen sich erstens alle messen
        lassen müssen und die zweitens besser überprüfbar sind.
        Für die CDU/CSU-Fraktion war immer Kernpunkt der
        Wirtschaftspartnerschaftsabkommen deren entwicklungs-
        förderliche Ausgestaltung über den Charakter bloßer Frei-
        handelsabkommen hinaus. Denn wir wissen: Zusätzliche
        Wirtschaftschancen führen keineswegs automatisch zu bes-
        seren Entwicklungschancen für die betroffenen Menschen.
        Es ist deshalb unser Ziel, handels- und entwicklungspoliti-
        sche Aspekte so zu verbinden, dass die Handelspolitik in
        den Dienst einer wirksamen Armutsbekämpfung und einer
        nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung in unseren Partner-
        ländern gestellt wird. Der vorliegende Antrag der Koalition
        unterstreicht dieses Ziel.
        Auf Initiative der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
        hat die EU im Mai dieses Jahres ein sehr weitreichendes
        Marktzugangsangebot an die AKP-Staaten beschlossen.
        Dieses Angebot beinhaltet einen zoll- und quotenfreien
        Zugang aller AKP-Staaten zu den europäischen Märk-
        ten; für sogenannte „sensible“ Produkte, wie Reis und
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14055
        (A) (C)
        (B) (D)
        Zucker, soll bis 2015 zunächst eine Übergangsregelung
        gelten. Das ist ein ebenso großzügiges wie weltweit ein-
        maliges Angebot. Zugleich sind die AKP-Staaten nicht
        verpflichtet, ihre eigenen Märkte in gleichem Umfang zu
        öffnen: Für den Schutz von in ihren Wirtschaftsstruktu-
        ren besonders entwicklungssensiblen Produkten und
        Sektoren können sie sehr lange Übergangsfristen für de-
        ren Liberalisierung von bis zu 25 Jahren in Anspruch
        nehmen. Mit diesem Angebot wird das auch von meiner
        Fraktion befürwortete Konzept einer asymmetrischen,
        flexiblen und entwicklungsunterstützenden Marktöff-
        nung mit politischem Inhalt gefüllt.
        Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen bieten her-
        vorragende Wirtschafts- und Entwicklungschancen für
        unsere Partner. Die schrittweise Öffnung ihrer Märkte
        werden für die AKP-Staaten auch Anpassungslasten,
        zum Beispiel sinkende Zolleinnahmen, nach sich ziehen.
        Die jedoch von einigen NGOs aufgestellten hohen Pro-
        gnosen sind für mich nicht nachvollziehbar und werden
        auch von unabhängigen Experten als weit überschätzt
        bewertet. Zum derzeitigen Zeitpunkt sind auch aufgrund
        der noch nicht vollständig verhandelten Liberalisie-
        rungsszenarien der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
        keine seriösen Angaben über den realen Verlust an Zoll-
        einnahmen aufseiten der AKP-Staaten möglich.
        Wichtig ist jedoch, zu wissen, dass bei den Wirt-
        schaftspartnerschaftsabkommen die Effekte der Han-
        delsliberalisierung nicht sofort eintreten. Durch lange
        Übergangsfristen im Liberalisierungsprozess, wie oben
        schon erwähnt, kann sich der Reformprozess über meh-
        rere Jahre hinstrecken. Sinkende Zolleinahmen müssen
        daher nicht kurzfristig bewältigt werden, sondern in ei-
        nem graduellen Prozess.
        Die EU stellt weitreichende finanzielle Mittel zur Be-
        gleitung der Umstrukturierungslasten zur Verfügung. Im
        9. Europäischen Entwicklungsfonds wurden, um den
        EPA-Prozess zu unterstützen, insgesamt 730 Millionen
        Euro bereitgestellt. Im 10. EEF, der zeitgleich mit den
        EPAs in Kraft treten wird, wurden regionale Integration
        und Handel als Schwerpunkte aufgenommen, um die
        Unterstützung des EPA-Prozesses nochmals zu verstär-
        ken. So wird ein substanzieller Teil des EEF für die Um-
        setzung der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ver-
        wendet werden können.
        Neben der schrittweisen Öffnung für den Weltmarkt
        sind die EPAs nicht zuletzt für die regionale Integration
        der AKP-Länder von großer Bedeutung. Der Abbau re-
        gionaler Handelsschranken und die Errichtung einer
        Zollunion dienen dem wirtschaftlichen Wachstum inner-
        halb der jeweiligen Region und sind zugleich ein we-
        sentlicher Faktor zur Stabilisierung und Intensivierung
        der Beziehungen untereinander. Wir in Europa wissen
        am besten, dass von regionaler wirtschaftlicher Integra-
        tion alle Beteiligten profitieren. Es kann nicht sein, dass
        es in Afrika durchaus Länder gibt, die einen Nahrungs-
        mittelüberschuss produzieren, aber aufgrund von beste-
        henden Handelsbeschränkungen in den benachbarten
        Ländern die Menschen an den Folgen von Hunger ster-
        ben. Dieses darf es nicht länger geben.
        Es ist auch keineswegs so, dass mit dem Inkrafttreten
        der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen die AKP-Staa-
        ten sich selbst überlassen sind, ganz im Gegenteil. Maß-
        geblich auf Initiative der deutschen Präsidentschaft
        werden die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ein Mo-
        nitoringsystem enthalten, mit dem die Entwicklungswir-
        kung der EPAs fortlaufend begleitend bewertet wird;
        Kurskorrekturen können gegebenenfalls eingeleitet wer-
        den. Ab dem Jahr 2010 werden den AKP-Staaten im
        Rahmen von „Aid for trade“ 2 Milliarden Euro jährlich
        von der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        zusätzlich zur Verfügung gestellt.
        Die Zusage der EU, bis 2013 alle Formen von Agrar-
        subventionen auslaufen zu lassen, ist einerseits ein wich-
        tiger Schritt, um die Chancen der Produkte der AKP-
        Staaten zu erhöhen. Zum anderen ist es ein Erfolg auf
        dem Weg zu einer verbesserten Politikkohärenz. Es be-
        weist, dass Handels- und Entwicklungspolitik sich im
        Zuge der Globalisierung gegenseitig befördern können.
        Dieser Erfolg sollte uns alle ermutigen, uns weiter und
        stärker für mehr Kohärenz zwischen den einzelnen Poli-
        tikfeldern einzusetzen.
        Die Zusagen der EU und deren Beschlüsse im Rah-
        men der EPA-Verhandlungen sind wichtige Schritte zur
        Sicherung der Entwicklungsförderlichkeit der Abkom-
        men. Jede Maßnahme wird die Entwicklung der einzel-
        nen Länder und Regionen wirksam unterstützen. Den
        größten Nutzen werden die Länder jedoch haben, wenn
        sie es schaffen, sich regional auf eine gemeinsame Aus-
        gestaltung der EPAs zu einigen. Deshalb möchte ich an
        dieser Stelle nochmals unser gemeinsames politisches
        Anliegen unterstreichen, im Entwicklungsinteresse der
        AKP-Staaten bis zum Jahresabschluss 2007 ein WTO-
        kompatibles Marktzugangsangebot vorzulegen.
        Entwicklung ohne regionale Integration und Teilhabe
        am Handel ist in unserer Welt nicht möglich. Hier setzen
        die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen an: nicht als
        bloße Freihandelsabkommen, sondern in einer klaren
        entwicklungsförderlichen Ausgestaltung als Entwick-
        lungsinstrumente eines völlig neuen Typus in einer glo-
        balisierten Welt zum Nutzen der Entwicklung unserer
        Partnerländer, im Interesse der Menschen, besonders der
        Armen dort, und im wohlverstandenen – gegenseitigen –
        Interesse von Frieden und Stabilität weltweit.
        Ich bitte um Ihre Zustimmung.
        Dr. Sascha Raabe (SPD): Alle, die mit Blick auf
        die schwierigen Verhandlungen zu den Economic Part-
        nership Agreements, den EPAs, zwischen der EU und
        den Staaten Afrikas sowie des karibischen und pazifi-
        schen Raumes auf einen versöhnlichen Jahresausklang
        gehofft hatten, sind in dieser Woche eines Besseren be-
        lehrt worden. Auf dem EU-Afrika-Gipfel am vergange-
        nen Wochenende hat die europäische Seite erleben dür-
        fen, was afrikanischer Stolz ist. Man könnte wohl sagen,
        der afrikanische Löwe hat gebrüllt und Europa seine
        Krallen gezeigt.
        Vielleicht waren die Gipfelgeschehnisse ein Weckruf
        zur rechten Zeit. Um im Tierbild zu bleiben: In mancher-
        14056 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        lei Hinsicht haben sich die Verhandlungsführer der EU-
        Kommission bewegt wie der berühmte Elefant im Por-
        zellanladen. Am Ende waren die Vorbehalte der Afrika-
        ner gegen die EPAs größer als die damit verbundenen
        Hoffnungen. Möglicherweise hat es daher dieser unge-
        wohnt harten Reaktion der Afrikanischen Union bedurft,
        um den bisherigen Verhandlungsansatz seitens der EU
        zu überdenken.
        Die EU-Kommission hätte sich viel Ärger ersparen
        können, hätte sie sich in den Verhandlungen an unserem
        heute hier debattierten Antrag orientiert. Der Antrag
        setzt die Akzente eindeutig auf eine nachhaltige und
        partnerschaftliche Entwicklung der Beziehungen zwi-
        schen der EU und den AKP-Staaten, und das umfassend
        auf mehreren Ebenen unter Beachtung wirtschaftlicher,
        politischer und sozialer Aspekte. Der Kollege Ruck und
        ich haben für die entwicklungspolitischen Arbeitsgrup-
        pen der Koalitionsfraktionen unsere Vorstellungen den
        Kommissaren Mandelson und Michel bereits vorab in ei-
        nem Brief mitgeteilt.
        Die aktuelle Entwicklung der letzten Tage ist nicht
        unumkehrbar, aber bedauerlich; denn sie bremst einen
        notwendigen Prozess des Zusammenwachsens sowohl
        innerhalb der AKP-Regionalgruppen als auch zwischen
        der EU und den AKP-Staaten. Schuldzuweisungen aber
        bringen nichts. Gleichwohl dürfen wir in unserem Be-
        mühen um ein Abkommen nicht nachlassen. Im Grund-
        satz gilt doch: WTO-konforme Wirtschaftspartner-
        schaftsabkommen sind im gegenseitigen Interesse,
        zumindest dann, wenn der Begriff Partnerschaft betont
        wird und keine Worthülse bleibt. Daher ist es jetzt umso
        wichtiger, schnell an den Verhandlungstisch zurückzu-
        kehren und zunächst über Interimsabkommen zügig kon-
        struktive Lösungen zu erzielen.
        Die Tür ist nicht zugeschlagen. Die Verhandlungen
        mit einigen Regionalgruppen, so zum Beispiel der Kari-
        bikregion, sind weit fortgeschritten und unproblemati-
        scher als die Verhandlungen mit den afrikanischen Re-
        gionen. Und selbst die afrikanischen Staaten bilden ja
        keine einheitliche ablehnende Front. Einige von ihnen,
        unter anderem Kenia und Tansania, haben bereits Inte-
        rimsabkommen unterzeichnet. Trotzdem müssen wir die
        Bedenken derer, die dem Abkommen skeptisch gegen-
        überstehen, ernst nehmen. Wir müssen besonders in
        Afrika verloren gegangenes oder vielleicht nie vorhan-
        den gewesenes Vertrauen zurückgewinnen. Wir müssen
        faire Angebote machen, und wir müssen deutlich ma-
        chen, dass es uns nicht um die pure Liberalisierung des
        Marktes und um das Erschließen neuer Absatzmärkte für
        europäische Produkte geht.
        Was wir wollen, sind gerechte Handelsbedingungen.
        Jeder muss die Chance haben, am Welthandel teilzuha-
        ben. Und dazu reicht eben nicht ein quoten- und zoll-
        freier Marktzugang alleine, wie ihn die AKP-Staaten
        und LDC-Länder bis auf wenige Produktausnahmen bis-
        her im Rahmen des geltenden Präferenzsystems hatten.
        Die 49 am wenigsten entwickelten Länder verfügen zu-
        sammen noch nicht einmal über die Exportkapazität
        Südkoreas. Es kommt also darauf an, die Entwicklungs-
        länder in die Lage zu versetzen, auch weiterverarbeitete
        Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen produzieren zu
        können und die Infrastruktur zu schaffen, damit diese
        auch exportiert werden können. Die beste Fabrik ist auf
        sich alleine gestellt, wenn es keine Straßen, Häfen oder
        Flughäfen gibt, um die Produkte weltweit zu verkaufen,
        oder schlicht das Know-how, die Technik und die Mar-
        ketingkonzepte fehlen, wie die Produkte den Anforde-
        rungen europäischer Märkte einschließlich der sanitären
        und anderen Standards genügen können. Deshalb ist es
        gut, dass die EU ab 2010 jährlich insgesamt 2 Milliarden
        Euro für handelsbezogene Entwicklungszusammenarbeit
        aufbringen will und etwa 50 Prozent davon für die AKP-
        Staaten zur Umsetzung der Wirtschaftspartnerschaftsab-
        kommen vorgesehen sind. Darüber hinaus leistet
        Deutschland im Rahmen seiner bilateralen und multila-
        teralen Entwicklungszusammenarbeit wertvolle Hilfen
        zur nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung in den AKP-
        Staaten. Diese Mittel werden gemäß des ODA-Stufen-
        plans in den nächsten Jahren noch deutlich ansteigen.
        In unserem Antrag haben wir deshalb eine sehr starke
        Betonung darauf gelegt, dass wir ein entwicklungsorien-
        tiertes Partnerschaftsabkommen und nicht primär ein
        Freihandelsabkommen wollen. Wenn sich der Weg der
        Globalisierung nicht in eine Gewinner- und eine Ver-
        liererstraße gabeln soll, dann kommt es entscheidend
        darauf an, dass die europäische Seite nicht zum jetzigen
        Zeitpunkt und mit dem WTO-Spruch im Rücken auf
        eine vollständige gegenseitige Marktöffnung drängt.
        Vielmehr muss die Marktöffnung asymmetrisch erfol-
        gen. Die EU muss ihre Märkte sofort und vollständig
        öffnen – aus meiner Sicht ohne Übergangsfristen für Zu-
        cker und Reis – und gleichzeitig den AKP-Staaten – und
        hier nicht nur den am wenigsten entwickelten Ländern –
        lange Übergangsfristen für Liberalisierungsmaßnahmen
        einräumen. Zudem müssen sensible Produkte von einer
        Liberalisierung ausgenommen und geschützt werden.
        Die Asymmetrie, die aus europäischer Sicht auf den
        ersten Blick manchem ungerecht erscheinen mag, ist nur
        logisch. Noch immer werden europäische Produkte, ins-
        besondere Agrarprodukte, durch interne Stützungen oder
        auch durch Exportsubventionen gefördert. Diese han-
        delsverzerrende Subventionierung ermöglicht es europäi-
        schen Produzenten, Waren zu Dumpingpreisen zu expor-
        tieren. Sensible heimische Märkte in Entwicklungsländern
        würden ohne Schutz zerstört. Als beispielsweise Kenia
        vor einigen Jahren seine Importzölle für Milch abge-
        senkt hatte und in der Folge der kenianische Markt mit
        Milchpulver aus der EU überschwemmt wurde, brach
        die heimische Milchproduktion fast komplett ein. Tau-
        sende kenianische Milchbauern standen vor dem Nichts.
        Heute, nach einer erheblichen Anhebung der Einfuhr-
        zölle für Milchpulver im Jahr 2002, bildet die erholte
        Milchwirtschaft wieder das Rückgrat der kenianischen
        Agrarwirtschaft.
        Solche Beispiele gibt es auch aus anderen Ländern
        und mit anderen Produktgruppen. Sie zeigen, dass
        Schutzmechanismen zwingend notwendig sind, damit
        sich die Wirtschaft in den Entwicklungsländern entwi-
        ckeln kann. Das gilt zumindest so lange, bis Europa
        seine Exportsubventionen und sonstigen Stützungen zu-
        rückgefahren hat. Erst danach ist Chancengleichheit an-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14057
        (A) (C)
        (B) (D)
        nähernd denkbar. Das zarte Grün, das in manchen Volks-
        wirtschaften Afrikas durchaus erkennbar ist, darf nicht
        vorher unter dem groben Schuh einer marktradikalen Li-
        beralisierung zertreten werden.
        Wir dürfen auch nicht außer Acht lassen, dass viele
        der Staaten, von denen wir hier reden, kaum eigene Steu-
        ereinnahmen haben und die Importzölle so oft eine der
        wichtigsten staatlichen Einnahmequellen darstellen.
        Dieses Problem lässt sich nicht von heute auf morgen
        aus der Welt schaffen und verlangt ebenfalls nach ausrei-
        chend bemessenen Übergangsfristen. Langfristig ist es
        allerdings sicher besser, die Importzölle, die oft in frem-
        den Taschen landen, durch Steuereinnahmen zu ersetzen,
        die durch eine florierende Wirtschaft möglich werden.
        Wir müssen also die von der WTO eingeforderten Li-
        beralisierungsschritte mit großer Behutsamkeit und mit
        Weitblick vorantreiben. Die Erfahrung zeigt, dass solche
        Entwicklungen nicht übers Knie gebrochen werden dür-
        fen. So haben sich weder die Länder gut entwickelt, die
        sich komplett abgeschottet haben, noch die Länder, die
        ihre Zölle mit einem Federstrich abgeschafft und ihre
        Märkte komplett liberalisiert haben. Immer waren die
        Länder am erfolgreichsten, die sich Schritt für Schritt
        geöffnet haben. Deswegen fordern wir in unserem An-
        trag ausdrücklich, dass den AKP-Staaten nicht nur für
        ihren Agrarbereich, sondern auch für die im Aufbau be-
        findlichen Dienstleistungs- und Industriezweige ange-
        messene Schutzmöglichkeiten gewährt werden müssen.
        Falls Liberalisierungsmaßnahmen zu negativen Effek-
        ten führen, sollen diese wieder rückgängig gemacht wer-
        den können. Wir fordern in unserem Antrag, dass diese
        Überprüfung kontinuierlich durch ein Monitoringsystem
        erfolgen soll, das einen zentralen Platz in dem Abkom-
        men einnehmen soll.
        Ich sage aber auch: Schritt für Schritt sollte eine Inte-
        gration in den Weltmarkt erfolgen. Schließlich ist es
        nicht das Ziel, dass Entwicklungsländer ewig Entwick-
        lungsländer bleiben, sondern nachhaltig starke Wirt-
        schaftsnationen.
        Denjenigen, die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
        generell ablehnen und die bisherige Abschottung der
        AKP-Märkte bei gleichzeitigem Präferenzzugang zur
        EU preisen, sei gesagt, dass die Präferenzregelungen in
        einigen Bereichen zu Fehlentwicklungen und nicht zur
        nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung beigetragen haben.
        Ein Beispiel hierfür ist der Zuckermarkt. Hier sind oft
        ineffiziente Rentensysteme mit veralteten Zuckerrohr-
        plantagen und Fabriken entstanden, während in den la-
        teinamerikanischen Ländern, insbesondere Brasilien,
        eine wettbewerbsfähige moderne Zuckerindustrie ent-
        standen ist, gerade weil diese Länder aufgrund fehlender
        Präferenzen dies durch Effizienz ausgleichen mussten
        und deshalb heute im Vorteil sind.
        Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Wirtschafts-
        partnerschaftsabkommen auf den richtigen Weg kom-
        men. Dabei geht Qualität vor Schnelligkeit. Denjenigen
        Ländern, die sich bis zum Jahresende noch nicht in der
        Lage sehen zu unterzeichnen, sollten ab Januar 2008
        keine Nachteile drohen. Die nach Abschluss der auf den
        Warenverkehr bezogenen Interimsabkommen zu verhan-
        delnden Themen wie Investitionsschutz und Transparenz
        im öffentlichen Beschaffungswesen müssen die Ver-
        handlungskapazitäten und Interessen der AKP-Staaten
        berücksichtigen und dürfen ihnen nicht aufgezwungen
        werden. Auch dies ist eine wichtige Forderung in unse-
        rem Antrag. Allerdings stehen wir dazu, dass sinnvolle
        ökologische und soziale Kriterien berücksichtigende Re-
        geln zum Investitionsschutz für die Entwicklung der
        AKP-Länder ebenso wichtig sein können wie transpa-
        rente und damit nicht korruptionsanfällige Regeln bei öf-
        fentlichen Ausschreibungen. Es kommt eben immer auf
        die Ausgestaltung und die Akzeptanz beim Partner an.
        Ebenfalls halten wir es in unserem Antrag für wichtig,
        dass im Rahmen der Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
        men auch die internationalen Umwelt-, Sozial- und
        Menschenrechtstandards und die Transparenz der Kapi-
        talflüsse gefordert und gefördert werden.
        Mit den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen soll vor
        allem auch der Süd-Süd-Handel gestärkt werden. Nur
        mit regionalen Zusammenschlüssen und der Schaffung
        größerer Binnenmärkte können die AKP-Staaten im glo-
        balisierten Wettbewerb bestehen.
        Europa ist über den gemeinsamen Binnenmarkt zu-
        sammengewachsen. Es könnte den AKP-Regionen als
        Vorbild dafür dienen, dass über gemeinsame Wirt-
        schaftsinteressen weitere Gemeinsamkeiten zu entde-
        cken sind. Der Wille dazu muss allerdings aus den Län-
        dern selber kommen und darf nicht aufgezwungen
        werden. Das europäische Modell ist aber natürlich nicht
        eins zu eins übertragbar. Außerdem ist auch in Europa
        die Entwicklung des Zusammenfindens nach mehr als
        50 Jahren noch keineswegs abgeschlossen. Europäische
        Arroganz wäre daher völlig fehl am Platze.
        Wenn sich das Gipfelgewitter vom vergangenen Wo-
        chenende verzogen hat, wird es in den kommenden Wo-
        chen und Monaten darauf ankommen, dass sich beide
        Seiten aufeinanderzubewegen. Dann könnten stärker
        entwicklungsorientierte Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
        men doch noch zu einem Erfolgsmodell werden und ei-
        nen wichtigen Baustein im Kampf gegen Hunger und
        Armut bilden.
        Hellmut Königshaus (FDP): Gestern hat die Bun-
        deskanzlerin an dieser Stelle noch die Erfolge der Bun-
        desregierung auf dem EU-Afrika-Gipfel überschweng-
        lich gelobt. Das kann man nur als Versuch bezeichnen,
        dem Parlament und der Öffentlichkeit hier etwas vorzu-
        spielen. Zwar wurden die Strategischen Partnerschaften
        und ein Aktionsplan zwischen EU und Afrika abge-
        schlossen, bei der entscheidenden Frage der handelspoli-
        tischen Beziehungen gab es aber einen bestürzenden
        Misserfolg. Die Kanzlerin hatte zuvor erklärt, dass die
        Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, WPA, demnächst
        unterschrieben werden. Nun werden aber lediglich Inte-
        rimsabkommen geschlossen. Die Koalition versucht mit
        Ihrem Antrag, uns und die Öffentlichkeit zu täuschen.
        Sie vertuscht, dass wir vor einem ganz großen Scherben-
        haufen stehen.
        14058 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Aber lassen Sie mich die komplizierte Materie der
        Reihe nach durchgehen: Es ist schon lange bekannt, dass
        die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ab dem 1. Ja-
        nuar 2008 in Kraft treten müssten, da die Präferenzrege-
        lungen zwischen der EU und Afrika ab diesem Zeitpunkt
        nicht mehr WTO-konform sind. Das wissen wir nicht
        erst seit gestern, sondern seit dem Jahr 2000, als das
        Cotonou-Abkommen geschlossen und ratifiziert wurde.
        Seitdem wissen wir auch, dass die Beziehungen zwi-
        schen der EU und Afrika ab dem 1. Januar 2008 durch
        neue Wirtschaftpartnerschaftsabkommen geregelt wer-
        den müssen. Für die Ratifizierung dieser Abkommen ha-
        ben wir heute also noch genau 18 Tage Zeit, und zwar
        brutto und ohne die Berücksichtigung der Feiertage.
        Der deutschen EU-Ratspräsidentschaft kam auch in
        diesem Zusammenhang zeitlich ein besonderer Stellen-
        wert zu. Im ersten Halbjahr dieses Jahres hätte sie die
        entscheidenden Weichenstellungen vornehmen müssen,
        zumal die portugiesische Seite wegen ihrer nachfolgen-
        den EU-Ratspräsidentschaft ausdrücklich auf ihre
        schwierige Situation als ehemalige Kolonialmacht hin-
        gewiesen hatte.
        Dennoch hat die Bundesregierung ihre Position nicht
        genutzt, um den Verhandlungsprozess voranzubringen.
        Vielmehr hat sie sich zurückgelehnt und Schauveranstal-
        tungen mit afrikanischen Staaten – wie etwa die auf dem
        Petersberg – durchgeführt. Noch im Mai hat die Bundes-
        regierung erklärt, dass es keine Alternative zu den Wirt-
        schaftspartnerschaftsabkommen gebe, und auch keinen
        „Plan B“ für den Fall, dass die angestrebten sechs Ab-
        kommen nicht bis Ende des Jahres unterzeichnet wür-
        den. Anstatt also selber entscheidend tätig zu werden,
        hat sie die schwierigen und entscheidenden Verhandlun-
        gen auf die portugiesische Präsidentschaft abgewälzt.
        Das Ergebnis ist nun ein Desaster: Keines der sechs
        Wirtschaftspartnerschaftsabkommen konnte abgeschlos-
        sen werden.
        Es ist daher schlicht Augenwischerei, wenn die Bun-
        desregierung nun so tut, als ob die Interimsabkommen,
        die jetzt abgeschlossen werden, den eigentlich ange-
        strebten Abkommen gleichwertig wären. Sie sind es na-
        türlich nicht, denn sonst hätten deren Inhalte ja als Wirt-
        schaftspartnerschaftsabkommen verabschiedet werden
        können.
        Für das Scheitern der Verhandlungen über die Wirt-
        schaftspartnerschaftsabkommen mit Afrika trägt die
        Bundesregierung also eine traurige Mitverantwortung,
        weil sie ihre Rolle als EU-Ratspräsidenten nicht ausrei-
        chend wahrgenommen hat. Wenn jetzt so getan wird, als
        ob dieses katastrophale Ergebnis allein auf die unzurei-
        chende Verhandlungsführung der EU-Kommission zu-
        rückzuführen sei, dann wird der Anteil der Bundesregie-
        rung verschleiert.
        Dass die Koalition nun in ihrem Antrag diesen Miss-
        erfolg aber auch noch als Erfolg zu verkaufen versucht,
        das setzt dem Ganzen die Krone auf!
        Lassen Sie uns die Fakten noch einmal in Erinnerung
        rufen:
        Erstens. Nicht einmal ein Wirtschaftspartnerschafts-
        abkommen wurde unterzeichnet, sondern lediglich ein-
        zelne Interimsabkommen zum Warenverkehr.
        Zweitens. Die schwierigen Verhandlungen über In-
        vestitionen, Transparenz im öffentlichen Beschaffungs-
        wesen sowie Wettbewerb und Dienstleistungen wurden
        noch nicht einmal begonnen.
        Drittens. Der ab dem 1. Januar 2008 sanktionsbe-
        drohte Verstoß gegen die WTO-Regelungen kann
        schmerzhafte Gegenmaßnahmen der WTO auslösen.
        Eine konkrete Folgenabschätzung können derzeit weder
        die Bundesregierung noch die EU-Kommission abge-
        ben.
        Zu diesem traurigen Ergebnis hat beigetragen, dass
        die EU auch in dieser Frage nicht mit einer Stimme
        spricht. Das wurde auch auf dem EU-Afrika-Gipfel
        deutlich. Während noch bis vor kurzem die „Hardliner“
        erklärten, dass es zu den Wirtschaftspartnerschaftsab-
        kommen keine Alternative gebe, erklärt Kommissions-
        präsident Barroso jetzt, dass „asymmetrische“ Verhand-
        lungen geführt werden sollten. Die Kanzlerin spricht von
        „flexiblen Lösungen“, und der französische Staatspräsi-
        dent erklärt, dass Afrika nicht überlastet werden dürfe,
        und fordert deshalb längere Übergangszeiten. In Anbe-
        tracht der Tatsache, dass die Verhandlungen schon seit
        2000 geführt werden, muss man daher nochmals fragen,
        weshalb die Bundesregierung Anfang des Jahres nicht
        aktiver auf den Prozess Einfluss genommen hat. Machen
        Sie, Frau Bundeskanzlerin, mit der Kommission Ihre
        Hausaufgaben! Wenn Sie nicht wollen, dass Sanktionen
        der WTO auf uns zukommen, dann müssen Sie sich be-
        eilen, um wenigstens noch Schadensbegrenzung zu be-
        treiben.
        Ich glaube aber nicht wirklich, dass Sie, liebe Kolle-
        ginnen und Kollegen der Koalition, die Dringlichkeit der
        Angelegenheit wirklich erkannt haben. Wie es um Ihre
        Bereitschaft steht, sich mit diesem Thema ernsthaft aus-
        einanderzusetzen, sieht man ja auch an der heutigen
        Platzierung dieses Themas in der Tagesordnung des
        Bundestages. Sie verstecken die Debatte über dieses
        wichtige Thema auf einen der letzten Tagesordnungs-
        punkte – lange nach Mitternacht. Das zeigt ja, übrigens
        mit großer Deutlichkeit, bereits, wie „stolz“ Sie selbst
        auf diese Leistung ihrer Regierung sind.
        Es ist übrigens erstaunlich, dass Sie den Mut haben,
        noch eine Woche nach dem Scheitern der Verhandlungen
        hier im Plenum über die Chancen dieser neuen Partner-
        schaften zu fabulieren. Sie hätten wenigstens den Mut
        aufbringen sollen, das Scheitern einzugestehen und Ih-
        ren Antrag mit dem vor dem eben erörterten Hintergrund
        fast schon lächerlich wirkenden Titel komplett zurück-
        zuziehen.
        Wachen Sie endlich auf und handeln – verhandeln –
        Sie! Es ist dringend nötig, endlich Rechtssicherheit in
        den Handel mit den AKP-Staaten zu bringen. Es wird
        dramatische Folgen für die Entwicklung haben, dass es
        jetzt keine Sicherheit für den Handel gibt. Dass neben
        den WTO-Verhandlungen nun auch noch die EPA-Ver-
        handlungen auf Eis liegen, ist eine Katastrophe.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14059
        (A) (C)
        (B) (D)
        Immerhin haben Sie von der Koalition den positiven
        Zusammenhang zwischen Handel und Entwicklung ja
        inzwischen offenbar verstanden. Wohl deshalb haben Sie
        in Ihrem Antrag große Teile unseres Antrags zur Aus-
        dehnung der Handelsliberalisierungen der WPA auf an-
        dere Entwicklungsländer in Ihrem Antrag übernommen.
        Das immerhin spricht für Sie, obwohl Sie darauf auch
        selbst ohne Abschreiben hätten kommen können.
        Die Linken und Grünen bringen in ihren Anträgen da-
        gegen leider zum Ausdruck, dass sie den positiven Zu-
        sammenhang zwischen Handel und Entwicklung noch
        immer nicht verstanden haben. Ich will darum noch ein-
        mal die Gelegenheit nutzen, um auf die Vorzüge des
        freien Warenaustausches hinzuweisen. Diese gelten übri-
        gens nicht nur für die AKP-Staaten, sondern für alle Ent-
        wicklungsländer gleichermaßen. Diese Unterscheidung
        ist, ganz nebenbei, sowieso nicht mehr nachvollziehbar.
        Offene Märkte verbessern vor allem die Entwick-
        lungschancen der ärmsten Länder der Welt. Alle empiri-
        schen Untersuchungen belegen: Die Öffnung eigener
        Märkte führt zu mehr Wohlstand, Bildung, Gesundheit
        und Rechtssicherheit, und zwar unabhängig davon, wel-
        che Politik andere Staaten betreiben. Umgekehrt lehrt
        das Beispiel Simbabwe: Wo Marktkräfte gelähmt oder
        gar ausgeschaltet werden, verarmen die Menschen und
        verlieren alle Perspektiven.
        Die Öffnung der Märkte darf natürlich keine Einbahn-
        straße sein. Nicht nur die Entwicklungsländer müssen
        ihre Märkte öffnen, sondern selbstverständlich auch die
        entwickelten Länder. Das müssen wir uns gelegentlich
        selbst immer wieder in Erinnerung rufen. Dennoch: Die
        Entwicklungsländer stehen zuallererst selbst in der Ver-
        antwortung. Nur der Aufbau von Demokratie, Markt-
        wirtschaft und funktionierenden Rechtssystemen ermög-
        licht auf Dauer eine nachhaltige Entwicklung ihrer
        Länder.
        Heike Hänsel (DIE LINKE): Ich beglückwünsche
        die afrikanischen Regierungen zu ihrem neuen Selbstbe-
        wusstsein. Noch vor kurzem versuchte Frau Wieczorek-
        Zeul uns weiszumachen, es herrsche völliges Einverneh-
        men zwischen der EU und den AKP-Staaten – Afrika,
        Karibik, Pazifik – bezüglich der Verhandlungen über die
        Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die EPAs.
        Am letzten Wochenende haben wir dann auf dem
        EU-Afrika-Gipfel den senegalesischen Präsidenten
        Abdoulaye Wade gehört, der über die EPA-Verhandlun-
        gen sagte: Für uns ist es aus. Etliche Staaten kündigten
        an, keine EPAs unterzeichnen zu wollen. Der AU-Präsi-
        dent Alpha Oumar Konaré äußerste die Befürchtung, die
        EPAs brächten „dramatische Kosten für die afrikanische
        Bevölkerung“. Und er schrieb der EU ins Stammbuch:
        Die afrikanischen Staaten sind nicht mehr nur Ex-
        porteure von Rohstoffen oder einfache Export-
        märkte.
        Nicht nur die Regierungen, auch viele soziale Bewe-
        gungen in den AKP-Staaten sehen in den EPAs, die auf
        die weitgehende Abschaffung von Schutzzöllen und auf
        die Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte abzielen,
        eine Gefahr für die wirtschaftliche und soziale Entwick-
        lung ihrer Länder. Sie lehnen diese Freihandelsabkom-
        men deshalb ab.
        Mit dem Gipfel von Lissabon wurde offensichtlich,
        was sich schon lange abgezeichnet hat: Die EU-Kom-
        mission ist komplett gescheitert mit ihrer neoliberalen
        Handelspolitik. Und mit der EU ist auch die Bundes-
        regierung gescheitert, die die Verhandlungsführung der
        Kommission voll unterstützt hat. Da gibt es nichts zu be-
        schönigen, auch wenn Frau Merkel gestern noch einmal
        versucht hat, abzuwiegeln. Sie haben die AKP-Staaten
        gegängelt, unter Druck gesetzt, nicht für voll genom-
        men. Jetzt erhalten Sie die Quittung: Die Zeiten, in de-
        nen die europäischen Regierungen den Menschen im Sü-
        den sagen konnten, wo es langgeht, sind vorbei.
        Das heißt: Die EU und die Bundesregierung müssen
        jetzt neu nachdenken, welche Art von Partnerschaft sie
        den AKP-Staaten anbieten wollen. Wir fordern bereits
        seit langem, dass die EU einen solidarischen Ansatz ei-
        ner gleichberechtigten Partnerschaft entwickeln muss,
        und zwar gemeinsam mit den AKP-Staaten. Das heißt
        auch: gemeinsam mit den sozialen Organisationen, den
        Gewerkschaften, den Parlamenten hier und dort. Ob sie
        dazu bereit ist, muss allerdings bezweifelt werden.
        Nach dem Gipfel reagierten Bundesregierung und
        Kommission zunächst mit der üblichen Ignoranz. Die
        Kanzlerin hat gestern in ihrer Rede zum Reformvertrag
        noch einmal betont, dass sie weiter an der Verhandlung
        von EPAs festhalten will. Aus der Kommission wurde
        gar die alte Drohung wiederholt, ohne neue Freihandels-
        abkommen müssten einige AKP-Staaten mit höheren
        Zöllen für ihre Produkte rechnen.
        Die angemessene Reaktion auf das, was sich in Lissa-
        bon abgespielt hat, und eigentlich schon längst überfällig
        wäre, wäre ein Moratorium für die Verhandlungen gewe-
        sen, damit alle Beteiligten die Gelegenheit bekommen,
        neu über die Ausgestaltung künftiger Abkommen nach-
        zudenken. Stattdessen wird unter Hochdruck weiter-
        verhandelt, und in totaler Verkehrung des Anspruchs,
        regionale Integration fördern zu wollen, werden Einzel-
        abkommen von völlig unterschiedlichem Zuschnitt mit
        Staaten oder Teilregionen abgeschlossen. Das haben etli-
        che entwicklungspolitische Organisationen zu Recht als
        Politik nach dem Motto „Teile und herrsche“ kritisiert.
        Gleichzeitig beginnt die EU mit einer Sache, die sie
        bis vor kurzem noch für unmöglich erklärt hat: Sie führt
        Verhandlungen mit der WTO über die Verlängerung der
        Sonderregelung, auf der das bisherige Handelssystem
        zwischen EU und AKP basiert. Damit böte sich den
        AKP-Staaten zumindest ein kleiner Aufschub. Plötzlich
        geht es also doch, was AKP-Regierungen, soziale Bewe-
        gungen und auch die Linke hier im Bundestag immer
        wieder gefordert haben. Das zeigt: Die EPAs sind nicht
        alternativlos. Es gibt immer Alternativen, wenn der poli-
        tische Wille vorhanden ist.
        Vollkommen unverständlich ist mir deshalb, weswe-
        gen die Koalitionsfraktionen nun einen Antrag vorlegen,
        der gerade so tut, als wäre nichts gewesen. Der Protest
        aus den AKP-Staaten wird schlichtweg ignoriert. Warum
        14060 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        knüpfen Sie nicht an die neuen Möglichkeiten an, die
        jetzt diskutiert werden? Stattdessen halten Sie unbeirrt
        an den EPAs fest.
        Die Forderungen im Antrag der Grünen hingegen
        stimmen mit unseren Forderungen weitgehend überein.
        Ich sehe da auch eine positive Entwicklung vom ersten
        Antrag zum aktuellen, der viel kritischer ist. Also, die
        Grünen sind lernfähig, zumindest in manchen Bereichen.
        Die oberste Maßgabe muss sein: Kein Land darf ab
        2008 in seinen Handelsbeziehungen zur EU schlechter
        gestellt sein als bisher. Alle Drohungen in diese Rich-
        tung sind strikt zurückzuweisen. Zweitens: Es muss
        ohne Zeitdruck und ergebnisoffen verhandelt werden.
        Zwang zur Liberalisierung darf nicht ausgeübt werden.
        Schon gar nicht darf die Liberalisierung der öffentlichen
        Beschaffungsmärkte vorangetrieben werden. An die
        Stelle der gescheiterten neoliberalen Konzepte von Frei-
        handel und Liberalisierung muss eine solidarische und
        partnerschaftliche Politik treten, die die Entwicklungs-
        rechte der Menschen im Süden in den Vordergrund stellt
        und nicht die Profitinteressen der europäischen Export-
        wirtschaft. Dafür brauchen wir die Einbeziehung breiter
        gesellschaftlicher Kräfte wie Gewerkschaften, soziale
        Organisationen und Bewegungen. Statt EPAs von oben
        gerechte Beziehungen von unten.
        Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auf
        dem EU-Afrika-Gipfel in Lissabon sind die Streitigkei-
        ten, die die Verhandlungen der Wirtschaftspartner-
        schaftsabkommen begleiteten, ans Tageslicht gekom-
        men. Man fragt sich als Unbeteiligter – Unbeteiligte sind
        wir ja leider in gewisser Weise, denn weder hier noch in
        den AKP-Staaten sind die Parlamente und die Zivilge-
        sellschaft in die Verbandlungen wirklich einbezogen
        worden –, wie es möglich ist, dass so wichtige und weit-
        reichende internationale Handelsabkommen in letzter
        Minute im Hauruckverfahren durchgebracht werden.
        Oder ist dies gar politisches Kalkül gewesen, um die
        Verhandlungen im Sinne der EU-Kommission bis zur
        Deadline am 31. Dezember durchzupeitschen?
        Der neueste Stand der Dinge ist nun, dass die Kom-
        mission es wohl geschafft hat, statt mit regionalen Han-
        delsblöcken der Entwicklungsländer mit sehr vielen Un-
        tergruppen oder gar einzelnen AKP-Staaten separate
        Interimsabkommen abzuschließen. Wie diese Abkom-
        men im Detail aussehen, wissen wir noch nicht. Aber wir
        können davon ausgehen, dass diese für die Bemühungen
        um regionale Integration – besonders in Afrika – ein
        Rückschlag sind. Dabei war es doch eines der erklärten
        Ziele der Abkommen, auch die regionale Integration der
        AKP-Länder zu fördern.
        Da mutet es schon etwas merkwürdig an, wenn im Ko-
        alitionsantrag zu den EPAs davon gesprochen wird, dass
        „die Bundesregierung während der deutschen EU-Rats-
        präsidentschaft den fristgemäßen Abschluss entwick-
        lungsorientierter Wirtschaftspartnerschaftsabkommen bis
        Ende 2007 entscheidend vorangebracht hat“. Tatsache
        ist dass während der Ratspräsidentschaft die EPAs an-
        scheinend nicht wichtig genug waren, um auf der Priori-
        tätenliste im Tagesgeschäft weit genug oben zu stehen.
        Immer noch ist es nicht möglich, genaue Informationen
        darüber zu bekommen, wie es um die nun verhandelten
        Interimsabkommen steht, wie weit die Verhandlungen
        mit den regionalen Handelsblöcken waren, wie die in-
        haltliche Ausgestaltung der Verträge ist, welche Länder
        nun beigetreten sind und zu welchen Bedingungen.
        Über eines jedoch gab es keine Missverständnisse:
        dass die Verhandlungen immer wieder von Drohgebär-
        den und Säbelgerassel begleitet wurden, während auf
        dem diplomatischen Parkett einer neuen Partnerschaft
        mit Afrika auf Augenhöhe das Wort geredet wurde. Da
        hat zum Beispiel ein ranghoher EU-Vertreter zum Besten
        gegeben, dass AKP-Staaten, die nicht bereit seien, frist-
        gerecht EPAs nach dem Willen der EU-Kommission ab-
        zuschließen, mit einem extremen Anstieg von Einfuhr-
        zöllen rechnen müssten – für Waren, die sie auf dem
        europäischen Markt absetzen wollen, und dass sie oben-
        drein mit Kürzungen von Mitteln aus dem Europäischen
        Entwicklungsfonds zu rechnen hätten. Tatsächlich bleibt
        den meisten AKP-Staaten nichts anderes übrig, EPAs
        oder zumindest erst einmal Interimsabkommen zu unter-
        zeichnen, wenn sie weiter zu günstigen Konditionen in
        die EU exportieren wollen.
        Ich stimme dem Koalitionsantrag durchaus zu, wenn
        da angemessene Schutzmöglichkeiten für Emährungssi-
        cherheit verlangt werden. Doch was bedeutet dies für die
        Umsetzung? Hier müssen wir viel weiter gehen. Wir
        brauchen volle Flexibilität bei den Interimsabkommen
        und den EPAs selbst, eine Flexibilität, die es den AKP-
        Staaten erlaubt, den Rhythmus und die Bedingungen der
        Marktintegration entscheidend selbst zu gestalten. Die
        AKP-Staaten dürfen nicht gezwungen werden, andere
        Bereiche wie Liberalisierungen im Dienstleistungsbe-
        reich oder Regelungen zum Schutz des geistigen Eigen-
        tums in spätere EPA-Verhandlungen automatisch einbe-
        ziehen zu müssen. Die fragilen Volkswirtschaften der
        AKP-Staaten müssen Sich schützen können gegen die
        subventionierte Dumpingkonkurrenz aus der EU und die
        regelmäßigen Importfluten an Billiggeflügel, Reis und
        Dosentomaten. Deswegen brauchen wir eine vollkom-
        mene Neugestaltung der EU-Landwirtschafts- und Han-
        delpolitik, und zwar unabhängig vom Ausgang der fest-
        gefahrenen WTO-Verhandlungen.
        Zollpolitik kann eine entscheidende Rolle bei natio-
        naler Strukturpolitik spielen, wenn Staaten eine ganz-
        heitliche Bekämpfung von Armut und Hunger wollen.
        Da nützt auch eine Übergangsregelung von 20 Jahren bis
        zur vollkommenen Liberalisierung der Märkte nur we-
        nig. Denn auch damit macht die EU unmissverständlich
        klar, wo die Musik spielt. Politik, die langfristig Armut
        beseitigen und dabei die Wirtschaft wachsen lassen soll,
        braucht nicht nur stabile Rahmenbedingungen, sondern
        viel Zeit und periodische Kurskorrekturen. Handelspoli-
        tische Abkommen müssen in ihren Folgen ständig auf
        die Wahrung der Menschenrechte, des Rechts auf Nah-
        rung, des Rechts auf Bildung, der Rechte von Frauen
        und Kindern überprüft werden und notfalls eben geän-
        dert werden können.
        Die Palette von Produkten, die durch Zölle geschützt
        werden können, muss nach Bedarf erweitert oder verän-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14061
        (A) (C)
        (B) (D)
        dert werden können. Hier wünschen wir uns eine viel
        stärkere Beteiligung und Mitentscheidung der Zivilge-
        sellschaft und der Parlamente bei der Aushandlung und
        Bewertung der Folgen der Partnerschaftsabkommen.
        Anlage 15
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Für eine neue
        effektive und an den Bedürfnissen der Hun-
        gernden ausgerichtete Nahrungsmittelkonven-
        tion (Tagesordnungspunkt 22)
        Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Die weltweite Ernäh-
        rungssicherung ist eine der größten Herausforderungen
        unserer Zeit. Nicht von ungefähr steht die Bekämpfung
        des Hungers an erster Stelle der Millenniumsziele. Über
        850 Millionen Menschen in der Welt hungern; das sind
        mehr Menschen als die Bevölkerung der USA, Kanadas,
        Europas und Japans zusammengenommen. Über
        815 Millionen von ihnen leben in Entwicklungsländern.
        Die derzeitige Nahrungsmittelhilfekonvention – Food
        Aid Convention, FAC – ist ein Abkommen zwischen
        23 traditionellen Geberländern. Sie wurde 1967 eta-
        bliert, nachdem es in einigen Entwicklungsländern zu
        Missernten gekommen war. Ursprüngliches Ziel war es,
        die Nahrungsmittelüberschüsse in Europa und den USA
        sinnvoll für die weltweite Bekämpfung des Hungers ein-
        zusetzen. Der Grundgedanke war an und für sich richtig:
        Die Länder mit Nahrungsmittelüberschuss stellen Nah-
        rungsmittel zur Verfügung, sodass im Notfall darauf zu-
        rückgegriffen werden kann. Im Rahmen des Nahrungs-
        mittelhilfeübereinkommens verpflichten sich die Geber,
        den Entwicklungsländern jährlich festgelegte Minimal-
        mengen an Nahrungsmittelhilfe in Form von Getreide
        und anderen Produkten bereitzustellen.
        Die Nahrungsmittelhilfekonvention wurde um letzten
        Mal l999 neu verhandelt. Die letzte, 1999 ausgehandelte
        FAC wurde 2000 vom Deutschen Bundestag ratifiziert.
        Danach ist Deutschland verpflichtet, jährlich Nahrungs-
        mittelhilfe im Wert von über 56 Millionen Euro zu leis-
        ten. An dieser Stelle sollte auch erwähnt werden, dass
        sich Deutschland im Rahmen der Not- und Übergangs-
        hilfe für 2008 verpflichtet hat, über 91 Millionen Euro
        bereitzustellen.
        Im Vergleich zu den 70er-Jahren, als die Nahrungsmit-
        telhilfekonvention begründet wurde, hat sich die Situa-
        tion erheblich verändert. Die Industrieländer haben
        immer geringere Nahrungsmittelüberschüsse. Schwel-
        lenländer wie China und Indien haben einen immer grö-
        ßer werdenden Bedarf an Lebensmitteln, was wiederum
        die Lebensmittelpreise in die Höhe treibt. Zudem gewin-
        nen Lebensmittel im Zusammenhang mit Biokraftstoffen
        eine neue Bedeutung. Nicht vergessen werden dürfen
        auch die Auswirkungen der Klimaveränderungen.
        Kurzum: Die Nahrungsmittelhilfekonvention, die 2008
        ausläuft, steht vor neuen Herausforderungen. Insofern
        weist der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in
        die richtige Richtung. Es hat jedoch sehr viele Unzuläng-
        lichkeiten, weshalb die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
        dem Antrag nicht zustimmen kann. Ich will das gerne be-
        gründen:
        Erstens: In diesem Antrag steht, dass sich die Nah-
        rungsmittelhilfe nicht primär nach den Bedürfnissen der-
        jenigen Länder richten würde, die von Hunger und Ar-
        mut am stärksten betroffen sind, sondern sich „an den
        Agrarinteressen der Industrienationen“ orientiert. Ich
        denke diese Aussage trifft in dieser pauschalen Form
        nicht zu. Wesentliche Beweggründe deutscher – und,
        wie ich denke, auch europäischer – Entwicklungszusam-
        menarbeit sind die Solidarität mit den ärmsten Ländern
        dieser Welt und der Wunsch, sie auf ihrem Weg aus der
        Armut zu unterstützen. Trotz aller Unzulänglichkeiten
        der Nahrungsmittelhilfekonvention ist ihr Ziel eindeutig:
        Sie will zur weltweiten Ernährungssicherung beitragen
        und die Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft, auf
        Notsituationen bei Nahrungsmitteln zu reagieren, ver-
        bessern. Ich will nicht sagen, dass in diesem Bereich al-
        les optimal gelaufen ist; aber ich wehre mich gegen eine
        pauschale Verurteilung der Geberländer, wie sie in dem
        Antrag formuliert ist.
        Zweitens. Viele Forderungen des Antrags erübrigen
        sich, da die Bundesregierung bereits aktiv ist. Das BMZ
        hat frühzeitig die Notwendigkeit des Handelns erkannt
        und im Mai 2007 in Berlin eine Konferenz zu den He-
        rausforderungen, denen die Nahrungsmittelhilfe in Zu-
        kunft gegenübersteht, organisiert. Das Ziel dieser Konfe-
        renz war gerade, die relevanten Fragen zu identifizieren
        und zu diskutieren. Sie sollen dann bei der Neuverhand-
        lung der Konvention berücksichtigt werden. Ich möchte
        betonen, dass diese Konferenz bewusst in den Kontext
        der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und unseres G-8-
        Vorsitzes gestellt wurde. Daran können Sie sehen, wie
        wichtig dieses Thema der Bundesregierung war und ist.
        Die Experten sprachen sich auf der Konferenz in Ber-
        lin dafür aus, dass die Nahrungsmittelhilfekonvention
        fortgeführt und verbessert wird. Der Kern des derzeiti-
        gen Vertragswerks, nämlich die bindenden Zusagen für
        Nahrungsmittelhilfe, soll gestärkt werden. Zudem hat
        die Konferenz konkrete Reformvorschläge hervorge-
        bracht, die von der Bundesregierung in den ausstehen-
        den Verhandlungen mit Sicherheit berücksichtigt wer-
        den. In meinen Augen ist es sehr wichtig, dass die
        Nahrungsmittelhilfe Teil einer umfassenden Gesamtstra-
        tegie zur Bekämpfung des Hungers wird. Nahrungsmit-
        telhilfe allein kann eine grundlegende Ernährungssicher-
        heit nicht ersetzen. Wichtig finde ich auch die Forderung
        der Konferenz nach mehr Transparenz bei der Nahrungs-
        mittelhilfe und die Beteiligung von NGOs im Rahmen
        der Nahrungsmittelhilfekonvention.
        Darüber hinaus ist meiner Meinung nach eine stärkere
        Einbindung der Empfängerländer notwendig. Es kann
        nicht sein, dass es zu völlig abstrusen Situationen kommt
        wie Anfang 2006, als im Westen Kenias Bauern nach ei-
        ner erfolgreichen Ernte auf Maisüberschüssen saßen,
        während im Norden über 2 Millionen Menschen zu ver-
        hungern drohten. Die Bauern weigerten sich, staatlichen
        Institutionen den Mais zu verkaufen, weil sie kein Ver-
        trauen in die Zahlungsmoral der Regierung hatten.
        14062 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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        Ein dritter Punkt in Ihrem Antrag, der problematisch
        ist, bezieht sich auf den Komplex Biotechnologie bzw.
        Grüne Gentechnik. Sie erwecken den Eindruck, dass es
        grundsätzlich einen Konsens gegen die Grüne Gentech-
        nik gibt, sowohl bei uns als auch in den Empfängerlän-
        dern. Das trifft so nicht zu. Auch auf der Konferenz in
        Berlin wurden keineswegs eindeutige Empfehlungen in
        dieser Hinsicht gegeben. Ausdrücklich heißt es in dem
        Bericht, dass dieses Thema kontrovers diskutiert wurde.
        Ich bin durchaus für eine offene Diskussion; aber ich bin
        gegen ideologische Scheuklappen.
        Das Problem ist nämlich, dass die Fraktion Bünd-
        nis 90/Die Grünen grundsätzlich skeptisch – wenn nicht
        gar ablehnend – gegenüber neuen Technologien in der
        Landwirtschaft ist. Das betrifft die Entwicklungsländer
        in hohem Maße; denn wir müssen uns fragen, wie wir
        die Welternährung sicherstellen können. Zurzeit liegt die
        Weltbevölkerung bei über 6,5 Milliarden Menschen.
        Schätzungen zufolge wird sie bis 2050 auf über 9 Mil-
        liarden ansteigen. Zu 99 Prozent findet das Wachstum
        der Bevölkerung in den Entwicklungsländern statt.
        Die Nachfrage nach Nahrungsmitteln wird drama-
        tisch ansteigen. Ein wesentliches Problem sind jedoch
        die begrenzten Ressourcen Ackerland und Wasser. Jähr-
        lich gehen über 7 Millionen Hektar landwirtschaftlicher
        Nutzfläche und über 9 Millionen Hektar Waldfläche
        durch Bebauung und Erosion verloren. Zum Vergleich:
        Deutschland hat eine landwirtschaftliche Fläche von
        17 Millionen Hektar. Ein weiteres Problem ist die immer
        schlechter werdende Bodenqualität. Bereits heute sind
        40 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Welt
        durch Erosion, Versalzung und Wüstenbildung so stark
        geschädigt, dass die Ertragsfähigkeit der Böden sinkt.
        Fakt ist, dass bei wachsender Weltbevölkerung die Le-
        bensmittelnachfrage steigt, aber die verfügbare Fläche je
        Einwohner sinkt.
        Wenn wir die Welternährung sichern wollen, müssen
        wir folgende Schwerpunkte beachten: Wir brauchen eine
        Agrarpolitik, die allen neuen Technologien in der Land-
        wirtschaft offen gegenübersteht und die Forschung und
        Entwicklung ohne ideologische Vorbehalte unterstützt.
        Gerade in der Entwicklungszusammenarbeit muss eine
        umfassende Agrarforschung besser unterstützt und besser
        koordiniert werden. Die Agrarreformen in den Entwick-
        lungsländern müssen unterstützt werden. Die Nahrungs-
        mittelproduktion in den Entwicklungsländern könnte
        jährlich um 2 Prozent gesteigert werden, wenn die Er-
        neuerung der Landwirtschaft Fortschritte machen würde.
        Gerade die Entwicklungspolitik kann bei den Agrarrefor-
        men wichtige Hilfestellungen geben.
        Die nachhaltige Sicherung der Ernährung und die Re-
        duzierung der Armut einer wachsenden Bevölkerung ist
        die vordringliche Aufgabe. Hier sind Politik, aber auch
        Wirtschaft und Wissenschaft gefordert.
        Ich will nicht leugnen, dass der vorliegende Antrag
        der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wichtige Punkte im
        Hinblick auf die Nahrungsmittelhilfekonvention auf-
        greift. Dennoch weist er viele Unzulänglichkeiten auf.
        Deshalb lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den
        Antrag ab.
        Dr. Sascha Raabe (SPD): Täglich sterben etwa
        25 000 Menschen an den Folgen von Hunger und Armut,
        circa 850 Millionen Menschen in der Welt sind unterer-
        nährt. Jedes Jahr ist die Ernährung von circa 50 bis
        60 Millionen Menschen durch Kriege oder Natur- und
        Umweltkatastrophen gefährdet. Dabei trifft es in der Re-
        gel die ärmsten Menschen unserer Erde. Ihre schon
        schwache Existenzgrundlage wird dann nicht selten der
        allerletzten Grundlage beraubt.
        Zur Linderung der Not bei Krisen und Katastrophen
        hat sich die Bundesregierung noch unter der rot-grünen
        Regierung verpflichtet, Nahrungsmittelhilfe im Wert von
        56,24 Millionen Euro jährlich zu leisten und damit den
        betroffenen Menschen aktive Hilfe zukommen zu lassen.
        Das ist gut und eine wichtige Stütze umfassender Ent-
        wicklungszusammenarbeit. Nichtsdestotrotz muss die
        Nahrungsmittelhilfekonvention weiterentwickelt wer-
        den. Auf der Expertentagung, die das Bundesministe-
        rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
        lung Anfang Mai dieses Jahres organisierte, war als
        Ergebnis dieser Tagung der Auftrag eindeutig: Es bedarf
        mutiger Reformen, um das Instrument der Nahrungsmit-
        telhilfe zu verbessern und effektiver für die Reduktion
        von Hunger und Unterernährung einzusetzen.
        Der hier vorliegende Antrag „Für eine neue, effektive
        und an den Bedürfnissen der Hungernden ausgerichtete
        Nahrungsmittelhilfekonvention“ der Bundestagsfrak-
        tion Bündnis 90/Die Grünen geht prinzipiell in die rich-
        tige Richtung, denn die Rahmenbedingungen seit der
        ersten Nahrungsmittelhilfekonvention von 1967 haben
        sich erheblich verändert. Es bedarf also einer Erneue-
        rung.
        Die ursprüngliche Intention, wachsende Nahrungs-
        mittelüberschüsse der europäischen Staaten und der
        USA sinnvoll für die Hungerbekämpfung einzusetzen,
        ist so nicht mehr zeitgemäß. Nicht nur das, es wurde und
        wird häufig auch viel Schindluder mit der Nahrungsmit-
        telhilfe getrieben, indem die großen Exportländer, insbe-
        sondere die USA, die Nahrungsmittelhilfe dazu nutzen,
        den Abbau eigener Agrarüberschüsse voranzutreiben.
        Dies kann und darf nicht Sinn und Zweck einer nachhal-
        tigen und damit langfristig auf Selbstständigkeit der be-
        troffenen Länder ausgerichteten Politik sein.
        Nicht zu Unrecht wird daher von verschiedenen Orga-
        nisationen der Status quo der Nahrungsmittelhilfe kriti-
        siert. Entscheidend ist, dass wir auf die neuen weltweiten
        Veränderungen angemessen reagieren und neue Instru-
        mente entwickeln und Regelungen treffen, die diesen
        Herausforderungen gewachsen sind. Die Situation auf
        den Weltagrarmärkten verändert sich gravierend, da be-
        völkerungsreiche Staaten wie China und Indien einen
        enorm wachsenden Bedarf an Nahrungsmitteln vorwei-
        sen. Zusätzlich kommt es in einigen Ländern zu einer
        Konkurrenz zwischen dem Anbau von Nahrungsmitteln
        und dem Anbau von Biokraftstoffen. Diese Entwicklung
        lässt die Preise für bestimmte Agrarprodukte erheblich
        steigen.
        Dazu kommt – gerade davor sollten wir nicht unsere
        Augen verschließen – dass durch die zusehends verän-
        derten Umweltbedingungen, insbesondere die Klima-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14063
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        erwärmung, für die wir als westliche Industrienation
        zum überwiegenden Teil die Verantwortung tragen, die
        Häufigkeit von Naturkatastrophen erheblich zunimmt.
        Das hat zwei verheerende Auswirkungen: Zum einen
        wird die Nahrungsmittelhilfe vermehrt in Anspruch ge-
        nommen werden müssen, zum anderen wird damit der
        schon oft spärlich vorhandenen Grundlage für die eigene
        Herstellung von Nahrungsmitteln in diesen Regionen die
        letzte Basis entzogen.
        Dieser Entwicklung müssen wir vereint entgegentre-
        ten. Daher will ich auch ein wesentliches Ergebnis der
        Konferenz im Mai aufgreifen. Es reicht einfach nicht,
        nur bilateral die Lösung der Probleme der Nahrungsmit-
        telhilfe anzugehen. Es muss gemeinsam und internatio-
        nal an den strukturellen Ursachen gearbeitet werden mit
        dem Ziel, die negativen Auswirkungen notwendiger
        Nahrungsmittelhilfeleistungen zu begrenzen.
        Diese umfassende Perspektive, die hier die Ebene der
        Zusammenarbeit streift, vermisse ich leider in dem vor-
        liegenden Antrag. Ich würde mir wünschen, wenn sich
        hier nicht nur instrumentenorientiert, sondern auch, so
        wie es verstärkt einzelne NGOs fordern, programmorien-
        tiert der ganzen Sache angenommen werden würde. Das
        zukünftige Nahrungsmittelhilferegime bedarf daher ei-
        nes weit umfassenderen Konzeptes, als es hier dargelegt
        ist.
        Es ist schlicht unzureichend, wenn die Kolleginnen
        und Kollegen der Opposition selbst von einer mittel- und
        langfristigen Perspektive der Nahrungsmittelhilfe spre-
        chen, dann jedoch nicht den passenden Instrumentenkof-
        fer öffnen. Die „Humanitarian Aid Convention“ ist für
        eine solche langfristige Perspektive unpassend.
        Der hier vorliegende Antrag enthält einige gute und
        einige weniger ausgereifte detaillierte Regelungen, die
        auch eine konkrete Umsetzung erfordern. Diese detail-
        lierten Regelungen und die operative Umsetzung können
        nicht in einem solch allgemeinen und weitläufigen Kon-
        zept, wie Sie es vorschlagen, angesiedelt sein. Das ist
        schlichtweg der falsche Weg. Es muss allen Beteiligten
        daran gelegen sein, eine umfassend neue Struktur und
        Architektur der Ernährungssicherung zu entwickeln, die
        das Problem konzeptionell erfasst und dann auch umset-
        zen kann. Daher plädieren wir dafür, einen neuen institu-
        tionellen Rahmen für die Nahrungsmittelhilfekonvention
        zu errichten. Dieser kann unserer Meinung sowie der
        Meinung vieler NGOs nach nur in einer „Food Assis-
        tance Convention“ gefunden werden. Diese geht über
        die klassische Nahrungsmittelhilfe von „Food Aid“ hi-
        naus. „Food Assistance“ vereint somit eine große Band-
        breite von Interventionen, angefangen von der Versor-
        gung mit Waren über therapeutische Ernährung und
        Gutscheinprojekte bis hin zu Barauszahlungen und wei-
        teren finanziellen Systemen.
        Ich frage mich auch, warum Sie in Ihrem Antrag fest-
        legen, dass die Nahrungsmittelhilfekonvention unter
        dem VN-Dach bei der FAO anzusiedeln sei. Der Prozess
        der Erneuerung wurde – das möchte ich hier noch einmal
        betonen – durch die eingeleitete Konferenz der Bundes-
        regierung Anfang Mai überhaupt ins Rollen gebracht.
        Sich jetzt schon festzulegen und einen Akteur für das
        operative Geschäft zu bestimmen, kann nicht richtig
        sein. Darüber hinaus ist es überhaupt fraglich, warum die
        FAO hierzu, wenn überhaupt, geeignet sein soll. Was
        hier benötigt wird, ist eine Vertretung, die über gut aus-
        gebaute Strukturen in den jeweiligen Empfängerländern
        verfügt und die notwendigen Kontakte hat. Beides ist bei
        der FAO so nicht gegeben.
        Was wir uns hier eher vorstellen könnten, wäre, dass
        man die Nahrungsmittelhilfekonvention bei dem unserer
        Meinung nach offensichtlich stärker aufgestellten Welt-
        ernährungsprogramm (WEP) ansiedelt. Möglich wäre
        auch eine Kombination verschiedener Vertreter. Aber in
        diesem Punkt – und das ist das Entscheidende – greift
        Ihr Antrag ins Leere. Wenn über ein neues Konzept von
        Nahrungsmittelhilfe diskutiert und debattiert wird, dann
        muss dieses Konzept wohldurchdacht und in einzelnen
        Schritten vorangebracht werden. Eine sofortige Festle-
        gung würde bedeuten, dass man der Planung dieses um-
        fangreichen und weitsichtigen Konzeptes die nötige Dy-
        namik entziehen würde, die gebraucht wird, um der
        geforderten Zielsetzung zu entsprechen.
        Ihr Antrag greift viele wichtige und notwendige
        Punkte auf, die einer Reform der Nahrungsmittelhilfe-
        konvention gerecht werden. Allerdings – das habe ich in
        meiner Rede dargelegt – hat er noch zu viele Schwach-
        stellen.
        In zwei Wochen ist Weihnachten, das Fest der Liebe,
        in dem es auch darum geht, durch Nächstenliebe denen,
        die wenig bis gar nichts haben, zu helfen. Um dieses Ziel
        nicht nur auf die Zeit während der Festtage zu reduzie-
        ren, sondern den Menschen in den betroffenen Regionen
        langfristig zu helfen, greift der hier debattierte Antrag
        konzeptionell zu kurz. Trotz seiner nicht zu verleugnen-
        den guten Ansätze brauchen wir ein umfassenderes und
        weitreichenderes Konzept. Nur so können wir wirklich
        Nahrungsmittelhilfe leisten, die nachhaltig den Empfän-
        gerländern nutzt.
        Dr. Karl Addicks (FDP): Der aktuelle Welthunger-
        bericht 2007 hat es wieder einmal gezeigt: Es sind kaum
        Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers vorzuwei-
        sen. Besonders in Subsahara-Afrika zeichnet sich ein be-
        drückendes Bild mit nur wenigen Lichtblicken. Im Ge-
        genteil, die absolute Zahl der Hungernden weltweit ist
        seit 1980 nur leicht zurückgegangen, seit einigen Jahren
        steigen die Zahlen wieder. Und das, obwohl sich die in-
        ternationale Gemeinschaft dazu verpflichtet hat, mehr
        Geld zu investieren, um Armut, Krankheit und Hunger
        besser und auch schneller zu bekämpfen. Angesichts
        dieser Entwicklungen müssen wir uns die Frage stellen,
        was wir falsch machen. Denn bisher ist dies nicht von
        großem Erfolg gekrönt.
        Die Beseitigung des Hungers ist und bleibt eine der
        größten Herausforderungen. Warum hungern Menschen
        gerade in den ländlichen Gebieten, wo doch die Nahrung
        herkommt? Hat das vielleicht etwas mit der Verteilung
        des Agrarlandes zu tun? Ja, aber nicht nur. Krieg, Krank-
        heit, Korruption sind nur einige der Gründe für den Hun-
        ger in der Welt. Deshalb nutzen isolierte Nahrungsmit-
        14064 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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        telprogramme auch nur, um punktuelle Hungerkrisen zu
        bekämpfen und akute Notlagen zu beseitigen.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
        freue mich, dass auch Sie dies so sehen und Nahrungs-
        mittelhilfe in Notsituationen als zwingend notwendig
        und alternativlos ansehen. Natürlich muss dabei beachtet
        werden, dass es nicht zu einem Missbrauch der Nah-
        rungsmittelhilfe kommt, indem Agrarüberschüsse in
        Entwicklungsländer geschickt werden. Dies hat die FDP
        im Hinblick auf die USA auch schon mehrfach gefor-
        dert. Derartige handelsverzerrende Praktiken müssen
        über die WTO abgebaut werden. Da stimmen wir mit Ih-
        nen überein.
        Wie schon gesagt, Nahrungsmittelhilfe ist in Not-
        situationen alternativlos. Gleichwohl können auf Dauer
        jedoch nur die Maßnahmen Hunger und Armut beseiti-
        gen, die Staaten auf den Weg zu wirtschaftlicher Ent-
        wicklung, zu Freiheit, Demokratie und Menschenrechten
        bringen. Denn wer Afrika kennt, der weiß, dass dieser
        Kontinent enorme Land- und Agrarreserven besitzt. Der
        afrikanische Kontinent wäre in der Lage, 2 Milliarden
        Menschen zu ernähren. Doch häufig fehlt es an den
        schon angesprochenen Elementen wie Demokratie und
        Freiheit. Denn nur durch politische Stabilität wird inves-
        tiert, und Menschen können durch ihrer Hände Arbeit ih-
        ren Lebensunterhalt bestreiten. Dazu müssen die Rah-
        menbedingungen sie in die Lage versetzen. Das ist die
        kausale Bekämpfung des Hungers. Und das müssen wir
        fördern und fordern.
        wir haben es selbst auf einigen Besuchen in Afrika
        gesehen: Es kann funktionieren. Jedoch sind dies nur
        vereinzelte Projekte, die eine positive Entwicklung ge-
        nommen haben. Leider noch zu wenige.
        Neben politischer Stabilität sind natürlich mehr Inves-
        titionen in die ländliche Entwicklung nötig, und das von
        allen Seiten. Sowohl Entwicklungs-, Schwellen- als auch
        Industrieländer müssen auf diesem Gebiet mehr machen.
        In den letzten 20 Jahren wurde dieser Bereich der Ent-
        wicklungszusammenarbeit stark vernachlässigt. Der ak-
        tuelle Weltbankbericht hat dies glücklicherweise er-
        kannt, auch wenn ich mich frage, warum die Erkenntnis
        so lang gedauert hat. So hoffe ich, dass sich diese Er-
        kenntnis auch in den Taten der Weltbank zeigt und viele
        Nachahmer, insbesondere in der deutschen Entwick-
        lungszusammenarbeit, findet. Es kann nicht sein, dass
        dieser Bereich weiter so sträflich vernachlässigt wird,
        obwohl gerade bei der Förderung der ländlichen Ent-
        wicklung mit den größten Entwicklungsergebnissen zu
        rechnen ist. Laut Weltbank erreicht man mit der Förde-
        rung der ländlichen Entwicklung einen um den Faktor 4
        höheren Erfolg als in allen anderen Bereichen. Aus die-
        sem Grund haben wir Liberale immer gefordert, dass
        mehr, und zwar viel mehr in Agrarforschung und in den
        Aufbau funktionsfähiger Agrarstrukturen investiert wer-
        den muss; denn nur dann ist dies mittel- und vor allem
        langfristig Hilfe zur Selbsthilfe.
        Ich komme nun zu einigen Punkten in Ihrem Antrag,
        denen ich als Liberaler und Entwicklungspolitiker nicht
        zustimmen kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen von
        den Grünen, warum können Sie sich nicht von dem
        Dogma Ihrer Ablehnung der grünen Gentechnik verab-
        schieden? Nicht alles, was diese Technik hervorbringt,
        ist Teufelswerk, manches ist geradezu segensreich. Das
        hat sogar Greenpeace erkannt. Erkennen Sie es auch!
        Die Chancen überwiegen die hypothetischen Risiken.
        Darüber hinaus fehlen mir aber auch noch entschei-
        dende Punkte in Ihrem Antrag. Wo bleiben Punkte wie
        Bildung und Ausbildung der Landbevölkerung, wo spre-
        chen Sie die Verstärkung der Agrarforschung und den
        Ausbau der Agrarstrukturen durch Industrie-, Entwick-
        lungs- und Schwellenländer an? Ich vermisse dies in Ih-
        rem Antrag.
        Und noch ein weiterer zentraler Punkt wird in ihrem
        Antrag nicht ausreichend berücksichtigt: die zuneh-
        mende Konkurrenz zwischen Lebensmitteln und nach-
        wachsenden Rohstoffen. Sie erwähnen es nur in einem
        Halbsatz, aber eine Lösung bleiben Sie schuldig. In den
        letzten Monaten haben ganz zentrale agrarpolitische Ver-
        änderungen stattgefunden: Die weltweiten Getreidevor-
        räte wurden wegen der enorm gestiegenen Nachfrage
        abgebaut. Wir haben nicht mehr das jahrzehntelange
        Überschussproblem, sondern es entstehen erste Nachfra-
        geprobleme. Dies hat zum einen mit einem weiteren Be-
        völkerungswachstum, aber auch mit der steigenden
        Nachfrage nach Biokraftstoffen zu tun. Hier entsteht
        eine Konkurrenz zwischen Nahrungsmitteln und nach-
        wachsenden Rohstoffen, die sich in den nächsten Jahren
        weiter verschärfen wird. Besonders für Entwicklungs-
        und Schwellenländer wird diese Entwicklung verhee-
        rende Folgen haben. Dies sind Herausforderungen, de-
        nen wir uns stellen müssen.
        Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Hunger hat
        viele Ursachen. Nur die wenigsten sind natürlich be-
        dingt. Heutzutage ist Hunger vor allem die Folge der rui-
        nösen Konkurrenz auf dem internationalen Agrarmarkt.
        Dies lässt sich an einem Umstand ablesen: Nach FAO-
        Angaben leben drei Viertel der weltweit 854 Millionen
        Hungernden auf dem Land.
        Nehmen wir als Beispiel Ghana. In den 80er-Jahren
        wurden in Ghana fast nur einheimische Tomaten geges-
        sen. Heute aber gehört Ghana auf dem afrikanischen
        Kontinent zu den größten Importeuren von Tomaten-
        mark. Ursache: Mit den Billigimporten der europäischen
        Anbieter können die Bauern nicht mithalten. Die ghane-
        sischen Konservenfabriken, die bis vor kurzem noch den
        Bauern die Ware abgenommen haben, verfallen.
        Zwei Effekte sind zu beobachten: Die Gemüsebauern
        auf dem Land verdienen nicht mehr genug. Das Geld
        wird knapp. Zu bestimmten Jahreszeiten, insbesondere
        vor der Erntezeit, gibt es nur noch eine Mahlzeit pro Tag.
        Und: Die Jugend wandert in die Städte ab. Doch auch
        dort ist Arbeit knapp, weil die einheimische Industrie
        immer weniger einheimische Produkte zu verarbeiten
        hat. Was bringt der freie Handel, wenn er unter dem
        Strich nur zur Zerstörung der Lebensperspektiven der
        Ghanesen führt?
        Doch nicht genug. Es sind dieselben Apostel des un-
        gebremsten Freihandels, die dann hinterher erklären, die
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14065
        (A) (C)
        (B) (D)
        Entwicklungszusammenarbeit sei schuld an dem ganzen
        Desaster. Nein, die Freihändler selbst verschärfen das
        Problem, und zwar ganz bewusst. Eine neue Studie von
        FIAN und „Brot für die Welt“ – die uns im Entwick-
        lungsausschuss jüngst vorgestellt wurde – hat das ver-
        deutlicht. Wir können dort lesen, dass das Parlament
        2003 in Ghana auf die Importflut von Billigreis reagierte
        und über eine mäßige Zollanhebung von 20 auf 25 Pro-
        zent. die einheimischen Reisbauern zu schützen ver-
        suchte. Doch die Regierung nahm, unter dem massiven
        Druck des IWF, nach vier Tagen die entsprechende ge-
        setzliche Regelung zurück. Ich kann mich nicht daran
        erinnern, dass die Bundesregierung oder das Bundesent-
        wicklungsministerium dieses undemokratische und ent-
        wicklungsfeindliche Verhalten als einen Ausdruck von
        „schlechter Regierungsführung“ gebrandmarkt hätte.
        Aber genau das ist es. Die ghanesische Regierung beugt
        sich einer übermächtigen Finanzinstitution, damit den
        Reisexportgiganten aus den USA und Fernost die Tore
        nach Ghana offen stehen, obwohl das eindeutig gegen
        die Interessen der eigenen Bevölkerung geht. Das Nach-
        sehen haben die einheimischen Reisbauern, die nicht
        mithalten können.
        Solange keine entwickelten industriellen Kerne beste-
        hen, die auf dem freien Markt mitspielen können, so
        lange ist die Absenkung der Außenhandelsmauern
        gleichbedeutend mit der Vernichtung von Einkommens-
        quellen für die Bevölkerung. Muss ich Sie daran erin-
        nern, dass sich auch im Deutschland des 19. Jahrhun-
        derts niemals eine einheimische Industrie gegen die
        englische Konkurrenz hätte entwickeln können, wenn
        Bismarck sie nicht unter den Schutz des Staates gestellt
        hätte?
        Schlimmer: Unter dem Druck des freien Marktes wer-
        den die Reserven dünner, mit denen eine Bauernfamilie
        heutzutage auf dem Land in Schwarzafrika leben muss.
        Wenn dann eine natürlich bedingte Minderung der Ern-
        teeinnahmen eintritt – wie jüngst infolge der Über-
        schwemmungen in vielen Ländern Schwarzafrikas –,
        dann macht sich gleich in ganzen Landstrichen eine
        Hungerepidemie breit. Alle Welt sagt dann: Hunger ist
        Folge einer Naturkatastrophe. In Wirklichkeit ist er
        nichts als die Folge des von IWF und WTO erzwunge-
        nen Freihandelsregimes.
        Nun nutzt es den Betroffenen solcher vermeintlichen
        Naturkatastrophen unmittelbar wenig, wenn die Abge-
        ordneten in Deutschland über die Ursachen des Elends
        debattieren. Zunächst einmal muss im Falle einer Hun-
        gerepidemie sofort geholfen werden. Der vorliegende
        Antrag der Grünen widmet sich diesem Problem, und er
        findet die volle Unterstützung meiner Fraktion Die
        Linke. Die bestehenden internationalen Regelungen für
        den Notfall sind in keiner Weise ausreichend. Insbeson-
        dere ist es zynisch, dass die Freihandelspolitiker selbst
        die Hungerepidemien noch für ihre Zwecke ausnutzen
        wollen.
        Im Antrag wird richtig festgestellt, dass kostenlos ein-
        geflogene Nahrungsmittelhilfe häufig die Zerstörung der
        einheimischen Produktionsgrundlage aufgrund des
        Dumpingeffektes noch beschleunigt und insofern das
        Problem mittelfristig verschlimmert statt verbessert.
        Eine Konvention muss her, die hier gegensteuert. Es
        geht darum, dass im Krisenfall ausreichend finanzielle
        Mittel zur Verfügung stehen, um so weit wie möglich re-
        gional produzierte Lebensmittel aufzukaufen und zu ver-
        teilen.
        Dies sollte überhaupt zum Prinzip der Entwicklungs-
        zusammenarbeit werden: dass Werkzeuge, Schaufeln,
        Zelte, Verpflegung etc. so weit wie möglich vor Ort ge-
        kauft werden und so der einheimische Mittelstand geför-
        dert wird. Denn Hilfe zur Selbsthilfe darf keine leere
        Phrase sein. Das gilt auch für den Notfall. Und genau
        darauf zielen die im vorliegenden Antrag getroffenen
        Feststellungen und Forderungen. Deshalb sollte er ernst
        genommen und nicht aus kurzsichtigen, parteiegoisti-
        schen Überlegungen heraus vom Tisch gewischt werden.
        Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nah-
        rungsmittelhilfe ist elementar wichtig und notwendig.
        Ich bin sicher, in diesem Punkt sind wir uns alle einig.
        Wenn Menschen aufgrund von politischen Konflikten,
        Kriegen, Naturkatastrophen oder ökonomischen Desas-
        tern keinen Zugang zu Nahrungsmitteln haben, dann ist
        es unsere Aufgabe, diesen Menschen zu helfen. In Dar-
        fur werden im Moment 3,7 Millionen Sudanesen vom
        Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen mit
        Lebensmitteln versorgt. Ohne diese Hilfe würden sie
        wahrscheinlich nicht überleben.
        Grundlegend für die internationale Nahrungsmittel-
        hilfe ist die sogenannte Nahrungsmittelhilfekonvention.
        Dieses internationale Abkommen legt die Bedingungen
        der Hilfe fest, es setzt Standards, umfasst verbindliche
        Produktlisten und enthält die Zusagen der Gebergemein-
        schaft. Die erste Nahrungsmittelhilfekonvention wurde
        1967 verabschiedet. Damals hatten die westlichen Indus-
        trienationen zum Ziel, ihre Getreideüberschüsse sinnvoll
        für die Hungerbekämpfung in Entwicklungsländern ein-
        zusetzen. Inzwischen wurde das Übereinkommen mehr-
        mals neu verhandelt. Seit 2001 steht eine solche Neuver-
        handlung aus. Herausforderungen wie die steigenden
        Nahrungsmittelpreise weltweit, die wachsende Anzahl
        an Naturkatastrophen, der vermehrte Anbau von Pflan-
        zen zur Energiegewinnung und die Tatsache, dass es
        noch immer 850 Millionen hungernde Menschen auf der
        Welt gibt, verdeutlichen einen dringenden Handlungsbe-
        darf. Bisher musste jedoch aufgrund divergierender Inte-
        ressen der Geberländer die Neuregelung der Nahrungs-
        mittelhilfe immer wieder verschoben werden. In 2008
        läuft das gegenwärtige Abkommen aus. Damit besteht
        die Hoffnung, dass die dringend notwendige Neuver-
        handlung nun endlich in Angriff genommen werden
        kann.
        Die gegenwärtige Nahrungsmittelhilfe muss refor-
        miert werden. Das sagen nicht nur wir Grünen, sondern
        das sagen auch alle Experten: von NGOs über internatio-
        nale Organisationen bis hin zu unseren zuständigen Mi-
        nisterien. Wir fordern deswegen die Bundesregierung
        14066 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        auf, sich bei den internationalen Verhandlungen im kom-
        menden Jahr für eine Neuausrichtung der Nahrungsmit-
        telhilfe einzusetzen. Wir brauchen eine Nahrungsmittel-
        hilfe, die effektiv ist, die sich an den Problemen der
        betroffenen hungernden Menschen ausrichtet und die
        den Bogen von kurzfristiger Nothilfe zu langfristigen Er-
        nährungssicherungsmaßnahmen schlägt.
        Diese Forderungen sind zwar schon jetzt in Art. 1 der
        Nahrungsmittelhilfekonvention als Ziele benannt, nur
        gibt es – wie so oft – eine große Diskrepanz zwischen
        dem, was auf dem Papier steht, und dem, was in der Pra-
        xis geschieht. In der Realität wird leider immer wieder
        deutlich, dass sich Nahrungsmittelhilfe nicht primär an
        den Bedürfnissen derjenigen orientiert, die von Hunger
        und Armut am stärksten betroffen sind. Lassen Sie mich
        hierfür zwei Beispiele kurz anführen.
        Erstens. Nahrungsmittelhilfe wird von den Industrie-
        nationen zum Teil noch immer als Instrument zur Au-
        ßenwirtschaftsförderung benutzt, um eigene Überpro-
        duktionen kostengünstig in Übersee abzusetzen. Wir
        haben das im vorliegenden Antrag am Beispiel der soge-
        nannten Monetarisierung aufgezeigt. Diese US-amerika-
        nische Praxis der gebundenen Nahrungsmittelhilfe dient
        der Agrarlobby des Geberlandes, sie dient den amerika-
        nischen Reedereien, die das – häufig noch subventio-
        nierte – Getreide aus den USA in die Entwicklungslän-
        der verschiffen, und sie dient den US-amerikanischen
        NGOs, die diese Nahrungsmittel auf den lokalen Märk-
        ten der Entwicklungsländer zu Dumpingpreisen verkau-
        fen, um aus den Einnahmen ihre Armutsbekämpfungs-
        programme vor Ort zu finanzieren. Eine solche Praxis ist
        absurd. Sie beeinträchtigt die Agrarproduktion in den
        Empfängerländern negativ und führt schlimmstenfalls
        sogar dazu, dass die Existenzgrundlage von Kleinbauern
        und Händlern gefährdet wird.
        Zweitens. Ein weiteres Beispiel verdeutlicht, dass
        sich Nahrungsmittelhilfe nicht am Bedarf ausrichtet,
        sondern abhängig ist von den Lebensmittelpreisen auf
        dem Weltmarkt. So stellen Geberländer – die Nahrungs-
        mittelhilfe in Form von Naturalien leisten und nicht wie
        die EU in Form von Geld – immer dann ein bestimmtes
        Produkt als Nahrungsmittelhilfe bereit, wenn die Preise
        für dieses Produkt am niedrigsten sind. Andererseits re-
        duzieren sie ihre Schenkungen, sobald die Preise wieder
        ansteigen. Dieses Vorgehen ist paradox, wenn wir be-
        denken, dass es sich eigentlich um eine Maßnahme han-
        delt, die darauf abzielt, den ärmsten Ländern zu helfen.
        Was wir brauchen ist Nahrungsmittelhilfe, die schnell
        verfügbar ist; die zu allererst den Menschen zukommt,
        die sie am dringendsten benötigen; die für jede Krisen-
        situation ausreichend Nahrungsmittel bereitstellt, und
        zwar unabhängig von den Lebensmittelpreisen auf dem
        Weltmarkt; die verschiedene Instrumente beinhaltet, da-
        mit sie jederzeit flexibel auf den ausgemachten Bedarf
        reagieren kann.
        Wir brauchen Nahrungsmittelhilfe, die die Qualität
        der Nahrungsmittel gewährleistet und den Ernährungs-
        gewohnheiten der bedürftigen Menschen entspricht; die
        garantiert, dass keine gentechnisch veränderten Lebens-
        mittel geliefert werden, wenn diese nicht erwünscht
        sind; die nicht als politisches Instrument missbraucht
        wird, um agrarische Überproduktionen aus dem eigenen
        Land kostengünstig abzusetzen; die keinen negativen
        Einfluss ausübt auf die Preise und Produktion von Le-
        bensmitteln in den Empfängerländern; die nicht als Er-
        satz dient für andere Instrumente der Nothilfe, sondern
        komplementär mit anderen humanitären Aktivitäten ab-
        gestimmt wird. Und wir brauchen eine Nahrungsmittel-
        hilfe, die in langfristige, wirtschaftliche Entwicklungs-
        und Armutsbekämpfungskonzepte integriert ist.
        Für eine solche Nahrungsmittelhilfe setzen wir uns
        mit unserem Antrag ein. Dabei sind zwei grundlegende
        Erneuerungen entscheidend: Erstens. Inhaltlich fordern
        wir eine Nahrungsmittelhilfekonvention, die Bezug
        nimmt auf das Menschenrecht auf adäquate Nahrung ge-
        mäß Art. 11 des Internationalen Pakts für wirtschaftli-
        che, soziale und kulturelle Menschenrechte sowie auf
        die hiermit verbundenen freiwilligen Leitlinien der Welt-
        ernährungsorganisation zur progressiven Umsetzung
        dieses Menschenrechts auf Nahrung.
        Zweitens. Strukturell fordern wir eine deutliche Ver-
        besserung der Steuerungsstruktur der Nahrungsmittelkon-
        vention. Bisher besteht hier ein enormes Transparenz-,
        Partizipations- und Kontrolldefizit, das aufgehoben wer-
        den muss. Im Moment werden noch nicht einmal die Be-
        richte der Treffen des Nahrungsmittelhilfekomitees öf-
        fentlich gemacht, und es gibt keine Mechanismen, mit
        denen überprüft wird, ob die Geberländer ihren Ver-
        pflichtungen nachkommen. Wichtige Interessenvertreter
        wie die Regierungen der Empfängerländer und die VN-
        Agenturen, also die Welternährungsorganisation und das
        Welternährungsprogramm, haben bisher keinerlei for-
        male Möglichkeiten, in die Entscheidungsprozesse ein-
        bezogen zu werden. Dies muss sich ändern.
        Ich bitte um Ihre Unterstützung unseres Antrags.
        Anlage 16
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Begrenzung der mit Finanzinvestitionen ver-
        bundenen Risiken (Risikobegrenzungsgesetz)
        (Tagesordnungspunkt 25)
        Leo Dautzenberg (CDU/CSU): In den letzten zwei
        Jahren hat die Große Koalition vieles geleistet, um die
        Attraktivität des deutschen Finanzmarkts zu erhöhen.
        Mit dem REIT-Gesetz haben wir ein neues, interna-
        tional anerkanntes Finanzprodukt auf dem deutschen
        Markt eingeführt. Durch die Änderung des Investment-
        gesetzes haben wir überflüssige Regulierungen abgebaut
        und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als Ver-
        triebs- und Produktionsstandort für Fondsprodukte ver-
        bessert. Im nächsten Jahr werden wir mit dem „Gesetz
        zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapi-
        talbeteiligungen“ – kurz MoRaKG – neue Anreize für
        Investoren und Unternehmen der Wagniskapitalbranche
        schaffen und so besonders Hightechgründer und junge
        Technologieunternehmen fördern.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14067
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die Einführung dieser neuen Finanzprodukte und der
        damit verbundene Anstieg internationaler Finanzinvesti-
        tionen stellen uns als Gesetzgeber vor eine neue Auf-
        gabe: Wir haben die Pflicht, eine ausreichende Transpa-
        renz aller neuen Marktteilnehmer und Marktstrukturen
        sicherzustellen, um so unerwünschten Entwicklungen in
        Bereichen, in denen Finanzinvestoren tätig sind, entge-
        genzuwirken. Dieser Pflicht wollen wir mit dem „Gesetz
        zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbunde-
        nen Risiken“ nachkommen, das wir heute in erster
        Lesung beraten. In dem Gesetz geht es um eine Verbes-
        serung der Transparenz und Rechtssicherheit in ver-
        schiedenen Bereichen des Kapitalmarktgeschehens. Die
        vorgeschlagenen Regelungen betreffen zum Teil börsen-
        notierte, zum Teil aber auch nicht börsennotierte Unter-
        nehmen. Im Einzelnen umfasst das Gesetz folgende
        Maßnahmen: erstens Konkretisierung der bisherigen
        Acting-in-Concert-Regelung, zweitens Verstärkung der
        Aussagekraft wertpapierhandelsrechtlicher Meldungen,
        drittens mehr Informationen über Inhaber wesentlicher
        Beteiligungen, viertens Verschärfung der Rechtsfolgen
        bei Verletzung von gesetzlichen Mitteilungspflichten,
        fünftens verbesserte Identifizierung der Inhaber von Na-
        mensaktien, sechstens Konkretisierung der Informa-
        tionsrechte der Belegschaften.
        Die anhaltenden Turbulenzen an den internationalen
        Finanzmärkten haben einmal mehr gezeigt, wie wichtig
        Transparenz, Klarheit und Rechtssicherheit auf dem Ka-
        pitalmarkt sind. Deshalb unterstützt die Unionsfraktion
        die Ziele des Gesetzes im Grundsatz. Wir möchten, dass
        damit die Transparenz auf dem Finanzmarkt erhöht wird.
        Die Emittenten sollen rechtzeitig erfahren, wer ihre wah-
        ren Eigentümer sind und welche Ziele sie verfolgen.
        Deshalb begrüßen wir vor allem die von der Regierung
        vorgeschlagenen Maßnahmen zur verbesserten Identifi-
        zierung der Inhaber von Namensaktien. Sie werden dazu
        führen, mehr Licht in die Aktionärsstrukturen zu brin-
        gen.
        Gleichzeitig ist es uns aber auch wichtig, dass das Ge-
        setz – wie im Entwurf im Übrigen auch angekündigt –
        solche Finanz- oder Unternehmensaktionen nicht beein-
        trächtigt, die effizienzfördernd wirken. Wenn wir die
        Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Finanzstandortes
        bewahren und weiter ausbauen wollen, müssen wir eine
        nationale Überreglementierung in jedem Fall vermeiden.
        Wir begrüßen es deshalb sehr, dass die zunächst vorgese-
        henen und von Unionsseite kritisierten Regelungen zu
        Meldungen bei Leerverkäufen und zur Einführung eines
        Präsenzbonus bei Hauptversammlungen aus dem Ge-
        setzentwurf gestrichen wurden.
        Auch das weitere Gesetzgebungsverfahren wird die
        Union kritisch begleiten, um überzogene Sanktionen für
        den Finanzplatz Deutschland zu vermeiden. Eine solche
        Gefahr der Überregulierung sehe ich durchaus noch bei
        der Ausgestaltung von drei der vorgeschlagenen Maß-
        nahmen.
        Erstens. Die geplanten neuen Regelungen zum abge-
        stimmten Verhalten von Investoren – das sogenannte
        Acting in Concert – halte ich in der Tendenz für zu res-
        triktiv. Die Tatsache, dass Acting in Concert künftig be-
        reits bei einer Abstimmung im Einzelfall sowie beim
        Austausch von Informationen im Vorfeld von Jahres-
        hauptversammlungen vorliegen soll, wird zu einer er-
        heblichen Verunsicherung gerade bei ausländischen In-
        vestoren führen. Es kann aber nicht in unserem Interesse
        sein, die Attraktivität deutscher Unternehmen für verant-
        wortungsbewusste und effizienzfördernde Investoren zu
        schmälern.
        Zweitens. Bessere Informationen über Inhaber we-
        sentlicher Beteiligungen werden von der Unionsfraktion
        grundsätzlich befürwortet. Wir möchten, dass die Emit-
        tenten rechtzeitig erfahren, welche Ziele mit einer Betei-
        ligung verfolgt werden. Eine Offenlegung der Mittel-
        herkunft, unterteilt in Fremd- und Eigenkapital, wird
        unserer Ansicht nach allerdings zu Wettbewerbsnachtei-
        len sowohl für die Kreditgeber als auch für die Mittei-
        lungspflichtigen führen. Zudem geht eine solche Offen-
        legung der Mittel über die EU-Transparenzrichtlinie
        hinaus, die erst im vergangenen Jahr in deutsches Recht
        umgesetzt wurde. Sie stellt also eindeutig ein sogenann-
        tes Goldplating dar.
        Ein dritter Punkt, bei dem wir noch Klärungsbedarf
        sehen, ist die Konkretisierung der Informationsrechte
        der Belegschaften von nicht börsennotierten Unterneh-
        men. Es ist richtig, den Schutz der Belegschaften durch
        Informationspflichten bei Übernahme des Unternehmens
        zu verbessern. Dabei muss unserer Ansicht nach aber
        auch sichergestellt werden, dass auch die Betriebs- und
        Geschäftsgeheimnisse des Übernehmers gewahrt blei-
        ben.
        Lassen Sie mich nun auf einen Punkt zu sprechen
        kommen, der in dem Gesetzentwurf zwar nur unter der
        Überschrift „weitere Maßnahmen“ aufgeführt wird, der
        aber aufgrund der aktuellen Entwicklung immer mehr an
        Bedeutung gewinnt. Ich spreche von dem Thema Kredit-
        verkauf, das in den letzten Monaten häufig für negative
        Schlagzeilen in den Medien gesorgt hat. Nicht zuletzt
        das nichtöffentliche Fachgespräch zu diesem Thema im
        Finanzausschuss hat klar gezeigt, dass hier gesetzgeberi-
        scher Handlungsbedarf besteht, um Kreditkunden besser
        zu schützen. Dabei muss aber auch bedacht werden, dass
        der Verkauf und die Verbriefung von Krediten aus volks-
        wirtschaftlicher Sicht grundsätzlich zu begrüßen sind.
        Für mich heißt das: Wir müssen den Schutz der Darle-
        hensnehmer erhöhen, ohne dabei den erfolgreichen deut-
        schen Verbriefungsmarkt zu gefährden. Hier ist eine Er-
        höhung der Transparenz von Kreditverkäufen unserer
        Ansicht nach das geeignete Mittel, um beide Ziele zu er-
        reichen.
        Konkret stellen wir drei Forderungen auf. Erstens soll
        der Kreditnehmer bei Vertragsabschluss darüber infor-
        miert werden, dass sein Kredit verkauft werden kann.
        Gleichzeitig soll er die Möglichkeit erhalten, einen Ver-
        kauf auszuschließen. Eine solche Verpflichtung wird
        dazu führen, dass es künftig sowohl Kredite geben wird,
        die verkauft werden können als auch solche, die vermut-
        lich etwas teurer sein werden, aber bei denen dafür ein
        Verkauf ausgeschlossen sein wird.
        Zweitens wollen wir, dass der Kunde beim Verkauf
        des Kredites unverzüglich davon in Kenntnis gesetzt
        14068 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        wird und auch erfährt, wer sein neuer Gläubiger ist. Eine
        solche Informationspflicht sollte allerdings entfallen,
        wenn die Bearbeitung des Kredits – das sogenannte Ser-
        vicing – weiterhin bei der ursprünglichen Bank ver-
        bleibt. Denn in einem solchen Fall ändert sich für den
        Kreditnehmer praktisch nichts.
        Drittens halten wir es für wichtig, dass der Kredit-
        kunde rechtzeitig vor dem Auslaufen der Zinsbindung
        darüber informiert wird, damit er sich rechtzeitig um
        eine Anschlussfinanzierung bemühen kann.
        Darüber hinausgehende Forderungen, insbesondere
        die Forderung nach einem Sonderkündigungsrecht und
        einem Wegfall der Vorfälligkeitsentschädigung – über
        einen solchen Vorschlag wurde in der Presse ja bereits
        berichtet – lehnen wir ab. Eine solche Regelung würde
        den Verkauf von Krediten generell unmöglich machen
        und den Markt für Kreditverbriefungen zum Erliegen
        bringen. Gerade die Vorfälligkeitsentschädigung ist eine
        wichtige Voraussetzung für die in Deutschland üblichen
        Festzinskredite und Pfandbriefe. Die Subprimekrise in
        den Vereinigten Staaten hat die Vorteile unseres Systems
        der langfristigen Kreditfinanzierung aufgezeigt. Konti-
        nuierliche Zinserhöhungen bei sogenannten Subprime-
        krediten, die in den USA zu Zahlungsausfällen geführt
        und die Immobilienkrise ausgelöst haben, sind bei uns
        ausgeschlossen. Dieses – meiner Ansicht nach vorbildli-
        che – System der langfristigen Kreditfinanzierung, für
        dessen Erhalt wir gerade auf europäischer Ebene noch
        gekämpft haben, würde durch ein Sonderkündigungs-
        recht der Kreditnehmer erheblich gefährdet werden.
        Ich bin davon überzeugt, dass wir gemeinsam mit un-
        serem Koalitionspartner sowohl bei dem Thema Kredit-
        verkauf als auch bei den übrigen Punkten des Gesetzes
        zu einvernehmlichen und guten Lösungen kommen wer-
        den, um das Ziel des Gesetzes, eine Erhöhung der Trans-
        parenz auf dem deutschen Finanzmarkt, zu erreichen.
        Die Union wird sich dabei dafür einsetzen, Überregulie-
        rungen und überzogene Sanktionen zu vermeiden und
        die Attraktivität des Finanzstandortes Deutschland wei-
        terhin sicherzustellen.
        Nina Hauer (SPD): Die Finanzmärkte eröffnen Anle-
        gerinnen und Anlegern immer komplexere Anlagemög-
        lichkeiten. In den letzten Jahren haben sich aber auch die
        Akteure auf den Finanzmärkten verändert. Hedgefonds
        und Private-Equity-Firmen spielen inzwischen auf den
        modernen Finanzmärkten eine wichtige Rolle. Manche
        Fonds investieren in börsennotierte, manche in nichtbör-
        sennotierte Unternehmen. Der Anlagehorizont der In-
        vestoren kann kurz- oder langfristig sein. Gesamtwirt-
        schaftlich sind Finanztransaktionen deshalb notwendig,
        weil sie Unternehmen den Zugang zu neuem Kapital er-
        möglichen.
        Die Politik steht mit dem Anstieg dieser Finanzinves-
        titionen vor neuen Herausforderungen. Es passt nicht
        zum Bild eines transparenten Finanzmarktes, wenn die
        Vorstände börsennotierter Unternehmen trotz der Aus-
        gabe von Namensaktien ihre größten Aktionäre nicht
        kennen, weil sich diese nicht mit ihrem wirklichen Na-
        men in das Namensregister eintragen.
        Es ist zum Wohle der übrigen Aktionäre, wenn wir
        unsere Regelungen zum Acting in Concert überarbeiten,
        damit nicht Aktionäre mit eher geringfügigen Aktienpa-
        keten die Strategie des Unternehmens maßgeblich beein-
        flussen können, weil sie sich mit anderen heimlich ab-
        sprechen.
        Ich weiß, wie verunsichert die Mitarbeiter und Mit-
        arbeiterinnen von Unternehmen sind, wenn sie sich
        plötzlich mit einem neuen einflussreichen Investor kon-
        frontiert sehen: Welche Ziele verfolgt der neue Eigen-
        tümer mit diesem Investment? Mit welchen finanziellen
        Mitteln wurde die Transaktion finanziert?
        Diese Beispiele zeigen, was nötig ist, um faire Spiel-
        regeln auf den Finanzmärkten weiter sicherzustellen:
        Wir brauchen in erster Linie mehr Transparenz für alle,
        die an Finanzinvestitionen beteiligt sind. Mit dem vorlie-
        genden Gesetzesentwurf werden die mit Finanzinvesti-
        tionen verbundenen Risiken begrenzt, indem wir vor al-
        lem besagte Transparenz herstellen, aber auch klar die
        rechtlichen Rahmenbedingungen verbessern, um ge-
        samtwirtschaftlich unerwünschten Auswirkungen entge-
        genzuwirken.
        Eine rechtliche Klarstellung ist insbesondere beim ab-
        gestimmten Verhalten von Investoren, dem sogenannten
        Acting in Concert erforderlich. Unsere derzeitigen kapi-
        talmarktrechtlichen Vorschriften sind veraltet und er-
        schweren, Acting in Concert nachzuweisen, wenn hier
        mittels moderner Kommunikationswege eine Abstim-
        mung vorgenommen wird.
        Wir möchten dem Markt zuverlässige und aussage-
        kräftige Informationen zur Verfügung stellen, welcher
        Investor wesentliche Beteiligungen an einem Unterneh-
        men hält. Einen wichtigen Schritt haben wir mit dem
        Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetz Anfang dieses
        Jahres bereits gemacht: Seitdem müssen Investoren be-
        reits eine Beteiligung von 3 Prozent melden. Im vorlie-
        genden Gesetzesentwurf ist nun vorgesehen, dass
        Stimmrechte aus Aktien und aus vergleichbaren Positio-
        nen in anderen Finanzinstrumenten zusammengerechnet
        werden. Damit werden aussagefähige Schwellenwerte
        früher erreicht.
        Nach dem Gesetzesentwurf wird es künftig auch bes-
        sere Informationen über Inhaber von Beteiligungen ge-
        ben, die mehr als 10 Prozent eines börsennotierten Un-
        ternehmens halten. Eine ähnliche Regelung haben die
        USA und Frankreich bereits schon vor einiger Zeit ein-
        geführt. Die Investoren müssen bei Erreichen der Anla-
        gegrenze offenlegen, welche Ziele sie mit der Beteili-
        gung verfolgen, ob sie beispielweise nur kurzfristige
        Handelsgewinne erzielen wollen oder ein langfristiges
        strategisches Engagement in dem Unternehmen verfol-
        gen. Außerdem wird offengelegt, inwieweit der Investor
        beim Erwerb der Stimmrechte Fremd- oder Eigenmittel
        einsetzt.
        Das sind wichtige Informationen, die sowohl dem
        Unternehmensvorstand als auch der Belegschaft An-
        haltspunkte geben, was von dem neuen Eigentümer zu
        erwarten ist.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14069
        (A) (C)
        (B) (D)
        Der Gesetzentwurf setzt weiter der häufigen Praxis
        ein Ende, dass ein Aktionär zwischen zwei Hauptver-
        sammlungen seinen Meldepflichten nicht nachkommt,
        ohne rechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen, so-
        lange er die Meldung zum Stichtag nachholt. Er kann
        sich also unbemerkt an das Zielunternehmen anschlei-
        chen, indem er sich ein Aktienpaket aufbaut, dieses aber
        vorläufig nicht meldet. Mit der nachgeholten Meldung
        kurz vor der Hauptversammlung kann er jedoch den
        lange ahnungslosen Emittenten Probleme bereiten, in-
        dem er auf der Hauptversammlung seine Stimmrechte
        nutzt. Künftig hat eine Verletzung der Mitteilungspflicht
        bezüglich der Höhe des Stimmrechtsanteils zur Folge,
        dass der Aktionär die Mitverwaltungsrechte, also insbe-
        sondere das Stimmrecht, die folgenden sechs Monate
        nicht ausüben kann.
        In eine ähnliche Kerbe schlägt die Regelung des Ge-
        setzentwurfs, die Aktiengesellschaften ermöglicht, die
        wirtschaftlichen Eigentümer von Aktien festzustellen.
        Die Emittenten können sogar festlegen, dass Stimm-
        rechte aus Namensaktien nur dann ausgeübt werden kön-
        nen, wenn der Aktiengesellschaft der wirtschaftliche
        Eigentümer bekannt ist. Einige börsennotierte Unterneh-
        men dürften an einer solchen Regelung Interesse haben,
        um eine effiziente und transparente Investor-Relations-
        Arbeit zu betreiben.
        Von besonderer Bedeutung für die SPD-Fraktion sind
        Informationsrechte für die betroffenen Belegschaften.
        Gute Erfahrungen mit entsprechenden Regelungen, wie
        sie der Gesetzesentwurf vorsieht, haben bereits Unter-
        nehmen, Belegschaften und Finanzinvestoren bei der
        Übernahme börsennotierter Unternehmen gemacht.
        Auch für den Fall, dass ein Finanzinvestor bei einem
        nichtbörsennotierten Unternehmen die Kontrolle er-
        wirbt, sieht der Gesetzentwurf künftig eine Unterrich-
        tungspflicht des Unternehmens gegenüber der Beleg-
        schaft vor. Für eine erfolgreiche Übernahme ist es
        wichtig, auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des
        Zielunternehmens zu informieren. Die Belegschaft soll
        sich selbst ein Bild vom neuen Besitzer machen können.
        Mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf stellen wir für
        die Zukunft sicher, dass Finanzinvestitionen in Deutsch-
        land transparenter werden. Risiken für die Wirtschaft,
        den Finanzmarkt, die Unternehmen und auch die Beleg-
        schaften dämmen wir so ein. Wir nehmen den Gesetzes-
        entwurf positiv auf und werden ihn eingehend beraten.
        Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Vor kurzem haben
        wir in erster Lesung unter anderem das neue Wagniska-
        pitlabeteiligungsgesetz vorgestellt, welches die Rahmen-
        bedingungen Kapitalbeteiligungen neu regeln, verbes-
        sern sowie vereinfachen soll. Dies haben wir deshalb
        gemacht, damit gerade am Finanzmarkt Deutschland
        junge, innovative Unternehmen – vor allem in der High-
        tech- und IT-Branche – besser mit Kapital ausgestattet
        werden können, um ihre oft sehr teueren Forschungsvor-
        haben finanzieren und realisieren zu können. Dies
        schafft nicht nur neue Arbeitsplätze in Deutschland, son-
        dern sorgt dafür, dass der Finanzstandort Deutschland
        weiter an Attraktivität gewinnt.
        Schon bei der Vorstellung dieses Gesetzentwurfs hat
        die Regierungskoalition angekündigt, dass parallel zum
        oben erwähnten Entwurf auch Rahmenbedingungen ge-
        schaffen werden müssen, die unerwünschte Aktivitäten
        von zwielichtigen und nur auf schnelle Rendite orientier-
        ten Finanzinvestoren erschweren sollen. Gleichzeitig
        sollen aber auch Rahmenbedingungen geschaffen wer-
        den, dass Effizienz fördernde und gewollte Finanztrans-
        aktionen nicht beeinträchtigt werden.
        Dies regelt der heute vorgestellte Entwurf eines Ge-
        setzes zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen ver-
        bundenen Risiken, kurz: Risikobegrenzungsgesetz.
        Ein Aspekt, mit dem ich mich etwas näher beschäfti-
        gen möchte und der derzeit in vieler Munde ist und auch
        Bestandteil des vorgestellten Gesetzentwurfs werden
        soll, ist die verbesserte Regelung bei Verkäufen von Kre-
        ditforderungen.
        Hierbei ist vor allem die wirtschaftliche Schlechter-
        stellung von Kreditnehmern einschließlich möglicher
        Verletzungen von Datenschutz und Bankgeheimnis zu
        Ungunsten der Betroffenen problematisch. Meist handelt
        es sich dabei um sogenannte notleidende Immobilienkre-
        dite, also Kredite, bei denen der Schuldner in finanziel-
        len Schwierigkeiten ist und die durch das Kreditinstitut
        bereits gekündigt wurden oder kündbar sind. Zurzeit
        schätzt man, dass das gehandelte Volumen dieser notlei-
        denden Kredite allein in Deutschland circa 10 bis
        12 Milliarden Euro pro Jahr ausmacht.
        Dass ein Verkauf von solchen Krediten für die
        Schuldner nichts Gutes bedeutet, liegt klar auf der Hand,
        da die Käufer solcher Forderungen häufig nicht die Fort-
        setzung der Kreditverträge, sondern die Zwangsvollstre-
        ckung der Immobilien zum Ziel haben.
        An dieser Stelle möchte ich auf das verweisen, was
        ich bereits in meiner Rede zum Thema „Rechte der Ver-
        braucherinnen und Verbraucher beim Verkauf von Im-
        mobilienkrediten“ am 11. Oktober 2007 in diesem Hause
        gesagt habe. Dass sich Banken in zunehmendem Maße
        der Verantwortung gegenüber ihren Kunden entziehen
        und einer Lösung mit den in Schwierigkeiten geratenen
        Kreditnehmern immer weniger Interesse haben, zeigt die
        Info-Broschüre einer großen deutschen Bank mit dem
        Titel „Notleidende Kredite – eine etablierte Asset-
        Klasse“ vom 5. April dieses Jahres. Dort heißt es auf den
        Seiten 7 und 8:
        Während Banken im Allgmeinen und vorwiegend
        regional tätige Institute im Besonderen Rücksicht
        auf ihren Ruf nehmen und deshalb bei der Abwick-
        lung von Krediten behutsamer vorgehen, können
        Abwicklungsgesellschaften ihre bzw. die Interessen
        ihrer Auftraggeber bei den Verhandlungen und – im
        Falle des Scheiterns – bei der Zwangsvollstreckung
        offener durchzusetzen versuchen.“
        Die Arroganz, die hinter einem solchen brutalen
        Marktgeschehen steckt, kann nicht oft genug – auch in
        diesem Hause wiederholt werden. Jedenfalls kann eine
        solche Entwicklung von uns Sozialdemokraten nicht ak-
        zeptiert werden und muss daher gesetzlich geregelt wer-
        den.
        14070 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Aus diesem Grund ist die Politik gefragt, damit der
        Verbraucherschutz nicht auf der Strecke bleibt. Denn es
        sind vor allem die Kreditnehmer, die die wirtschaftlichen
        Konsequenzen solcher Transaktionen zu tragen haben.
        Ich denke, der vorliegende Gesetzentwurf zur Risikobe-
        grenzung ist daher bestens geeignet, um einen möglichst
        umfassenden Verbraucherschutz bei Verkäufen von Im-
        mobilienforderungen aufzunehmen.
        Folgende Maßnahmen sind hierbei denkbar: Einfüh-
        rung eines Abtretungsverbots von Krediten an Nicht-
        Banken, also speziell an Finanzinvestoren. Jede Bank
        sollte fähig sein, einem – auch in Finanzschwierigkeiten
        gekommenen – Kreditnehmer eine Lösung inklusive An-
        schlussfinanzierung bieten zu können.
        Banken sollten ihren Kunden spezielle Kredite anbie-
        ten, die ein Abtretungsverbot vorsehen. Die Kunden
        können dann selbst entscheiden, wie wichtig ihnen der
        vertragliche Ausschluss von Forderungsabtretungen ist.
        Ferner sollten Banken verpflichtet werden, ihren
        Kunden eventuell bereits bei Vertragsabschluss über die
        Möglichkeit von Kreditverkäufen zu informieren und
        nicht – wie derzeit üblich – bloß in den immer noch
        ziemlich kleingedruckten AGBs oder aber spätestens bei
        erfolgter Abtretung bzw. Übertragung der Forderung.
        Auch dies ist heute fast nirgendwo der Fall mit der
        Folge, dass der Kreditnehmer häufig Post von einem ihm
        unbekannten Finanzinvestor erhält, der sich dann als oft-
        mals unnachgiebiger Finanzhai outet.
        Weiterhin sollte der Kreditgeber verpflichtet werden,
        dem Darlehensnehmer rechtzeitig ein Folgeangebot zu
        unterbreiten oder ihn auf die Nichtverlängerung des Ver-
        trages hinzuweisen. Dies schafft Planungssicherheit und
        gibt dem Kreditnehmer die Möglichkeit, sich frühzeitig
        auf eventuelle Veränderungen vorzubereiten.
        Darüber hinaus halte ich die Einführung eines mögli-
        cherweise befristeten Sonderkündigungsrechts ohne
        Vorfälligkeitsentschädigung bzw. anteilige Rückzahlung
        des Disagios für ein geeignetes Mittel, Kreditnehmer
        besser zu schützen. Denn jede Form des Forderungsver-
        kaufs ist mit der Kündigung eines Vertragsverhältnisses
        gleichzustellen. Schuldner und Gläubiger sollten – nein:
        müssen – sich auf gleicher Augenhöhe begegnen.
        Auch ein verschuldensunabhängiger Schadenersatz-
        anspruch bei unberechtigter Zwangsvollstreckung wird
        zu prüfen sein. Tilgt der Kreditnehmer ordentlich seinen
        Kredit und der Kreditgeber betreibt dennoch die
        Zwangsvollstreckung, haftet er nach derzeitiger Rechts-
        lage nur, wenn ihm ein Verschulen nachgewiesen wird.
        Bei einem verschuldensunabhängigen Schadenersatzan-
        spruch wird deshalb ein betroffener Darlehensnehmer
        schneller und wesentlich einfacher seinen Schaden er-
        setzt bekommen.
        Auch sollte man nicht abtretbare Unternehmenskre-
        dite vereinbaren können. Unternehmer sind derzeit nicht
        in der Lage, mit ihrer Bank zu vereinbaren, dass vorhan-
        dene Darlehensforderungen nicht abgetreten werden
        können. Dies muss sich ändern. Auch Unternehmer soll-
        ten die Möglichkeit erhalten, Kreditverträge mit ihrer
        Bank zu schließen, die nicht abtretbar sind.
        Mit diesen Forderungen sollten wir deutliche Akzente
        zugunsten von Häuslebauern setzen. Für die Mehrheit
        der Deutschen stellt die eigene Wohnimmobilie eines der
        wichtigsten Standbeine der eigenen Altersvorsorge dar.
        Eine Tatsache, die wir im Übrigen auch noch gesondert
        fördern wollen. Deshalb ist es mir sehr wichtig, dass wir
        im Bereich dieser Thematik die Verbraucherrechte so
        stärken werden, dass der Traum von den eigenen vier
        Wänden nicht zum Albtraum wird.
        Der Handel mit Krediten in Deutschland wird in Zu-
        kunft um ein Vielfaches zunehmen. Bei einem prognos-
        tizierten Volumen von bis zu 300 Milliarden Euro an
        notleidenden Krediten ist es unsere Pflicht, uns gezielt
        für die Stärkung der Verbraucherrechte einzusetzen. Der
        Kreditnehmer, auch der in Not geratene Kreditnehmer
        darf nicht der Dumme sein, ohne die Chance zu erhalten,
        seine Situation – eventuell mithilfe der kreditgebenden
        Bank – wieder in den Griff zu kriegen und den Kredit or-
        dentlich zu begleichen.
        Das hier vorgestellte Risikobegrenzungsgesetz wird
        aus gesetzlicher Sicht jedenfalls diese Chance formulie-
        ren.
        Frank Schäffler (FDP): Der vorliegende Gesetzent-
        wurf müsste besser Investitionsbegrenzungsgesetz ge-
        nannt werden, denn es begrenzt nicht Risiken, sondern
        die Effektivität des Kapitalmarkts. Die Bundesregierung
        sorgt mit Ihrem Gesetzentwurf dafür, dass Investoren er-
        heblich verunsichert und einen Bogen um Deutschland
        machen werden.
        Sie will „gesamtwirtschaftlich unerwünschte Aktivi-
        täten von Finanzinvestoren“ erschweren oder sogar ver-
        hindern. Damit setzen CDU/CSU und SPD ihren Kurs
        fort, in die Eigentumsordnung und die Vertragsfreiheit
        einzugreifen. Dies ist ein weiterer Schlag gegen die so-
        ziale Marktwirtschaft. Die SPD will entscheiden, was
        am Markt gut und was schlecht ist, und die Union reicht
        ihr dazu die Hand. Anfangs sah es noch so aus, als gäbe
        es dafür eine Gegenleistung, nämlich ein Private-Equity-
        Gesetz. Das tatsächlich von der Bundesregierung vorge-
        legte Gesetz zur Modernisierung der Rahmenbedingun-
        gen für Kapitalbeteiligungen war aber eine einzige
        Enttäuschung und wurde als solche auch von den Sach-
        verständigen in der Anhörung des Finanzausschusses be-
        zeichnet. Seitdem liegt es auf Eis, Hoffnung auf Besse-
        rung besteht jedoch nicht. Einig ist sich die Koalition
        immer nur dann, wenn es darum geht, lenkend in den
        Markt einzugreifen.
        Mit dem Risikobegrenzungsgesetz sollen die Vor-
        schriften im Wertpapierhandelsgesetz und im Wertpapier-
        übernahmegesetz zum abgestimmten Verhalten von
        Investoren – Acting in Concert – erweitert und konkreti-
        siert werden. Diese wurden jedoch erst mit dem Transpa-
        renzrichtlinie-Umsetzungsgesetz, TUG, vom Beginn die-
        ses Jahres überarbeitet. Die Bundesregierung will also
        ein eigenes Gesetz, das seine Wirkung noch gar nicht
        zeigen konnte, schon wieder verschärfen. Eine vernünf-
        tige Begründung dafür liefert sie nicht. Tatsächlich
        werden durch diesen Aktionismus die Akteure am
        Finanzmarkt nur kurze Zeit nachdem sie sich auf die
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14071
        (A) (C)
        (B) (D)
        Neuregelung durch das TUG eingestellt hatten mit neuen
        bürokratischen Pflichten belegt. Dies widerspricht auch
        dem Ziel einer europäischen Harmonisierung. Die vor-
        gesehene Definition des Acting in Concert geht viel zu
        weit. Bei jeder Form von Opposition gegenüber den Un-
        ternehmensleitungen drohen künftig unkalkulierbare
        Rechtsfolgen. Dies liegt daran, dass die Bundesregie-
        rung nicht den Schutz der Unternehmen, sondern den
        Schutz der Unternehmensleitungen im Blick hat.
        Zum Thema Kreditverkauf haben Sie seitens der Re-
        gierung noch kein Konzept. Sie haben deshalb im
        Finanzausschuss eine Liste möglicher Maßnahmen vor-
        gelegt, und diese soll nun auch den Sachverständigen für
        die Anhörung zur Verfügung gestellt werden. Dabei
        wurde seitens der Koalition darauf aufmerksam ge-
        macht, dass es doch gut sei, wenn das Parlament offen
        diskutieren könnte. Eine solche offene Diskussion gab es
        jedoch schon bei einem Fachgespräch des Finanzaus-
        schusses am 19. September im Rahmen einer Selbstbe-
        fassung. Eine Anhörung im Rahmen eines Gesetzge-
        bungsverfahrens kann sinnvoll jedoch nur auf der Basis
        von konkreten Regelungsvorschlägen geschehen, da der
        Teufel oft im Detail steckt. Solche konkreten Vorschläge
        gibt es seitens der Bundesregierung auch schon. Die
        Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hat am 11. De-
        zember, also einen Tag vor unserer Beratung im Finanz-
        ausschuss, gegenüber der Presse erklärt, sie habe „dem
        Deutschen Bundestag deshalb konkrete Gesetzesvor-
        schläge unterbreitet, um redliche Darlehensnehmer bes-
        ser zu schützen“. Wir erwarten seitens der FDP-Frak-
        tion, dass diese Vorschläge auch Gegenstand der
        Anhörung werden.
        Der vorliegende Gesetzentwurf sieht auch neue Infor-
        mationspflichten im Betriebsverfassungsgesetz vor.
        Auch hier handelt es sich um Aktionismus und nicht um
        wirklich notwendige Regelungen, da das bestehende Be-
        triebsverfassungsrecht schon umfassende Informations-
        rechte bietet.
        Der Gesetzentwurf ist insgesamt von einem tiefen
        Misstrauen gegenüber dem Markt und gegenüber Inves-
        toren durchzogen. Deutschland braucht jedoch Kapital,
        auch aus dem Ausland. Das Risikobegrenzungsgesetz
        geht genau in die gegenteilige Richtung und ist damit ein
        Rückschritt für den Finanzplatz Deutschland.
        Axel Troost (DIE LINKE): Risikobegrenzung, das
        ist doch einmal ein guter Vorsatz. Besser wäre es frei-
        lich, man würde die Risiken gar nicht erst schaffen, statt
        sie im Nachhinein zu begrenzen.
        Wir haben uns natürlich darüber gefreut, dass Herr
        Müntefering mit dem Begriff Heuschrecken eine breite
        Debatte über Finanzinvestoren ausgelöst hat. Das Bild
        der Heuschrecke führt aber in die Irre: Finanzinvestoren
        sind keine Naturgewalt, die über den Standort Deutsch-
        land hereingebrochen sind. Vielmehr sind Finanzinves-
        toren in den vergangenen Jahren im Rahmen des Stand-
        ortwettbewerbs politisch wohl kalkuliert zum Beispiel
        durch Steuergeschenke nach Deutschland gelockt wor-
        den. Wenn die Bundesregierung nun also die Risiken
        von Finanzinvestoren begrenzen will, dann möchte sie
        ein bisschen die übelsten Erscheinungsformen der Geis-
        ter wieder loswerden, die sie nicht zuletzt selber vorher
        gerufen hat.
        Die Bundesregierung gibt vor, mit diesem Gesetz die
        Risiken für die Beschäftigten von solchen Unternehmen
        zu begrenzen, die von Private-Equity- und Hedgefonds
        übernommen werden. Selbstverständlich ist eine Siche-
        rung der Rechte der Beschäftigten richtig und notwen-
        dig. Statt Sicherheit zu schaffen, wiegt der Gesetzent-
        wurf die Beschäftigten aber in falscher Sicherheit, denn
        er räumt ihnen nur einige Informationsrechte, aber keine
        wirksame Mitbestimmung ein. Durch das vorliegende
        Gesetz würden Betriebsräte dann früher wissen, was mit
        den Belegschaften gemacht wird, aber ohne dass sie da-
        rauf ernstlich Einfluss nehmen könnten.
        Als Fraktion Die Linke fordern wir stattdessen, dass
        Übernahmen als „Betriebsänderungen“ im Sinne des Be-
        triebsverfassungsgesetzes eingestuft werden, was der
        Belegschaft deutlich stärkere Mitbestimmungsrechte
        einräumen würde. Ein solcher Schritt müsste mittel- und
        langfristig durch eine weitgehende Mitbestimmung der
        Beschäftigten auch in wirtschaftlichen Fragen des Unter-
        nehmens fortgeführt werden.
        Es gibt eine Vielzahl weiterer gesetzlicher Schritte,
        die die Bundesregierung gehen könnte, wenn sie es mit
        der Begrenzung von Risiken durch Finanzinvestoren
        ernst meinen würde. Der wichtigste Schritt bestünde da-
        rin, das Geschäftsmodell der Heuschrecken unattraktiver
        zu machen. Sie leihen sich Geld, kaufen damit ein Unter-
        nehmen und bürden die Rückzahlung der Kredite dem
        übernommenen Unternehmen auf. Dem könnte einer-
        seits durch höhere Eigenkapitalanforderungen für Bank-
        kredite an Finanzinvestoren begegnet werden. Auch
        könnte man übermäßig kreditfinanzierte Unternehmens-
        übernahmen insgesamt verbieten. Ferner sind die steuer-
        lichen Privilegien, zum Beispiel im Bereich der Gewer-
        besteuer und der Managergehälter, sofort abzuschaffen.
        Darüber hinaus muss verhindert werden, dass Unter-
        nehmen durch Finanzinvestoren nach der Übernahme
        ausgesaugt werden. Heute können Heuschrecken durch
        Kreditaufnahme Sonderausschüttungen finanzieren und
        auf diesem Wege das Eigenkapital aus den Unternehmen
        ziehen. Das muss in Zukunft verboten werden.
        Um Investoren dazu zu zwingen, ihre Unternehmens-
        engagements wieder langfristiger auszurichten, sollte die
        Bindung des Stimmrechts an die Haltedauer der Aktien
        angestrebt werden. Denn es ist gerade der kurze Investi-
        tionszeitraum, der die Finanzinvestoren dazu verleitet,
        ihr Geschäftsmodell auf Kosten der Beschäftigten und
        der langfristigen Innovations- und Wachstumspoten-
        ziale der Unternehmen durchzusetzen.
        All das sind nur einige Beispiele, wie eine ernst ge-
        meinte Risikobegrenzung aussehen müsste. Der vorlie-
        gende Gesetzentwurf hingegen wird seinem Namen
        nicht gerecht und wird von uns daher klar abgelehnt.
        Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Der vorliegende Gesetzesentwurf macht sich aus-
        weislich des Namens und der Begründung zur Aufgabe,
        14072 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Risiken im Zusammenhang mit Finanzinvestoren zu be-
        grenzen. Der Entwurf der Bundesregierung für das Risi-
        kobegrenzungsgesetz krankt jedoch an einem undiffe-
        renzierten Regulierungsansatz. Die Regelungen werden
        der Komplexität der unterschiedlichen Bereiche, na-
        mentlich der Übernahmen durch Private-Equity-Fonds,
        Einflussnahmen auf die Leitung von Aktiengesellschaf-
        ten durch Hedgefonds sowie dem Handel mit immobi-
        lienbesicherten Darlehen, nicht gerecht.
        Das Risikobegrenzungsgesetz lässt zunächst eine Be-
        schreibung der Risiken vermissen, die es zu begrenzen
        wünscht. Nimmt man die Verknüpfung, die die Bundes-
        regierung nennt, und sieht das Gesetz als ausgleichendes
        Korrektiv zum Gesetz zur Modernisierung der Rahmen-
        bedingungen bei Kapitalbeteiligungen, MoRaKG, würde
        das implizieren, dass das Risikobegrenzungsgesetz einer
        Regulierung der Private-Equity-Branche dient. Aller-
        dings ist mit der Forderung nach Informationsrechten
        der Belegschaften nicht börsennotierter Unternehmen le-
        diglich ein einziger Regulierungsvorschlag im Gesetz
        enthalten, der direkt im Zusammenhang mit Private-
        Equity-Übernahmen steht. Dieses Minimum an Transpa-
        renz für Belegschaften ist eine unzureichende Reaktion,
        um den Problemen, die bei Private-Equity-Übernahmen
        entstehen können, zu begegnen. Ein Gesetz zur Begren-
        zung von Risiken der Private-Equity-Branche hätte bei-
        spielsweise einer näheren Auseinandersetzung mit typi-
        schen Abläufen bei Leveraged Buy-outs bedurft.
        Notwendig sind Regelungen, die jenseits bestehender
        Kapitalerhaltsvorschriften gewährleisten, dass Zielge-
        sellschaften von Private-Equity-Übernahmen durch
        überhöhte Verschuldung nicht in die Nähe einer Insol-
        venz geführt werden. Zudem bedarf es Vorschriften, die
        dem Betriebsrat oder Wirtschaftsausschuss einer Zielge-
        sellschaft stärkere Rechte bei Verhandlungen einräumen.
        Dabei geht es nicht darum, einer Minderheit Blockade-
        möglichkeiten einzuräumen. Gleichwohl kann es für ei-
        nen reibungslosen Eigentümerwechsel von Vorteil sein,
        wenn Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter frühzei-
        tig eingebunden werden und etwa bei wesentlichen Fra-
        gen einen Zustimmungsvorbehalt fordern können. Das
        sichert einen verträglichen Verlauf der Übernahme und
        kann auch zur höheren Akzeptanz neuer Eigentümer
        durch die Belegschaft führen.
        Zum überwiegenden Teil enthält das Risikobegren-
        zungsgesetz Vorschriften, die den Beteiligungsaufbau an
        Aktiengesellschaften durch Hedgefonds betreffen. So
        sollen die Aktionärsstruktur sowie die Absichten bedeu-
        tender Anteilseigner transparenter werden. Des Weiteren
        wird die Sanktion für Verletzungen gegen Meldepflich-
        ten ausgeweitet. Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen
        stimmen wir im Grundsatz überein. Transparenz ist ein
        wesentlicher Bestandteil funktionierender Kapital-
        märkte. Informationspflichten werden von den Kapital-
        marktakteuren außerdem nur dann nachgekommen,
        wenn bei Verstoß mit Nachteilen von gewisser Erheb-
        lichkeit zu rechnen ist.
        Die konkrete Art und Weise, wie die Bundesregierung
        diese Regelungsziele zu erreichen beabsichtigt, lehnen
        wir allerdings ab.
        Zunächst ist der neue Tatbestand des Acting in Con-
        cert, der das abgestimmte Verhalten von Investoren er-
        fassen soll, konturenlos. Nicht Rechtssicherheit, sondern
        ausufernde Interpretationsmöglichkeiten wären die
        Folge. Gerade an dieser Stelle muss der Gesetzgeber
        eine klare Trennlinie zwischen erwünschten Abreden im
        Sinne guten „shareholder activism“ und solchen Verhal-
        tensweisen ziehen, die eine wechselseitige Zurechnung
        der Stimmen mit entsprechenden Folgen berechtigt.
        Hätte die Bundesregierung genau vor Augen, welche Ri-
        siken es zu begrenzen gilt, könnte in diesem Fall sinn-
        vollerweise mit einem Regelkatalog gearbeitet werden.
        In der gegenwärtigen Fassung wird sich die neue Vor-
        schrift in puncto Rechtssicherheit als kontraproduktiv er-
        weisen.
        Auch hinsichtlich der verbesserten Informationen
        über Inhaber wesentlicher Beteiligungen und Inhaber
        von Namensaktien ist das Regelungsziel zu begrüßen,
        der beschrittene Weg jedoch nicht zielführend. Der Um-
        stand, dass die Informationspflicht der Aktionäre von ei-
        ner Aufforderung der Aktiengesellschaft abhängig ist
        und der einhergehende Stimmrechtsverlust für sechs
        Monate bei Pflichtverletzung, macht die neuen Regelun-
        gen zu einem strategischen Instrument für Vorstände
        deutscher Aktiengesellschaften. So könnten Auskunfts-
        verlangen kurz vor Hauptversammlungsterminen erfol-
        gen und anschließend eine nicht fristgerechte oder un-
        vollständige Angabe behauptet werden, um unliebsamer
        Opposition das Stimmrecht zu nehmen. Allein der Mög-
        lichkeit eines solchen Missbrauchs darf kein Raum gege-
        ben werden.
        Die Offenlegungspflicht von Investoren, die 10 Pro-
        zent der Stimmrechtsanteile auf sich vereinen, sollte da-
        her automatisch ausgelöst werden und nicht im Ermes-
        sen des Vorstands liegen. Die Vorschrift würde letztlich
        auch zu einer Ungleichbehandlung der Aktionäre führen.
        Bei Namensaktien sind die Informationen über den
        wahren Aktionär außerdem dem gesamten Kapitalmarkt-
        publikum zur Verfügung zu stellen und nicht lediglich
        gegenüber dem Unternehmen zu erklären. Diese Infor-
        mationen sind für die Aktionäre auch vor dem Hinter-
        grund eines Aktionärsforums, das bisher nicht als
        Kommunikationsplattform angenommen wird, von Be-
        deutung. Nimmt man die genannten Punkte einmal zu-
        sammen, sieht man, dass die große Koalition sich weni-
        ger um die allgemeine Transparenz am Kapitalmarkt
        oder um die Risiken für die Unternehmen, sondern vor
        allem um die Risiken der Vorstände sorgt: Ihr Vorschlag
        führt zu einem Vorstandsrisiko-Begrenzungsgesetz. Ei-
        nen solchen Ansatz lehnen wir ab. Unternehmen beste-
        hen nicht nur aus Vorständen.
        Ein Punkt, der sicher in der Anhörung eine große
        Rolle spielen wird, ist die Problematik verkaufter Immo-
        bilienkredite. Gut, dass Sie das aufgreifen, nachdem Sie
        schon viel zu lange abgewartet haben. Eine Initiative des
        Gesetzgebers ist dringend notwendig, zumal die Verun-
        sicherung bei Bürgerinnen und Bürgern sowie dem Mit-
        telstand stetig zunimmt. Erst kürzlich wurde in den Me-
        dien dargestellt, dass zunehmend auch ordnungsgemäß
        bediente Kredite veräußert wurden und die Finanzinves-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14073
        (A) (C)
        (B) (D)
        toren isoliert aus der vereinbarten Sicherheit vollstreck-
        ten. Vor diesem Hintergrund ist es allerdings enttäu-
        schend, dass die Bundesregierung die entsprechende
        Passage im Risikobegrenzungsgesetz trotz vorausgehen-
        der Anhörung mit Sachverständigen im Finanzausschuss
        und ausreichend zeitlichem Nachlauf erst kurzfristig vor
        der ersten Lesung konkretisiert hat.
        Inhaltlich finden sich in den nun vom Bundesjustiz-
        ministerium und in den von den Koalitionsfraktionen im
        Ausschuss vorgelegten Regulierungsvorschlägen eine
        Reihe von Forderungen unseres Antrags vom 13. Juni
        2007. Das können wir nur begrüßen. Aber nach monate-
        langer Diskussion müssten wir nun eigentlich weiter sein
        als bei einer unverbindlichen Vorschlagsliste. Sie lassen
        die Verbraucherinnen und Verbraucher einmal mehr im
        Regen stehen.
        Was in den Vorschlägen fehlt, ist eine klare gesetzli-
        che Definition des Begriffs notleidender Kredit oder
        Non-performing Loan. Da sich an die bankinterne Ein-
        stufung eines Kredites als „notleidend“ weitreichende
        Folgen anschließen, müssen betroffene Kreditnehmer
        Rechtsklarheit haben. Außerdem sollte es bei ordnungs-
        gemäß bedienten Kreditforderungen die Pflicht des ver-
        äußernden Bankinstituts geben, eine Zustimmung des
        Schuldners einzuholen. Das beschränkt zwar die Ver-
        kehrsfähigkeit dieser Kredite. Andererseits ist nicht er-
        kenntlich, warum die Handelbarkeit von Immobilienkre-
        diten, deren Schuldner regelmäßig zahlen, gegeben sein
        muss. Schließlich halten wir es für die Eindämmung von
        Missbrauch bei Immobilienverwertungen für angezeigt,
        wenn die Schuldner vor Einleitung der Zwangsvollstre-
        ckung durch den Gläubiger für einen angemessenen
        Zeitraum die Möglichkeit eines freihändigen Verkaufs
        der Immobilie erhalten.
        Das Risikobegrenzungsgesetz wird in der vorliegen-
        den Form also nicht das erreichen, was es sich zum Ziel
        gesetzt hat. Leidtragende sind am Ende die mittelständi-
        schen Unternehmen, die Aktionäre sowie die Kreditneh-
        menden, die in Zeiten veränderter Rahmenbedingungen
        und unruhiger Finanzmärkte klare ordnungspolitische
        Maßnahmen erwarten.
        Anlage 17
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Zukunftschancen
        des Ostseeraums – Wirtschaft, Ökologie, Kultur
        und Tourismus
        Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Den FDP-Antrag
        „Zukunftschancen des Ostseeraumes – Wirtschaft, Öko-
        logie, Kultur und Tourismus“, Drucksache 16/5251, des-
        sen erste Beratung am 6. Juli 2007 erfolgte, wollen wir
        heute abschließend beraten.
        Der Antrag enthält ohne Zweifel wichtige und rich-
        tige Aussagen und Forderungen, was den Ostsee-Raum
        angeht, wie zum Beispiel die Themen Verkehrssicher-
        heit, Fischerei, Tourismus, Kultur, Meeresumweltschutz
        und Meeresforschung. Der Antrag ist allerdings bereits
        überholt und daher abzulehnen.
        Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktio-
        nen von CDU/CSU und SPD haben es geschafft, die ma-
        ritime Politik viel stärker in den Fokus der Öffentlichkeit
        zu rücken, als dies vorher je der Fall war. Mit unseren
        gemeinsam im Plenum des Deutschen Bundestages
        verabschiedeten Anträgen „Maritime Wirtschaft in
        Deutschland stärken“ (Drucksache 16/4423), „Für eine
        zukunftsgerichtete europäische Meerespolitik“ (Druck-
        sache 16/5731), „Die Tourismusregion Ostsee voranbrin-
        gen“ (Drucksache 16/5906), „Ostseekooperation weiter
        stärken und Chancen nutzen“ (Drucksache 16/5910) und
        „Kreuzfahrttourismus und Fährtourismus in Deutschland
        voranbringen“ (Drucksache 16/5957) haben wir bereits
        notwendige und wichtige Weichenstellungen vorgenom-
        men, die den gesamten Ostsee-Raum mit seinen vor- und
        nachgelagerten maritimen Bereichen voranbringen.
        Die maritime Politik der Großen Koalition steht voll
        und ganz in der Kontinuität der bisherigen Maritimen
        Konferenzen der Bundesregierung – von der Ersten Na-
        tionalen Maritimen Konferenz am 13. Juni 2000 in Em-
        den bis zur Fünften Nationalen Maritimen Konferenz am
        4. Dezember 2006 in Hamburg. Seit der letzten Konfe-
        renz ist ein Jahr vergangen, Zeit, um eine Zwischenbi-
        lanz zu ziehen.
        Wichtige Punkte im Bereich maritime Wirtschaft sind
        unter anderem: Die Einführung eines wettbewerbsfähi-
        gen CIRR-Systems (Commercial Interest Reference
        Rate) – Regelung für Exportkredite für Schiffe – unter
        Einschluss einer einvernehmlichen Lösung mit den Küs-
        tenländern kommt unserer starken Schiffbauindustrie zu-
        gute und hält sie international wettbewerbsfähig.
        Wir haben für das Haushaltsjahr 2008 und für die Fol-
        gejahre eine Aufstockung der Innovationsförderung von
        2 Millionen Euro auf insgesamt 10 Millionen Euro errei-
        chen können. Zusätzlich wurde für die Haushaltsjahre
        2009 bis 2011 die Verpflichtungsermächtigung von
        10,5 Millionen auf 20 Millionen Euro mehr als verdop-
        pelt. Dies führt zu mehr Planungssicherheit für die mari-
        time Forschung und Werftindustrie. Heute, im Jahr 2007,
        kann ich auch mit ein wenig Stolz sagen: Es gibt in mei-
        nem Heimat-Bundesland Mecklenburg-Vorpommern an
        den Standorten Warnemünde, Wismar, Stralsund und
        Wolgast nicht nur europa-, sondern auch weltweit die
        modernsten Werften.
        Der Deutsche Bundestag hat zusätzliche Mittel für die
        so immens notwendige Seehafenhinterlandanbindung im
        Haushalt 2008 sowie für die kommenden Haushalte be-
        reitgestellt. Wir machen uns stark für leistungsfähige
        Hinterlandanbindungen und seewärtige Erreichbarkeit.
        Angesichts anhaltend hoher Wachstumsraten insbeson-
        dere im interkontinentalen Containerverkehr ist unser
        Land auf den zügigen Ausbau der seewärtigen Zugänge
        der deutschen Seehäfen und deren landseitiger Anbin-
        dungen über Straße (zum Beispiel Ausbau A 14; Neubau
        A 39 Wolfsburg–Lüneburg; 6-spuriger Ausbau A 7 in
        Hamburg auf dem Weg, Planungsrecht und Finanzierung
        weiterer Bauabschnitte gesichert; Weiterbau A 20 von
        Lübeck–Stade im Bau, zusätzliche Mittel für weitere
        14074 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bauabschnitte bereitgestellt; Neubau A 26 Stade–Ham-
        burg im Bau), Schiene (zum Beispiel Ausbau der Stre-
        cken Rostock–Berlin, Berlin–Pasewalk–Stralsund, Elek-
        trifizierung der Strecke Hamburg–Lübeck–Travemünde,
        zurzeit auf dem Weg Hamburg–Lübeck) und Binnen-
        wasserstraße angewiesen. Hier ist in den letzten Jahren
        schon viel geschehen. Weiteres muss forciert und umge-
        setzt werden. Denn zwei Drittel der Wertschöpfung im
        Bereich Schiffbau, Seeverkehr- und Hafenwirtschaft ent-
        stehen in den Küstenhinterländern. Dies kann nicht al-
        lein Sache der norddeutschen Bundesländer sein.
        400 000 Beschäftigte in der maritimen Wirtschaft in
        Deutschland erwirtschaften 54 Milliarden Euro an Brut-
        towertschöpfung.
        Wir haben uns dafür eingesetzt, dass die Seeverkehrs-
        und Hafenwirtschaft als die Schlüsselfunktion für den
        inner- und außergemeinschaftlichen Handel angemes-
        sene Berücksichtigung im Masterplan „Güterverkehr
        und Logistik“ der Bundesregierung findet. Nicht nur die
        Bundesregierung, sondern auch die Landesregierungen
        und Parlamente der Küstenländer sind aufgefordert, wei-
        ter in den zügigen Ausbau der Hafeninfrastruktur aller
        deutschen Nord- und Ostsee-Häfen zu investieren.
        Schifffahrt, Häfen und Logistik leisten einen wichti-
        gen Beitrag für Arbeit und Beschäftigung in Deutsch-
        land. Die Hafen- und Logistikbetriebe der deutschen
        Seehäfen wollen bis zum Jahr 2012 rund 2 800 Men-
        schen ohne Job eine neue Beschäftigungsperspektive
        bieten. Der Zentralverband der deutschen Seehafenbe-
        triebe (ZDS) hat dazu in Zusammenarbeit mit dem Bun-
        desverkehrsministerium (BMVBS) und der Bundesagen-
        tur für Arbeit (BA) eine Qualifizierungsoffensive für
        Langzeitarbeitslose gestartet. Die Initiative wurde in der
        Folge der Nationalen Maritimen Konferenz 2006 entwi-
        ckelt. Die Qualifizierungsoffensive richtet sich zu 75 Pro-
        zent an Langzeitarbeitslose; davon sind 75 Prozent bis
        27 Jahre alt. Die Mindestvoraussetzung für eine Teil-
        nahme an dem Programm ist ein Hauptschulabschluss.
        Am Ende einer erfolgreichen Qualifizierung steht eine
        garantierte Übernahme in ein Beschäftigungsverhältnis
        (Pressemitteilung BMVBS vom 7. Dezember 2007). Da-
        nach liegt der Personalqualifizierungsbedarf in allen
        deutschen Seehäfen für das Jahr 2008 bei 800 Personen,
        für 2009 bei 700, für 2010 bei 500 und für die Jahre
        2010 und 2011 jeweils bei 400 Personen.
        Der Ostsee-Raum hat große Zukunftschancen, die wir
        nicht verspielen dürfen. Der Ostsee-Raum ist zu einer
        Boomregion geworden. In Finnland, Polen, Russland,
        den baltischen Staaten ist das Wirtschaftswachstum grö-
        ßer als 6 Prozent. Die Seeverkehrsprognose der Bundes-
        regierung sagt für die deutschen Ostsee-Häfen wegen
        der Entwicklung im Ostsee-Raum, insbesondere wegen
        der Entwicklung in den baltischen Ländern und in Russ-
        land, Wachstumsraten von 5, 6, 7 Prozent voraus. Natür-
        lich gibt es an dieser Stelle Konkurrenzsituationen, de-
        nen wir uns zu stellen haben.
        Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Meeressicherheit.
        Schrottreife Schiffe gehören auf den Müll und nicht auf
        die Weltmeere. Einhüllentanker gehören runter von den
        Weltmeeren und rein ins Museum. Wir setzen uns mit
        Nachdruck für die Identifizierung fester Seerouten und
        die Einführung einer Lotsenpflicht für Öltanker und an-
        dere Schiffe mit gefährlicher Ladung in der Ostsee ein
        sowie für eine allgemeine Lotsenpflicht in engen
        Schiffspassagen wie Kadettrinne oder Öresund.
        Ein weiteres Problem ist die illegale Fischerei. Die
        Große Koalition und die Bundesregierung setzen sich
        mit Nachdruck für wirksame Maßnahmen zum Stopp
        von Überfischung und illegaler Fischerei ein; Stichwort
        Dorschfangquote. Die 16. Ostseeparlamentarierkonfe-
        renz Ende August dieses Jahres in Berlin war in dieser
        Hinsicht ein voller Erfolg. Die verabschiedeten Be-
        schlüsse hinsichtlich Schiffsicherheit und illegaler Fi-
        scherei werden geprägt durch die Initiative des Deut-
        schen Bundestages; Antrag auf Drucksache 16/5910.
        Für die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD
        bleibt es vorrangiges Ziel, die erfolgreiche Entwicklung
        der maritimen Wirtschaft weiter abzusichern. For-
        schung/Entwicklung, Innovation, Bildung und Ausbil-
        dung einschließlich der Nachwuchsgewinnung sind
        Kernfelder für die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit
        dieser für unser Land so bedeutenden Branche. Vorran-
        gige Aufgabe ist und bleibt die Stärkung und Weiter-
        entwicklung der Vernetzungspotenziale innerhalb der
        maritimen Wertschöpfungsketten am Schiffbau-, See-
        schifffahrts- und Hafenstandort Deutschland.
        Wir haben es geschafft, die maritime Politik in den
        Fokus der Öffentlichkeit zu stellen. Bereichert wurden
        die Debatten durch Initiativen aller im Deutschen Bun-
        destag vertreten Fraktionen, wofür ich mich ausdrück-
        lich bedanken möchte.
        Andrea Wicklein (SPD): Der Ostsee-Raum lebt von
        uralten Verflechtungen im Norden Europas. Er verbindet
        die Anrainerstaaten zu einem gemeinsamen Wirtschafts-
        und Kulturraum. Die Seefahrt ist das Bindeglied. Sie
        knüpft Kontakte zwischen Petersburg und Kiel, Kopen-
        hagen und Helsinki oder Stockholm und Riga. Zur Zeit
        des Kalten Krieges war auch die Ostsee geteilt, die
        Bande zerschnitten. Es ist daher nicht verwunderlich,
        dass nun im Zeichen der Einheit Europas neue Chancen
        im Ostsee-Raum gesehen und neue Potenziale entdeckt
        werden.
        Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg können
        alte Verbindungen nach Skandinavien wieder auferste-
        hen lassen. Schleswig-Holstein braucht sich nicht mehr
        allein nach Großbritannien oder Skandinavien zu orien-
        tieren, sondern kann das Baltikum wieder für sich entde-
        cken. Arbeitsteilung im Ostsee-Raum ist wieder mög-
        lich, traditionelle Produkte können eine Wiedergeburt
        erleben.
        Natürlich rücken damit auch die gemeinsamen Pro-
        bleme in den Fokus, so zum Beispiel die Überfischung
        der See oder die Verunreinigung des Meeres – Probleme,
        die man gemeinsam lösen muss, die man aber auch ge-
        meinsam lösen kann.
        Die Große Koalition hat sich bereits mehrfach mit
        dem Ostsee-Raum beschäftigt. Wir haben mit mehreren
        Anträgen deutlich gemacht, dass wir in den Bereichen
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14075
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wirtschaft, Verkehr, Schiffssicherheit, Fischerei, Touris-
        mus, Kultur und Umwelt mit den Anrainern der Ostsee
        zusammenarbeiten wollen. Dabei ist Kooperation der
        Schlüssel, so wie sie sich im Ostsee-Rat manifestiert.
        Die Forderungspunkte der FDP widersprechen teil-
        weise bereits gefassten Beschlüssen – so zur Unterneh-
        menssteuerreform oder zum Bundesverkehrswegeplan.
        Außerdem sind im FDP-Antrag die Arbeits- und Be-
        schäftigungsbedingungen im Seeverkehr unerwähnt ge-
        blieben. Gerade sie sind uns als SPD-Fraktion aber be-
        sonders wichtig. Neue Beschäftigungschancen und ein
        Wachstum der maritimen Wirtschaft entstehen im Ost-
        see-Raum vor allem, wenn die Ziele der Lissabon-Stra-
        tegie mit sozialer Gerechtigkeit, Umweltschutz, fairen
        Wettbewerbsbedingungen und dem Schutz des geistigen
        Eigentums verbunden werden.
        Erhebliche Chancen liegen für den Ostseeraum zwei-
        felsfrei im Tourismus. Die Zusammenarbeit muss in die-
        sem Bereich überregional und grenzüberschreitend er-
        folgen. So sind gemeinsame Vermarktungskampagnen,
        wassertouristische Leitsysteme oder Jugendaustausch
        möglich. Leider kommt im FDP-Antrag die internatio-
        nale Zusammenarbeit überhaupt nicht zur Sprache. Da-
        bei ist doch gerade sie der Schlüssel für einen Erfolg im
        Ostsee-Raum. Wer die Ostsee als gemeinsame Region
        im europäischen Maßstab verstehen will, der muss die
        Zusammenarbeit unterstützen – auch im Bereich des
        Tourismus.
        Die Zusammenarbeit wird auch durch die Euro-
        päische Union gefördert. An dieser Stelle möchte ich auf
        die INTERREG-Förderung hinweisen, die grenzüber-
        schreitende Projekte möglich macht. Die Menschen in
        der Region können ihre Erfahrungen austauschen, gelun-
        gene Maßnahmen auch in anderen Teilen der Ostsee-Re-
        gion umsetzen und so voneinander lernen. Der euro-
        päische Gedanke wird damit auch im Ostseeraum
        lebendig, sogar über die Grenzen der Europäischen
        Union hinweg. Um dies zu fördern, unterstützen wir den
        Vorschlag des Europäischen Parlaments, eine „grenzen-
        lose Ostsee“ zu schaffen. So soll ein reibungsloses Über-
        schreiten der Grenzen in der Region möglich werden.
        Um den Umweltschutz zu fördern, haben wir das Ziel
        ausgegeben, bis 2015 die Ostsee zum sichersten und sau-
        bersten Meer Europas zu machen. Dazu haben wir ein
        Netz ökologisch repräsentativer und wertvoller Mee-
        resschutzgebiete vorgeschlagen. Außerdem ist ein
        Engagement der Regierungen und der EU nötig, um
        Schadstoff- und Nährstoffeinträge aus der Landwirt-
        schaft, der Schifffahrt und der Industrie zu vermeiden.
        Die EU-Osterweiterung hat die Basis für eine Intensi-
        vierung der Zusammenarbeit im Ostsee-Raum gelegt.
        Sie bietet die einmalige Chance, dass sich die Anrainer-
        staaten auf einen sensiblen und ökologisch verträglichen
        Entwicklungspfad für die Ostsee-Region begeben. Die
        Bundesregierung wird – auch durch die Beschlüsse, die
        der Bundestag dazu bereits getroffen hat – ihren Beitrag
        dafür leisten.
        Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Mitglie-
        der der Ostsee-Parlamentarierkonferenz hatten sich An-
        fang des Jahres darauf geeinigt, dass wir im Deutschen
        Bundestag in Vorbereitung der Ostsee-Parlamentarier-
        konferenz, die im August in Berlin stattgefunden hat,
        eine Debatte über die Ostsee führen wollen. Dazu hat die
        FDP-Bundestagsfraktion den Antrag „Zukunftschancen
        des Ostsee-Raums“ erarbeitet.
        Die Ostsee-Parlamentarierkonferenz war eine ein-
        drucksvolle Demonstration, dass die Menschen im Ost-
        see-Raum sich seit dem Zusammenbruch des Ostblocks
        zunehmend als zusammengehörig empfinden. Seit dem
        Beitritt der drei baltischen Länder und Polen im Jahr
        2004 in die EU ist die Ostsee nahezu ein EU-Meer, ein-
        ziger weiterer Anrainer ist Russland mit dem Kaliningra-
        der Gebiet und St. Petersburg. Wir sind uns alle einig in
        unserer Vision einer reinen, einer gesunden Ostsee. Das
        ist eine sehr, sehr schöne Vision, aber wir wissen, dass
        der Weg dorthin sehr lang sein wird. Die Schadstoffein-
        träge in die Ostsee der letzten Jahrzehnte können wir
        nicht in wenigen Jahren ungeschehen machen. In den
        letzten 50 Jahren hat sich das Klarwassermeer Ostsee in
        ein etwas trübes Wasser entwickelt. Seit 20 Jahren sind
        deutliche Minderungen der Schadstoffeinträge zu ver-
        zeichnen. Wir freuen uns über Erfolge im Umwelt-
        schutz. Trotz aller Probleme durch die Eutrophierung der
        Ostsee ist der Ostsee-Raum ein einzigartiger Natur- und
        Kulturraum, der in jedem Jahr von vielen Urlaubern be-
        sucht wird.
        In dem Beschluss, den wir auf der Ostsee-Parlamenta-
        rierkonferenz verabschiedet haben, sind wichtige Maß-
        nahmen zur Verbesserung der Kläranlagen, zur Vermei-
        dung von Schadstoffemissionen aus dem Schiffsverkehr,
        zur Minderung von Nährstoffemissionen aus der Land-
        wirtschaft benannt worden. Diese Forderungen sind gut
        und richtig. In unserer Resolution fordern wir gemein-
        same Anstrengungen, um die Ostsee-Region vor allem
        in Bezug auf Energiefragen, eine integrierte Meerespoli-
        tik sowie Fragen des Arbeitsmarktes und der sozialen
        Wohlfahrt zu einer europäischen Modellregion zu entwi-
        ckeln.
        Mitte November kamen die Umweltminister der Ost-
        see-Anrainerstaaten in Krakau zu einer Sondersitzung
        der Helsinki-Kommission zum Schutz der Ostsee
        (HELCOM) zusammen. Dort wurde ein Ostsee-Aktions-
        plan verabschiedet. Zentrale Punkte des Plans sind die
        Minderung der Eutrophierung, die Schadstoffeinträge,
        die maritimen Aktivitäten und die Biodiversität der Ost-
        see. Es ist gut und richtig, dass sich die Ostsee-Anrainer
        auf gemeinsame Linien einigen und sich dann nach die-
        sen richten. Es ist unbedingt notwendig, dass Russland,
        das sich bisher als Bremser erwiesen hat, in Zukunft mit-
        zieht. Es ist ebenso notwendig, dass sich die Länder an
        die Absprachen halten. Ein unrühmliches Beispiel haben
        die polnischen Fischer abgegeben, die sich – gebilligt
        von Warschau – nicht an den Fangstopp für Ostsee-
        Dorsch gehalten haben.
        Die kürzliche Neufestsetzung der Dorschfangquoten
        für 2008 durch die EU stoßen nicht nur bei mir, sondern
        vor allem bei den deutschen Fischern auf großes Unver-
        ständnis. Die Fangquote soll für die westliche Ostsee um
        29 Prozent sinken, für die östliche Ostsee nur um 5 Pro-
        14076 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        zent. Dies entspricht einer Gesamtreduzierung von
        19 Prozent. Durch die ungleichmäßige Verteilung der
        Ost-/Westquoten bei den einzelnen Mitgliedstaaten be-
        deutet diese Reduzierung zum Beispiel für Polen nur ein
        Minus von 10 Prozent. Vor dem Hintergrund der Tatsa-
        che, dass Polen den von der EU verhängten Fangstopp
        nicht eingehalten hat, wirkt diese Entscheidung in den
        Augen der deutschen Fischer wie der blanke Hohn. Ille-
        gale Fischerei darf sich nicht lohnen.
        Die FDP will mit ihrem Antrag Anstöße geben zur
        wirtschaftlichen und kulturellen Weiterentwicklung im
        Ostsee-Raum, zur Stärkung des Natur- und Umwelt-
        schutzes, zur Verbesserung der Schiffssicherheit, zum
        Ausbau der Meeresforschung. Der Ostsee-Raum hat alle
        Chancen, an gute Zeiten in der gemeinsamen Geschichte
        anzuknüpfen und die Altlasten der Kriege sowie der
        durch die Blockbildung geprägten Nachkriegszeit abzu-
        tragen. Im Ostsee-Raum bestehende Gegensätze wie die
        unterschiedlichen Vorstellungen über den Bau der Ost-
        see-Pipeline können ausgeräumt werden, wenn wir alle
        Planungsschritte transparent machen und den Schutz der
        Umwelt gewährleisten. Es ist nicht zu übersehen, dass
        die Entstehungsgeschichte des Projektes Ostsee-Pipeline
        Ursache für zahlreiche Widerstände ist. Wir müssen da-
        ran arbeiten, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Dieses
        ist eine wichtige politische Aufgabe.
        Lutz Heilmann (DIE LINKE): Da der Antrag der
        FDP anscheinend nicht einmal im federführenden Aus-
        schuss diskutiert wurde, möchte ich ihm auch jetzt nicht
        die Ehre erweisen, mich mit dieser unausgegorenen Zu-
        sammenstellung beliebiger und in sich widersprüchli-
        cher Forderungen auseinanderzusetzen. Ich beschränke
        mich daher auf zwei Themen, die mir als Schleswig-
        Holsteiner am Herzen liegen. Das eine ist die unendliche
        Geschichte der Fehmarnbelt-Querung, das andere ist die
        Verseuchung der Ostsee mit Altmunition aus dem Zwei-
        ten Weltkrieg. Die rostenden Altlasten sind nicht nur
        eine Gefährdung für Badende, Sporttaucher und Fischer,
        sondern auch für die Lebewesen der Ostsee. Zunehmend
        passiert es, dass Tiere, insbesondere Wale, durch unkon-
        trollierte Detonationen getötet werden. Haben sie weni-
        ger „Glück“, werden sie durch die artfremde Geräusch-
        kulisse der Detonationen – die sich im Wasser stärker,
        schneller und weiter ausbreiten als in der Luft – in ihrer
        Ortung fehlgeleitet. So kommt es immer wieder vor,
        dass Wale nicht nur in der Flensburger oder Kieler Bucht
        gesehen werden. Sicher ein imposantes Schauspiel für
        die Anwohner, aber oft ein qualvoller Tod für die Tiere.
        Es ist an der Zeit, zu handeln!
        Einerseits ist die Gefahrenabwehr Ländersache, so-
        weit diese Aufgabe nicht dem Bund zugewiesen ist.
        Nach dem Seeaufgabengesetz hat der Bund in Küstenge-
        wässern die Aufgabe, Gefahren für die Sicherheit und
        Leichtigkeit des Schiffsverkehrs abzuwehren. Anderer-
        seits ist die Abwehr von Gefahren für Badende, Sport-
        taucher und Fischer, die sich außerhalb der Seewasser-
        trassen bewegen, Ländersache, obwohl es sich um die
        gleiche Gefahr, die Kampfmittel aus dem Zweiten Welt-
        krieg bergen, handelt.
        Dieser Wirrwarr an Zuständigkeiten, zum Beispiel
        nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, aus der allgemei-
        nen Gefahrenabwehr, nach dem Grundgesetz, dem See-
        aufgabengesetz oder nach dem Allgemeinen Kriegsfol-
        gengesetz, muss beendet werden.
        Die Fraktion Die Linke fordert eine einheitliche Zu-
        ständigkeit für die Beseitigung der Altmunition. Da es
        sich hierbei um ehemals reichseigene Munition aus dem
        Zweiten Weltkrieg handelt, hat letztlich der Bund – auch
        als Eigentümer des Gewässers vor der Küste – dafür
        Sorge zu tragen, dass diese Munition beseitigt wird.
        Wir können gerade im Dezember singen: Alle Jahre
        wieder … kommt nicht nur das Christkind, sondern auch
        die Diskussion über die Fehmarnbelt-Querung auf. So
        haben wir nicht nur vor einem Jahr über einen Antrag
        meiner Fraktion gesprochen; mittlerweile wird schon
        45 Jahre über eine feste Querung des Fehmarnbelts de-
        battiert.
        Wann ist endlich Schluss damit? Die erhofften positi-
        ven Effekte sind mehr als fragwürdig. Das sagt auch das
        Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel. Die
        negativen Folgen liegen auf der Hand: erstens, der Ver-
        lust von mehreren Tausend Arbeitsplätzen, nicht nur auf
        Fehmarn, sondern auch in Mecklenburg-Vorpommern;
        zweitens, die Gefahr der Beeinträchtigung der Meeres-
        ökologie und der Zugvögel; drittens, die Verkehrssicher-
        heit: Seit 1963 gab es auf der Fährverbindung in Folge
        eines Unglücks nur eine Tote. Die Gefahr tödlicher Un-
        fälle wäre auf der Brücke wesentlich größer als auf einer
        normalen Autobahn. Viertens besteht keine Notwendig-
        keit für eine Brücke: Seit kurzem fährt sogar der ICE mit
        der Fähre. Über 4 Milliarden Euro für fünfzehn Minuten
        weniger Fahrzeit auszugeben, wäre Geldverschwen-
        dung. Dagegen sind Sie von der FDP doch immer! Ganz
        abgesehen davon wird es bei dieser Summe kaum blei-
        ben, wie andere Großprojekte immer wieder zeigen. Am
        Rande: 4 Milliarden Euro sind so viel, wie die Bahn vom
        Bund pro Jahr für das gesamte Schienennetz zur Verfü-
        gung hat. Diese Milliarden könnten, vernünftig einge-
        setzt, vielen Menschen ein schnelleres Reisen auf der
        Schiene ermöglichen.
        Zudem steht die Finanzierung durch die EU noch
        nicht auf stabilen Fundamenten. Deutschland und Däne-
        mark gingen immer von einer Förderung von bis zu
        1,5 Milliarden Euro aus. Jetzt hat die EU 350 Millionen
        in Aussicht gestellt. Gibt es danach noch mehr Geld?
        Die Aussagen aus dem Hause Tiefensee sind wider-
        sprüchlich: Der Minister sagt Nein, sein Staatssekretär
        weiß es nicht. Was denn nun, Herr Minister?
        Gänzlich verwirrend waren am Anfang der Woche
        Meldungen der Landesregierung Schleswig-Holsteins,
        dass die Brücke schon 2014 fertig sein soll. Da frage ich
        mich, ob Herr Carstensen nicht richtig lesen kann, ob
        hier der Wunsch Vater des Gedanken war. Oder gibt es
        da interne Überlegungen, die der Öffentlichkeit bislang
        verschwiegen wurden?
        Die FDP offenbart wieder einmal ihre Inkonsequenz:
        Tagein, tagaus hören wir von Ihnen, dass die Staatsquote
        und die Steuern sinken müssen. Doch wenn es um Infra-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14077
        (A) (C)
        (B) (D)
        struktur geht, ist der FDP nichts zu teuer. Fehmarnbelt-
        Querung, A 7, A 14 etc., alles soll aus Staatsgeldern ge-
        baut werden. Es fragt sich nur: Von welchen Staatsgel-
        dern? Auch deswegen lehnen wir diesen Antrag ab.
        Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN):
        Wir begrüßen den weitgehend integrierten Ansatz der
        FDP-Fraktion, die Bereiche Wirtschaft, Fischerei, Öko-
        logie, Meeresnaturschutz, Seeverkehrssicherheit, Mee-
        resforschung, Kultur und Tourismus vernetzt zu denken.
        Wir begrüßen den Kampf gegen illegalen Dorschfang,
        den Schutz der Schweinswale, die Begrenzung der
        Schiffsemissionen, eine Verschärfung der Lotsenpflicht
        in der Kadetrinne, die Förderung maritimer Beschäfti-
        gungsmöglichkeiten und die verpflichtende Umsetzung
        des Baltic Sea Act Plan der HELCOM (Helsinki-Komis-
        sion), um die Luft und Meeresverschmutzung einzudäm-
        men.
        Wir gehen auch konform damit, das Problem der ver-
        senkten Munitionsaltlasten aus dem Zweiten Weltkrieg
        anzugehen, denn die touristische Attraktivität einer Re-
        gion steht in direktem Zusammenhang mit ihrem Um-
        weltzustand.
        Der Ostsee-Raum wird von Ihnen – liebe Kollegen
        und Kolleginnen der FDP – überwiegend als wirtschaft-
        liche Ressource und nicht als Lebensraum für Mensch
        und Tier betrachtet. Tourismus als ein reiner Wachs-
        tumsfaktor. Dabei sind eine intakte Meeresumwelt und
        intakte Küstenlandschaften die Voraussetzung für den
        Tourismusstandort Ostsee-Küste.
        Als tourismuspolitische Sprecherin meiner Fraktion
        kann ich nur bestätigen, dass die Inseln und Küsten-
        regionen des Ostsee-Raums ein wichtiger Wirtschafts-
        und Wachstumsfaktor für die Region sind. Aber gerade
        die touristische Nutzung des Ostsee-Raumes unterliegt
        auch natürlichen Grenzen! Es gilt, das Natur- und Kul-
        turgut dieser Region zu erhalten und zu schützen.
        Der Tourismus lebt von einer gesunden Lebenswelt
        für Bewohner und Gäste. Es ist deshalb unerlässlich,
        dass die touristische Landschaftserschließung auch um-
        weltverträglichen Standards folgt. Die individuellen Be-
        lastbarkeiten einer Destination müssen zwingend be-
        rücksichtigt werden, und die touristischen Konzepte gilt
        es auf die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort abzustim-
        men.
        Die zu erwartenden Klimaveränderungen werden
        auch vor dem Ostsee-Raum nicht haltmachen. Wir müs-
        sen mit Extremsituationen, wie massiven Algenblüten,
        Hitzewellen, Wirbelstürmen oder gar mit dem Verlust
        ganzer Küstengebiete infolge ansteigender Flutwasser-
        stände, rechnen.
        Darauf müssen sowohl die Tourismuswirtschaft als
        auch die öffentliche Tourismusförderung reagieren. Ge-
        rade angesichts des Klimawandels ist es unverzichtbar,
        Fördergelder für die touristische Entwicklung von Desti-
        nationen an Nachhaltigkeitskriterien zu knüpfen und ein
        einheitliches touristisches Konzept für eine nachhaltige
        Entwicklung des Küstentourismus zu erstellen. – Wir ha-
        ben das in unseren eigenen Anträgen zum Ostsee-Raum
        ja bereits gefordert.
        Auch der Aus- bzw. Aufbau einer Infrastruktur, die
        ein umweltverträgliches Reisen ermöglicht, ist zu för-
        dern. Das heißt aber nicht – liebe Kolleginnen und Kol-
        legen der FDP –, dass wir uns dem von Ihnen in Ihrem
        Antrag geforderten massiven Aus- und Neubau der di-
        versen Autobahnen anschließen.
        Die FDP setzt in dem uns hier vorliegenden Antrag
        weitgehend auf Selbstverpflichtungen statt auf ord-
        nungspolitische Instrumente wie Steuern und Abgaben.
        Hier wären zum Beispiel reduzierte Hafengebühren für
        umweltfreundliche Schiffe mit geringen Emissionen
        oder an die Ökobilanz der Landwirte gekoppelte Agrar-
        subventionen vorstellbar.
        Uns gehen die Forderungen der FDP nicht weit ge-
        nug. Im Prinzip ein guter Ansatz, aber der notwendige
        Tiefgang fehlt. Wir lehnen den Antrag daher ab.
        Anlage 18
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Wahl- und Abgeordnetenrechts
        – Entwurf eines Achtzehnten Gesetzes zur
        Änderung des Bundeswahlgesetzes
        – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Wahlprüfungsgesetzes
        – Antrag: Wahlmanipulationen wirksam ver-
        hindern
        (Tagesordnungspunkt 27 a bis d)
        Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Aufgrund
        der Erfahrungen, die wir seit den letzten Änderungen des
        Bundeswahlrechts gemacht haben, war es notwendig,
        die Regelungen des Wahlrechts auf den Prüfstand zu
        stellen. Dabei haben wir vor allem die Erfahrungen bei
        den Bundestagswahlen 2002 sowie 2005 und der Euro-
        pawahl 2004 bewertet und sind in der Koalition zur
        Überzeugung gekommen, dass einige Anpassungen im
        Bundeswahlrecht und im Europawahlrecht notwendig
        sind. Wir haben hier intensiv beraten und waren als Koa-
        lition in enger Abstimmung mit der Bundesregierung,
        weil hier selbstverständlich auch einige ausgesprochen
        technische Fragen zu klären waren.
        Wir haben bei unseren Beratungen auch über die Posi-
        tionen und Vorstellungen anderer Stellen diskutiert, bei-
        spielsweise des Wahlprüfungsausschusses des Deutschen
        Bundestages, des Bundeswahlausschusses, des Bundes-
        rates und des Bundeswahlleiters. Der Wahlprüfungsaus-
        schuss des Deutschen Bundestages in der 15. und
        16. Wahlperiode beispielsweise hat mehrere Prüfbitten
        ausgesprochen. Auch der Bundesrat hat eine Änderung
        vorgeschlagen für den Fall des Todes eines Wahlkreisbe-
        14078 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        werbers nach der Zulassung des Kreiswahlvorschlags,
        aber noch vor der Wahl. Hierzu komme ich später.
        Letztlich sind wir übereingekommen, in mehreren
        Punkten Änderungen vorzunehmen, die ich hier kurz
        darstellen möchte.
        Wir möchten, dass bei der Verteilung der Bundestags-
        sitze auf die verbundenen Landeslisten der Parteien ent-
        sprechend dem Zweitstimmenergebnis künftig die
        Berechnungsmethode nach St. Laguë/Schepers zur An-
        wendung kommt. Diese Berechnungsmethode ist gegen-
        über der derzeitigen Methode Hare/Niemeyer, also der
        Quotenmethode mit Ausgleich nach größten Resten,
        vorzugswürdig. Das Verfahren Hare/Niemeyer ermög-
        licht zwar eine sehr exakte Zuteilung der Sitze entspre-
        chend dem Zweitstimmenanteil einer Partei. Dieses Ver-
        fahren kann aber in bestimmten, wenn auch seltenen
        Konstellationen zu paradoxen Ergebnissen führen, die
        sich im ungünstigsten Fall auf die Mandatsvergabe und
        sogar auf die Mehrheitsverhältnisse auswirken können.
        Im Extremfall kann eine Zunahme von Zweitstimmen ei-
        ner Partei in bestimmten Konstellationen zu einer Ab-
        nahme der Anzahl der Sitze führen. Auch die umge-
        kehrte Wirkung ist zumindest denkbar.
        Aus diesem Grunde hat der Wahlprüfungsausschuss
        in einer Prüfbitte vom September 2004 eine solche Än-
        derung angeregt. Der Innenausschuss und der Wahlprü-
        fungsausschuss haben nach gemeinsamer Beratung da-
        raufhin noch im Jahre 2004 den Wechsel zum Verfahren
        St. Laguë/Schepers empfohlen. Auch wenn sich die ge-
        nannte problematische mathematische Besonderheit der
        Methode Hare/Niemeyer in der Vergangenheit bislang
        noch nicht ausgewirkt hat, halte ich es für richtig, dass
        wir dieses Risiko ausschließen. Dies ist vor allem vor
        dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Grundsat-
        zes der Gleichheit der Wahl die bessere Lösung.
        Eine Klarstellung nehmen wir beim anzuwendenden
        Berechnungsverfahren für die Verteilung der Wahlkreise
        auf die Länder vor. Der bisherige § 3 Abs.1 Bundes-
        wahlgesetz enthielt keine Vorgabe für ein bestimmtes
        Verfahren. Bislang wurde hierfür in der Praxis in Anleh-
        nung an die Verteilung der Sitze auf die Landeslisten die
        Quotenmethode Hare/Niemeyer verwendet. Das Verfah-
        ren St. Laguë/Schepers hat auch hier Vorteile, insbeson-
        dere wird das Hin- und Herpendeln von Wahlkreisen
        zwischen Bundesländern bei diesem Verfahren tenden-
        ziell reduziert. Die Wahlkreiskontinuität wird somit bes-
        ser gewährleistet.
        Eine wichtige Vereinheitlichung nehmen wir beim ak-
        tiven Wahlrecht zum Deutschen Bundestag für die im
        Ausland lebenden Deutschen vor. Ursprünglich setzte
        das aktive Wahlrecht voraus, dass der betreffende deut-
        sche Staatsbürger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der
        Bundesrepublik hat. Für Beschäftigte des öffentlichen
        Dienstes, die im Ausland leben, sowie die Angehörigen
        ihres Hausstands, gab es seit 1953 eine Sonderregelung,
        die ihnen in jedem Fall das aktive Wahlrecht für die
        Wahl zum Deutschen Bundestag einräumte. Im Jahre
        1985 wurde dies auf andere Auslandsdeutsche ausgewei-
        tet. Hier wurde aber differenziert zwischen solchen
        Deutschen, die innerhalb, und solchen, die außerhalb der
        Mitgliedstaaten des Europarates wohnen. Bei Ersteren
        durften nicht mehr als 25 Jahre seit dem Fortzug aus
        Deutschland verstrichen sein, bei Letzteren nicht mehr
        als zehn Jahre. Dem lag die Überlegung zugrunde, dass
        die Mitgliedstaaten des Europarats stärkere politische
        und sonstige Ähnlichkeiten zu Deutschland aufweisen,
        sodass anzunehmen sei, dass die dort lebenden Deut-
        schen mit den Verhältnissen in Deutschland besser ver-
        traut seien als diejenigen, die außerhalb der Mitglied-
        staaten des Europarats leben. Diese Unterscheidung ist
        vor dem Hintergrund der rasant verbesserten Informa-
        tions- und Kommunikationsmöglichkeiten in den letzten
        Jahren nicht mehr zeitgemäß. Künftig wird es ein zeit-
        lich unbefristetes aktives Wahlrecht für alle im Ausland
        lebenden Deutschen geben.
        Der Gesetzentwurf beendet des Weiteren einen über-
        flüssigen Bürokratismus bei der Beantragung eines
        Wahlscheins. Bislang muss der Wahlberechtigte einen be-
        stimmten Grund für die Wahlscheinbeantragung glaubhaft
        machen, etwa dass er am Wahltag während der Wahlzeit
        sich aus wichtigem Grunde außerhalb seines Wahlbe-
        zirks aufhält. Hier besteht in der Praxis keinerlei Über-
        prüfungsmöglichkeit, sodass wir auf diese unnötige
        Glaubhaftmachung verzichten wollen. Dies ist auch eine
        Frage der Akzeptanz bei den Wählern. Außerdem ist es
        in der heutigen Zeit, in der die Menschen wesentlich mo-
        biler sind als noch vor Jahren, auch in der Sache nicht
        mehr zeitgemäß, die Briefwahl nach der Konzeption des
        Gesetzes vom Vorliegen bestimmter eng definierter Hin-
        derungsgründe abhängig zu machen.
        Eine Verfahrensvereinfachung führen wir im Zusam-
        menhang mit dem Erwerb des Mandates im Deutschen
        Bundestag ein, zumindest für die durch die Hauptwahl
        gewählten Bewerber. Hier wird künftig keine förmliche
        Mandatsannahmeerklärung mehr erforderlich sein. Auf
        diese förmliche Erklärung kann verzichtet werden, weil
        die Tatsache, dass sich ein Bewerber zur Wahl stellt und
        nominiert wird, die Vermutung nahe legt, dass er bereit
        ist, das Mandat anzunehmen, wenn er gewählt wird. Nur
        für den Fall, dass er entgegen dieser Vermutung das
        Mandat nicht annehmen will, soll er dies ausdrücklich
        erklären müssen.
        Wir stellen ferner im Gesetz explizit klar, dass eine
        Nachwahl auch am Tag der Hauptwahl möglich ist.
        Stirbt ein Wahlkreisbewerber im Zeitraum zwischen der
        Zulassung des Kreiswahlvorschlags und der Wahl selbst,
        so findet eine Nachwahl statt, und zwar spätestens inner-
        halb von sechs Wochen nach der Hauptwahl. In der Pra-
        xis wurde eine Nachwahl auch am selben Tag der Haupt-
        wahl für möglich angesehen, so zum Beispiel bei der
        Bundestagswahl 2002 in den Wahlkreisen Zollernalb-
        Sigmaringen und Passau. Diese Praxis ist sinnvoll, schon
        weil sie „taktisches“ Wahlverhalten und die Verzögerung
        der Feststellung des Wahlergebnisses vermeidet. Aus
        diesem Grunde wollen wir diese Praxis auch durch eine
        entsprechende gesetzliche Klarstellung sichern.
        Das Europawahlgesetz wird an die Änderungen, die
        wir beim Bundeswahlgesetz vornehmen, unter Berück-
        sichtigung der von der Sache her gebotenen Unter-
        schiede im Wesentlichen angepasst.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14079
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ich möchte aber auch etwas zu einigen Punkten sa-
        gen, bei denen wir über möglichen Änderungsbedarf be-
        raten haben, uns aber im Ergebnis gegen Gesetzesände-
        rungen entschieden haben.
        Wir als CDU/CSU haben in der letzten Wahlperiode
        eine Änderung beim Umgang mit bestimmten Zweit-
        stimmen vorgeschlagen. Es handelt sich um Zweitstim-
        men von Wählern, die mit ihrer Erststimme einen erfolg-
        reichen Wahlkreisbewerber gewählt haben, dessen Partei
        aber nicht den Sprung in den Bundestag geschafft hat,
        die aber gleichzeitig mit ihrer Zweitstimme eine andere
        Liste gewählt haben, der der Einzug in den Bundestag
        gelungen ist. Wir meinen, dass der Zweitstimme in die-
        sem – sicherlich in der Praxis seltenen – Fall ein doppel-
        tes Stimmgewicht zukommt und hätten uns hier deshalb
        eine Änderung vorstellen können.
        Diskutiert haben wir auch über die Fälle, in denen ein
        Wahlkreisbewerber im Zeitraum zwischen der Zulas-
        sung des Kreiswahlvorschlags und der Wahl verstorben
        ist. Das geltende Recht sieht hier Nachwahl im betroffe-
        nen Wahlkreis vor; das habe ich schon ausgeführt. Bei
        der letzten Bundestagswahl musste im Wahlkreis Dres-
        den 1 aus diesem Grund eine Nachwahl nach dem Tag
        der Hauptwahl durchgeführt werden. Dies war Anlass
        für mehrere Wahleinsprüche und eine Gesetzesinitiative
        des Bundesrates. Mit dieser Gesetzesinitiative sollte es
        ermöglicht werden, dass die Parteien und anderen Listen
        für solche Fälle Ersatzbewerber aufstellen können. Wir
        haben uns hier gegen eine Änderung entschieden. Diese
        Fälle sind zum einen sehr selten. Bislang gab es bei Bun-
        destagswahlen erst sechs Nachwahlen infolge des Todes
        eines Bewerbers, wobei in zwei Fällen die Nachwahl am
        selben Tag wie die Hauptwahl möglich war. Für noch
        wichtiger halte ich aber, dass die geltende Regelung si-
        cherstellt, dass durch die Nachwahl im Wahlkreis eine
        echte Persönlichkeitswahl stattfindet. Die Wähler wäh-
        len einen Abgeordneten, der ihren Wahlkreis vertritt.
        Das ist der Sinn der Erststimme, und dieses Prinzip wol-
        len wir auch in diesen Fällen beibehalten.
        Diskutiert haben wir auch über die Frage, ob das
        Nachrücken von Listenplätzen ermöglicht werden soll,
        wenn ein Wahlkreisabgeordneter aus einem Land aus-
        scheidet, in dem seine Partei Überhangmandate errungen
        hat. Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsge-
        richts im Februar 1998 fand auch in diesen Fällen ein
        Nachrücken statt. Es war zumindest zu prüfen, ob durch
        eine gesetzliche Änderung das Nachrücken in Überhang-
        mandate wieder ermöglicht werden sollte. Wir haben uns
        schließlich dagegen entschieden. Dies halte ich im Er-
        gebnis auch für die bessere Lösung, weil Überhangman-
        date im geltenden Wahlrecht eine Ausnahme sind, bei
        der die Erststimme auch auf die Sitzverteilung im Bun-
        destag Einfluss hat. Um die Auswirkungen dieser Aus-
        nahme möglichst gering zu halten, soll es dabei bleiben,
        dass in diesen Fällen kein wie auch immer gearteter Er-
        satz erfolgt.
        Noch ein Wort zur Wahlkreiseinteilung. Wir haben
        die beiden Berichte der Wahlkreiskommission sehr sorg-
        fältig analysiert. Ich bin der Auffassung, dass dem Ge-
        sichtspunkt der Wahlkreiskontinuität eine große Bedeu-
        tung beikommt. Hier geht es um die Verwurzelung der
        Wahlkreisabgeordneten vor Ort in ihren Wahlkreisen
        und um gewachsene Strukturen. Wir schlagen aus die-
        sem Grunde letztlich nur dort Änderungen beim Wahl-
        kreiszuschnitt vor, wo dies angesichts der aktuellen und
        zu erwartenden Bevölkerungsentwicklung zwingend
        notwendig ist, um den gesetzlichen Wahlrechtsgrundsät-
        zen, insbesondere dem Grundsatz der Gleichheit der
        Wahl, gerecht zu werden. Dementsprechend war eine
        Reduzierung der Wahlkreise um jeweils einen Wahlkreis
        in Sachsen und Sachsen-Anhalt und die Aufstockung um
        jeweils einen Wahlkreis in Baden-Württemberg und Nie-
        dersachsen unumgänglich. Insofern war hier den Vor-
        schlägen der Wahlkreiskommission zu folgen.
        Nur kurz möchte ich auf den heute ebenfalls zur Ent-
        scheidung anstehenden Antrag der Linken eingehen. Wir
        haben es hier mit einem klassischen Schaufensterantrag
        zu tun. Es gibt keinerlei Überlegungen in der Koalition,
        bei Bundestags- oder Europawahlen eine Stimmabgabe
        per Internet zu ermöglichen. Es handelt sich hierbei so-
        mit um eine völlig überflüssige Debatte. Was den Ein-
        satz von Wahlgeräten betrifft, so sind nach meiner
        Kenntnis bislang in keinem Falle auch nur irgendwelche
        Anhaltspunkte für Manipulationen oder Manipulations-
        versuche bei Wahlen mit Wahlgeräten in Deutschland
        bekannt geworden. Es handelt sich somit um eine
        Scheindebatte ohne irgendeinen substanziierten Anlass.
        Der Antrag ist deshalb völlig neben der Sache, populis-
        tisch und daher abzulehnen.
        Zuletzt noch eine Anmerkung zur Änderung des
        Wahlprüfungsgesetzes. Wir wollen eine Klarstellung im
        Gesetzestext entsprechend der langjährigen Praxis des
        Wahlprüfungsausschusses vornehmen. Nach dem bishe-
        rigen Wortlaut hat der Wahlprüfungsausschuss des Deut-
        schen Bundestages bei Wahleinsprüchen in der Regel
        eine mündliche Verhandlung durchzuführen. In der Pra-
        xis hat sich aber gezeigt, dass in aller Regel eine mündli-
        che Verhandlung entbehrlich ist, weil von ihr keinerlei
        Mehrwert zu erwarten ist. Seit November 1973 ist keine
        mündliche Verhandlung mehr durchgeführt worden. Mit
        der künftigen Regelung lehnen wir uns an die Vorausset-
        zungen für mündliche Verhandlungen vor dem Bundes-
        verfassungsgericht bei Wahlprüfungsbeschwerden an.
        Die mündliche Verhandlung wird somit künftig nur statt-
        finden, wenn von ihr eine Förderung des Verfahrens zu
        erwarten ist.
        Klaus Uwe Benneter (SPD): Wir haben ein bewähr-
        tes Wahlrecht. Trotzdem ist es veränderungswürdig. Da-
        für gibt es verschiedene Gründe. Zum einen passieren
        bei jeder Bundestagswahl Fehler; Stichwort Briefwahl
        Dortmund. Tausende von Briefwahlstimmen konnten
        nicht gezählt werden. Der Gesetzgeber muss prüfen, ob
        er zu einer Fehlervermeidung oder zumindest zu einer
        Schadensminderung beitragen kann. Zum anderen än-
        dern sich die Verhältnisse, unter denen Wahlen stattfin-
        den. Beispielsweise hat der Wegfall des Postmonopols
        Auswirkungen auf die Regelungen zur Beförderung von
        Wahlbriefen. Auch das Wahlverhalten ändert sich. Ein
        Beispiel ist die immer stärker in Anspruch genommene
        Briefwahl; auch darauf sollte der Gesetzgeber reagieren.
        14080 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Schließlich führen die Erfahrungen der Vergangenheit,
        aber auch die Erfahrungen aus den Ländern immer wie-
        der zu einer Überprüfung der mathematischen Berech-
        nungsmethoden, die Grundlage der Ermittlung des
        Wahlergebnisses sind.
        Aus allen diesen Gründen sieht der Gesetzentwurf
        Änderungen des Wahlrechts vor, die ich nun im Einzel-
        nen ansprechen möchte.
        Zur Umstellung des Berechnungsverfahrens von der
        Quotenmethode mit Ausgleich nach größten Resten
        Hare/Niemeyer auf das Divisorverfahren mit Standard-
        rundung St. Laguë/Schepers. Die neue Berechnungs-
        methode soll sowohl für die Verteilung der Wahlkreise
        auf die Länder nach § 3 BWahlG als auch für die Vertei-
        lung der Sitze auf die Landeslisten der Parteien nach § 6
        BWahlG Anwendung finden. Die Wahlkreiskommission
        für die 16. Wahlperiode hat in ihrem Bericht unter Be-
        zugnahme auf ein Gutachten des Statistischen Bundes-
        amtes diese Umstellung der Berechnungsmethode emp-
        fohlen. Warum? Ich will die Auswirkungen der neuen
        Berechnungsmethode für die Verteilung der Wahlkreise
        auf die Länder an einem Beispiel erläutern: In der
        15. Wahlperiode ergab sich bei Anwendung des bisheri-
        gen Hare/Niemeyer-Verfahrens ein Wahlkreisverlust für
        Schleswig-Holstein. Dies war jedoch kaum nachvoll-
        ziehbar, weil Schleswig-Holstein erst in der 14. Wahl-
        periode einen neuen Wahlkreis hinzubekommen hatte
        und seitdem einen leichten Bevölkerungsanstieg ver-
        zeichnete. Dieses äußerst ungute Hin- und Herpendeln
        von Wahlkreisen wäre durch die neue Berechnungs-
        methode vermieden worden. Die neue Methode ist damit
        kontinuitätswahrender.
        Aber auch für die Berechnung der Verteilung der
        Sitze auf die Landeslisten der Parteien ist die neue ma-
        thematische Berechnungsmethode besser. Denn sie kann
        paradoxe Ergebnisse vermeiden, wie sie bei der jetzigen
        Berechnungsmethode entstehen können. Bisher ist es
        zum Beispiel möglich, dass ein erhebliches Minus an
        Zweitstimmen nicht etwa dazu führt, dass die betroffene
        Partei einen Sitz weniger erhält. Vielmehr kann stattdes-
        sen eine Sitzverschiebung zwischen zwei anderen
        Parteien eintreten. Das neue Berechnungsverfahren
        St. Laguë/Schepers führt jedoch in diesem Fall zu dem
        erwarteten und besseren Ergebnis, dass die vom Zweit-
        stimmenminus betroffene Partei einen Sitz zugunsten ei-
        ner anderen Partei verliert, die bisher im Rundungsver-
        fahren am schlechtesten wegkam. Der Bundestag selbst
        verwendet die neue Methode St. Laguë/Schepers bereits
        für die Berechnung der Zahl der auf die Fraktionen ent-
        fallenden Sitze im Ältestenrat und in den Ausschüssen.
        Auch im Landtagswahlrecht von Bremen, Baden-
        Württemberg und Hamburg ist St. Laguë/Schepers be-
        reits eingeführt.
        Es handelt sich aber – um das klarzustellen – insge-
        samt um eine Verfeinerung der Berechnungsmethode,
        keineswegs um eine revolutionäre Neuerung, die nun bei
        gleicher Stimmabgabe gänzlich andere Ergebnisse er-
        warten lässt. Denn hinsichtlich der Verteilung der Sitze
        nach Zweitstimmen auf die Parteien insgesamt hätten
        wir bei den beiden letzten Bundestagswahlen sowohl
        nach alter als auch nach neuer Berechnungsmethode die
        gleichen Ergebnisse bekommen.
        Deutlich einfacher als das bisherige Recht ist auch die
        vorgesehene Regelung, wonach alle im Ausland leben-
        den Deutschen künftig ein zeitlich unbefristetes Wahl-
        recht besitzen. Bisher werden hier feine Unterscheide
        gemacht zwischen Auslandsdeutschen, die in den Mit-
        gliedstaaten des Europarates leben und unbefristet mit-
        wählen können, und sonstigen Auslandsdeutschen, deren
        Wahlrecht nur 25 Jahre lang nach Wegzug bestehen soll.
        Diese im Zeitalter der Globalisierung schwer zu recht-
        fertigende Differenzierung soll nun abgeschafft werden.
        Eine weitere Änderung betrifft die Briefwahl, die ur-
        sprünglich als enge Ausnahme konstruiert wurde.
        Nichtsdestotrotz nimmt der Anteil der Briefwähler kon-
        tinuierlich zu. Bei der letzten Bundestagswahl haben
        18,7 Prozent der Wähler per Briefwahl gewählt. Für die
        Teilnahme an der Briefwahl müssen Wahlberechtigte ei-
        nen Wahlschein beantragen und dabei bisher auch den
        Grund für ihre Verhinderung am Wahltag angeben und
        glaubhaft machen. Diese Regelung erfüllt keinerlei
        Funktion mehr, denn eine Nachprüfung dieser Hinde-
        rungsgründe ist weder möglich noch erwünscht. Auch
        eine Appellfunktion kann diese Regelung leider, wie ich
        meine, nicht erfüllen, wie die Erfahrungen in Nordrhein-
        Westfalen und Berlin zeigen. Dort wird seit vielen Jah-
        ren auf die Angabe von Gründen für die Briefwahl ver-
        zichtet. Der Briefwähleranteil hat sich jedoch nicht an-
        ders entwickelt als in anderen Bundesländern.
        In diesem Zusammenhang soll auch bemerkt werden,
        dass die Beförderung der Wahlbriefe wie bisher kosten-
        frei für den Briefwähler möglich ist. Nach Wegfall der
        Exklusivlizenz der Deutschen Post für Briefe bis zu
        50 Gramm ist hierfür künftig die Durchführung eines
        Vergabeverfahrens erforderlich, auf dessen Grundlage
        der Bund mit entsprechenden Postdienstleistern Beför-
        derungsverträge abschließen wird.
        Bewerber, die anderen Parteien angehören, sollen
        künftig auf Landeslisten von Parteien nicht mehr zuge-
        lassen werden. Bei der letzten Bundestagswahl wurde
        die Aufstellung von Kandidaten der WASG auf den Lan-
        deslisten der Linkspartei von den Landeswahlausschüs-
        sen zugelassen. Denn das Wahlrecht enthält keine Rege-
        lung dieses Falles. Problematisch ist diese Handhabung
        aber deshalb, weil nach dem Bundeswahlgesetz Listen-
        vereinigungen und Listenverbindungen verschiedener
        Parteien nicht zulässig sind. Das Gesetz möchte auf
        diese Weise klare Wahlentscheidungen ermöglichen und
        außerdem einer Zersplitterung des im Parlament vertre-
        tenen Parteienspektrums vorbeugen. Denn eine solche
        Zersplitterung gefährdet die parlamentarische Hand-
        lungsfähigkeit und damit die politische Stabilität des
        Landes.
        Verschiedene Regelungen sichern diese Zielsetzung
        ab, etwa die Fünfprozenthürde bzw. die Grundmandats-
        klausel für den Einzug in das Parlament, aber auch das
        Unterschriftenquorum für Wahlkreisvorschläge von Par-
        teien ohne bisherige hinreichende parlamentarische Ver-
        tretung. Parteien haben außerdem nach § 27 Abs. 1
        BWahlG das Monopol zur Aufstellung von Landeslisten.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14081
        (A) (C)
        (B) (D)
        Alle diese Hürden können durch die Zulassung von Mit-
        gliedern anderer Parteien auf der Landesliste einer Partei
        umgangen werden. Das ist nicht sinnvoll.
        Die Kandidatur parteiloser Bewerber auf der Landes-
        liste einer Partei wäre übrigens von dieser beabsichtigten
        Neuregelung nicht betroffen. Sie soll weiterhin möglich
        sein.
        Bei vertauschten Stimmzetteln sollen die bisherigen
        harten Folgerungen abgemildert werden. Leider kann
        auch das schönste Wahlrecht Fehler bei einer bundes-
        weiten Wahl mit über 60 Millionen Wahlberechtigten
        nicht verhindern. Nicht immer sind allerdings gleich
        Tausende von Wählern betroffen, wie es bei der letzten
        Bundestagswahl in Dortmund der Fall war. Dort wurden
        massenweise Briefwahlunterlagen mit Stimmzetteln für
        den falschen Wahlkreis versandt. Im Ergebnis haben
        über 10 000 Wähler auf falschen Stimmzetteln gewählt.
        Die bisherige Regelung sieht vor: Falscher Stimmzettel,
        Stimme ungültig. Deshalb wurden diese Stimmen, also
        Erststimmen und Zweitstimmen, überhaupt nicht ge-
        zählt. Da die Stimmen im konkreten Fall auf die Man-
        datsverteilung keinen Einfluss hätten haben können,
        blieben alle diese Briefwahlstimmen ohne weitere Fol-
        gerungen einfach unberücksichtigt. Künftig sollen in ei-
        nem vergleichbaren Fall – den sich keiner wünschen
        kann – wenigstens die Zweitstimmen gezählt werden
        und gültig sein. Denn für die Zweitstimme ist die
        Stimmzettelverwechslung ohne Belang.
        Weitere kleinere Änderungen möchte ich noch kurz
        erwähnen. Der neue Begriff Stimmzettelumschlag an-
        stelle des bisherigen Begriffs Wahlumschlag soll für eine
        bessere Verständlichkeit der Begriffe sorgen; falls eine
        Nachwahl stattfinden muss, soll klargestellt werden,
        dass das vorläufige Wahlergebnis sofort nach der Haupt-
        wahl ermittelt und auch bekannt gegeben wird. Für Ab-
        geordnete wird die förmliche Erklärung zur Mandatsan-
        nahme entfallen. Auf der Grundlage der Vorgaben des
        Bundesverfassungsgerichts wird die Wahlkampfkosten-
        erstattung für unabhängige Wahlkreisbewerber rückwir-
        kend erhöht und an die Wahlkampfkostenerstattung für
        Parteien ohne zugelassene Landesliste angeglichen.
        Entsprechende Änderungen gibt es auch im Europa-
        wahlrecht. Auch dort wird das mathematische Berech-
        nungsverfahren auf St. Laguë/Schepers umgestellt. Das
        Verbot parteifremder Bewerber auf Parteilisten wird
        ebenfalls eingeführt. Des Weiteren wird der Verlust der
        Mitgliedschaft im Europäischen Parlament aufgrund der
        Wahl in das nationale Parlament künftig richtigerweise
        durch das Europäische Parlament festgestellt und nicht
        mehr durch den Ältestenrat des Bundestages.
        Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen.
        Unter der Überschrift „Geheimoperation Überhangman-
        date“ hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
        darüber berichtet, dass die Koalition über eine Nachfol-
        geregelung bei Überhangmandaten nachgedacht hat.
        Lassen Sie mich Folgendes klarstellen: Es ist keine kon-
        spirative Aktion, sondern üblich und richtig, wenn die
        Einbringer eines Gesetzentwurfs vor der Einbringung
        prüfen, welche Änderungen sinnvoll sind. Und ich will
        ganz deutlich sagen: Ich halte die Nachfolge in Über-
        hangmandate für sinnvoll. Sie steht leider noch nicht in
        diesem Gesetzentwurf, obwohl es ein Unding ist, dass
        Mandate während der Legislaturperiode ersatzlos weg-
        fallen können. Eine der wichtigsten Funktionen des
        Wahlrechts ist es, dass das am Wahltag festgestellte
        Wahlergebnis eine möglichst stabile Grundlage für eine
        stabile Regierung über die gesamte Legislaturperiode
        bildet. Wir können im staatspolitischen Interesse nicht
        wollen, dass die parlamentarische Mehrheit wechselt,
        weil zufällig Abgeordnete aus Überhangländern sterben
        oder aus anderen Gründen ausscheiden. Ich würde es
        deshalb für richtig halten, wenn wir in den kommenden
        Beratungen in dieser Frage zu einer Änderung des Ent-
        wurfs kommen könnten.
        Änderungen des Grundgesetzes haben wir in unserem
        Gesetzentwurf nicht vorgesehen. Die Frage einer Verlän-
        gerung der Legislaturperiode, die Einführung von Volks-
        entscheiden auf Bundesebene oder die Möglichkeit der
        Selbstauflösung des Parlaments bleiben damit auf der
        politischen Tagesordnung – aber erst in künftigen Wahl-
        perioden. Die damit verbundenen Fragen bedürfen sehr
        gründlicher Prüfung.
        Lassen Sie mich noch kurz auf die Änderung der
        Wahlkreiseinteilung eingehen, wie sie in dem Entwurf
        eines Achtzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-
        wahlgesetzes vorgesehen ist. Die Bevölkerungsentwick-
        lung in den Ländern zwingt uns, die bestehende
        Wahlkreiseinteilung zu ändern. Denn das Bundesverfas-
        sungsgericht hat dem Gesetzgeber aufgegeben, im Rah-
        men des Möglichen annähernd gleich große Wahlkreise
        zu bilden. Der Gesetzgeber hat die sich daraus ergeben-
        den Anforderungen in § 3 Bundeswahlgesetz näher kon-
        kretisiert. Danach sind bei der Wahlkreiseinteilung die
        Ländergrenzen einzuhalten; die Zahl der Wahlkreise in
        den einzelnen Ländern muss deren Bevölkerungsanteil
        soweit wie möglich entsprechen; die Bevölkerungszahl
        eines Wahlkreises soll von der durchschnittlichen Wahl-
        kreisbevölkerungszahl nicht um mehr als 15 Prozent ab-
        weichen, sie darf nicht um mehr als 25 Prozent abwei-
        chen; Gemeinde- und Landkreisgrenzen sollen nach
        Möglichkeit eingehalten werden.
        Ausgehend von diesen Vorgaben und auf der Grund-
        lage der Bevölkerungszahlen aus der amtlichen Statistik
        zum Stand 31. Dezember 2006 verlieren nach dem Ge-
        setzentwurf die Länder Sachsen und Sachsen-Anhalt je
        einen Wahlkreis, während Baden-Württemberg und Nie-
        dersachsen je einen hinzugewinnen. In der Folge und
        entsprechend der weiteren Vorgaben des § 3 BWahlG
        müssen in Sachsen und Sachsen-Anhalt je ein Wahlkreis
        aufgelöst und verbleibende Wahlkreise neu geordnet und
        bezeichnet werden. Auch in anderen Bundesländern
        werden Wahlkreise neu geordnet und bezeichnet, um
        erstens sicherzustellen, dass kein Wahlkreis die 25 Pro-
        zent-Marke überschreitet, und um zweitens eine Anpas-
        sung an aktuelle und künftige Kreis- und Gemeinde-
        grenzen vorzunehmen.
        Durch die Änderung des Wahlprüfungsgesetzes sollen
        die gesetzlichen Vorschriften an die tatsächlichen Erfor-
        dernisse der Wahlprüfung angepasst werden. Es hat sich
        in jahrzehntelanger Übung erwiesen, dass eine mündli-
        14082 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        che Verhandlung in Wahlprüfungssachen nicht erforder-
        lich ist. Aus dem bisherigen gesetzlichen Regelfall ist
        deshalb faktisch die Ausnahme geworden. Die letzte
        mündliche Verhandlung in Wahlprüfungssachen wurde
        im Jahre 1973 durchgeführt. Deshalb soll nach der künf-
        tigen gesetzlichen Regelung ein Termin zur mündlichen
        Verhandlung nur dann anberaumt werden, wenn die Vor-
        prüfung ergibt, dass davon eine weitere Förderung des
        Verfahrens zu erwarten ist.
        Die Fraktion Die Linke möchte mit ihrem Antrag
        „Wahlmanipulationen wirksam verhindern“ auf das Ver-
        bot von Wahlcomputern – die es in Deutschland bereits
        gibt – und auf das Verbot der Internetwahl – die es in
        Deutschland bei politischen Wahlen noch nicht gibt –
        hinwirken. Wir schließen uns diesem Antrag nicht an.
        Denn wir haben bisher keinen ernst zu nehmenden Hin-
        weis darauf, dass es bei dem bisherigen Einsatz von
        elektronischen Wahlgeräten tatsächlich zu Wahlmanipu-
        lationen gekommen ist. Es ist auch nicht richtig, dass
        – wie die Linksfraktion meint – eine allgemeine, unmit-
        telbare, freie, gleiche und geheime Wahl mit der Stimm-
        abgabe per Wahlcomputer nicht vereinbar sei.
        Gisela Piltz (FDP): Seit den 80er-Jahren sinkt die
        Wahlbeteiligung kontinuierlich ab. Kritiker bezeichnen
        das Wahlsystem in Deutschland als unverständlich, in-
        transparent und partizipationsfeindlich. Es ist daher zu
        begrüßen, dass die Regierungsfraktionen einen Gesetz-
        entwurf zur Änderung des Wahl- und Abgeordneten-
        rechts vorgelegt haben. Innovative Ideen enthalten die
        Entwürfe jedoch nicht.
        Außerdem ist wieder einmal das parlamentarische
        Verfahren zu kritisieren. Man bekommt den Eindruck,
        sobald in der Großen Koalition eine Einigung erzielt
        wurde, wird das parlamentarische Verfahren im Hau-
        ruckverfahren durchgeführt. Die von der Großen Koali-
        tion eingebrachten Gesetzentwürfe sind am Dienstag um
        19.44 Uhr – und damit auch für unsere Verhältnisse au-
        ßerhalb der üblichen Bürozeiten – verschickt worden.
        Heute steht schon die erste Lesung an. Eine ausführliche
        Prüfung dieser Entwürfe war in der kurzen Zeit inner-
        halb meiner Fraktion nicht möglich. Ein solches Verfah-
        ren wird damit dem Anliegen, eine Fortentwicklung des
        Wahlrechts zu erreichen, erst einmal nicht gerecht.
        Der Gesetzentwurf sieht vor, das Berechnungsverfah-
        ren zu ändern, um eine bessere Verwirklichung des
        Grundsatzes der Gleichheit der Wahl zu erreichen. Durch
        Ersetzung des Hare-Niemeyer-Verfahrens sollen gerade
        bei diesem Verfahren vermehrt auftretende Ungereimthei-
        ten zukünftig vermieden werden. Ob das St. Lague/
        Schepers-Verfahren aber wirklich vorzugswürdiger ge-
        genüber dem Hare-Niemeyer-Verfahren ist, wird sich in
        den Beratungen zeigen. Denn auch durch einen Wechsel
        lässt sich möglicherweise das Problem des negativen
        Stimmgewichts nicht grundsätzlich verbessern.
        Das negative Stimmgewicht bezeichnet einen Effekt
        bei Wahlen, bei dem sich Stimmen gegen den Wähler-
        willen auswirken. Durch das Berechnungsverfahren
        kann trotz Stimmenabgabe für eine Partei dieser Effekt
        ein Verlust an Sitzen bewirken oder umgekehrt Stim-
        men, die für eine Partei nicht abgegeben wurden, einen
        Gewinn an Sitzen für die jeweilige Partei bedeuten. Die-
        ser Effekt widerspricht dem Anspruch, dass jede Stimme
        gleich viel zählen sollte. Er widerspricht auch dem An-
        spruch, dass sich die Stimme nicht explizit gegen den
        Wählerwillen auswirken darf. Auch Ausgleichsmandate
        lösen das Problem nicht, weil die betroffene Partei regel-
        mäßig keine Ausgleichsmandate erhält. Hier wäre eine
        Lösung erstrebenswert.
        Den im Ausland lebenden Deutschen ein zeitlich un-
        befristetes Wahlrecht einzuräumen, ist im Zeitalter des
        Internets zu begrüßen. Denn in der heutigen Zeit ist eine
        informierte Mitwirkung bei Wahlen auch möglich, ohne
        am Ort des Geschehens zu wohnen.
        In diesem Zusammenhang ist auch der Vorschlag im
        Gesetzentwurf positiv zu bewerten, die Nennung von
        Antragsgründen bei der Briefwahl abzuschaffen. In den
        Beratungen wird allerdings zu erörtern sein, ob die
        Wahlgrundsätze der „geheimen und freien Wahl“ durch
        eine verstärkte Inanspruchnahme der Briefwahl beein-
        trächtigt sein könnten.
        Eine weitere Änderung im Bundeswahlgesetz sieht
        die Änderung des Zuschnitts der Bundestagwahlkreise
        aufgrund der Bevölkerungsentwicklung vor. Um die
        Chancengleichheit aller Wahlbewerber zu garantieren,
        ist eine Überprüfung der Zuschnitte sinnvoll. Wir wer-
        den in den Berechnungen aber darauf achten, dass Ver-
        änderungen nicht aus politischen Motiven vorgenommen
        werden.
        Der von der Großen Koalition und uns eingebrachte
        Antrag zur Änderung des Wahlprüfungsgesetzes stellt
        lediglich eine Anpassung an eine geübte Praxis dar. Seit
        der 7. Wahlperiode (1973) ist keine mündliche Verhand-
        lung für die Schlussentscheidung des Ausschusses über
        Einsprüche mehr durchgeführt worden. Der Gesetzent-
        wurf stellt daher lediglich den Zustand her, der ohnehin
        besteht.
        Der von den Linken eingebrachte Antrag „Wahlmani-
        pulationen wirksam verhindern“ geht auf eine Petition
        gegen Wahlcomputer zurück, die von 45 126 Bürgerin-
        nen und Bürgern unterzeichnet wurde. Die Befürchtun-
        gen der Bürger sind berechtigt. Wahlcomputer zeigen
        keine nachprüfbaren Ergebnisse an, Wahlcomputer
        schließen menschliche Fehler nicht aus, und Wahlcom-
        puter bergen Sicherheitsrisiken. In der Bundesrepublik
        gibt es lediglich drei Personen, die nachvollziehen kön-
        nen, wie bereits eingesetzte Wahlcomputer für politische
        Wahlen funktionieren. Und diese drei Personen bürgen
        auch für die Integrität der Wahl, denn laut Gerichtsent-
        scheidung des VG Braunschweig erhalten keine weite-
        ren Personen Einblicke in die technischen Vorgänge. Da-
        bei sind Wahlcomputer schon manipuliert worden,
        sodass die Datenintegrität nicht gewährleistet ist. Fehler
        können auch durch das Auslesen der Stimmenmodule
        verursacht werden oder beim Transport der Module ins
        Wahlamt.
        Wahlcomputer werden damit den Grundanforderun-
        gen demokratischer Wahlen nicht gerecht, denn wesent-
        liche Schritte des Wahlablaufs sind der öffentlichen
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14083
        (A) (C)
        (B) (D)
        Kontrolle entzogen. Ohne eine verlässliche Nachprüfung
        des Wahlsystems und damit einer Nachzählung von
        Stimmen kann Demokratie aber nicht funktionieren.
        Denn nicht selten ist eine Stimme ausschlaggebend für
        den Sieg oder die Niederlage des Kandidaten.
        Mit der Anschaffung von Wahlcomputern sind erheb-
        liche Kosten verbunden. Die Entwicklung geht aber in
        Richtung Onlinewahlen. Die FDP-Fraktion ist der Mei-
        nung, dass man sich technischen Entwicklungen nicht
        generell verschließen sollte. Insofern geht der Antrag der
        Linken auch zu weit, der die Internetwahl für alle Zeiten
        ausschließen will. Wir können doch heute noch nicht ab-
        sehen, in welche Richtung sich die Technik in den
        nächsten Jahren entwickeln wird und welche Lösungen
        für Onlinewahlen uns angeboten werden. Schließlich
        gibt es schon andere Länder, wie zum Beispiel Estland,
        die Onlinewahlen als zusätzliche Option für die Wähler
        anbieten. Die Entwicklung technischer und juristischer
        Lösungen wird von der FDP unterstützt. Der Antrag der
        Linken lässt keinen Spielraum für solche Lösungen und
        ist von unserer Seite in dieser Form nicht zustimmungs-
        fähig.
        Jan Korte (DIE LINKE): Heute werden zum wieder-
        holten Male nicht nur die Abgeordneten des Deutschen
        Bundestages, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger
        mit einem Verfahren der Großen Koalition konfrontiert,
        das die Prinzipien und politischen Kategorien der Trans-
        parenz und der Demokratie ad absurdum führt.
        Ich spreche davon, dass wiederholt wenige Stunden
        vor einer parlamentarischen Beratung, den Mitgliedern
        des Bundestages umfangreiche Gesetzentwürfe durch
        die Koalitionsfraktionen nicht vorliegen. Erst in den
        Abendstunden des vergangenen Dienstages erreichten
        die Abgeordneten der Opposition die angekündigten drei
        Gesetzentwürfe von CDU/CSU und SPD zur Änderung
        des Wahl- und Abgeordnetenrechts, zur Änderung des
        Wahlprüfungsgesetzes und zur Änderung des Bundes-
        wahlgesetzes. Der Antrag der Fraktion Die Linke „Wahl-
        manipulation wirksam verhindern“ lag dagegen rechtzei-
        tig vor. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den
        Gesetzentwürfen durch die Bürgerinnen und Bürger
        wird durch das Vorgehen der Koalitionsfraktionen ver-
        hindert. Auch deshalb ist es wichtig, dass es eine linke
        Fraktion im Parlament gibt, die Aufklärung leistet und
        für bürgernahe Debatten sorgt.
        „Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung in den Län-
        dern sowie in einigen Wahlkreisen ist die Einteilung der
        Wahlkreise für die Wahl zum Deutschen Bundestag […]
        nicht mehr im Einklang mit den Grundsätzen für die
        Wahlkreiseinteilung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3
        BWG“ und eine Änderung geboten. Diesem Ansinnen
        ist erst mal nichts Negatives entgegenzusetzen. Dennoch
        zeigen die späte Einbringung des Entwurfes und der vor-
        geschlagene Neuzuschnitt der Wahlkreise, dass eine po-
        litische Debatte der verwaltungstechnischen untergeord-
        net wird.
        Grund für die teilweise Neueinteilung der Wahlkreise
        besonders im Osten der Republik beispielsweise ist die
        nach wie vor anhaltende Abwanderung der Bürgerinnen
        und Bürger aus diesem Teil Deutschlands. Wir haben in
        diesem Jahr in diesem Rahmen öfter über den sogenann-
        ten Aufbau Ost und die Wirtschaftsförderung für die
        neuen Bundesländern diskutiert, auch um Anreize zu
        schaffen, das Absterben ganzer Landstriche zu stoppen.
        Wirkliche Alternativen aber zu den gescheiterten Versu-
        chen der vorangegangenen Bundesregierungen, Zuzug
        und nicht Abzug aus und in den Osten der Republik zu
        generieren, hat die Große Koalition bis heute nicht vor-
        gelegt. Die Folge ist unter anderem der Neuzuschnitt der
        Wahlkreise. Ein Beispiel: In meinem Kreis, in dem ich
        politisch aktiv bin, dem Salzlandkreis, wirkt sich die
        Neueinteilung der Wahlkreise in Sachsen-Anhalt beson-
        ders stark aus. Der Salzlandkreis wird völlig zerstückelt
        und auf die Wahlkreise 69, 70 und 72 aufgeteilt. Dabei
        steht in dem Gesetzentwurf, dass dieser das Gesetz zur
        Kreisgebietsreform, das am 1. Juli 2007 in Kraft getreten
        ist, berücksichtigt.
        Dem Bundesland Sachsen-Anhalt geht mit der Neuein-
        teilung darüber hinaus ein ganzer Wahlkreis verloren. Zu-
        künftig wird es nicht mehr zehn, sondern nur noch neun
        Wahlkreise geben. Weiter heißt es im Gesetzentwurf, dass
        „die Toleranzgrenze von plus/minus 15 Prozent durch die
        neuen Wahlkreise 69 und 72 (plus 17,6 Prozent) über-
        schritten“ wird. Dies wird als vertretbar hingenommen, da
        dies „durch den zu erwartenden weiteren Bevölkerungs-
        rückgang kompensiert werden“ dürfte. Dies mag statis-
        tisch sicher richtig sein, eine politische Strategie jedoch
        zur Verhinderung dieser Abwanderung und zur Steigerung
        der Geburtenrate, beispielsweise durch eine wirklich fa-
        milien- und kinderfreundliche Politik, lässt die Bundesre-
        gierung seit nunmehr zwei Jahren nicht erkennen. Ich
        möchte aber hier erneut die Gelegenheit nutzen, um für
        eine solche gesellschaftspolitische Auseinandersetzung zu
        werben.
        Auch der Gesetzentwurf zur Änderung des Wahl- und
        Abgeordnetenrechts hält einige brisante Änderungen be-
        reit. Ich möchte mich aber nur auf ein oder zwei Sach-
        verhalte hierin konzentrieren, so zum Beispiel auf die
        Änderung des § 12, in dem die Voraussetzungen für eine
        Wahlbeteiligung für jene deutschen Staatsangehörigen
        geregelt werden, die sich am Wahltag außerhalb der
        Bundesrepublik aufhalten. Die Änderung des Paragrafen
        wird unter anderem damit begründet, dass die bisherige
        Eingrenzung auf die Mitgliedstaaten des Europarates
        nicht mehr aufrechterhalten werden könne, da die „Ho-
        mogenität“ zwischen den Mitgliedstaaten des Europara-
        tes durch dessen Erweiterung von 21 auf 46 Staaten
        nicht mehr gegeben sei. Es soll also zukünftig ein zeit-
        lich unbegrenztes Wahlrecht für sogenannte Auslands-
        deutsche eingerichtet werden, die nach dem 23. Mai
        1949 und vor ihrem Fortzug mindestens drei Monate un-
        unterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland eine
        Wohnung innegehabt haben.
        Der Gedanke ist so falsch nicht. Jedoch stellt sich
        dem aufmerksamen Wähler und Demokraten nicht ganz
        zu Unrecht die Frage, warum nicht im gleichen Atemzug
        das Wahlrecht für seit vielen Jahren in Deutschland le-
        bende Ausländerinnen und Ausländern eingerichtet
        wird. Dies wäre doch einmal eine Änderung, die die de-
        mokratische Mitbestimmung durch die Menschen, die
        14084 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        sich in diesem Land aufhalten, verbessern und verstär-
        ken könnte. Denn das Missverhältnis, einerseits Men-
        schen mit deutschem Pass, die seit Jahrzehnten keinen
        festen Wohnsitz in der Bundesrepublik ihr eigen nennen
        können, das vollständige Wahlrecht zu garantieren und
        andererseits in Deutschland seit Jahrzehnten fest verwur-
        zelten und verankerten Ausländerinnen und Ausländern
        ein solches Recht weiterhin zu verweigern, wird mit die-
        sem Änderungsvorschlag nicht aufgelöst.
        Interessant liest sich allerdings auch der Änderungs-
        entwurf der Großkoalitionäre zum § 21. Fortan soll es
        nun nicht mehr möglich sein, dass Parteimitglieder auf
        den Wahllisten einer anderen Partei kandidieren. Auch
        die Kandidatur als Doppelmitglied oder das Nachrücken
        in den Bundestag als Doppelmitglied soll mit dieser
        Rechtsänderung unterbunden werden. Ich finde diese
        Änderung, gelinde gesagt, kleinkariert. Es ist ja bei wei-
        tem nicht so, dass die Kandidatur eines Parteimitgliedes
        auf den Listen einer anderen Partei massenhaft vorkam
        oder vorkommen würde. Im Übrigen hat die Kandidatur
        des einen oder der anderen parteigebundenen Kandida-
        ten und Kandidatin auf den Listen einer anderen Partei,
        der Demokratie ja wohl kaum geschadet.
        Ich möchte die verbleibende Zeit aber auch dafür nut-
        zen, etwas zum vorliegenden Antrag der Fraktion Die
        Linke „Wahlmanipulation wirksam verhindern“ zu sa-
        gen. Ein fundamentales Prinzip der Demokratie ist die
        Öffentlichkeit des gesamten Ablaufs von Wahlen. Bei
        Wahlen per Stimmzettel und Urne kann jede und jeder
        die Korrektheit des Wahlablaufs von der Aufstellung der
        Urne bis zur Auszählung und Feststellung des Ergebnis-
        ses kontrollieren. Diese Möglichkeit der Kontrolle durch
        jedermann wird aus dem Demokratieprinzip des Art. 20
        GG abgeleitet. Werden jedoch Wahlcomputer eingesetzt,
        was in den Kommunen aufgrund immer größer werden-
        der Probleme, genug Wahlhelfer zu finden, immer öfter
        der Fall ist, ändert sich die Sachlage völlig: Beim Ein-
        satz von Wahlcomputern werden wesentliche Schritte
        des Wahlablaufs in das Innere eines Gerätes verlegt und
        damit der öffentlichen Kontrolle entzogen. Wähler, Öf-
        fentlichkeit und selbst Wahlvorstände können nicht mehr
        nachvollziehen, was im Inneren des Gerätes mit den
        Stimmen geschieht und wie die Ergebnisermittlung im
        Einzelnen vor sich geht. Somit wird ein einfaches, er-
        probtes, evaluiertes und bewährtes System durch ein
        komplexes, nur von wenigen überprüfbares System er-
        setzt. Ordnungsgemäßes Funktionieren und Manipula-
        tionssicherheit der eingesetzten Wahlcomputer werden
        zur unabdingbaren Voraussetzung der Integrität einer
        Wahl. Doch jedem x-beliebigen Menschen, der jemals
        einen Geldautomaten oder einen PC benutzt hat, ist klar:
        Das ist absurd. Computer versagen andauernd. Das weiß
        auch das Innenministerium, das erst kürzlich mitteilte,
        dass es keinen absoluten technischen Schutz vor Wahl-
        manipulationen geben wird. „Sehr richtig“, kann ich
        dem nur hinzufügen.
        Einen klaren Beleg dafür lieferte erst kürzlich der
        Chaos-Computer-Club in Hamburg, dem es gelungen
        war, das für die Hamburg-Wahl am 24. Februar 2008 ge-
        plante Digitale-Wahlstift-System zu manipulieren. Ham-
        burg hat als Reaktion darauf von einer Nutzung der
        Wahlstifte abgesehen. Die SPD war aufgrund des fahr-
        lässig niedrigen Sicherheitsniveaus nicht bereit, den
        Wahlstift länger mitzutragen. Ich hoffe, dass sich die
        Bundestagsfraktion der SPD dieser Einsicht anschließen
        und auch deshalb unserem Antrag ihre Zustimmung ge-
        ben wird.
        Florida, das von massiven Wahlmanipulationen mit
        Wahlcomputern erschüttert wurde, kehrte schon vor eini-
        ger Zeit zur Stimmzettelwahl zurück. Die Anschaffung
        der Wahlcomputer hatte Millionen verschlungen. Aber
        für die Verantwortlichen war der Weg auf den Schrott-
        platz für die schicken, hochmodernen Wahlcomputer das
        kleinere Übel.
        Die niederländische Regierung hat ebenfalls die dort
        flächendeckend eingesetzten NEDAP-Wahlcomputer auf-
        grund ihrer nachgewiesenen Manipulierbarkeit aus dem
        Verkehr gezogen. Und was macht die Bundesregierung?
        Das Innenministerium erteilt von all dem völlig ungerührt
        neue Bauartzulassungen für NEDAP-Wahlcomputer und
        suggeriert, dass jetzt alle Sicherheitslücken geschlossen
        seien. Das ist hanebüchen! Die Zulassung eines Gerätes
        zur Wahl wird nach § 35 BWahlG und anderen Vorschrif-
        ten im Wesentlichen erteilt, wenn die Physikalisch-Tech-
        nische-Bundesanstalt im Auftrag des Innenministeriums
        bei der Prüfung eines einzigen Geräts einer Bauart keine
        Mängel feststellt. Im Gegensatz zu einer Wahl mit Zettel
        und Urne wird einfachen Bürgerinnen und Bürgern eine
        Prüfung der Wahlcomputer verwehrt und deren interne
        Funktionsweise geheimgehalten. Ein einzelnes Gerät
        kann von einer Gemeinde eingesetzt werden, wenn der
        Hersteller versichert, dass es baugleich zu einem geprüf-
        ten Gerät ist. Eine Kontrolle, ob dies der Fall ist oder ob
        das Gerät möglicherweise bis zu seinem Einsatz von Drit-
        ten manipuliert wurde, ist nicht vorgesehen, ist weder für
        Wahlvorstand, noch für Wählerinnen und Wähler sowie
        Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter möglich. Die
        einzige Kontrolle der Geräte findet nach § 35 BWahlG
        durch das Innenministerium und den Hersteller statt. Dies
        ist im Gegensatz zur Kontrolle durch jederman bei Wahl
        mit Wahlzettel und Urne nicht akzeptabel.
        Das Prinzip der öffentlichen Kontrolle ist nicht dele-
        gierbar, schon gar nicht an das Innenministerium oder
        den Hersteller der Wahlgeräte. Die demokratische und
        öffentliche Kontrolle wird durch den Einsatz von Wahl-
        computern wesentlich erschwert, wenn nicht gar unmög-
        lich gemacht.
        An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich dem Chaos-
        Computer-Club, der sich trotz aller Geheimniskrämerei
        bei der Aufdeckung der gravierenden Sicherheitsmängel
        ein großes Verdienst erworben hat, herzlich für seinen
        unermüdlichen Einsatz danken.
        Unser Antrag, für den ich um Ihre Zustimmung
        werbe, fordert daher die Bundesregierung auf, durch Än-
        derung des Bundeswahlgesetzes den Einsatz von Wahl-
        computern und eine Internetwahl bei Wahlen zum Deut-
        schen Bundestag und des Europäischen Parlaments
        ausdrücklich auszuschließen und die Bundeswahlgeräte-
        verordnung entsprechend anzupassen.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14085
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wahlcomputer müssen in Deutschland verboten wer-
        den, bevor wir auch hier Zustände wie in den USA be-
        kommen. Die hier verwendeten NEDAP-Computer sind
        mindestens genauso unsicher und manipulierbar wie die
        aus den Wahlskandalen in den USA bekannten Systeme.
        Es liegt in unser aller Interesse, dass Wahlmanipulatio-
        nen wirksam verhindert werden.
        Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Lassen Sie mich in aller Kürze etwas zu den
        uns hier vorliegenden drei Gesetzentwürfen und dem
        Antrag der Linken sagen.
        Beginnen möchte ich mit dem Antrag der Linken, in
        dem sie die Abschaffung der Wahlcomputer fordert. Es
        wird Sie nicht verwundern, dass ich für diesen Antrag
        große Sympathien hege. Gerade die Union wird mich
        hier verstehen. Wenn es um Wahlen geht, bin ich konser-
        vativ und will Bewährtes bewahren. Ich greife lieber
        zum Bleistift und mache damit bei der Wahl mein Kreuz.
        Ich brauche dafür keinen elektronischen Stift und keinen
        Computer. Nur so kann ich genau kontrollieren, ob ich
        auch wirklich mein Kreuz an der richtigen Stelle ge-
        macht habe, und bei der anschließenden Auszählung
        kann ich live dabei sein. Ein transparenteres Verfahren
        kann ich mir nicht vorstellen.
        Wir sollten nicht die gleichen Fehler wie die Nieder-
        lande machen. Dort wurden Computer flächendeckend
        eingesetzt, doch der Chaos-Computer-Club überzeugte
        die Regierung von den erheblichen Risiken, sodass jetzt
        wieder auf Papier und Bleistift zurückgegriffen wird.
        Auch hierzulande warnt der CCC vor den Risiken der
        Geräte der Firma Nedap, die fast baugleich sind mit den
        Geräten in den Niederlanden. Der Bundesinnenminister
        geht hier ohne Not ein Sicherheitsrisiko ein. Wir wollen
        über Politikinhalte diskutieren und nicht darüber, ob die
        Wahlergebnisse womöglich manipuliert worden sind.
        Vielleicht wird es eines Tages sichere Verfahren bei der
        elektronischen Wahl geben. Solange es berechtigte
        Zweifel gibt, darf es weder Wahlstifte noch Wahlcompu-
        ter geben. Wir stimmen hier dem Antrag der Linksfrak-
        tion zu.
        Kommen wir nun zu den uns vorliegenden Gesetzent-
        würfen. Die Neueinteilung der Wahlkreise ist erforder-
        lich. Zuletzt haben wir in der letzten Legislatur eine der
        Bevölkerungsentwicklung in den einzelnen Regionen
        unseres Landes entsprechende behutsame Anpassung
        der Wahlkreise vorgenommen. Auch in dieser Legisla-
        turperiode macht die Wahlkommission entsprechende
        Vorschläge, die in diesen Entwurf eingeflossen sind. Ich
        gehe davon aus, dass die Große Koalition erneut alle
        Fraktionen einlädt und wir uns bemühen, zu einer sach-
        lich begründeten, gemeinsamen Anpassung der Wahl-
        kreisgrenzen zu kommen.
        Der mit dem zweiten uns vorliegenden Gesetzentwurf
        angestrebten Umstellung auf ein neues Berechnungsver-
        fahren für die Sitzverteilung und Verteilung der Wahl-
        kreise auf die Länder stehen wir offen gegenüber. Für
        die Verteilung der Ausschusssitze im Bundestag wird es
        ja bereits angewendet und auch in den Bundesländern er-
        freut es sich immer größerer Beliebtheit. Sollten die
        beim Hare-Niemeyer-Verfahren auftretenden Paradoxe
        beim St. Laguë/Schepers-Verfahren tatsächlich nicht vor-
        kommen und damit dem Prinzip der Gleichheit der Wahl
        besser Rechnung getragen werden, werden wir uns dem
        nicht verschließen. Auch ein zeitlich unbeschränktes ak-
        tives Wahlrecht für im Ausland lebende Deutsche oder
        die Vereinfachung der Briefwahl tragen wir mit.
        Lassen Sie mich zum letzten Entwurf kommen. Es ist
        richtig, das Wahlprüfungsgesetz der jahrzehntelangen
        Praxis des Wahlprüfungsausschusses anzupassen. Das
        Gesetz sieht zwar bisher vor, in jeder Anfechtungssache
        mündliche Verhandlung anzuberaumen. Doch seit
        34 Jahren ist keine solche mündliche Verhandlung mehr
        angesetzt worden. Diese Praxis wird gegenüber den
        Einspruchsführern überwiegend damit begründet, der
        Einspruch sei offensichtlich unbegründet. Die Durchfüh-
        rung einer mündlichen Anhörung mit dieser Begründung
        abzulehnen ist zwar im Gesetz ausdrücklich vorgesehen.
        Doch häufig trifft die Bewertung des Einspruchs als „of-
        fensichtlich unbegründet“ bei den Einspruchsführern auf
        großes Unverständnis. Um auf diese Begründung gegen-
        über den Einspruchsführern künftig verzichten zu kön-
        nen, ist zu begrüßen, wenn aus dem bisherigen Regelfall
        einer mündlichen Verhandlung künftig der Ausnahme-
        fall wird.
        Allerdings sollte es von diesem Grundsatz zwei Aus-
        nahmen geben. Erstens sollte eine mündliche Verhand-
        lung ausnahmsweise anberaumt werden, wenn der Ein-
        spruch Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft.
        In der bisherigen Begründung des Gesetzentwurfs (II. zu
        Art. 1 Nr. 2) ist diese Ausnahme schon ausdrücklich ge-
        nannt. Folglich ist es zur Klarstellung angebracht, diese
        Ausnahme auch in den Gesetzestext aufzunehmen.
        Zweitens sollte dies der Fall sein, wenn ein Einspruch in
        der Öffentlichkeit großes Interesse gefunden hat und
        breit diskutiert wurde. Für diesen Vorschlag wollen wir
        im parlamentarischen Verfahren werben.
        Für die Einspruchsführer und auch für die Öffentlich-
        keit ist häufig schwer nachzuvollziehen, wenn in einer
        wichtigen Streitfrage zur Gültigkeit der Wahl von ange-
        sehenen Experten gewichtige Argumente für die unter-
        schiedlichen Auffassungen öffentlich vorgebracht und
        monatelang diskutiert werden, dass dann aber der Wahl-
        prüfungsausschuss des Deutschen Bundestages quasi in
        eigener Sache den Einspruch trotzdem ohne öffentliche
        Verhandlung abhandelt und verwirft. Demgegenüber
        könnte eine öffentliche Verhandlung solcher Einsprüche
        die Akzeptanz und öffentliche Vermittlung der Wahlprü-
        fungsentscheidungen verbessern.
        Lassen Sie uns diese Fragen in der gewohnten Sach-
        lichkeit im Ausschuss offen diskutieren.
        Gert Winkelmeier (fraktionslos): In Art. 20 des
        Grundgesetzes lesen wir:
        Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird
        vom Volke in freien und geheimen Wahlen und Ab-
        stimmungen … ausgeübt.
        Um diese Wahlen geht es heute; und zwar unter Aus-
        schluss des eigentlichen Souveräns.
        14086 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Nun könnte man argumentieren, die drei hier vorge-
        legten Gesetzentwürfe befassten sich mit Kleinigkeiten
        oder Spitzfindigkeiten, die den Wähler nicht interessie-
        ren. Nur geben die Volksvertreter dem Volk nicht einmal
        die Chance, der Debatte beizuwohnen, da sie ausschließ-
        lich in den Anlagen zum stenografischen Protokoll die-
        ses Sitzungstages stattfindet.
        Dabei wäre eine breitangelegte Diskussion zu Wahlen
        und zur Beteiligung des Volkes an politischen Entschei-
        dungen angebracht. Aber die Regierung und die Koali-
        tionsfraktionen gehen einer solchen Auseinandersetzung
        bewusst aus dem Weg, indem sie die heute am Donnerstag
        zu debattierenden Gesetze in einer Nacht- und Nebelaktion
        von Dienstag auf Mittwoch den Abgeordneten haben zu-
        kommen lassen, und das nur, weil sich SPD und Union
        nicht auf eine Regelung zu den Überhangmandaten eini-
        gen konnten.
        Wie soll man denn da noch kritisch prüfen, was einem
        auf den Tisch gelegt wurde? Wenn nicht einmal die Ver-
        treterinnen und Vertreter des eigentlichen Souveräns die
        Gelegenheit erhalten, sich mit den geplanten Änderun-
        gen auseinanderzusetzen, kann man auch nicht wirklich
        erwarten, dass sich die Menschen hier im Lande mit dem
        Gegenstand befassen. Dabei geht es sie etwas an, wenn
        sich ihre derzeit einzige Möglichkeit, politisch zu ent-
        scheiden, ändern soll. Es wäre auch kein Zacken aus der
        Krone gebrochen, wenn die Debatte ins kommende Jahr
        verschoben worden wäre.
        Die Änderungen im Wahlprüfungsgesetz lassen sich
        abhaken; aber wir brauchen eine breitangelegte Diskus-
        sion über den veränderten Zuschnitt der Wahlkreise: Es
        deutet sich doch an, dass im Laufe der Jahre – wenn wei-
        terhin viele Menschen aus den ländlichen Gebieten, vor
        allem im Osten, abwandern – diesen Landstrichen auch
        weniger Wahlkreise, sprich: Abgeordnete, zustehen. Das
        läuft darauf hinaus, dass deren Interessen hier im Bun-
        destag immer weniger vertreten werden können. Das
        kann man nicht einfach so hinnehmen.
        Im Bundeswahlgesetz fehlt außerdem eine konkrete
        Regelung, um Wahlmanipulationen zu verhindern und
        die Kontrolle von Wahlergebnissen geräteunabhängig si-
        cherzustellen, wie im Antrag der Linksfraktion gefor-
        dert. Hier muss dringend nachgebessert werden.
        Auch die Änderungen im Wahl- und Abgeordneten-
        gesetz sind an der einen oder anderen Stelle problema-
        tisch und müssen öffentlich diskutiert werden. Ich nenne
        hier nur die rückwirkende Entfristung beim Wahlrecht
        für im Ausland lebende Deutsche – bisher war nach
        25 Jahren Schluss. Sie könnte dazu führen, dass ein NS-
        Kriegsverbrecher, der nach Südamerika abgehauen ist,
        jetzt wieder in unserem Land wählen darf.
        In diesem Zusammenhang müssen wir zudem darüber
        streiten, weshalb Menschen, die seit Jahrzehnten in
        Deutschland leben, weiterhin keine Möglichkeit erhalten
        sollen, hier auch zu wählen. Teilhabe an demokratischen
        Prozessen und politischen Entscheidungen muss auch
        für diese Menschen gewährleistet sein!
        Anlage 19
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Bodenprivatisierung
        neu ausrichten (Tagesordnungspunkt 26)
        Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Mit der Drucksache
        16/7135 hat uns die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
        zum Jahresende noch ein kleines Geschenk in unsere ge-
        putzten Nikolausstiefel gelegt: die Neuausrichtung der
        Bodenprivatisierung. Das Thema hat uns im Ausschuss
        Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ja
        schon wiederholt beschäftigt. Also nun auf ein Neues im
        kommenden Jahr. So wenig ich unserer Diskussion im
        ELV-Ausschuss vorgreifen möchte: Auf dieses „Ge-
        schenk“ hätten wir gut verzichten können.
        Die bisherige Vermarktung landwirtschaftlicher Flä-
        chen, insbesondere in Ostdeutschland nach der Wieder-
        vereinigung, ist durchaus eine Erfolgsgeschichte. Sie hat
        dazu beigetragen, landwirtschaftliche Betriebe in Ost-
        deutschland anzusiedeln und unter schweren Bedingun-
        gen marktfähig zu erhalten bzw. konkurrenzfähig zu ma-
        chen. Zahlreiche Arbeitsplätze wurden gesichert und
        sind zunehmend sicher. Und das unter dem erschweren-
        den Aspekt des europäischen Wettbewerbs und der EU-
        Osterweiterung.
        Nun präsentiert uns die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
        nen ein bürokratisches Monstrum, in dem zahlreiche Be-
        dingungen an die Käufer der möglichen Restflächen ge-
        knüpft werden. Eine Neuausrichtung ist das wirklich
        nicht, weit eher jedoch eine zusätzliche Verbürokratisie-
        rung mit einem dafür noch zu schaffenden notwendigen
        Kontroll- und Verwaltungsaufwand unvorstellbaren
        Ausmaßes. So sollen die möglichen Betriebskonzepte
        innerhalb einer Frist von 20 – ich wiederhole das lang-
        sam zum Mitschreiben: 20 – Jahren geprüft werden, und
        es kann vom Kaufvertrag eventuell zurückgetreten wer-
        den, wenn vom Konzept erheblich abgewichen wird.
        Statt bürokratischer Maßnahmen plädiere ich für die
        tatsächliche Stärkung der landwirtschaftlichen Betriebe,
        besonders in Ostdeutschland. So müssen verstärkter als
        bisher der regionale Markt und der Absatz gefördert
        werden. Die Erzeugung von Bioprodukten aus der Re-
        gion ist in regionalen Kreisläufen zu verbessern. So blei-
        ben die Unternehmensgewinne in der Region. Diese
        Aufgaben sind jedoch nicht durch die geförderte Neu-
        ausrichtung, der Bodenprivatisierung zu erzielen.
        Die Bodenprivatisierung stellt eine durchaus lösbare
        und überschaubare Maßnahme dar und sollte nicht mehr
        nach neuen Regularien erfolgen, die eher zu einer Verzö-
        gerung beitragen werden als die Privatisierung so schnell
        wie möglich abzuschließen. Mit der Bodenprivatisierung
        wird bereits den ökonomischen, ökologischen, struktu-
        rellen und eigentumsrechtlichen Besonderheiten Rech-
        nung getragen, und auch im Koalitionsvertrag ist verein-
        bart, dass bei der Privatisierung der Treuhandflächen die
        agrarstrukturellen Interessen der neuen Länder Berück-
        sichtigung finden. Und dies geschieht.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14087
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die Bundesregierung ist sich der ökonomischen und
        sozialen Bedeutung der Landwirtschaft in den neuen
        Ländern bewusst und versucht, mit der bestehenden Pri-
        vatisierungspolitik die wirtschaftliche Tätigkeit der land-
        wirtschaftlichen Betriebe dauerhaft zu sichern. Sie be-
        rücksichtigt zudem die Interessen derjenigen Betriebe,
        denen eine Sicherung der Produktionsgrundlage durch
        Kauf noch nicht möglich ist, weil sie nicht über ausrei-
        chend liquide Mittel verfügen. Dies gilt insbesondere für
        Unternehmen, die in Wertschöpfung und damit Arbeits-
        plätze im ländlichen Raum investieren. Diese Betriebe
        sind besonders auf eine längerfristige Pacht angewiesen,
        um eine mittelfristige Planung gewährleisten zu können.
        Aufgrund dieser Tatsache und im Sinne eines rei-
        bungslosen Ablaufes der Veräußerungen werden ein
        Großteil der circa 600 000 Hektar landwirtschaftlicher
        Flächen auch weiterhin verpachtet. Insofern wird die
        BVVG Flächen, deren langfristige Pachtverträge ab
        1. Januar 2007 auslaufen, nur zum Teil bei Auslaufen
        der Pachtverträge zur Neuvergabe ausschreiben. Mit
        dem Zusammenwirken aus Verpachtung und Verkauf
        wird der Spielraum landwirtschaftlicher Unternehmen
        für anders produktive Investitionen geschont. Detailliert
        bedeutet dass, das von den noch verfügbaren rund
        600 000 Hektar nur circa 350 000 zur Veräußerung zur
        Verfügung stehen. Davon sollen nicht mehr als
        25 000 im Jahr zum Verkehrswert verkauft werden.
        Etwa 250 000 Hektar werden für den begünstigten Er-
        werb nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleis-
        tungsgesetz (EALG) benötigt. Die entsprechenden Kauf-
        optionen sind an den Bestand langfristiger Pachtverträge
        gebunden und enden mit der Laufzeit dieser Verträge
        größtenteils im Zeitraum zwischen 2010 bis 2014. Neue
        Kaufoptionen nach dem EALG werden nicht begründet
        und bestehende nicht verlängert. Das bedeutet, dass der
        begünstigte Flächenerwerb im Wesentlichen bis zum
        Ende des Jahres 2014 abgeschlossen sein wird.
        Obwohl als Vergabeverfahren grundsätzlich die öf-
        fentliche Ausschreibung verwendet werden soll, sind
        auch nach geltendem Recht Direktvergaben an Pächter
        und beschränkte Ausschreibungen für Unternehmen mit
        arbeitsintensiven Betriebsformen möglich. So sollen zur
        Vermeidung von Wettbewerbsnachteilen pro Jahr
        2 000 Hektar im Wege dieser beschränkten Ausschrei-
        bungen zum Kauf oder zur Pacht für diese Unternehmer
        zur Verfügung stehen. Im Rahmen der bestehenden Pri-
        vatisierung kann keinesfalls davon die Rede sein, dass
        landwirtschaftsferne gegenüber landwirtschaftlichen
        Unternehmen bevorzugt werden, da überhaupt nur ein
        geringer Teil jedes Jahr zum Verkauf steht und der Groß-
        teil für einen vergünstigten Erwerb nach dem EAGL
        vorgesehen ist.
        Selbstverständlich werden wir im Ausschuss noch
        sehr detailliert die Dinge besprechen, und ich freue mich
        auf die Diskussion im Landwirtschaftsausschuss.
        Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grü-
        nen: Ihr Anliegen, dass wir eine möglichst große Wert-
        schöpfung in der Landwirtschaft der neuen Bundeslän-
        der unterstützen wollen, ist richtig. Selbstverständlich ist
        die Schaffung von vielen Arbeitsplätzen eine deutlich
        positive Indikation. Die Ausstattung landwirtschaftlicher
        Unternehmen mit Boden ist ein entscheidender Faktor –
        übrigens nur ein entscheidender Faktor.
        Die von Ihnen gemachten Vorschläge würden zu ei-
        nem hyperbürokratischen Monstrum führen, das von den
        zuständigen Behörden kaum beherrschbar und nicht
        rechtssicher wäre. Es wäre zudem mit europäischem
        Recht unvereinbar. Mein Fazit lautet deshalb: Ihr Anlie-
        gen ist zwar nachvollziehbar, aber die Mittel sind völlig
        unzweckmäßig.
        Dr. Gerhard Botz (SPD): Gleich zu Beginn meines
        Beitrages will ich klarstellen, dass meine Fraktion den
        Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Neuausrichtung
        der Bodenprivatisierung ablehnen wird.
        Mit folgenden Begründungen kommen wir zu dieser
        klaren Entscheidung. Die Antragsteller schränken den
        tatsächlich vonseiten der Bundesregierung bestehenden
        Handlungsspielraum zu Recht selbst ein, da sie auch auf
        den „verfassungs- und europarechtlichen Zulässigkeits-
        spielraum“ hinweisen.
        In der Tat ist allen mit der Thematik Vertrauten klar,
        dass die EU-Kommission seit der Entschädigungs- und
        Ausgleichsleistungsgesetzgebung und bei allen weiteren
        Novellen äußerst kritisch auf den damit auf einen sehr
        eingeschränkten Personenkreis zugeschnittenen Subven-
        tionssachverhalt geschaut hat. Und dies wird die EU-
        Kommission auch weiterhin verstärkt tun, da die dama-
        lige historisch untersetzte Begründung inzwischen an
        Überzeugungskraft verliert.
        Entscheidend ist aber der folgende Sachverhalt: Seit
        dem 1. Januar 2007 gilt eine Verwaltungsvereinbarung
        zwischen Bund und Ländern bezüglich der weiteren Pra-
        xis im Privatisierungskonzept. Diese hat zwei wichtige
        Schutzkomponenten für bisherige Pächter zum Inhalt,
        die nach einjähriger Einschätzung, auch der Länder, sehr
        gut tragen. Die erste Schutzkomponente besagt, dass bis-
        herige Pachtbetriebe nicht mehr als 20 Prozent der ge-
        pachteten Flächen verlieren dürfen, um nicht in ihrer
        Existenz gefährdet zu werden. Die zweite Schutzkompo-
        nente erlaubt den dauerhaften Erwerb von 50 Prozent der
        gepachteten Flächen in einem Schritt durch die bisheri-
        gen Pächter.
        Die Intention des Antrages insgesamt erweckt den
        Verdacht, man neige – zwar im Interesse einer anderen,
        aber eher kleinen Klientel – zu einer Rückkehr zur Plan-
        wirtschaft. Die grundsätzliche und endgültige Zielstel-
        lung der Privatisierungspolitik der BWG muss aber eine
        Ausrichtung auf den Wettbewerb bleiben. Das natürlich
        umso mehr, als wir alle landwirtschaftlichen Unterneh-
        men im Zuge der letzten europäischen Agrarreform
        Schritt für Schritt in den Wettbewerb am Markt hinein-
        führen.
        14088 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Eine der Intentionen des Antrags von Bündnis 90/Die
        Grünen, die stärkere Berücksichtigung arbeitsintensiver
        Betriebsformen bei weiterer Flächenvergabe, will der
        Bund ohnehin durch Direktvergaben und beschränkte
        Ausschreibungen weiterhin möglich machen. Eine gene-
        relle Privilegierung ökologisch wirtschaftender Betriebe
        widerspräche wiederum dem EU-Recht. Wenn eine sol-
        che politische Zielstellung von der Bundesregierung ver-
        folgt werden würde, müsste dazu ein spezielles Förder-
        programm aufgelegt und von der Kommission in Brüssel
        genehmigt werden. Nicht zuletzt würde ein Vorgehen,
        wie es Bündnis 90/Die Grünen hier vorschlagen, mit der
        Prüfung, Genehmigung und noch bis 20 Jahre nach Ver-
        tragsabschluss vorzunehmender Kontrolle einen unange-
        messen hohen Verwaltungsaufwand nach sich ziehen.
        Ein solches Vorgehen widerspricht aber dem von der
        Großen Koalition angestrebten Abbau von Bürokratie
        und Verwaltung.
        Damit kann man zum entscheidenden Fazit kommen:
        Dort, wo es praktikable Intentionen des Antrages gibt,
        hat die Bundesregierung bereits konkret gehandelt. Dort,
        wo die Zielstellung eindeutig die Umsetzungsmöglich-
        keiten verletzt, lehnen wir die beantragten Punkte ab.
        Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Der Antrag der
        Grünen behandelt zwar ein wichtiges Thema, doch er
        löst nicht die Probleme bei der Bodenprivatisierung.
        Die Forderung nach Bevorzugung arbeitsintensiver
        Betriebe geht ins Leere. Jeder Betriebsteil muss für sich
        wirtschaftlich sein, damit der Betrieb zukunftsfähig ist.
        Hier sollte der Staat bei der Flächenvergabe nicht falsche
        Anreize setzen.
        Ebenso wenig sinnvoll ist die Forderung, Betriebe mit
        höchstens zwei Großvieheinheiten zu bevorzugen. Das
        Land Mecklenburg-Vorpommern hat bei der Verpach-
        tung seiner Landesflächen einmal das Gegenteil gemacht
        und als Vergabekriterium einen Mindestviehbesatz vor-
        geschrieben, um so Vieh haltende Betriebe zu fördern.
        Das hat ebenso wenig funktioniert. Solche Regelungen
        schaffen nur neue Ungerechtigkeiten und konservieren
        Strukturen. Moderne Landwirtschaft, vor allem junge
        Landwirte brauchen aber Strukturwandel.
        Der Sinn der Forderung, diversifizierte Betriebe zu
        bevorzugen, erschließt sich auch nicht. Sollen wir jetzt
        vom grünen Tisch aus in die Konzepte der Unternehmer
        eingreifen? Soll ich also künftig den Edeka vor Ort oder
        die Bäckerei kaufen oder Touristen beherbergen, damit
        ich Anspruch auf den Erwerb von staatlichen Flächen
        habe? Nein, hier sollten wir uns tunlichst heraushalten.
        Die öffentliche Hand hat in den letzten 40 Jahren genug
        falsche Marktlenkung betrieben, in Ost wie in West. Da-
        mit muss endlich Schluss sein. Lassen wir doch die
        Landwirte darüber entscheiden, wo sie ihren unterneh-
        merischen Erfolg sehen.
        Das gilt auch für die Forderung, Ökolandbetriebe zu
        bevorzugen. Die FDP hat überhaupt nichts gegen den
        Ökolandbau. Im Gegenteil, angesichts der Marktlage
        halten wir es durchaus für erfolgversprechend in den
        Ökolandbau zu investieren. Wir haben nur etwas dage-
        gen, wenn die öffentliche Hand durch ihre Förderung
        glaubt, Signale dafür setzen zu müssen, was objektiv die
        „richtige Landwirtschaft“ ist. Es gibt nur einen der quali-
        fiziert ist, dies im Einzelfall zu entscheiden: der Land-
        wirt, der sein Geld in seinen Betrieb investiert.
        Angesichts der Diskussion um den Beitrag der Land-
        wirtschaft zum Klimawandel bzw. Klimaschutz muss
        man sich fragen, ob der Ökolandbau in Bezug auf das
        Ziel Klimaschutz wirklich der Weisheit letzter Schluss
        ist. Jedenfalls sollten wir nicht auch noch zusätzliche
        Anreize setzen, indem wir nur noch diesen Betrieben
        staatliche Flächen verpachten oder verkaufen wollen.
        Während man die Forderungen des grünen Antrags
        soweit ja noch unter den üblichen grünen ideologischen
        Forderungen abhaken kann, bin ich doch einigermaßen
        sprachlos über die Forderung, dass Kaufverträge rückab-
        gewickelt werden sollen, wenn ein Landwirt innerhalb
        von 20 Jahren von seinem Betriebskonzept abweichen
        sollte. Ich konnte erst gar nicht glauben, was ich da las.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen, denken sie doch bitte
        einmal ins Jahr 1987 zurück. Wollen sie wirklich verlan-
        gen, dass niemand auf Marktentwicklungen 20 Jahre
        lang reagieren darf? Denken sie doch alleine einmal zu-
        rück, wie sich die staatlichen Rahmenbedingungen in
        den letzten 20 Jahren verändert haben. Über diesen
        Punkt sollten die Grünen noch einmal ganz in Ruhe
        nachdenken. Dann werden sie sicher einsehen, das Sie
        sich hier vertan haben. Die FDP jedenfalls möchte nicht
        zurück in die DDR.
        Ebenso wenig, wie die obigen Forderungen sinnvoll
        sind oder funktionieren, ist die Forderung nach der Orts-
        ansässigkeit in letzter Konsequenz sinnvoll. Schon die
        bisherige gesetzliche Regelung ist Gegenstand vieler
        heftiger Diskussionen gewesen. Zu Recht hat auch der
        Bauernverband hier Korrekturen verlangt. Gerade bei
        der Erbfolge hat das Ortsansässigkeitsprinzip zu erhebli-
        chen Problemen geführt.
        Zu Recht kritisieren die Grünen und die Bauernver-
        bände allerdings, dass landwirtschaftsferne Kaufinteres-
        senten Landwirten vor Ort das Land streitig machen.
        Doch die Antwort darauf kann doch nicht sein, sich in
        die Betriebskonzepte der Landwirte einzumischen. Ge-
        rade die Konkurrenz zu den Kaufinteressenten, die nach-
        wachsende Rohstoffe für Biogasanlagen anbauen wol-
        len, hat doch nicht die Ursache in den Regelungen zur
        Bodenprivatisierung in den neuen Ländern, sondern in
        der Überforderung des Biogases in ganz Deutschland.
        Wenn wir stattdessen bei der EEG-Novelle die Wirt-
        schaftskreisläufe – also die Nutzung von Reststoffen der
        Land- und Ernährungswirtschaft, wie insbesonde Gülle –
        fördern und nicht ausschließlich nachwachsende Roh-
        stoffe, werden wir Druck vom Markt nehmen. Solche
        Folgen kommen nämlich dabei heraus, wenn der Staat
        aus vermeintlich übergeordneten Zielen, ohne das Ganze
        zu betrachten, einzelne Förderungen implementiert. Gut
        gemeint ist auch hier das Gegenteil von gut gemacht.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14089
        (A) (C)
        (B) (D)
        Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Nicht nur die
        Erzeugerpreise steigen aktuell – was ja erfreulich ist –,
        sondern auch die Produktionsmittelkosten und die Bo-
        denpreise, was betriebswirtschaftlich die Freude über
        den Anstieg der Erzeugerpreise zumindest deutlich
        dämpft. Die steigenden Bodenpreise kriegen zuallererst
        die Landwirtschaftsbetriebe zu spüren, die Pachtland be-
        wirtschaften. In Ostdeutschland beträgt der Anteil von
        Pachtland im Durchschnitt 80 Prozent. Die kommen zu-
        erst in wirtschaftliche Schwierigkeiten, und zwar auf
        zwei Wegen: erstens über das steigende Pachtpreisni-
        veau und zweitens über die verteuerten Landzukäufe, die
        für die meist eigenkapitalschwachen Betriebe besonders
        nötig, aber gleichzeitig aus Liquiditätsgründen schwierig
        zu leisten sind.
        Das Ansteigen der Bodenpreise wird durch verschie-
        dene Faktoren ausgelöst. Steigende Gewinne, vor allem
        im Ackerbau, sowie wirtschaftlich positive Erwartungen
        für den Agrar- und Agrarenergiesektor tragen dazu bei.
        Aber auch das Agieren der Nachfolgegesellschaft der
        Treuhand, der BVVG, trägt offensichtlich dazu bei. Da-
        bei ist es nicht nur der von uns immer kritisierte Privati-
        sierungszwang der BVVG, sondern auch die Art und
        Weise, wie dieser umgesetzt wird. Es geht zum Beispiel
        um die öffentliche Ausschreibung großer Bodenlose und
        um das Ausschreibungsverfahren selbst, nachdem der
        Höchstbietende den Zuschlag bekommt. Schon das al-
        lein wirkt angesichts der nur begrenzten Verfügbarkeit
        der Ressource Boden preistreibend.
        Nach langen Jahren stagnierender Boden- und Grund-
        stückspreise geht es aktuell um einen neuen Spekula-
        tionsmarkt. Was ist es anderes als Bodenspekulation,
        wenn in Nordrhein-Westfalen vor einigen Wochen eine
        eigene Investitionsgesellschaft zum Landkauf in Ost-
        deutschland gegründet wurde mit dem Ziel, mindestens
        18 000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche zu erwer-
        ben? In der Nähe von Prenzlau im Nordosten Branden-
        burgs standen Grundstücksgrößen von über 100 Hektar
        zum Verkauf.
        Zu dieser Entwicklung tragen die Verkäufe der
        BVVG als größter öffentlicher Anbieter zumindest bei.
        Die Grünen beleuchten nun in ihrem Antrag die Ver-
        käufe der BVVG, die im Auftrag des Bundesfinanz-
        ministeriums enteignete und in das staatliche Eigentum
        der DDR übergegangene Flächen verkauft bzw. zwi-
        schenzeitlich verpachtet. Den politischen Auftrag an die
        BVVG zum Flächenverkauf haben wir immer kritisiert.
        Die Beibehaltung des öffentlichen Eigentums würde aus
        unserer Sicht das gesellschaftliche Interesse an einer
        nachhaltigen Landnutzung garantieren. Auch die Folgen
        der Kapitalbindung in die Kaufsumme ist eher negativ
        für die Betriebe – vorausgesetzt, die Pachtrechte sind
        längerfristig gesichert. Das Anliegen der Grünen, die
        Bodenprivatisierung neu auszurichten, kann daher für
        uns eigentlich nur Argumente liefern, wenigstens die
        dramatischsten Risiken des Flächenverkaufs durch die
        BVVG abzuwenden.
        Natürlich ist es inakzeptabel, wenn Boden aus öffent-
        lichem Eigentum auch noch nach Kriterien verteilt wird
        wie den gebotenen Höchstpreis eines beliebigen Anbie-
        ters. Weitere Faktoren wie geschaffene oder erhaltene
        Arbeitsplätze, ökologische Bewirtschaftungskriterien,
        ökologischer Landbau oder Grad der Diversifizierung
        wären aber in jedem Fall gesellschaftliche Anforderun-
        gen an die Flächennutzer, denn Boden ist eine natürliche
        Ressource.
        Aber gerade weil klar ist, dass mit dem Eigentum am
        Produktionsmittel Boden wesentliche Weichen für die
        Entwicklung auf dem Land gestellt werden, fragt die
        Linke noch einmal nach: Warum muss mit der Privatisie-
        rung des öffentlichen Bodeneigentums überhaupt ein Ri-
        siko eingegangen werden?
        Das Mindeste ist aber in jedem Fall die Verhinderung
        der Bodenspekulation. Verlierer wären viele Ortsansäs-
        sige, die oft direkt oder indirekt von den Einkommens-
        möglichkeiten in der Landwirtschaft abhängig sind. Ar-
        beitsplätze, existenzsichernd bezahlt, sind in den
        ländlichen Räumen überlebenswichtig. Dörfer ohne
        Landwirtschaft sind undenkbar – eine Landwirtschaft
        ohne Dörfer allerdings auch.
        Aber die BVVG ist für die Entwicklung des Boden-
        marktes nicht allein verantwortlich. Auch viele kleinere
        Landbesitzer verkaufen ihren Grund und Boden, zum
        Teil weil sie aus ihrer sozialen Situation heraus dazu ge-
        zwungen sind, zum Teil weil die gestiegenen Boden-
        preise einen Anreiz selbst darstellen.
        Mit dem Grundstückverkehrsgesetz hat der Gesetzge-
        ber ein Instrument geschaffen, um ungewollte Eingriffe
        in die Agrarstruktur über Bodenverkäufe zu verhindern.
        Die Linke hat gerade eine Studie zur Anwendung des
        Grundstückverkehrsgesetzes anfertigen lassen, die unter
        anderem etwas umfassender die Entwicklung auf den
        Bodenmärkten nachzeichnet. Dabei wird deutlich, dass
        das vor 50 Jahren in Westdeutschland verabschiedete
        Gesetz sehr wirksam angewendet werden kann gegen
        ungerechte Bodenverteilung und Bodenspekulation.
        Auch aktuelle Entwicklungen in der EU-Rechtsspre-
        chung erlauben durchaus staatliche Eingriffe und Rege-
        lungen, damit Grund und Boden nicht zu einer Spekula-
        tionsware verkommen.
        Finanzheuschrecken und andere nichtlandwirtschaft-
        liche Interessenten sind oft weitaus besser in der Lage,
        Höchstpreise für Boden zu bezahlen. Das ist historisch
        auch nichts Neues.
        Genau das war der Sinn des Grundstückverkehrsge-
        setzes: der Landwirtschaft als eigenem Wirtschaftsbe-
        reich, dessen Grundlage die Flächennutzung ist, dauer-
        haft die Existenzsicherung zu ermöglichen. Nur ist
        dieses Gesetz offensichtlich seit 1990 in den neuen Bun-
        desländern nur unzureichend oder gar nicht zur Anwen-
        dung gekommen.
        Eine weitere Erkenntnis aus dem Gutachten: das Ver-
        kaufsgebaren der BVVG muss dringend überprüft wer-
        14090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        den. Und eines steht auch fest: Die BVVG ist auch als
        staatliche Behörde nicht per se vom Grundstückver-
        kehrsgesetz befreit.
        Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        Entwicklung zukunftsfähiger ländlicher Räume in
        Deutschland ist eine zentrale Aufgabe, der wir uns in der
        Politik gegenübersehen. Schließlich gibt uns die Verfas-
        sung auf, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Re-
        gionen dieser Republik anzustreben. Angesichts der Tat-
        sache, dass der Anteil der alten Menschen in unserer
        Gesellschaft stetig zunimmt und dass verhältnismäßig
        mehr Alte in ländlichen als in urbanen Regionen leben,
        sind wir mit der großen Herausforderung konfrontiert,
        die politischen Rahmenbedingungen so zu gestalten,
        dass diese Menschen auf dem Lande auch in Zukunft
        noch lebenswerte Strukturen vorfinden.
        Lebenswerte Strukturen im ländlichen Raum, das sind
        vor allem Arbeit und Daseinsvorsorge. Die Politik muss
        also die Steigerung der regionalen Wertschöpfung zum
        Ziel haben, und zwar durch Schaffung zusätzlicher Ar-
        beitsplätze und neuer Einkommensperspektiven. So
        kann es auch gelingen, wieder mehr junge Menschen auf
        dem Lande zu halten. Dabei darf man nicht nur den seit
        Jahren wachsenden Dienstleistungsbereich im Blick ha-
        ben, sondern das gilt auch für die Land- und Forstwirt-
        schaft, die die ländlichen Räume als gewachsene Kultur-
        landschaften in besonderer Weise prägen.
        Voraussetzung für jeden erfolgreich wirtschaftenden
        Landwirtschaftsbetrieb ist die ausreichende Verfügbar-
        keit des zu bearbeitenden Bodens. Mit dem Steigen der
        Preise für agrarische Rohstoffe – erstmals seit Jahrzehn-
        ten – gerät der Boden zunehmend in den Fokus auch
        landwirtschaftsferner Kaufinteressenten. Und auch in-
        nerhalb der land- und forstwirtschaftlichen Konkurrenz
        wird der Boden zunehmend zu einem knappen Gut, was
        seinen Marktpreis nach oben schnellen lässt.
        Die hohen Bodenpreise in Verbindung mit dieser
        Konkurrenzsituation wirken sich auf den Strukturwandel
        in der Landwirtschaft insofern aus, als sich Wertschöp-
        fung auf immer weniger Akteure konzentrieren wird und
        Arbeitsplätze weiter abgebaut werden. Eine verantwor-
        tungsvolle Politik für ländliche Räume aber muss auf
        den Erhalt einer Agrarstruktur setzen, die zur Mehrung
        der Wertschöpfung für viele beiträgt und Arbeitsplätze
        für die Menschen vor Ort initiiert.
        Nur wenn ortsansässige Betriebe über die nötige Flä-
        che für ein existenzsicherndes Wirtschaften verfügen,
        kann die steigende Tendenz der Betriebsaufgaben aufge-
        halten und eine vielfältige Agrarstruktur erhalten wer-
        den. Wirtschaftlich solide Agrarbetriebe, die regional
        verwurzelt sind, sind ein Rückgrat der ländlichen Ent-
        wicklung. Deshalb müssen diese Betriebe die Chance er-
        halten, ihre Flächen arrondieren zu können, wenn Boden
        in der Region angeboten wird.
        Bei der Frage der Bodenverkäufe kommt dem Bund
        eine besondere Verantwortung zu, da er noch circa
        535 000 Hektar landwirtschaftliche und circa 130 000 Hek-
        tar forstwirtschaftliche Nutzfläche zur Privatisierung be-
        reithält.
        Mit unserem Antrag, die Bodenprivatisierung neu
        auszurichten, setzen wir uns für eine Neugestaltung der
        politischen Rahmenbedingungen bei der Privatisierung
        bundeseigener Land- und Forstwirtschaftsflächen ein.
        Wir fordern mit unserem Antrag, dass vor allem orts-
        ansässige land- und forstwirtschaftliche Betriebe zum
        Zuge kommen und arbeitsintensive Unternehmen bei der
        Vergabe bundeseigener Flächen besonders berücksich-
        tigt werden. Dazu gehören beispielsweise Tierhaltungs-
        betriebe mit einer flächengebundenen Tierhaltung von
        maximal 2 Großvieheinheiten (GV) pro Hektar, Be-
        triebe, die Ökologischen Landbau betreiben, oder diver-
        sifizierende Betriebe, die neben ihrer landwirtschaftli-
        chen Tätigkeit mindestens einen weiteren Betriebszweig
        wie Direktvermarktung oder „Urlaub auf dem Bauern-
        hof“ etabliert haben. Um Betriebe, die diese Kriterien
        zum Zeitpunkt des Landerwerbs noch nicht erfüllen,
        nicht zu benachteiligen, wollen wir die Vorlage eines
        entsprechenden Betriebskonzeptes zur Grundlage der
        Verkaufsverhandlung machen, so wie es bereits heute in
        der Flächenerwerbsverordnung geregelt ist.
        Anlage 20
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Beschlussempfehlung und Bericht zu den
        Anträgen: Indisch-Deutschen Studierenden-
        und Wissenschaftleraustausch fördern –
        Mobilitätsprogramm zum Jahr der Geistes-
        wissenschaften in Deutschland
        – Antrag: Indisch-Deutschen Studierenden-
        und Wissenschaftleraustausch fördern –
        Mobilitätsprogramm zum Jahr der Geistes-
        wissenschaften in Deutschland
        (Tagesordnungspunkt 29 a und b)
        Marcus Weinberg (CDU/CSU): Der erst seit dem
        22. November 2007 vorliegende Antrag der FDP (16/7262)
        ist mit der Annahme des Koalitionsantrages (16/6945) zum
        jetzigen Zeitpunkt überholt und eine Debatte daher un-
        nötig.
        Deutschland braucht mehr Nachwuchs mit Indien-
        Kompetenz, das ist der Grundgedanke der vorgelegten
        Anträge: „Indisch-Deutschen Studierenden- und Wissen-
        schaftleraustausch fördern – Mobilitätsprogramm zum
        Jahr der Geisteswissenschaften in Deutschland“. Der
        Antrag der Koalitionsfraktionen unterscheidet sich von
        den Anträgen der anderen Fraktionen insbesondere
        durch entwicklungspolitische Komponenten. Zudem
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14091
        (A) (C)
        (B) (D)
        nimmt er aktuell Bezug auf die Indien-Reise der Bundes-
        kanzlerin (29. Oktober bis zum 1. November 2007).
        Die gemeinsame Delegationsreise des Bildungsaus-
        schusses war sehr erfolgreich, besonders vor dem Hin-
        tergrund der Einmaligkeit der Wissenschaftsminister-
        konferenz außerhalb der EU, der Vereinbarungen
        zwischen Bundesministerin Schavan und dem indischen
        Wissenschaftsminister Sibal, über 500 000 Euro im Rah-
        men des 7. Europäischen Forschungsrahmenprogramms
        für Anbahnungsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen,
        sowie der Vereinbarungen zum Aufbau eines deutsch-in-
        dischen Wissenschafts- und Technologiezentrums.
        In Indien habe ich ein starkes Interesse an der Zusam-
        menarbeit mit Deutschland festgestellt. Dieses Interesse
        und das hohe Ansehen, das Deutschland in Indien hat,
        müssen wir nutzen, denn von der gegenseitigen Mobili-
        tät und vom Austausch können beide Seiten profitieren.
        Daher ist zu begrüßen, dass die Bundeskanzlerin,
        Dr. Angela Merkel und die Bundesministerin für Bil-
        dung und Forschung, Dr. Annette Schavan, im Jahr 2007
        die Bedeutung Indiens als Kooperationspartner unterstri-
        chen und mit der Einleitung konkreter Maßnahmen vor
        Ort den bilateralen Wissenschaftsbeziehungen neue Im-
        pulse verliehen haben, zum Beispiel Verabschiedung der
        mobilen Wissenschaftsausstellung, sogenannter Science-
        Express.
        Der Vernetzung junger indischer Wissenschaftler mit
        deutschen Kollegen sowie der laufenden Angebote und
        der konkreten Einbindung der Gäste in Forschungspro-
        jekte und wissenschaftliche Einrichtungen wird mit
        Recht eine hohe Bedeutung zugemessen.
        Vor diesem Hintergrund wird die Bundesregierung auf-
        gefordert, in Zusammenarbeit mit den Wissenschafts- und
        Mittlerorganisationen, wie der Deutschen Forschungsge-
        meinschaft (DFG), der Alexander-von-Humboldt-
        Stiftung (AvH) und dem Deutschen Akademischen Aus-
        tauschdienst (DAAD), den deutsch-indischen Studieren-
        den- und Wissenschaftleraustausch vor allem in den
        Geisteswissenschaften durch ein Mobilitätsprogramm zu
        fördern.
        Die Delegationsreise zeigte allerdings auch Mängel in
        der deutsch-indischen Zusammenarbeit auf. Ein Aufent-
        halt indischer Studierender in Deutschland beispiels-
        weise scheitert häufig an den eingeschränkten finan-
        ziellen Mitteln. Deutschland ist aber für indische
        Wissenschaftler nur dann attraktiv, wenn ihnen langfris-
        tige Arbeits- und Aufenthaltsmöglichkeiten eröffnet
        werden. Ferner tendiert die Fachauswahl indischer Stu-
        dierender stark in Richtung mathematisch-naturwissen-
        schaftlicher Fächer. Andererseits nehmen zu wenig
        deutsche Studierende aller Fachrichtungen einen Stu-
        dienaufenthalt in Indien war.
        Derzeit sind in Indien lediglich knapp 500 deutsche
        Studierende registriert. 1996 waren es sogar nur 200.
        Umgekehrt waren vor einigen Jahren noch 800 indische
        Studentinnen und Studenten in Deutschland eingeschrie-
        ben, heute sind es rund 4 000. Hier ist eine Verdoppe-
        lung der Zahlen anzustreben.
        Diese und viele andere ambivalenten Eindrücke wäh-
        rend der Indienreise haben mich überzeugt, Initiativen
        zur Verbesserung der Nachhaltigkeit der Kooperationen
        zu ergreifen und diese zu fördern. Deutsche Studierende
        müssten bereits in Deutschland die Chance haben, ihre
        „Indienkompetenz“ an Lehrstühlen der Indologie zu ent-
        wickeln. In diesem Zusammenhang fordern wir die Bun-
        desregierung auf, Gespräche mit Vertretern von Unter-
        nehmen zu führen und für die Kooperation zwischen
        Wirtschaft und Hochschulen, das Angebot von Praktika
        und anschließende Arbeitsmöglichkeiten sowie die Ein-
        richtung von Stiftungslehrstühlen für Indologie zu wer-
        ben. Die Bundesländer werden gebeten, die Möglichkei-
        ten eines Schüleraustausches zwischen Deutschland und
        Indien zu prüfen.
        Eine besondere Bedeutung kommt der Stärkung der
        Zusammenarbeit im Bereich der Umwelttechnologien
        zu; aber neben Ingenieuren und Naturwissenschaftlern
        ist auch eine Intensivierung des Austausches und der
        Kooperation von Geistes- und Sozialwissenschaftlern er-
        forderlich. Unter Bezug auf das „Jahr der Geisteswissen-
        schaften“ in Deutschland plädiere ich ausdrücklich für
        eine Intensivierung des Austausches und der Koopera-
        tion von Geistes- und Sozialwissenschaftlern, wie im
        Koalitionsantrag und den Oppositionsanträgen gefor-
        dert. Ziel ist es, deutsche Studierende aller Fachrichtun-
        gen und Studiengänge – Diplom-, Magister-, Staats-
        examens-, Bachelor- und Masterstudiengänge, auch
        Doktoranden und Wissenschaftler – für einen Studien-
        oder Forschungsaufenthalt in Indien zu begeistern. Auf
        diese Weise soll eine breite „Humusbildung“ möglichst
        schon bei jüngeren Studierenden und Nachwuchsfor-
        schern betrieben werden, auf die weiterführende Pro-
        jekte aufbauen können.
        Als flankierende Maßnahmen sind unter anderem In-
        dien-Tage an deutschen Hochschulen, Plakataktionen,
        Informations- und Studienreisen zu planen. Bestehende
        und neu zu gründende Kooperationsbeziehungen deut-
        scher und indischer Hochschulen und Forschungsein-
        richtungen sowie Kontakte einzelner Wissenschaftler,
        zum Beispiel DAAD- und AvH-Alumni, sollen als
        Schiene genutzt werden, Studierenden und Graduierten
        den Weg zu kürzeren und längeren Studien- und For-
        schungsaufenthalten in Indien zu bereiten. Gerade be-
        währte Muster wie ISAP (Internationale Studien- und
        Ausbildungspartnerschaften) oder PPP (Programme des
        Projektbezogenen Personenaustauschs) sollen hier als
        Grundlage dienen. Das Angebot soll für alle Fachberei-
        che offen sein.
        Viele Ideen, die der Koalitionsantrag, aber auch die
        Oppositionsanträge enthalten, werden bereits durch das
        auf Bitten des BMBF im Frühjahr 2007 vom DAAD
        vorgelegte Maßnahmenpaket „A New Passage to India“
        verwirklicht. Dieses Maßnahmenpaket mit einem Fi-
        nanzvolumen von insgesamt rund 4,3 Millionen Euro
        14092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        soll ab 2009 operationalisiert werden; dies wurde am
        30./31. Oktober 2007 in Delhi bekanntgegeben.
        Zu dem Maßnahmenpaket gehören neben der Aner-
        kennung der Studien- und Forschungsaufenthalte als re-
        gulären Bestandteilen des Studiums die Errichtung bina-
        tionaler Masterstudiengänge, Doppeldiplomen sowie die
        Errichtung eines Exzellenz-Zentrums „Ingenieur- und
        Umweltwissenschaften“ am „Indian Institute of Techno-
        logy“ (IIT) in Madras. Hier sollen deutsch-indische
        Forschungsprojekte umgesetzt sowie Kooperationen ko-
        ordiniert werden. Außerdem sollen an deutschen Hoch-
        schulen Zentren für zeitgenössische Indologie gegründet
        werden.
        Die deutschen Hochschulen, Forschungsinstitute oder
        Wissenschaftler können Fördermittel beantragen für die
        Studienaufenthalte ihrer jeweiligen Studierenden – Sti-
        pendien und Reisekostenpauschalen gemäß den üblichen
        Raten des DAAD – sowie Mittel für die ausländische
        Partnerhochschule zur Betreuung der entsandten deut-
        schen Studierenden während des Aufenthaltes in Indien.
        Die Geförderten erhalten für ihren Aufenthalt – bis zu ei-
        nem Jahr – von der Partnerhochschule einen Leistungs-
        nachweis. Die fachliche und allgemeine Betreuung der
        entsandten deutschen Studierenden wird zwischen Hei-
        mat- und Gasteinrichtungen abgestimmt.
        Die deutsch-indischen Wirtschaftsbeziehungen ha-
        ben sich in den letzten Jahren besonders dynamisch ent-
        wickelt. In nur drei Jahren, 2004 bis 2006, ist es gelun-
        gen, den bilateralen Handel von 5 Milliarden Euro auf
        10,4 Milliarden Euro zu verdoppeln. Auch bei den Di-
        rektinvestitionen können wir eine weitere Belebung fest-
        stellen – erfreulicherweise in jüngster Zeit auch von In-
        dien nach Deutschland. Allerdings sind die Potenziale
        hier bei weitem nicht ausgeschöpft: Konsequenterweise
        haben beide Regierungschefs im Rahmen des Indien-Be-
        suchs der Bundeskanzlerin Ende Oktober 2007 verein-
        bart, eine weitere Verdopplung des Handelsvolumens bis
        2012 anzustreben.
        Eine Intensivierung des Wissenschaftleraustauschs
        zwischen unseren Ländern kann auch einen wichtigen
        Beitrag zum Aufbau der wirtschaftlichen Zusammenar-
        beit leisten. Längere Lern- und Forschungsaufenthalte
        führen erfahrungsgemäß zu einer besonders engen Bin-
        dung an das Gastland, die auch nach Rückkehr in das
        Heimatland fortwirkt. Darüber hinaus kann ein solcher
        Aufenthalt auch zu einer engeren institutionellen Zusam-
        menarbeit von Wissenschafts- und Forschungseinrich-
        tungen in beiden Ländern beitragen. Dort, wo Forschung
        unternehmensnah stattfindet, können Forschungsergeb-
        nisse überdies direkt den beteiligten Unternehmen zu-
        gute kommen.
        Ulla Burchardt (SPD): Heute liegen zur abschlie-
        ßenden Beratung insgesamt vier Anträge mit derselben
        Zielsetzung vor: den Indisch-Deutschen Studierenden-
        und Wissenschaftleraustausch im Allgemeinen und den
        Austausch von Geisteswissenschaftlern im Besonderen
        mit einem Mobilitätsprogramm zu fördern.
        Ich möchte zunächst kurz auf ihre Vorgeschichte ein-
        gehen. Der Bildungs- und Forschungsausschuss hat in
        den vergangenen Jahren bewusst Länder im Umbruch,
        Schwellenländer als Ziele seiner Delegationsreisen aus-
        gewählt, um die Potenziale aber auch Hindernisse von
        Kooperationen in Bildung, Wissenschaft und Forschung
        und Möglichkeiten ihrer Förderung auszuloten. Im Jahr
        2004 besuchte er China, und für den Herbst 2007 war
        eine Reise nach Indien vorgesehen.
        Das „Indienjahr“ 2006 in Deutschland und vor allem
        das Jahr 2007 spielten eine herausragende Rolle für die
        Weiterentwicklung der strategischen Partnerschaft zwi-
        schen Deutschland und Indien. Vor dem Hintergrund der
        deutschen EU-Ratspräsidentschaft und des Ziels, auch
        die deutsch-indischen Partnerschaften in Bildung, Wis-
        senschaft und Forschung zu stärken, besuchte die Bil-
        dungs- und Forschungsministerin im Februar und die
        Bundeskanzlerin im Oktober Indien.
        Wir haben die Einladung von Frau Schavan daher
        gerne angenommen, denn die gemeinsame Reise einer
        großen politischen, Wissenschafts- und Wirtschaftsdele-
        gation setzt ein eindrucksvolles Zeichen, dass Deutsch-
        land über die Grenzen von Regierung und Parlament,
        über die Grenzen von Fraktionen hinweg stark an einer
        Vertiefung der indisch-deutschen Kooperationen interes-
        siert ist.
        Indien ist als größte Demokratie der Welt dabei, die
        Schwelle zu überspringen. Aber ein Land mit circa
        1,1 Milliarden Einwohnern, wovon knapp ein Viertel un-
        terhalb der Armutsgrenze von einem US-Dollar lebt, das
        Durchschnittseinkommen pro Person und Tag bei etwa
        1,5 US-Dollar liegt, 35 Prozent der Erwachsenen An-
        alphabeten sind, Hightechzeitalter und mittelalterliche
        Agrarstrukturen nebeneinander existieren, braucht Part-
        ner, um die eigenen Ressourcen ausschöpfen zu können.
        Deutschland könnte in Zukunft als Kooperationspartner
        eine größere Rolle spielen als bisher.
        Ich kann mir der Zustimmung der gesamten Aus-
        schussdelegation sicher sein, wenn ich hervorhebe, dass
        unsere Delegationsreise sehr erfolgreich war. Aufgrund
        der Ergebnisse der zahlreichen offiziellen und informel-
        len Gespräche mit Vertretern deutscher Forschungs- und
        Mittlerorganisationen, der Begegnungen mit hochmoti-
        vierten indischen Studierenden und Wissenschaftlern hat
        die Delegation bereits während der Reise beschlossen,
        sich mit einem gemeinsamen Antrag für die Stärkung
        des Studierenden- und Wissenschaftleraustausches zwi-
        schen Indien und Deutschland einzusetzen.
        Bildung, Wissenschaft und Forschung, eine aufge-
        klärte Wissensgesellschaft gehören mit zu den zentra-
        len Grundlagen für Wirtschaftswachstum und nachhal-
        tige Entwicklung. Wirtschaft und technologische
        Leistungsfähigkeit des Boom-Landes Indien entwi-
        ckeln sich rasant. Indien erbringt in den IuK-Technolo-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14093
        (A) (C)
        (B) (D)
        gien, der Raumfahrt und der Biotechnologie Spitzen-
        leistungen. Das BIP ist 2006/2007 um 9,2 Prozent
        gewachsen. Über 10 Millionen Studierende lernen an
        den Hochschulen.
        Aber: Das indische Hochschulsystem wird die interne
        Nachfrage nach universitärer Bildung nicht befriedigen
        können. Zurzeit studieren bereits über 150 000 indische
        Studierende vorwiegend im englischsprachigen Ausland.
        Die prognostizierte „demografische Dividende“ im Jahr
        2020 bis 325 Millionen potenzielle Arbeitskräfte im Al-
        ter von 20 bis 35 Jahren – zahlt sich nur aus, wenn die
        Kluft zwischen dem rasant steigenden Bedarf an qualifi-
        zierten Arbeitskräften und der Zahl tatsächlich gut aus-
        gebildeter Fachkräfte überbrückt werden kann. Der
        Fachkräftebedarf wird sich beim Aufbau und der Siche-
        rung der Infrastruktur, in den Bereichen Energie, Um-
        welt und Verkehr mittelfristig drastisch erhöhen.
        Die Beziehungen zwischen Indien und Deutschland
        sind traditionell gut. Wir konnten uns überzeugen, dass
        die Deutsche Botschaft, die DFG, die MPG, der DAAD
        und die AvH vor Ort hervorragende und engagierte Ar-
        beit leisten. Aber sie brauchen Unterstützung. In
        Deutschland studieren knapp 4 000 Inder, in Indien be-
        trägt die Anzahl deutscher Studierender nicht einmal ein
        Zehntel davon. Die Sozial- und Geisteswissenschaften
        spielen bei den Studienaufenthalten und Austauschpro-
        grammen bisher keine wesentliche Rolle.
        Die USA räumen der Kooperation mit Indien höchste
        Priorität ein, Großbritannien macht 12 Millionen Pfund
        „fresh money“ in drei Jahren zusätzlich für Bildungs-
        und Forschungskooperationen mit Indien locker. „The
        window of opportunity“ ist weit offen. Es ist gut, dass
        der Science Express in Indien auf der Schiene ist und in
        zahlreichen indischen Städten deutsche Hightech zeigt
        und junge Leute über wissenschaftliche Themen und
        Ausbildungsmöglichkeiten in Indien und Deutschland
        informiert und die Einrichtung des deutsch-indischen
        Wissenschafts- und Technologiezentrums unmittelbar
        bevorsteht.
        Die vorliegenden Anträge haben wichtige Anregun-
        gen aus dem Kreis der Mittler- und Forschungsorganisa-
        tionen berücksichtigt. Das Interesse für ein Land muss
        bereits in den Schulen geweckt werden. Hier erreicht
        man die meisten Menschen eines Jahrgangs. Die An-
        sprache der jungen Menschen in Indien und Deutschland
        muss direkt und konkret erfolgen, um die Hemmschwel-
        len abzusenken. Daher begrüße ich das Angebot kurzzei-
        tiger Orientierungsaufenthalte als Einstieg, die Einbin-
        dung von Studierenden und Wissenschaftlern in Projekte
        und Maßnahmen zu ihrer Vernetzung.
        Das reicht aber noch nicht. Nachhaltigen Erfolg kön-
        nen Anbahnungsmaßnahmen und Austauschprogramme
        auf beiden Seiten nur haben, wenn es gelingt, die Einrei-
        semodalitäten zu erleichtern, eine umfassende Betreuung
        für Erstaufenthalte zu gewährleisten, das Stipendienange-
        bot für Inder zu vergrößern, langfristige Aufenthalts- und
        Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen, englischsprachige Stu-
        diengänge in Deutschland auszuweiten, die Indologie in
        Deutschland zu stärken und um Aspekte des modernen
        Indiens zu erweitern und die Wirtschaft in die Koopera-
        tions- und Austauschprogramme einzubinden.
        Alle Anträge sind im Prinzip zustimmungswürdig. Ei-
        nige Zahlen im Koalitionsantrag sind auf einem neueren
        Stand, und er konnte noch aktuelle Entwicklungen ein-
        beziehen. Wir halten uns an die Vereinbarungen mit un-
        serem Koalitionspartner und werden deshalb die Anträge
        der Oppositionsfraktion ablehnen. Das ist von der Sache
        her sehr bedauerlich, denn alle Fraktionen sind sich ei-
        nig. Ein interfraktioneller Antrag wäre der bessere, weil
        inhaltlich angemessene Weg gewesen.
        Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Der Präsident der
        Helmholtz-Gemeinschaft, Prof. Jürgen Mlynek, zeigte
        sich nach einer Indienreise im April diesen Jahres glei-
        chermaßen überrascht von den technologischen Fort-
        schritten wie von den riesigen Problemen im Bildungs-,
        aber auch im Gesundheitsbereich, die dieses Land
        prägen. Er sprach von einer Aufholjagd, die zu fördern
        sei.
        Die Reise unseres Ausschusses, die ein Teil der Mit-
        glieder des Bildungs- und Forschungsausschusses im Fe-
        bruar gemeinsam mit der Wissenschaftsministerin Schavan
        unternahm, hat uns alle ebenso beeindruckt. Indien wird
        aus europäischer Sicht als Boomregion mit einem zwei-
        stelligen Wirtschaftswachstum, mit einem schier uner-
        schöpflichen Arbeitskräftepotenzial und mit einer aufstre-
        benden technologischen Leistungsfähigkeit etwa in der
        Raumfahrt, der IT-Branche oder der Energietechnologie
        wahrgenommen. Wir haben auf der Reise die Indian Insti-
        tutes gesehen, die wie britische oder amerikanische Eli-
        teunis angelegt und auch ausgestattet sind. Die Studieren-
        den, mit denen wir dort diskutiert haben, waren froh, die
        Auserwählten zu sein, und hatten ihre beruflichen Ziele
        fest im Auge. Wie der DAAD berichtet, wollen immer
        noch viele von ihnen nach einer Studienaufnahme in In-
        dien das Land in Richtung USA oder Großbritannien ver-
        lassen, um dort einen international besser anerkannten
        Abschluss zu ergattern.
        Doch die Kapazitäten dieser und anderer Hochschu-
        len in Indien genügen an keiner Stelle, obwohl ein Stu-
        dium häufig die einzige Möglichkeit für eine berufliche
        Qualifikation ist. An den viel schlechter ausgestatteten
        „normalen“ Hochschulen und Colleges kommen immer
        noch 80 Ablehnungen auf eine Zulassung. Insgesamt
        studieren nur etwa 7 Prozent eines Jahrgangs – das sind
        in diesem großen Land gut 10 Millionen Menschen –,
        die allermeisten in Bachelorstudiengängen vergleichbar
        unserer Berufsausbildung. Für die benachteiligten Volks-
        gruppen und -stämme halten Hochschulen eine be-
        stimmte Anzahl von Studienplätzen frei. Dass der Vor-
        schlag des Bildungsministers Arjun Singh im letzten
        Jahr, diese Quoten auf die Indian Institutes auszuweiten,
        mit Entrüstung zurückgewiesen wurde, zeigt die Spal-
        tung der Gesellschaft im Hochschulbereich – und in der
        Gesellschaft.
        14094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Erfahrungsberichte von deutschen Studierenden, die
        in Indien einen Teil ihrer Studienzeit verbracht haben,
        bestätigen diesen Eindruck. Übereinstimmend berichten
        sie von weitgehend guten Bedingungen an den Eliteunis,
        und zugleich wird vor dem Besuch einer „normalen“
        Universität wegen der bürokratischen Hürden sowie der
        schlechten Ausbildung eindringlich gewarnt.
        Allerdings verhindert schon die Situation an den
        Schulen eine breitere Beteiligung der Bevölkerung an
        höheren Bildungsgängen. Ein Drittel der Bevölkerung,
        vor allem auf dem Land, aber auch in den Slums der
        Städte sind immer noch Analphabeten. Von Bildungsar-
        mut betroffen sind besonders Frauen.
        Ich will damit zeigen, wie stark die Gegensätze zwi-
        schen dem wirtschaftlichen Boom im Kernbereich der
        Städte und der Armut der Landbevölkerung bis auf den
        Wissenschaftsbereich durchschlagen. Damit soll nicht
        schwarzgemalt, sondern der reale Hintergrund einer Ko-
        operation in Forschung und Lehre aufgefächert werden.
        Denn Kooperation kann ja nicht heißen, wie DAAD-Prä-
        sident Berchem im November verkündete, das riesige
        Land als riesigen Markt zu sehen. Kooperation unter
        ökonomisch so ungleichen Partnern bedeutet für die
        Linke, gemeinsam an der Überwindung dieser Ungleich-
        heit zu arbeiten.
        Was können wir nun dafür tun? Unsere Gespräche mit
        Vertretern geistes- und sozialwissenschaftlicher Einrich-
        tungen, etwa der germanistischen und romanistischen
        Abteilung der Delhi-Universität, zeigten, dass diese Fel-
        der gegenüber den aufstrebenden Natur- und Technik-
        wissenschaften deutlich geringer ausgestattet werden.
        Dabei sind gerade diese Disziplinen in der Lage, die He-
        rausforderungen eines solch dramatischen Um- und Auf-
        bruchs, wie ihn Indien erlebt, zu begleiten und Politikbe-
        ratung auf wissenschaftlich abgesichertem Niveau zu
        betreiben.
        Zudem wird Wissenschafts- und Forschungspolitik
        zunehmend zur Außenpolitik. Denn wenn die Erfor-
        schung der jeweiligen Landeskulturen besonders geför-
        dert wird, verbessern sich mit steigendem Wissen bilate-
        rale Beziehungen zwischen Ländern. Je genauer man
        sich kennt, je mehr Forschungsergebnisse über das an-
        dere Land vor Ort diskutiert und rückgekoppelt werden,
        umso stärker strahlt diese Kooperation in andere Berei-
        che der Gesellschaften aus.
        Und hier muss unser Land zuerst vor der eigenen
        Haustür kehren: Allgemein wird der Niedergang der so-
        genannten kleinen Fächer beklagt. Davon ist auch die In-
        dologie betroffen. Die Hochschulrektorenkonferenz be-
        richtete, dass drei Standorte seit 1987 ganz weggefallen
        sind. Es gibt zudem keinen einzigen Lehrstuhl für zeit-
        genössische Indienstudien. Dazu kann ich nur sagen: Es
        ist ja ehrenwert, dass die DFG den Austausch mit Indien
        unter deutschen Sozial- und Geisteswissenschaftlern ge-
        sondert fördert. Dazu muss allerdings auch jemand da
        sein, der sich austauschen kann.
        An dieser Stelle zeigt sich wieder einmal, wie falsch
        die Föderalismusreform gestrickt ist; denn der Bund
        kann gegen die Streichungsmaßnahmen der Länder nur
        wenig unternehmen. Die Exzellenzinitiative verstärkt
        eher noch das Sterben der kleinen Fächer, als dass diese
        in die Profilbildung der Unis einbezogen werden. Da,
        geehrte Frau Ministerin Schavan, haben Sie es in der
        Hand, mit einer Förderung für kleine Fächer in Projekten
        auch die Indologie wenigstens vor dem Aussterben zu
        bewahren.
        Die von den Fraktionen hier eingebrachten Anträge
        formulieren zum Jahr der Geisteswissenschaften Pro-
        jekte und Vorhaben, die sich nicht einfach als Selbstläu-
        fer aus der wachsenden ökonomischen Verflechtung
        zwischen Deutschland und Indien ergeben. Wir begrü-
        ßen in dem Zusammenhang, dass das BMBF dem Deut-
        schen Akademischen Auslandsdienst im November über
        vier Millionen Euro zur Förderung von Auslandsstudien
        Deutscher in Indien in Aussicht gestellt hat. Es ist rich-
        tig, dass in Deutschland diese Studienleistungen leichter
        anerkannt werden und Zentren für zeitgenössische Indo-
        logie errichtet werden sollen. Die Bundesministerin ver-
        rät uns sicher demnächst, wie sie das konkret umsetzen
        will. Doch auch die Förderung der Studienaufenthalte
        des indischen Nachwuchses in Deutschland sollte ange-
        sichts rückläufiger Zahlen seit einigen Jahren nicht ver-
        nachlässigt werden. Die äußerst schwierige finanzielle
        Situation setzt die Hürden für viele indische Studierende
        und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ungleich
        höher als für Deutsche in Indien. Ein Aufenthalt in
        Deutschland scheitert schnell an Reise- und Unterbring-
        ungskosten.
        Eine Anmerkungen muss ich zur Entstehung der vier
        fast wortgleichen Anträge doch noch loswerden: Meiner
        Fraktion wird manchmal vorgeworfen, wir würden Posi-
        tionen von vorgestern vertreten. Das will ich nicht kom-
        mentieren. Wenn aber die gleichen, die da am lautesten
        rufen, zugleich mit Kalter-Kriegs-Manier ihren Fachpo-
        litikerinnen die Mitzeichnung eines interfraktionell be-
        reits fest vereinbarten Antrags verbieten, dann zeigt
        dass, dass sie seit vorgestern die Augen vor der Politik-
        entwicklung in diesem Land geschlossen halten. Schade
        ist es um die aus der Reise entstandenen parteiübergrei-
        fenden Impulse, die nun von allen Fraktionen einzeln
        vertreten werden müssen.
        Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Der deutsch-indische Wissenschaftleraustausch
        liegt allen am Herzen. Dies zeigen die vorliegenden
        Fraktionsanträge, die fast alle wortgleich lauten. Wir
        sind uns einig, dass wir mehr Stipendien für indische
        Studierende brauchen, die in Deutschland Hochschulen
        besuchen wollen. Insbesondere brauchen wir aber auch
        Werbung und Unterstützung für Studierende aus
        Deutschland, die Interesse an einem Auslandsaufenthalt
        in Indien haben, und in Indien studieren wollen. Wir sind
        uns auch einig, den Austausch von Nachwuchswissen-
        schaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern zu stär-
        ken. Hier sollte vor allem ein Förderschwerpunkt auf
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14095
        (A) (C)
        (B) (D)
        den Geisteswissenschaften liegen. Es ist lobenswert,
        dass die Bundeskanzlerin auf ihrer Indien-Reise nun
        schon einiges von dem umgesetzt hat, was wir bei unse-
        rer Reise mit der Forschungsministerin als wichtig er-
        kannt haben, so zum Beispiel das gemeinsame Zentrum
        für Wissenschaft, Forschung und Technologie.
        Es bleibt aber noch viel zu tun: Es fehlen noch Stif-
        tungslehrstühle für Indologie mit Schwerpunkt auf dem
        modernen Indien, für die die deutsche Wirtschaft zur
        Kooperation mit interessierten Hochschulen gewonnen
        werden muss. Bei der Schaffung von Praktikumsplätzen
        und anschließenden Arbeitsmöglichkeiten für junge in-
        dische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in
        Deutschland ist die Wirtschaft auch gefragt. Genauso ge-
        fragt ist aber auch die Bundesregierung, die Regelungen
        im Aufenthaltsrecht so zu ändern, dass es für Hochquali-
        fizierte leichter wird, in Deutschland zu arbeiten, ihre
        Familie mitzubringen und sich auch selbstständig wirt-
        schaftlich zu betätigen. Gerade für Hochqualifizierte ist
        das eine notwendige Option.
        In all diesen Punkten waren wir uns einig. Ein inter-
        fraktioneller Antrag, wie wir auf unserer Delegierten-
        reise mit Ministerin Schavan in Indien verabredet hatten,
        wäre ein wichtiges Signal für den DAAD, die
        Alexander-von-Humboldt-Stiftung und für die Wissen-
        schafterinnen und Wissenschaftler im Kooperationsland
        Indien gewesen. Ich finde es sehr bedauerlich, dass die
        Union nicht über ihren Schatten springen kann mit ihrem
        Grundsatzbeschluss, nie mit den Linken gemeinsame
        Anträge zu tragen. Sie entscheidet sich stattdessen für ei-
        nen kleinkarierten Parteienstreit. Dass diese gemeinsame
        Initiative so endet, diskreditiert dieses für alle wichtige
        Thema. Es sollte um Inhalte gehen, nicht um Attitüden.
        Anlage 21
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Defizite bei der
        Umsetzung der Europa-Vereinbarung abstellen
        (Tagesordnungspunkt 28)
        Michael Stübgen (CDU/CSU): Am 22. September
        2006 hat der Deutsche Bundestag nach mehrmonatigen
        Gesprächen mit der Bundesregierung unter der Feder-
        führung des Europaausschusses die Vereinbarung über
        die Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Bundes-
        tag und der Bundesregierung in Angelegenheiten der Eu-
        ropäischen Union beschlossen. Der wichtigste Grund für
        die Zusammenarbeitsvereinbarung war es, den Deut-
        schen Bundestag zu einer aktiveren Rolle in der europäi-
        schen Gesetzgebung zu befähigen und die im europäi-
        schen Verfassungsvertrag – zukünftigem Vertrag von
        Lissabon – verankerten neuen Rechte der nationalen Par-
        lamente besser zu nutzen.
        Das erste Ziel lautete daher, früher und besser unter-
        richtet zu werden, das zweite war darauf gerichtet, die
        Bundesregierung im europäischen Rechtssetzungspro-
        zess aktiv zu begleiten, wohlwollend, aber auch kritisch,
        ohne dabei die Kompetenzen oder die Handlungsspiel-
        räume der Regierung einzuschränken. Es ging darum,
        Leitplanken zu setzen für eine europäische Politik, in der
        sich der Deutsche Bundestag – wie in einem Fußball-
        spiel – als Mitspieler sieht, der etwas zum Ergebnis bei-
        trägt, indem er Tore schießt und Eigentore verhindert
        und nicht nur das Ergebnis beglaubigt. Nach dem ersten
        Jahr können wir sagen: Wir hatten eine Reihe von gut
        gelaufenen Trainingsspielen. Wir waren in der Regel
        auch gut vorbereitet. Wir haben die Berichte und Ver-
        merke der Bundesregierung gelesen. Wir haben als Bun-
        destag dennoch nicht in allen Spielen geglänzt.
        Nach einem Jahr BBV können wir sagen – da sind wir
        uns ja auch fraktionsübergreifend einig –: Die Zusam-
        menarbeit zwischen Bundestag und Bundesregierung ist
        im vergangenen Jahr besser geworden. Dies gilt vor al-
        lem für den Teil der Unterrichtung durch die Bundesre-
        gierung. Dabei ist wahr, dass auch die Bundesregierung
        ihre Anlaufschwierigkeiten hatte; so waren sich zum
        Beispiel nicht alle Ressorts von Beginn an über die
        neuen Aufgaben im Klaren. Und deshalb ist es auch
        nicht verwunderlich, dass wir bei den sogenannten um-
        fassenden Bewertungen für europäische Rechtssetzungs-
        vorschläge erhebliche Lücken festgestellt haben und na-
        türlich auch die Qualität der Berichte nicht immer
        unseren Erwartungen entsprochen hat. Aber die Bundes-
        regierung hat hier Besserung versprochen, nicht zuletzt
        bei der Debatte im EU-Ausschuss am 19. September
        2007.
        Die neuen Instrumente für das Zusammenwirken bei-
        der Verfassungsorgane an den europapolitischen Ent-
        scheidungen, die Stellungnahmen in Verbindung mit
        Art. 23 GG sowie – auf der Ebene der Bundesregierung –
        den sogenannten Parlamentsvorbehalt könnten wir noch
        deutlich häufiger in Anspruch nehmen, als das bislang
        der Fall war.
        Ich möchte aber auch noch einige konkrete Punkte
        benennen, bei denen wir gemeinsam nachsteuern müs-
        sen. Ich möchte beginnen mit der Unterrichtung des
        Bundestages nach Ziffer I der Zusammenarbeitsverein-
        barung. Die Unterrichtungspflicht der Bundesregierung
        bezieht sich unter anderem auf „die Berichte der Ständi-
        gen Vertretung über Sitzungen des Rates und der Ar-
        beitsgruppen des Rates, der informellen Ministertreffen
        und des Ausschusses der Ständigen Vertreter“ (I. 2. c.
        der Vereinbarung). Die Übermittlung der Berichte an
        den Bundestag funktioniert grundsätzlich gut. Die Be-
        richte selbst weisen jedoch häufig große Defizite auf.
        Dies gilt insbesondere für die Sitzungen des Ausschus-
        ses der Ständigen Vertreter (AstV I und AstV II). Abge-
        sehen von einer oft verklausulierten Sprache befindet
        sich in den Berichten wiederholt ein Verweis auf Doku-
        mente, Stellungnahmen oder Tagesordnungen mit dem
        Hinweis: „Liegt in Berlin vor“. Diese Verweistechnik ist
        nicht akzeptabel.
        Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Es handelt sich
        um den Bericht über den Trilog zur Finanzierung des
        14096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Europäischen Technologieinstituts vom 19. Juni 2007;
        der Bericht datiert vom 20. Juni 2007. In dem Bericht
        heißt es: „KOM wolle die wichtige Frage der Finanzie-
        rung so schnell wie möglich klären und lege daher ein
        NON-Paper mit Optionen zur Finanzierung des EIT vor
        (wurde erst kurz vor Beginn der Sitzung verteilt, liegt in
        Berlin vor).“ Und etwas später: „Eine Einigung solle an-
        hand der folgenden Elemente gefunden werden (Basis
        Verhandlungsmandat des Rates, liegt in Berlin vor).“
        Dieses schöne Beispiel zeigt wohl anschaulich, dass
        die Berichte in dieser Form völlig unverständlich sind.
        Es ist unbedingt erforderlich, dass die Bezugsdokumente
        dem Bericht selbst als Anhang beigefügt werden. Glei-
        ches gilt für die Tagesordnungen der Ratssitzungen, die
        für die Vorbereitung insbesondere des EU-Ausschusses
        von großer Wichtigkeit sind, da nur so eine sinnvolle
        Entscheidung über die Notwendigkeit einer Ratsbericht-
        erstattung getroffen werden kann.
        Zu der Berichterstattung über die Ratsarbeitsgruppen-
        sitzungen lässt sich noch ein wichtiger Punkt ergänzen.
        Bislang erfolgt eine Berichterstattung nur, wenn Mitar-
        beiter der Ständigen Vertretung aus Brüssel an den Sit-
        zungen teilnehmen („Brüsseler Format“). Für Sitzungen,
        die durch Vertreter der Ressorts wahrgenommen werden
        („Hauptstadtformat“), wird dem Bundestag kein und bei
        „gemischt“ im „Brüsseler“ wie im „Hauptstadtformat“
        tagenden Ratsarbeitsgruppen nur lückenhaft Bericht er-
        stattet. Dies führt zu einem beträchtlichen Informations-
        defizit auf der für Ratsentscheidungen maßgeblichen
        Ebene der Arbeitsgruppen und ist unbedingt zu ändern.
        Nur bei vollständiger Berichterstattung, das heißt bei
        Zuleitung auch der Berichte im Hauptstadtformat, kann
        der Bundestag den Sachstand zu einem Dossier umfas-
        send bewerten. Nur so werden ihm nicht entscheidende
        Teile der Verhandlungen vorenthalten.
        Darüber hinaus ist es für den Bundestag und das neu
        eingerichtete Verbindungsbüro des Bundestages in Brüs-
        sel von großer Bedeutung, dass die Mitarbeiter des Bü-
        ros an den ständigen Briefings, die in Brüssel durch den
        Ständigen Vertreter Deutschlands bei der Europäischen
        Union mit den Ländervertretern durchgeführt werden,
        teilnehmen dürfen. Da die Briefings aber nicht immer
        auf Einladung der Ständigen Vertretung stattfinden,
        könnte ein eigenes Briefing für das Verbindungsbüro des
        Bundestages das Problem lösen. Ein Recht des Bundes-
        tages, in die Information der Ständigen Vertretung ein-
        bezogen zu werden, ergibt sich aus Ziffer VII der
        Zusammenarbeitsvereinbarung. Darin heißt es: „Die
        Bundesregierung unterstützt über die Ständige Vertre-
        tung und gegebenenfalls die bilaterale Botschaft im
        Rahmen der gegebenen Möglichkeiten und soweit erfor-
        derlich das Büro des Deutschen Bundestages in Einzel-
        fragen im Hinblick auf seine Aufgaben.“ Unter das
        „Büro des Deutschen Bundestages“ fallen natürlich nicht
        nur die Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung, sondern
        auch die Mitarbeiter der Fraktionen.
        Darüber hinaus möchten wir Informationen darüber
        erhalten, inwiefern die Bundesregierung den Bundestag
        über eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gegen die
        Bundesrepublik Deutschland informiert. Ein Anspruch
        darauf ergibt sich aus Ziffer IV der Vereinbarung, worin
        es heißt: „Die Bundesregierung unterrichtet den Deut-
        schen Bundestag unverzüglich über Vorabentschei-
        dungsverfahren und Gutachtenverfahren und diejenigen
        Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof und dem
        Gericht Erster Instanz, bei denen die Bundesrepublik
        Deutschland Verfahrensbeteiligte ist. Zu Verfahren, an
        denen sich die Bundesregierung beteiligt, übermittelt sie
        die entsprechenden Dokumente. Dies gilt auch für Ur-
        teile zu Verfahren, an denen sich die Bundesregierung
        beteiligt.“
        Der wichtigste Punkt, über den wir in dieser Debatte
        aber zu reden haben, ist die Frage nach der Herstellung
        des Einvernehmens nach Ziffer VI der BBV. Die Bun-
        desregierung soll sich um das Einvernehmen bei Ände-
        rungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen
        Union und vor Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
        mit dem Deutschen Bundestag bemühen, heißt es in der
        Vereinbarung. Für die CDU/CSU-Fraktion sage ich hier
        noch einmal ausdrücklich, dass wir uns nach den Irrita-
        tionen vom Sommer im Zusammenhang mit dem Man-
        dat des Europäischen Rates für die Erarbeitung des Lis-
        sabonner Vertrages ein geordnetes und verlässliches
        Verfahren hinsichtlich der Form und des Zeitpunktes der
        Einvernehmensherstellung wünschen. Wir haben dazu in
        Gesprächen mit der Bundesregierung auch einen konkre-
        ten Vorschlag vorgelegt. Mein Eindruck ist, dass auch
        die Bundesregierung eine für beide Seiten zufriedenstel-
        lende Lösung anstrebt. Ich bin sehr zuversichtlich, dass
        wir schon bald den Streit beenden können und zu einer
        vernünftigen und für die Zukunft Missverständnisse ver-
        meidenden Verständigung kommen werden.
        Michael Roth (Heringen) (SPD): Die Vereinbarung
        zwischen Bundestag und Bundesregierung über die Zu-
        sammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen
        Union ist seit Oktober vergangenen Jahres in Kraft. Sie
        muss sich noch in der Praxis bewähren. Trotz mancher
        Fortschritte sind wir noch nicht so weit, wie wir sein
        könnten und sollten. Aber es hilft nicht, nur zu meckern.
        Da machen Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen
        der Grünen, es sich zu einfach: Wir alle sind bemüht,
        den Weg zu einer besseren Zusammenarbeit zu finden.
        Die Vereinbarung ist Bestandteil des Koalitionsver-
        trages. Ihre Unterzeichnung war ein Meilenstein auf dem
        Weg zur besseren Europatauglichkeit des Deutschen
        Bundestages. Sie schafft die Voraussetzungen, mit denen
        die in Art. 23 des Grundgesetzes verankerte Mitwirkung
        des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen
        Union wirksam umgesetzt werden kann.
        In der Praxis hapert es bei der Umsetzung aber noch.
        Viele der Mängel, die in dem Antrag der Grünen aufge-
        führt werden, kann meine Fraktion durchaus bestätigen.
        Aber wir sollten nicht nur der Bundesregierung allein
        Defizite und Versäumnisse vorwerfen. Auch seitens des
        Bundestages gibt es noch erheblichen Verbesserungsbe-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14097
        (A) (C)
        (B) (D)
        darf. Das Verfahren zur Sortierung der wichtigen und der
        weniger wichtigen Dokumente wird gerade erst einge-
        führt. Vom Recht, der Bundesregierung Vorgaben für
        ihre Verhandlungen in Brüssel zu machen, machen wir
        noch viel zu selten Gebrauch.
        Enttäuschung hat häufig etwas mit überhöhten Erwar-
        tungen zu tun. Ich rate eher zu einer nüchternen Selbst-
        einschätzung unserer eigenen Kräfte und Möglichkeiten.
        Wir haben mit der Vereinbarung zur Zusammenarbeit in
        Angelegenheiten der Europäischen Union die Vorausset-
        zungen geschaffen, um in der Europapolitik mehr
        Verantwortung zu übernehmen. Aber das braucht natur-
        gemäß Zeit. Wie gehen wir intern mit Vorlagen und Do-
        kumenten um? Wie kooperieren Fachausschüsse und
        Europaausschuss? Brauchen wir weitere Verfahrens- und
        Strukturveränderungen? Notwendige Änderungen der
        Geschäftsordnung stehen noch aus.
        Auch die Bundesregierung muss ihre Abläufe auf die
        neue Vereinbarung ausrichten. Gerade dort, wo Ratsar-
        beitssitzungen in Brüssel durch Referenten aus Berlin
        wahrgenommen werden, gibt es immer wieder Probleme
        bei der Berichterstattung gegenüber dem Bundestag.
        Hier sehe ich Nachbesserungsbedarf.
        Aber an der grundsätzlichen Qualität der Vereinba-
        rung darf kein Zweifel herrschen. Die Bundesregierung
        hat mit dieser Vereinbarung den Bundestag entschieden
        gestärkt. Welchen Fortschritt diese Vereinbarung dar-
        stellt, zeigt sich an den neidischen Blicken vieler Abge-
        ordneter anderer Mitgliedstaaten der EU und aus dem
        Bundesrat. Zwischenzeitlich ist unser Modell Vorbild für
        andere nationale Parlamente. Darauf sollten wir durch-
        aus ein wenig stolz sein.
        Wir sind bemüht, die Defizite bei der Umsetzung die-
        ser Vereinbarung im konstruktiven Dialog mit der Bun-
        desregierung abzuschaffen, seien es die fehlenden Draht-
        berichte, die Zuleitung von Dokumenten in den
        Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik oder auch die
        stärkere Einbindung in vertragsändernde Verhandlun-
        gen.
        Alle Fraktionen des Bundestages haben die Vereinba-
        rung gemeinsam verhandelt. Darin liegt ihre besondere
        Qualität. In dieser zentralen Frage war es wichtig, ge-
        genüber der Bundesregierung parteiübergreifend die
        Stellung des Bundestages zu stärken. Umso mehr bedau-
        ere ich, dass nun einige meinen, ihre Oppositionsrolle
        gerade in dieser Frage ausleben zu müssen. Sie tun ja ge-
        radezu so, als hätten Sie diese Vereinbarung nicht mit
        unterzeichnet, und als wären nicht auch Sie an den Ge-
        sprächen zur Umsetzung im Bundestag umfassend betei-
        ligt, und als wüssten nicht auch Sie, dass viele der von
        Ihnen kritisierten Punkte bereits mit der Bundesregie-
        rung besprochen sind und eine Klärung in Arbeit ist.
        Ob Sie mit Ihrem Antrag der besseren Umsetzung
        wirklich dienen, wage ich zu bezweifeln. Das Gegenteil
        ist der Fall. Und im Prinzip wissen Sie das auch. Wir
        sollten am selbstbewussten Dialog mit der Regierung
        festhalten. Bleiben wir alle an Bord, um unseren berech-
        tigten Interessen weiterhin gemeinsam zum Durchbruch
        zu verhelfen. Ihr Antrag leistet dazu leider keinen kon-
        struktiven Beitrag.
        Michael Link (Heilbronn) (FDP): Als am
        22. September 2006 der Bundestag – endlich, zehn Jahre
        nach dem Bundesrat – eine Vereinbarung mit der Bun-
        desregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenhei-
        ten der Europäischen Union schloss, feierten wir dies
        alle als großen parlamentarischen Erfolg. Jedoch war
        uns auch allen klar, dass diese Vielzahl an ausformulier-
        ten Beteiligungs- und Informationsrechten für den Bun-
        destag nur ein erster, wichtiger Schritt in der notwendi-
        gen „Verbesserung der Europafähigkeit“ des Deutschen
        Bundestages sein konnte. Denn bei der wesentlichen
        Aufgabe, der Umsetzung der Vereinbarung, – sei es tech-
        nischer oder politischer Art – befinden wir uns erst am
        Anfang.
        Es ist wichtig, dass der Deutsche Bundestag diesen
        Prozess selbst- und auch regierungskritisch kontinuier-
        lich verfolgt, damit er seinen Rechten und Pflichten bei
        der Mitgestaltung der Europäischen Union – wie dies
        auch das Bundesverfassungsgericht angemahnt hat – ge-
        recht werden kann. Es ist deshalb richtig, dass der Deut-
        sche Bundestag nach knapp über einem Jahr eine erste
        Bilanz zur Umsetzung der Europa-Vereinbarung zieht.
        Im Grundsatz teilen wir Liberalen dabei die Analyse der
        Grünen (Antrag Drucksache 16/7139), dass viel erreicht
        wurde, jedoch eine Reihe von Defiziten fortbestehen.
        Diese gilt es, zügig zu beseitigen. Insbesondere sind
        diese Versäumnisse der Informationsweitergabe im Be-
        reich der zweiten und dritten Säule zu bemerken, was
        besonders unverzeihlich ist, da gerade in diesen Berei-
        chen auch das Europaparlament nicht oder nicht voll-
        ständig als parlamentarisches Kontrollorgan in den Ge-
        setzgebungsprozess eingebunden ist.
        Bei der Betonung der Informationsrechte muss darauf
        hingewiesen werden, dass es dem Deutschen Bundestag
        nicht nur um die Quantität der Informationen geht. Denn
        dass Menge nicht alles ist, mussten die Abgeordneten
        schon durch Stapel von Akten und überlaufende E-Mail-
        Briefkästen in ihren eigenen Büros erfahren. Wichtig ist
        es, ein effizientes Filtersystem aufzubauen, um die we-
        sentlichen Informationen herauszukristallisieren. Dabei
        befinden wir uns mit dem Priorisierungsverfahren mei-
        nes Erachtens auf dem richtigen Wege. Zweitens muss
        der Bundestag nicht nur die wesentlichen Informationen
        aus der Vielzahl herausfiltern, sondern auch aufpassen,
        dass die „Qualität“ der „formalisierten“ Berichte, bei-
        spielsweise der Drahtberichte, nicht abnimmt, indem die
        essenziellen Informationen auf anderen Wegen weiterge-
        geben werden, die nicht wörtlich unter die Vorgaben der
        Vereinbarung fallen.
        Nach einer intensiven Diskussion im EU-Ausschuss,
        in der alle Fraktionen gegenüber der Bundesregierung
        die bestehenden Informationsdefizite deutlich gemacht
        haben, erwarten wir Liberalen, dass die Bundesregierung
        14098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        tatkräftig an der Beseitigung dieser Mängel arbeitet.
        Durch Staatsminister Gloser und den Parlamentarischen
        Staatssekretär Hintze wurde dies bereits von Regie-
        rungsseite zugesichert.
        Selbstkritisch ist anzumerken, dass der Bundestag
        noch stärker lernen muss, mit den neu gewonnenen In-
        formations- und Beteiligungsrechten effizient umzuge-
        hen. So mutet es makaber an, dass die Bundesregierung
        den Bundestag ermutigen muss, seine Beteiligungs-
        rechte verstärkt wahrzunehmen. In diesem Punkt muss
        der Bundestag sich an die eigene Nase fassen. Denn was
        dient jegliche Information, wenn der Bundestag diese
        nicht dazu benutzt, seiner Kernaufgabe in der Europapo-
        litik, der Regierungskontrolle im Rat, gerecht zu wer-
        den? Hierbei muss der Bundestag der Bundesregierung
        mit größerer Entschlossenheit gegenübertreten. Dabei
        sind vor allem die Regierungsfraktionen gefragt; denn
        solange diese unabhängig von der Sachmaterie immer
        nur die Bundesregierung im Rat stützen, ohne ihren par-
        lamentarischen Kontrollpflichten nachzukommen, ver-
        pufft der Nutzen der zusätzlichen Informationen.
        Für uns Liberale hat es mit parlamentarischem Selbst-
        verständnis zu tun, die rechtlichen Möglichkeiten des
        Bundestages zur Mitgestaltung der EU – beispielsweise
        eine Stellungnahme an die Bundesregierung nach
        Art. 23 Abs. III des Grundgesetzes – auch zu nutzen.
        Dabei geht es uns Liberalen nicht darum, den Ver-
        handlungsspielraum der Bundesregierung derart einzu-
        schränken, dass die Sprechzettel der deutschen Regie-
        rungsvertreter in den jeweiligen Ratsformationen quasi
        vom Parlament vorgegeben werden. Uns ist vielmehr
        wichtig, dass der Deutsche Bundestag gerade bei großen,
        wegweisenden Entscheidungen, die Deutschland lange
        politisch oder finanziell binden, beispielsweise die EU-
        Haushaltsrevision und bei wichtigen Einzelentscheidun-
        gen wie der Vorratsdatenspeicherung, qualitativ in die
        Entscheidungsfindung einbezogen wird. Dies wird dem
        Deutschen Bundestag ausdrücklich durch die Europa-
        Vereinbarung (BBV) zugesichert.
        Vor diesem Hintergrund ist es besonders schlimm,
        dass vor der Eröffnung der Regierungskonferenz zur Än-
        derung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen
        Union kein Einvernehmen mit den Fraktionen hergestellt
        wurde. Dieser „Sündenfall“ bei der ersten, nach Ab-
        schluss der Vereinbarung anstehenden substanziellen
        Entscheidung ist nicht mehr rückgängig zu machen.
        Wichtig ist nun, dass ein solches Versäumnis in Zukunft
        nicht mehr geschieht, will sich der Deutsche Bundestag
        in der Europapolitik endlich vom Rockzipfel der Bun-
        desregierung lösen.
        Wie wir alle wissen, hat dieser Vorfall viel Unmut
        zwischen den Fraktionen ausgelöst. Zurückzuführen ist
        dies unter anderem auf unterschiedliche Deutung des
        Art. 6 BBV. Deshalb unterstützen wir Liberalen nach-
        drücklich die Forderung der Grünen an die Bundesregie-
        rung, eine Klärung zu diesem Artikel herbeizuführen,
        mit der die Abläufe zur Herstellung des Einvernehmens
        der Bundesregierung mit dem Bundestag vor Aufnahme
        von Verhandlungen zur Vorbereitung von Beitritten zur
        Europäischen Union sowie zur Aufnahme von Verhand-
        lungen zur Änderung der vertraglichen Grundlagen der
        Europäischen Union eindeutig festgelegt werden.
        Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass wir
        uns als Bundestag nicht auf die Informations- und Deu-
        tungshoheit der Bundesregierung beschränken sollten.
        Neben den Informationen aus dem neuen Verbindungs-
        büro in Brüssel sollten wir uns auch stärker mit unseren
        parlamentarischen Kollegen im Europaparlament vernet-
        zen. Die FDP-Fraktion hat den engen Austausch mit den
        liberalen Europaabgeordneten auch in einer gemeinsa-
        men Arbeitsgruppe institutionalisiert, um damit eine
        ständige zweite parlamentarische Informationsquelle zu
        generieren.
        Der Bundestag ist erst vor kurzem aus seinem Dorn-
        röschenschlaf in der Europapolitik erwacht. Noch ist er
        in der Wahrnehmung seiner Rechte nicht geübt, weshalb
        es für eine abschließende Bewertung der BVV viel zu
        früh ist. Deshalb sollte der Deutsche Bundestag in einem
        Jahr eine weitere Evaluierung der Europa-Vereinbarung
        durchführen und überprüfen, ob die Bundesregierung ih-
        ren Verpflichtungen bei der Umsetzung nun vollständig
        nachkommt oder gegebenenfalls der Deutsche Bundes-
        tag im Sinne von Best-Practice-Vergleichen in Europa
        weitere Anregungen aus Nachbarländern wie den Nie-
        derlanden oder Schweden aufgreifen sollte, um seinen
        Mitwirkungsrechten nach Art. 23 gerecht werden zu
        können.
        Alexander Ulrich (DIE LINKE): Selten hat ein An-
        trag bei mir ein so zwiespältiges Empfinden hervorgeru-
        fen wie dieser. Natürlich stimme ich, stimmt auch die
        Fraktion Die Linke den wesentlichen Inhalten Ihres An-
        trags zu. Das gilt für die positive Bewertung der Verein-
        barung zwischen Bundestag und Bundesregierung, die
        tatsächlich einen ganz wichtigen Fortschritt in unserer
        europapolitischen Arbeit darstellt. Ich gebe zu, ich bin
        auch ein bisschen stolz, an dem Abschluss dieser Verein-
        barung mitgewirkt zu haben.
        Richtig ist auch, dass die Möglichkeiten der Vereinba-
        rung bei weitem noch nicht voll genutzt und umgesetzt
        werden. Das liegt – das sollten wir nicht verschweigen –
        auch daran, dass wir auf der Seite des Bundestags, im
        EU-Ausschuss und in den Fraktionen, uns noch nicht ge-
        nügend diese Möglichkeiten zu eigen gemacht haben.
        Das sollten wir selbstkritisch auch anerkennen und an
        praktischen Verbesserungen in unserem Verantwortungs-
        bereich arbeiten.
        Diese auch selbstkritische Sicht und auch die Aner-
        kennung des Beitrags der Koalitionsfraktionen ändern
        nichts daran, dass die Bundesregierung in mehrfacher
        Hinsicht ihren Verpflichtungen aus der Vereinbarung nur
        sehr unvollkommen nachkommt. Schlicht skandalös war
        das Verhalten, das Mandat für die Regierungskonferenz
        am Bundestag vorbei beschließen zu lassen und die Ver-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14099
        (A) (C)
        (B) (D)
        handlungen um den Reformvertrag ohne Legitimation
        durch den Bundestag zu beginnen. So etwas darf es nicht
        wieder geben.
        Kritikwürdig ist auch – da teilen wir die Stoßrichtung
        des Antrags – die zögerliche und unvollständige Unter-
        richtung des Bundestags, das Zurückhalten einer Vielzahl
        von wesentlichen Hintergrunddokumenten und Vorarbei-
        ten. Das muss entschieden anders werden. Es kann auch
        nicht sein, dass einerseits eine Vielzahl von Beamten,
        auch nicht wenige Pressevertreter, bestens und frühzeitig
        informiert sind, ihnen interne Schriftstücke vorliegen,
        dass andererseits aber die gewählten Volksvertreterinnen
        und Volksvertreter erst zuletzt in den Besitz von Informa-
        tionen und Dokumenten gelangen. Hier verlangen wir
        umgehende und vollständige Abhilfe.
        Ich bin allerdings nicht ganz sicher, ob es sinnvoll ist,
        den vorliegenden Antrag sehr schnell zur zweiten Le-
        sung ins Plenum des Bundestags zurückzugeben, um
        hier eine Entscheidung herbeizuführen. Was soll hier
        denn geschehen? Erwarten Sie ernsthaft eine parlamen-
        tarische Mehrheit gegen die Bundesregierung? Oder
        wollen Sie den Antrag mit seinen vernünftigen und vor-
        wärtsweisenden Inhalten ablehnen und in der Versen-
        kung verschwinden lassen?
        Wir sind entschieden der Meinung, dass der in den
        EU-Ausschuss überwiesene Antrag dort intensiv mit
        dem Ziel der Einigung zwischen Oppositions- und Ko-
        alitionsfraktionen behandelt werden muss. Wir hoffen
        darauf, dass wir im Ausschuss und in Gesprächen mit
        Regierungsvertretern – dem Wortlaut und dem Geist der
        BBV entsprechend – die praktische Umsetzung der Ver-
        einbarung einvernehmlich weiter voranbringen. Wenn
        das gelingt, erübrigt sich eine zweite Plenardebatte über
        den Antrag.
        Eine letzte Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen:
        Wenn die Grünen sich im Bundestag als Opposition dar-
        stellen wollen, dann ist das Thema BBV ungeeignet. Das
        ist kein Thema für öffentliche Polemiken. Die sind bei
        anderen Themen geboten, zum Beispiel gegen eine Poli-
        tik, die Europa an den Menschen und an ihren Interessen
        vorbei gestalten will. Da wäre es doch viel besser gewe-
        sen, wir hätten gemeinsam dafür gekämpft, den „Vertrag
        von Lissabon“ einem Referendum zu unterwerfen und
        die Voraussetzungen für eine Volksabstimmung zu
        schaffen. Aber auch das kann ja immer noch geschehen.
        Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Heute wird der EU-Reformvertrag unterzeichnet.
        Er ermöglicht überfällige Reformen an der EU und
        macht die EU handlungsfähiger. Er stärkt das Europäi-
        sche Parlament und führt mit dem Bürgerbegehren ein
        Element direkter Demokratie ein. Er macht die EU bür-
        gernäher, transparenter und effizienter.
        Trotz dieser Reformen bleibt der Bundestag für die
        politische Legitimität der europäischen Institutionen
        aber weiterhin sehr wichtig. Denn wir sind als Volksver-
        treter gewählt, um die Regierung zu kontrollieren und
        ihr Handeln zu legitimieren. Wir bilden wie auch das Eu-
        ropäische Parlament eine direkte Verbindung zwischen
        den Bürgerinnen und Bürgern vom Wahlkreis bis nach
        Brüssel. Wir entscheiden gemeinsam mit der Bundesre-
        gierung über die Europapolitik, und das ist im Grundge-
        setz auch festgelegt.
        Deshalb war die EU-Vereinbarung, die wir im letzten
        Jahr gefeiert haben, so zentral. Mit ihr hat der Bundestag
        längst überfällige Rechte erhalten, die es ermöglichen,
        an den Rechten und Pflichten, die aus der deutschen Mit-
        gliedschaft in der EU entstehen, mitzuwirken und mitzu-
        entscheiden. Wir alle wissen, dass die damalige Situa-
        tion nach den Neuwahlen von 2005 diese Vereinbarung
        sehr stark begünstigt hat. Ein sehr weitreichendes Papier
        der CDU/CSU-Fraktion, das noch aus Oppositionszeiten
        stammte, ebnete den Weg. Und vier ehemalige Mitglie-
        der des EU-Ausschusses standen nun für die Regierung
        auf der Verhandlungsseite. So haben wir eine gute Ver-
        einbarung treffen können, die dem Bundestag weitrei-
        chende Informations-, Beteiligungs- und Mitwirkungs-
        rechte in EU-Angelegenheiten einräumt. Zwar haben
        andere nationale Parlamente in der EU, wie das
        dänische, noch weiter reichende Rechte. Wir unterstüt-
        zen aber diese Vereinbarung, so wie wir sie getroffen ha-
        ben.
        Mit der Vereinbarung haben wir bereits viel erreicht:
        Wir haben Büros in Berlin und in Brüssel eingerichtet,
        die uns mit zentralen Informationen versorgen und her-
        vorragende Arbeit leisten. Wir haben in diesem Jahr über
        das Strategie- und das Arbeitsprogramm der Europäi-
        schen Kommission im Bundestag diskutiert und uns so
        auf das kommende Jahr gut vorbereitet. Ich denke, wir
        haben insgesamt den Bundestag für europäische Angele-
        genheiten stark sensibilisiert.
        Aber viele entscheidende Punkte der Vereinbarung
        hält die Bundesregierung nicht ein. In einem unabhängi-
        gen Monitoringbericht werden gravierende Mängel auf-
        gezählt; Mängel, die verhindern, dass wir uns als Parla-
        ment frühzeitig in EU-Angelegenheiten einbringen
        können, Mängel, die dazu führen, dass der Bundestag
        seiner Rolle zur Mitentscheidung und Mitgestaltung in
        EU-Angelegenheiten nicht angemessen erfüllen kann.
        Diese Mängel möchte ich anhand dreier Beispiele ver-
        deutlichen.
        Erstens. Es wurde kein Einvernehmen mit dem Bun-
        destag vor Eröffnung der Regierungskonferenz gesucht.
        Was heißt das? Die Vereinbarung besagt, dass die Bun-
        desregierung mit dem Bundestag eine Einigung suchen
        muss, bevor die zentrale Konferenz zur Änderung der
        vertraglichen Grundlagen der EU eröffnet wird. Dies
        war nicht der Fall. Wir wurden nur über die Eröffnung
        informiert. Eine angekündigte Bundestagsdebatte hie-
        rüber wurde kurzfristig abgesetzt. Bei der von uns dann
        erzwungenen Debatte durfte über unsere Anträge nicht
        abgestimmt werden. Der erste Praxistest der Vereinba-
        rung ist also gescheitert.
        14100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Zweitens. Wir erhalten nicht alle Dokumente, die wir
        zur Kontrolle und Mitwirkung brauchen. Vor allem in
        den Bereichen der Außenpolitik und der polizeilichen
        und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen erhalten
        wir gar nicht oder nur teilweise die nötigen Dokumente.
        Die Vereinbarung legt eine fortlaufende und in der Regel
        schriftliche Unterrichtung durch die Bundesregierung
        fest, die aber nicht stattfindet.
        Drittens. Wir erhalten nur lückenhafte Berichte über
        die Ratsarbeitsgruppen. Nach der Vereinbarung sollen
        wir Berichte über die Arbeitsgruppen des Ministerrates
        erhalten, also des Gremiums, das in der EU vorrangig
        Gesetze macht. Diese Berichte fallen jedoch lückenhaft
        aus. Denn sie werden zunehmend in einem Format ver-
        fasst, das wenig darüber Aufschluss gibt, was tatsäch-
        lich in diesen Arbeitsgruppen besprochen wird. Da-
        durch werden wir nicht ausreichend informiert über
        Vorentscheidungen, die in diesen Gruppen getroffen
        werden.
        Deshalb fordern wir in unserem Antrag von der Bun-
        desregierung, die EU-Vereinbarung vollständig umzu-
        setzen. Wir fordern, den Unterrichtungspflichten voll-
        ständig nachzukommen und uns alle für die Arbeit des
        Bundestages notwendigen und vereinbarten Informatio-
        nen zuzuleiten. Nur wenn die Vereinbarung mit Leben
        erfüllt wird, können wir unsere Rechte und Pflichten in
        EU-Angelegenheiten wahrnehmen.
        Wir bedauern sehr, dass dieser Antrag kein interfrak-
        tioneller Antrag geworden ist. Obwohl alle Fraktionen
        unsere Kritik teilen, wurde unser Angebot, gemeinsam
        für die Rechte des Parlaments zu kämpfen, abgelehnt.
        Dies ist im Sinne eines bürgernahen demokratischen und
        transparenten Europas sehr zu bedauern.
        133. Sitzung
        Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
        Inhalt:
        Redetext
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10
        Anlage 11
        Anlage 12
        Anlage 13
        Anlage 14
        Anlage 15
        Anlage 16
        Anlage 17
        Anlage 18
        Anlage 19
        Anlage 20
        Anlage 21