Protokoll:
16118

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 16

  • date_rangeSitzungsnummer: 118

  • date_rangeDatum: 11. Oktober 2007

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: None Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:39 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 16/118 Abgabe einer Erklärung durch die Bundesre- gierung: Aufschwung, Teilhabe, Wohlstand – Chancen für den Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit an Beitragszahler zurückgeben – Beitrags- senkungspotenziale nutzen Rolf Stöckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Errichtung ei- nes Sondervermögens „Kinderbetreu- ungsausbau“ 12138 D 12161 D 12163 A 12164 B 12167 B Deutscher B Stenografisc 118. Si Berlin, Donnerstag, d I n h a Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Peter Götz, Gerd Bollmann und Jörg van Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Christoph Waitz als Mitglied im Beirat nach § 39 des Stasi-Un- terlagen-Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 8, 13 und 26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: 12137 A 12137 B 12137 B 12138 C 12138 D (Drucksache 16/6434) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Müntefering, Bundesminister BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12138 D 12139 A undestag her Bericht tzung en 11. Oktober 2007 l t : Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ilse Falk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ludwig Stiegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 12144 C 12146 B 12148 A 12150 C 12152 C 12155 B 12157 A 12158 B 12160 B 12161 A (Drucksache 16/6596) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Diana Golz Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiter . e, er 12164 C II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kinderbetreuungsausbau mit mehr Mitteln, Fachkräften und Quali- tät ausstatten – Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung 2010 einführen (Drucksache 16/6601) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, Grietje Bettin, Kai Gehring, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Angebot und Qualität der Kindertagesbetreuung schneller und verlässlicher ausbauen – Realisie- rung nicht erst 2013 (Drucksache 16/6607) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsge- rechtes Angebot an Kindertagesbetreu- ung für Kinder unter drei Jahren 2007 (Drucksache 16/6100) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Miriam Gruß, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP: Chancenge- rechtigkeit von Beginn an (Drucksache 16/6597) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Kampeter (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peer Steinbrück, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12164 C 12164 D 12165 A 12165 A 12165 B 12165 D 12166 A 12171 A 12172 C 12173 B 12175 C 12175 D 12176 A 12176 C 12178 B 12178 C 12180 D 12181 D Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . Dieter Steinecke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Wohngeldgesetzes und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Drucksache 16/4019) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines … Ge- setzes zur Änderung des Jugendge- richtsgesetzes und anderer Gesetze (Drucksachen 16/6293, 16/6568) . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung des Regio- nalisierungsgesetzes (Drucksache 16/6310) . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Finanzierung der Beendigung des subventionierten Steinkohlenberg- baus zum Jahr 2018 (Steinkohlefinan- zierungsgesetz) (Drucksache 16/6566) . . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Regelung der Weiterverwen- dung nach Einsatzunfällen (Einsatz- Weiterverwendungsgesetz – Einsatz- WVG) (Drucksache 16/6564) . . . . . . . . . . . . . . . f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Wirt- schaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2008 (ERP-Wirtschafts- plangesetz 2008) (Drucksache 16/6565) . . . . . . . . . . . . . . . g) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Bundesversor- 12182 C 12184 C 12185 C 12186 C 12187 C 12189 A 12190 A 12190 A 12190 B 12190 B 12190 C 12190 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 III gungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts (Drucksache 16/6541) . . . . . . . . . . . . . . . . h) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung des Zwölf- ten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Drucksache 16/6542) . . . . . . . . . . . . . . . . i) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 9. Februar 2007 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Australien über die Soziale Sicherheit von vorübergehend im Hoheitsgebiet des anderen Staates beschäftigten Personen („Ergänzungs- abkommen“) (Drucksache 16/6567) . . . . . . . . . . . . . . . . j) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Fi- nanzverwaltungsgesetzes und anderer Gesetze (Drucksache 16/6560) . . . . . . . . . . . . . . . . k) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Legehen- nenbetriebsregistergesetzes (Drucksache 16/6559) . . . . . . . . . . . . . . . . l) Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Deutsche Forschungsflotte leistungsfä- hig erhalten – mittel- und langfristige Programme erarbeiten (Drucksache 16/4064) . . . . . . . . . . . . . . . . m) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- nikfolgenabschätzung (TA) TA-Projekt: Biobanken für die human- medizinische Forschung und Anwen- dung (Drucksache 16/5374) . . . . . . . . . . . . . . . . n) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Nationales Reformprogramm Deutsch- land 2005 bis 2008 Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2007 (Drucksache 16/4560) . . . . . . . . . . . . . . . . 12190 C 12190 D 12190 D 12190 D 12191 A 12191 A 12191 A 12191 B Zusatztagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Notwendige Verbesse- rungen am Telemediengesetz jetzt ange- hen (Drucksache 16/5613) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Verpackungsver- ordnung sachgerecht novellieren – Wei- chen stellen für eine moderne Abfall- und Verpackungswirtschaft in Deutsch- land (Drucksache 16/6598) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über die Bereini- gung von Bundesrecht im Zuständig- keitsbereich des Bundesministeriums der Justiz (Drucksachen 16/5051, 16/6626) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Pflichtversicherungsgesetzes und anderer versicherungsrechtlicher Vor- schriften (Drucksachen 16/5551, 16/6627) . . . . . . . c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 28. Oktober 1993 zur Änderung des Eu- ropäischen Übereinkommens vom 30. September 1957 über die internatio- nale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße (ADR) (Drucksachen 16/6121, 16/6610) . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem An- trag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bioethi- sche Grundsätze auch bei Arzneimitteln für neuartige Therapien sicherstellen (Drucksachen 16/4853, 16/5582) . . . . . . . 12191 C 12191 C 12191 D 12192 A 12192 B 12192 C IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 e) Beschlussempfehlung des Rechtsausschus- ses: Übersicht 8 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht (Drucksache 16/6452) . . . . . . . . . . . . . . . . f) – m) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275 und 276 zu Peti- tionen (Drucksachen 16/6443, 16/6444, 16/6445, 16/6446, 16/6447, 16/6448, 16/6449, 16/6450) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne- ten Hans-Josef Fell, Cornelia Behm, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein- führung eines Erneuerbare Energien Wär- megesetzes – EEW (Drucksachen 16/3826, 16/5361) . . . . . . . . . . Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Sigmar Gabriel, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Euro- päischen Union – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD: Regierungskonferenz zur Änderung der vertraglichen Grundla- gen der Europäischen Union und Un- terrichtung der Bundesregierung ent- sprechend Ziffer VI der Vereinbarung zwischen Deutschem Bundestag und 12192 D 12192 D 12193 C 12193 D 12195 B 12196 C 12198 B 12199 A 12199 C 12201 A 12201 D der Bundesregierung über die Zusam- menarbeit in Angelegenheiten der Eu- ropäischen Union – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Dr. Werner Hoyer, Michael Link (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: EU-Regierungs- konferenz schnell zum Erfolg führen – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: EU-Regierungskonferenz – Für eine handlungsfähige und demokratische EU (Drucksachen 16/6399, 16/5882, 16/5888, 16/6632) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . Martin Zeil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurt Bodewig (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . Dr. Stephan Eisel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Reform des Verfahrens in Fami- liensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG- Reformgesetz – FGG-RG) (Drucksache 16/6308) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines 12203 A 12203 C 12205 A 12206 B 12208 A 12209 D 12210 D 12212 B 12213 B 12214 D 12215 D 12217 B 12218 A 12219 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 V Gesetzes zur Klärung der Vaterschaft unabhängig vom Anfechtungsverfahren (Drucksache 16/6561) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes über genetische Untersuchungen zur Klä- rung der Abstammung in der Familie (Drucksache 16/5370) . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Jürgen Koppelin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Missbilligung der Äuße- rungen des Bundesministers der Verteidi- gung Dr. Franz Josef Jung zum Abschuss von in Terrorabsicht entführten Flugzeu- gen (Drucksache 16/6490) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Bernd Siebert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12219 C 12219 C 12219 D 12221 A 12222 A 12223 C 12224 C 12225 C 12226 D 12228 B 12228 B 12229 A 12230 A 12231 D 12232 C 12234 B 12235 B 12236 A 12238 A Tagesordnungspunkt 9: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens Ackermann, Kerstin Andreae, Ingrid Arndt-Brauer und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes zur Verankerung der Generationengerech- tigkeit (Generationengerechtigkeitsge- setz) (Drucksache 16/3399) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Katja Kipping, Jan Korte, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Soziale Gerechtigkeit statt Generatio- nenkampf – Für eine nachhaltige Poli- tik des Sozialstaates im Interesse von Jung und Alt (Drucksache 16/6599) . . . . . . . . . . . . . . . Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Carl-Christian Dressel (SPD) . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zwangsverren- tung stoppen – Beschäftigungsmöglich- keiten Älterer verbessern 12236 A 12236 B 12236 C 12240 B 12241 B 12242 C 12243 D 12244 A 12245 B 12246 C 12247 C 12247 D 12248 A 12248 B 12248 C VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 – zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zwangsverrentung von Langzeitarbeits- losen ausschließen (Drucksachen 16/5902, 16/5429, 16/6625) . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsbera- tungsrechts (Drucksachen 16/3655, 16/6634) . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte der Ver- braucherinnen und Verbraucher beim Ver- kauf von Immobilienkrediten stärken (Drucksache 16/5595) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Otto Bernhardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12250 A 12250 B 12251 C 12252 C 12254 C 12255 B 12256 C 12256 C 12257 C 12258 C 12260 A 12261 B 12262 A 12263 B 12263 C 12264 C 12266 A Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Marcus Weinberg, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bildungsbe- richterstattung fortführen und weiter- entwickeln – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bildungsberichterstattung in Deutschland und deren Weiterentwick- lung – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Kai Gehring, Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bildungsforschung und Bildungsbe- richterstattung stärken (Drucksachen 16/5415, 16/5409, 16/5412, 16/6614) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Kultur und Medien zu dem An- trag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Klare Konzepte für den Bau des Berliner Schlosses (Drucksachen 16/5961, 16/6595) . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Förderung der betrieblichen Al- tersversorgung (Drucksache 16/6539) . . . . . . . . . . . . . . . 12267 C 12269 A 12269 C 12270 B 12270 C 12272 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 VII b) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Abgabenfreie Entgelt- umwandlung über 2008 hinaus fortfüh- ren und ausbauen (Drucksache 16/6433) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe- Gerigk, Birgitt Bender, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Beitragsfreie Entgeltumwandlung – Erst prüfen, dann entscheiden (Drucksache 16/6606) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bleiberecht als Menschenrecht (Drucksachen 16/3912, 16/4827) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Modernisierung des Rechts der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG) (Drucksache 16/6520) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch den Präsidenten des Bundesrechnungshofes: Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsordnung über die Umsetzung und Weiterentwicklung der Organisationsreform in der land- wirtschaftlichen Sozialversicherung (Drucksache 16/6147) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Kooperation und Koordi- 12272 A 12272 A 12272 B 12272 C 12272 D nation im Europäischen Forschungsraum verbessern (Drucksache 16/6454) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Ge- setzes zur Änderung des Versicherungsauf- sichtsgesetzes (Drucksache 16/6518) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: a) Antrag der Abgeordneten Elke Hoff, Dr. Werner Hoyer, Dr. Karl Addicks, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Deutschland muss rüstungskon- trollpolitische Glaubwürdigkeit bewei- sen – Angepassten KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestag zur Abstimmung vorlegen (Drucksache 16/6431) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Angepassten Vertrag über Konventio- nelle Streitkräfte in Europa ratifizieren (Drucksache 16/6605) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von Klaeden, Anke Eymer (Lübeck), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Niels Annen, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Krise des KSE-Vertrages durch neue Impulse für konventionelle Abrüstung und Rüstungskontrolle in Europa beenden (Drucksache 16/6603) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz- buch und anderer Gesetze (Drucksache 16/6540) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12273 A 12273 A 12273 B 12273 C 12273 C 12273 D VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 Tagesordnungspunkt 22: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- ordneten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike Höfken, Bärbel Höhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Dem Verlust an Agrobiodiversität entgegenwirken (Drucksachen 16/5413, 16/5752) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Brunhilde Irber, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Messen und Geschäftsrei- sen als Chance für den Tourismusstandort Deutschland (Drucksache 16/5958) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Michael Kauch, Jan Mücke, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Oldtimer von Feinstaub- Fahrverboten ausnehmen (Drucksachen 16/4060, 16/6327) . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 10: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Wohngeldrechts und zur Änderung anderer wohnungsrechtlicher Vorschriften (Drucksache 16/6543) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12274 A 12274 B 12274 C 12275 A 12275 C 12277 A Anlage 2 Mündliche Frage 11 Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Speicherung von IP-Adressen und weiteren Daten von Nutzern der Internetseiten von Bundesministerien und nachgeordneten Einrichtungen unter anderem durch das Bundeskriminalamt, insbesondere vor dem Hintergrund des Berufungsurteils des Landgerichts Berlin gegen das Bundesjus- tizministerium Antwort Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär BMI (117. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Bildungsberichterstattung fortführen und weiterentwickeln – Bildungsberichterstattung in Deutschland und deren Weiterentwicklung – Bildungsforschung und Bildungsbericht- erstattung stärken (Tagesordnungspunkt 15) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Hirsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Storm, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Klare Konzepte für den Bau des Berliner Schlosses (Tagesordnungspunkt 14) Renate Blank (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Petra Weis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12277 C 12278 A 12279 D 12281 A 12281 D 12282 C 12284 A 12284 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 IX Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der betrieblichen Altersversorgung – Antrag: Abgabenfreie Entgeltumwand- lung über 2008 hinaus fortführen und aus- bauen – Antrag: Beitragsfreie Entgeltumwandlung – Erst prüfen, dann entscheiden (Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord- nungspunkt 8) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Bleiberecht als Menschenrecht (Tagesord- nungspunkt 16) Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12284 C 12285 B 12285 D 12286 B 12287 C 12289 A 12290 A 12291 C 12292 B 12292 D 12293 D 12294 C 12295 C 12296 D Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Modernisie- rung des Rechts der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG) – Unterrichtung: Bericht nach § 99 der Bun- deshaushaltsordnung über die Umsetzung und Weiterentwicklung der Organisations- reform in der landwirtschaftlichen Sozial- versicherung (Tagesordnungspunkt 19 a und b) Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Kooperation und Koordination im Europäischen Forschungsraum verbessern (Tagesordnungspunkt 18) Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Än- derung des Versicherungsaufsichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 21) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . 12297 B 12299 A 0000 A12300 B 12301 A 12301 D 12302 C 12303 B 12304 A 12305 D 12307 B 12308 D 12310 B 12311 B X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Deutschland muss rüstungskontrollpoliti- sche Glaubwürdigkeit beweisen – Ange- passten KSE-Vertrag dem Deutschen Bun- destag zur Abstimmung vorlegen – Angepassten Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa ratifizieren – Die Krise des KSE-Vertrages durch neue Impulse für konventionelle Abrüstung und Rüstungskontrolle in Europa beenden (Tagesordnungspunkt 20 a und b und Zusatz- tagesordnungspunkt 9) Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und an- derer Gesetze (Tagesordnungspunkt 23) Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12312 B 12313 D 12314 B 12315 A 12316 A 12317 C 12318 C 12319 C 12320 A 12321 C 12324 A 12325 B 12326 B 12327 A Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Dem Verlust an Agrobiodiversität entgegen- wirken (Tagesordnungspunkt 22) Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Botz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Groneberg (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Messen und Geschäftsreisen als Chance für den Tourismusstandort Deutsch- land (Tagesordnungspunkt 25) Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . Brunhilde Irber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Oldtimer von Feinstaub-Fahrver- boten ausnehmen (Tagesordnungspunkt 24) Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12327 C 12328 A 12329 B 12330 A 12330 C 12331 C 12332 B 12333 A 12334 A 12335 A 12336 C 12337 C 12338 B 12338 D 12340 A 12341 A 12342 B 12343 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 XI Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Wohngeldrechts und zur Änderung ande- rer wohnungsrechtlicher Vorschriften (Zusatz- tagesordnungspunkt 10) Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Roth, Parl. Staatssekretärin BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .12344 B 12345 A 12346 A 12346 C 12347 B 12348 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12137 (A) (C) (B) (D) 118. Si Berlin, Donnerstag, d Beginn: 9
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    1) Anlage 15 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12277 (A) (C) (B) (D) rungspraxis auswirkt, wird zurzeit geprüft. Die Bundes- regierung nimmt keine Fangschaltungen vor (vergleiche Angelica der Abrechnung kostenpflichtiger Internetangebote und/ oder für statistische Zwecke protokolliert. In welcher Weise sich das Urteil des LG Berlin vom 6. September 2007 (Az. 23 S 3/07) auf diese Speiche- Schauerte, Hartmut CDU/CSU 11.10.2007 Schily, Otto SPD 11.10.2007 Dr. Schwall-Düren, SPD 11.10.2007 Anlage 1 Liste der entschuldi Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.10.2007 Bellmann, Veronika CDU/CSU 11.10.2007 von Bismarck, Carl Eduard CDU/CSU 11.10.2007 Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.10.2007 Dr. Faust, Hans Georg CDU/CSU 11.10.2007 Dr. Happach-Kasan, Christel FDP 11.10.2007 Kasparick, Ulrich SPD 11.10.2007 Kramme, Anette SPD 11.10.2007 Lämmel, Andreas G. CDU/CSU 11.10.2007 Lafontaine, Oskar DIE LINKE 11.10.2007 Dr. Lippold, Klaus W. CDU/CSU 11.10.2007 Merten, Ulrike SPD 11.10.2007 Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 11.10.2007 Müller (Düsseldorf), Michael SPD 11.10.2007 Nitzsche, Henry fraktionslos 11.10.2007 Dr. Paech, Norman DIE LINKE 11.10.2007 Pflug, Johannes SPD 11.10.2007* Riester, Walter SPD 11.10.2007 Roth (Esslingen), Karin SPD 11.10.2007 Rupprecht (Tuchenbach), Marlene SPD 11.10.2007 Anlagen zum Stenografischen Bericht gten Abgeordneten * für die Teilnahme an der 117. Jahreskonferenz der Interparlamenta- rischen Union Anlage 2 Antwort des Parl. Staatssekretärs Peter Altmaier auf die Frage des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (117. Sitzung, Drucksache 16/6571, Frage 11): Welche Bundesministerien nebst nachgeordnetem Bereich speichern von Besuchern ihrer Internetseiten deren IP-Adres- sen, abgefragte Dateien oder Zugriffszeiten über die Dauer des jeweiligen Besuchs hinaus, wie etwa das Bundeskriminal- amt es bei 417 Interessenten für die „militante gruppe“ allein binnen drei Wochen im März/April 2007 tat, und wird die Bundesregierung derartige Fangschaltungen sowie etwaige si- cherheitsbehördliche Nachermittlungen über die Besucher – wie im genannten Fall des Bundeskriminalamts – nun kurz- fristig und vollständig unterbinden, nachdem das Landgericht Berlin mit Berufungsurteil vom 6. September 2007 (Az. 23 S 3/07) dem Bundesministerium der Justiz derlei rechtskräftig verboten hat? Die überwiegende Zahl der Ressorts und, soweit dies in der Kürze der Zeit ermittelt werden konnte, deren nachgeordnete Behörden speichern die IP-Adressen der Besucher ihrer Internetseiten bzw. lassen diese durch be- auftragte Unternehmen speichern. Dies geschieht grund- sätzlich nur temporär und ausschließlich aus IT-sicher- heitstechnischen und/oder statistischen Gründen. BMBF, BMAS, der Bundesrechnungshof und das BKA nehmen keine generelle Speicherung der IP-Adressen vor. Bei dem Bundesministerium der Justiz werden weder die IP- Adressen noch andere personenbezogene Daten der Per- sonen protokolliert, die die Internetseite des Bundesmi- nisteriums der Justiz aufrufen. Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz werden IP-Adressen bei dem Bundesgerichtshof, dem Bundesfinanzhof, dem Bundesverwaltungsgericht, dem Bundespatentgericht und dem Deutschen Patent- und Markenamt für Zwecke Strothmann, Lena CDU/CSU 11.10.2007 Toncar, Florian FDP 11.10.2007 Wanderwitz, Marko CDU/CSU 11.10.2007 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich 12278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Antwortteil 1). Eine abschließende Bewertung des Ur- teils und den daraus zu ziehenden Konsequenzen hat in der Mehrzahl der Ressorts noch nicht stattgefunden. BMBF und BMJ haben die Erhebung von IP-Adressen infolge des Urteils gestoppt. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Bildungsberichterstattung fortführen und weiterentwickeln – Bildungsberichterstattung in Deutschland und deren Weiterentwicklung – Bildungsforschung und Bildungsbericht- erstattung stärken (Tagesordnungspunkt 15) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Der erste natio- nale Bildungsbericht und die Maßstäbe und Erwartungen der Fraktionen an die Fortsetzung dieses neuen Instru- ments der Bildungspolitik sind offensichtlich ein Gegen- stand der „indirekten Rede“. So war es bereits bei der ersten sogenannten Aussprache hierzu am 24. Mai 2007, übrigens fast ein Jahr nach Vorlage dieses ersten nationa- len Bildungsberichtes im Juni 2006. Das parlamentari- sche Instrument, Reden zu Protokoll geben zu können, sorgt aber immerhin dafür, dass man, bei allen Nuancen, wechselseitig davon lesen konnte, dass diese Initiative der damaligen SPD-geführten Bundesregierung und ih- rer Bildungsministerin Edelgard Bulmahn in allen Frak- tionen des Parlaments breit akzeptiert ist und für die Zu- kunft weiter fruchtbar gemacht werden soll. Diese „indirekte Rede“ über den ersten nationalen Bildungsbe- richt setzen wir jetzt mit der abschließenden Beratung der vorgelegten Anträge zur Bildungsberichterstattung in der gleichen Weise fort: Wir geben zu Protokoll. Auf nochmalige Auseinandersetzung mit den vorge- legten Anträgen möchte ich hier deshalb verzichten. Dieses kann nachgelesen werden in der zu Protokoll ge- gebenen Debatte vom 24. Mai 2007. Wir haben uns hierzu im Übrigen auch in der Ausschusssitzung ausge- tauscht. Mit ihrem Antrag, „Bildungsberichterstattung fortführen und weiterentwickeln“ legen die Koalitions- fraktionen ein Konzept vor, das die mit dem ersten natio- nalen Bildungsbericht gemachten Erfahrungen positiv aufgreift und den Regierungen des Bundes und der Län- der zusätzliche Forderungen mit auf den Weg gibt, die in der Fortführung dieser Arbeit Berücksichtigung finden müssen. Zur abschließenden Beratung unserer Anträge über die Bildungsberichterstattung möchte ich darüber hinaus die folgenden Punkte zu Protokoll geben: Erstens. Es war schon ein Dilemma, dass der gemeinsam von Bund und Ländern herausgegebene nationale Bildungsbericht erst ein Jahr nach seiner öffentlichen Vorstellung Gegen- stand der Parlamentsdebatte im Deutschen Bundestag gewesen ist und dass es nach meinem Wissen bisher gar keine Debatte in Länderparlamenten gegeben hat. Dieses muss mit dem 2008 vorzulegenden zweiten Bildungsbe- richt grundlegend verändert werden. Wir erwarten, dass sich die Bundesbildungsministerin mit diesem Bericht der Diskussion im Parlament stellt, dass dieser nationale Bildungsbericht eine seiner Bedeutung entsprechende Position im Parlamentsbetrieb bekommt und über die Einbringung und die Debatte in der Sache auf einen in das Land hineinreichenden Impuls für eine kritische und weiterführende Bestandsaufnahme gesetzt wird. Als dringende Bitte an die Bundesbildungsministerin gilt, ein solches Verfahren bereits mit der Erstellung des zweiten Bildungsberichtes zu vereinbaren und die Bil- dungsminister der Länder wie die Bundesregierung ins- gesamt hierauf einzuschwören. Nationale Bildungsbe- richte, die zu nachtschlafender Zeit im Parlament unter „ferner liefen“ abgehandelt werden, entwerten sich selbst, schädigen den gerade angestrebten notwendigen Impuls und verschenken im Übrigen die große Chance, die von allen eingeforderte nationale Bildungsoffensive tatsächlich voranzubringen. Wo kommen wir eigentlich hin, wenn die Nachricht von einem angestrebten Bil- dungsgipfel mehr Aufmerksamkeit findet als die fun- dierte wissenschaftliche Ausarbeitung und die Empfeh- lungen einer unabhängigen Expertenkommission, die dann noch einmal von den Ländern wie dem Bund auf einen Konsens in der Sache gebracht worden sind? Und das erstmals für alle Bereiche des Lernens im Sinne der neuen Philosophie des lebenslangen Lernens! Zweitens. Bildungsberichterstattung und Bildungsfor- schung gehören in der Sache zusammen. Als Sozialde- mokraten begrüßen wir es, dass die nationale Bildungs- forschung ausgebaut werden soll. Trotz der gestiegenen Anforderungen in der Forschung an Bildungszusammen- hängen bestehen weiterhin deutliche Lücken. Die nach der Föderalismusreform noch bestehenden Möglichkei- ten des Bundes in diesem Bereich sollten dazu genutzt werden, diese Lücken zu schließen. Die wissenschaftli- che Beobachtung im Bereich der frühkindlichen Bildung muss sich auch im Bildungsforschungsprogramm der Bundesregierung niederschlagen. Wir stehen hier voll zu den Vorschlägen, die die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Bezug auf ein Gesamtkonzept zur Erfor- schung der frühkindlichen Bildung erst kürzlich gemacht hat. Zudem wird sich die SPD-Bundestagsfraktion dafür einsetzen, die wissenschaftliche Begleitforschung zum Ganztagsschulprogramm im Rahmen der Bildungsfor- schung fortzusetzen, über das Ende des Investitionspro- gramms im Jahr 2009 hinaus. Unseres Erachtens hat sich hier eine Form von Handlungsforschung aufgebaut, die wir – im engen Zusammenwirken von wissenschaftli- cher Analyse und handlungsorientierter Beratung – für das, was wir auch in anderen Bereichen der Erneuerung unseres Bildungssystems leisten müssen, dringend brau- chen. Einen Beitrag zur Handlungsorientierung verspre- chen wir uns auch von dem Großprojekt des Bildungs- panels. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine solche Langzeitstudie nicht kurzfristig Erkenntnisse bringen kann. Mittelfristig sollte sie dies aber schon; denn gerade Verbesserungen an den Schnittstellen im Prozess des le- benslangen Lernens dulden keinen Aufschub. Unsere Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12279 (A) (C) (B) (D) Bemühungen gehen deshalb dahin, nicht nur ein grund- ständiges Bildungspanel, sondern zum Prozess des lebenslangen Lernens auch Sonderpanels zu den konkre- ten Umbruchphasen respektive Schnittstellen aufzule- gen. Drittens. Auch wenn wir im Parlament nicht in die sachliche Aussprache zu den Ergebnissen des ersten vor- gelegten Bildungsberichtes eingestiegen sind, sollen hier dennoch ein paar grundsätzliche Erkenntnisse angespro- chen werden. Für uns Sozialdemokraten ist von beson- derem Interesse, dass Grundbildung für alle im Sinne von Mindestbildung und Chancengleichheit stärker in den Blick genommen wird. Wir haben in Deutschland noch einen zu hohen Grad von funktionalem Analphabe- tismus. Ein Anteil von über 10 Prozent der jungen Men- schen ohne Schulabschluss ist für ein hochentwickeltes Land nicht hinnehmbar. Die Zahl der jungen Menschen, die ohne Berufsabschluss bleibt, ist erschreckend hoch. 40 Prozent an sogenannten Studienabbrechern werfen die Frage nach der Leistungsfähigkeit unseres Hoch- schulsystems bei der Vermittlung von wissenschaftlicher Berufsqualifikation auf. Eine rückläufige Weiterbil- dungsbeteiligung im Widerspruch zu den Tendenzen in den erfolgreichen Bildungsnationen Europas wird schon mittelfristig massive Auswirkungen auf die Leistungsfä- higkeit der Wirtschaft und die Innovationsfähigkeit un- serer Gesellschaft insgesamt haben. Auf diese Fragen müssen sich Bildungsforschung, Bildungsberichterstat- tung und vor allem Bildungsreform unseres Erachtens konzentrieren. Wir wollen gerne anerkennen, dass es durchaus hoff- nungsvolle Entwicklungen gibt. Die Anerkennung des Rechtsanspruchs jedes Kindes auf frühkindliche Bildung ist von Renate Schmidt als Bundesfamilienministerin in der rot-grünen Regierungszeit eingeleitet worden. Wir können uns nur darüber freuen, dass die Nachfolge- ministerin aus dem konservativen Bereich diese Ideen aufgenommen hat und wir auch hier einen Konsens ge- funden haben. Was vor einiger Zeit noch unvorstellbar war, verdichtet sich auch im schulischen Bereich zu ei- ner raumgreifenden Bildungsreform: Nicht mehr die frühe Trennung in der weltweit fast einmaligen Mehr- gliedrigkeit unseres Schulsystems, sondern das längere gemeinsame Lernen werden zu Bildungsphilosophie und Praxis in Deutschland. Nicht zuletzt das Ganztagsschul- programm des Bundes, das von Gerhard Schröder und Edelgard Bulmahn gegen härteste Widerstände der kon- servativen Seite eingeführt worden ist, ist mittlerweile breiter Konsens. Wenn selbst Hessens Extremföderalist Koch sich, wie kürzlich auf dem Ganztagsschulkongress des Bundes geschehen, zum Fürsprecher des Programms zum Aufbau von Ganztagsschulen macht, ist schon vie- les erreicht. Und mit dem ersten Integrationsgipfel, der ein breites Handlungsprogramm speziell zur Förderung von zugewanderten Kindern und Jugendlichen gebracht hat, haben sich alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte vieles vorgenommen, was unter der Lebenslüge, Deutschland sei kein Einwanderungsland, von konserva- tiver Seite viel zu lange zugedeckt wurde. Auch hier sind also offensichtlich Reformen im besten Sinne, nämlich für mehr Chancengleichheit und Bildung für alle auf dem Weg. Wir sind zuversichtlich, dass die nächsten Ausgaben des nationalen Bildungsberichtes hierzu die entsprechenden kritischen, aber wegweisenden weiteren Zwischenschritte und Perspektiven dokumentieren kön- nen. Viertens. Als Sozialdemokraten treten wir sehr enga- giert dafür ein, mit Blick auf den nationalen Bildungs- bericht die internationale Perspektive nicht auszublen- den. So wichtig es ist, eine umfassende, breit anerkannte nationale Bestandsaufnahme zu machen, so wenig kön- nen wir darauf verzichten, in den internationalen Ver- gleich in Bezug auf die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems im Sinne des lebenslangen Lernens einzutreten. Wir müssen nun einmal anerkennen, dass die entscheidende Bewegung auch in der deutschen Bil- dungsdebatte nicht durch den Vergleich der Bundeslän- der, sondern durch den PISA-Vergleich der Kompe- tenzentwicklung im Rahmen der OECD und speziell im europäischen Vergleich entstanden ist. An dieser Stelle treten wir als Sozialdemokraten sehr engagiert dafür ein, nicht vor weiteren Vergleichen mit neuen Aufgabenfel- dern zurückzuschrecken. Das gilt unseres Erachtens für den Vergleich von Lehrerausbildung wie Lehrerqualifi- kation und es gilt auch für das sogenannte Hochschul- PISA. Der internationale Vergleich heißt gerade nicht, von besonderen nationalen Bedingungen und Kulturen abzusehen, aber sich diesen kritisch zu stellen und im Vergleich Ansprüche, Konzepte und Handlungsmöglich- keiten zu überprüfen. Auch deshalb haben wir von der SPD-Seite nicht verstanden, mit welcher Mischung aus Bigotterie und Hartnäckigkeit zum Beispiel konservative Kräfte die Hinweise des UN-Bildungsberichterstatters Muñoz abgewehrt haben. Es hätte uns doch in der Sache und vom Prinzip her gut angestanden, sich offen, selbst- kritisch, aber auch selbstbewusst mit einer solchen Sicht von außen auseinanderzusetzen. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Nationale Bildungsberichterstattung darf gerade den Blick nicht nur auf sich selbst richten, sondern muss die gesamte Bestandsaufnahme der Ent- wicklung in Deutschland so vornehmen, dass Stärken und Schwächen im internationalen Vergleich, positive und negative Entwicklungen, zukünftige Problemlagen und Vorbilder zu deren Bewältigung im nationalen Rah- men aus dem internationalen Kontext heraus besser ver- standen, zielgerechter entwickelt und erfolgreicher um- gesetzt werden können. Wir sind zuversichtlich, dass die von Edelgard Bulmahn und den damaligen Regierungskräften aus SPD und Grünen angestoßene Entwicklung, hierzu auch durch eine nationale Bildungsberichterstattung beizutra- gen, nicht mehr angehalten werden kann, sondern im Konsens wie im konstruktiven Streit in Deutschland für die Zukunft zu fruchtbaren Ergebnissen führen wird. Cornelia Pieper (FDP): Mit dem nationalen Bil- dungsbericht „Bildung in Deutschland“ erfolgte im Jahr 2006 erstmalig eine eingehende Darstellung des Bil- dungssystems Deutschlands. Diesem echten Meilen- stein auf dem Weg zu mehr Transparenz gingen jedoch mühsame und langwierige Verhandlungen voraus. 12280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Mit dem Antrag „Vorlage eines nationalen Bildungs- berichts“ (Drucksache 14/7078) forderte die FDP-Frak- tion schon im Jahr 2001 die damalige rot-grüne Bundes- regierung dazu auf, das deutsche Bildungswesen unter die Lupe zu nehmen. Dem liberalen Antrag folgten ähn- lich lautende Initiativen der CDU und der Koalition von SPD und Grünen. Offensichtlich wurde, nachdem jahrelang die Augen vor der bittereren Realität verschlossen wurden, die drin- gende Notwendigkeit einer umfassenden empirischen Bestandsaufnahme von allen Seiten erkannt und dies auch per Antrag dokumentiert. Tatsächlich ist der Bericht „Bildung in Deutschland“ den hohen Erwartungen gerecht geworden. Er informiert über die Wirklichkeit in deutschen Kindertagesstätten, Klassenzimmern und Hörsälen. Mit dem ihm zugrunde liegenden problemorientierten Ansatz und der Möglich- keit, verlaufsbezogene Fragestellungen zu erörtern, ist der Bildungsbericht ein wertvolles Instrument zur Quali- tätsverbesserung von Bildung. Vor allem in einem föderalen Bildungsraum, wie wir ihn in Deutschland haben, bedarf es einer kontinuierli- chen Beleuchtung der Prozesse und Entwicklungen – be- sonders auf Ebene der Länder. Wir können und dürfen es nicht zulassen, dass das Licht, welches seitens der ver- gleichenden Bildungsstudien (hier wäre beispielsweise PISA-E zu nennen) die haarsträubenden Differenzen und das Bildungsgefälle zwischen Nord und Süd, Ost und West beleuchtet, einfach wieder ausgeknipst wird. Insbe- sondere der Bildungsföderalismus nötigt uns dazu, Ver- gleiche zur Orientierung und Beförderung des Wettbe- werbs anzustrengen. Ohne die öffentlichkeitswirksame Dokumentation der länderspezifischen Leistungsniveaus würde das deutsche Bildungswesen wieder im Dunkel der Vor-PISA-Ära versinken. Wer Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen will, muss auch für Transpa- renz der Leistungsergebnisse sorgen. Vor allem sollte die KMK ihrem neuen Auftrag nach der Föderalismusre- form als gesamtstaatlicher Koordinator von Bildung ge- recht werden und für bundesweit vergleichbare Schulab- schlüsse und eine bundeseinheitliche Lehrerausbildung sorgen. Der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) wird genau das von uns abverlangen. Betrachtet man die Anträge der Koalition und von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, so kommt man zu dem Schluss, dass die Bedeutung der Bildungsforschung und Bildungsberichterstattung erkannt worden ist. Dem Antrag der Koalition und den darin enthaltenen Aussagen und Forderungen könnte man sich in wesentli- chen Teilen anschließen. Insbesondere die Betonung der Notwendigkeit einer politischen Unabhängigkeit bei der Bildungsberichterstattung erscheint mir sehr wichtig. Wenn wir tatsächlich mit dem Bildungsbericht ein In- strument der bildungspolitischen Steuerung, auch als Orientierungsrahmen für die Länder, entwickeln, dann dürfen hier ideologiegestützte und unfundierte Forderun- gen keinen Raum finden. Andernfalls wäre der Bericht nicht das Papier wert, auf dem er gedruckt ist. Leider thematisiert der Antrag von CDU/CSU und SPD die Er- gebnisse der Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung nicht. Dadurch wird die Chance vertan, wichtige Hinweise der Sachverständigen für die künftige Ausgestaltung des Be- richts aufzunehmen. Das ist unser hauptsächlicher Kri- tikpunkt. Der Antrag der Grünen geht auf die Auswirkung und Bedeutung des Ausbaus der Bildungsforschung und die Umsetzung der Ergebnisse in bildungspolitischen Ent- scheidungen von Bund und Ländern im Rahmen des Artikels 91 b GG ein. Im Großen und Ganzen teilen wir die ausführliche Darstellung der veränderten Rahmenbe- dingungen und der sich hieraus ergebenden Notwendig- keiten. Allerdings belassen es die Grünen nicht hierbei, sondern ziehen mit der Forderung, den Autoren des Bil- dungsberichtes Handlungsempfehlungen abzuverlan- gen, die falschen Konsequenzen. Denn die Berichterstat- tung lebt gerade von der politischen Neutralität – sie soll die Bildungsrealität transparent machen. Man kann den verantwortlichen Wissenschaftlern nicht zumuten, die politischen Entscheidungen vorwegzunehmen. Die Poli- tik ist gefordert, die richtigen Entscheidungen auf der Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu tref- fen. Im Unterschied zum Antrag der Koalition geht unser Antrag auf die Folgerungen und Empfehlungen der An- hörung im Ausschuss ein. Wir wollen die, insbesondere von den Sachverständigen, als extrem wichtig erachteten Themen mit aufnehmen. Dementsprechend hält die FDP-Fraktion die Erörterung von Fragen der Lehreraus- und Weiterbildung, des Lernumfeldes und Lernverhal- tens, Pro-Kopf-Ausgaben für Bildung für sehr brisant. Auch die Entwicklung der Angebote im Rahmen des le- benslangen Lernens sollten stärker fokussiert werden, da wir hierbei durch große Defizite im internationalen Be- reich auffällig geworden sind. Nicht vergessen werden sollte die Analyse übergreifender Entwicklungen, wie zum Beispiel die Untersuchung der Bedeutung und Ent- wicklung der Eigenverantwortlichkeit und Autonomie oder die enorme Resonanz von Schulen in freier Träger- schaft im deutschen Bildungsraum. Gerade in der vor kurzem eingegangenen Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion FDP über „Entwicklung der Schulen in Freier Träger- schaft in Deutschland“ (Drucksache 16/6480) wurde die mangelhafte Kenntnis der Verantwortlichen über die Si- tuation freier Schulen deutlich. Dementsprechend leitete die Bundesregierung die erste Frage mit dem Satz ein: „In der deutschen Schulforschung wird den Privatschu- len bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt; insbeson- dere fehlen aussagekräftige Schulleistungsvergleiche zwischen staatlichen und privaten Schulen.“ Zu Bezu- schussung, Förderung, Schulgeld, rechtlichen Rahmen- bedingungen konnte die Bundesregierung auch keine Aussage treffen. Ein Indiz dafür, wie wichtig es ist, dass wir uns diesem Thema widmen. Wir begrüßen die Absicht, die Bildungsberichterstat- tung fortzuführen und weiterzuentwickeln. Dabei müs- sen wir jedoch darauf drängen, dass wesentliche Fragen im Rahmen der Erstellung des Berichts mit aufgenom- men werden. Andererseits warnen wir vor einer Politi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12281 (A) (C) (B) (D) sierung der Dokumentation. Mit dem FDP-Antrag wer- den die wesentlichen Probleme fokussiert, ohne dabei der Berichterstattung den politischen Stempel aufzudrü- cken. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu unserer Initiative. Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Vor über einem Jahr wurde die Föderalismusreform verabschiedet. Die dort beschlossene Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsbericht- erstattung“ steckt aber immer noch in den Kinderschu- hen. Die Veröffentlichung des ersten Bildungsberichtes konnte keine wesentlichen Impulse zur Weiterentwick- lung des Bildungssystems erbringen. Die Vorbereitung des zweiten Bildungsberichtes wird nicht zu einer öf- fentlichen Debatte über Probleme und Herausforderun- gen des Bildungssystems genutzt. So darf das nicht wei- tergehen. Die Misere unseres Bildungssystems ist viel zu groß. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass – wie es der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz, festgestellt hat – das Recht auf Bildung missachtet und zum Teil mit den Füßen getreten wird. Wenn die Bildungsberichterstattung dazu beitragen soll, Missstände im deutschen Bildungssystem zu beseitigen, dann muss sie grundlegend anders ausgerichtet werden. Im Zentrum der Bildungsberichterstattung muss die öffentliche Debatte stehen. Mit der Erarbeitung und Ver- öffentlichung der Bildungsberichte muss diese befördert werden. Gemeinsam mit den Betroffenen aus Kitas, Schulen und Hochschulen müssen sich Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftler sowie Politikerinnen und Po- litiker darüber verständigen, welche Ziele sie sich im Bildungssystem setzen und wie sie die vor ihnen liegen- den Herausforderungen angehen wollen. Dazu ist es un- erlässlich, dass zukünftige Bildungsberichte klare und konkrete Empfehlungen an die Politik beinhalten. Der erste Bildungsbericht machte deutlich, dass eine reine Darstellung der Fakten zu so gut wie keinen politi- schen Handlungen führt. Damals verweigerte die Bun- desregierung den Autorinnen und Autoren, konkrete Handlungsoptionen aus den Analysen zum Bildungssys- tem abzuleiten. Daneben muss der zweite Bildungsbericht einige we- sentliche inhaltliche Lücken schließen, die im ersten Be- richt noch zu konstatieren waren. Zum einen fehlt eine Darstellung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Außer- dem muss die Situation chronisch kranker und behinder- ter junger Menschen durchgängig und im Gesamten be- leuchtet werden. Hinzu kommt das Thema „Privatisierung der Bil- dung“. In den vergangenen Tagen und Wochen wurden vermehrt Zahlen zu den Entwicklungen an Privatschulen veröffentlicht. Aber nicht nur institutionell ist eine mas- sive Zunahme privatwirtschaftlich organisierter Bildung festzustellen. Neben verstärkter Werbung an Schulen, dem sogenannten Schulsponsoring, gewinnt auch die private Nachhilfe an Bedeutung. Die Bundesregierung darf sich dieser Entwicklung nicht versperren und muss die Gefahr der zunehmenden sozialen Ungleichheit er- forschen lassen. Doch selbst mit solchen punktuellen Verbesserungen könnte das Instrument der Bildungsberichterstattung nicht über seine Begrenztheit hinwegtäuschen. Die Linke hält weiterhin daran fest, dass die Föderalismus- reform I insbesondere aus bildungspolitischer Perspek- tive ein fataler Schritt war. Wir begrüßen, dass das mitt- lerweile bis ins Bundesministerium für Bildung und For- schung hinein erkannt wird und auf mehr Einheitlichkeit im Bildungssystem gedrungen wird. Umso wichtiger ist deshalb, dass die Föderalismus- reform II das Bildungssystem erneut in den Blick nimmt. Grundlegende Fehler müssen hier korrigiert und darüber hinaus müssen auch neue Vorschläge diskutiert werden. Die Linke fordert, dass bei der Föderalismusreform II zum Ziel gesetzt wird, eine bessere finanzielle Ausstat- tung für alle Bildungsphasen zu erreichen. Notwendig hierfür ist, dass eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Bil- dungsfinanzierung“ geschaffen wird. Nur wenn Bund und Länder zukünftig gemeinsam die Möglichkeit ha- ben, bildungspolitische Maßnahmen zu finanzieren, kön- nen durch die Bildungsberichte aufgezeigte Probleme auch gelöst werden. Ansonsten läuft die Bildungsbe- richterstattung ins Leere. Denn nur, wenn sich Vorhaben und Programme auch finanziell untersetzen lassen, wer- den sie mehr als nur unverbindliche Ankündigungen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen greift all diese Fragen und Probleme nicht auf. Er schlägt ein reines „Weiter so!“ vor. Auf diese Weise lässt sich die Misere des Bildungssystems nicht verbessern. Die Linke lehnt den Antrag aus diesem Grund ab. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Meine heutige Rede zur Bildungsberichterstat- tung erscheint mir wie ein Déjà-vu: Alle Kritikpunkte, die ich bei der ersten Lesung äußerte, sind bis jetzt nicht ausgeräumt. Der Koalitionsantrag zur Bildungsbericht- erstattung stellt uns nicht zufrieden. Wir freuen uns zwar, dass auch die Große Koalition eingesehen hat, dass sie den nationalen Bildungsbericht nicht erst auf Antrag der Opposition behandeln kann, sondern ihn dem Bundestag vorlegen muss. Bei regelmäßiger Befassung mit diesem Thema würde die Koalition dann ja vielleicht auch erkennen, dass einige ihrer Behauptungen nach den empirischen Ergebnissen nicht haltbar sind. So heißt es im Koalitionsantrag, der Bildungsstand in der Bevölke- rung sei kontinuierlich gestiegen. Leider stimmt dies für Deutschland nicht mehr, wie die jüngste OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ zeigt: Zum einen stagniert im Vergleich mit anderen OECD-Staaten der Anteil der Akademiker insgesamt, so dass wir hier von Rang 10 auf Rang 22 zurückgefallen sind. Zum anderen hat in der jüngeren Generation ein kleinerer Anteil der Menschen einen tertiären Bildungsabschluss als in der älteren Ge- neration. Geradezu lächerlich ist die Forderung der Koalitions- fraktionen, die neue Gemeinschaftsaufgabe weiterzuent- wickeln. Erst sorgen Sie mit Ihrer völlig verfehlten Fö- deralismusreform dafür, dass dem Bund nahezu sämtliche Bildungskompetenzen entzogen wurden, dann 12282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) wollen Sie im Nachhinein wieder mehr Einwirkungs- möglichkeiten. Das ist unglaubwürdig. Wir Grünen meinen, dass nach wie vor ein Konstruk- tionsfehler des nationalen Bildungsberichts nicht beho- ben ist. Er besteht darin, dass Empfehlungen nicht er- wünscht sind und Ergebnisse des Berichts nicht debattiert werden. Geht es nach dem Willen der Großen Koalition ist dies auch in Zukunft nicht vorgesehen. Dem können wir nicht zustimmen. Wer wie die Bil- dungsministerin immer gerne das Wort der wissensba- sierten Steuerung vor sich her trägt, sollte sich anstren- gen, den nationalen Bildungsbericht zu einem echten Instrument der Steuerung zu machen. Dann darf man aber den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht den Mund verbieten. Auch setzen wir uns dafür ein, dass die Schwerpunkt- setzung des jeweiligen Bildungsberichts nicht im stillen Kämmerlein festgelegt wird, sondern aus der Debatte mit den Akteurinnen und Akteuren im Bildungsbereich – also aus Wissenschaft, Parlamenten, Bildungsverwal- tung und -einrichtungen etc. – entsteht. Der nationale Bildungsbericht muss außerdem dem Deutschen Bun- destag zeitnah zur Auswertung vorgelegt werden. Die Länder sollten dieses Verfahren gegenüber den Landta- gen ebenfalls anwenden; aber das können wir hier nicht beschließen. Bund und Länder sollten dann gemeinsam Umsetzungsstrategien zu den im Bericht gemachten bil- dungspolitischen Empfehlungen erarbeiten. Über den Bildungsbericht hinaus ist noch einiges zur Bildungsforschung insgesamt zu sagen. Seit der missra- tenen Föderalismusreform lobt die Bundesbildungsmi- nisterin die Bundes(rest)kompetenz der Bildungsfor- schung in den Himmel. Dann erwarten wir aber auch, dass endlich das für den Herbst angekündigte Rahmen- programm zur Bildungsforschung vorgelegt wird. Ich bin gespannt, ob es der Herbst 2007 sein wird. Wir Grüne wollen die Bildungsforschung stärken und hierbei folgende Schwerpunkte setzen: Unterrichtsquali- tät an Schulen und pädagogische Konzepte bei der Ent- wicklung von Halbtags- zu Ganztagsschulen; Lehreraus- und -fortbildung sowie der Umgang mit heterogenen Lerngruppen. Mehr Forschung brauchen wir auch in den Bereichen informelles Lernen, Weiterbildung, Umset- zung des Bologna-Prozesses sowie Bildungszugang und Bildungserfolg von Menschen mit Migrationshinter- grund und aus sozial benachteiligten Familien. Aus grü- ner Sicht sollte sich Deutschland auch auf jeden Fall am sogenannten Lehrer-PISA der OECD beteiligen. Wir halten es außerdem für notwendig, zu evaluieren, wie die noch nicht abgeschlossenen Projekte der Bund-Länder- Kommission, BLK, in den Bundesländern weitergeführt wurden. Auch würden wir gerne wissen, welche neuen Modellversuche aus den Kompensationsmitteln für die Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsplanung“ auf Länder- ebene finanziert werden. Bildungsforschung und Bildungsberichterstattung sind wichtig, sowohl als Grundlage für bildungspolitische Entscheidungen als auch für die Weiterentwicklung der Praxis in den Bildungseinrichtungen. Bildungsforschung und Bildungsberichterstattung können aber nur im ge- nannten Sinne wirken, wenn in ihrem Rahmen Hand- lungsoptionen aufgezeigt werden, eine öffentliche De- batte stattfindet und die Aufarbeitung sowie der Transfer der Forschungsergebnisse sichergestellt werden. Folg- lich: Wer Bildungsberichterstattung will, darf weder vor Handlungsempfehlungen noch vor Reformen Angst ha- ben. Dr. Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung: Die Bun- desregierung setzt auf die Potenziale der Menschen in Deutschland. Kluge Köpfe und hervorragend qualifi- zierte Fachkräfte sind die Grundlage für Wohlstand und wirtschaftliche Stärke. Dynamische Aufholprozesse bei der Bildungsbeteiligung etwa in den asiatischen Schwel- lenländern, der demografische Wandel in Deutschland und ein sich abzeichnender Fachkräftemangel insbeson- dere in den sogenannten MINT-Berufen machen deut- lich: Alle Begabungen und Talente in unserem Land werden gebraucht. Niemand darf zurückgelassen wer- den, jeder braucht eine Chance auf Einstieg in Bildung und Aufstieg durch Bildung. Dies gilt in besonderer Weise für diejenigen, die aus den unterschiedlichsten Gründen Schwierigkeiten haben und Defizite abbauen müssen. Wir können es uns nicht leisten, vorhandene Po- tenziale für Bildung und Qualifizierung nicht zu nutzen. Deshalb hat die Bundesregierung auf ihrer Klausurta- gung in Meseberg wichtige Impulse für eine bessere Ausschöpfung aller Begabungsreserven beschlossen. Sie werden in einer Nationalen Qualifizierungsinitiative ge- bündelt, die das gesamte Spektrum unseres Bildungswe- sens umfasst: angefangen von der frühkindlichen Bil- dung über die Schule, die berufliche Bildung und das Studium bis hin zur kontinuierlichen Weiterbildung während des gesamten Berufslebens. Alle Beteiligten – Länder, Unternehmen, Sozialpart- ner, Verbände – sind aufgefordert, sich an diesem Pro- zess zu beteiligen. Auf der Grundlage des Kabinettsbe- schlusses zur Nationalen Qualifizierungsinitiative streben wir eine gemeinsame Strategie von Bund und Ländern an, die auf einem Qualifizierungsgipfel der Re- gierungschefs im Herbst 2008 auf den Weg gebracht werden soll. Um gemeinsame Zielsetzungen für die Weiterent- wicklung unseres Bildungswesens zu formulieren, müs- sen wir uns zunächst vergewissern, wo wir stehen. Der erste nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutsch- land“, der im Juni 2006 im Auftrag des Bundesbildungs- ministeriums und der Kultusministerkonferenz durch un- abhängige Experten vorgelegt wurde, liefert hierfür eine unverzichtbare Grundlage. Zwei Merkmale des Berichts sind in diesem Zusammenhang besonders zu erwähnen: Zum einen erfolgt mit dem nationalen Bildungsbe- richt erstmals ein systematischer indikatorengestützter Überblick über alle Bereiche des deutschen Bildungswe- sens, von der frühkindlichen Bildung bis hin zur Weiter- bildung. Diese Betrachtung des Lernens im Lebenslauf, entlang der gesamten Bildungsbiografie, kennzeichnet auch die Nationale Qualifizierungsinitiative. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12283 (A) (C) (B) (D) Zum anderen ist der nationale Bildungsbericht – ebenso wie internationale Leistungsvergleiche – ein zentrales Element der neuen Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern. Eine gute Bildungsberichterstattung bietet den Verantwortlichen in Bund und Ländern eine verbesserte Grundlage für bildungspolitische Entschei- dungen und für die Überprüfung ihrer tatsächlichen Aus- wirkungen. Bildungsmonitoring muss letztlich auch in bildungspolitisches Handeln münden. Genau dies ist nach der Vorlage des nationalen Bil- dungsberichts auch geschehen. Bund und Länder haben noch im Jahr des Erscheinens des ersten nationalen Bil- dungsberichts gemeinsame Schlussfolgerungen aus der Analyse gezogen, die Maßnahmen in ihren jeweiligen Zuständigkeiten umfassten. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zum Bildungsbericht dem Schwer- punktthema „Migration“ besondere Aufmerksamkeit ge- schenkt. Besonders hervorzuheben sind darin Maßnah- men innerhalb des Ausbildungspakts, in Programmen der beruflichen Bildung und Nachqualifizierung sowie die Unterstützung der Länder bei der individuellen Sprachförderung durch Bildungsforschung. Darüber hi- naus haben wir konkrete Aktivitäten im Hochschul- und Weiterbildungsbereich in Angriff genommen. Beispiele dafür sind der Hochschulpakt zur Sicherung der Ausbil- dungschancen der jungen Generation und die Entwick- lung einer Gesamtstrategie „Lernen im Lebenslauf“ mit Unterstützung des Innovationskreises Weiterbildung, die durch das neue Finanzierungsinstrument des Weiterbil- dungssparens flankiert wird. Ein falscher Weg wäre es hingegen, wenn die Verfas- ser des Bildungsberichtes gleichzeitig Handlungsemp- fehlungen aussprechen sollten. Hier bin ich ebenso wie die Autoren des Berichtes der Auffassung, dass es guter wissenschaftlicher Praxis entspricht, Beobachtung und Berichterstattung von Schlussfolgerungen und Empfeh- lungen zu trennen. Der Sprecher des Konsortiums hat in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung nachdrück- lich für eine Unterscheidung beider Aufgaben, also für eine Trennung zwischen Monitoring und Handlungsvor- schlägen, plädiert. Bei der Erstellung des Berichts wurde in vielerlei Hinsicht – etwa bei der disziplinübergreifenden Koope- ration und im methodischen Bereich – Neuland beschrit- ten. Im Schwerpunktkapitel des Berichtes erlaubt das neue Erfassungskonzept zum Migrationshintergrund eine erheblich aussagekräftigere Darstellung der Situa- tion von Migrantinnen und Migranten. Der Bericht 2006 zeigt, dass Bildungsbeteiligung und Bildungsstand der Bevölkerung insgesamt zugenommen haben; er belegt aber auch, dass andere Länder bei der Verbesserung ih- res Bildungssystems weiter sind. Ein Hauptproblem in Deutschland ist nach wie vor der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft bzw. Migrationshintergrund und Bildungserfolg. Beim nächsten Bildungsbericht, der 2008 erscheint, können Auftraggeber und Autoren nun schon auf einigen Erfahrungen aufbauen. Die Orientierung am Konzept des „Lernens im Lebenslauf“ hat sich bewährt und wird beibehalten. Die umfassende Darstellung des Bildungs- wesens über die jeweiligen Institutionen und Verant- wortlichkeiten hinweg verdeutlicht, dass die Nahtstellen und Übergänge im Bildungssystem besondere Aufmerk- samkeit verdienen. BMBF und KMK haben sich deshalb darauf verständigt, den Schwerpunkt des nächsten Bil- dungsberichts dem Thema „Übergänge Schule – Berufs- bildung/Hochschulbildung – Arbeitsmarkt“ zu widmen. In anderen Bereichen wollen wir die Bildungsbericht- erstattung weiterentwickeln: Die Autoren streben für den kommenden Bericht eine stärkere Problemorientierung und die verstärkte Berücksichtigung aktueller Bezüge an. Sie greifen damit Ergebnisse der Anhörung des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Anfang dieses Jahres auf. Die Weiterent- wicklung der Indikatoren wird außerdem durch ein flankierendes Forschungsprojekt des BMBF gefördert, das insbesondere die Indikatorisierung von Bildungsver- läufen und die Darstellung der Übergänge im Bildungs- wesen verbessern soll. Die Bildungsberichterstattung markiert als Teil eines umfassenden Monitoringsystems die Hinwendung zu ei- ner neuen bildungspolitischen Steuerungsphilosophie. Über die Kernelemente dieses Paradigmenwechsels be- steht weitgehend Einigkeit: Im Wesentlichen handelt es sich um ein sinnvoll aufeinander abgestimmtes System von regelmäßigen Schulevaluationen, von nationalen und internationalen Leistungsuntersuchungen, einer un- abhängigen und wissenschaftlichen Bildungsbericht- erstattung. All dies setzt eine hoch leistungsfähige empi- rische Bildungsforschung voraus. Das BMBF wird deshalb die empirische Bildungsforschung durch ein Rahmenprogramm strukturell stärken und die verschie- denen Handlungsoptionen des BMBF im Bereich der in- stitutionellen Förderung, der Ressortforschung, der Pro- jekt- und Programmförderung – auch mit den Ländern – so bündeln, dass ein kontinuierlich wachsendes Potential entsteht. Zur strukturellen Stärkung der empirischen Bildungs- forschung werden Schwerpunkte gesetzt bei der Quali- tätsentwicklung und -sicherung der vom BMBF – bzw. gemeinsam vom BMBF und von den Ländern – geför- derten Bildungsforschung. Gezielte Maßnahmen zur Nachwuchsförderung sind sowohl im Kontext Bund- Länder-geförderter Projekte als auch – in Abstimmung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft – durch spe- zielle Stipendienprogramme vorgesehen. Ein besonderes Augenmerk werden wir zudem der Förderung des inter- nationalen Austausches sowie der Verbesserung der Da- tengrundlagen und der Datenverfügbarkeit für die For- schung widmen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung wird ebenfalls in weiterhin enger Abstimmung mit den Ländern und der DFG die Voraussetzungen für die Eta- blierung eines wissenschaftsgetragenen, nationalen Bil- dungspanels schaffen, das uns erlaubt, empirisch tragfä- hige Erkenntnisse über Bildungsverläufe unter je spezifischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zu generieren. 12284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) All diese Maßnahmen werden letztlich auch die Da- tenbasis für die Berichterstattung über „Bildung im Lebenslauf“ deutlich verbessern. Mit den Kooperations- möglichkeiten im Rahmen der neuen Gemeinschaftsauf- gabe und mit den bereits erreichten Fortschritten beim Monitoring unseres Bildungssystems sind wir auf einem guten Weg, den wir mit der Nationalen Qualifizierungs- initiative konsequent weiter beschreiten werden. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Klare Konzepte für den Bau des Berliner Schlosses (Tagesord- nungspunkt 14) Renate Blank (CDU/CSU): Als Berichterstatterin meiner Fraktion zum Thema „Wiederaufbau des Ber- liner Schlosses“ erachte ich eine Befassung des Plenums mit dem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion erst dann für sinnvoll, wenn der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung diesen Antrag beraten hat. Zudem ist eine sachgerechte Befassung aus kollegia- lem Respekt vor dem Haushaltsausschuss erst dann an- gezeigt, wenn sich auch dieser Ende Oktober damit be- schäftigt haben wird. Die eindeutigen Beschlüsse des Deutschen Bundesta- ges aus den Jahren 2002 und 2003 haben Gültigkeit und sind Grundlage des weiteren Verfahrens. Der für die städtebaulichen Aspekte des Projekts fe- derführend zuständige Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wird sich in Kürze auch mit den Mo- dalitäten des Wettbewerbs beschäftigen. Insofern ist eine vorzeitige Debatte des FDP-Antrages sachlich nicht ge- rechtfertigt. Der FDP-Antrag wird daher von meiner Fraktion ab- gelehnt. Petra Weis (SPD): Als Berichterstatterin meiner Fraktion zum Thema „Wiederaufbau des Berliner Schlosses“ erachte ich eine Befassung des Plenums mit dem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion erst dann für sinnvoll, wenn der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung diesen Antrag beraten hat. Zudem ist eine sachgerechte Befassung aus kollegia- lem Respekt vor dem Haushaltsausschuss erst dann an- gezeigt, wenn sich auch dieser Ende Oktober damit be- schäftigt haben wird. Die eindeutigen Beschlüsse des Deutschen Bundesta- ges aus den Jahren 2002 und 2003 haben Gültigkeit und sind Grundlage des weiteren Verfahrens. Der für die städtebaulichen Aspekte des Projekts fe- derführend zuständige Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wird sich in Kürze auch mit den Mo- dalitäten des Wettbewerbs beschäftigen. Insofern ist eine vorzeitige Debatte des FDP-Antrages sachlich nicht ge- rechtfertigt. Der FDP-Antrag wird daher von meiner Fraktion ab- gelehnt. Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Worüber reden wir eigentlich? Und ist diese Debatte überhaupt notwen- dig? Der Bundestag hat 2002 und 2003 zwei Beschlüsse gefasst, und zwar mit großer Mehrheit. Diese Beschlüsse sind eindeutig und sie bleiben verbindlich für alle Betei- ligten und für den auszuschreibenden Wettbewerb. Diese Beschlüsse haben zwei wesentliche Inhalte: Erstens. Das Projekt „Humboldt-Forum“: Es ist eine faszinierende Idee, die außereuropäischen Kulturen in die Mitte der deutschen Hauptstadt zu holen und in eine Beziehung des Dialogs zur europäischen Kultur auf der Museumsinsel zu bringen. Dieses Projekt ist von exzep- tionellem Rang, es dürfte einzigartig in der Welt werden. Deswegen ist es gut und konsequent, dass Minister Wolfgang Tiefensee einen Realisierungsvorschlag vor- gelegt hat, der die allein öffentliche Finanzierung des Projektes vorsieht. Diese Finanzierung, dieser Vorschlag sind dem außerordentlichen Projekt angemessen, ich be- grüße sie sehr. Zweitens. Das zu errichtende Gebäude soll Ge- schichte vergegenwärtigen: Der Bundestag hat beschlos- sen, dass die drei Barockfassaden des Schlosses an der Nord-, West-, Südseite und ebenso der Schlüterhof wie- dererrichtet werden, das ganze Gebäude soll in der Ku- batur des Schlosses erbaut werden. Das sind die beiden wesentlichen Punkte unserer Bundestagsbeschlüsse. Und nun zitiere ich aus dem Entwurf des Auslobungs- textes zum Realisierungswettbewerb für das Projekt: Aufgabe des Wettbewerbs ist es, eine überzeugende städtebauliche und architektonische Gesamtkonzeption zur Unterbringung des Nutzungskonzepts Humboldt- Forum in einem Gebäude zu schaffen. Das Humboldt- Forum Berlin/Stadtschloss ist Ort für die Bildung im Sinne der Vermittlung und Auseinandersetzung von und mit der außereuropäischen Kunst und Kultur. Der Bau hat sich am Grundriss und den Höhenmaßen des ehema- ligen Berliner Schlosses unmittelbar vor dessen Zerstö- rung, 1950, zu orientieren. Dabei ist die Wiedererrich- tung der barocken Fassaden auf der Nord-, West- und Südseite sowie innerhalb des Schlüterhofes vorzusehen. Die Stereometrie des ehemaligen Schlosses ist mit Aus- nahme der Ostseite und des ehemaligen Eosanderhofes einzuhalten. Der Bereich des ehemaligen Apothekerflü- gels ist hiervon ausgenommen und bleibt, wie der nach Osten zur Spree gelegene Bereich, frei gestaltbar. Die ar- chitektonische Gestaltung des auf dem Schlossareal ge- planten Gebäudes, insbesondere das Verhältnis von Nut- zung und Innengestaltung, muss der kulturellen Nutzung des Humboldt-Forums ebenso wie der historischen Be- deutung des Ortes gerecht werden. Der Entwurf soll die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12285 (A) (C) (B) (D) geschichtlichen Brüche und Zeitschichten des Ortes Schlossareal erfahrbar machen. Des Weiteren wird mehrfach betont, dass die Wie- dererrichtung der barocken Fassaden verbindliche Vor- gabe der Auslobung sei, dass es darum gehe, die Rekon- struktion barocker Schlossfassaden mit einem Gebäude kultureller Nutzung zu verbinden, ja, dass auch eine Kuppel im Bereich des ehemaligen Hauptportals berück- sichtigt werden solle. Was ist daran zu kritisieren? Was ist daran unklar? Wozu also die Aufregung, werte Kollegen von der FDP? Sie sehen doch, dass im Auslobungstext der Auftrag un- serer Bundestagsbeschlüsse sich auf eindeutige Weise wiederfindet. Wir haben ein gemeinsames, jedenfalls mehrheitli- ches Interesse daran, dass dieser eindeutige Auftrag auf architektonisch, auf ästhetisch überzeugende Weise re- alisiert wird. In diesem Sinne hoffen wir, dass der Wett- bewerb baldmöglichst ausgeschrieben werden kann, dass auch manch skeptischer Haushaltspolitiker von der Faszination dieses Projektes ergriffen wird. Bleibt die Frage nach der Besetzung der Fachjury. Ich höre: Es ist nicht ganz leicht, diese Fachjury zu besetzen. Einerseits gibt es Ablehnung oder Skepsis gegenüber der Aufgabe, Historisches zu rekonstruieren und mit Modernem zu verbinden. Andererseits gibt es Respekt, ja vielleicht so- gar Angst vor der Größe und Schwierigkeit dieser Auf- gabe. Das ist ja durchaus verständlich. Ich höre aber auch: Manche prominente Architekten wollen nicht in die Jury, weil sie sich am Wettbewerb beteiligen wollen. Das ist doch ein wahrlich erfreulicher Ablehnungsgrund. Trotz dieser Besetzungsschwierigkeiten gilt: Die Jurybe- setzung darf nicht von Schlossgegnern dominiert wer- den. Das halte ich für schlicht selbstverständlich. Wenn immer wieder Zweifel an der Spendenbereit- schaft für die Schlossfassaden geäußert werden, Zweifel daran, dass die angekündigten 80 Millionen Euro auch tatsächlich erreicht werden, sage ich: Erst wenn das fas- zinierende Projekt wirklich in Gang gekommen ist, kann und wird seine Faszination auch ansteckende Wirkung entfalten können! Blicken wir nach Dresden: Beim Be- ginn des Wiederaufbaus der Frauenkirche waren längst nicht alle notwendigen Spendengelder gesammelt. Im Gegenteil: Erst nach Baubeginn nahm die Spenden- freude zu. Warum sollte das in Berlin ganz anders sein? Wir haben also keinen Grund zur Miesepetrigkeit, zu übertriebenem Misstrauen, zu hysterischer Aufregung. Deswegen ist der FDP-Antrag überflüssig. Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Als Haushälterin will ich mich nur auf einen Punkt des Antrages konzen- trieren, um deutlich zu machen, wie die FDP gedenkt, mit Steuergeldern umzugehen. Dieser Punkt ist deshalb so bemerkenswert, weil die FDP in den Haushaltsbera- tungen sonst immer sehr akribisch darauf achtet, dass kein Cent zu viel für soziale Aufgaben des Staates aus- gegeben wird. Jedoch geht die FDP in der Schlossfrage ausgesprochen spendabel – besser gesagt: verschwende- risch – mit dem Geld der Steuerzahler um. Für das Schloss gibt es noch nicht einmal eine seriöse Planung, da explodieren schon die Kosten. Herr Tiefensee will plötzlich 72 Millionen Euro für die Erstausstattung des Gebäudes haben. Davon war bisher nie die Rede. Der Haushaltsausschuss hat die Finanzplanung für das Schloss als mangelhaft zurückgewiesen. Das Schloss soll – nach Aussagen der Bundesregierung – 480 Millionen Euro kosten. Das ist eine Luftbuchung für ein Luftschloss. Die Bundesregierung und die FDP ge- hen zum Beispiel davon aus, dass 80 Millionen Euro Spenden gesammelt werden. Ich zitiere Ihren Antrag: Diese Summe wird vom Förderverein Berliner Schloss e.V. erbracht werden, der bereits knapp 14 Mio. Euro Spenden bzw. verbindliche Spenden- zusagen gesammelt hat. Die Baukosten der Schlossfassade werden erforderlicherweise vom Bund vorfinanziert. Ich frage, woher wissen Sie, dass der Verein bereits 14 Millionen Euro Spenden gesammelt hat? Haben Sie Einsicht in die Bücher des Vereins bekommen? Ich habe die Bundesregierung gefragt, ob sie Einsicht in das Spendenkonto des Fördervereins Berliner Schloss e. V. genommen hat. Die Antwort war: Nein. Ich kenne kei- nen Menschen, der seriöse Belege über die bereits ge- sammelten Spenden des Vereins vorweisen könnte. Wenn Sie ein Haus bauen wollen und gehen zur Bank und können keinen Nachweis erbringen, dass Sie Ihren Eigenanteil erbringen können, dann schickt Sie der Bankangestellte wieder nach Hause. So ist das in der freien Marktwirtschaft. Die Bundesregierung legt dem Bundestag ein Finanzierungskonzept vor, in dem 80 Mil- lionen Euro Spenden fest eingeplant sind, ohne je Ein- sicht in die Unterlagen des Vereins genommen zu haben, der diese Spenden akquirieren soll. Das ist doch ein schöner Fall für den Bund der Steuerzahler. Bemerkens- wert ist auch die Vorstellung der FDP, dass, wenn die Spendengelder nicht kommen, der Staat einspringen soll. Die Linke lehnt den FDP-Antrag aus vielen Gründen ab, ich lehne ihn ab, weil wir jetzt nicht über die Anbrin- gung von Gardinen im Schlafzimmer des Königs nach- denken müssen, bevor wir nicht ein sauberes Finanzkon- zept haben. Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als Berichterstatter meiner Fraktion zum Thema „Wieder- aufbau des Berliner Schlosses“ erachte ich eine Befas- sung des Plenums mit dem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion vom 4. Juli 2007 ebenfalls erst dann für sinnvoll, wenn auch der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung dazu beraten hat. Zudem liegt ein Antrag der Fraktion Die Linke vom 4. Juli 2007 mit dem Titel „Humboldtforum statt Fassa- denschloss – Schlossplatz mit Zukunftsorientierung“ vor, der bislang ebenfalls noch nicht im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung beraten werden konnte. 12286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Ich halte es für darüber hinaus für angeraten, darauf zu warten, bis die Kolleginnen und Kollegen des Haus- haltsausschusses dieses wichtige Thema Ende Oktober ebenfalls beraten haben. Auch wenn meine Fraktion die Beschlüsse aus den Jahren 2002 und 2003 durchaus kritisch bewertet, so verbietet uns der Respekt vor parlamentarischen Be- schlüssen, diese immer wieder infrage zu stellen. Inhaltlich gäbe es dagegen viel zu der irritierenden und unvollständigen Informationspolitik des Bundes- ministeriums für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung, zu den drohenden Mehrkosten und zu den Anträgen der FDP und der Linken zu sagen. Dazu sollten wir uns je- doch mehr Zeit nehmen und uns diese vorzeitige Debatte ersparen. Meine Fraktion wird sich bei der Abstimmung über den Antrag der FDP-Fraktion der Stimme enthalten. Anlage 5 Zu Protokoll gegeben Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der betrieblichen Altersversorgung – Antrag: Abgabenfreie Entgeltumwandlung über 2008 hinaus fortführen und ausbauen – Antrag: Beitragsfreie Entgeltumwandlung – Erst prüfen, dann entscheiden Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord- nungspunk 8) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Seit 2002 haben alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer grund- sätzlich einen Rechtsanspruch darauf, Teile ihres Ge- halts im Zuge der sogenannten Bruttoentgeltumwand- lung in die Altersvorsorge zu investieren. Außer Teilen des laufenden Gehalts können sie dafür auch Sonderzah- lungen wie das Urlaubs- oder Weihnachtsgeld und Ge- haltserhöhungen verwenden, die sie dann in Anwart- schaften auf Betriebsrenten umwandeln. Diese für die Altersvorsorge umgewandelten Entgelte sind Steuer- und sozialabgabenfrei. In kürzester Zeit hat diese für Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch für die Ar- beitgeber finanziell attraktive Regelung zu einem deutli- chen Anstieg bei der Nutzung der betrieblichen Altersvorsorge geführt. Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern muss durch ihren Betrieb die Möglichkeit gegeben werden, bis zu 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der ge- setzlichen Rentenversicherung umzuwandeln. Dem Ar- beitgeber bleibt überlassen, in welchem Durchführungs- weg die Entgeltumwandlung stattfindet. Möglich ist dies in einer Pensionskasse oder einem Pensionsfonds, wie sie häufig bereits in den Betrieben bestehen. Der Arbeit- geber hat aber auch die Möglichkeit, die Entgeltum- wandlung als Betriebsrente in Form einer Direktversi- cherung anzubieten, was besonders für kleinere Unternehmen von Interesse ist. Der Gesetzgeber hat die Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwandlung ursprünglich bis Ende 2008 befris- tet, weil man nur einen Anstoß für den Aufbau betriebli- cher Altersvorsorgesysteme geben wollte. Im Koali- tionsvertrag hatten CDU/CSU und SPD vereinbart: „Im Jahr 2007 wird geprüft, welchen Verbreitungsgrad die betriebliche und private Altersvorsorge erreicht hat und wie die weitere Entwicklung des Ausbaus einzuschätzen ist. Wenn sich zeigt, dass durch die Förderung mit den bisherigen Instrumenten eine ausreichende Verbreitung der zusätzlichen Altersvorsorge nicht erreicht werden kann, ist über geeignete weitere Maßnahmen zu ent- scheiden.“ Grundlegende Zielsetzung der Regierungs- fraktionen ist, die Altersvorsorge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf mehrere Säulen zu stellen und so- mit sicherer zu gestalten. Um die positive Entwicklung bei der betrieblichen Altersvorsorge zu unterstützen, ha- ben sich mittlerweile sowohl der Deutsche Gewerk- schaftsbund als auch die Bundesvereinigung der Deut- schen Arbeitgeberverbände für eine Fortführung der Sozialversicherungsfreiheit ausgesprochen. Heute schlägt die Koalition mit ihrem Gesetzentwurf zur Förderung der betrieblichen Altersversorgung vor, dass die steuer- und beitragsfreie Entgeltumwandlung über das Jahr 2008 hinaus unbefristet erhalten bleibt und dass zudem die Unverfallbarkeit für arbeitgeberfinanzierte Betriebs- rentenanwartschaften von 30 auf ein Alter von 25 Jahren abgesenkt wird. Die Ansprüche an die Sicherheit der betrieblichen Al- tersvorsorge im Zuge der Entgeltumwandlung sind zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer be- wusst hoch angesetzt worden. Eine vom Arbeitnehmer durch Entgeltumwandlung finanzierte Direktversiche- rung darf nicht durch den Arbeitgeber verpfändet, abge- treten oder beliehen werden. Die Alterssicherung muss durch den Arbeitnehmer auch dann fortgeführt werden können, wenn er das Unternehmen verlässt. Die Anwart- schaften können mit direkter Wirkung nach der Einzah- lung nicht verfallen und bleiben auch bei Kündigung er- halten. Damit unterscheidet sich die Entgeltumwandlung deutlich von Modellen, in denen der Arbeitgeber die Be- triebsrente finanziert (sogenannter interner Durchfüh- rungsweg). Dort erlangt der Arbeitnehmer die Unverfall- barkeit seiner Anwartschaften erst, wenn er mindestens fünf Jahre in dem Unternehmen beschäftigt und mindes- tens 30 Jahre alt ist. In kurzer Zeit ist die Entgeltumwandlung zu einem Renner bei der betrieblichen Altersvorsorge, der dritten Säule der Rente neben gesetzlicher und privater Renten- versicherung, geworden. 2002 haben nur 38 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Privatwirt- schaft in einem System betrieblicher Altersversorgung vorgesorgt, 2004 waren es bereits 46 Prozent, mittler- weile sind es über 50 Prozent. Rechnet man die Zusatz- versorgungssysteme im öffentlichen Dienst hinzu, haben über 65 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mer eine Betriebsrentenanwartschaft. Dieser Anstieg be- ruht zum Großteil auf der Teilnahme an der Bruttoentgelt- umwandlung. Die Beteiligung an der Entgeltumwandlung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12287 (A) (C) (B) (D) zeigt zudem, dass Geringverdiener und Frauen hierdurch in hohem Maße angesprochen werden, eine betriebliche Altersvorsorge aufzubauen. Würde – gemäß der derzeit noch gültigen Gesetzes- lage – die Sozialabgabenpflicht der Entgeltumwandlung ab 2009 wieder eingeführt werden, wäre zu befürchten, dass die positive Entwicklung der betrieblichen Alters- versorgung wieder ins Stocken gerät. Zudem gibt es erste Anzeichen aus den Betrieben, dass es dann zu einer Stor- nierungswelle von Entgeltumwandlungsverträgen kom- men könnte. Eine solche Entwicklung liefe völlig konträr zu der politischen Zielsetzung, zusätzlich zur gesetzli- chen Rente die zweite und dritte Säule der Alterssiche- rung in Deutschland kontinuierlich aufzubauen. Ein Rückschritt wäre politisch unverantwortlich. Der für die Einführung der Sozialabgabenpflicht der Entgeltumwandlung ins Feld geführt Einwand, dass die Sozialversicherungen die Einnahmeausfälle nicht ver- kraften könnten, ist in dieser pauschalen Form nicht stichhaltig: Für die Rentenversicherung gilt, dass den Einnahmeausfällen keine Rentenansprüche gegenüber stehen, das heißt, hier ergeben sich keine zusätzlichen fi- nanziellen Probleme. Allerdings führt die sozialabga- benfreie Entgeltumwandlung dazu, dass aus dem für die zusätzliche Altersvorsorge abgezweigten Einkommen keine Ansprüche in der gesetzlichen Rente erwachsen. Für die Kranken- und Pflegeversicherung bestehen Bei- tragsausfälle nur für eine Übergangszeit, da die Leistun- gen aus der betrieblichen Altersversorgung dann in vol- lem Umfang beitragspflichtig sein werden. Die Einnahmeausfälle in Kranken- und Pflegeversicherung betrugen übrigens im Jahr 2005 nur circa 2 Promille der Gesamtbeitragseinnahmen. Aktuell würden die Kran- ken- und die Pflegeversicherung etwas geringere Ein- nahmen haben. Die Entgeltumwandlung bietet Potenzial für den Auf- und Ausbau kapitalgedeckter Altersversor- gung und führt langfristig zu einem höheren Gesamtver- sorgungsniveau, aus welchem dann auch höhere Sozial- versicherungsbeiträge gezahlt werden, sodass Kranken- und Pflegeversicherung mit steigenden Einnahmen aus den Zahlungen der Rentnerinnen und Rentner rechnen können. Die Abschaffung der Sozialversicherungsfreiheit der Entgeltumwandlung würde nicht nur zu Vertragskündi- gungen seitens der Arbeitnehmer führen, sondern auch zu Ausweichreaktionen der Arbeitgeber. Diese werden verstärkt von der Entgeltumwandlung auf eine zulasten der Lohnentwicklung gehende rein arbeitgeberfinan- zierte Altersversorgung umsteigen, die dann weiterhin sozialversicherungsfrei bleibt. Würde diese Option ver- stärkt genutzt, dürften sich die erwarteten Zusatzeinnah- men für die Sozialversicherungen, die bei der Abschaffung der Sozialversicherungsfreiheit der Entgeltumwandlung erwartet werden, ohnehin nicht einstellen. Der Einwand, dass sich jeder auf das Auslaufen der Sozialversicherungsfreiheit 2008 einstellen konnte, übersieht, was sich in der Gesetzgebung in der Zwi- schenzeit geändert hat. Die Situation ist grundlegend da- durch verändert worden, dass mittlerweile auf eine Be- triebsrente volle Krankenkassen- und Pflegebeiträge erhoben werden. Würde künftig doppelt verbeitragt wer- den, ist die Entgeltumwandlung für den Aufbau einer Altersvorsorge finanziell völlig uninteressant. Die Perso- nalchefs der Betriebe wären sogar verpflichtet, dann ihre Beschäftigten ausdrücklich auf diesen Umstand hinzu- weisen. Mein Fazit ist: Die von der Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwandlung ausgehende Dynamik für den not- wendigen weiteren Aufbau einer zusätzlichen Altersver- sorgung ist evident. Die finanziellen Risiken für die So- zialversicherungen sind beherrschbar. Daher handelt die Große Koalition konsequent und richtig, indem die Bei- tragsfreiheit über 2008 hinaus verlängert wird. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): In Deutschland haben zur Zeit über 17 Millionen Beschäftigte Ansprüche auf eine Betriebsrente. Von diesen 17 Millionen sind rund 9 Millionen Menschen aktive „Entgeltumwandler“ und damit direkt von dem vorliegenden Gesetzentwurf be- troffen. Sie können schon bald erleichtert aufatmen; denn mit der unbefristeten Verlängerung der Beitrags- freiheit der Entgeltumwandlung bleibt diese Form der zusätzlichen Altersvorsorge vor allem für Beschäftigte mit kleinen und mittleren Einkommen attraktiv. Ich bin sicher, dass sich die Gesetzesinitiative auf den Verbreitungsgrad betrieblicher Rentenanwartschaften unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten po- sitiv auswirken wird. Er ist unter der rot-grünen Koali- tion von 2001 bis Ende 2006 bereits von 52 auf 65 Pro- zent gestiegen. Der heute in den Bundestag eingebrachte Gesetzentwurf stellt sicher, dass die „Erfolgsgeschichte betriebliche Altersvorsorge“ weitergeht. Unter Rot-Grün haben wir mit der Stärkung der be- trieblichen Altersvorsorge als zusätzlichem Standbein neben der gesetzlichen Rente begonnen, in der Großen Koalition führen wir dies fort. Unter Rot-Grün haben wir ein Recht auf Entgeltumwandlung eingeführt und die Mitnahmemöglichkeiten für Betriebsrentenanwartschaf- ten von einem Arbeitgeber zum nächsten deutlich erwei- tert. In der Großen Koalition haben wir den Insolvenz- schutz der Betriebsrentenanwartschaften entscheidend verbessert und wollen mit dem heutigen Gesetzentwurf zwei weitere Pflöcke einschlagen: Wir verlängern ers- tens die Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwandlung in eine betriebliche Kasse und bestimmen zweitens, dass zukünftig schon ab einer Altersgrenze von 25 Jahren Be- triebsrentenansprüche unverfallbar sind, statt bisher erst ab 30 Jahren. Dies ist vor allem für junge Eltern wichtig. Mit dem Vorziehen der Altersgrenze wird eine Kinderpause in Zukunft seltener negative Auswirkungen auf den Erwerb eines Betriebsrentenanspruches haben. Damit setzen wir in Deutschland um, was auf EU-Ebene bisher leider nicht möglich war. Eine entsprechende Richtlinie fand nicht die ausreichende Zustimmung der Mitgliedstaaten. Deutschland kann hier jetzt Vorreiter sein, genau zur rechten Zeit, da seit dieser Woche ein überarbeiteter Vor- schlag der EU-Kommission vorliegt. 12288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Kommen wir zurück zu Beitragsbefreiung. Wie er- wähnt gibt es in Deutschland nach Schätzungen rund 9 Millionen aktive „Entgeltumwandler“. Sie können bis zu 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der ge- setzlichen Rentenversicherung, also bis zu 2 520 Euro im Jahr, steuer- und sozialabgabenfrei in eine betriebli- che Rentenkasse einzahlen. Rund ein Drittel von ihnen ist seit der Einführung des Rechtes auf Entgeltumwand- lung 2001 neu dazugekommen. Die aktuelle Studie von TNS-Infratest aus dem Juni dieses Jahres spricht eine deutliche Sprache: Die Attrak- tivität der betrieblichen Altersvorsorge und ihr in den letzten Jahren wachsender Verbreitungsgrad lag sehr stark in der Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwand- lung begründet. Der Bericht des Institutes verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass diese Dynamik sich 2006 – wohl im Hinblick auf das nahende Ende der Bei- tragsfreiheit – stark abgeschwächt habe. So nahm die Zahl der Anwartschaften bei den Pensionskassen von 2004 auf 2005 um rund 830 000 zu, von 2005 auf 2006 waren es hingegen nur noch rund 170 000. Um die weitere Ausbreitung der betrieblichen Alters- vorsorge nicht zu gefährden oder gar einen Rückgang einzuleiten, ist es deshalb richtig, dass wir jetzt die Wei- chen für eine unbefristete Sozialabgabenfreiheit stellen. Und aus eben diesem Grund ist es auch nicht vertretbar, weiter mit der Verlängerung der Sozialabgabenfreiheit zu warten, wie es etwa die Grünen in ihrem Antrag zur heutigen Debatte fordern. Die Beschäftigten brauchen Planungssicherheit, und zwar so schnell wie möglich. Neben der Steuer- und Beitragsfreiheit sprechen wei- tere Vorteile für eine starke Förderung der betrieblichen Altersvorsorge: Sie ist eine einfache Form der zusätzli- chen Vorsorge, da die Arbeitgeber alle Formalitäten ab- nehmen. Sie ist finanziell attraktiv, da durch Gruppen- verträge eine Senkung der Verwaltungskosten erreicht wird und sich Arbeitgeber oft mit zusätzlichen Beiträgen beteiligen. Es gibt also viele gute Gründe, diese Förderung der betrieblichen Altersvorsorge über 2008 hinaus aufrecht- zuerhalten. Trotzdem wurde auch Kritik laut. Sie wird zum Beispiel vom Sozialverband Deutschland daran festgemacht, dass eine Befreiung von den Sozialabgaben die gesetzlichen Sozialkassen rund 2 Milliarden Euro pro Jahr kosten würde. Dies ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Außerdem sind die Vorteile, die aus einer weiteren Förderung der betrieblichen Altersvorsorge entstehen, größer als die von den Kritikern aufgeführten Nachteile. Es ist nur die halbe Wahrheit, weil bereits heute Sozialabgaben gezahlt werden. Nicht in der Einzahlungsphase, aber in dem Au- genblick, in dem die Betriebsrente ausgezahlt wird. Seit 2004 bzw. 2005 werden hier die vollen Beitragssätze in die Kranken- und Pflegeversicherung fällig. Anders sieht es bei den Beiträge in Arbeitslosen- und Rentenkasse aus. Hier gibt es tatsächlich Ausfälle. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen: Weniger Beiträge ziehen weniger Ansprüche nach sich. In Bezug auf die Renten- versicherung bedeutet dies, dass derjenige, der seine Beiträge statt in die gesetzliche in eine betriebliche Al- tersvorsorge investiert, natürlich auch entsprechend we- niger Ansprüche an die gesetzliche Rente im Alter er- wirbt. Das bedeutet, dass die gesetzliche Kasse zu einem späteren Zeitpunkt entlastet wird. Genau genommen müssten also die heute fehlenden Einnahmen der Ren- tenkasse gegengerechnet werden mit den nicht in An- spruch genommenen Rentenansprüchen in der Auszah- lungsphase. Abgesehen von diesen Fakten sind die vom Sozial- verband befürchteten Fehlbeträge für die gesetzlichen Sozialkassen strittig. Denn niemand weiß, wie sich die Beschäftigten, die heute Entgeltumwandlung betreiben, bei einem Wegfall der Beitragsfreiheit verhalten würden. Eines ist sicher: Bei einer Verteuerung dieser Anlage- form um 21 Prozent werden sich sehr viele der Betroffe- nen um Alternativen bemühen. Möglicherweise stellen sie ihre Verträge auf rein arbeitgeberfinanzierte Betriebs- renten um, die ja weiterhin abgabenfrei bleiben, oder sie wechseln in eine private Altersvorsorge. Schlimmsten- falls verzichten sie ganz und gar auf eine zusätzliche Vorsorge. Die von Kritikern genannten jährlichen 2 Mil- liarden Euro Ausfälle für die Sozialkassen sind also mit großer Skepsis zu betrachten. Problematisch bleibt allerdings, dass das Gesamtrenten- niveau durch die Beitragsausfälle sinkt. Bei denjenigen, die in Form einer betrieblichen Altersvorsorge sparen, wird dieser Verlust allerdings mehr als ausgeglichen. Für diejenigen, die keine betriebliche Altersvorsorge anspa- ren können, müssen zum einen andere ergänzende Ange- bote, wie zum Beispiel der „Grund-Riester“, weiter aus- gebaut werden. Dies gilt insbesondere für niedrig verdienende Selbstständige. Auch der Ausbau der Bei- tragsgrundlage der gesetzlichen Rentenkasse ist zu dis- kutieren. Hier – und da gebe ich den Grünen recht – müssen weitere Maßnahmen folgen, die unsere Gesell- schaft nachhaltig vor Altersarmut schützen. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten spielt bei der Befürwortung der Beitragsfreiheit ein Fak- tor eine ganz entscheidende Rolle: Von der Sozialabga- benfreiheit profitieren besonders Beschäftigte mit klei- nen und mittleren Einkommen. Ihnen nützt eine Befreiung von der Steuer in der Regel wenig, da sie ja keine oder aber nur sehr geringe Steuern zahlen. Die So- zialabgabenfreiheit bringt ihnen hingegen einen Vorteil von 21 Prozent. Auch die Gewerkschaften begrüßen deshalb in selte- ner Einigkeit mit den Arbeitgeberverbänden den vorlie- genden Gesetzentwurf. Der Deutsche Gewerkschafts- bund betont, dass durch das von Rot-Grün eingeführte Recht auf Entgeltumwandlung eine immer stärkere Co- Finanzierung von Betriebsrentenansprüchen durch Arbeitgeber stattfindet. In einem Arbeitspapier des DGB-Bundesvorstandes heißt es: „So konnten in Berei- chen wie zum Beispiel dem Einzelhandel, wo bislang betriebliche Altersversorgung bestenfalls für wenige Führungskräfte vorgesehen war, inzwischen auch die ‚Normalarbeitnehmer‘ Anspruch auf vom Arbeitgeber mitfinanzierte betriebliche Altersversorgung haben.“ Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12289 (A) (C) (B) (D) In einem gemeinsamen Statement der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten und der Arbeitgeberverei- nigung Nahrung und Genuss e. V. wird die beitragsfreie Entgeltumwandlung als „wesentlicher Bestandteil für die Attraktivität der betrieblichen Altersvorsorge vor al- len Dingen für Arbeitnehmer mit kleineren Einkommen“ gewürdigt. Rund 60 Prozent der Beschäftigten im Ernäh- rungsgewerbe hätten deshalb heute eine betriebliche Al- tersvorsorge. Ich fasse zusammen: Mit dem Recht auf Entgeltum- wandlung hat die rot-grüne Bundesregierung die betrieb- liche Altersvorsorge aus der Nische geholt und für die breite Arbeitnehmerschaft attraktiv gemacht. Heute sind bereits zwei Drittel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten Anwärter auf eine betriebliche Altersvor- sorge. Wir wollen, dass es noch mehr werden. Deshalb verlängern wir die Sozialabgabenfreiheit und sorgen da- für, dass die Einzahlung in eine Betriebsrente auch nach 2008 attraktiv bleibt. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Erstens. „Besser spät als nie!“ Die Fähigkeit, Falsches zu korrigieren, ist der Großen Koalition anscheinend noch nicht vollkommen abhanden gekommen. Dazu gratuliere ich den Koali- tionsparteien! Noch im Frühjahr beharrte die Regierung darauf, die Betriebsrentenförderung auslaufen zu lassen. Nun, nach nicht einmal einem halben Jahr, hat sie die 180-Grad-Wendung vollzogen. Weil die Regierung damit auf eine seit langem von der FDP erhobene Forderung eingegangen ist, freue ich mich, für die FDP-Bundestagsfraktion sagen zu können: Wir unterstützen den hier in erster Lesung vorliegenden Gesetzentwurf nachdrücklich. Die betriebliche Altersvorsorge muss weiter ausge- baut werden, weil sie bei sinkendem Leistungsniveau der gesetzlichen Rente in unserer alternden Gesellschaft eine zentrale Rolle für die Lebensstandardsicherung im Alter hat. Die abgabenfreie Entgeltumwandlung ist das erfolgreichste und am besten angenommene Instrument der betrieblichen Altersvorsorge. Dies wurde seinerzeit auch vom Sozialbeirat so gesehen, der daher in seinem Gutachten zu Recht explizit gefordert hatte, dass die ab- gabenfreie Entgeltumwandlung nicht 2008 auslaufen darf. Auch der zweite Kernpunkt des Gesetzentwurfes, das Unverfallbarkeitsalter von 30 Jahren auf 25 Jahre abzu- senken, wird von uns unterstützt, weil diese Änderung gerade jungen Frauen und jungen Familien zugute- kommt. Viele arbeitgeberfinanzierte Rentenanwartschaf- ten gehen derzeit noch verloren, weil junge Frauen we- gen der Kindererziehung vor dem 30. Lebensjahr aus dem Unternehmen ausscheiden und damit ihre Anwart- schaften verlieren. Zweitens. Was muss darüber hinaus geschehen? Wir müssen den Menschen, insbesondere der doppelt belas- teten Sandwichgeneration, den Spielraum verschaffen, zusätzlich eine private und betriebliche Vorsorge aufzu- bauen. Und die betriebliche Altersvorsorge sollte über die Opting-out-Klausel zur Regel werden. Wir fordern darüber hinaus, dass die staatliche Förderung der Alters- vorsorge für alle Bürger – und nicht nur für Beamte und Pflichtversicherte – gewährt wird. Die bisherige Obergrenze der abgabefreien Entgelt- umwandlung in Höhe von 4 Prozent wird von der FDP als grundsätzlich ausreichend erachtet. Wünschenswert wäre darüber hinaus aber eine flexiblere Lösung für die abgabefreie Umwandlung auch von Gewinnbeteiligun- gen von Arbeitnehmern. Gerade weil Gewinnbeteiligun- gen unregelmäßiges Einkommen sind, sind sie – anders als das laufende Einkommen – nicht für laufende Kosten verplant, sondern bieten echten Spielraum für zusätzli- che Altersvorsorge. Allerdings müsste für diesen Fall die bislang geltende Obergrenze von 4 Prozent des Brutto- lohns aufgehoben werden, da Gewinnbeteiligungen we- gen des unregelmäßigen Anfalls mit einer konstanten Obergrenze nur schwer vereinbar sind. Deshalb möchten wir die Möglichkeit einräumen, in Jahren, in denen Ge- winnbeteiligungen zusätzlich genutzt werden sollen, von der 4-Prozent-Grenze abzuweichen. Drittens. Die FDP lehnt den Antrag der Grünen ab, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens. Der Gesetzgeber muss jetzt deutlich machen, dass er die abgabenfreie Entgeltumwandlung auf Dauer fortführen will. Eine erneute zeitliche Begrenzung bringt neue Unsicherheiten mit sich, und diese Unsicherheiten machen das Instrument der Entgeltumwandlung un- attraktiv und verhindern eine weitere Ausbreitung der betrieblichen Altersvorsorge. Denn wenn in Zukunft – nach Ablauf einer neuen Befristung – die Beiträge der Entgeltumwandlung doch wieder aus verbeitragtem Ein- kommen gezahlt werden müssten, dann zahlen die Ent- geltumwandler wieder doppelte Krankenversicherungs- beiträge, und zwar zunächst in der Beitragsphase und danach in der Auszahlungsphase. Zweitens. Natürlich gibt es keinen vernünftigen Grund, warum nicht die Verbreitung der betrieblichen Altersvorsorge untersucht und auch nach Möglichkeiten gesucht werden soll, sie für Geringverdiener attraktiv zu gestalten. Aus unserer Sicht ist es besonders wichtig, die großen Vorteile, die die betriebliche Vorsorge den Versi- cherten durch die Abgabenfreiheit bietet, noch besser als bisher deutlich zu machen. Die FDP-Bundestagfraktion beobachtet im Übrigen sehr genau, ob die bestehenden Instrumente zur Förde- rung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge für Geringverdiener ausreichend attraktiv sind. Wir haben dazu gerade erst eine Kleine Anfrage an die Bundesre- gierung gestellt. Drittens. Was die Wirkungen der Abgabenfreiheit auf die gesetzliche Rentenversicherung angeht, gilt, dass durch die Inanspruchnahme der Entgeltumwandlung in den nächsten Jahren weniger gesetzliche Rentenanwart- schaften aufgebaut werden. Wenn die gesetzliche Ren- tenversicherung dann um das Jahr 2030 in der stärksten demografischen Belastungsphase ist, wirken sich die re- duzierten Anwartschaften der Versicherten, die Entgelt- umwandlung betrieben haben, grundsätzlich entlastend auf die Rentenversicherung aus. 12290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Umgekehrt gilt: Wer keine abgabenfreie Entgeltum- wandlung betreibt, der baut auch weiterhin seine vollen gesetzlichen Anwartschaften auf. Daher stimmt das Ar- gument so pauschal nicht, dass unter der abgabenfreien Entgeltumwandlung sich die Anwartschaften aller Ver- sicherten gleichermaßen reduzieren. Zwar wird die Ent- wicklung des Rentenwerts in bestimmtem Umfang ge- bremst. Dies aber führt zu einer Entlastung der Beitragszahler, die gerade in den Jahren ab 2030 sehr wichtig sein wird, wenn eine Beitragshöhe von 22 Pro- zent Realität werden könnte. Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): In dem im März 2006 von der Bundesregierung vorgeleg- ten Alterssicherungsbericht habe ich zur Frage der wei- teren Förderung der Sozialabgabenfreiheit der Entgelt- umwandlung auf Seite 208 eine interessante Passage gefunden. Darin stellt die Bundesregierung zur sozialab- gabenfreien Entgeltumwandlung Folgendes fest: Bei gleich bleibender Dynamik wie in den letzten Jahren dürfte die Zahl der „Entgeltumwandler“ bis 2008 noch erheblich anwachsen. Bei einer unbefris- teten Beitragsfreistellung käme es folglich zu einer deutlichen Erosion auf der Einnahmeseite der So- zialversicherung mit Druck auf die Beitragssätze. Es ist aber ausdrückliches Ziel der Bundesregie- rung, die Lohnnebenkosten möglichst zu senken. Außerdem ist zu bedenken, dass eine dauerhafte Förderung in der Sozialversicherung zu ungerech- ten Verteilungseffekten führt: Die aufgrund der Ent- geltumwandlung in der Rentenversicherung fehlen- den Beiträge führen dazu, dass die Renten auch derjenigen Versicherten niedriger ausfallen, die während ihres Erwerbslebens keine Entgeltum- wandlung betrieben haben (z. B. Geringverdiener) bzw. keine Entgeltumwandlung betreiben konnten (Rentner). Dem wäre fast nichts mehr hinzuzufügen, zumal auch der Bundesarbeitsminister noch am 20. März dieses Jah- res gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung großspurig erklärte: Wir verhalten uns gesetzestreu, denn wir haben bei der Rentenreform 2001 angekündigt, dass im De- zember 2008 die Sozialabgabenfreiheit für die Ein- zahlung per Entgeltumwandlung enden wird. Und weiter: Voraussetzung dafür sei, dass die neue Regelung nicht zu Lasten der Sozialkassen gehe. Nun ist Herr Müntefering für plötzliche Sinneswandel leider nicht gerade unbekannt. Insbesondere an Monta- gen – ich erinnere mich da an die Vorziehung der Rente mit 67 um sechs Jahre – überrascht er auch schon mal die eigenen Fachpolitiker mit neuen und nicht abgespro- chenen Einfällen. Da frage ich mich, ob ihm solche Ideen bevorzugt sonntags in der Badewanne einfallen. Jedenfalls diktierte er nur drei Monate später, am 25. Juni, einem Journalisten des Handelsblatts in den Notizblock: Ich habe die Bedingungen für die Förderung gründ- lich geprüft. Ich meine, wir sollten uns für sie ent- scheiden. Gründlich geprüft? Wirklich? Da muss man gar nicht Mathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland, um zu wissen: Kann nicht hinhauen; um Herrn Münteferings eigene Worte mal aufzugreifen. Die unbefristete Förde- rung der betrieblichen Altersvorsorge kann nun wirklich nicht hinhauen, nicht für die Rentenversicherung, nicht für die Arbeitslosenversicherung, nicht für die Pflege- versicherung, nicht für die Krankenversicherung und schon gar nicht für die Versicherten und Rentnerinnen und Rentner in unserem Land. Da wundert es auch nicht, dass im Alterssicherungs- bericht ebenfalls zu lesen ist, dass rund 53 Prozent der Befragten auf die Frage, warum sie noch keine betriebli- che Altersvorsorge abgeschlossen haben, angeben, dass sie dem Staat oder der Regierung nicht trauen, weil sich die Gesetze so oft ändern. Und ich kann nur sagen: Zu Recht. Zwar wird gerade die Entfristung, also die Ände- rung der Gesetzesgrundlage, gelobt, weil hierdurch nun Verlässlichkeit geschaffen werde, doch in Hinblick auf die gesetzliche Rentenversicherung sind derartige Forde- rungen nach Verlässlichkeit nicht zu hören. Dort werden tiefgreifende Änderungen beschlossen, die nun das Ar- gument für sogenannte kompensierende Maßnahmen lie- fern. Aber gerade das Argument der kompensierenden Maßnahmen ist bei der sozialabgabenfreien Entgeltum- wandlung nicht aufrechtzuerhalten; denn die sozialabga- benfreie Entgeltumwandlung führt bei allen Versicherten zu einer zusätzlichen Versorgungslücke im Alter, also auch bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Entgeltumwandlung im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge betreiben. In ihrer Studie zur Ver- teilungswirkung der Entgeltumwandlung stellt die Ren- tenversicherung zu Recht fest, dass gerade bei Frauen die Beitragsfreiheit schon bei Verträgen ab dem 30. Le- bensjahr zu niedrigeren Alterseinkünften führen. Und: Wer älter als 40 Jahre ist, muss sich ebenfalls auf gerin- gere Einkünfte im Alter einstellen. Von einem sogenann- ten Nullsummenspiel, wie von der Bundesregierung gerne behauptet wird, kann also keine Rede sein. Gleichzeitig schmälert die Entgeltumwandlung nicht nur die ohnehin kläglichen Rentenanpassungen der heu- tigen Rentnerinnen und Rentner, sondern auch die der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich auf den Betriebsrentenkuhhandel einlassen. Niedrigere Ren- tenanpassungen und ein geringeres Rentenenniveau, treffen aber vor allem, Erwerbslose, Selbstständige oder Geringverdiener, die ohnehin rechtlich und faktisch von der sozialabgabenfreien Entgeltumwandlung keinen Ge- brauch machen können bzw. dürfen. Damit verschärfen sie nicht nur die Einkommensungleichheit im Alter, weil gerade diejenigen mit vergleichsweise hohen Ansprü- chen aus der GVR aufgrund ihres höheren Einkommens auch die Entgeltumwandlung stärker nutzen, sie beför- dern auch noch zugunsten eines kleinen Teils von Privi- legierten bewusst das Risiko steigender Altersarmut von Millionen von Menschen. Selbst der Kollege Brauksiepe Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12291 (A) (C) (B) (D) von der CDU hat bei der Sozialabgabenfreiheit seine Be- denken angemeldet. So war im Tagesspiegel vom 2. Juli 2007 zu lesen: Die Tatsache, dass eine Förderung zugleich das all- gemeine Rentenniveau der kommenden Jahre senkt, ist ein gewichtiges Gegenargument Und weiter: Je stärker wir die betriebliche Vorsorge fördern, desto geringer wird auf der anderen Seite das ge- setzliche Rentenniveau ausfallen, und umgekehrt. Da liegt der Kollege Brauksiepe ausnahmsweise voll- kommen richtig. Wenn Sie hier also der Attraktivität der betrieblichen Altersvorsorge das Wort reden, können Sie eigentlich nur die Attraktivität für die Versicherungs- wirtschaft meinen, die mit Vertragsabschlüssen für Be- triebsrenten gutes Geld verdient, oder Sie können für die Arbeitgeber sprechen, denen Sie auf Kosten der Solidar- gemeinschaft den Beitrag zur Rentenversicherung nied- rig halten. Damit aber nicht genug. Viel perfider ist die eigentliche Strategie, die hinter der Verlängerung der so- zialabgabenfreien Entgeltumwandlung steckt: Die Höhe der Beitragsausfälle führt nicht nur in der Rentenversi- cherung zu Beitragsausfällen, sondern auch, wie Sie im Alterssicherungsbericht richtig festgestellt haben, in al- len anderen sozialen Sicherungssystemen zu weiteren Belastungen und somit zu höheren Beitragssätzen. Die Bundesregierung selbst spricht in ihrem Ge- setzesentwurf von Beitragsausfällen von bisher 2,2 bis 2,4 Milliarden Euro für die Sozialkassen. Allein hiervon entfallen 1,2 Milliarden Euro auf die gesetzliche Renten- versicherung, welche die Sozialabgabenfreiheit bei der betrieblichen Altersvorsorge in den letzten Jahren verur- sacht hat. Zudem gehen Sie, ohne dabei rot zu werden, von einem jährlichen Zuwachs der Beitragsausfälle in Höhe von 200 Millionen Euro aus. Sind Sie nicht mit dem Ziel angetreten, die sogenannten Lohnnebenkosten zu senken? Ein Blick in ihren Koalitionsvertrag sollte da genügen. Die für die Kranken- und Pflegeversicherung verant- wortliche Ministerin, Kollegin Ulla Schmidt, hat ja be- reits zusätzliche Steuermittel als Kompensation für die Beitragsausfälle eingefordert. Die Haushälter der Koali- tion werden es mit Schrecken vernommen haben. Der Bremer Ökonom und ehemalige Vorsitzende des Sozialbeirats der Bundesregierung, Winfried Schmähl, kommt in seiner Studie deshalb zum Ergebnis, dass die Entgeltumwandlung zu beitragssatzsteigernden Effek- ten von 0,4 bis 0,8 Prozentpunkten führt. Damit verju- beln Sie eben mal so die 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte Ein- sparung, die Ihnen gereicht haben, um gegen alle Widerstände aus der Bevölkerung die Rente mit 67 durchzusetzen. Das Fazit Ihres Gesetzentwurfs ist aus unserer Sicht, dass die Weiterführung der beitragsfreien Entgeltum- wandlung über das Jahr 2008 hinaus aus sozialpoliti- schen und systematischen Gründen falsch und in keiner Weise zu rechtfertigen ist. Die sozialabgabenfreie Ent- geltumwandlung führt zu steigenden Beitragssätzen in der gesetzlichen Rentenversicherung, zu finanziellen Mehrbelastungen in der Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung, zu geringeren Rentenleistungen für alle Versicherten, benachteiligt Geringverdiener – und hier insbesondere Frauen und Erwerbslose. Gerade die Fachpolitiker der Großen Koalition wissen dies natürlich allzu gut. Beweisen Sie deshalb einmal Rückrat und fol- gen Sie Ihrem Fachwissen, statt zähneknirschend von oben nach unten durchgestellte Konzepte abzusegnen. Die Legislative sitzt in diesem Haus. Nehmen Sie die Gewaltenteilung einmal ernst. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜ- NEN): 2002 wurde, zeitlich befristet bis 2008, die Möglich- keit einer sozialabgabenfreien Gehaltsumwandlung einge- führt. Damit sollten vorübergehende Anreize für eine Ausweitung der betrieblichen Altersvorsorge geschaffen werden. Versicherte und Betriebe sollten sich in dieser Zeit darauf einstellen könnten, dass mehr Eigenverantwortung zur Erreichung eines auskömmlichen Alterseinkommens erforderlich ist. Am 20. März wurde Bundesminister Franz Müntefering im Handelsblatt mit der Bemerkung zitiert: Um die Entgeltumwandlung zur betrieblichen Al- tersvorsorge auch nach dem Auslaufen der Abga- benfreiheit attraktiv zu halten, könne man über ein „Äquivalent“ reden, das aber nicht zulasten der So- zialversicherungen gehen dürfe. Weitere Überlegungen, wie bestimmte Versicherten- gruppen wie Familien mit Kindern gezielter gefördert werden könnten, fanden auch unsere Unterstützung. Nur ein Vierteljahr später war das alles Schnee von gestern. Ohne eine wirklich substanzielle Begründung verkün- dete Minister Müntefering, dass die beitragsfreie Ent- geltumwandlung unbefristet fortgesetzt werden soll frei nach dem Motto „Was kümmert mich mein dummes Ge- schwätz von gestern.“ Was war geschehen? Einfach ausgedrückt: Die Koali- tion und das Arbeitsministerium sind vor der geballten Macht der Lobbyisten aus Arbeitgeberverbänden, der Mehrheit des DGB und der Versicherungswirtschaft ein- geknickt. Die Ausweitung der Betriebsrenten wurde öffentlich als Erfolgsmodell verkauft. Tatsächlich sind die Erfolge der beitragsfreien Gehaltsumwandlung mit zusätzlich rund 2,5 Millionen Verträgen seit Anfang 2002 eher mä- ßig. Denn schließlich haben sowohl Arbeitgeber als auch Beschäftigte Vorteile, wenn sie einen Teil ihres Gehaltes sozialabgabenfrei umwandeln und damit eine betriebli- che Altersvorsorge aufbauen können. Die Kehrseite der Medaille sind regelmäßige Einnahmeverluste der Sozial- kassen. 2006 wurden dadurch den Sozialversicherungen Einnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro entzogen. Experten gehen von Beitragsausfällen in 2030 von 5 bis 20 Milliarden Euro jährlich aus. Die Bundesregierung macht Geschenke an Kernbelegschaften, die sie aber nicht aus ihrer eigenen Tasche bezahlt, sondern zulasten der Sozialversicherten. Die Senkung des Rentenniveaus infolge der unbefris- teten Entgeltumwandlung hat die Bundesregierung ge- 12292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) flissentlich ignoriert. Es wird interessant sein, wie sie die dauerhafte Senkung des gesetzlich vorgeschriebenen Ni- veausicherungsziels im nächsten Rentenversicherungs- bericht mit Maßnahmevorschlägen ausgleichen wird. Bevor Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundes- regierung zustimmen, frage ich die Abgeordneten aus den Koalitionsfraktionen: Mit welchen Maßnahmen wird diese Regierung das sinkende Rentenniveau von Geringverdienenden und Menschen mit unsteten Er- werbsverläufen ausgleichen? Diese Gruppen sind die Verlierer Ihrer Geschenke an Kernbelegschaften. Zu den Verliererinnen zählen explizit auch Frauen. Ich fasse zusammen: Der Sinneswandel der Bundes- regierung ist weder nachvollziehbar noch durch detail- lierte Analyse zur Alterssicherung für die verschiedenen Einkommensgruppen begründet. Sie ignoriert nach wie vor die Gefahr von Altersarmut einzelner Bevölkerungs- gruppen. Das steigende Altersarmutsrisiko von Gering- verdienenden und von Menschen mit Lücken in der Er- werbsbiografie wird vernachlässigt, trotz qualifizierter Hinweise der OECD und des Instituts für Arbeitsmarkt und Beschäftigungspolitik. Die steigenden Steuereinnah- men werden nicht dazu genutzt, um hier gezielt Korrek- turen vorzunehmen. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Koali- tion, Verbesserungen für die betriebliche Altersvorsorge erreichen wollen, müssen Sie zuerst die Rahmenbedin- gungen verbessern. Bündnis 90/Die Grünen wird dieser sozial unausge- wogenen Maßnahme nicht zustimmen, die Frauen, Langzeitarbeitslose und Geringverdienende belastet und Gutverdienende, dauerhaft Beschäftigte belohnt. Gerd Andres (Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- nister für Arbeit und Soziales): Mit dem Gesetzentwurf zur Förderung der betrieblichen Altersversorgung schreiben wir die Sozialabgabenfreiheit bei der Entgelt- umwandlung über das Jahr 2008 fort, und zwar unbefris- tet und dauerhaft. Das ist das Ergebnis einer intensiven Prüfung. Dabei hat die Bundesregierung auch die Wech- sel- und Folgewirkungen sorgsam abgewogen. Neue Untersuchungen zeigen: Ende des vergangenen Jahres verfügten 17,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über eine Betriebsrentenanwartschaft. Das entspricht einem Verbreitungsgrad von rund 65 Prozent bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Dazu kommt: Auch die dritte Säule der Altersvorsorge wird immer stabiler. Es gibt heute schon über neun Mil- lionen private Riester-Verträge. Das ist eine Erfolgsge- schichte, an die vor drei, vier Jahren noch niemand ge- glaubt hätte. Die von uns angestrebte Flächendeckung der Zusatz- rente ist aber – trotz der sehr positiven Zahlen – noch nicht erreicht. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir sichere und langfristig geltende Rahmenbedingungen. Diese Planungssicherheit brauchen vor allem auch die Tarifvertragsparteien. Schon in über 400 Tarifverträgen finden sich Regelungen zur Entgeltumwandlung. Wir haben die Argumente sorgsam abgewogen. Rich- tig ist, dass die Beitragsfreiheit zu Einnahmeausfällen in der Sozialversicherung führt. Richtig ist aber auch, dass ein Ende der Beitragsfreiheit in keinem Fall zu entspre- chenden Mehreinnahmen bei den Sozialversicherungen führen würde. Vielmehr ist es realistisch, dass die Bei- tragsausfälle wegen der bestehenden Ausweichmöglich- keiten dauerhaft bestehen bleiben würden. Und wichtig ist: Weder in der gesetzlichen Renten- noch in der Ar- beitslosenversicherung kommt es infolge der Beitrags- ausfälle zu einem Anstieg des Beitragssatzes. Bei der ge- setzlichen Kranken- und Pflegeversicherung muss berücksichtigt werden, dass die Betriebsrenten bei Aus- zahlung der vollen Beitragspflicht unterliegen und damit die Systeme langfristig stützen. Bei der Abwägung haben wir selbstverständlich auch berücksichtigt, dass die Beitragsfreiheit die Rentenan- passung dämpft. Dieser Effekt ist aber vergleichsweise gering. Im Verhältnis zu den mit der Entgeltumwandlung verbundenen Vorteilen kann und muss er in Kauf ge- nommen werden. Noch ein zweiter Regelungsbereich des Gesetzes ist wichtig: Die Absenkung des Unverfallbarkeitsalters bei den Betriebsrenten von 30 auf 25 Jahre. Mit dieser Rege- lung unterstützen wir nicht nur den frühzeitigen Aufbau einer Zusatzrente, sondern wir geben auch ein gleichstel- lungspolitisches Signal: Denn heute gehen viele arbeit- geberfinanzierte Betriebsrentenanwartschaften verloren, weil junge Frauen wegen der Kindererziehung vor dem 30. Lebensjahr aus den Unternehmen ausscheiden. Das wollen wir künftig verhindern. Die Altersvorsorge in Deutschland ruht auf den stabi- len Säulen – gesetzlich, betrieblich, privat. Zur Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge stellt das vorliegende Gesetz die Weichen richtig. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Bleiberecht als Menschenrecht (Ta- gesordnungspunkt 16) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ich habe bei unserer letzten Debatte im Bundestag über das Thema „Bleibe- recht“ betont, dass die Große Koalition eine Regelung finden wird, die Humanität und Rechtsstaatlichkeit mit- einander verbindet, die eine Zuwanderung in die Sozial- systeme vermeidet und die für mehr und nicht weniger Integration sorgt. Dies alles haben wir erreicht: Mit dem neuen Aufent- haltsgesetz und § 104 a haben wir ein gesetzliches Blei- berecht beschlossen, das vielen Ausländern in unserem Land eine faire Zukunftsperspektive anbietet und das insbesondere dafür sorgt, dass Kinder und Jugendliche, für die Deutschland längst Heimat geworden ist, Bil- dungschancen nutzen können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12293 (A) (C) (B) (D) Dieses gesetzliche Bleiberecht ist eine richtige Fort- entwicklung der vorläufigen Altfallregelung, die die In- nenministerkonferenz im November 2006 getroffen hat. Dieses gesetzliche Bleiberecht verlangt Integrations- leistungen von den Ausländern, die sich darauf berufen wollen, und es verlangt Achtung vor geltendem Recht. Kurzum: Unsere Bleiberechtsregelung stellt eine ge- rechte Abwägung zwischen den Interessen unserer aus- ländischen Mitbürger und den Interessen unseres frei- heitlichen Rechtsstaats dar, und wir werden als Große Koalition uns diese Bleiberechtsregelung von der Op- position nicht schlechtreden lassen. Weil Grundlage dieser Debatte ein Antrag der Linken ist, können wir auch einmal schauen, wie das Bleibe- recht in der Praxis angewandt wird. In Bayern sind zum Stichtag 30. Juni 2007 – wir ha- ben bisher nur Zahlen für den IMK-Bleiberechtsbe- schluss – von 3 000 Anträgen 1 123 positiv beschieden worden – da gab es gleich eine Aufenthaltserlaubnis –, und in 1 197 Fällen ist die Duldung erstmal verlängert worden. Nur 337 Anträge – 13 Prozent – wurden abge- lehnt. In Baden-Württemberg, in Hessen und Nieder- sachsen ist das Bild ganz ähnlich. In Berlin, wo die Linkspartei mitregiert, sind auch 3 000 Anträge gestellt worden. Nur in 404 Fällen gab es eine Aufenthaltserlaubnis, aber in 420 Fällen – das sind über 50 Prozent der bisher entschiedenen Anträge – ist das Bleiberecht abgelehnt worden. Die anderen Anträge sind möglicherweise mit Blick auf die gesetzliche Rege- lung noch gar nicht bearbeitet worden. Insgesamt haben bereits 43 000 Ausländer entweder eine Aufenthaltserlaubnis oder zumindest eine Duldung zur Arbeitsplatzsuche erhalten. Über die Anträge von weiteren 25 000 Geduldeten ist bisher noch nicht ent- schieden worden. Die Linkspartei hat keinen Grund, irgendjemandem außerhalb Berlins Hartherzigkeit vorzuwerfen, übrigens schon gar nicht Bayern. Wahr ist auch, dass die Überschrift im Antrag der Linksfraktion falsch ist. Das Bleiberecht ist kein Men- schenrecht. Weder in UNO-Konventionen oder der Eu- ropäischen Menschenrechtskonvention werden sie ein Recht darauf finden, dass ein Ausländer von sich aus entscheiden dürfte, in welchem Staat er gerade leben möchte. Ein Bleibrecht – so haben wir es geregelt – ist nur dann vertretbar, wenn einem Ausländer und insbeson- dere seinen Kindern aus Gründen, die er selbst nicht zu vertreten hat, eine Rückkehr in sein ursprüngliches Her- kunftsland aus humanitären Gründen nicht zuzumuten ist. Das muss der Maßstab für das Bleiberecht sein. Genau gegen diese Grundsätze verstößt der Antrag der Linksfraktion. Sie schreibt sogar ganz offen in ihrem Antrag, dass ein Bleiberecht auch bei Täuschungen nicht ausgeschlossen sein soll. Da sagen ich: dass ein Auslän- der, der jahrelang getrickst und die Behörden getäuscht hat, der gegen seine Mitwirkungspflichten verstoßen und etwa die Beschaffung von Passersatzpapieren vereitelt hat, der dadurch hohe Sozialleistungen kassiert hat, dass solch ein Ausländer obendrein auch noch mit einem Bleiberecht für seine Gesetzesverstöße prämiert werden soll, das ist mit uns nicht zu machen. Gerade bei der Bleiberechtsregelung kam es darauf an, dass sie auch auf Akzeptanz in unserer heimischen Bevölkerung stößt, dass sie Integrationsbereitschaft nicht gefährdet. Deshalb war es richtig, dass wir in § 104 a Aufenthaltsgesetz vorsehen, dass derjenige kein Bleibe- recht erhält, der die Ausländerbehörde vorsätzlich über aufenthaltsrelevante Umstände getäuscht oder die Auf- enthaltsbeendigung vorsätzlich behindert hat. Ich finde auch, dass wir die Mitarbeiter der Auslän- derbehörden nicht demotivieren dürfen. Sie versuchen unter schwierigen Bedingungen, im Interesse unseres freiheitlichen Rechtsstaats Abschiebungen durchzuset- zen. Ihnen würden wir als Gesetzgeber in den Rücken fallen, wenn wir denjenigen ein Bleiberecht geben wür- den, die diese Beamten der Ausländerbehörden manch- mal jahrelang zum Narren gehalten haben. Was die Linksfraktion da will, ist völlig unvertretbar. Das gilt auch noch für einen anderen Punkt: Sie will das Bleiberecht, das ihr vorschwebt, auch nicht von Inte- grationsleistungen abhängig machen. Sie verzichtet auf Deutschkenntnisse, sie verzichtet auf den Nachweis ei- nes Arbeitsplatzes und sie verzichtet darauf, dass Aus- länder ihre Kinder auf eine Schule schicken. Damit ze- mentiert sie Parallelgesellschaften. Damit verhindert sie ein Miteinander von Deutschen und Ausländern. Damit vereitelt sie Integration. Damit dient sie niemandem: we- der den Deutschen noch den Ausländern. Aber es geht ihr in Wahrheit auch nicht um Bleibe- recht und Integration. Das zeigt sich daran, dass sie keine Altfallregelung mit einem festen Stichtag will, sondern eine permanente, ungesteuerte Zuwanderung durch Täuschen und Tricksen. Darauf läuft das hinaus, was sie hier vorschlägt: Sie weiß ganz genau, dass Schlepper und Schleuser darauf sofort reagieren, dass diese jede gesetzliche Neuregelung ausnutzen, die eine ungesteuerte Zuwanderung ermöglicht. Das ist doch die Erfahrung, die in Spanien und Italien nach den Legali- sierungskampagnen gemacht wurde. Ihr Antrag ist eine Einladung, eine Begünstigung für Schlepper und Schleu- ser. Ihr geht es nicht um Bleiberecht, ihr geht es um un- gesteuerte Zuwanderung. Das lehnen wir nicht nur ab, sondern die Intentionen, die hinter ihrem Antrag stehen, verurteilen wir. Rüdiger Veit (SPD): Der Antrag der Fraktion Die Linke stammt vom 18. Dezember des letzten Jahres und damit aus einer Zeit, als die Koalitionsfraktionen inten- siv über die Frage einer gesetzlichen Bleiberechtsrege- lung verhandelt haben. Diese haben wir dann in Gestalt der § 104 a und 104 b des Aufenthaltsgesetzes in der Bundestagssitzung am 26. April 2007 verabschiedet. Ich kann mich zur Bewertung weitgehend auf meinen dama- ligen Redebeitrag beziehen, den ich wie folgt noch ein- mal zusammenfasse: 12294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Dass es überhaupt zu einer gesetzlichen Bleiberechts- regelung gekommen ist, ist meines Erachtens schon für sich betrachtet ein großer Fortschritt. Denn wir sind da- mit nicht mehr allein abhängig vom Einvernehmen sämt- licher Innenminister der Länder, die in der Vergangen- heit mit ihren Konferenzen mehr oder eher weniger wirksame Bleiberechtsregelungen beschlossen haben – zuletzt in der Sitzung am 17. November 2006, auf die ja auch der Antrag der Fraktion Die Linke Bezug nimmt. Mit dieser gesetzlichen Regelung haben wir vor allem auch den bisherigen Teufelskreis für Geduldete durch- brochen. Denn früher hieß es: „Hast du keine Arbeit, be- kommst du keine Aufenthaltserlaubnis, hast du keine Aufenthaltserlaubnis, darfst du gar nicht erst arbeiten.“ Nach diesen Vorschriften kann bisher lediglich gedulde- ten ausländischen Mitbürgern eine Aufenthaltserlaubnis auch dann erteilt werden, wenn sie in der Zeit bis zum 31. Dezember des Jahres 2009 ihren Lebensunterhalt – jedenfalls überwiegend – durch eigene Erwerbstätig- keit sicherstellen können. Vor allem in diesem Punkt geht die beschlossene gesetzliche Regelung deutlich weiter als die bisherigen Beschlüsse der Innenminister- konferenzen. Ich will aber auch bei dieser Gelegenheit nicht ver- hehlen, dass ich mir durchaus eine noch großzügigere Bleiberechtsregelung hätte vorstellen können. Dies gilt vor allem für die meines Erachtens zu langen Mindest- aufenthaltszeiten von acht für Einzelpersonen bzw. sechs Jahren bei Familien, dies gilt für die zu niedrig gewählte Grenze beim Ausschlusskriterium der Strafbarkeit (50 bzw. 90 Tagessätze), dies gilt für den Regelausschluss aller Familienmitglieder, wenn nur ein Familienmitglied solche Straftaten begangen hat. Dies gilt vor allem auch für die viel zu lange Mindestaufenthaltsdauer von sechs Jahren für Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern min- derjährig nach Deutschland eingereist sind. Was uns mit diesem Gesetz leider auch nicht gelungen ist, ist die generelle Abschaffung der sogenannten Ketten- duldungen beispielsweise durch eine entsprechende Neufassung des § 25 Abs. 4 und Abs. 5 AufenthG. Sie sehen also – dies gilt auch und gerade für die Fraktion der Antragsteller –, bei den von Ihnen ange- sprochenen Problemen sind wir als Sozialdemokraten durchaus sensibel und hätten selbst gerne mehr erreicht. Mehr war nun allerdings mit unserem derzeitigen Ko- alitionspartner – leider – nicht möglich. Aber ich will selbstkritisch auch einmal daran erin- nern, dass wir das, was uns jetzt mit den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und mit Innenminister Schäuble gelungen ist, in der früheren rot-grünen Koali- tion nicht zustande gebracht haben. Nunmehr gilt es abzuwarten, wie sich dieses Gesetz, das ja erst seit dem 27. August dieses Jahres in Kraft ist, in der Praxis bewährt. Die dazugehörigen vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des In- neren liegen gerade erst vor. Nach den letzten mir zugänglichen Zahlen per 30. Juni 2007 haben durch die Bleiberechtsregelung der Innenministerkonferenz vom 17. November 2006 knapp 15 000 Menschen eine Aufenthaltserlaubnis und rund 28 000 eine Duldung zum Zwecke der Arbeitsaufnahme erhalten. Ich hoffe sehr, dass es gelingt, mit der weitergehenden gesetzlichen Regelung noch wesentlich mehr von unse- ren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern – und vor allem den Kindern und Jugendlichen – eine dauer- hafte Perspektive durch einen gesicherten Aufenthalt in Deutschland zu bieten. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäi- schen Union durch die Bundesregierung und der Kom- promiss der Innenministerkonferenz zum Bleiberecht ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Die Zuwanderung insgesamt bedarf der Erörterung. Ein umfassendes Kon- zept zur Zuwanderungssteuerung fehlt nach wie vor. Allerdings hilft es nicht weiter, wenn die Fraktion Die Linke nun fordert, auf jegliche Zuwanderungssteuerung zu verzichten. Die Linke lehnt in ihrem vorliegenden Antrag Sprachkenntnisse als Einreisebedingung ab. Sie verlangt, dass die Täuschung deutscher Behörden über die persönliche Identität den Betreffenden nicht vorge- worfen werden darf. Die Linke spricht sich dafür aus, dass durch Migration und Integration entstehende Kos- ten für die Gesellschaft nicht mehr thematisiert werden sollen. Ein Arbeitsplatz soll keine Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung sein. Die Linke möchte, dass über „Zuwanderung in Sozialsysteme“ nicht einmal mehr gesprochen werden darf. Die Linke erweist damit den Bemühungen um Aus- länderintegration einen Bärendienst. Nachdrücklicher als durch diesen Antrag können ausländerfeindliche Vor- urteile kaum bekräftigt werden. Der Antrag würde an je- dem Stammtisch zu der Parole führen: Das haben wir ja schon immer gewusst. Wer im Kontext mit dem deut- schen Ausländerrecht wiederholt von „Entrechtung“ spricht, muss sich vorwerfen lassen, die deutsche Rechtsordnung systematisch zu diffamieren. Das passt sehr gut zur Alt-Stasi-Partei „Linke“. Die Linke tut so, als müsse nur der Zugang zu den Geldquellen des deutschen Sozialsystems geöffnet wer- den, dann wären alle Probleme gelöst. Ein solches Men- schenbild ist nicht einmal im 19. Jahrhundert aktuell ge- wesen. Aus Sicht der FDP ist Arbeit viel mehr als nur die Notwendigkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu verdie- nen. Arbeit ist ein entscheidender Integrationsfaktor. Sie ermöglicht den Zuwanderern, finanziell auf eigenen Bei- nen zu stehen, fördert so das Selbstwertgefühl nicht nur des Berufstätigen, sondern auch der Familienangehöri- gen. Sie ermöglicht soziale Kontakte und schafft Akzep- tanz in der Bevölkerung. Dies ist auch im Interesse der Gesellschaft als Ganzes. Allerdings muss die Arbeitser- laubnis ohne Restriktion mit dem Bleiberecht gekoppelt erteilt werden bzw. müssen im Vorfeld die Hürden für den Arbeitsmarktzugang beseitigt werden. Ansonsten ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12295 (A) (C) (B) (D) das Erfordernis, selbst für den Lebensunterhalt sorgen zu können, nicht praktikabel. Der sofortige Zugang zum Arbeitsmarkt muss ge- währleistet sein und darf nicht durch Überbürokratisie- rung verhindert werden. Hier bleibt die Bundesregierung weit hinter dem Nötigen und Möglichen zurück. Die Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigenständi- gen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist deshalb sehr wohl ein wichtiges Kriterium der Bleiberechtsregelung. Dies dient der Sicherstellung, dass keine Überinanspruch- nahme der Sozialleistungen oder Missbrauch erfolgt; es dient aber auch der Integration. Unseres Erachtens ist es zudem sehr wohl relevant, dass geduldete Ausländer die Behörden nicht täuschen oder behindern, was ihren aufenthaltsrechtlichen Status anbelangt. Rechtstreue und die erfolgreiche Integration müssen die entscheidenden Kriterien für die Erteilung eines Bleiberechts sein, nachgewiesen unter anderem durch eigenständig gesicherten Lebensunterhalt, deut- sche Sprachkompetenz und Akzeptanz im persönlichen, sozialen Umfeld. Ebenso wie für die Frage der Rechts- treue und die der Integration in den Arbeitsmarkt gilt das Mitwirkungserfordernis auch für die deutsche Sprach- kompetenz. Die Linke tut so, als wäre es für Menschen, die in Deutschland bleiben wollen, eine Zumutung, die deut- sche Sprache zu lernen. Tatsächlich ist es umgekehrt. Wer wirklich hier bleiben will, wird selbstverständlich auch die deutsche Sprache lernen wollen, müssen und können. Dabei ist immer auch darauf hinzuweisen, dass das auch ohne Betreuung in staatlichen Kursen möglich ist – und dafür gibt es viele gute Beispiele. Generell denke ich, dass wir Integration nicht zu- nächst als eine Bringschuld des Staates ansehen sollten, sondern die aktive Mitwirkung der Zuwanderer einfor- dern. Fördern und Fordern, klare Vorgaben und Perspek- tiven sind wesentlicher Bestandteil einer abgewogenen Ausländerpolitik. Die Linken erwecken mit ihrem An- trag den Eindruck, Geduldete könnten sich allein da- durch, dass sie sich fünf oder gar nur drei Jahre hierzu- lande aufgehalten haben, ohne aktiv etwas für ihre Integration zu tun, einen Anspruch auf ein Bleiberecht erwirken. Das weckt falsche Hoffnungen. Bundespräsident Köhler hat sich im Sommer aus- drücklich für eine Öffnung des deutschen Ausländer- rechts ausgesprochen – zu Recht. Die FDP teilt die Auf- fassung des Bundespräsidenten, dass unser Land mit Weltoffenheit besser fährt. Deutschland ist darauf ange- wiesen, als Standort für ausländische Mitarbeiter, For- scher und Entwickler sowie Unternehmer attraktiv zu bleiben. Die Einstellung von ausländischen Hochqualifi- zierten sorgt für weitere Investitionen in Arbeitsplätze und ist für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unterneh- men essentiell. Um die Arbeitsmigration sinnvoll zu steuern, hat die FDP hier konkrete Vorschläge gemacht, die auch von den Gewerkschaften und den Unternehmen dringend angemahnt werden. Wir brauchen eine Zuwan- derungssteuerung mit nachvollziehbaren Kriterien. Integrationspolitik muss werteorientiert sein. Zuwan- derer sind zu fördern, aber selbst auch klar gefordert. Die deutsche Sprache, Demokratie und Rechtsstaat, die Grund- und Menschenrechte sind das für alle geltende Fundament unserer Gesellschaft. Sie sind aber auch eine attraktive Zielsetzung für Integration. Hier bedarf es so- wohl deutlich ausgeweiteter Angebote und Anreize sei- tens des Staates als auch verständlicher Richtsätze, um ein klares Erwartungsbild an die Migranten aufzuzeigen. Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanz von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozial- systeme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie fal- sche Erwartungen weckt und statt Engagement nur An- spruchsdenken fördert. Wir Liberalen wollen dagegen Chancen eröffnen: Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht fal- sche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet. Wir wollen, dass die Menschen, die zu uns kommen, sich ihre Zu- kunft selbst erarbeiten können. Wir wollen, dass sie hier willkommen sind. Der Antrag der Linken würde genau das Gegenteil bewirken. Wir lehnen ihn klar und nachdrücklich ab. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Den vorliegenden Antrag haben wir im Frühjahr eingebracht, um für eine humane Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz zu sorgen. Die Koalitionsfraktionen haben unterdessen beides verhindert: Die nun geltende Regelung im § 104 Aufent- haltsgesetz ist nicht human, und sie ist keine Bleibe- rechtsregelung. Sie konnten sich nur zu einer inhumanen Altfallregelung durchringen. Sie ist inhuman, weil sie nur solchen Geduldeten ein Aufenthaltsrecht gewähren will, die ökonomisch nütz- lich sind und den repressiven Integrationsvorstellungen der Bundesregierung entsprechen. Deshalb wurden Be- dingungen gestellt, ohne die es kein Bleiberecht gibt: Erstens. Der bisher geduldete Aufenthalt muss mindes- tens sechs bzw. acht Jahre lang gewesen sein. Dadurch sind 100 000 Geduldete von vornherein ausgeschlossen. Zweitens. Nach jahrelangem Arbeitsverbot müssen die Betroffenen auf einmal ein Haushaltseinkommen erzie- len, das über den Sätzen für Hartz IV liegt. Drittens müs- sen die Antragsteller die Mitwirkungspflichten bei Iden- titätsfeststellung und Passbeschaffung erfüllt haben. Damit haben Sie einen Gummiparagrafen geschaffen, denn nirgendwo ist eindeutig definiert, wann Verstöße gegen die Mitwirkung nun definitiv ein Ausschlussgrund sind und wann nicht. Viertens haben Sie all jene vom Bleiberecht ausgeschlossen, die sich geringfügige Straf- taten haben zuschulden kommen lassen oder unter Gene- ralverdacht stehen, Bezüge zu extremistischen oder ter- roristischen Gruppen zu haben. Per Sippenhaft sind die Familien der Betroffenen ebenfalls ausgeschlossen. Dennoch haben Sie sich in der Öffentlichkeit als Sa- mariter gegeben. Doch um die Geduldeten und ihre Be- dürfnisse und Interessen geht es Ihnen gar nicht. Die Union hat ohne jeden nachvollziehbaren Sachzusam- 12296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) menhang die Altfallregelung mit Verschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht verknüpft. Ein Beispiel: Der Bezug um 40 Prozent verminderter Sozialleistungen ist von drei auf vier Jahre verlängert worden. Wie diese Menschen leben müssen, ist unzumutbar! Beschämend in diesem Zusammenhang ist aber auch das Verhalten der SPD-Fraktion und ihres Verhandlungs- führers Rüdiger Veit. Sie haben eine völlig unzurei- chende Altfallregelung mit Zugeständnissen erkauft, die die Lebenslage vieler Zehntausend Menschen extrem verschlechtert. Damit meine ich nicht nur die Änderung am Asylbewerberleistungsgesetz, sondern auch die Neu- regelung des Familiennachzugs. Dem Bundestag lagen qualifizierte Vorschläge für eine wirkliche Bleiberechts- regelung vor, die von Flüchtlingsorganisationen unter- stützt werden und an denen Sie sich hätten orientieren können. Aber stattdessen haben wir nun eine Altfallrege- lung, die wieder nur einem kleinen Teil der langjährig Geduldeten hilft. Die Skepsis der Linksfraktion ist wohl begründet. Die letzten Zahlen zur Umsetzung der IMK-Altfallregelung sprechen eine deutliche Sprache. Zum 30. Juni haben über 71 000 Personen einen Antrag auf Aufenthaltser- laubnis gestellt, von 170 000 Geduldeten insgesamt. We- niger als 15 000 haben eine Aufenthaltserlaubnis erhal- ten. Das freut mich für diese 15 000, aber das ist deutlich zu wenig! Weitere 30 000 haben eine Duldung erhalten, um sich einen Arbeitsplatz suchen zu können. Sie werden nun eine sogenannte „Aufenthaltserlaub- nis auf Probe“ erhalten. Damit verbessert sich ihr Status nur unwesentlich. Wohnsitzbeschränkende Auflagen gelten weiter, solange sie keinen Arbeitsplatz haben. Der Druck auf die Betroffenen ist also weiter enorm hoch. Gleichzeitig sind die Aussichten auf einen niedrigquali- fizierten Job, mit dem sich eine Familie ohne ergänzende Sozialhilfe ernähren lässt, enorm schlecht. Falls sie eine solche Arbeit bekommen, haben die Arbeitgeber ein dauerndes Druckmittel in der Hand – den drohenden Verlust der Aufenthaltserlaubnis bei Kündigung. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Von den beiden bestehenden Altfallregelungen werden viel zu wenig Betroffene begünstigt. Die Hürden sind zu hoch, für alte und kranke Menschen unerreichbar. Und vor allem: Das Versprechen, das Problem der Kettendul- dungen aus der Welt zu schaffen, haben Sie damit nicht eingelöst. Dafür hätte es weitreichender und mutiger Schritte bei der Reform des humanitären Aufenthalts- rechts gebraucht. Zu diesen Schritten waren Sie politisch nicht willens. Eine Lösung im Sinne der Betroffenen steht weiterhin aus. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Auch bei einer erneuten Beratung des Themas bleibe ich dabei: Die von der Koalition im Rahmen des EU-Richtlinienumsetzungsgesetzes beschlossene Alt- fallregelung ist deutlich zu restriktiv. Denn sie hat im Wesentlichen die einschränkenden Bedingungen des Be- schlusses der Innenministerkonferenz übernommen. Da- mit wurde das Problem der Kettenduldungen nicht gelöst und Integrationschancen vertan. Eine Reihe von Voraussetzungen für die Erlangung eines Aufenthaltstitels nach der Altfallregelung sind überdies so unpräzise – und damit auch rechtsstaatlich bedenklich formuliert – dass kaum prognostiziert wer- den kann, wann es zu positiven Entscheidungen kom- men wird und wann nicht. Überdies wird das Problem dadurch verschärft, dass die vorgeschlagenen Regelun- gen extrem unübersichtlich sind. Schließlich ist es ganz besonders bedenklich, dass im geänderten Zuwande- rungsgesetz das Bestehen einer nach Art. 6 Grundgesetz schützenswerten Familie nicht primär zum Anlass für positive Regelungen genommen wurde, sondern Fami- lienmitglieder in völlig unangemessener Weise in eine Form der Sippenhaft genommen werden. Hier möchte ich insbesondere auf die Regelung in § 104 b Aufent- haltsgesetz hinweisen, nach der der Jugendliche bleiben kann, die Eltern aber ausreisen müssen. Eine wirklich humanitäre Lösung und eine Beendigung des Zustandes der Kettenduldung lassen sich damit mit dem Regie- rungsvorschlag nicht erreichen. Daher lehnen wir ihn ab. Angesichts der Erfahrungen mit der Anwendung der den Bleiberechtsbeschluss umsetzenden Länderanord- nungen besteht die ernsthafte Gefahr, dass das Ziel des Entwurfs, langjährig im Bundesgebiet geduldeten und integrierten Ausländern eine dauerhafte Perspektive im Bundesgebiet zu eröffnen, durch intensive Anwendung der Ausschlussgründe in sein Gegenteil verkehrt wird. Ein Beleg für diese Befürchtung ist der Bericht des Bun- desinnenministeriums zur Umsetzung des Bleiberechts- beschlusses vom 7. Mai 2007, wonach von den 58 259 gestellten Anträgen 5 004 positiv entschieden, jedoch 3 402 überwiegend aufgrund von Ausschlussgründen zurückgewiesen wurden. Es sollte der Koalition zu den- ken geben, dass die Zahl der zurückgewiesenen Anträge nicht deutlich unterhalb der der positiven Entscheidun- gen liegt, obwohl es sich in beiden Fällen um faktisch in- tegrierte Personen handelt, deren rechtliche Integration Ziel des Bleiberechtsbeschlusses ist. Unsere Kritikpunkte an den Bedingungen der gesetz- lichen Bleiberechtsregelung nochmals zusammenge- fasst: Die geforderte Mindestaufenthaltszeit – acht Jahre bzw. sechs Jahre bei Familien mit Kindern – ist zu lang und wird von fast der Hälfte der Geduldeten nicht erfüllt. Darüber hinaus gibt es einen langen Katalog von Be- dingungen: von Deutschkenntnissen über den Grundsatz der Erwerbstätigkeit bis zur Straflosigkeit. Beim letzten Punkt sieht die Bundesregierung sogar eine Art Sippen- haft vor: Hat ein Familienmitglied Straftaten begangen, werden auch alle anderen vom Bleiberecht ausgeschlos- sen. Besonders problematisch: Die Ausländerbehörde darf nicht „getäuscht“ worden sein und Mitwirkungspflichten bei der eigenen Aufenthaltsbeendigung dürfen nicht ver- letzt worden sein. Beides unterstellen viele Ausländerbe- hörden bei fast allen langjährig Geduldeten und sie ver- stehen unter „vorsätzlicher Verzögerung“ nicht selten bereits die Beschreitung des Rechtsweges. Ausländerbe- hörden erhalten mit der vorgesehenen Regelung also die Möglichkeit, nahezu jeden Antrag abzulehnen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12297 (A) (C) (B) (D) Erwerbsunfähige – Kranke, Behinderte – und Alte werden faktisch vom Bleiberecht ausgeschlossen, denn für sie müssen Lebensunterhalt, Betreuung und Pflege ohne staatliche Hilfe sichergestellt sein. Das ist praktisch unerfüllbar, weil sich kaum eine Krankenkasse finden wird, die bereit ist, sie aufzunehmen. Gut integrierten Schülerinnen und Schülern im Alter von 14 bis 18 Jahren bietet die Bundesregierung ein ei- genständiges Aufenthaltsrecht an – unter der Bedingung, dass die Eltern ausreisen. Das ist zynisch, familienfeind- lich und zudem unrealistisch. Die Länder können entscheiden, dass diejenigen, die eine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitssuche erhalten ha- ben, weiterhin nur Lebensmittelpakete nach dem Asyl- bewerberleistungsgesetz erhalten. Aus unserer Sicht ist zweierlei erforderlich, um dem Problem der Kettenduldung zu begegnen. Zum einen brauchen wir eine großzügige Altfallregelung mit Bedin- gungen, die der Großteil der Geduldeten tatsächlich er- füllen kann. Zum anderen brauchen wir grundsätzliche Verbesserungen bei der Ermöglichung des Aufenthalts aus humanitären Gründen, damit auch in Zukunft – jen- seits von Stichtagen – der Übergang von der Duldung zur Aufenthaltserlaubnis erreicht werden kann. Zu bei- den Ansätzen hat die grüne Bundestagsfraktion frühzei- tig Anträge eingebracht, die aber – entgegen mancher Äußerungen in der Presse – dann bei den entscheidenden Abstimmungen von den Koalitionsabgeordneten abge- lehnt wurden. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Rechts der landwirtschaftlichen Sozial- versicherung (LSVMG) – Unterrichtung: Bericht nach § 99 der Bun- deshaushaltsordnung über die Umsetzung und Weiterentwicklung der Organisations- reform in der landwirtschaftlichen Sozial- versicherung (Tagesordnungspunkt 19 a und b) Gitta Connemann (CDU/CSU): Soziale Sicherheit für die Menschen im ländlichen Raum – dafür steht die landwirtschaftliche Sozialversicherung, über die wir heute debattieren. Sie ist das berufsständische Siche- rungssystem, das unsere Land- und Forstwirte, unsere Gärtner und ihre Familien gegen Unfall, Krankheit, Ge- brechen und Alter absichert. Die landwirtschaftliche Sozialversicherung hat sich in der Vergangenheit hervor- ragend bewährt. Zugleich konnte ein rasanter Struktur- wandel bislang sozial abgefedert werden. Die Herausforderungen werden aber größer. Mit Aus- nahme des Gartenbaus nimmt die Zahl der landwirt- schaftlichen Betriebe von Jahr zu Jahr ab. Die Zahl der versicherten Beitragszahler wird geringer und die Zahl der Empfänger steigt überproportional. Damit wächst die Kostenbelastung der aktiv wirtschaftenden Land- wirte und ihre Sorge. Denn gerade die die Sicherheit der Versorgung im Alter ist für unsere Bäuerinnen und Bau- ern, die Altenteiler, ein hochsensibles Thema, das mit Ängsten verbunden ist. Es besteht Handlungsbedarf. Für diese Feststellung brauchte es nicht des aktuellen Berichts des Bundesrech- nungshofes. Ich bin dankbar, dass sich die Bundesregie- rung unter Führung von Herrn Minister Seehofer der Aufgabe gestellt hat, die landwirtschaftliche Sozialversi- cherung zukunftsfest zu machen. Nach vielen Jahren, in denen einerseits die Bundes- mittel, etwa für die landwirtschaftliche Unfallversiche- rung, gekürzt worden sind und andererseits systemsi- chernde Vorschläge des Berufsstandes außer Acht gelassen worden sind, kann dieser Kraftakt nicht hoch genug bewertet werden. Es besteht Einigkeit: Das Ge- setz zur Modernisierung des Rechts der landwirtschaftli- chen Sozialversicherung muss 2008 in Kraft treten. Mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf wollen wir erreichen, dass die agrarsozialen Sicherungssysteme sta- bilisiert und an den nach wie vor anhaltenden Struktur- wandel angepasst werden. Nur so lassen sich stabile Bei- träge erreichen. Der Gesetzentwurf sieht zahlreiche Maßnahmen vor, die organisatorische Änderungen in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung beinhalten. Auch im Leistungs- und Beitragsbereich der landwirtschaftli- chen Unfallversicherung wird es zu Änderungen kom- men. Letztere Änderungen werden vom landwirtschaftli- chen Berufsstand mitgetragen, dem ich an dieser Stelle höchstes Lob zollen und Dank sagen möchte. Ich kenne keine andere Branche, die schon so frühzeitig betrieblich durchaus schmerzhafte Änderungen des Leistungsrechts angemahnt hat, um mittelfristig spürbare finanzielle Ein- sparungen im Bereich der landwirtschaftlichen Unfall- versicherung zu erreichen. Bereits im Februar 2004 ha- ben Deutscher Bauernverband und Gesamtverband der Deutschen Land- und Forstwirtschaftlichen Arbeitgeber- verbände Maßnahmen gefordert, die jetzt zum überwie- genden Teil in dieses Gesetz mit eingeflossen sind. Über weitere Vorschläge – etwa über den Vorschlag einer ren- tenentschädigungspflichtigen Minderung der Erwerbsfä- higkeit erst ab 30 Prozent anstelle von bisher 20 Prozent und den Wegfall des Rentenbezuges ab Erreichen der Regelaltersrente – wird im Lauf des Gesetzgebungsver- fahrens zu sprechen sein. Der Berufsstand hat damit frü- her als alle anderen seine Hausaufgaben gemacht. Die Landwirtschaft, die sich so vorbildlich einge- bracht hat, hat verdient, dass sich der Bund seiner Ver- antwortung ihr gegenüber bekennt. Und das hat er mit seinen Haushaltsplanungen für 2008 getan. Denn im Entwurf für den Haushalt des Bundesminis- teriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- schutz für das Jahr 2008 sind einerseits 100 Millionen Euro als Beitragszuschuss für die landwirtschaftliche Unfallversicherung vorgesehen. Gleichzeitig sollen ins- gesamt 400 Millionen Euro zusätzlich aus Vermögens- verkäufen zur Verfügung gestellt werden, um die Emp- 12298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) fänger von kleineren Unfallrenten im Rahmen einer zeitlich begrenzten Aktion abzufinden. Weitere 250 Mil- lionen Euro sind von den landwirtschaftlichen Berufsge- nossenschaften aus dem Vermögen aufzubringen. Ziel ist es, den Rentenaufwand dauerhaft um 100 Millionen Euro zu senken. Das Interesse an dieser Abfindung ist zu Recht hoch. Denn bei vielen wird sich, quer durch alle Altersgrup- pen, die Abfindungsregelung rechnen. Allerdings ist die Feststellung immer für den Einzelfall unter entsprechen- der Flankierung von landwirtschaftlichen Berufsverbän- den und Berufsgenossenschaften zu treffen. Damit es nicht zu Schlechterstellungen kommt, ist im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob die parallele Weitergeltung der Abfindungsregelungen des SGB VII dazu führen kann, dass die Abfindungssumme insbeson- dere in den ersten 15 Jahren nach dem Unfall nach den Regeln der Sonderaktion niedriger ausfällt als nach Nor- malrecht. Zum anderen beziehen sich die Werte der Ab- findungstabellen auf Sterbetafeln der 60er-Jahre. Für den Fall, dass im Rahmen einer Reform des Rechts der ge- setzlichen Unfallversicherung dann aktuelle Sterbetafeln und damit zwangsläufig bessere Kapitalisierungsfakto- ren zur Anwendung kämen, müsste gegebenenfalls auch über die Aufnahme einer einschlägigen Vorbehaltsklau- sel nachgedacht werden. Aus meiner Sicht ist es absolut begrüßenswert, dass die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften ver- pflichtet werden sollen, ihre Beitragsmaßstäbe, wohlge- merkt bei regionaler Festsetzung, flächendeckend am Unfallrisiko zu orientieren. Die Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften Niedersachsen-Bremen und Nord- rhein-Westfalen haben diesen Schritt schon vollzogen. Andere, zum Beispiel die Landwirtschaftlichen Berufs- genossenschaften Schleswig/Holstein und Hamburg, Hessen-Rheinland-Pfalz und Saarland, Niederbayern/ Oberpfalz und Schwaben sowie Baden-Württemberg werden in absehbarer Zeit folgen. Diese Anwendung risikoorientierter Beitragsmaß- stäbe in ganz Deutschland ist aus meiner Sicht eine we- sentliche Gerechtigkeitsvoraussetzung für den geplanten partiellen Lastenausgleich zwischen den landwirtschaft- lichen Berufsgenossenschaften. Strukturell benachtei- ligte landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften, die hohe Kosten für Altrenten tragen müssen, sollen entlas- tet werden. Grundsätzlich ist es richtig, mithilfe einer Lastenver- teilung unter den landwirtschaftlichen Berufsgenossen- schaften bundesweite Solidarität herzustellen. Solidarität bedeutet aber immer auch, Lastenverschiebungen inner- halb des Systems vorzunehmen. Innerhalb des Systems würde dies zu Lastenverschiebungen beispielsweise vom Norden und vom Osten in den Süden. Die Selbstverwal- tung hat hier sicherlich einen hohen Grad an solidari- scher Verantwortung. Auch die landwirtschaftlichen Be- rufsgenossenschaften im Norden sind aufgrund der bundespolitischen Forderung nach mehr innerlandwirt- schaftlicher Solidarität nicht grundsätzlich abgeneigt. Über die inhaltliche Ausgestaltung muss jedoch schon allein deswegen noch beraten werden, weil verlässliche Berechnungen nicht bekannt sind. Modellberechnungen durch das BMELV, aus dem sich die Auswirkungen des mit den derzeitigen Parametern vorgesehenen Aus- gleichsverfahrens ergeben – es geht um die Frage, ob die Zielsetzung des Gesetzgebers damit erreicht wird –, wurden bisher nicht vorgelegt. Es fehlt die nachvollziehbare Definition des Eigenan- teils einer jeden landwirtschaftlichen Berufsgenossen- schaft sowie auch die Parameter der Altlastverteilung, eines Ausgleichsverfahrens im engeren Sinne. Analog der Bestrebungen im Bereich der gewerblichen Berufs- genossenschaften sollte dies der Selbstverwaltung des LSV-Spitzenverbandes unter Setzung einer angemesse- nen Frist überlassen werden. Das wäre nun wirklich eine wichtige und zentrale Aufgabe eines bundesweit zustän- digen Gremiums. Es darf nicht dabei bleiben, dass die Verteilung der Altlast nach beitragsbelastbaren Flächenwerten erfolgt, die auf die Lage jeder einzelnen Parzelle abstellt. Dies ist nämlich mit den derzeit vorhandenen Daten der LSV- Verwaltungsgemeinschaften nicht möglich. Hierzu wäre die aus wirtschaftlichen Gründen bisher stets zurückge- wiesene Einführung eines Flurstückkatasters erforder- lich. Vor allem scheint mir die Festlegung der von den ein- zelnen LBGen zu tragenden Neulast mit dem zweifachen der Jahresrenten der letzten 5 Jahre eher willkürlich zu sein; sie überstrapaziert den solidarischen Altlastenaus- gleich. Ich möchte dies am Beispiel des Gartenbaus beispiel- haft deutlich machen. Die Situation dort unterscheidet sich erheblich von der in der übrigen Land- und Forst- wirtschaft. Dies gilt nicht nur für den Kreis der Versi- cherten, sondern auch für die Zahl der versicherten Unternehmen. So ist die Zahl der versicherten Unterneh- men in den letzten zehn Jahren entgegen der sonstigen Entwicklung erheblich gestiegen. Im Übrigen sind bei den Sozialversicherungsträgern für den Gartenbau er- heblich mehr Arbeitnehmer als Unternehmer versichert. Viele der jetzt debattierten Änderungen sind bereits um- gesetzt. Es gibt einen bundeseinheitlichen Träger sowie einen bundesweit einheitlichen Beitragsmaßstab. Der Gartenbau soll nun nach dem vorliegenden Entwurf wie ein regionaler Träger in den innerlandwirtschaftlichen Solidaritätsausgleich einbezogen werden. Angesichts der zu erwartenden erheblichen finanziellen Zusatzlast, die sich zwingend auf die Beiträge niedergeschlagen muss, wird diese Einbeziehung abgelehnt. Ich kann dies persönlich nachvollziehen. Denn hier kann der Eindruck entstehen, dass die Gartenbaubetriebe nach Vorleistung erneut zur Kasse gebeten werden sollen. Es gibt also durchaus noch Klärungs- und Abstim- mungsbedarf. Die Betroffenen müssen die Möglichkeit haben, sich zu äußern. Deshalb ist es auch gut und ver- nünftig, wie geplant eine Anhörung durchzuführen. Denn so können offene Fragen, auch strittige Punkte er- örtert werden. Die Große Koalition zeigt damit mehr Weisheit und auch Demokratieverständnis als die dama- lige Bundesministerin Renate Künast. Unter ihrer Ägide wurde 2001 eine Organisationsreform in der landwirt- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12299 (A) (C) (B) (D) schaftlichen Sozialversicherung beschlossen – hemdsär- melig, ohne vorherige Anhörung. Das ist nicht unser Stil. Wir setzen auf den konstruktiven Dialog mit unse- rem Berufsstand, seinen Verbänden, den Sozialversiche- rungsträgern und ihren Mitarbeitern. Denn wie schon Joseph Joubert wusste: Nicht Sieg sollte der Sinn der Diskussion sein, sondern Gewinn. Marlene Mortler (CDU/CSU): Die landwirtschaftli- che Unfallversicherung muss dringend reformiert wer- den. Das war unsere langjährige Forderung als Union in der Opposition. Nun ist es soweit. Heute haben wir die erste Lesung. Aber bis hierhin war es ein langer Weg. Die ersten Eckpunkte wurden in der Koalitionsvereinba- rung von Schwarz-Rot gelegt. Die wichtigsten Ziele sind eine angemessene Beitragsbelastung der landwirtschaft- lichen Betriebe und innerlandwirtschaftliche Solidarität. Uns ist klar, dass diese beiden Punkte am besten durch die Schaffung eines Bundesträgers erfüllt werden könn- ten. Schon im Koalitionsvertrag haben wir darauf hinge- wiesen: Sollte die Schaffung eines Bundesträgers nicht möglich sein, ist ein anderer Mechanismus zur Stärkung der innerlandwirtschaftlichen Solidarität erforderlich. Ich danke an dieser Stelle Horst Seehofer. Er hat mit beispielhaftem Geschick dieses Gesetz auf den Weg ge- bracht. Und ich sage ausdrücklich: Diese Reform hat ih- ren Namen auch wirklich verdient. Trotzdem wird bis zum heutigen Tag über Vorteile, über Nachteile, über mehr Einfluss, über mehr Gerechtigkeit, über mehr Geld, über mehr Kontrollen diskutiert. Wir haben uns nicht beirren lassen und immer wieder das große Ganze im Blick behalten. Zunächst mussten viele grundsätzli- che Fragen geklärt werden, zum Beispiel: Kann das Sys- tem nicht auf eine private Versicherungsbasis gestellt werden? Die Antwort der privaten Versicherungswirt- schaft lautet: Mit der alten Last können wir es nicht billi- ger machen und ohne alte Last nicht besser. Die zweite Frage: Welche finanziellen Auswirkungen hätte die Umstellung des LUV-Systems auf ein kapital- gedecktes Sicherungssystem? Das Ergebnis eines aus- führlichen wissenschaftlichen Gutachtens war: Es wird für beide, für den Bund, aber insbesondere auch für die Versicherten sehr teuer. Ein kostenentlastender Effekt stellt sich zudem nur äußerst mittel- bis eher langfristig ein. Also schied auch diese Möglichkeit aus. Dritte Frage – und damit waren wir wieder am Aus- gangspunkt –: Wie können wir unser umlagenfinanzier- tes Versicherungssystem zukunftsfest machen? Wie kön- nen wir es sinnvoll reformieren? Sinnvoll heißt für mich: Wie können die landwirtschaftlichen Betriebe beitrags- mäßig entlastet werden? Denn Jahr für Jahr gibt es im- mer weniger Beitragszahler auf der einen und immer mehr Leistungsempfänger auf der anderen Seite. Der entscheidende Kern unserer Reform ist eine Ab- findungsaktion von Unfallrenten. Das heißt, jeder Bezie- her einer Unfallrente, auch Arbeitnehmer deren MDE unter 50 Prozent liegt, kann einen Antrag auf einmalige Abfindung stellen. Durch das Herauskaufen der Unfall- renten soll der Rentenbestand – also die sogenannte alte Last – um 100 Millionen von 400 auf 300 Millionen Euro reduziert werden. Damit diese Aktion voll und schnell greifen kann, ist es wichtig, dass das Gesetz zum 1. Januar 2008 pünkt- lich in Kraft tritt. Denn die Abfindungsaktion ist auf die Jahre 2008 und 2009 begrenzt. Nur für diesen Zeitraum und nur in diesen beiden Jahren gibt es mehr Geld vom Bund, in Höhe von jeweils 200 Millionen Euro. Das ist nicht selbstverständlich. Ich danke an dieser Stelle Horst Seehofer ein zweites Mal. Er ist der Bundes- minister, der die Bundesmittel für die landwirtschaftli- che Unfallversicherung in seiner Amtszeit nicht gekürzt hat. Im Gegenteil: Er nimmt zusätzliches Geld in die Hand für eine tragfähige Reform. Aber nicht nur der Bund nimmt zusätzliches Geld in die Hand, sondern auch die regionalen Berufsgenossenschaften sind gefor- dert. Wird zum Beispiel eine Unfallrente mit 16 250 Euro abgefunden, dann stammen 10 000 Euro vom Bund und 62,5 Prozent – in diesem Fall 6 250 Euro – muss die je- weilige Unfallversicherung drauflegen. Uns ist bewusst, dass es der einen Berufsgenossenschaft sehr leicht fallen wird und der anderen Berufsgenossenschaft sehr, sehr schwer fallen wird weiteres, eigenes „freies“ Geld auf- zubringen. Deshalb ist die nächste entscheidende Frage: Was müssen wir tun, damit die neue alte Last nicht wieder an- wächst und der positive Effekt der Abfindungsaktion schon nach ein paar Jahren verpufft ist? Das heißt, wir brauchen weitere Stellschrauben, um Einsparungen in der Unfallversicherung zu erzielen. Hier gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen im Leistungsbereich und zum anderen bei den Verwaltungskosten. Aus meiner Sicht reichen die Stellschrauben im Leistungsbereich längst nicht aus. Wir werden zwar die Selbstbeteiligung bei der Betriebs- und Haushaltshilfe einführen. Wir werden au- ßerdem die Wartezeit bei Unfallrenten von derzeit 13 auf 26 Wochen erweitern. Aber zu einer ehrlichen Diskus- sion gehört es, aufzuzeigen, dass zum Beispiel über ein Drittel des jährlich entstehenden Neurentenvolumens auf Altenteilerrenten entfallen. Wollen wir also auf Dauer zu einer echten Kostenent- lastung kommen, müssen wir den Vorschlag intensiv auf den Ausgabenblock mit dem größten Einsparpotential schauen. Was spricht also dagegen, dass man Altentei- lern, die bereits über Altersrenten und Austragsleistun- gen abgesichert sind, bei einem neu eintretenden Berufs- unfall keine Rente mehr gewährt? Ich will aber klarstellen: In bestehende Rentenverhältnisse soll kei- nesfalls eingegriffen werden. Andererseits erhalten Al- tenteiler schon nach geltendem Recht eine deutlich redu- zierte Unfallrente. Damit wird auch nur noch der abstrakte Gesundheitsschaden ausgeglichen. Zum Lastenausgleich. Bei diesem Punkt gibt es nach meiner Meinung die größten Missverständnisse. Fakt ist: Seit 1963 erhalten landwirtschaftliche Berufsgenossen- schaften jährlich Bundesmittel zur Beitragssenkung. 1980 hat man mit Zustimmung aller Berufsgenossen- schaften den sogenannten 79er-Schlüssel eingeführt. Auf 12300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Heute übertragen heißt das: Von den zurzeit gewährten Bundesmitteln in Höhe von 200 Millionen Euro werden 14 Millionen umverteilt. Sie werden deshalb umverteilt, weil es regional unterschiedliche Strukturen gibt. Ob kleinere Betriebe, größere Betriebe, mehr Strukturwan- del, weniger Strukturwandel: Unterbelastete LBGen werden also belastet und überbelastete LBGen werden entlastet. Das ist bis heute so gewollt und akzeptiert. Spätestens ab 2010, wenn es nur noch 100 Millionen Bundesmittel gibt, kann dieser Mechanismus nicht mehr voll greifen. Das heißt, wir brauchen eine Anschlussre- gelung für den sogenannten 79er-Schlüssel. Denn statt 14 Millionen hätten wir nur noch 7 Millionen Euro Um- verteilungsmasse. Das LSVMG sieht deshalb rund 3,2 Prozent des gesamten Umlagevolumens für die soli- darische Umverteilung vor. Noch eines muss ich klarstellen: Die Einführung des Lastenausgleichs hat mit der Umstellung der Beitrags- maßstäbe überhaupt nichts zu tun. Das ist alleine Sache der regionalen Träger. Ein Bundesträger hätte viel gra- vierendere Auswirkungen. Allerdings begrüße ich es, dass der Gesetzentwurf vorsieht, dass die einzelnen LBGen ihre Beitragsmaßstäbe verändern. Es soll zwar kein bundeseinheitlicher Beitragsmaßstab geschaffen werden, aber die Berufsgenossenschaften müssen zwin- gend dafür sorgen, dass sie ihre Maßstäbe wesentlich ri- sikogerechter ausgestalten. Ich fordere alle Berufsgenos- senschaften auf, ihre Hausaufgaben bis spätestens Ende des Jahres 2008 zu machen. Ein Bundesträger muss nicht automatisch besser und wirtschaftlicher arbeiten. Aber im Bericht des Bundes- rechnungshofs zur Organisationsreform in der LSV vom 17. Juli 2001 wird klar: Keiner der verbliebenen Träger hat seine Aufgaben so gut gemacht, dass wir zufrieden sein könnten. Deshalb ist unsere Antwort: Wenn kein Bundesträger durchzusetzen ist, brauchen wir einen ge- meinsamen Spitzenverband, auf den weitere Aufgaben konzentriert werden müssen. Das sind vor allem Zentral- und Querschnittsaufgaben. Und der Nutzen der ange- strebten Synergieeffekte muss am Ende den landwirt- schaftlichen Betrieben zugute kommen. Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Der Bundes- rechnungshofbericht über die Umsetzung der Organisa- tionsreform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung zeigt einen deutlichen Handlungsbedarf auf. Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Rechts der landwirt- schaftlichen Sozialversicherung ziehen wir die Konse- quenzen daraus, soweit es uns möglich ist. Ich betone: soweit es uns als Bund möglich ist. Notwendig wäre eine weitreichende Reform. Es ist ja kein Geheimnis, dass ich weiterhin einen Bundesträger als die beste Lösung ansehe. Es gab dazu sowohl von den Ministerien als auch von uns Abgeordneten etliche Gespräche. So gut es ist, dass wir hier auf Bundesebene alle an einem Strang ziehen, so bedauerlich ist es, dass die Länder sich einfach querstellen und sogar Vorschläge im Bundesrat auf den Tisch legten, die hinter die Reform von 2001 zurückfallen. Wir wollen die landwirtschaftliche Sozialversiche- rung für die Zukunft erhalten. Das geht aber nur, wenn alle ihre Hausaufgaben machen. Der Bund hat seine Ver- antwortung immer wahrgenommen. Sie wissen, dass wir in der Vergangenheit erhebliche Anstrengungen dazu ge- leistet haben. Ich will nur darauf verweisen, dass wir zweimal Bundesvermögen veräußert haben, um die Bei- träge stabil zu halten. Und wir stehen dazu, dass der Bund seine finanzielle Unterstützung fortsetzen wird, al- lerdings nur, wenn diese Mittel sparsam und wirtschaft- lich verwendet werden. Eine Blockade von Trägern oder von den Ländern gefährdet den Bundeszuschuss. Ich weiß, dass manche Länder die Position vertreten, eigentlich passe ja alles, nur der Bundeszuschuss sei zu niedrig. Es gibt auch immer noch Menschen, die glau- ben, die Welt sei eine Scheibe. Es ist endlich einmal an der Zeit, dass die Länder anerkennen, dass sie in der Pflicht sind. Wir müssen nicht nur unserem Haushaltsausschuss begründen können, warum wir in den nächsten zwei Jah- ren 400 Millionen Euro zusätzlich für die Abfindungsak- tion ausgeben wollen, sondern besonders allen Steuer- zahlern. Schauen Sie in den Bundesrechnungshofbericht, er lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Bundesmittel wird es in Zukunft nur geben, wenn wir eine effektive Organi- sation hinkriegen. Wir brauchen einen deutlichen Schritt nach vorne. Das, was dem Bundesrat an Empfehlungen vor seiner Sitzung morgen vorliegt, ist ein Schritt zurück. Die Län- der, die eine effektive Organisation verhindern, müssen sich über eines klar sein: Sie müssen dann aber auch die Scherben zusammenkehren. Wir haben mit dem LSV-Modernisierungsgesetz ei- nen Vorschlag auf dem Tisch liegen, der gerade für die Unfallversicherung eine deutliche Stabilisierung für die Zukunft bringen kann. Die Abfindungsaktion wird die Kosten für die Zukunft nachhaltig reduzieren. Dasselbe gilt für die Veränderungen im Leistungsbereich, die aus meiner Sicht tragbar sind. Weitere Vorschläge zum Leistungsrecht sind an uns herangetragen worden. Wir werden dies in der Anhörung und in den Ausschussberatungen prüfen. Aber auch hier liegen Vorschläge auf dem Tisch, die eine Kostenverla- gerung auf den Bund bedeuten. Ich bin für vieles offen, aber solchen Vorschlägen werden wir nicht zustimmen. Handlungsbedarf besteht auch wegen der eklatanten Beitragsunterschiede zwischen den verschiedenen Trä- gern für vergleichbare Betriebe. Auch dazu enthält unser Gesetzentwurf Vorschläge, die wir sicher noch ausführ- lich diskutieren werden. Es gibt also die Notwendigkeit und den Spielraum für mehr Solidarität innerhalb der Landwirtschaft – die Notwendigkeit vor allem deshalb, weil erst dann, wenn diese Spielräume genutzt sind, die Solidarität der Steuerzahler eingefordert werden kann. Wir werden auch über die Organisation weiter disku- tieren müssen. Wir wollen die Interessen des Bundes, der betroffenen Landwirte und Gärtner sowie des Perso- nals wahren. Dazu sind Änderungen möglich. Aber eines wird sich nicht ändern: Wir haben ein Paket vorliegen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12301 (A) (C) (B) (D) das nicht aufgeschnürt wird. Die Abfindungsaktion und den Lastenausgleich gibt es nur mit der Organisationsre- form. Wir wollten eigentlich eine weitergehende Reform machen. Das ist leider nicht möglich. Politik ist die Kunst des Möglichen. Das Mögliche machen wir. Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Gerne hätte ich mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regie- rungskoalition, heute hier zur normalen Tageszeit über den Gesetzentwurf zur Modernisierung der landwirt- schaftlichen Sozialversicherung, LSV, diskutiert. Ich nehme an, es war Absicht, die Tagesordnung so zu ge- stalten, dass keine direkte Aussprache stattfindet. Denn: Betrachtet man das Meinungsbild innerhalb der Koali- tionsfraktionen oder zwischen Bund und Ländern zum Thema LSV, so könnte es dissonanter nicht sein. Nur eins ist allen gemeinsam: die Unzufriedenheit mit dem vorliegenden Entwurf. Die versprochene grundlegende Reform wird zur Scheinreform, ausgekungelt und möglichst hinter ver- schlossenen Türen auf den Weg gebracht, damit der Ko- alitionsfrieden nicht leiden möge. Selbst die verfas- sungsrechtliche Frage der „Zustimmungspflichtigkeit“ wird zum politischen Spielball. Und am Ende will keiner für diesen Murks verantwortlich gewesen sein. So sieht schwarz-rote Agrarsozialpolitik unter dem „Obersozial- politiker“, Zitat Bild-Zeitung, Horst Seehofer aus. Zwei Jahre sind vorbei. Es ist ein Trauerspiel, mit an- sehen zu müssen, wie diese schwarz-rote Koalition mit groß angekündigten Reformvorhaben umgeht. Verläss- lichkeit und Planungssicherheit sind Fremdworte. Ge- genseitige Blockade und Handlungsunfähigkeit prägen das Bild. Die FDP-Fraktion plädiert seit Anbeginn der Legisla- turperiode für ein echtes Reformkonzept: die Umstel- lung der landwirtschaftlichen Unfallversicherung auf ein kapitalgedecktes Finanzierungssystem. Sie hat dafür zwar Kritik seitens aller anderen Fraktionen einstecken müssen, gleichzeitig aber von den Betroffenen und deren Verbänden viel Unterstützung erfahren. Man muss sich in dieser Debatte einmal die Frage stellen, um was es eigentlich bei diesem Gesetz geht. Es geht eben nicht in erster Linie darum, ob der Bund oder die Länder mehr Einfluss erhalten, ob Bundesträger oder Spitzenkörperschaft, ob Lastenausgleich 2010 oder 2011. Das sind doch reine Ablenkungsmanöver einer Koalition, die handlungsunfähig ist. Es geht ganz einfach darum, die landwirtschaftliche Sozialversicherung zukunftsfest zu machen. Und das er- reichen Sie angesichts des dramatischen Strukturwan- dels in der Landwirtschaft weder mit einer 20-prozenti- gen Reduzierung der Verwaltungsausgaben noch mit einer teuren ineffektiven Abfindungsaktion und schon gar nicht mit einer Minireform im Leistungskatalog. Das erreichen Sie nur, wenn Sie wirklich reformieren und konsequent das gesamte System umstellen. Selbstverständlich ist die FDP gerne bereit, konstruk- tiv an notwendigen Anpassungen bei der Organisation, der Beitragsbemessung oder dem Leistungskatalog mit- zuarbeiten. Nur, den Landwirten Sand in die Augen zu streuen und dies als Lösung für die strukturbedingten Probleme zu präsentieren, das geht nicht. Da macht die FDP nicht mit. Die Reformschwäche von Minister Seehofer geht so- wohl zulasten der Landwirte als auch zulasten des Haus- halts – und damit aller Steuerzahler. Die Abfindungsak- tion für Kleinstrenten ist aus meiner Sicht reine Geldverschwendung. In den nächsten beiden Jahren sol- len 800 Millionen Euro in ein längst nicht mehr finan- zierbares System gesteckt werden, und danach wundern sich alle, wenn sie 2010 erneut vor leeren Kassen stehen. Selbst der agrarpolitische Sprecher der CDU/CSU-Ko- alition schließt ein Scheitern nicht mehr aus. Die FDP setzt sich stattdessen mit ihrem Vorschlag für einen nachhaltigen, zukunftsfesten Umgang mit Steuermitteln ein. Wie brisant das Thema inzwischen ist, zeigt nicht zu- letzt der umfangreiche Empfehlungskatalog der Bundes- ratsausschüsse, der 48 Änderungsvorschläge bzw. Emp- fehlungen umfasst. Drei konkrete Punkte möchte ich aufgreifen: Erstens: fehlende Planungssicherheit. Die Länder for- dern die gesetzliche Verankerung der zugesagten jährli- chen Bundesmittel für die landwirtschaftliche Unfallver- sicherung. Zweitens: fehlender Vertrauensschutz. Die Länder for- dern, die Diskriminierung der landwirtschaftlichen Kran- kenkassen bei der Teilhabe an Bundesmitteln für versiche- rungsfremde Leistungen aufzuheben. Drittens: fehlende Verfassungsmäßigkeit. Die Länder fordern, ihre Belange und Interessen ausreichend zu be- rücksichtigen und einzuarbeiten. Andernfalls sei die An- rufung des Vermittlungsausschusses unausweichlich. Auf Anregung der FDP-Fraktion wird eine Anhörung zu diesem Gesetzentwurf stattfinden. Wir sind es leid, dass die Landwirte unter Schwarz-Rot immer wieder mit faulen Kompromissen leben müssen. An diesem ver- gleichbar kleinen Reformvorhaben zeigt sich die ganze Schwäche der sogenannten Großen Koalition. Noch ist dieses Gesetz nicht verabschiedet. Am besten wäre, es ganz einzustampfen. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Für die Frak- tion Die Linke sind auch im Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Sozialversicherung zwei Fragen entscheidend: Erstens. Leistet sie die Absicherung, die gebraucht wird? Zweitens. Sind die Beiträge auch für die bezahl- bar, die auf diese Leistung angewiesen sind? Im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung geht es aber zunächst leider eben nicht darum, wie diese wichtigen Fragen geregelt werden, sondern wie so oft werden zunächst „nur“ Strukturfragen geregelt. Aber über solche Strukturentscheidungen werden natürlich 12302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Züge auf die Schiene gestellt. Deshalb lohnt es sich schon zu prüfen, wo die Reise hingehen soll. Zunächst wird die Errichtung eines gemeinsamen Spitzenverbandes für die gesamte landwirtschaftliche Sozialversicherung als Körperschaft des öffentlichen Rechts vorgeschlagen, weil das eigentliche Ziel eines bundeseinheitlichen Trägers nicht erreicht wurde. Da- für gibt es durchaus auch triftige Gründe. Die bisherige Anzahl der Träger der LSV von neun bleibt erhalten. Die bisherigen Erfahrungen mit der Umorganisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung sind er- nüchternd. Bundesrechnungshof und Bundesregierung stimmen in der Bewertung des ersten Gesetzes zur Or- ganisationsreform in der landwirtschaftlichen Sozial- versicherung vom 17. Juli 2001 überein: Diese Reform ist gescheitert. Der Bundesrechnungshof hatte übrigens daraus schlussfolgernd eine radikale Verminderung der Träger auf nur noch vier bundesweit zentral organi- sierte vorgeschlagen. Die Bundesregierung schafft da- gegen eine zusätzliche Struktur, den Spitzenverband. Wie damit die Wirtschaftlichkeit und Effektivität des Systems verbessert werden kann, muss zumindest hin- terfragt werden! Ich gehe davon aus, dass wir in eini- gen Jahren erneut ein Gesetz zur Organisationsreform diskutieren, weil dieses Zwischengesetz nicht zum Ziel führt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Zentralisie- rungsidee des Bundesrechnungshofes ist nicht wirklich innovativ und ob sie der Komplexität der Probleme ge- recht wird, darf ebenso bezweifelt werden. Solange wir Strukturfragen als Alibidebatte diskutieren, weil wir an die eigentlichen Probleme wie Beitragsgerechtigkeit nicht konsequent genug herangehen, werden wir keine tragfähige Lösung finden. Dabei gibt es gute Beispiele dafür, wie es gehen könnte. Eine bundesweite vergleichsweise effiziente und funktionierende Unfallversicherung im Agrarsektor existiert zum Beispiel mit der Gartenbau-Berufsgenos- senschaft. Ihre Bezuschussung durch den Bund ist sogar vergleichsweise gering! Lösungen, die vom Bundesrech- nungshof angemahnt wurden, sind dort schon umgesetzt. Die Gartenbau-Berufsgenossenschaft hat sich in jünge- rer Zeit mit eigenen Vorschlägen in die Debatte um die Reform der Sozialversicherung eingebracht. Sicher hat auch sie nicht den Königsweg zur Reform zu bieten, aber es finden sich einige Aspekte in der Organisation und Arbeit der Gartenbau-BG, die es wert sind, in die Debatte um die LSV insgesamt Eingang zu finden. Meine Fraktion ist jedenfalls für eine sorgfältige Prüfung dieser Erfahrungen. Vor allem die Fragen zur Zentrali- sierung von Teilaufgaben, zur Beitragsgerechtigkeit für die Mitglieder und zur Risikoorientierung sind aus unse- rer Sicht von Bedeutung. In der Unfallprävention sind dabei ebenfalls Fortschritte zu erreichen, die weiter ge- hen als wir sie aus der Landwirtschaft kennen. Und Prä- vention ist meistens allemal billiger als Schadensregula- tion. Eine umfassende Evaluierung der existierenden Berufsgenossenschaften wäre dringend erforderlich, denn der Bundesrechnungshof hat vorwiegend aus be- triebswirtschaftlichem Blickwinkel evaluiert – wir brau- chen aber den volkswirtschaftlichen Blickwinkel. Das heißt aus meiner Sicht, dass die angepeilte 100-Mil- lionen-Euro-Senkung des Bundeszuschusses eben nicht zum alleinigen politischen Mantra werden darf. Der Strukturwandel, die sehr unterschiedlichen Betriebsfor- men und -größen und die Spezialisierungen der Land- wirtschaftsbetriebe machten es nicht einfacher. Die da- mit verbundenen sehr unterschiedlichen Risiken müssen besser berücksichtigt werden, ohne die Solidarität mit denen aufzukündigen, die auf diese soziale Absicherung angewiesen sind. Das ist jedenfalls für Die Linke ein we- sentliches Kriterium in der Debatte. Das trifft übrigens auch auf die Personalvertretungs- rechte der Beschäftigten der Versicherungsträger zu. Sie müssen in alle ihre Belange betreffenden Entscheidun- gen frühzeitig und selbstverständlich wirkungsvoll ein- bezogen werden. Dazu haben sie Vorschläge gemacht, die ernsthaft diskutiert werden müssen. Und um es zum Schluss noch einmal klar zu sagen: Eine Strukturreform, die sich am Ende auf ein Arbeits- platzabbauprogramm bei den Trägern reduziert, wie zum Beispiel auch in der Agrarressortforschung, werden wir auf keinen Fall mitmachen. Solche Reformen lösen keine Probleme, sondern schaffen nur neue, wenn auch vielleicht an anderer Stelle. Der Politik dürfen sie nir- gendwo gleichgültig sein. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist ein richtiges Trauerspiel, dass Minister Seehofer und die schwarz-rote Koalition entgegen ursprünglichen An- kündigungen auf die Einführung eines Bundesträgers für die acht regionalen Träger der drei LSV-Zweige verzich- ten. Denn der Bundesträger ist angesichts des fortgesetz- ten Strukturwandels in der Landwirtschaft und der steti- gen Abnahme an Versicherten unbedingt notwendig, um eine effiziente Sozialversicherung gewährleisten zu kön- nen. Aus demselben Grund macht die Errichtung des ge- meinsamen Spitzenverbandes sicher Sinn. Aber dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies nur eine Minimallösung ist, die den Bundesträger nicht ersetzen kann! Außerdem kommt bei dieser Lösung der Garten- bau unzumutbar schlecht weg. Denn die in der Garten- bau-BG versicherten Betriebe, die etwa ein Drittel der Versicherten in der LUV stellen, sind in den Gremien deutlich unterrepräsentiert! Das kann nicht so bleiben. Außerdem muss der Gartenbau zukünftig im Namen des Spitzenverbandes auftauchen, damit wahrgenommen wird, dass auch der Gartenbau Teil der LSV ist. Eine Möglichkeit wäre die Bezeichnung „Spitzenverband der Sozialversicherung für Landwirtschaft und Gartenbau“. Das Angebot zur Abfindung von Bestandsrenten tragen wir im Grundsatz mit. Was in diesem Zusammen- hang aber sehr zu kritisieren ist, ist die Art der Finan- zierung. Es ist eine grobe Missachtung der Haushalt- wahrheit und -klarheit, dass die vorgesehenen Zuschüsse von 400 Millionen Euro im Bundeshaushalt nur als Fuß- note vermerkt werden, aber nicht bei den Ausgaben mit einberechnet werden. Außerdem ist es nicht in Ordnung, dass sich die LUVen zwar mit 250 Millionen Euro an der Finanzierung beteiligen sollen, der Bund die erhofften Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12303 (A) (C) (B) (D) Einsparungen aber ab 2010 komplett selber einstreichen will. Hier sollten die LUVen entsprechend ihrem Finan- zierungsanteil beteiligt werden! Was die Weiterentwicklung der Beitragsmaßstäbe be- trifft, so ist es sinnvoll, das Unfallrisiko im Beitragsmaß- stab zu berücksichtigen. Darüber hinaus wäre es aber nö- tig, eine einheitliche Beitragsbemessung auf Grundlage des kalkulatorischen Arbeitskräftebedarfs einzuführen. Damit würde eine Voraussetzung zur Schaffung eines Bundesträgers in der LUV geschaffen! Auch die Einführung eines Lastenausgleichs zwi- schen den LUVen ab 2010 ist grundsätzlich sinnvoll. Al- lerdings gilt auch hier: Es wäre erheblich wirksamer und einfacher, die regionalen Träger zu einem Bundesträger zu fusionieren, um das Ziel des Lastenausgleichs zu er- reichen. Außerdem ist es nicht in Ordnung, die Gartenbau-BG an diesem Lastenausgleich zu beteiligen, da es sich hier nur zu einem geringen Teil um landwirtschaftliche Be- triebe handelt. In der Gartenbau-BG ist der Lastenaus- gleich bereits hergestellt. Noch ein paar Worte zur Forderung des DBV nach gesetzlicher Absicherung der Zuschüsse an die LUV: Diese Forderung ist im Grunde berechtigt. Warum sollen die Zuschüsse zur LUV nicht wie die zur LKV und zur AdL auf Basis gesetzlicher Regelungen gezahlt werden? Allerdings müssen wir nüchtern feststellen, dass bisher die kalkulatorischen Grundlagen fehlen, um beziffern zu können, wie hoch dieser Zuschuss zur Finanzierung des überdurchschnittlichen Rentenbestandes denn sein müsste. Deswegen ist eine gesetzliche Absicherung bis- her nicht möglich. Es wäre Aufgabe der Bundesregie- rung, diese Grundlagen zu schaffen. Auch das hat Minis- ter Seehofer bisher nicht geleistet! Seine Bilanz in Sachen Agrarsozialversicherung ist bisher äußerst be- scheiden! Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Arbeit und Soziales: Die landwirtschaftliche Sozialversicherung ist ein wichtiger Bestandteil der So- zialversicherung in Deutschland und von grundlegender Bedeutung für die betroffenen Versicherten. Wir wollen das eigenständige System erhalten. Darauf haben wir uns im Koalitionsvertrag verständigt. Klar war aber auch: Aufgrund des Strukturwandels in der Landwirtschaft stehen wir vor der Aufgabe, das Sys- tem zu stabilisieren. Der Bund hat zurzeit auch zu ge- ringe Einwirkungsmöglichkeiten auf die Träger der landwirtschaftlichen Sozialversicherung, obwohl er er- hebliche finanzielle Mittel an die landwirtschaftliche So- zialversicherung gibt. Bereits im Jahr 2001 haben wir die Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung reformiert. Jetzt hat sich gezeigt: Der Lösungsansatz war richtig, aber nicht ausreichend. Das hat auch der Bundesrechnungs- hof bestätigt. Dem Vorschlag des Bundesrechnungshofes – Schaffung eines Bundesträgers – wollen wir aber nicht folgen. Die Ziele können wir weitgehend auch mit der Weiterentwicklung des Instrumentariums aus dem Ge- setz zur Organisationsreform in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung aus 2001 erreichen: Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Rechts der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG) übertragen wir einem neuen gemeinsamen Spitzenver- band die Befugnis, verbindliche Entscheidungen für die Träger zu treffen. Daneben erledigt der neue Spitzenver- band originäre Verbandsaufgaben. Dadurch können wir die Wirtschaftlichkeit des Systems deutlich steigern. Das Ergebnis soll messbar sein: Die LSV-Träger sollen bis zum Jahr 2014 20 Prozent der Verwaltungskosten ein- sparen. Doch eine Stabilisierung des Systems kann nicht nur durch effektive und moderne Organisationsstrukturen er- folgen. Deshalb setzen wir auch im Leistungsrecht den Hebel an, indem wir die Ausgabenstruktur der landwirt- schaftlichen Berufsgenossenschaften neu ausrichten. Nur so schaffen wir die notwendigen Spielräume auf der Einnahmeseite und vermeiden Beitragserhöhungen für die Landwirte. Den Kernpunkt der Maßnahmen bildet die Abfin- dungsaktion für die Altrenten. Ziel ist die dauerhafte Ab- findung von Kleinrenten. Hierfür sollen zusätzliche Bundesmittel in einem Umfang von 2 mal 200 Millionen Euro – verteilt auf zwei Jahre – zur Verfügung gestellt werden. Wichtig ist: Wir reden dabei nicht von einer Zwangsabfindung, sondern von einem Angebot, das für alle Beteiligten von Vorteil ist. Vorteilhaft für die Versi- cherten: Denn ihnen bietet sich die Möglichkeit, mit dem Abfindungsbetrag betriebliche Investitionen zu tätigen oder sonstige Entscheidungen zur Stärkung ihrer wirt- schaftlichen Existenz zu treffen. Vorteilhaft ist es für die Landwirte als Beitragszahler: Denn über 60 Prozent der Ausgaben für Renten entfallen auf Kleinrenten. Mit der Abfindungsaktion können wir die Ausgabenstruktur nachhaltig verändern. Dies wirkt sich günstig auf die Beitragsbelastung aus. Und vorteilhaft ist es auch für die Versicherungsträger: Denn sie werden von der jahrzehn- telangen Verwaltung der Renten entlastet. Zugleich wollen wir mit dem Gesetzentwurf die Soli- darität innerhalb der landwirtschaftlichen Unfallversi- cherungsträger stärken. In der Landwirtschaft bestehen regional unterschiedliche strukturelle Gegebenheiten, und auch der Strukturwandel verläuft nicht einheitlich. Dem wurde bisher bei der Verteilung des Bundeszu- schusses Rechnung getragen. Dies reicht nicht mehr aus. Wir wollen daher ein partielles Lastenausgleichsver- fahren einführen. Das bedeutet: Wer deutlich stärker als andere belastet ist, erhält für einen Teil dieser Last die Unterstützung der Solidargemeinschaft aller landwirt- schaftlichen Träger. Auch damit leisten die Unfallversi- cherungsträger einen eigenen Beitrag zur Stabilisierung der landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Eines will ich noch feststellen: Ein solidarischer Las- tenausgleich innerhalb der landwirtschaftlichen Unfall- versicherungsträger ist für mich das Pendant zur solida- rischen Unterstützung von außen durch Bundeszuschuss. Das LSVMG steht im Gesamtkontext der Reform der sozialen Sicherungssysteme. Wir machen damit die landwirtschaftliche Sozialversicherung zuverlässig und zukunftsfest. 12304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Kooperation und Koordination im Europäischen Forschungs- raum verbessern (Tagesordnungspunkt 18) Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): Das mit der Überschrift des vorliegenden Antrages formu- lierte Ziel begrüße ich ausdrücklich. Die Bereiche Wis- senschaft, Forschung und Innovation bilden das Funda- ment für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit im globalen Umfeld. Allerdings muss ich den Antragstel- lern mitteilen, dass der Antrag selbst nichts wirklich Neues oder Revolutionäres enthält. Das hatte ich ehrlich gesagt auch nicht erwartet. Insbesondere bleibt völlig unklar, was Bündnis 90/ Die Grünen während ihrer Zeit in der Regierungsverant- wortung gemacht haben. In den Bereichen Wissenschaft, Forschung und Entwicklung, offensichtlich nicht allzu viel. Denn anders ist kaum erklärlich, wie zum Beispiel der Abschnitt über das Erreichen der Lissabon-Ziele hin- sichtlich privater Investitionen für Forschung in den An- trag kommt. Es wird dargestellt, dass die privaten Aus- gaben, die immerhin zwei Drittel des 3-Prozent-Ziels ausmachen sollen, seit dem Jahr 2000 stagnieren. Die Zahlen sprechen für sich und gegen die Leistungen von Rot-Grün. Zur Frage nach der Verantwortung muss nichts weiter ausgeführt werden. Es reicht eben einfach nicht aus, wortreiche Programme und Initiativen zu entwerfen, die für die Realität jedoch nicht geeignet sind bzw. keinerlei Nutzen für private Geldgeber und die Wirtschaft haben. Nur mit dieser realitätsfernen Wahrnehmung lässt sich eine ganz besonders erwähnenswerte Forderung des An- trages erklären. Ich zitiere: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- rung auf, Strategien zu entwickeln, wie private Finanzierungsbeteiligungen oder Nutzungsentgelte für große europäische Forschungsinfrastrukturpro- jekte erschlossen werden können, ohne dass die Unternehmen wesentlichen Einfluss auf die Aus- richtung der Forschungseinrichtung gewinnen. Zu dieser Forderung muss eigentlich nichts gesagt werden, außer dass sie eben nicht umsetzbar und fast schon unanständig ist. Auf diese Art funktioniert eine fruchtbare Zusammenarbeit von Wissenschaft und For- schung mit privaten Geldgebern auf jeden Fall nicht. Ich lasse mich aber natürlich vom Gegenteil überzeugen und würde mir gerne denjenigen zeigen lassen, der große Summen so selbstlos, ohne Einfluss auf die Verwendung zu haben, zur Verfügung stellt. Nicht nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang zudem folgende im Antrag getroffene Aussage. Ich zi- tiere: Besonders bedenklich ist es, dass sich die Industrie bisher selbst dann nicht engagiert, wenn die ent- sprechenden Einrichtungen für sie von unmittelba- rem Nutzen sind. Hierzu würde ich sehr gerne einmal ein entsprechen- des und fundiertes Beispiel kennenlernen. Oder wird der vermeintliche Nutzen für die Industrie direkt von den Grünen mit der ihnen eigenen marktwirtschaftlichen Be- trachtungsweise definiert? Die Erreichung der Lissabon-Ziele macht, auch wenn es noch nicht alle begriffen haben, enorme Anstrengun- gen auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene not- wendig. Besonders wichtig sind hierbei die Stärkung des Erkenntnis- und Technologietransfers und der Übergang von Forschungsergebnissen in die anwendungsorien- tierte Wertschöpfungskette. Unmittelbar nach der Regie- rungsübernahme ist die unionsgeführte Bundesregierung diese Herausforderung offensiv angegangen. Darüber hi- naus müssen zusätzlich die Versäumnisse der Vorgänger- regierung aufgeholt werden. Wie im Antrag ausgeführt, hat sich die EU schon im Jahr 2000 auf die Schaffung des Europäischen For- schungsraumes zur besseren Kooperation und Koordina- tion der nationalen Forschungspolitiken verständigt. Es geht hierbei jedoch nicht nur um verbesserte Koopera- tion und Koordination, sondern ebenfalls um die Erhö- hung der finanziellen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung in Europa. Diese sollen gemäß der Lissa- bon-Strategie bis zum Jahr 2010 auf 3 Prozent des BIP steigen. Zugegebenermaßen ist dies ein sehr ehrgeiziges, aber durchaus erreichbares Ziel. Insbesondere vor dem Hin- tergrund der Ausgaben anderer großer Wirtschaftsnatio- nen für Forschung und Entwicklung ist es notwendig, in Europa Schritt zu halten. Die unionsgeführte Bundesre- gierung hat sich diesem Ziel ebenfalls verschrieben. Dies wird auch deutlich, wenn man sich die von der Regierungskoalition auf den Weg gebrachten, finanziell hervorragend ausgestatteten, sinnvoll ausgestalteten und vor allem am Bedarf orientierten nationalen Programme im Rahmen der Hightechstrategie ansieht. Alles in allem sind dies wichtige Impulse für den Standort Deutschland, aber auch für den Europäischen For- schungsraum. Zudem hat sich Deutschland während der Ratspräsi- dentschaft als auch davor, im Rahmen des 7. For- schungsrahmenprogramms – 7. FRP –, besonders stark in die Themenbereiche Wissenschaft, Forschung und Entwicklung eingebracht. Dies zeigt sich zum einen an der finanziellen Ausstattung des 7. FRP und an der Aus- wahl der diesbezüglichen Themen. Die Schwerpunkte in den Bereichen Wissenschaft und Forschung stehen also bereits fest und müssen nicht noch, wie im außerge- wöhnlich ausführlichen Vorspann des Antrages ausge- führt, in ausufernden Diskussionen festgelegt werden. Die erstmalige Etablierung des Europäischen For- schungsrates nimmt hierbei eine besonders herausra- gende Stellung ein. Zum anderen erkennt man das En- gagement der unionsgeführten Bundesregierung an den großen Fortschritten, was die Planungen bezüglich der Einrichtung eines Europäischen Technologieinstitutes – ETI – angeht. Gerade in diesem Bereich konnte die Bundesregierung während der deutschen Ratspräsident- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12305 (A) (C) (B) (D) schaft, unterstützt vom Deutschen Bundestag, wichtige Weichenstellungen vornehmen. Entgegen der Annahme in diesem Antrag von Bünd- nis 90/Die Grünen, zielt gerade die von der Bundesregie- rung gewünschte Ausgestaltung des ETI auf eine verbes- serte Kooperation und Koordination im Europäischen Forschungsraum. Das die Innovationsfähigkeit des EFR durch die vorgesehenen exzellenten Forschungs- und In- novationsnetzwerke verbessert wird, ist zu begrüßen. Es ist mir deshalb unverständlich und vor allem ist es wi- dersprüchlich, im Antrag auf der einen Seite verbesserte Kooperation und Koordination zur fordern und auf der anderen Seite das ETI, welches genau dies befördern soll, kategorisch abzulehnen. Eine langfristige und sinn- volle Strategie für den Europäischen Forschungsraum sieht meiner Ansicht nach anders aus. Ich würde deshalb den Antragstellern empfehlen, sich einmal das von der Bundesregierung vorgelegte Kom- promisspapier sowie den entsprechenden Antrag von CDU/CSU und SPD anzusehen. Von einer Parallelstruk- tur kann in diesem Fall keine Rede sein. Vielmehr soll die Einrichtung des ETI gerade die derzeit bestehenden Kooperationsstrukturen ergänzen. Damit kommen wir auch dem maßgeblichen Anliegen des Europäischen Forschungsraumes nach, der Schaffung europäischer Forschungsinfrastrukturen sowie der Vernetzung beste- hender Einrichtungen. Dadurch werden auch grenzüber- schreitende Netzwerke und Forschungsverbünde ge- stärkt werden. Wie die Antragsteller in diesem Zusammenhang da- rauf kommen, dass bestehende Initiativen und Pro- gramme geschwächt werden würden, kann ich nicht nachvollziehen. Wie schon erwähnt, das Lesen des Re- gierungsvorschlages sowie ein Studium des Koalitions- antrages könnten hier für die nötige Klarheit sorgen. Zu- mindest wird daraus deutlich, dass die jetzige Bundesregierung, im Vergleich zur Vorgängerregierung beispielsweise mit der Antidiskriminierungsrichtlinie oder der Feinstaubrichtlinie, eine fachlich durchdachte und praxisnahe Initiative auf europäischer Ebene startet. Einige Anmerkungen möchte ich noch zu dem eben- falls umschweifend angesprochenen Themenbereich des Wissenschaftlernachwuchses machen: Fakt ist, dass in Europa in den kommenden Jahren rund 700 000 Forscherinnen und Forscher fehlen wer- den. Um jedoch unseren Forschungsstandort zu sichern, muss dieser dringend notwendige Bedarf an Nachwuchs- kräften, insbesondere in den Technik- und Naturwissen- schaften, offensiv gewonnen werden. Dazu muss bereits frühzeitig in der Schule angesetzt werden. Nur dann ist die Begeisterung des Nachwuchses für Technik und die Naturwissenschaften und somit auch für eine berufliche Karriere in diesen Bereichen zu wecken. Ein Beginn erst während des Studiums, wie von Bündnis 90/Die Grünen gefordert, ist bei Weitem zu spät. Die Maßnahmen der unionsgeführten Bundesregie- rung waren bisher erfolgreich. Bei den naturwissen- schaftlichen Abschlüssen gab es im Jahr 2006 ein Plus von 9 Prozent, im Bereich Informatik sogar von 13 Pro- zent und bei den Ingenieurwissenschaften ein Plus von 4 Prozent. Mit ihren Initiativen, beispielsweise in der Begabten- und Talentförderung, dem Hochschulpakt, der Exzellenzförderung oder auch der bundesweiten Initia- tive „Tectoyou“ hat die Bundesregierung daran großen Anteil. Hinsichtlich der Anzahl weiblicher Absolventen sind jedoch noch weitere Verbesserungen notwendig, um auch hier, trotz bereits steigender Zahlen, höhere Absol- ventinnenzahlen zu erreichen. Eine richtige, weil bereits früh ansetzende Maßnahme ist der jährlich stattfindende „Girls´ Day“, der speziell Mädchen und junge Frauen für technische und naturwissenschaftliche Berufe motivie- ren soll. Vor allem technische Unternehmen, Betriebe mit technischen Abteilungen und Ausbildungen, Hoch- schulen und Forschungszentren öffnen am „Girls´ Day“ ihre Türen für Schülerinnen der Klassen 5 bis 10. Die stetig steigenden Veranstaltungs- und Teilnehmerinnen- zahlen machen dessen Erfolg sichtbar. Im Jahr 2007 ha- ben bereits 8 113 Unternehmen und Organisationen und 137 489 Teilnehmerinnen daran teilgenommen. Die Antragsteller fordern ebenfalls eine Öffnung des Arbeitsmarktes für Wissenschaftler aus den mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, ohne dass es aller- dings zum Ausbluten des dortigen Wissenschaftsberei- ches kommt. Wie das funktionieren soll, erschließt sich nicht ohne Weiteres. Zum einen haben die entsprechen- den Staaten wie auch wir großen Bedarf an Wissen- schaftlern, zum anderen ist der Unterschied der Lebens- verhältnisse in vielen Fällen noch zu groß, sodass es automatisch zu einer Wanderungsbewegung kommen würde. Selbstverständlich müssen wir auch darüber sprechen, wie wir die verhältnismäßig hohen Abbrecherquoten an unseren Universitäten und Fachhochschulen in den Griff bekommen. Allerdings darf dies auf keinen Fall, wie oft aus gewissen Richtungen mehr oder weniger offen ge- fordert, zu Gleichmacherei und zur Vernachlässigung des Leistungsprinzips führen. Auch während der Quali- fikation existiert bereits das Exzellenzprinzip. Alles in allem muss ich festhalten, dass sich Bündnis 90/Die Grünen diesen ausschweifenden Antrag aufgrund der weitgehenden Inhaltsleere durchaus hätte sparen können. Zu begrüßen wäre es gewesen, wenn die- ser Antrag zum Beispiel im Jahr 1999 oder 2000 einge- bracht worden wäre. Damals hätte man ihm mit Sicher- heit eine gewisse Innovationsfreudigkeit nicht absprechen können. Heute jedoch kann die CDU/CSU- Bundestagsfraktion diesem überholten Antrag nicht zu- stimmen. René Röspel (SPD): Vor der diesjährigen Sommer- pause haben wir im Ausschuss für Bildung und For- schung das Grünbuch der Europäischen Kommission „Der Europäische Forschungsraum: Neue Perspektiven“ diskutiert. Dabei ging es um die Frage, wie man den Eu- ropäischen Forschungsraum, der Teil der Lissabon-Stra- tegie von 2000 ist, vertiefen und erweitern kann. Die Hauptaussagen des Grünbuchs werden nicht nur von uns Politikern, sondern auch in der Wissenschaft debattiert. 12306 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Denn die Anmerkungen sollen später in ein Weißbuch münden, welches in der ersten Hälfte 2008 in Brüssel verabschiedet werden soll. Das Weißbuch wird die Grundlage für das 8. Forschungsrahmenprogramm dar- stellen. Im Grünbuch werden die Mitgliedstaaten aufge- fordert „[…] breit angelegte Erörterungen auf nationaler und regionaler Ebene [zur Stärkung des Europäischen Forschungsraumes] einzuleiten“. (Seite 27) Den Antrag der Grünen können wir als weitere Gelegenheit wahr- nehmen, dieser Aufforderung nachzukommen. Die europäische Forschungslandschaft ist komplex. Auf zehn Seiten versucht der Grünen-Antrag alle we- sentlichen Aspekte und Strukturen der Europäischen Forschungslandschaft anzureißen. Viele Punkte des An- trages kann man begrüßen, sind schon Regierungshan- deln oder sicher in diesem Haus unstrittig. Andere Punkte müssten aber noch einmal diskutiert werden. Auf diese werde ich jetzt kurz eingehen. In dem uns vorlie- genden Antrag wird das Europäische Technologieinstitut (EIT) abgelehnt. Über diese Institution haben wir bereits öfters im Ausschuss und Plenum gesprochen, zuletzt vor der Sommerpause. Grundsätzlich teile ich viele der Be- denken gegen das EIT. Doch wie ich bereits bei meiner letzten Rede zum EIT am 21. Juni dargelegt habe, war dieses europäische Projekt nicht mehr aufzuhalten. Die Bundesregierung hat in der Zeit Ihres EU-Vorsitzes mit ihrem damaligen Kompromissvorschlag eine für alle Mitgliedstaaten akzeptable Lösung gefunden. Das Euro- päische Parlament hat mittlerweile am 26. September den Kommissionsvorschlag für die Schaffung des EIT ebenfalls gebilligt. Insofern stimmt Ihre Aussage, das Europäische Parlament würde das Projekt ablehnen, nicht. Auch wenn die Finanzierung immer noch auf tö- nernen Füßen steht und die Sinnhaftigkeit der Institution sich erst noch zeigen muss, so ist die Entscheidung für ein EIT endgültig gefallen. Das entbindet uns nationale Parlamentarier aber nicht von der weiteren kritischen Begleitung. Spätestens die Evaluierung bis 2012 wird zeigen, ob das EIT die Erwartungen des signifikanten Mehrwerts erfüllen kann. Der Forderung der Grünen aber kann die Bundesregierung nicht entsprechen. Ein weiterer Abschnitt in Ihrem Antrag beschäftigt sich mit Ethik und Forschung auf europäischer Ebene. Sie schreiben auf Seite zwei des Antrages „Eine ethisch verantwortliche europäische Forschung braucht die of- fene gesellschaftliche Debatte über die Grenzen der Na- tionalstaaten hinweg.“ Prinzipiell ist eine gesellschaftli- che Debatte über Grenzen hinweg, ob nun national oder anderer Art, immer zu begrüßen. Die Darstellung und Konfrontation verschiedener Positionen und der Ver- such, zu mehrheitsfähigen Problemlösungen zu gelan- gen, ist immer bereichernd. Debatten werden aber nor- malerweise nicht nur der Debatte wegen geführt – sie sollen Konsequenzen haben. Bleiben sie hingegen fol- genlos, stellen sich Politikverdrossenheit und Enttäu- schung ein. Für den Bereich der ethischen Fragen bedeu- ten Konsequenzen dann aber, dass Kompromisse auf europäischer Ebene für alle Mitgliedstaaten bindend sein müssten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass beispielsweise ein europäisches Gremium darüber entscheidet, in welchem Umfang und mit welchen Grenzen in Deutschland ethisch problematische Forschung möglich sein sollte. Mal davon abgesehen, dass bereits die Auswahl der Ver- treter der deutschen Position sehr kompliziert werden würde. Welche Aufgabe hätte denn der Bundestag in ethischen Grundsatzdebatten noch? Beim Deutschen Ethikrat haben die Grünen noch vor einer Entparlamen- tarisierung gewarnt, nun kann man den Eindruck bekom- men, sie forderten selbst eine Verschiebung der Debatte auf die EU-Ebene. Beim Thema Ethik ist es bereits auf nationaler Ebene schwierig, einen Kompromiss zu fin- den. Eine klare ethische Positionierung aller EU-Staaten und nationaler Öffentlichkeiten kann ich mir deshalb derzeit beim besten Willen nicht vorstellen. Wir haben und werden uns bei ethischen Fragen in der Forschung noch lange nicht auf eine gemeinsame europäische Posi- tion verständigen können. Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft die stärkere europäische Koordinierung von nationalen Forschungsprogrammen. Als Ziel wird dazu im Antrag genannt „[…] dass es dabei aus europäischer Perspektive weder zu unsinnigen Doppelungen noch zu Lücken in den jeweiligen Forschungsbemühungen kommt“. Gegen Dop- pelungen anzugehen macht sicherlich Sinn. Aber was ge- nau sind „unsinnige“ Doppelungen? Es kann durchaus sinnvoll sein, parallel Forschungen durchzuführen. Die diesjährige Vergabe des Nobelpreises für Physik an den Deutschen Peter Grünberg und den Franzosen Albert Fert ist sicherlich das beste Beispiel für positive Doppelung von Forschung! Beide haben unabhängig voneinander, der eine in Jülich, der andere in Paris, am Magnetoeffekt ge- forscht. Das Ergebnis dieses Wettstreits findet sich mitt- lerweile in Form von Festplatten in jedem Computer wie- der. „Doppelungen“ können also Ansporn sein im Sinne von belebender Konkurrenz oder auch der Versuch, das gleiche Ziel auf anderem Wege zu erreichen. Lassen Sie mich noch ein paar weitere Worte zum Be- reich der europäischen Koordinierung von nationalen Forschungsprogramme sagen. Es macht natürlich Sinn zu wissen, wo die Schwerpunkte der anderen nationalen Forschungsprogramme liegen, in welchen Bereichen eine Kooperation möglich ist und welche Bereiche viel- leicht europaweit vernachlässigt werden. Eine prinzipielle Öffnung der einzelnen nationalen Forschungsprogramme für alle Mitglied Staaten er- scheint mir dabei aber problematisch. Nicht nur die Ko- ordination könnte dadurch, wie im Antrag erwähnt, schwieriger werden. Ich sehe viel mehr – und mit dieser Meinung stehe ich nicht allein – die Gefahr von „Tritt- brettfahrern“. Denn es existieren leider große Unter- schiede zwischen den staatlichen Ausgaben für For- schung und Entwicklung in den einzelnen europäischen Mitgliedsstaaten. Dass sich einzelne Länder ihre For- schungsanstrengungen durch deutsche Programme be- zahlen lassen, kann nicht das Ziel eines vereinigten Eu- ropäischen Forschungsraumes sein. Vielmehr müssen die einzelnen Mitgliedsstaaten eigene Anstrengungen unternehmen, mehr in Forschung und Entwicklung zu investieren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12307 (A) (C) (B) (D) Eine weitere Forderung der Grünen sind die verstärkte Bereitstellung von Mitteln für wissenschaftliche Infra- struktur in den neuen EU-Mitgliedsländern. Die östlichen EU-Neumitglieder mögen aufgrund ihrer Historie eine schlechter ausgebaute Forschungsinfrastruktur haben. Langfristig muss es deshalb das Ziel sein, dass exzellenten Köpfen, egal aus welchem EU-Land, die passende Infra- struktur zur Verfügung steht. Entscheidend für die Überle- gungen zur Ansiedlung neuer Forschungsinfrastruktur darf dabei aber nicht die Geografie, sondern der wissen- schaftliche Nutzen des Standortes sein. Und dieser muss nicht zwangsläufig in den neuen Mitgliedstaaten liegen. Das muss aber nicht automatisch bedeuten, dass man nur in Bestehendes investiert, sondern auch offen ist für die Entwicklung von Potenzialen. Soweit einige Anmerkungen zum Antrag. Lassen Sie mich als Fazit aber noch sagen: Es ist eindeutig, dass wir auf die forschungspolitischen Fragen des 21. Jahrhun- derts nicht mehr allein nationalstaatlich antworten kön- nen. Großprojekte wie der X-FEL bei Hamburg oder Forschungsbereiche wie die Klimaforschung können nur gemeinsam erfolgreich angegangen werden. Als logi- sche europäische Konsequenz daraus führt an einem ge- meinsamen europäischen Forschungsraum kein Weg vorbei! Bis zur Vollendung haben wir aber noch viele Schritte vor uns! Im Forschungsland Deutschland – ich denke, bei zwei von drei diesjährigen Nobelpreisträgern in naturwissenschaftlichen Kategorien darf man dies wohl voller Überzeugung sagen – tun wir gut daran, uns auch weiterhin an diesen Diskussionen und der Gestal- tung aktiv zu beteiligen. Der uns jetzt vorliegende An- trag der Grünen bietet uns dafür, bei all seinen Defiziten, eine gute Diskussionsgrundlage. Cornelia Pieper (FDP): Ich teile die Auffassung meiner Kollegen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen, die eine Verbesserung der Kooperation und Koordi- nation im europäischen Forschungsraum fordern. Seit- dem in der sogenannten Lissabon-Strategie das Ziel formuliert wurde, Europa bis zum Jahr 2010 zur dyna- mischsten wissensbasierten Wirtschaftsregion der Welt zu entwickeln, sind nunmehr sieben Jahre vergangen. Heute, im Landeanflug sozusagen, ist es durchaus rich- tig, danach zu fragen, ob uns eine Punktlandung in drei Jahren gelingen wird. Ich gebe zu, damals wie heute ver- folgen wir ein ambitioniertes Ziel, das aber die Zustim- mung aller im Bundestag vertretenen Parteien fand. Ich stellte gestern im Ausschuss Frau Dr. Schavan die zen- trale Frage, ob sie glaubt, dass wir bei weiter steigendem Wirtschaftswachstum das 3-Prozent-Ziel erreichen wer- den. Die Kollegen im Ausschuss haben es gehört. Frau Schavan ist der Auffassung, dass die Bundesregierung in ihren einzelnen Forschungshaushalten dieses Ziel bis 2010 realisieren wird. Heute, nach sieben Jahren, müssen wir feststellen: Europa hat mit anderen Wirtschaftsräumen der Welt nicht Schritt halten können. Die FuE-Wachstumsraten bleiben hinter denen Asiens oder der USA zurück, die Beschäftigungsziele werden nicht erreicht, und dem Ziel, 3 Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung zu investieren, sind wir immer noch nicht näher gekom- men. Das ist außerordentlich bedauerlich, zumal der Zu- wachs nicht einmal reicht, um den Status quo herzustel- len. Ich habe schon sehr oft gesagt, dass wir auch auf Regierungsseite unsere Schlagkraft stärken müssen. Und das geht eben doch besser, wenn die Verantwortung in einem Innovationsministerium liegt. Die Schlüsselzahlen 2007 zu Wissenschaft, Technolo- gie und Innovation in der EU zeigen, dass die FuE-Inten- sität – Ausgaben für Forschung und Entwicklung als Prozentanteil des BIP – in Europa, trotz des Lissabon- Prozesses, seit Mitte der 90er-Jahre unverändert bei 1,84 Prozent des BIP geblieben ist. Und das, obwohl Frankreich – plus 1,02Prozent–, Deutschland – plus 0,76 Prozent – und Großbritannien – plus 0,7 Prozent – ihre FuE-Ausgaben steigern konnten. Dagegen haben al- lein die USA – plus 1,08 – ihr Engagement im Bereich FuE deutlich verstärkt und damit zur Entstehung einer Welt beigetragen, in der das Wissen gleichmäßiger ver- teilt ist als jemals zuvor. Europa konnte auch das Investi- tionsdefizit im Bereich FuE gegenüber den Vereinigten Staaten in den vergangenen Jahren nicht abbauen. Sie können das auch im FuE-Bericht der Europäi- schen Kommission nachlesen. Europäische Unterneh- men geben nicht einmal halb soviel Geld für Forschung aus wie ihre Konkurrenten in anderen Teilen der Welt. Die 1 000 größten europäischen Investoren gaben im vergangenen Jahr 121,1 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung aus. Bei den 1 000 größten außerhalb der EU waren es 250,5 Milliarden Euro. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass sich die Kluft zwischen der EU und anderen Weltregionen weiter vergrößert. Immer- hin, wenn auch um einen Platz abgeschlagen, gehört Daimler auf Platz fünf zu den größten in FuE investie- renden Unternehmen. Innerhalb Europas nimmt Daimler Platz eins ein. Deutsche Unternehmen belegen Platz drei – Siemens –, Platz fünf – VW –, Platz sieben – Bosch – und Platz acht – BMW. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf das Grünbuch zum Europäischen Forschungsraum, EFR, verweisen. Es hat eine breite Debatte über die künftigen Orientierungen für den EFR in Gang gesetzt. Die Ent- wicklung macht deutlich, dass aus mindestens fünf Gründen dringender Handlungsbedarf besteht: Die EU ist Teil einer globalisierten Welt, in der das Wissen gleichmäßiger verteilt ist als jemals zuvor. Der starke Wettbewerb auf dieser Ebene verlangt von der EU, dass sie sich anpasst und dass sie den EFR für den Rest der Welt attraktiver macht. Im Jahr 2005 wurden in der EU der 27 lediglich 1,84 Prozent des BIP für FuE aufgewendet, womit das Ausgabenniveau nach wie vor unter dem in den USA, in Japan oder in Südkorea liegt. Die neuen, aufstrebenden Volkswirtschaften wie China holen rasch auf. Sollten sich die derzeitigen Trends fortsetzen, wird China – was die FuE-Intensität anbelangt – bis 2009 zur EU aufge- schlossen haben. Auch Deutschland ist dem 3-Prozent- Ziel immer noch nicht näher gekommen. Mehr als 85 Prozent der Differenz zwischen der FuE- Intensität in der EU und der FuE-Intensität bei ihren 12308 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) wichtigsten Wettbewerbern hat ihren Grund in den Un- terschieden in der FuE-Finanzierung durch die Unter- nehmen. Die im Vergleich zu den USA geringe Höhe der FuE-Ausgaben des privaten Sektors in Europa ist in ers- ter Linie auf Unterschiede in der Industriestruktur und auf die geringere Größe der Hightechindustrie in der EU zurückzuführen. Was die Forschungsexzellenz anbelangt, ist festzu- stellen, dass obwohl die EU weltweit der größte Produ- zent von wissenschaftlichem Wissen ist, die Wirkung der europäischen Wissenschaft geringer ist, als die der Wis- senschaft der USA. In allen wissenschaftlichen Diszipli- nen hinkt Europa hinter den Vereinigten Staaten her, so- wohl was die Zitationshäufigkeit, als auch was die Zahl der häufig zitierten Publikationen anbelangt. Auch sind die Universitäten der EU stark unterrepräsentiert in der Spitzengruppe eines Rankings, das auf der Grundlage bi- bliometrischer Indikatoren der weltweit größten Univer- sitäten erstellt wurde. Ferner ist die Verknüpfung zwi- schen Technologie – patentierten Erfindungen – und der Wissenschaftsbasis in der EU wesentlich schwächer als in den USA. Europa tut sich schwer damit, sich in den neuen Hightechindustrien gut zu positionieren. Wenngleich Investitionen des privaten Sektors für Forschung und Entwicklung von zentraler Bedeutung sind, sollte dem öffentlichen Sektor künftig eine wich- tige Rolle zufallen. Die öffentliche Hand muss in der EU weiter in FuE investieren, damit sich die FuE-Aktivitä- ten der Privatwirtschaft weiterentwickeln. Andererseits müssen wir das enge Zusammenwirken von Wissen- schaft und Forschung durch Public-Private-Partnership deutlich besser im Auge behalten Hier gibt es noch große Spielräume. Die Konkurrenzfähigkeit unserer Forschungs- und Entwicklungskompetenzen können wir nur durch eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des gesamten FuE- Systems erhöhen. Das setzt voraus, dass wir den Mut zu einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz haben. Das könnte die Voraussetzungen für eine enge FuE-Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Hochschulen, der Schaffung von Wissenschaftsclustern und letztendlich auch für ei- nen Wissenschaftstarifvertrag schaffen. Im Rahmen der erneuerten Lissabon-Strategie sind die Mitgliedstaaten neue, weit reichende Verpflichtun- gen eingegangen, indem sie Zielvorgaben für die künf- tige FuE-Intensität gemacht haben. Der für Unternehmens- und Industriepolitik zustän- dige Vizepräsident der Kommission Günter Verheugen betonte in diesem Zusammenhang, es sei wichtig, den strukturellen Wandel nicht als Bedrohung, sondern als Möglichkeit zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu sehen: In Europa muss sich eine wirklich wissensba- sierte und innovationsfreundliche Gesellschaft heraus- bilden, die die Innovation nicht fürchtet, sondern will- kommen heißt, sie nicht behindert, sondern fördert. Verheugen rief dazu auf, Innovation als gesellschaftli- chen Grundwert zu etablieren. Die Realität bei uns zu Lande zeigt jedoch: Das Gen- technikgesetz behindert nach wie vor die Entwicklung der Grünen Gentechnik; es gibt keinen Durchbruch bei der Stammzellenforschung durch den Abbau gesetzli- cher Hemmschwellen. Jeder zweite Student in höheren Semestern sieht seine Zukunft heute im Ausland. So- lange das im EU-Ausland ist, mag es ja noch in die Lissabon-Strategie passen, aber immer mehr sehen ihre Chancen in den USA, in den Staaten Osteuropas und in Asien. Wie sehen wichtige Leitlinien überhaupt aus? Es geht um die Einrichtung innovationsfreundlicher Bildungs- systeme. Davon sind wir noch weit entfernt. Es geht um die Gründung eines Europäischen Technologieinstituts, das europaweit Forschungsnetzwerke bildet, und es wird ja jetzt auch kommen. Der Antrag der Grünen will aber genau das verhin- dern. Es soll ein gemeinsamer Arbeitsmarkt für Forscher aufgebaut werden. Gerade hier war die Gesetzgebung dieser Bundesregierung – ich denke da in erster Linie an die Zuwanderung – nicht gerade förderlich. Die Verbin- dungen zwischen Forschung und Wirtschaft sollen inten- siviert werden. Hier wurde der zaghafte Versuch einer kleinen Lösung für die Forschungsprämie unternommen und nach Anmahnung durch die FDP noch um die Kom- ponente „gemeinnützige Forschungseinrichtungen“ er- weitert. Wir brauchen aber den großen Wurf für alle for- schenden Unternehmen in Deutschland. Überarbeitete Regeln zu staatlichen EU-Beihilfen für Forschung und Entwicklung sowie für Innovationen bessere FuE-Steu- eranreize müssen Realität werden. Hier scheint ja Bewe- gung in die Diskussion gekommen zu sein, zumal einige europäische Länder diesen Weg schon erfolgreich be- schreiten. Die Zukunft ist nur mit und nicht gegen Europa zu ge- stalten. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Seit dem sogenannten Millenniumsgipfel im März des Jahres 2000 in Lissabon werden in der Europäischen Union Wissenschaft, For- schung und Entwicklung sowie Wissenstransfer über ei- nen gemeinsamen Nenner definiert und strukturiert. Bis 2010 soll der „wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt“ entstehen. Alles, was nicht dieser Zielstellung dient, ist nachrangig und wird auch so behandelt. Die Linke hat diesen kon- zeptionellen Ansatz bereits mehrfach als einseitig kriti- siert. Im Mittelpunkt dieses maßgeblich aus öffentlichen Mitteln gespeisten Forschungsförderrahmens, dessen Bestandteile das rund 50 Milliarden Euro schwere 7. Forschungsrahmenprogramm (FP7) und die Schaf- fung eines Europäischen Forschungsraums sind, steht nahezu ausschließlich wirtschaftliches Verwertungsinte- resse. Welche Forschung eine Gesellschaft braucht, um Menschen bessere Lebens- und Beschäftigungsbedin- gungen zu sichern und damit auch als Gesellschaft zivili- satorischen und kulturellen Fortschritt zu erhalten, taucht immer nur dann auf, wenn es Schnittmengen mit wirtschaftlichen Interessen gibt. Dabei muss gerade For- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12309 (A) (C) (B) (D) schung wesentliche Beiträge leisten, wie man langfristig den großen globalen Konflikten und Herausforderungen sowie gesellschaftlichen Widersprüchen begegnen könnte. Eine entsprechende öffentliche Forschungsförderung sollte sich diesem Anspruch selbstbewusst stellen. Die „Freiheit von Forschung und Lehre“ muss im Mittel- punkt stehen und nicht die Ausrichtung auf Themen, die sich ökonomisch verwerten lassen. So melden sich gegenwärtig mehr und mehr Wissenschaftler und Wis- senschaftlerinnen zu Wort; die diese Entwicklung kriti- sieren. Sie wenden sich ausdrücklich gegen eine Ökono- misierung der Wissenschaftslandschaft und gegen das Konzept, sich bei der Hochschulsteuerung an Unterneh- men zu orientieren. Das Grünbuch „Der Europäische Forschungsraum: Neue Perspektiven“ und der zuständige EU-Kommissar für Wissenschaft und Forschung, Jan Potocnik, stehen allerdings ganz klar für die in Lissabon definierte Grundausrichtung, einen europäischen Binnenmarkt für die Forschung zu schaffen. Die Linke hält diese strategi- sche Ausrichtung für einen gravierenden Fehler. Daraus leitet sich ab, und das kritisieren wir Linke gleichermaßen, dass sich europäische Forschungs- und Technologieförderung vor allem aus einem Block- und Konkurrenzdenken gegen andere Wissenschafts- und Technologieregionen und -mächte definiert. Häufig ge- nannt werden in diesem Zusammenhang die USA oder die aufholenden Asiaten wie China oder Indien. Ein ko- operativer globaler Ansatz wird ausdrücklich nicht ver- folgt. Es geht in jedem Falle um einen maximalen Mehr- wert für die europäische Wirtschaft. So ist es wenig verwunderlich, wenn die Optimierung der Forschungsprioritäten – beispielsweise bei den im 7. Forschungsrahmenprogramm geförderten gemeinsa- men Technologieplattformen – den Schwerpunkt auf Themen legt, die sich aus den Interessen der Industrie er- geben. Dazu gehören unter anderem die „Technologie- initiative Clean Sky“ oder auch ARTEMIS – die „Tech- nologieinitiative für eingebettete IKT-Systeme“. Die EU lässt sich mit „Clean Sky“ die Luft- und Raumfahrtfor- schung in den nächsten Jahren rund 800 Millionen Euro kosten; die eingebetteten Computersysteme werden von der öffentlichen Hand mit rund 420 Millionen Euro sub- ventioniert. Alle Technologieinitiativen werden aber von Unternehmen geleitet. Auch die Entwicklung und Stärkung von Forschungs- einrichtungen richtet sich vorrangig nach ihrer themati- schen, materiellen, personellen und finanziellen Dienst- leistungsfunktion gegenüber der Industrie und dem daraus abgeleiteten spezifischen Bedarf an Wissens- transfer. Ein Beispiel dazu: Zum Fahrplan des Europäi- schen Strategieforums zu Forschungsinfrastrukturen, ESFRI, gehört das Projekt IFMIF, International Fusion Material Irradiation Facility. Es soll Materialforschung für zukünftige Fusionsreaktoren, sprich nukleare Ener- gieforschung, betreiben. Erwartete Kosten: Rund 850 Mil- lionen Euro. Diese wenigen Beispiele zeigen, dass es zwangsläufig zu einer dramatischen Ausblendung von Themen aus dem geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Be- reich kommen muss. Diese Wissenschaftsdisziplinen werden häufig auf Akzeptanzforschung zur Einführung und Umsetzung von umstrittenen Technologien redu- ziert. So stellt das Sicherheitsforschungsprogramm die Entwicklung von Detektionstechnologien zur Bekämp- fung von Terrorangriffen in den Vordergrund. Ängste vor einem aufgeweichten Datenschutz oder einge- schränkten Bürgerrechten werden hier als zu überwin- dende Hürden definiert, für die Konzepte zum „Dialog mit den Bürgern“ präsentiert werden sollen. Dass Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften in der europäischen Forschungsförderung ins Hintertreffen geraten ist zumindest insoweit widersprüchlich, als die Kommission zwischen April und August 2007 ausge- sprochen interessante Handlungsrichtlinien veröffent- licht hat, die auf ethische Spannungsfelder in verschie- denen Forschungsfeldern Bezug nehmen. Vor diesem Hintergrund hält es die Linke für notwendig, eine eigen- ständige und unabhängige Forschungskritik zu entwi- ckeln und diese Risikobegleitforschung auch angemes- sen zu finanzieren. Die Linke kann die Europäische Kommission daher nur nachdrücklich auffordern, die eigene Position umzu- setzen und sowohl in der Spitze als auch der Breite der Systeme zu fördern. Auch die Einbindung von gesell- schaftlichen Akteuren bei der Auswahl forschungspoliti- scher Schwerpunkte muss offensiver verfolgt werden. Bisher werden in der Europäischen Gemeinschaft parti- zipative Verfahren nur am Rande aufgeworfen. Sieht man einmal von der Grundkritik an der Ausrich- tung des europäischen Forschungsraumes ab, wirft das Grünbuch aber auch wichtige und richtige Probleme auf. Dazu gehören unzureichende Forschungsinvestitionen, die Fragmentierung der Forschung, die Kritik an den Mobilitätshindernissen für Forscher und Forscherinnen, ihre schlechten Arbeitsbedingungen und sehr begrenzten Laufbahnaussichten sowie nicht zuletzt die Unterreprä- sentanz von Frauen in der Wissenschaft. Vergleicht man nun diese Überlegungen aus dem Grünbuch mit der nationalen Forschungsförderung in Deutschland, dann zeigt sich eine ganze Reihe von Wi- dersprüchen. Offensichtlich versuchen punktuell nicht nur 16 Bun- desländer Alleinstellungsmerkmale gegen das EU-Kon- zept zu realisieren, sondern auch die Forschungspolitik der Bundesregierung erschwert unnötig eine Harmoni- sierung der Forschungsbedingungen in Europa. Das zei- gen zum Beispiel die Föderalismusreform, die angekün- digte Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes, das Wissenschaftszeitvertragsgesetz und das jüngst von der Kanzlerin gelobte Wissenschaftsfreiheitsgesetz, das im kommenden Frühjahr das Licht der Welt erblicken soll. Doch eine leistungsfähige Forschung wird in Deutsch- land und Europa auf lange Sicht nur zu sichern sein, wenn den Beschäftigten nicht nur Mitsprache in betrieb- lichen, sondern auch in wissenschaftlichen Fragen ein- 12310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) geräumt wird. Rechtliche Mindeststandards sollten im Rahmen eines sektoralen sozialen Dialogs europaweit fi- xiert werden. Die Linke unterstützt daher alle Forderun- gen, die die „Empfehlungen der Europäischen Kommis- sion zur Charta für Forscher und einen Verhaltenscodex für die Einstellung von Forschern“ aus dem Jahre 2005 als verbindliche Grundlage bestimmen wollen. Die Bundesregierung sollte mit den Bundesländern vereinbaren, das attraktivere Nachwuchsmodell der EU umzusetzen und damit die Promotion durchgängig als erste Phase wissenschaftlichen Arbeitens anzuerkennen. Deutsche Sonderwege auf nationaler, bundesstaatlicher und hochschul- bzw. wissenschaftseinrichtungsbezoge- ner Ebene erschweren zusätzlich die Begründung trans- parenter und attraktiver Beschäftigungsbedingungen für alle beteiligten Beschäftigungsgruppen – nicht nur für Spitzenwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen. Diese sind ohne Engagement ihrer Mitarbeiter gar nicht in der Lage, Spitzenforschung zu realisieren. Die Linke betrachtet es zudem als entscheidenden Rückschritt, dass innerhalb des 7. Forschungsrahmen- programms kein Gender-Action-Plan integriert wurde. Diesbezüglich ist einiges in Deutschland im letzten Jahr positiv in Bewegung gekommen, gerade bei den großen Forschungsorganisationen. Die Bundesregierung sollte daher die verbindliche Erfüllung von Gleichstellungskri- terien an die Vergabe von Forschungsmitteln knüpfen. Abschließend sei betont: Die Linke hält das Grün- buch für eine wichtige Chance, europäische Forschungs- förderung kritisch zu überprüfen. Lassen Sie uns nun endlich die Weichen für eine verbesserte Forschungspo- litik und damit für künftige Rahmenprogramme der EU stellen. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die grüne Fraktion ist der Ansicht, dass wir uns in der For- schungspolitik in stärkerem Maße, als dies bisher der Fall ist, mit der europäischen Ebene beschäftigen müs- sen und die europäische Koordinierung und Kooperation zu stärken haben. Deshalb debattieren wir heute unseren Antrag, mit dem wir in die Debatte um die Weiterentwicklung des europäischen Forschungsraumes einsteigen wollen. Die Europäische Kommission hat zu diesem Thema ein Grünbuch vorgelegt, das vielfältige Anforderungen und Handlungsbedarfe identifiziert. Ich möchte hier nur auf wenige zentrale Aspekte eingehen – wir werden das Thema in der Folge im Ausschuss dann noch erschöp- fend behandeln. Am offensichtlichsten zeigt sich der Mehrwert einer europäischen Dimension wahrscheinlich bei der Schaf- fung einer leistungsfähigen Forschungsinfrastruktur im Bereich von Großanlagen. Gerade bei deren Einrichtung hat die Planung auf europäischer Ebene den Vorteil, dass mehrere Länder ihre Mittel bündeln können und so ein effizienterer Einsatz der Mittel und letztlich bessere und vielfältigere Möglichkeiten für die Forscherinnen und Forscher eröffnet werden. Eine gesamteuropäische Pla- nung bietet den Vorteil, dass einzelstaatliche Versuche, sich mit der Errichtung von Großprojekten zu profilie- ren, in europäisch koordinierte Bahnen gelenkt werden und so ineffiziente Doppelungen und Lücken der Infra- struktur vermieden werden. Hinzu kommt, dass vorbild- hafte paneuropäische Infrastrukturen auch die Öffnung des europäischen Forschungsraumes zur Welt befördern, weil sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus anderen Teilen der Welt anziehen. Allerdings ist bisher bei vielen Vorhaben der neuen „ESFRI-Roadmap“ noch nicht klar, wie sie finanziert werden können. Besonders bedenklich ist es, dass sich die Wirtschaft bisher selbst dann nicht engagiert, wenn die entsprechenden Einrich- tungen für sie von unmittelbarem Nutzen sind. Zweitens sind die Forschungsrahmenprogramme ein zentrales Element zur Verwirklichung eines europäi- schen Forschungsraumes. Mit dem inzwischen gestarte- ten 7. Forschungsrahmenprogramm sind die finanziellen Mittel erhöht worden, wenn auch nicht so deutlich, wie es wünschenswert gewesen wäre. Außerdem sind wei- tere innovative Maßnahmen eingeführt worden, zum Beispiel der Europäische Forschungsrat, mit dem exzel- lente Grundlagenforschung eine echte gesamteuropäi- sche Ausrichtung erhält. Es geht in der Zukunft darum, sicher stellen, dass wir für eine kontinuierliche Verbesserung und den Ausbau der Forschungsrahmenprogramme Sorge tragen. Außer- dem muss es gelingen, den bürokratischen Aufwand bei der Beantragung von Mitteln weiter zu reduzieren, so dass auch kleine Hochschulen, kleinere Forschungsein- richtungen und kleine und mittelständische Unterneh- men bessere Chancen auf eine erfolgreiche Beteiligung haben. Drittens muss sich der europäische Forschungsraum durch die Mobilität der Forscherinnen und Forscher aus- zeichnen. Ein besonders schwerwiegendes Hindernis für die Mobilität von Forscherinnen und Forschern ist die Tatsache, dass häufig die Portabilität von Sozialversi- cherungsansprüchen nicht gegeben oder sehr unüber- sichtlich und schwierig ausgestaltet ist. Ziel muss es sein, hier zu vernünftigen europäischen Regelungen zu gelangen, um der besonderen Bedeutung des Wissen- schaftssektors und den erhöhten Mobilitätsanforderun- gen an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ge- recht zu werden. Wie dies gelingen kann, ist derzeit noch nicht klar, und hier wird sicherlich noch einiges an Ar- beit und Beratungsbedarf auf uns zukommen. Es ist uns aber auch wichtig, zu betonen, dass der eu- ropäische Forschungsraum keineswegs eine Angelegen- heit sein soll, die alleine von der Kommission betrieben wird. An einigen Stellen des Grünbuches hat man aber den Eindruck, dass die Kommission zu stark auf einen „top down“-Ansatz setzt. Nach unserer Überzeugung wäre es zum Beispiel kontraproduktiv, wenn man natio- nale Forschungsförderungsprogramme grundsätzlich für Bewerber aus anderen europäischen Staaten öffnen würde. Stattdessen sollte man hier lieber auf dezentrale Koordinierung und freiwillige Kooperation der Mit- gliedstaaten und der Forschungsinstitute setzen, wie dies ja auch von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissen- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12311 (A) (C) (B) (D) schaftlern in ihren Reaktionen auf das Grünbuch geäu- ßert wird. Im Übrigen sollte nach Auffassung der grünen Frak- tion ein Markenzeichen des europäischen Forschungs- raumes in einer starken Präsenz von Forschung und For- schungspolitik in der europäischen Gesellschaft liegen. Ein wirklicher europäischer Forschungsraum kann nur gelingen, wenn sich eine demokratische europäische Öf- fentlichkeit mit den Richtungen, Zielen und Bedingun- gen von Forschung auseinandersetzt. Zentral sind dabei offene Debatten über die wissenschaftlichen Schwer- punkte, über Chancen aber auch Normen und Grenzen für die Forschung. Eine erfolgreiche und verantwor- tungsvolle europäische Forschung braucht die offene ge- sellschaftliche Debatte über die Grenzen der National- staaten hinweg. Wir treten dafür ein, dass das nationale Parlament sich sehr entschieden in den weiteren Entscheidungspro- zess einbringt und die Weiterentwicklung des europäi- schen Forschungsraumes konstruktiv und kritisch be- gleitet. Ich freue mich deshalb auf unsere weiteren Beratungen auf der Grundlage des Grünbuches und un- seres Antrages. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Neunten Ge- setzes zur Änderung des Versicherungsauf- sichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 21) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Das Bun- desverfassungsgericht erklärte im Juli 2005 Teile des bestehenden Versicherungsaufsichtsgesetzes für ver- fassungswidrig. Neu geregelt werden sollte die Be- standsübertragung durch Versicherungsvereine auf Ge- genseitigkeit und die Überschussbeteiligungen in der Lebensversicherung. Unabhängig von diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts war es notwendig, die Versi- cherungsaufsicht an internationale Standards anzupas- sen. Als Ergebnis liegt nun der Gesetzesentwurf der Neunten Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz vor. Wir als Unionsfraktion bewerten den Gesetzesent- wurf grundsätzlich positiv. Das Versicherungsaufsichts- gesetz wird im Sinne des Bundesverfassungsgerichts ge- ändert. Des Weiteren wird die Versicherungswirtschaft auf die kommenden Aufsichtsstandards im Rahmen der europäischen Solvency-II-Regelungen vorbereitet. Da- bei werden erhöhte Anforderungen an Entscheidungs- prozesse und das Risikomanagement in Versicherungs- unternehmen gestellt. Der Übergang von bisher zu starren Regelungen zu einer prinzipienbasierten Aufsicht gibt den Unternehmen jetzt größeren Handlungsspiel- raum und steigert die Wettbewerbsfähigkeit. Das stärkt den Versicherungsstandort Deutschland nachhaltig! Einen Punkt in der Novelle sehen wir in der Union al- lerdings kritisch. Die Regelungen für deutsche Pensions- fonds sind nach wie vor zu eng. Schon in der Siebten Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz wurde dieser Punkt verhandelt, allerdings dann doch zurückgestellt. Nun steht er wieder auf der Tagesordnung. Die größten deutschen Unternehmen, also alle DAX-30-Unterneh- men und ein bedeutender Teil der größten mittelständi- schen Unternehmen, planen Folgendes: Sie wollen die betriebliche Altersvorsorge ihrer Mitarbeiter in eigen- ständige Pensionsfonds auslagern und absichern. Die Basis war das von der rot-grünen Regierung im Jahr 2001 verabschiedete Altersvermögensgesetz. Allerdings haben nur vier Betriebe bisher überhaupt Pensionsfonds gegründet. Das spricht nicht unbedingt für die aktuellen Regelungen. In der Tat beurteilen die Unternehmen das geltende Recht als zu einschränkend. Daher weicht ein Großteil von ihnen momentan auf Treuhandgesellschaf- ten aus, die sogenannten CTAs, Contractual Trust Arran- gements. Das Problem hierbei ist aber, dass diese Gesell- schaften weder einer Aufsicht noch einer Absicherung unterliegen. Pensionsfonds hingegen sichern Betriebsrentenan- sprüche dreifach ab: Erstens. Sie sind zu 100 Prozent durch Fondskapital gedeckt. Zweitens. Eine zeitweilige Unterdeckung, beispiels- weise bei großen Schwankungen am Aktienmarkt, ist über den Pensionssicherungsverein, PSV, abgesichert. Drittens. Für alle Fälle müssen die Trägerunterneh- men haften. Dies wurde mit der Siebten VAG-Novelle eingeführt. Es gibt hier nur einen strittigen Punkt: Die Deckungs- regeln sind zu rigide. Das benachteiligt eindeutig die Unternehmen, die in Deutschland einen Pensionsfonds gründen möchten. Aktuell kann die Unterdeckung dieser Fonds bei nur maximal 5 Prozent liegen, Das bedeutet, wenn die Differenz zwischen Pensionsansprüchen und Fondsvermögen die Grenze von 5 Prozent überschreitet, so muss die Trägergesellschaft sofort einspringen und ausgleichen. Besonders diese Ausgleichspflicht erfordert von den Trägerunternehmen kurzfristig eine sehr hohe Liquidität. Mehr noch, sie sind sogar gezwungen, per- manent Liquidität bereitzustellen. Findet sich kein Kom- promiss, so besteht die Gefahr, dass die hier gewünsch- ten Pensionsfonds nicht hier, sondern im Ausland aufgelegt werden. Unsere europäischen Nachbarländer stehen auch schon in den Startlöchern und bieten sich ganz offen als künftige Standorte für Pensionsfonds an. Wollten wir nicht gerade die großen, international täti- gen Unternehmen bewegen, ihre gesamten Betriebsren- tenansprüche über deutsche Pensionsfonds zu decken, um damit den Standort Deutschland zu stärken? Ich bin der Meinung, dass die Unterdeckungsgrenze in Pensionskassen auf 10 Prozent angehoben werden sollte. Auch ein sofortiger Ausgleich wird von den Ex- perten, auch der Bundesanstalt für Finanzdienstleis- tungsaufsicht, als nicht unbedingt zwingend erachtet. Ein Korridor von 10 Prozent der Rückstellungen ent- spricht internationalen Regelungen. Im Falle einer Un- terdeckung und einer Gefährdung der Erfüllbarkeit des Pensionsplans müsste mit der Bundesanstalt für Finanz- dienstleistungsaufsicht ein konkreter und realisierbarer 12312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Sanierungsplan erstellt und durchgeführt werden. Dies würde auch der EU-Pensionsfondsrichtlinie entsprechen, die bereits im Rahmen der Siebten VAG-Novelle umge- setzt wurde. Das Bundesministerium für Finanzen bringt im Zu- sammenhang mit einer Lockerung der Bedeckungsre- geln immer wieder das Argument von möglichen Steuer- ausfällen. Ich kann dem aber nicht zustimmen: Warum? Jede Zuführung zu Rückstellungen für die betriebliche Altersvorsorge ist eine Verbindlichkeit des Trägerunter- nehmens. Sie mindert somit den Gewinn und folglich auch die Steuern, genau wie die Bewertungsdifferenz, die durch Übertragung von Pensionsansprüchen auf Pen- sionsfonds entsteht und über zehn Jahre abgeschrieben werden muss. Auch die rigide Nachschusspflicht wird natürlich nur durch steuerabzugsfähige Nachschüsse er- füllt. Die Steuerfrage kann hier also keine Rolle spielen. Insgesamt muss deutlich werden: Wir wollen flexib- lere Deckungsregeln im Aufsichtssystem. Wir wollen aber keine Änderungen oder besondere Vorteile im Steu- errecht. Lassen sie mich abschließend noch kurz einen Punkt vorbringen: Es geht um die sogenannten Rückstellungen für Beitragsrückerstattungen. Die Bildung dieser Rück- stellungen ist nur zulässig, wenn sie ausschließlich für die Beitragsrückerstattung verwendet wird. Das Han- dels- und das Steuerrecht verlangen dies. Ich kann mir vorstellen, dass in bestimmten Fällen jedoch eine Ent- nahme aus diesen Rückstellungen gerechtfertigt er- scheint. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn der Ver- sicherer zu erhöhten garantierten Leistungen verpflichtet wird, die er an die Versicherten zu zahlen hätte. So kann eine Verlustabdeckung abgesichert werden. Die aus- schließliche Verwendung dieser Rückstellungen für Leistungen an Versicherte bleibt schließlich gewahrt. Darüber hinaus muss auch immer die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zustimmen. Ich halte das für eine sinnvolle Ergänzung zur Novelle des Versiche- rungsaufsichtsgesetzes. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Das Bundes- verfassungsgericht hat in einem Urteil vom 26. Juli 2005 § 14 des Versicherungsaufsichtsgesetzes, VAG, für ver- fassungswidrig erklärt. Mit der vorliegenden Novellie- rung des Versicherungsaufsichtsgesetzes kommen wir dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach, bis zum 31. Dezember 2007 eine verfassungsmäßige Neure- gelung der Übertragung von Versicherungsbeständen zu erarbeiten. Im Zuge der vorgelegten Novellierung der Versiche- rungsaufsicht unterziehen wir das Verhältnis der Auf- sichtsbehörde zu den Versicherungsunternehmen einer kritischen Revision und weiteren Verbesserungen. Dabei passen wir es an Veränderungen internationaler Stan- dards für die Finanzaufsicht an, insbesondere hinsicht- lich des internen Risikomanagements der Unternehmen. Unsere Neuregelung sieht darüber hinaus vor, das Ver- fahren der Mindestüberschussbeteiligung der Versicher- ten in der Lebensversicherung im Interesse des Verbrau- cherschutzes zu vereinfachen. Diese Klarstellungen liegen im Interesse der Verbrau- cherinnen und Verbraucher, die auf klare Vorschriften für die Produkte der Versicherungswirtschaft, deren Vertrieb und Übertragung sehr großen Wert legen, um ihre privaten Vermögensverhältnisse eigenverantwort- lich und mit hoher Rendite gestalten zu können. Auch die Versicherungswirtschaft, die nach der Kre- ditwirtschaft das zweitgrößte Kapitalsammelbecken un- serer Volkswirtschaft darstellt, braucht Klarheit hinsicht- lich der aufsichtsrechtlichen Anforderungen an ihre Produkte. Klarheit und Kalkulierbarkeit in den Detailre- gelungen des Versicherungsvertrages können dazu bei- tragen, attraktive Produkte anzubieten und die starke Stellung der deutschen Versicherungswirtschaft im euro- päischen Wettbewerb zu verteidigen und auszubauen. Denn es kann im Wettbewerb mit anderen Unternehmen einen großen Vorteil darstellen, wenn man potenziellen Kunden klare Informationen über wichtige Rahmenda- ten eines Versicherungsvertragsverhältnisses geben kann, beispielsweise über Bestandsübertragungen, Prä- mienberechnung oder Überschussermittlungsverfahren. Die vorliegende Novelle trägt mit den Neuregelungen zu Bestandsübertragungen und Überschussermittlungen zur Etablierung eines voll entwickelten Finanzdienstleis- tungsmarktes im europäischen Rechtsraum mit einem funktionierenden Aufsichtsregime und einem Höchst- maß an Rechtssicherheit für die Kundinnen und Kunden der Versicherungsunternehmen bei. Sie schließt dabei noch bestehende Regelungslücken in diesen Bereichen, wie wir dies schon im Bereich der Rückversicherung, beim Schutz der Versicherten im Falle von Unterneh- menskrisen und für die Aufsicht über Versicherungshol- dinggesellschaften getan haben. Folgende Maßnahmen haben wir im Einzelnen vorge- sehen, um unser Ziel der Wahrung der Belange der Ver- sicherten und der Erfüllbarkeit der Verträge sicherzustel- len: Das Bundesverfassungsgericht hat strenge Vorschrif- ten vorgegeben, nach denen ein Versicherungsunterneh- men alle oder einen Teil seiner Versicherungsverträge auf ein anderes Versicherungsunternehmen übertragen kann. Solche Bestandsübertragungen müssen durch die zuständige Aufsichtsbehörde BaFin genehmigt werden. Allein ausschlaggebendes Kriterium für eine Genehmi- gung war bislang die Frage, ob die finanzielle Sicherheit der Versicherungsverträge gewahrt blieb. Dieses Kriterium entwickeln wir mit dem vorliegen- den Entwurf weiter, indem wir die aufsichtsrechtliche Genehmigung der Bestandsübertragung nur dann erlau- ben, wenn die Belange der Versicherten in vollem Um- fang gewahrt bleiben – ein wichtiger Beitrag zur Kon- kretisierung unseres Ziels des Verbraucherschutzes. Bei Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit sichern wir beispielsweise im Falle einer Bestandsübertragung den Anspruch der Mitglieder auf Zahlung eines angemesse- nen Entgelts. Soweit erforderlich, übertragen wir diese Maßstäbe auch auf andere Versicherungsverträge mit Überschuss- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12313 (A) (C) (B) (D) beteiligung, beispielsweise die Altersrückstellung in der Krankenversicherung. Die Vermögenswerte, die durch die Prämienzahlun- gen der Versicherten entstanden sind und der Erwirt- schaftung von Überschüssen dienen, müssen auch bei ei- nem Übergang eines Versicherungsvertrages auf ein anderes Versicherungsunternehmen in gleichem Umfang erhalten bleiben. Diese gesetzliche Regelung der Über- schussbeteiligung in der Lebensversicherung wird be- gleitet durch das Gesetz zur Reform des Versicherungs- vertragsrechts, das wir am 5. Juli 2007 beschlossen haben. Der Schutz der Verbraucher stand auch bei einem As- pekt im Vordergrund, den wir im Versicherungsvertrags- gesetz im Sinne der Versicherten geregelt haben. Viele Versicherungsunternehmen hatten Prämienzahlung und Vertragsabschlusskosten – die sogenannte Zillmerung – sowie negative Erträge und Überschüsse verrechnet, zum Nachteil der Versicherungskunden, deren Prämien- zahlungen sich dadurch reduzierten. Die Vorschriften zur Ermittlung der Mindestüber- schussbeteiligung regeln wir hingegen mit dem vorlie- genden Gesetzentwurf neu. Im Laufe der Zeit ergaben sich Unterschiede in der Berechnung der Mindestüber- schussbeteiligung für „regulierte“ Verträge, denen ein genehmigter sogenannter Technischer Geschäftsplan zu- grunde liegt, und „deregulierte“ Verträge. Dies führte dazu, dass einzelne Verträge zulasten anderer systema- tisch und einseitig mit Risiken anderer Verträge belastet werden. Diese unterschiedlichen Verfahren wollen wir vereinheitlichen. Künftig können Verluste nur noch begrenzt mit Ge- winnen verrechnet werden. Die Bundesanstalt für Fi- nanzdienstleistungsaufsicht verfügt mit den von den Ver- sicherungsunternehmen vorzulegenden Berichten über das geeignete Kontrollinstrument, um die Einhaltung dieser „Saldierungsbegrenzung“ seitens der Unterneh- men zu überwachen. Wir versprechen uns davon eine deutliche Vereinfachung der bislang geltenden Regelun- gen der Berechnung der Mindestüberschussbeteiligung der Versicherten. Auch die international zu beobachtende Entwicklung von der regelbasierten hin zu einer stärker prinzipienba- sierten Finanzaufsicht bilden wir mit der Novellierung des Versicherungsaufsichtsrechts ab. Dieser Übergang weg von einem regelgebundenen Aufsichtsregime er- höht auch in der Versicherungswirtschaft die Anforde- rungen an die Entscheidungsprozesse innerhalb der Unternehmen. Um eine ordnungsgemäße Geschäftsorga- nisation innerhalb der Unternehmen der Versicherungs- wirtschaft zu gewährleisten, sieht die Neuregelung die Entwicklung einer Risikostrategie sowie interne Steue- rungs- und Kontrollsysteme einschließlich einer internen Revision vor. Dies gilt natürlich auch für Unternehmens- gruppen, deren Risikomanagement Aufschluss darüber geben muss, wie sich die Verteilung der Risiken auf Gruppenebene darstellt. Die interne Berichterstattung erlaubt eine Einschät- zung des Risikos der Unternehmen, der Sensibilität des Unternehmens gegenüber Änderungen des Umfeldes so- wie eine realistische Beurteilung der aus derartigen Än- derungen erwachsenden neuen Risikosituation und er- möglicht so der Geschäftsleitung, gegebenenfalls eine Änderung der Geschäftspolitik oder andere geeignete Korrekturmaßnahmen, zum Beispiel zur Risikominde- rung, einzuleiten. Um eine praktikable Umsetzung zu ermöglichen und insbesondere kleinere Versicherungsunternehmen von bürokratischen Pflichten zu entlasten, gelten für Pen- sionskassen und kleinere Versicherungsvereine verein- fachte Kontrollanforderungen. Zudem eröffnen wir die Möglichkeit, sich von bestimmten Anforderungen, wie der Ausfertigung eines Risikoberichts, freistellen zu las- sen, wenn der Aufwand für die betroffenen Unterneh- men unverhältnismäßig groß wäre. Vorteil einer Regelung zu diesem frühen Zeitpunkt ist es, dass damit die Versicherungswirtschaft Zeit erhält, sich auf die kommenden Aufsichtsstandards des euro- päischen Solvency-II-Regimes vorzubereiten. Damit machen wir einen weiteren Schritt zur Entwicklung und Vollendung eines europäischen Binnenmarktes für Fi- nanzdienstleistungen. Wir hoffen, dass wir mit den vorgesehenen Neuerun- gen unsere Ziele der Neuregelung der Übertragung von Versicherungsbeständen, des internen Risikomanage- ments der Versicherungsunternehmen sowie der Min- destüberschussbeteiligung erreichen. Damit nutzen wir unsere aufsichtsrechtlichen Gestaltungsspielräume, um wirksame Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, die die Kunden der Versicherungsunternehmen schützen. In Ge- sprächen mit Bürgerinnen und Bürgern mache ich aller- dings auch immer deutlich, dass staatliche Aufsichtsre- gelungen persönliche Verantwortlichkeit nur ergänzen, nicht aber ersetzen können. Denn unsere Regelungen entheben sie nicht der Pflicht, im eigenen Interesse die Risikowahrscheinlich- keiten zu kalkulieren und zur Ordnung ihrer Vermögens- verhältnisse die richtigen Versicherungsprodukte zu wählen. Wachsame Aufsichtsbehörden und kluges Risi- komanagement seitens der Unternehmen bedeuten nicht, dass sich Risiken komplett ausschalten oder versiche- rungsrechtlich auffangen lassen. Ihnen und allen Bürge- rinnen und Bürgern wünsche ich gute Entscheidungen, um das Verhältnis von Risiko und Chancen auch in Zu- kunft zu optimieren. Frank Schäffler (FDP): Die Große Koalition ist in der Finanzmarktgesetzgebung eine Koalition der ver- passten Chancen. Dies sieht man in allen abgeschlosse- nen bzw. laufenden Gesetzgebungsverfahren. Ob REITS, ob Private Equity oder Investmentgesetz, um nur einige zu nennen: Immer machen Sie nur einen halben Schritt, nie geben Sie dem Finanzplatz Deutschland die Chance, im internationalen Wettbewerb den Platz einzunehmen, der ihm gebührt. Stattdessen misstrauen Sie dem Markt, beschließen staatliche Eingriffe und werfen der Finanz- branche Steine in den Weg. 12314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Das vorliegende Gesetzgebungsverfahren bildet da keine Ausnahme. Natürlich setzt der Gesetzentwurf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu Bestands- übertragungen und zur Überschussbeteiligung in der Le- bensversicherung um; dagegen ist nichts zu sagen. Ent- scheidend ist jedoch, was wiederum nicht im Gesetz steht. Sie haben seitens der Koalition – auch wenn der Gesetzentwurf im Bundesfinanzministerium erarbeitet wurde, so ist er ja doch vom Kabinett insgesamt abge- segnet worden – das Thema „Flexibilisierung der Bede- ckungsvorschriften für Pensionsfonds“ erneut nicht auf- gegriffen. Dies ist umso bedauerlicher, als wir in den Ausschussberatungen zur achten VAG-Novelle festge- halten hatten, dass das Thema bei der neunten Novelle aufgegriffen werden sollte. Da der Regierungsentwurf eine Flexibilisierung nun nicht vorsieht, ist es unsere Aufgabe im parlamentari- schen Verfahren, diese Regelung noch ins Gesetz einzu- fügen. Ich bin zuversichtlich, dass der in der Anhörung zur Verfügung stehende Sachverstand uns erneut über- deutlich machen wird, dass wir hier im Interesse der in- ternationalen Wettbewerbsfähigkeit der inländischen Pensionsfonds handeln müssen. Die Union hat hier ent- sprechende Bereitschaft signalisiert; es wäre nun an der Zeit, dass sie auch die SPD davon überzeugt. Lassen Sie seitens der Union den Finanzplatz Deutschland nicht länger „links“ bei der SPD liegen, sondern geben Sie das Tempo vor. Die zuständigen Bundesratsausschüsse haben sich in ihren Empfehlungen übrigens ebenfalls für eine entspre- chende Änderung des Gesetzentwurfs ausgesprochen, um Wettbewerbsnachteile für inländische Pensions- fonds zu beseitigen. Beim Thema Solvency II gibt es einen Punkt, bei dem sich alle Fraktionen einig sind. Soweit wir uns mit den Auswirkungen von Solvency II beschäftigen, darf es nicht dazu kommen, dass kleinere Unternehmen einem unverhältnismäßigen Aufwand ausgesetzt werden. Da- rauf sollten wir gemeinsam achten. Darüber hinaus soll- ten wir bei der Rückstellung für Beitragsrückerstattung eine Konkretisierung vornehmen, wann Mittel entnom- men werden können, um die gegenüber den Versiche- rungsnehmern ausgesprochenen Garantien sicherzustel- len. Dies ist deshalb so wichtig, weil die Rückstellungen für Beitragsrückerstattung mit 42 Milliarden Euro mehr als 80 Prozent der Eigenmittel der deutschen Lebensver- sicherungsunternehmen umfassen. Die Branche und die Bundesratsausschüsse haben hierzu im Einklang mit dem Solvency-II-Richtlinienentwurf entsprechende Vor- schläge gemacht, die wir aufgreifen sollten. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der vorliegende Ge- setzentwurf der Bundesregierung zur Neunten Novelle des Versicherungsaufsichtsgesetzes findet im Grundsatz die Unterstützung meiner Fraktion. So sehen wir in der Neuregelung des § 14 einen Schritt, der die Rechte der Versicherten stärkt. Aller- dings bedurfte es erst eines Urteils des Bundesverfas- sungsgerichtes, das die Bundesregierung zwang hier tä- tig zu werden. Zu kritisieren ist auch, dass die Bundesregierung erst auf den letzten Drücker tätig wurde. Denn immerhin wurde dieser Passus bereits Mitte 2005 für verfassungswidrig erklärt. Spätestens mit der Achten Novelle des VAG hätte bereits die Möglich- keit bestanden diese Rechtsunsicherheit für die Versi- cherten zu beenden. Desgleichen unterstützen wir die Festlegung der An- forderungen an das Risikomanagement der Versiche- rungsunternehmen, womit die zu erwartenden Solven- cy-II-Regeln vorweg in nationales Recht umgesetzt wer- den sollen. Maßnahmen, wie die Pflicht zur Vorlage des internen Risikoberichts und die Ausdehnung anderer Be- richtspflichten gegenüber der staatlichen Aufsicht oder die Sicherstellung der bevorzugten Behandlung von An- sprüchen der Versicherten im Insolvenzfall finden ohne Zweifel unsere Unterstützung. Wenn Ihre Politik des Rentenklaus in der gesetzlichen Rentenversicherung schon diejenigen, die es sich leisten können (!) in die Arme der Versicherungskonzerne treibt, dann muss wenigstens ausreichend dafür Sorge getragen werden, dass der Umgang mit den Geldern der Versicherten nicht völlig den kurzfristigen Renditeinte- ressen der Versicherer überlassen wird. Allerdings gilt es, in Anbetracht der Komplexität, die das gesamte Solvency-II-Regelwerk mit sich bringen wird, auch darauf zu achten, dass damit kleine Versiche- rungsunternehmen, wie etwa regionale Haftpflichtversi- cherer, nicht überfordert werden. Solvency II darf kein Beitrag zur weiteren Monopolisierung des Versiche- rungsmarktes sein! Daher begrüßen wir es, dass Versi- cherungsunternehmen, die nur in Teilbereichen des Ver- sicherungsmarktes tätig sind, nicht die ganze Bürde der Anforderungen aufgezwungen wird. Gebetsmühlenartig bemühen die Finanzpolitiker von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im- mer wieder die Floskel von der Sicherung und dem Aus- bau des Finanzplatzes Deutschland, um neue Finanz- instrumente und Anlageformen hier zu Lande zu etablieren. Deren volkswirtschaftlicher Nutzen ist oft mehr als fragwürdig und die Staatseinnahmen werden dadurch in Milliardenhöhe belastet (Zulassung von Hedge-Fonds, REITs, Steuergeschenke für Private Equity Fonds etc.). Geht es hingegen um das Setzen von aufsichtsrechtlichen Standards, die tatsächlich das Ver- trauen von Anlegern, vor allem aber von Versicherten stärken, dann tut sich manch einer von Ihnen doch recht schwer damit. So habe ich während der gestrigen Sit- zung des Finanzausschusses doch mit einiger Verwunde- rung vernommen, dass aus den Reihen von CDU/CSU und FDP Stimmen laut wurden, Pensionsfonds eine deutlich größere Unterdeckung ihrer Verpflichtungen zu ermöglichen. Da müssen Sie sich schon die Frage gefal- len lassen, weshalb sich die Attraktivität deutscher Pen- sionsfonds für Versicherte erhöhen soll, wenn zugleich das Risiko für die Fondseinlagen erhöht wird? Welche Lehren ziehen Sie eigentlich aus den seit Monaten an- haftenden Turbulenzen auf dem Finanzmarkt und dem Beinahe-Kollaps des britischen Versicherers „Equitable Life“? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12315 (A) (C) (B) (D) Die Linke wird sich jedenfalls für eine wirksame Ver- sicherungsaufsicht und gegen jegliche Ausweitung spe- kulativen Agierens auf den Versicherungs- und Finanz- märkten aussprechen. Nur so kann das Vertrauen der Versicherten gewahrt, die Finanzmarktstabilität gewähr- leistet und – wenn Sie so wollen – dem Finanzplatz Deutschland auf mittlere und lange Sicht Vertrauen ver- schafft werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich auf EU-Ebene bei der Umsetzung von Solvency II an den Interessen der Versicherten zu orientieren und da- für Sorge zu tragen, dass Versicherungsunternehmen die Anlage der ihnen anvertrauten Gelder in Hedge-Fonds und anderen hochspekulativen Anlagegeschäften ver- wehrt bleibt. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Versicherungsaufsichtsgesetz beschäftigt uns kurz nach der Achten Novelle erneut. Hauptinhalt der Neun- ten Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz ist eine Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 26. Juli 2005. In diesem Urteil wurden die Übertragun- gen von Versicherungsbeständen, wie sie bislang im Ver- sicherungsaufsichtsgesetz geregelt wurden, für verfas- sungswidrig erklärt. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass die Be- lange der Versicherten von der Aufsichtsbehörde umfas- send festzustellen und ungeschmälert in die Entschei- dung über die Genehmigung und die dabei vorzunehmende Abwägung einzubringen sind. Bei Le- bensversicherungen muss gesichert sein, dass die durch Prämienzahlungen der Versicherungsnehmer beim Versi- cherer geschaffenen Vermögenswerte im Fall von Be- standsübertragungen als Quellen für die Erwirtschaftung von Überschüssen erhalten bleiben und den Versicherten in gleichem Umfang zugute kommen wie ohne Aus- tausch des Schuldners. Bei Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit muss auch der Anspruch der Mitglieder auf Zahlung eines angemessenen Entgelts gewahrt blei- ben. Grundsätzlich befürworten wir die vorgeschlagenen Änderungen in dem Regierungsentwurf. Wichtig ist aber nun, bei der Bestandsübertragung zu überprüfen, wie der Übergang der Rechte und Pflichten des übertragenden Unternehmens auf das übernehmende Unternehmen vollzogen wird. Besonders vor dem Hintergrund der Diskussion über den Verkauf von Immobilienkrediten ist eine sehr genaue Überprüfung der gesetzlichen Regelun- gen zur Wahrung der Verbraucherinteressen notwendig. Wenn nun ein Versicherungsnehmer ein Produkt ab- geschlossen hat, das besondere Anlagestrategien ver- folgt, wie beispielsweise besonders ethische, ökologisch oder soziale Kapitalanlagen und das zu übernehmende Unternehmen diese nicht anbietet; dann sollte nach einer Lösung gesucht werden, die auch gegebenenfalls ein Sonderkündigungsrecht für die Versicherungsnehmer vorsieht. Das Urteil der verfassungsrechtlichen Anforderun- gen an die Lebensversicherer ist zum Großteil schon in dem Versicherungsvertragsgesetz umgesetzt worden. Die Berechnung, die Saldierung von Verlusten und Ge- winnen für die Überschussberechnung obliegt aber der Aufsichtsbehörde und unterliegt daher dem Versiche- rungsaufsichtsänderungsgesetz. Einer geäußerten Kri- tik, die die Bestandsübertragung bei Verträgen mit Über- schussbeteiligung betrifft, ist unseres Erachtens Rechnung zu tragen. Bei Versicherungsverträgen mit Überschussbeteiligung ist bei Übertragung sicherzustel- len, dass der Wert der Überschussbeteiligung des auf- nehmenden und des abgebenden Versicherungsunterneh- mens jeweils gleich bleibt. Dabei sollen auch die den Verträgen bereits zugewiesenen Bewertungsreserven nach dem Zeitwert einbezogen werden. Interessant bei der Neunten Novelle ist auch der Übergang zu einer mehr prinzipienbasierten Aufsicht über die Versicherungswirtschaft, gerade im Hinblick auf die geplanten europäischen Aufsichtsstandards für die Versicherungswirtschaft Solvency II. Da wird die Entwicklung, wie sie mit Basel II bei den Banken statt- gefunden hat, auf den Versicherungssektor übertragen. Hierbei möchten wir die Zusammenhänge von der durch das Versicherungsaufsichtsänderungsgesetz veranlass- ten Änderungen in Betracht auf Solvency II näher disku- tieren. Die weiteren Verhandlungen zu Solvency II fin- den auch erst nach Abschluss der Neunten VAG-Novelle statt, so dass wir die Debatte zu dem Versicherungsauf- sichtsgesetz auch vor dem Hintergrund der europäischen Harmonisierungsbestrebungen führen können. Ein wichtiger Punkt bei der prinzipienbasierten Auf- sicht ist, wie die Aufsichtsbehörde durch die neu formu- lierten Anforderungen an das Risikomanagement der Versicherungsunternehmen das Risikoergebnis kontrol- lieren kann. In dem jetzt vorliegenden Regierungsent- wurf wird die Implementierung eines angemessenen Risikomanagementsystems bzw. einer angemessenen Risikosteuerung verlangt. Allerdings stellt der Entwurf der Bundesregierung nur auf die Implementierung der Risikosysteme und ihrer Funktionsfähigkeit ab, verlangt aber keine explizite Nennung des Risikoergebnisses. Hier stellt sich die Frage, ob dies genügt, um den beauf- sichtigenden Institutionen einen effektiven Überblick zu verschaffen. Im Rahmen der Diskussion um die Achten Novelle des Versicherungsaufsichtsgesetzes wurde bereits über die Frage der Unterdeckung bei Pensionsfonds gespro- chen. Damals wurde zugesichert, dass dies im Rahmen der Neunten Novelle überprüft werden soll. Neben den bereits im Gesetz enthaltenen Punkten werden wir uns also mit dieser Thematik befassen. Das ist auch richtig so. Als eine wichtige Säule der Altersvorsorge sollte die betriebliche Altersvorsorge durch Pensionsfonds erleich- tert werden, und zwar auch mit Standort in Deutschland. Das entsprechende Altersvermögensgesetz trat am 1. Ja- nuar 2002 in Kraft. Pensionsfonds sind in Deutschland aber noch nicht verbreitet. Wichtig wird es für diese Dis- kussion sein, dass wir klären, ob und wenn ja, in welcher Höhe eine Neuregelung Steuerausfälle verursachen würde, und wie die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher an Sicherheit bei ihrer Altersversorgung ge- währleistet werden können. 12316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Deutschland muss rüstungskontrollpoliti- sche Glaubwürdigkeit beweisen – Angepass- ten KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestag zur Abstimmung vorlegen – Angepassten Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa ratifizieren – Die Krise des KSE-Vertrages durch neue Impulse für konventionelle Abrüstung und Rüstungskontrolle in Europa beenden (Tagesordnungspunkt 20 a und b, Zusatztages- ordnungspunkt 9) Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ CSU): Zweifelsohne hat sich der unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges allgemein herrschende abrüs- tungspolitische Enthusiasmus in den letzten Jahren in gewissem Maße erschöpft. Dachte man in den Jahren nach dem Fall der Berliner Mauer, nun sei entsprechen- der Raum gegeben für umfassende und globale abrüs- tungspolitische Initiativen, so mussten wir in den folgen- den Jahren feststellen, dass die Welt durch den Untergang des Kommunismus zwar ein bedeutendes Stück freier, aber nicht in jeder Hinsicht stabiler gewor- den ist. Nun finden wir uns wieder auf dem knarzenden Bo- den der Tatsachen. Neue Bedrohungen und ein damit verbundenes anhaltendes Gefühl von asymmetrischer Gefahr und Unsicherheit in den internationalen Bezie- hungen haben unter anderem dazu geführt, dass die Staa- ten in ihrer Gesamtheit, aber vor allem die alten und neuen aufstrebenden Großmächte nicht bereit sind, in dem Sinne auf den Erhalt und Aufbau ihrer Waffenarse- nale in dem Maße zu verzichten, wie wir es uns in die- sem hohen Hause vielleicht wünschten. Der Staatengemeinschaft sind zudem neue abrüs- tungspolitische Herausforderungen entstanden: Die Pro- liferation waffentauglicher Nukleartechnologie an Staa- ten wie an nichtstaatliche terroristische Akteure ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Die Ambitionen Irans, den gesamten Brennstoffkreislauf zu beherrschen und die damit verbundenen Möglichkeit, atomare Waf- fensysteme zu entwickeln, stellen in diesem Zusammen- hang mit Sicherheit die dringendste Herausforderung für die Weltgemeinschaft dar. Lediglich angesichts der Diskussionen um die von Russland angedrohte Aussetzung des KSE-Vertrages von einer erschütternden Krise der internationalen Abrüs- tungs- und Rüstungskontrollregime zu reden, wäre – bei aller berechtigten Sorge – doch etwas pathetisch. Interna- tionale Kooperation mit Russland ist teilweise schwieri- ger geworden, doch sie besteht im Interesse aller Betei- ligten fort. Eher führt das rüstungskontrollpolitische Gesamtbild zum Krisenszenario. Auch um die abrüstungspolitischen Kooperation zwi- schen der NATO und Russland ist es tatsächlich äußerst schwierig, aber weniger desaströs bestellt, wie dies teil- weise suggeriert wird. Dies gilt übrigens auch für die ab- rüstungspolitischen Bemühungen zwischen Russland und den USA. Die weitgehend unbeachtet gebliebene Tatsache, dass Russland und die USA beim bilateralen Gipfel von Kennebunkport die baldige Aufnahme von Gesprächen über eine Nachfolgeregelung des Ende 2009 auslaufenden START-I-Vertrages vereinbart haben, darf in diesem Kontext genannt werden. Ziel dieser Gesprä- che soll es sein, die Anzahl der strategischen Atomwaf- fen auf das tiefstmögliche Maß zu verringern. Auch in Fragen der Nichtverbreitung findet nach wie vor umfas- sende Kooperation statt. Anzeichen für eine unüber- windbare Krise sind demnach trotz des russischen Thea- terdonners faktisch noch nicht festzustellen. Soviel Nüchternheit sollten wir uns trotz aller Sorge um die hier zu behandelnde Thematik gönnen. Präsident Putins Ankündigung, die Verpflichtungen des bisherigen KSE-Vertrages ab dem 12. Dezember auszusetzen, verändert nicht die Sicherheitslage in Eu- ropa, sie verändert nicht die strategische Lage, aber sie berührt doch in gewisser Weise das besondere fragile Vertrauensverhältnis zwischen Russland und der NATO, welches durch den KSE-Vertrag und die Nachfolgever- handlungen über den angepassten KSE-Vertrag geschaf- fen wurde. Es ist aber in diesem Zusammenhang äußerst bedenk- lich, dass das grundlegende Vertragswerk über konven- tionelle Abrüstung, Sicherheit und Rüstungskontrolle in Europa von russischer Seite zur Disposition gestellt wird. Trotz aller Mängel und Unzulänglichkeiten kommt dem bisherigen KSE-Vertrag doch eine hohe Symbol- kraft zu und es muss in unserem Interesse liegen, dass er in Kraft bleibt und weiterentwickelt wird. Putin muss sich allerdings an der Erwartbarkeit der eigenen russischen Schritte messen lassen. Nicht erst seit der Münchner Sicherheitskonferenz sendet der Kreml unmissverständlich missverständliche Signale aus, die in unterschiedlichen, nicht immer homöopathischen Dosen auf die wohlberechneten Befindlichkeiten der unter- schiedlichen NATO-Staaten einwirken. Die von Moskau verfolgte Politik der rhetorischen Eskalation legt zudem den Verdacht nahe, dass Russland den hohen Eigenwert des KSE-Prozesses unterschätzt und stattdessen den Ver- trag ganz offensichtlich als taktische Masse benutzt, um europäische Friktionspotenziale zu wecken und weiter- gehende, sachfremde Interessen zu verfolgen. Unterschwellig vorhandene, diffuse Bedrohungs- ängste – dies gilt wiederum im besonderen Maße für Deutschland – sollen durch wolkige Einlassungen und Drohungen unterfüttert werden. In diesem Sinne ent- spricht auch das von mir eingangs kritisierte allzu leicht- fertige Reden über sicherheitspolitische Krisen und ein neues Wettrüsten mutmaßlich durchaus dem Kalkül der- jenigen, die den KSE-Vertrag zur Disposition stellen. Dieses Verhalten sehe ich nach wie vor als durchsichtig und als nicht akzeptabel an. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12317 (A) (C) (B) (D) Gleichwohl und erneut: Der KSE-Prozess befindet sich in einer kritischen Phase. In dieser Situation ist Deutschland als wichtiger Förderer und Impulsgeber des KSE-Prozesses besonders gefordert, den Ratifizierungs- prozess nach Kräften zu unterstützen und zu befördern. Wir begrüßen die bisher erfolgten Anstrengungen der Bundesregierung, den Dialog innerhalb der KSE-Unter- zeichnerstaaten voranzutreiben. Deutschland kann und muss den KSE-Prozess mit kreativen Ansätzen und ho- hem Engagement befördern. Um dieses Ziel zu verfol- gen gilt es nun, insbesondere den offenen und zielfüh- renden Dialog mit Russland weiterzuverfolgen. Hierin liegt eines der Kernanliegen dieses Antrages, aufwei- chen ich hier eingehen will. Mit dem vorliegenden Antrag wollen die Fraktionen von CDU/CSU und SPD ein deutliches Bekenntnis zum KSE-Vertrag und dessen Nachfolgeregelungen ablegen. Dieses Bekenntnis schließt allerdings das in Istanbul vereinbarte Junktim über den russischen Abzug aus Mol- dawien und Georgien ein. Ein Abrücken von eingegan- genen internationalen Verpflichtungen oder eine weitere Instrumentalisierung des Vertragswerkes für das Errei- chen anderer Ziele durch einzelne Vertragsstaaten muss hingegen ausgeschlossen werden. Die Bundesregierung muss verdeutlichen, dass sich der wichtige KSE-Vertrag nicht als Verhandlungsmasse eignet. Je deutlicher und einmütiger dies insbesondere gegenüber der russischen Führung kommuniziert wird, desto besser und zielfüh- render. In diesem Sinne muss auch die angedachte Möglich- keit eines schrittweisen parallelen Ratifizierungsprozes- ses des A-KSE, den wir begrüßen würden, an die konse- quente Erfüllung der genannten Bedingungen gebunden sein. Russland hat auch diesen Vorschlag reserviert aufge- nommen, obwohl dieser ein wesentliches Entgegenkom- men bedeutet. Moskau wäre gut beraten, die Initiative aufzugreifen und seinerseits Zeichen der Konstruktivität zu setzen. Um den Lösungsansatz zu ermöglichen ist die russische Seite zudem aufgefordert, umgehend von ihrer angekündigten Aussetzung der Anwendung des gültigen KSE-Vertrages Abstand zu nehmen. Der konstruktive und von den USA mitgetragene Vorschlag eines schritt- weisen Prozesses darf nicht als Carte blanche für Russ- land missverstanden werden. Wir würdigen die hohe Symbolkraft des KSE-Vertra- ges und sehen ihn auch weiterhin und ungeachtet aller Schwierigkeiten als zentrales Instrument an, um die rüs- tungspolitische Vertrauensbildung in Europa zu befesti- gen und weiterzuentwickeln. Die Bundesregierung bleibt aufgefordert, auf alle Mitgliedstaaten des KSE- Vertrages einzuwirken, ein Scheitern des KSE-Prozesses zu vermeiden. Als Förderer des KSE-Prozesses und wichtiger NATO-Staat muss Deutschland ein hohes Inte- resse daran haben, langfristig auch die NATO-Mitglieder in das Vertragswerk miteinzubeziehen, die bisher noch nicht zu den Unterzeichnerstaaten gehören. Letztlich gilt es jedoch in erster Linie auf die russi- sche Seite einzuwirken, ihren eingegangenen internatio- nalen Verpflichtungen nachzukommen. Dies betrifft ebenso die Wahrnehmung der Vertragspflichten des bis- herigen KSE-Vertrages wie auch die Erfüllung der Istan- bul-Commitments. Der Bundesregierung kommt daher auch die Aufgabe zu, Moskau auch im Rahmen des in- tensiven deutsch-russischen Dialoges von der langfristi- gen und allseitigen Bedeutung des A-KSE-Prozesses für das bilaterale Verhältnis der beiden Länder zu überzeu- gen. Dr. Rolf Mützenich (SPD): Das KSE-Regime befin- det sich in einer tiefen Krise, nachdem der russische Prä- sident Wladimir Putin am 14. Juli 2007 die Aussetzung des Vertrags ab dem 12. Dezember 2007 angekündigt hat. Zuvor blieben sowohl die Dritte Überprüfungskon- ferenz vom 30. Mai bis 2. Juni 2006 wie eine auf Antrag Russlands einberufene außerordentliche Konferenz aller KSE-Vertragsstaaten vom 12. bis 15. Juni 2007 in Wien ohne Ergebnis. Mit seiner Drohung, das KSE-Vertragssystem notfalls gänzlich infrage zu stellen, bringt Wladimir Putin die westlichen Staaten in Zugzwang. Sie müssen nun ent- scheiden, was ihnen dieser „Eckpfeiler der europäischen Sicherheit“ und die vertraglich vereinbarte Rüstungs- kontrolle insgesamt künftig wert sind. Der russische Vorstoß kam dabei nicht überraschend, sondern kündigte sich schon seit längerem an. Schon seit Jahren kritisiert Russland die westliche KSE-Politik. Dennoch: Rüs- tungskontrollpolitik darf nicht zum Spielball national- staatlicher Interessen gemacht werden. Worum geht es? Der KSE-Vertrag legt Obergrenzen für die Zahl der Waffensysteme vom Ural bis zum Atlan- tik fest. Ziel war es zunächst, das Ungleichgewicht kon- ventioneller Streitkräfte der Vertragspartner abzubauen und Überraschungsangriffe unmöglich zu machen. In dem am 19. November 1990 unterzeichneten KSE-Ver- trag einigten sich die Staaten des damaligen Warschauer Paktes und der NATO auf Grenzen für Waffenpotenziale wie Kampfpanzer, Artilleriesysteme oder Kampfhub- schrauber. Über 60 000 schwere Waffen wurden unter internationaler Aufsicht zerstört. Die veränderte Sicherheitslage nach Ende des War- schauer Pakts und der NATO-Erweiterung führte dann 1999 in Istanbul zu einem „angepassten KSE-Vertrag“, A-KSE, mit insgesamt 30 Vertragsstaaten. Kern der An- passung waren nationale und territoriale Truppenober- grenzen, die nur nach Konsultationen mit den Partnern geändert werden können. Alle KSE-Mitglieder unter- zeichneten zwar den A-KSE-Vertrag 1999, doch in Kraft getreten ist er bis heute nicht. Nur vier der 30 KSE-Staa- ten – Russland, Weißrussland, Kasachstan und die Uk- raine – haben ihn ratifiziert. Die NATO-Staaten binden ihre Ratifizierung an die Einhaltung der sogenannten „Istanbuler Verpflichtun- gen“, die besagen, dass Russland seine Truppen aus Ge- orgien und dem Gebiet Transnistrien in Moldawien voll- ständig abziehen müsse. Russland hingegen akzeptiert diese Argumentation nicht. Dem zeitlichen Junktim hat Russland nie zugestimmt. Zudem hat Moskau den Ab- zug zwar politisch, aber nicht rechtlich verbindlich zu ei- nem bestimmten Termin zugesagt. Darüber hinaus hat es seine Abzugsverpflichtungen mittlerweile zum größten 12318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Teil erfüllt. So hat sich die russische Seite mit Georgien auf einen Stationierungsvertrag und den Abzug seiner Truppen bis Ende 2008 geeinigt und diesen bereits groß- teils umgesetzt. In Moldawien gebe es nur noch wenige Hundert Soldaten, die ein Munitions- und Waffendepot bewachen, das keinesfalls unbeaufsichtigt bleiben könne. Diese Argumentation lässt sich nicht vollständig von der Hand weisen. Ich finde, dass man die Bemühungen Russlands um die Umsetzung der in Istanbul eingegan- genen Verpflichtungen und die bislang erzielten Ergeb- nisse durchaus würdigen sollte. Man sollte auch andere Befürchtungen Moskaus ernst nehmen. Die Debatte um einen NATO-Beitritt von Georgien und der Ukraine trägt ebenso dazu bei wie das geplante US-Raketenabwehr- system in Polen und Tschechien. Dabei ist klar: Der Vor- stoß Putins stellt eine unzulässige Vermengung zwischen der Raketenabwehr und dem KSE-Vertrag dar. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun und sollte getrennt voneinander behandelt werden. Ich bin der festen Überzeugung, dass es gelingen kann, den A-KSE zu ratifizieren und das KSE-Regime zu retten. Dies erfordert allerdings Bewegung auf beiden Seiten. Ich appelliere deshalb an die russische Regie- rung, dass sie den diplomatischen Bemühungen den not- wendigen Raum gibt und die angekündigte Suspendie- rung des KSE-Vertrages überdenkt. Ich fordere aber auch von den USA und den NATO-Partnern, auf die rus- sische Regierung einzuwirken und miteinander in einen konstruktiven Dialog für ein rasches Inkrafttreten des A-KSE einzutreten. Dabei muss im NATO-Russland-Rat auch über die rüstungskontrollpolitischen Folgen des US-Raketenschirms diskutiert werden. Ein Ausweg aus der festgefahrenen Situation könnte darin liegen, dass auf westlicher Seite bereits jetzt eine Gruppe von Staaten den A-KSE-Vertrag auf Vorrat rati- fiziert, um die Hinterlegung der Ratifikationsurkunden bei weiteren Fortschritten schnell vornehmen zu können. Gleichzeitig müsste die russische Seite die noch offenen Istanbuler Verpflichtungen zügig umsetzen und das an- gekündigte Moratorium aussetzen. Darüber muss drin- gend diskutiert und verhandelt werden. Ich bin deshalb Außenminister Frank-Walter Steinmeier sehr dankbar, dass er vor wenigen Tagen in Bad Saarow alle KSE-Vertragsstaaten sowie die balti- schen Staaten und Slowenien zu einem informellen Tref- fen zum Erhalt und Fortbestand des KSE-Regimes ein- geladen hat, um über diese Fragen zu diskutieren. Dabei konnten ein erster Überblick gewonnen, bestehende Dif- ferenzen benannt und mögliche Lösungsansätze disku- tiert werden. Konventionelle Rüstungskontrolle hat sicherlich in Europa nicht mehr die Bedeutung, die ihr während des Ost-West-Konflikts zukam. Gleichwohl wäre ein Schei- tern des KSE-Regimes verhängnisvoll und ein schwerer Rückschlag für die Vertrauensbildung in Europa. Es gibt aus deutscher und europäischer Sicht viele gute Gründe, am KSE-Regime festzuhalten. Es beschränkt effektiv die Militärpotenziale, es ist Grundlage für den Vertrag über den „Offenen Himmel“, der gegenseitige Inspektions- flüge erlaubt, und für die Wiener Vereinbarungen zum jährlichen Austausch militärischer Daten unter den OSZE-Staaten. Es liegt deshalb im Interesse Deutschlands und Euro- pas, dass Russland auch weiterhin in das KSE-System eingebunden und der KSE-Vertrag als Eckpfeiler euro- päischer Sicherheit erhalten bleibt. Die Verhandlungen sollten darüber hinaus durch weitere abrüstungspoliti- sche Initiativen ergänzt werden. Angesichts der weitge- henden inhaltlichen Deckungsgleichheit der Anträge zum KSE-Regime möchte ich zum Schluss zu überlegen geben, die Anträge zu einem gemeinsamen interfraktio- nellen Antrag zusammenzufassen. Elke Hoff (FDP): Am 12. Dezember 2007 soll die russische Suspendierung des Vertrages über Konventio- nelle Streitkräfte in Europa in Kraft treten. Sollte diese Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht doch noch abgewendet werden können, steht die konventionelle Rüstungskontrolle in Europa vor dem Aus. Denn eine russische Suspendierung wäre de facto auch das Ende des KSE-Vertrages. Ein Wegfall dieses tragenden Pfeilers der Stabilität und Sicherheit in Europa steht im vollkommenen Wider- spruch zu den sicherheitspolitischen Interessen der Bun- desrepublik und aller anderen Mitgliedstaaten. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Vertrags- staaten gemeinsam einen Kompromiss finden, der den Ausstieg Moskaus aus der konventionellen Rüstungs- kontrolle noch abwenden kann. Doch ich habe wenig Hoffnung, dass dies ohne ein glaubwürdiges und belastbares Signal vonseiten der NATO-Mitgliedstaaten gelingen kann. Denn selbst nach der von Bundesaußenminister Steinmeier erst vor zwei Wochen so eifrig wie informell in Bad Saarow einberu- fenen Konferenz mit Vertretern aus 33 KSE-Mitglied- staaten, tritt die Vertragsgemeinschaft weiter auf der Stelle. Nichts war zu hören von substanziellen Fort- schritten oder gar einem Durchbruch in Sachen KSE- Vertrag. Die Zeit für die Rettung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa läuft damit langsam, aber sicher ab. Wir dürfen hier nicht länger zusehen. Deutsch- land muss als wichtiger NATO-Staat in dieser Krise end- lich Vorreiter und Brückenbauer sein. Wladimir Putin hat seine Entscheidung zur Suspen- dierung des KSE-Vertrages immer wieder mit Verweis auf die Stationierung einer US-Raketenabwehr auf euro- päischem Boden begründet. Aber in Wirklichkeit hat die Debatte um den US-Raketenabwehrschirm dem russi- schen Präsidenten nur ein zweites Mal – nach der Dro- hung, den INF-Vertrag zu kündigen – als Vorwand ge- dient, um der russischen Unzufriedenheit mit internationalen Abrüstungsvereinbarungen nachhaltig wie eindrucksvoll Ausdruck zu verleihen. Denn tatsäch- lich schwelt der Konflikt um die ausstehende Ratifizie- rung des angepassten KSE-Vertrages schon seit dem Jahr 2000: Die NATO-Mitgliedstaaten machten vor dem Hin- tergrund des Tschetschenienkrieges die von Moskau 1999 parallel zum A-KSE-Vertrag unterzeichneten soge- nannten Istanbuler Verpflichtungen – besonders den rus- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12319 (A) (C) (B) (D) sischen Truppenabzug aus Georgien und Moldau – zur Vorbedingung für ihre Ratifizierung des A-KSE-Vertra- ges. Russland hat diese Vorbedingung nie anerkannt. Seitdem steht der Ratifizierungsprozess still. Die Entscheidung von Präsident Putin zum De-facto- Ausstieg aus dem KSE-Vertrag hat nun die konventio- nelle Rüstungskontrolle in eine existenzielle Krise ge- stürzt und die NATO-Mitgliedstaaten unter Zeitdruck gesetzt. Eine Rettung des Vertragswerks kann nur er- reicht werden, wenn die NATO-Staaten mit Russland zu einem konstruktiven, lösungsorientierten Dialog zurück- finden. Hierfür bedarf es eines glaubwürdigen Signals, dass die NATO-Staaten auch weiterhin am A-KSE-Ver- trag festhalten und dass ihre harte Haltung bei den Istan- buler Verpflichtungen keine Verzögerungstaktik gegen- über einem unliebsamen Rüstungskontrollinstrument ist. Besonders die Vereinigten Staaten müssen hier von der Bundesregierung an ihre Verantwortung und Leitbild- funktion erinnert werden. Dies muss aber geschehen, ohne den russischen Muskelspielen – die hier zweifellos eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen – zu sehr entge- genzukommen. Auch wenn Russland die Istanbuler Verpflichtungen bislang nicht erfüllt hat, ist mit dem russisch-georgi- schen Abkommen vom 31. März 2006 über den Abzug der russischen Streitkräfte aus Georgien ein wichtiger Schritt zur Erfüllung der Istanbuler Verpflichtungen ge- tan worden. Denn in Moldau wird lediglich nur noch über den Abtransport alter russischer Munition gestrit- ten. Daher sollten die NATO-Mitgliedstaaten ihrerseits vor dem Hintergrund des drohenden russischen Aus- stiegs aus dem KSE-Regime Beweglichkeit und Kom- promissbereitschaft demonstrieren. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert deshalb mit dem vorliegenden Antrag die Bundesregierung auf, den A- KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestag zur Abstim- mung vorzulegen und damit ein starkes glaubwürdiges Signal setzen, dass Deutschland weiterhin – trotz dieser Krisensituation – am A-KSE-Vertrag festhält. Eine Zu- stimmung des Deutschen Bundestages ermöglicht es, dass die Ratifizierungsurkunde für den A-KSE-Vertrag bereits ausgestellt und die Ratifizierung damit weitestge- hend vorbereitet werden kann. So kann die deutsche Ra- tifizierung umgehend durch die Hinterlegung der Ratifi- zierungsurkunde wirksam werden, wenn Russland die letzten Truppen aus Georgien abzieht. Ein solches Vor- gehen von Deutschland, als Vorreiter unter den NATO- Mitgliedstaaten, kann den Spagat schaffen, der wieder Bewegung in den Ratifizierungsprozess des A-KSE-Ver- trages bringt: Dieser Spagat bedeutet, ein glaubwürdiges Signal zu senden, dass am A-KSE-Vertrag festgehalten wird, und darüber hinaus den Konsens der NATO-Staaten zu wah- ren, nicht vor Erfüllung der Istanbuler Verpflichtungen den A-KSE-Vertrag zu ratifizieren. Sollten die anderen NATO-Mitgliedstaaten dem Beispiel der Bundesregie- rung folgen, könnte dies der Schritt zur Rettung des KSE-Regimes sein. Mit dem von der FDP-Fraktion vorgeschlagenen Vor- gehen ist es möglich, unverzüglich nach einem endgülti- gen russischen Truppenabzug aus Georgien die Ratifika- tionsurkunden zu hinterlegen und den A-KSE-Vertrag umgehend in Kraft treten zu lassen. Eine solche „wei- testgehende Vorbereitung“ der Ratifizierung des A-KSE- Vertrages schafft eine konkrete Zukunftsperspektive für das KSE-Regime. Deshalb fordere ich die Bundesregie- rung auf, unserem Antrag zu folgen und dem Deutschen Bundestag den A-KSE-Vertrag endlich zur Abstimmung vorzulegen und bei den NATO-Partnern für einen eben- solchen Schritt zu werben. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Die Deregulie- rung der internationalen Beziehungen schreitet voran. Am sichtbarsten wird dies sicherlich am Krieg gegen den Terrorismus der USA, der fast vorbehaltlos von den NATO-Staaten und auch der Bundesregierung unter- stützt wird. Allenthalben werden völkerrechtliche Schranken abgebaut, werden internationale Verträge auf- gekündigt oder nach Gutdünken der Mächtigen umdefi- niert. Vertrauensbildende Maßnahmen, einst Grundpfei- ler friedlicher Diplomatie, werden durch das Recht des Stärkeren abgelöst. Statt Rüstungskontrolle und Abrüstung bestimmen heutzutage Rüstungsmodernisierung und Aufrüstung die Agenda. Das NATO-Bündnis, allen voran die USA, ist für mehr als zwei Drittel der weltweiten Rüstungsausga- ben verantwortlich. Die NATO-Mitgliedstaaten exportie- ren modernstes Kriegsgerät im Wert mehrerer Milliarden an andere Staaten und treiben die Aufrüstungsspirale weiter an. Führende Mitgliedstaaten betreiben nach wie vor eher eine Konfrontationspolitik und nehmen dafür die Aushöhlung und Schwächung bestehender Kontroll- regime in Kauf. So ist die NATO in keiner Weise bereit, die Vorgaben des Nichtverbreitungsvertrags zu befolgen. Die USA, aber auch die NATO wollen nach einer sym- bolischen Ruhepause nach der Aufkündigung des ABM- Vertrags nun den Raketenabwehrschirm aufbauen, um sich vor den negativen Konsequenzen ihrer Aufrüstungs- politik zu schützen. Hier muss die Reißleine gezogen werden. Wir brauchen einen neuen tragfähigen Ansatz in der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik. Es muss um den Abbau der Rüstungspotenziale gehen. Den ver- trauensbildenden Maßnahmen muss wieder mehr Raum gegeben werden; sie müssen wieder verstärkt gefördert werden. Vor diesem Hintergrund ist die Sorge der Bundesre- gierung um den Fortbestand des KSE-Vertrags und ihre Empörung über die Ankündigung der russischen Regie- rung im Juli, den KSE-Vertrag zum 12. Dezember auszu- setzen, geradezu verlogen. Wo war die Bundesregierung, als es acht Jahre lang darum ging, im Westen für eine Unterzeichnung des Anpassungsvertrags zum KSE-Ver- trag zu werben? Es ist ein Zeichen mangelnder Weitsicht der Bundesregierung, dass nicht bereits nach der Unter- zeichnung des Anpassungsvertrages wenigstens dem Deutschen Bundestag ein Ratifikationsgesetz vorgelegt wurde. Die Liste der Versäumnisse der Bundesregierung ließe sich für andere Rüstungskontroll- und Abrüstungs- bereiche durchdeklinieren: das Verhalten in der Nuclear 12320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Suppliers Group angesichts des Nukleardeals zwischen den USA und Indien, das Festhalten an der nuklearen Teilhabe oder die Duldung einer Modernisierung der amerikanischen Atomsprengköpfe. Wo war die Bundes- regierung 2003, als es darum ging, die Pläne für eine Ausweitung des US-amerikanischen Raketenabwehrsys- tems nach Europa zu unterbinden? „Zu spät, zu wenig“, so kann man die Rüstungskon- trollpolitik der Bundesregierung beschreiben. Außenmi- nister Steinmeier betont zwar bei jeder sich ihm bieten- den Gelegenheit, wie zuletzt auch im Bundestag, wie wichtig ihm Abrüstung und Rüstungskontrolle sind – al- lerdings vor allem der anderen Staaten. Natürlich darf das Verhalten der russischen Regierung nicht beschönigt werden. Der grundfalsche Kurs der NATO-Staaten, Russland bei den strategischen militäri- schen rüstungskontrollpolitischen Entscheidungen für Europa nicht auf Augenhöhe in die Diskussion einzubin- den und Rücksicht auf russische Bedenken zu nehmen, hat zu ebenso falschen Entscheidungen der russischen Seite geführt. Fakt ist, die Auseinandersetzung um den KSE-Vertrag ist vor allem ein Symptom der allgemei- nen, vom Westen mitverschuldeten Krise in der Rüs- tungskontrolle. Um die eigentliche strukturelle Krise der Rüstungs- kontrolle zu überwinden, muss man allerdings vermei- den, den KSE-Vertrag zu mystifizieren. Die Realität sieht längst anders aus. Die im Anpassungsvertrag neu vereinbarten Truppenobergrenzen stellen keine Ein- schränkung für die NATO dar. Die globale militärische Interventionsfähigkeit der USA bzw. der NATO wird durch die Regelungen in keiner Weise berührt. Den US- Truppen reichen permanente Materiallager als Sprung- brett in die Kriegsgebiete aus. Wir brauchen stattdessen ein weiterführendes und den geänderten Bedingungen angepasstes Konzept zur konventionellen Rüstungskon- trolle in Europa, welches auch die qualitative Dimension berücksichtigt und neue Rüstungstechnologien mit ein- bezieht. Gleichzeitig gilt aber auch: Die für den Weltfrieden wichtige Rüstungskontrolle kann keine weiteren Krisen gebrauchen. Der KSE-Vertrag schaffte eine weltweit ein- malige Transparenz über die Stationierung von Streitkräf- ten in einer Region und zählt aufgrund des Verifikations- systems zu einem der wichtigsten vertrauensbildenden Maßnahmen. Es ist wichtig, dass beim KSE-Vertrag der Schalter doch noch umgelegt wird. Dies sollte zudem das Startsignal für weitergehende Verhandlungen über kon- ventionelle Abrüstung im OSZE-Rahmen sein. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der russische Präsident Putin hat am 14. Juli angekün- digt, dass Russland mit Wirkung vom 12. Dezember die- ses Jahres die Anwendung des KSE-Vertrages und des Flankendokuments von 1996 aussetzen werde. Unsere Fraktion bedauert das zutiefst und fordert Russland auf, auf eine Aussetzung des KSE-Vertrages zu verzichten. Der KSE-Vertrag ist eines der zentralen Instrumente der Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in Europa. Wer die Anwendung des KSE-Vertrages aussetzt, setzt damit auch das Zeichen, dass für ihn die Zeit der koope- rativen Sicherheitspolitik ausläuft. Das kann und darf nicht im Interesse Russlands und Europas sein. Wenn Putin, wie jüngst geschehen, von der „Wieder- auferstehung“ der russischen Armee redet, mag man das als Innenpolitik oder Wahlkampfmanöver abtun. Wir fürchten, das ist mehr. Die politische und militärische Führung Russlands hat in den vergangenen Monaten wiederholt Signale gesendet, dass sie gewillt ist, zu einer konfrontativeren Politik gegenüber dem Westen zurück- zukehren. Die verbale und ideologische Aufrüstung ist vor dem Hintergrund der geplanten Stationierung ameri- kanischer Raketenabwehrsysteme in Polen und Tsche- chien sowie dem immer weiteren Heranrücken der NATO an Russland in vollem Gange. Auch im militäri- schen Bereich hat die russische Führung in den vergan- genen Wochen die Muskeln demonstrativ spielen lassen. Solche Drohgebärden sind kontraproduktiv. Sie kön- nen das fragile Gebäude der Rüstungskontrolle und Ab- rüstung weiter zum Einsturz bringen. Es ist kein Ge- heimnis, dass es in den USA, bei europäischen NATO- Partnern und in der Bundesregierung durchaus Kräfte gibt, die die vertragliche Rüstungskontrolle und Abrüs- tung als Fessel empfinden und abstreifen wollen. Die im Dezember 2001 erfolgte ersatzlose Aufkündigung des ABM-Vertrags vonseiten der Bush-Administration war dabei ein Dammbruch. Putin hat sich diesem Ansinnen nicht widersetzt. Im 2002 geschlossenen Moskauer Ver- trag über den Abbau strategischer Offensivwaffen haben Bush und Putin auf ein Verifikationssystem verzichtet. Die USA haben im Mai dieses Jahres angekündigt, den 1991 unterzeichneten START-Vertrag 2009 auslaufen zu lassen. Russland hat signalisiert, dass es damit keine nennenswerten Probleme hat und sich mit einem weni- ger formalisierten Folgeabkommen abfinden könnte. Die Drohungen aus Russland, gegebenenfalls auch den Mittelstreckenraketenvertrag aus dem Jahr 1987 zu kündigen, haben auf amerikanischer Seite niemanden beeindruckt. Dort ist man anscheinend bereit, die Auf- kündigung dieses historischen Vertrages in Kauf zu neh- men. Das Risiko für die USA wäre – im Gegensatz zu Europa – minimal. Abrüstungspolitisch bewegen wir uns damit in Richtung der Vor-Gorbatschow-Ära. Dies kann nicht das Interesse Deutschlands und der EU sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass die multilaterale Rüstungs- kontrolle an die Wand gefahren wird. Der Antrag der Regierungsfraktionen verspricht, die Krise des KSE-Vertrages durch neue Impulse beenden zu wollen. Diese Impulse bleiben Sie schuldig. Sie schieben den Schwarzen Peter Russland zu. Wir sollten nicht so tun, als wäre der KSE-Vertrag erst per Dekret aus Moskau in die Krise geraten. Wir sollten nicht so tun, als hätte es die NATO-Erweiterung 2004 nicht gege- ben und als würden Georgien und die Ukraine nicht an der Pforte der NATO auf Einlass warten. Wir sollten auch nicht so tun, als würden Militärbasen in Rumänien und Bulgarien oder die Stationierung von Raketenab- wehrsystemen in Europa russische Sicherheitsinteressen nicht berühren. Der Westen hat durch das Verschleppen der A-KSE-Ratifizierung an der Krise des KSE-Regimes Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12321 (A) (C) (B) (D) eine nicht unwesentliche Mitverantwortung. Wir müssen einen wesentlichen Teil der Kritik Russlands ernst neh- men und nach Wegen suchen, wie wir zu einer vertrau- ensvollen Zusammenarbeit zurückkehren können. Es mag im Jahr 2000 gute Gründe gegeben haben, warum man bei der NATO auf die vorherige Erfüllung der sogenannten Istanbul-Verpflichtungen beharrt hat. Die Lage hat sich in den vergangenen sieben Jahren, zum Beispiel durch den 11. September oder durch die NATO-Erweiterung in vielfacher Hinsicht substanziell verändert. Russland hat Schritte zur Erfüllung der Istan- bul-Verpflichtungen in die Wege geleitet. Die müssen umgesetzt und abgeschlossen werden. Die grundsätzli- che Blockadehaltung der NATO ist für uns nicht mehr nachvollziehbar. An der restlichen Implementierung der Istanbul-Ver- pflichtungen darf die Ratifizierung des A-KSE-Vertrages nicht scheitern. Wir sind der Auffassung, der Vertrag muss jetzt unverzüglich ohne Wenn und Aber ratifiziert werden. Gleichzeitig sollte ein Prozess in die Wege ge- leitet werden, wie die seit 1999 neu hinzugekommenen Fragen der konventionellen Rüstungskontrolle im ge- genseitigen Einvernehmen gelöst werden können. Wir können die Rüstungsobergrenzen ohne Sicherheitsver- lust weiter senken und auf andere Waffenkategorien aus- weiten. Der NATO-Russland-Rat und die OSZE haben ihr Kooperationspotenzial im Rüstungskontrollbereich noch nicht ausgeschöpft. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass Außenmi- nister Steinmeier in den vergangenen Monaten Schritte unternommen hat, um den Streit um die Ratifizierung des A-KSE-Vertrags zu entschärfen und den Dialog in Gang zu halten. Wir haben den Eindruck: Dem Außen- minister und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist es ernst. Sie sind daran interessiert, den A-KSE zum Erfolg zu führen. Unsere Unterstützung haben Sie. Gleichzeitig haben wir Zweifel, ob die Unionsfraktio- nen tatsächlich an einem Erfolg des Außenministers in- teressiert sind. Zum wiederholten Male versagt die Union dem Außenminister und dem Koalitionspartner in Abrüstungsfragen die Unterstützung. Wer die Bundesre- gierung nicht dabei unterstützt, unverzüglich den Ratifi- zierungsprozess einzuleiten, nimmt das Scheitern des KSE-Regimes billigend in Kauf. Was die Regierungs- koalition als Antrag vorlegt, ist daher ein Armutszeug- nis. Viel deutlicher kann man den Außenminister nicht im Regen stehen lassen. Der Vorschlag der FDP, den Vertrag in Deutschland zu ratifizieren, die Ratifizierungsurkunde aber nicht zu hinterlegen, ist nicht neu. Vor sieben Jahren wäre das eine gute, vor sieben Monaten eine noch denkbare Op- tion gewesen. Heute, so befürchte ich, hilft uns dieser Trippelschritt nicht mehr weiter. Für solche Spielchen ist keine Zeit mehr. Entweder wird der A-KSE-Vertrag schnellstmöglich ratifiziert und weiterentwickelt, oder das KSE-Regime wird in wenigen Monaten der Ge- schichte angehören und zu Grabe getragen – mit allen Unwägbarkeiten für die Rüstungskontrolle insgesamt. Der angepasste KSE-Vertrag schafft bessere Verifika- tionsbedingungen, senkt die Obergrenzen und ermög- licht zum Beispiel auch den überfälligen Beitritt anderer europäischer Staaten. Die Ratifizierung des angepassten KSE-Vertrages war in Russland 2004 nicht unumstritten. Sie war ein Vertrauensvorschuss an den Westen, den wir jetzt, in dieser kritischen Phase, erwidern sollten. Gehen wir einen großen Schritt auf Russland zu. Stärken wir dem deutschen Außenminister bei dieser schwierigen Mission den Rücken. Lassen Sie uns in Deutschland den A-KSE-Vertrag unverzüglich ratifizieren und damit auch ein Zeichen für andere NATO-Partner setzen. Sorgen wir dafür, dass das System der konventionellen Rüstungs- kontrolle in Europa erhalten und weiter ausgebaut wird. Dafür werben wir in unserem Antrag. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 23) Michael Hennrich (CDU/CSU): Heute findet die erste Lesung des Gesetzes zur Änderung des Vierten Bu- ches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze statt. Der Gesetzentwurf zielt vor allem auf Veränderungen in drei Problembereichen: Zum einen gehen wir mit den vorgesehenen Änderun- gen im Verfahrensrecht weitere Schritte auf eines der Ziele unserer Koalition zu, den Bürokratieabbau. Damit tragen wir zu vereinfachten Arbeitsabläufen für alle Be- troffenen bei. Des Weiteren sollen offene Fragen in Bezug auf die Verwaltungspraxis der Träger der Rentenversicherung geklärt werden. Schließlich setzen wir mit dem Gesetzentwurf die Ka- binettsentscheidung vom 13. Dezember 2006 um und verteilen die Erstattungslasten zwischen dem Bund und den fünf „neuen“ Ländern aus dem Anspruchs- und An- wartschaftsüberführungsgesetz neu. Die Bundesregierung arbeitet für die Änderung des Sozialversicherungsgesetzes eng mit den Vertretern der Arbeitgeberverbände und der Sozialversicherungsträger zusammen. Damit wird sichergestellt, dass das Recht auf der Höhe der Zeit bleibt, also dass die Änderungen auf die derzeitigen Erfordernisse in den Betrieben und bei den Sozialversicherungsträgern zugeschnitten sind. Die- ser Dialog trägt wesentlich dazu bei, dass das Sozialver- sicherungsänderungsgesetz ein Erfolg wird, indem Arbeitsabläufe passgenau vereinfacht oder zusammen- gefasst werden. Dafür möchte ich den Arbeitgeberver- bänden und den Sozialversicherungsträgern an dieser Stelle herzlich danken. Danken für die gute und kon- struktive Zusammenarbeit, die keine Selbstverständlich- keit ist, sondern Beharrlichkeit und Ausdauer erfordert und ein kontinuierliches Aufeinanderzugehen um der Sache willen. Der Normenkontrollrat spricht in diesem Zusammenhang sogar davon, dass dieser kontinuierliche 12322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Dialog der Bundesregierung mit den Arbeitgeberverbän- den und Sozialversicherungsträgern richtungweisend ist. Lassen Sie uns daran auch in Zukunft festhalten! Um die drei angesprochenen Ziele des Gesetzent- wurfs zu erreichen, haben wir neben all den technischen Veränderungen viele kleine Anpassungen vorgenom- men. Diese Kleinarbeit auf dem Weg zu unserem Ziel Bürokratieabbau ist nicht populistisch verkäuflich, da sie von der Allgemeinheit nicht hoch angesehen wird. Sie werden selten jemanden finden, der Ihnen dafür dankbar auf die Schulter klopfen wird. Und dennoch ist diese Kleinarbeit wichtig, da die Ergebnisse der in diesem Ge- setzentwurf vorgenommenen Änderungen konkrete Ver- besserungen für die jeweils Betroffenen mit sich brin- gen. Auf einige davon gehe ich im Folgenden genauer ein. Die Zusammenfassung der Vorschriften im Bereich des Sozialversicherungsausweises und die Aufhebung der Sozialversicherungsausweisverordnung begrüße ich ausdrücklich. Diese Neuerungen tragen wesentlich zu ei- ner größeren Übersichtlichkeit und damit vor allem zu einer Entlastung der Arbeitgeber bei. Auch der Bundes- verband der Arbeitgeber und der Zentralverband des Deutschen Handwerks stimmen hier mit uns überein und begrüßen die geplanten Änderungen. Ein besonders zukunftsträchtiges Zeichen sehe ich in der Vollautomatisierung des Melde- und Beitragsverfah- rens sowie der vollautomatischen Rückmeldung an die Arbeitgeber. Diese technischen Neuerungen stellen we- sentliche Erleichterungen dar, kann die Information doch einmal eingegeben und ohne weiteren Aufwand weiter verwendet werden. An sich wurde das Verfahren schon zum 1. Januar 2006 eingeführt, aber erst mit dem Sozial- versicherungsänderungsgesetz wird durch die verbindli- che Genehmigung von entsprechenden Datensätzen die Voraussetzung für eine komplette Umstellung der Ar- beitgeber vom Papier- auf das elektronische Verfahren geschaffen. Schätzungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zufolge können mit dieser Maß- nahme rund 7 Millionen Euro jährlich eingespart wer- den. Durch die zum 1. Januar 2009 geplante zentrale Mel- destelle für alle berufsständischen Versorgungseinrich- tungen müssen die Unternehmen die Unterlagen zukünf- tig auch nicht mehr in Papierform an mehr als 80 verschiedene Einrichtungen schicken. Damit sollte der Bearbeitungsaufwand sowohl für die Arbeitgeber als auch für die Versorgungseinrichtungen reduziert werden. Das Ministerium spricht hier daher von Einsparungen in Höhe von rund 45,36 Millionen Euro. Diese und weitere Änderungen der Informations- pflicht werden daher auch ausdrücklich vom Normen- kontrollrat gelobt, und es wird von einer Entlastung ge- sprochen. Die für mich zentrale Verbesserung des hier vorlie- genden Entwurfs des Sozialversicherungsänderungsge- setzes sind die Änderungen in Bezug auf die Familienan- gehörigen im Handwerk. Endlich kam es hier zu einer Klärung des Status derselben. Dies ist ein Ergebnis aus der Zusammenarbeit mit dem Zentralverband des Deut- schen Handwerks und anderen sowie des kontinuierli- chen Einsatzes der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für dieses Ergebnis. Bisher haben die Familienangehörigen in Handwerksbetrieben zwar meist Sozialversicherungs- beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung einge- zahlt, damit jedoch nicht automatisch einen Anspruch auf Leistungen erhalten. Begründet liegt das in der Ein- stufung der Familienangehörigen durch die Sozialversi- cherungsträger als Unternehmer und nicht als Arbeitneh- mer. Bereits mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) konnte hier ein Teilerfolg errungen werden: Für diejenigen, die ab dem 1. Januar 2005 erstmalig der Einzugsstelle als Arbeitnehmer gemeldet wurden, wurde das automati- sche Feststellungsverfahren durchgeführt. Damit findet für diese zugleich auch die leistungsrechtliche Bindung der anderen Sozialversicherungsträger statt. Es blieb je- doch dabei, dass Altfälle nur durch Klagen und langwie- rige Verfahren zu ihrem Recht kommen konnten, und bei den Neufällen waren nur die Ehegatten automatisch be- rücksichtigt, für Kinder musste ein gesonderter Antrag gestellt werden. Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf kommt es für die Familienangehörigen von Handwerkern nun zu weiteren Verbesserungen: Zum einen wird das automatische Feststellungsver- fahren ausgeweitet und damit auf Ehegatten und Kinder zugleich angewendet. Die Prüfung wird dabei über die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung erfol- gen. Damit erhalten dann endlich alle im Handwerksbe- trieb angestellten Familienangehörigen für ihre Zahlun- gen in die Sozialversicherung im Bedarfsfall auch die damit verbundenen Leistungen. Zum anderen wurde die Regelung hinsichtlich der be- reits gezahlten Beiträge von Familienangehörigen zur gesetzlichen Rentenversicherung geändert. Diese gelten in Zukunft als zu Recht entrichtete Pflichtbeiträge, wo- durch eine Schlechterstellung der in Handwerksbetrie- ben angestellten Familienangehörigen gegenüber dem tatsächlich Pflichtversicherten verhindert wird. Eine Er- stattung der gezahlten Beiträge zur gesetzlichen Renten- versicherung findet zwar nicht statt, aber die Beiträge bleiben zukünftig als solche erhalten. Auch an dieser Stelle ist der Dialog hervorzuheben, der hier mit dem Zentralverband des Deutschen Hand- werks, den Unternehmerfrauen des Handwerks und an- deren geführt wurde und letzten Endes zu mehr Rechts- sicherheit durch diese für die Betroffenen in der Praxis relevanten Verbesserungen führen wird. Daher auch an dieser Stelle herzlichen Dank an all diejenigen, die zu diesem Ergebnis beigetragen haben. Ein Ergebnis, das eine erhebliche und nachhaltige Verbesserung für Hand- werkerfamilien bringt, da nun endlich ein automatisches Feststellungsverfahren durchgeführt wird und somit die soziale Absicherung rechtssicher geregelt wird. Und auch hier die Aufforderung: Weiter so! Auf zwei weitere konkrete Beispiele aus dem Gesetz möchte ich noch eingehen, zwei für die Allgemeinheit wohl nur kleine Beispiele, die für die jeweils Betroffe- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12323 (A) (C) (B) (D) nen jedoch wichtige Veränderungen mit sich bringen: Für gehörlose bzw. hörbehinderte Menschen eine Bes- serstellung und für Unternehmen eine weitere Vereinfa- chung. Im Sozialversicherungsänderungsgesetz ist vorgese- hen, dass gehörlose bzw. hörbehinderte Menschen bei der Inanspruchnahme von Sozialleistungen einen Dolmet- scher beanspruchen können. Damit wird es in Zukunft über die Kostenübernahme keinen Streit mehr geben, da diese in Höhe der Sätze des Justizvergütungs- und -ent- schädigungsgesetzes (JVEG) vorgenommen werden soll. Konkret heißt das, dass für einen Dolmetschereinsatz bei der Ausführung von Sozialleistungen die Kosten dafür mindestens in der Höhe erstattet werden, die bei einem vorgelagerten Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren ent- stehen würden. Damit werden gehörlose und hörbehin- derte Menschen beim Dolmetschereinsatz anlässlich der Ausführung von Sozialleistungen in Zukunft genauso ge- stellt wie in Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren. Die Regelung dient dabei sowohl der Gleichbehandlung als auch dem Abbau von Bürokratie und damit der Reduzie- rung von Kosten. Das andere Beispiel, auf das ich eingehen wollte, sind die Krankengeldzuschüsse – ein kleines, aber oft leidi- ges Thema für Unternehmen. Leidig vor allem dann, wenn durch Tarifverträge vereinbart wurde, das Kran- kengeld durch einen Arbeitgeberzuschuss auf 100 Pro- zent des vorherigen Nettoentgelts aufzustocken. Denn schon allein die Fortzahlung von Kleinstbeträgen, wie die Erstattung von Kontoführungsgebühren oder Zu- schüssen zu vermögenswirksamen Leistungen, war bis- her beitragspflichtig. Der dadurch entstehende Berech- nungs-, Melde- und Nachweisaufwand steht jedoch zur Beitragshöhe oft in keinem vertretbaren Verhältnis. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll daher künftig eine Bagatellgrenze von 50 Euro pro Monat laut § 23 c SGB IV eingeführt werden. Schätzungen des Ministe- riums für Arbeit und Soziales gehen dabei von einer Ent- lastung der Arbeitgeber von rund 32,4 Millionen Euro aus. Der heute zum ersten Mal ins Plenum eingebrachte Gesetzentwurf ist, wie Sie an der von mir vorgenomme- nen Auswahl sehen, eine Ansammlung von vielen klei- nen Änderungen. Der Bundesrat hat sich mit diesem Gesetzentwurf be- reits am 21. September 2007 in erster Lesung befasst und stimmte dem Entwurf grundsätzlich zu. Die Bundes- regierung hat die Übernahme der meisten Anregungen zugesagt. Kritisch gesehen wurden zwei Vorschläge des Bundesrates: Zum einen wurde die vorgeschlagene Streichung zur Regelung der Kommunikationshilfegewährung abge- lehnt, da durch den damit einhergehenden Bürokratieab- bau Kosten gespart werden und nicht eine große finan- ziellen Mehrbelastung für die Länder, wie vom Bundesrat geäußert, erwartet wird. Außerdem ist anzu- merken, dass der Bedarf an sich gering ist und die Län- der – sollte der Bedarf doch ansteigen – die Möglichkeit zu gesonderten Vergütungsvereinbarungen laut § 14 JVEG haben. Zum anderen wurde die Verhängung von Säumniszu- schlägen mit der Begründung abgelehnt, dass mit den Änderungsvorschlägen nichts geregelt wird, was nicht bereits durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ab- gedeckt wäre. Das Bundessozialgericht sprach sich be- reits in einem Urteil aus dem Jahr 2004 grundsätzlich für Säumniszuschläge aus und sieht auch die säumniszu- schlagsfreie Dreimonatsfrist als angemessen an. Letztere entspricht auch der seit Jahren üblichen Verwaltungspra- xis, welcher zu insgesamt 85 Prozent bzw. 95 Prozent bei Schuldnern auf Bundesebene mit steigender Tendenz nachgekommen wird. Geprüft werden sollen noch die Vorschläge zur Anhe- bung der Hinzuverdienstgrenze für Rentner und die Aus- weitung der Vertrauensschutzregelung für Versicherte mit einer Vorruhestandsversicherung. Bei beiden Punk- ten stehen wir mit unserem Koalitionspartner im Ge- spräch und werden in den nächsten Wochen die Ände- rungsmöglichkeiten und -wünsche veröffentlichen. Als Reaktion auf die vielen konstruktiven Vorschläge des Bundesrates und zahlreiche weitere Anregungen wird die Bundesregierung daher voraussichtlich dem- nächst einen Änderungsantrag im Bundestag einbringen. Hierzu werden noch viele offene Gespräche stattfinden, und es ist klar, dass auch beim Entwurf des Sozialversi- cherungsänderungsgesetz gilt, dass noch kein Gesetz den Bundestag so verlassen hat, wie es als Entwurf ein- gebracht wurde. In der nächsten Sitzungswoche wird der Gesetzentwurf zunächst im Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten. Es ist geplant, dass die zweite und dritte Lesung des Sozialversicherungsänderungsgesetzes vor dem 16. November stattfinden wird, damit das Ge- setz pünktlich zum 1. Januar 2008 in Kraft treten kann. Mit diesem Gesetzentwurf werden viele Einzelpro- bleme gelöst und wird in Kleinarbeit Abhilfe durch Ver- einfachungen geschaffen. Daher freue ich mich für alle betroffenen Personengruppen, so vor allem über die Klarstellung für Familienangehörige von Handwerkern hinsichtlich ihrer sozialen Sicherung und auch über die Hilfen für gehörlose und hörbehinderte Menschen, je- doch auch generell über die Verbesserungen für unsere Unternehmen. Der hier vorliegende Entwurf des Sozialversiche- rungsänderungsgesetzes ist ein wesentlicher Beitrag zum Bürokratieabbau. Besonders bemerkenswert ist hierbei, dass unsere Unternehmen durch den geplanten Bürokra- tieabbau voraussichtlich Kosten in Höhe von rund 200 Millionen Euro einsparen können. 200 Millionen Euro, die auf Erleichterungen und Vereinfachungen be- ruhen und damit keine Abschöpfung darstellen, sondern eine wirkliche Einsparung. Und daher auch 200 Millio- nen Euro, die für Wachstum und Beschäftigung genutzt werden können, auf dass auch in Zukunft die Wirtschaft weiter wächst und die Arbeitslosigkeit weiter sinkt. Dieser Gesetzentwurf zeigt deutlich, dass man mit vielen kleinen Schritten einiges erreichen kann und dass wir dabei auf einem guten Wege sind. 12324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Anton Schaaf (SPD): Der vorliegende Gesetzent- wurf ist ein typisches Beispiel für ein sogenanntes Om- nibusgesetz. In einem solchen Gesetz werden Regelun- gen untergebracht, die für die Verfahren und Arbeitsabläufe der jeweiligen Verwaltungen und Unter- nehmen wichtig sind, aber dennoch – wegen des hohen Aufwands – jeweils keinen eigenen Gesetzentwurf rechtfertigen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze beinhaltet daher zahlreiche Regelungen zum Verfahrensrecht der Sozialversicherung. Es erfolgen Anpassungen an die be- triebliche Praxis in den Unternehmen und bei den So- zialversicherungsträgern. Arbeitsabläufe werden verein- facht und zusammengefasst. Überflüssig gewordene Vorschriften werden aufgehoben. Das gesamte Maßnah- menpaket entlastet die Unternehmen von Bürokratie und damit von Kosten in einer Höhe von rund 190 Millionen Euro. Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf Änderungen im Rentenversicherungsrecht und anderen Bereichen des Sozialversicherungsrechts vor, mit denen Klarstellungen für die Verwaltungspraxis erfolgen. Diese betreffen unter anderem das Auslandsrentenrecht für Hinterbliebene, den Zeitpunkt der Rentenauskunft, das Rentensplitting sowie die Alterssicherung der Landwirte. Ferner werden in Zukunft bei der Altersteilzeit die Erstattung für Auf- stockungsleistungen für arbeitslos Gemeldete und Emp- fänger von ALG II vereinheitlicht. Ich möchte allerdings auf jene Neuerungen eingehen, die mir politisch wichtig sind: Erstens werden in Zukunft bereits gezahlte Arbeit- nehmerbeiträge zur Sozialversicherung vor einer nach- träglichen Rückforderung durch einen Insolvenzverwal- ter geschützt. Zweitens werden die finanziellen Ausgaben der neuen Länder für die Zusatz- und Sonderversorgungs- systeme der Rentner deutlich gesenkt. Drittens prüft die Bundesregierung Vorschläge, die der Bundesrat zum vorliegenden Gesetzentwurf gemacht hat. Die Aufnahme dieser Vorschläge ist zu begrüßen, weil sie deutliche Verbesserungen für Rentenversicherte und Rentenbezieher mit sich bringen. Dazu gehören die Anpassung der Hinzuverdienstgrenze bei einer vorge- zogenen Rente an die Entgeltgrenze für geringfügige Beschäftigung in Höhe von 400 Euro und ergänzende Regelungen zum Sozialversicherungsschutz für Vorru- hestandsgeldbezieher. Der Gesetzentwurf stellt mit einer Ergänzung des § 28 e Abs. 1 SGB IV klar, dass Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung im Insolvenzfall zum Vermögen des Arbeitnehmers gehören und damit bei den Sozialver- sicherungsträgern verbleiben. Bisher können im Insolvenzfall Beiträge für einen Zeitraum von bis zu zehn Jahren von den Sozialversiche- rungsträgern zurückgefordert werden. Geschätzte 800 Millionen Euro jährlich gehen damit den Sozialver- sicherungen verloren. Zusätzlich verzichtet der Fiskus auf 120 Millionen Euro Einkommens- und Umsatz- steuer. Die entgangenen Beiträge müssen letztendlich von der Versichertengemeinschaft aufgebracht werden, denn die Ansprüche aus den Versicherungen – insbesondere der Rentenversicherung – bleiben für die Versicherten selbstverständlich bestehen. Dies kann im Extremfall zu der paradoxen Situation führen, dass einer langen Erwerbsbiografie keine ent- sprechenden Beiträge an die Rentenversicherung gegen- überstehen. Dies gilt auch für die anderen Zweige der Sozialversicherung. Die einschlägigen Interessenverbände warnen davor, eine gesetzliche Änderung vorzunehmen. Sie wollen verfügbare finanzielle Mittel – die Sozialversicherungs- beiträge gehören nach dieser Argumentation dazu – zur Abwendung des Konkurses verwenden. Demnach be- drohen nicht zurückgeforderte Sozialversicherungsbei- träge die Existenz der betroffenen Unternehmen. Belast- bare Statistiken, die diesen Zusammenhang bestätigen, konnten bisher allerdings nicht vorgelegt werden. Zu- meist jedoch werden die entsprechenden Verfahren oh- nehin mangels Masse eingestellt. Die zurückgeflossenen Sozialversicherungsbeiträge dienen deshalb eher dazu, die Gebühren für die Insolvenzverwaltung zu decken. Die jetzt gefundene Regelung ist nicht optimal, kann aber einen Teil des Schadens für die Sozialversicherung abwenden. Wünschenswert aus meiner Sicht ist aller- dings eine Lösung, die auch von den Arbeitgebern ge- leistete Sozialversicherungsbeiträge in Zukunft vor ei- nem Zugriff schützt. Des Weiteren soll die finanzielle Entlastung der neuen Bundesländer durch den vorliegenden Gesetzent- wurf nicht unerwähnt bleiben. Bisher tragen die neuen Länder zwei Drittel und der Bund zu einem Drittel die Lasten, die für die Rentenversicherung durch Aufwen- dungen für die Zusatzversorgungssysteme (Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der DDR) entstehen. In § 15 Abs. 2 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberfüh- rungsgesetz (AAÜG) wird nun festgelegt, dass eine stufenweise Anhebung des Finanzierungsanteils des Bundes im Jahr 2008 auf 36 Prozent, im Jahre 2009 auf 38 Prozent und ab 2010 auf 40 Prozent vorgesehen ist. Dies führt zu Mehrbelastungen des Bundes in Höhe von ca. 65 Millionen Euro im Jahr 2008, circa 113 Millio- nen Euro im Jahr 2009 und circa 162 Millionen Euro jährlich ab dem Jahr 2010. Die neuen Bundesländer müssen dann entsprechend weniger ausgeben und wer- den damit deutlich entlastet. Darüber hinaus erscheint im Anschluss an die Anhe- bung des Rentenalters durch das RV-Altersgrenzenan- passungsgesetz eine bessere Einbeziehung des Vorruhe- stands in das Regelwerk notwendig. Ursprünglich sollte das Rentenalter für langjährig Versicherte von 63 auf 62 Jahre abgesenkt werden. In Anlehnung daran sehen die bis dahin abgeschlossenen Vereinbarungen einen Vorruhestandsgeldbezug bis zum Alter von 62 Jahren vor. Der mit dem RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz beschlossene Verbleib der Altersgrenze bei der Rente für Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12325 (A) (C) (B) (D) langjährig Versicherte bei 63 Jahren stellt die Versicher- ten deshalb vor ein Problem. Durch die neue Regelung kann in Zukunft eine Ver- sorgungslücke von bis zu einem Jahr zwischen Vorruhe- stand und Rente entstehen. Besonders gravierend wäre der Wegfall der Versicherungspflicht in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung durch das Ende des Vorruhestandsgeldbezugs. Die Bundesregierung lehnt es allerdings ab, den im RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz verankerten Vertrau- ensschutz für die Altersteilzeit auf Vorruhestandsverein- barungen, die vor dem 1. Januar 2007 abgeschlossen wurden, auszudehnen. Sie prüft aber Möglichkeiten, auch in Zukunft den Sozialversicherungsschutz nach Auslaufen eines Vorruhestandsgeldbezugs zu gewähr- leisten. Eine denkbare Lösung ist der Verbleib der Al- tersgrenze bei 62 Jahren für eine klar einzugrenzende Personengruppe – in Abhängigkeit von Geburtsjahrgang und Zeitpunkt der Vorruhestandsvereinbarung. Zwar können Arbeitnehmer und Arbeitgeber heute mit der neuen Rechtslage die Vorruhestandsvereinbarun- gen an die neue Altersgrenze von 63 Jahren anpassen. Für bereits abgeschlossene Vereinbarungen muss es aber eine verbindliche Regelung geben, um die Rechts- und Planungssicherheit für die Versicherten zu gewährleis- ten. Der Bundesrat empfiehlt ebenfalls eine prüfenswerte Verbesserung des Hinzuverdienstes bei Bezug einer vor- gezogenen Rente. Meines Erachtens ist eine solche Re- gelung wünschenswert und längst überfällig. Denn die Festsetzung der gültigen Hinzuverdienstgrenze bei Be- zug einer vorgezogenen Altersvollrente oder einer vollen Erwerbsminderungsrente auf ein Siebtel der Bezugs- größe – in 2007 sind dies 350 Euro – ist für viele Rent- nerinnen und Rentner kaum nachvollziehbar. Sie orien- tieren sich an der Geringfügigkeitsgrenze von 400 Euro und gehen davon aus, dass sie neben der Rente eine ge- ringfügige Beschäftigung ausüben dürfen. Was bisher zur Folge hat, dass bei mehrmaligem Überschreiten der 350-Euro-Grenze die Rente in der Regel ganz oder teil- weise zurückgefordert wird. Mit der Vereinheitlichung der Hinzuverdienstgrenze werden in Zukunft solche von niemandem ernsthaft ge- wollten Ergebnisse vermieden. Und sie bedeutet auch eine erhebliche Verwaltungsvereinfachung für die Ren- tenversicherungsträger, weil aufwendige Überprüfun- gen und Rückforderungen entfallen. Wir entwickeln unser Sozialrecht weiter. Das vorlie- gende Gesetz trägt dazu bei und dokumentiert unser Be- mühen, auch in Zukunft mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen Schritt zu halten und mehr noch diese auch in unserem Sinne zu gestalten. Heinz-Peter Haustein (FDP): Der vorliegende Ge- setzentwurf zielt darauf ab, eine ganze Reihe von Rege- lungen im Sozialversicherungsrecht zu ändern, um Ver- fahren und Abläufe zu vereinfachen und anzupassen. Insofern begrüßt die FDP den Schritt der Regierung, mit der vorliegenden Initiative aktiv geworden zu sein. Die Vielzahl der in Rede stehenden Regelungen und Vor- schriften verbietet an dieser Stelle eine abschließende Behandlung. Auf einige wenige Sachverhalte möchte ich jedoch gezielt eingehen. Zunächst offeriert der Entwurf etliche aus unserer Sicht unproblematische Regelungen: So ist die Streichung der Übergangsvorschriften im sogenannten Statusfeststellungs- verfahren ebenso richtig wie die Zusammenfassung der Vorschriften zum Sozialversicherungsausweis, der nun von der Rentenversicherung ausgestellt werden soll, unter Genehmigungsvorbehalt des Ministeriums. Auch die Klarstellung zum Melde- und Beitragsverfahren, in dem die Rückmeldungen an die Arbeitgeber künftig ebenfalls vollautomatisiert abgewickelt werden sollen, ist aus un- serer Sicht ein sinnvoller Schritt. Auch das Meldeverfahren für Versicherte in den be- rufsständischen Versorgungseinrichtungen soll laut dem Entwurf zukünftig richtigerweise in das Meldeverfahren zur Sozialversicherung integriert werden. Die Festle- gung eines einheitlichen Zeitpunktes zur Übermittlung der Beitragsnachweise, der nun als Kompromiss zwi- schen Arbeitgebern und Einzugsstellen auf „zwei Ar- beitstage vor Fälligkeit“ fixiert werden soll, ist so hin- nehmbar. Dies alles und andere der vorgesehenen Regelungen – ich will und kann hier nicht den ganzen Entwurf abar- beiten – sind aus Sicht der FDP völlig unstrittig. Noch einmal sorgfältig überdenken sollte man jedoch unserer Meinung nach insbesondere zwei der beabsichtigten Neuerungen: Zum Ersten sollen laut dem Gesetzentwurf künftig die zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichteten Beiträge nur noch für die jeweils letzten vier Jahre an den Beitragszahler rückerstattet werden, falls sich he- rausstellen sollte, dass dieser gar nicht versicherungs- pflichtig war. Der Status quo hingegen sieht für den Fall der Feststellung der fehlenden Versicherungspflicht vor, dass die Beiträge umfassend rückerstattet werden. Zwar besteht bei der Arbeitslosenversicherung im Falle der Feststellung der fehlenden Versicherungspflicht bereits heute lediglich die Verpflichtung zur Rückerstattung der Beiträge der letzten vier Jahre. Das dies jedoch ein Prä- judiz dafür sein soll, in der gesetzlichen Rentenversiche- rung ebenso zu verfahren und nicht eine Angleichung in anderer Richtung vorzunehmen, sollte nicht ohne jede weitere Diskussion so stehengelassen werden. Gerade vor dem Hintergrund der Streitfälle der Ver- gangenheit bei im Betrieb mitarbeitenden Familienange- hörigen und hinsichtlich der für den Einzelnen erhebli- chen Summen, die über Jahre bei fehlerhafter Beitragszahlung zusammenkommen können, sollte noch einmal darüber nachgedacht werden, in welcher Rich- tung man hier eine Angleichung der Verfahren vorneh- men möchte. Wir müssen eine Antwort auf die Frage fin- den, ob wir jemandem, der nicht der Versicherungspflicht unterliegt und keinerlei Anspruch auf Versicherungsleis- tungen hat, wirklich erklären wollen, dass er möglicher- weise über Jahre hinweg Beiträge gezahlt hat, von denen er nicht mit einem Cent etwas hat, weder bezüglich eines Versicherungsanspruchs noch in Form einer Rückerstat- 12326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) tung. Da selbst die zurückgezahlten Beiträge ohne Ver- zinsung erstattet werden, besteht schon darin eine Be- nachteiligung der Betroffenen, die gegenüber einer kapitalgedeckten Altersvorsorge deutliche Nachteile hat. Es ist zu klären, inwieweit die Sozialversicherungs- träger die Folgen und Konsequenzen von Irrtümern bei der Feststellung der Versicherungspflicht legitimerweise einseitig auf die Betroffenen abwälzen dürfen. Aus unse- rer Sicht ist in dieser Frage mit äußerster Sensibilität vorzugehen. Die FDP hat bereits in der letzten Legisla- turperiode einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der vorsah, dass Betroffene, die jahrelang im Glauben an die Sozialversicherungspflicht Beiträge zahlten und bei denen sich dann herausstellte, dass keine Versicherungs- pflicht gegeben ist, ein Wahlrecht erhalten. Die Betroffe- nen müssen die Möglichkeit haben, zu wählen zwischen der Inanspruchnahme der Versicherungsleistung einer- seits, derer sie sich jahrelang sicher waren, und der Rückerstattung der Beiträge andererseits. Im Sinne einer Angleichung der Verfahren könnte durchaus in der ande- ren Richtung verfahren werden. Die Festlegung auf die Lösung zuungunsten der Betroffenen sollten wir noch einmal überdenken, wie ich meine. Zum Zweiten muss die beabsichtigte Neuverteilung der Erstattungslasten des Bundes nach dem Anwart- schafts-Überführungsgesetz betrachtet werden. Bislang trugen die Länder zwei Drittel der Lasten, der Bund trug ein Drittel. Die stufenweise Erhöhung des Bundesanteils auf 40 Prozent im Jahr 2010 zieht die Frage nach sich, warum es hier zu einer Entlastung der Länder kommen soll. Darüber hinaus kritisiert der Bundesrat in seiner Stellungnahme eine Reihe anderer Neuregelungen, zum Beispiel, dass auch die Landesaufsichtsbehörden die aufbereiteten Gesamtdaten von den Rentenversiche- rungsträgern erhalten sollen. Auch die vorgesehene Übernahme von Kosten für gehörlose und hörbehinderte Menschen im Sozialleistungsverfahren bemängelt die Länderkammer angesichts der Tatsache, dass bislang je- der ausdrückliche Hinweis auf die Höhe der zu erstatten- den Kosten im SGB I fehlt. Es wird also im weiteren Verlauf des parlamentarischen Verfahrens noch genug über den vorgelegten Gesetzentwurf zu reden sein. Katja Kipping (DIE LINKE): Das Sozialgesetz- buch IV enthält gemeinsame Vorschriften für die Sozial- versicherungen und regelt insbesondere Verfahren, die für alle Zweige der Sozialversicherung gelten. Mit dem neuerlichen Gesetzentwurf der Bundesregierung sollen diese zunächst an „Erfordernisse der betrieblichen Pra- xis“ sowie bei den Trägern der Sozialversicherungen an- gepasst werden. Insgesamt sind für das SGB IV 14 Änderungen vor- gesehen. Zum Teil dienen die Vorschriften der Klarstel- lung von gewünschten Verfahrensabläufen, die entweder Vereinfachung für die Arbeitgeber oder die Sozialver- sicherungsträger darstellen. Für die Versicherten sind folgende Neuregelungen relevant: Erstens. Zu Unrecht geleistete Beiträge zur gesetzli- chen Rentenversicherung konnten bislang rückwirkend erstattet werden. Nunmehr sollen nach Ablauf einer Ver- jährungsfrist von vier Jahren diese Beiträge als Pflicht- beiträge gewertet werden. Eine Erstattung ist nicht mehr möglich. Zweitens. Es wird klargestellt, dass im Insolvenzfall die Arbeitnehmerbeiträge als Besitzstand des Arbeitneh- mers gelten. Außerdem werden weitere 18 Änderungen in anderen Gesetzen vollzogen, die teilweise den redaktionellen Charakter oder Verfahrensfragen klären bzw. vereinfa- chen sollen. Als bedeutsam erachte ich hier folgende As- pekte: Erstens. Nach dem Anspruchs- und Anwartschafts- überführungsgesetz übernehmen der Bund und die neuen Länder die vollständige Erstattung von Rentenkosten, die auf der Überführung von Zusatz- und Sonderversor- gungssysteme in der DDR beruhen. Die Aufteilung der Kosten zwischen Bund und neuen Ländern wird zuguns- ten der neuen Länder geändert. Der Bund trägt derzeit ein Drittel der Kosten und steigert seinen Anteil stufen- weise auf 40 Prozent im Jahr 2010. Zweitens. Bei einer Anpassung des Auslandsrenten- rechts bei Hinterbliebenenrenten wird die großzügigere Regelung des EU-Gemeinschaftsrechts übernommen. Bislang wurden Renten für Hinterbliebene bei gewöhnli- chem Aufenthalt im Ausland für drittstaatsangehörige Hinterbliebene nur in Höhe von 70 Prozent ausgezahlt, während das EU-Gemeinschaftsrecht die volle Leis- tungsgewährung vorsieht. Drittens. Die Prüfrechte zur Prüfung von Erstattungs- ansprüchen von Werkstätten für behinderte Menschen und ähnliche Einrichtungen werden auf Ersuchen des Bundesrechnungshofs ausgeweitet. Viertens. Im landwirtschaftlichen Bereich ist die Hof- übergabe immer die Voraussetzung für den Rentenbe- zug. Nunmehr soll die Möglichkeit der Hofabgabe unter Ehegatten erleichtert werden, mit dem Ziel ein früheres Renteneintrittsalter zu ermöglichen. Eine Hofabgabe an den anderen Ehegatten soll – schon – dann möglich sein, wenn der den Hof übernehmende Ehegatte ein Lebensal- ter erreicht hat, ab dem er frühestens eine vorzeitige Al- tersrente beziehen könnte, nach Ablauf der Übergangs- zeit wäre dies das 57. Lebensjahr. Für mich ist klar erkennbar, dass ein Großteil der Än- derungen vor allem dazu dient, Vereinfachung und Kos- tenminimierung bei Verwaltungsabläufen herbeizufüh- ren. Das ist prinzipiell zu begrüßen, ebenso wie der Insolvenzfall oder die stärkere Kostenbeteiligung des Bundes an Rentenansprüchen nach dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz, auch wenn natürlich der Aspekt Rentenüberleitung ausführlicher und grund- sätzlicher in Bezug auf das Leistungsrecht behandelt werden sollte. Ob negative Auswirkungen auf die Versi- cherten eintreten, das bleibt allerdings abzuwarten. Zudem sehe ich die beabsichtigte Änderung des § 73 SGB IV zu über- und außerplanmäßigen Ausgaben kri- tisch. Es ist vorgesehen, diese Entscheidung dem Ver- waltungsrat zu übertragen. Das widerspricht in meinen Augen einer flexiblen und situationsgerechten Handha- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12327 (A) (C) (B) (D) bung des Haushaltsrechtes. In der Regel tagen Verwal- tungsräte in recht großen zeitlichen Abständen, sodass zusätzliche Treffen anberaumt werden müssten, die für die Krankenkassen natürlich einen erheblichen zusätzli- chen Verwaltungsaufwand sowie Mehrkosten verursa- chen. Deutlich günstiger wäre es, auch diese Bewilligun- gen beim Vorstand zu belassen, da diesem ohnehin die finanzrelevanten Aufgaben obliegen. Aus den genannten Gründen kann meine Fraktion diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Gesetzentwurf enthält eine Vielzahl verfahrenstechni- scher Regelungen und rechtlicher Anpassungen, die im Sinne einer Harmonisierung des Sozialrechts zu begrüßen sind. Problematisch sind solche Verfahrensänderungen, wenn sie die Selbstbestimmungs- und Widerspruchs- rechte der betroffenen Leistungsempfänger beschneiden. Deshalb kritisieren Bündnis 90/Die Grünen ausdrück- lich die Pläne der Bundesregierung, Rentenversicherten das Recht auf Erstattung von zu Unrecht entrichteten Bei- trägen zu nehmen. Durch die geplante automatische Um- wandlung zu Unrecht gezahlter Beiträge in Anwartschaf- ten nach Ablauf der Verjährungsfrist von vier Jahren wird den Antragstellern außerdem ihr Widerspruchsrecht ge- nommen. Denn Bescheide, die die Unrechtmäßigkeit der Beiträge feststellen, werden durch diese Regelung hinfäl- lig. Auf diese Weise hebelt die Bundesregierung elemen- tare Verfahrensrechte für viele Millionen Versicherte aus. Wir vermissen außerdem Erläuterungen seitens der Bundesregierung über die finanziellen Auswirkungen dieser Regelung sowohl für die Versicherten als auch für die Rentenversicherung. Kein Verständnis haben wir für die Ablehnung der Bundesländer zu den Plänen der Bundesregierung, die Kostenberechnung von Gebärdensprachdolmetschern und Kommunikationshelfern bei der Ausführung von Sozial- leistungen auf festere Füße zu stellen. Diese sollen an die Regelungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren angepasst werden. Ich begrüße ganz ausdrücklich dieses Vorhaben der Bundesregierung. Gehen Menschen mit Hörbehinderungen heute zum Arzt, so ist die Kostener- stattung bzw. Refinanzierung für eine Gebärdensprach- dolmetschung alles andere als unproblematisch. Auch die Rahmenvereinbarungen mit den Krankenkassen ent- sprechen bei Weitem nicht dem Standard, den wir schon in anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens er- reicht haben. Das Behindertengleichstellungsgesetz ge- bietet einen barrierefreien Zugang für Menschen mit Behinderungen zu den Sozialleistungen sowie eine aus- kömmliche Vergütung der Dolmetschung. Die geplante Änderung durch die Bundesregierung ist daher unum- gänglich. Die vorgesehene Änderung der Zuständigkeit für die Verordnungsermächtigungen des Behindertengleichstel- lungsgesetzes vom Bundesministerium des Innern auf das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist ein richtiger und nachvollziehbarer Schritt in die richtige Richtung. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozia- les hat den höheren Sachbezug zu den Themen der Men- schen mit Behinderungen. Ganz ausdrücklich warne ich jedoch davor, die Zuständigkeiten des Behinderten- gleichstellungsgesetzes zu einseitig auf das Bundesmi- nisterium für Arbeit und Soziales zu konzentrieren. Bar- rierefreiheit betrifft fast alle Ressorts der einzelnen Ministerien und muss im Sinne eines Disability Main- streaming ministeriumsübergreifend mitgedacht werden. Finanzpolitisch fragwürdig sind außerdem die ge- planten Änderungen zu den Kostenerstattungsregelun- gen des Anspruchs- und Anwartschaftsrechtes zwischen Bund und neuen Bundesländern. Hierzu ist festzustellen, dass die finanzielle Lage des Bundes auch nicht besser als die der Länder ist. Im Gesetzentwurf findet sich keine Erläuterung zur Grundlage dieser Entscheidung. Verwiesen wird lediglich auf eine Kabinettsentscheidung vom 13. Dezember 2006. Wir fordern die Bundesregie- rung auf, die Gründe für diese Änderung offenzulegen. Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Arbeit und Soziales: Mit dem Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und an- derer Gesetze geht die Bundesregierung konsequent wei- ter den Weg, bürokratische Hemmnisse für die deutsche Wirtschaft im Bereich der Sozialversicherung abzu- bauen. Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen werden die Kosten für die deutsche Wirtschaft um rund 200 Mil- lionen Euro pro Jahr reduziert. Der Standort Deutsch- land wird weiter gestärkt. Dabei werden die Möglichkeiten moderner Datenver- arbeitung für die Übermittlung von Daten konsequent genutzt, zum Beispiel für die Beitragsabrechnung der Versicherten in berufsständischen Versorgungswerken. Bisher senden die Unternehmen für ihre Versicherten an 85 Versorgungseinrichtungen umfangreiche Daten auf Papier. Zukünftig werden nun alle notwendigen Daten automatisiert an eine Annahmestelle der Versorgungs- einrichtungen übermittelt. Von dort werden die Daten an die zuständige Versorgungseinrichtung weitergeleitet. Genutzt werden dabei Techniken, die sich auch im Melde- und Beitragsverfahren für die Sozialversiche- rung bewährt haben. Ein weiteres Beispiel ist die Vereinheitlichung des Abgabezeitpunktes für die Beitragsmeldungen zur So- zialversicherung. Gab es bisher für die Übermittlung eine Frist von vier bis zwei Tagen je nach Satzung der Einzugsstelle, ist zukünftig die Frist auf spätestens zwei Tage vor Fälligkeit der Beiträge gesetzlich festgelegt. Dadurch werden in erheblichem Umfang Mahnverfahren und Säumniszuschläge für verspätete Übermittlungen bzw. zusätzliche Meldungen eingespart. Über diese direkten Entlastungen der Wirtschaft hi- naus, werden mit dem Gesetz auch zahlreiche kleinere Maßnahmen umgesetzt, die für die betroffenen Personen wichtig sind. Ich nenne hier beispielhaft die Meldung von im eigenen Unternehmen beschäftigten Kindern zur Feststellung ihres Versichertenstatus – ein Anliegen, das besonders den Handwerksbetrieben am Herzen liegt. 12328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Außerdem wird klargestellt, dass in Insolvenzfällen die Insolvenzverwalter die Meldepflichten des Arbeitge- bers zu übernehmen haben. Damit wird sichergestellt, dass den entlassenen Versicherten zumindest in Bezug auf ihre Zeiten im Versichertenkonto keine Nachteile mehr entstehen. Diese Beispiele machen deutlich: Das Gesetz zur Än- derung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und ande- rer Gesetze ist mehr als ein Artikelgesetz mit vielen technischen Einzelregelunge. Sondern: Es handelt sich dabei um ein Gesetz, das mit seinen vielen Einzelrege- lungen die tägliche Arbeit in den Unternehmen bei den Sozialversicherungsträgern spürbar erleichtern wird und darüber hinaus die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern spürbar schützt, um ein Gesetz, das gut zu einer modernen sozialen Marktwirtschaft passt. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Dem Verlust an Agrobiodiversität ent- gegenwirken (Tagesordnungspunkt 22) Johannes Röring (CDU/CSU): Der vor uns lie- gende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Agrobio- diversität ist geprägt von Wunschvorstellungen und Träumereien, die mit der Realität allerdings nichts zu tun haben. Um Irritationen zu vermeiden, lassen Sie mich zunächst konstatieren, dass es auch für mich eine wich- tige Rolle spielt, wie wir mit der Natur umgehen, dass biologische Vielfalt und Naturschutz eine große Bedeu- tung bei der Arbeit in der Natur haben. Die Menschen und Beschäftigten in der Agrarbranche wissen dies und handeln nach den Vorgaben der guten fachlichen Praxis, um die Interessen von Natur und Mensch zu achten. Doch lässt der aktuelle Antrag tatsächlich eher den Schluss zu, dass von den Grünen Fakten ignoriert wer- den und man eher Träumereien hinterherläuft, die mit den aktuellen Gegebenheiten nicht in Einklang zu brin- gen sind. Zugespitzt kann man auch sagen, dass dieser Antrag eine Generalkritik an der zukunftsgerichteten, modernen Landwirtschaft und dem Industriestandort Deutschland ist. Zunächst sollte man sich die Frage stellen, was über- haupt Biodiversität ist und inwieweit sie konkret be- schreib- und messbar ist. Wissenschaftlich gesprochen ist unter dem Begriff Biodiversität zum einen die Vielfalt unterschiedlicher Tier- und Pflanzenarten zu fassen, zum zweiten gehört die Vielfalt innerhalb der Arten, also die genetische Unterschiedlichkeit innerhalb der Arten und ihrer Populationen dazu, und den dritten Aspekt der Bio- diversität bildet die Vielfalt der Lebensräume und Lebens- gemeinschaften. Schließlich zählen auch alle zwischen den genannten Ebenen auftretenden Wechselwirkungen dazu. In Ihrem Antrag wagen Sie nun einen Vergleich mit der Biodiversität des 19. Jahrhunderts und sprechen da- bei von der unglaublichen Fülle an Arten und Sorten, die damals im Gegensatz zu heute existierte, und klagen da- bei die über Probleme der Nutzung durch den Menschen. Dabei scheinen Sie vergessen zu haben, dass viele Tier- und Pflanzenarten erst durch menschliches Handeln in Deutschland heimisch geworden sind. Bei Ausbleiben einer menschlichen Nutzung würde die Zusammenset- zung der Tier- und Pflanzengesellschaften dagegen im Wesentlichen von Boden und Klima bestimmt. Wäre also in der Vergangenheit keine landwirtschaftliche Nut- zung durch den Menschen erfolgt, dann würde in weiten Teilen Deutschlands bis heute ein vergleichsweise arten- armer Eichen- und Buchenwald vorherrschen. Erst durch die Nutzung der Flächen, durch Rodung, Beweidung und Ackerbau, sind neue Lebensräume entstanden, die von weiteren, vielfach auch gebietsfremden Arten besiedelt werden konnten. In vielen Teilen des Landes würden heute noch Schafe über sumpfige Moorlandschaften zie- hen und die Menschen dort verhungern, wenn man nicht aktiv die Natur um- und mitgestaltet hätte. Wir leben in einer Welt, in der sich das Bevölkerungs- wachstum in besorgniserregender Weise erhöht, wir also auf den vorhandenen Flächen mehr anbauen müssen, um immer mehr Menschen satt machen zu können. Diese Entwicklung ist schon seit langem bekannt, weshalb ich auch gerne aus den offiziellen Dokumenten der Verein- ten Nationen zur Agenda 2010 der Rio-Konferenz von 1992 zitieren möchte: Im Jahr 2025 werden 83 Prozent der Weltbevölke- rung, die bis dahin auf voraussichtlich 8,5 Milliar- den gestiegen sein wird, in den Entwicklungslän- dern leben. Es ist allerdings fraglich, ob die Kapazität der vorhandenen Ressourcen und Tech- nologien ausreichen wird, um die Bedürfnisse die- ser ständig weiter wachsenden Bevölkerung in bezug auf Nahrungsmittel und andere landwirt- schaftliche Produkte zu befriedigen. Die Landwirt- schaft muß dieser Herausforderung in erster Linie dadurch begegnen, daß sie die Produktion auf be- reits bewirtschafteten Flächen steigert; … Vorrang muß dabei die Erhaltung und die Steigerung der Leistungsfähigkeit der ertragreicheren landwirt- schaftlichen Nutzflächen haben, denn nur so kann eine wachsende Bevölkerung ausreichend versorgt werden. In Anbetracht der dramatischen Entwicklung der Weltbevölkerung von 1,6 Milliarden Menschen im Jahr 1900, über circa 2,5 Milliarden 1950 und aktuell etwa 6,5 Milliarden mussten vielfältige Anstrengungen unter- nommen werden, die Produktivität der Agrarflächen zu steigern. Durch die damit verbundenen Eingriffe – Ent- wässerung, Bewässerung, Bodenbearbeitung, Nährstoff- zufuhr, Pflanzenschutz, Konzentration auf ertragreiche Sorten – ist es möglich geworden, dass heute effizienter und effektiver als zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gearbeitet werden kann. Aktuelle Daten bestätigen, dass die optimale Ressourceneffizienz und Nettoenergiege- winne nur dann erzielbar sind, wenn nicht etwa extensiv, sondern mit bedarfsgerechter Düngung und ebensol- chem Pflanzenschutz gewirtschaftet wird. Man kann nur noch einmal betonen: Eine nachhaltige Landwirtschaft ist geprägt durch ihre Intensivität. Die im Antrag vorge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12329 (A) (C) (B) (D) brachten Kritikpunkte an der Düngung und dem Pflan- zenschutz sind damit als obsolet zu betrachten. Abschließend möchte ich betonen, dass es nicht nur angesichts der weiter wachsenden Weltbevölkerung, sondern auch durch die zunehmende Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen und der ebenso steigenden weiteren Beanspruchung der Fläche durch Versiegelung und sonstige Nutzungen kein Ziel sein kann, die vom Menschen verursachte damalige Artenvielfalt auf Pro- duktionsflächen heute zum Ziel von Visionen zu ma- chen. Eine solche Zielstellung missachtet nicht nur die Entstehung und Herkunft dieser „Vielfalt“, sondern auch die heutigen grundlegenden Anforderungen einer insge- samt nachhaltigen Entwicklung. Denn folgen wir den Il- lusionen dieses vorliegenden Antrags hinsichtlich der Ausweitung des Ausbau der ökologischen Landwirt- schaft müssten wir feststellen, dass beispielsweise beim Anbau von Weizen die mehr als doppelt so große An- baufläche wie bei der konventionellen Landwirtschaft notwendig wäre und damit neue Flächen erschlossen werden müssten, auch jetzige Naturschutzflächen. Die Forderungen nach einer Extensivierung der land- wirtschaftlichen Produktionsmethoden ist folglich ein- hergehend mit einem erhöhten Anbauflächenbedarf, der bei den uns nur begrenzt verfügbaren Flächen zwangs- läufig und unausweichlich zulasten der Flächen gehen muss, die heute noch uneingeschränkt als Naturschutz- gebiete existieren. Unsere Aufgabe muss folgerichtig nicht eine weitere Extensivierung, sondern eine Effi- zienzsteigerung sein. Wir sehen also, dass dieser Antrag inhaltlich an allen Realitäten vorbeigeht und wir daher guten Gewissens diesen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ablehnen können. Dr. Gerhard Botz (SPD): Das Thema Biodiversität – einfacher gesagt: die Grundlage und Vielfalt unseres menschlichen Daseins – steht nicht oft im Mittelpunkt unserer Reden. Wenn man sich einmal die Zeit nimmt und intensiv darüber nachdenkt, wie Prozesse auf unse- rer Erde vonstatten gehen, erkennt man die Bedeutung des Themas als lebensnotwendig und lebenserhaltend und die Verpflichtung und Verantwortung, die wir bei diesem Thema haben. Die Gefährdung der biologischen Vielfalt ist nicht einfach nur ein Verlust an Arten von Pflanzen und Tie- ren, sondern über diesen Verlust gerät auch unser ganzes Ökosystem ins Wanken; dessen sollten wir uns bewusst sein. Über die biologische Vielfalt werden solche Öko- systemleistungen wie Bestäubung, Bodenbildung, Nähr- stoff- und Wasserkreisläufe, Klimaregulierung etc. ent- scheidend gesteuert. Wir sind abhängig von den Dienstleistungen der Natur – von sauberer Luft, reinem Trinkwasser, fruchtbaren Böden –, und wir gefährden unsere eigene Existenzgrundlage, wenn wir den Reich- tum der Arten, deren Lebensräume und die genetischen Ressourcen zu stark einschränken. Darum ist es richtig, den Schutz der Artenvielfalt ein- zufordern. Vor dem Hintergrund der stetig steigenden Weltbevölkerung, der Aufholprozesse der Entwicklungs- länder und des ständig steigenden Bedarfs an Rohstoffen und Lebensmitteln ist das wahrlich keine einfache Auf- gabe. Doch wenn wir uns dieser Aufgabe nicht stellen, wer dann? Heute stehen wir nicht nur vor der Frage, wie wir die Biodiversität erhalten wollen, sondern, wie wir sie überhaupt erhalten können. Denn mit dem Klima- wandel wird sich eine Änderung der Biodiversität ein- stellen, auf die wir keinen Einfluss mehr haben. Be- stimmte Pflanzen- und Tierarten werden einfach aussterben, weil sie die dann herrschenden klimatischen Verhältnisse nicht mehr vertragen. Noch haben wir es in der Hand, etwas zu unternehmen. Der Begriff Agrobiodiversität grenzt den Begriff der Biodiversität auf den Bereich der Land-, Forst- und Nah- rungsgüterwirtschaft ein. Er steht hauptsächlich für Er- nährungssicherheit. Eine Möglichkeit, positiven Einfluss auf die Agrobiodiversität zu nehmen, die Vielfalt der Pflanzen- und Tierarten zu erhöhen und ökologische Dienstleistungen zu vollbringen, ist der Anbau von Bäu- men auf landwirtschaftlichen Nutzflächen, die soge- nannte Agroforstwirtschaft. Pflanzungen mit Wertholz- bäumen, Nutztierhaltung oder ackerbauliche Nutzung zwischen Baumreihen sind Formen der Agroforstwirt- schaft, die für den Naturschutz und die Agrobiodiversität einen besonders wertvollen Beitrag liefern. Es wird nicht nur die Biodiversität erhöht, sondern es werden auch die Folgen von Wind- und Wassererosion gemindert. Das CO2-Bindevermögen der landwirtschaftli- chen Nutzfläche wird gesteigert und die Humusproduk- tion des Bodens verbessert, wodurch eine Reduzierung des Düngemitteleinsatzes möglich ist. Durch verbesserte Schattenwirkung innerhalb der Schläge ergeben sich posi- tive Auswirkungen auf Bodenwasserhaushalt und Ertrag. Dies alles kann einen besonders vielschichtigen und lang- fristigen Ansatz zur Agrobiodiversität liefern. Die Agroforstwirtschaft ist also in der Lage, eine Schlüsselrolle für eine nachhaltige Landwirtschaft zu übernehmen. Sie kann auch eine sichere Versorgung nachfolgender Generationen mit Lebensmitteln und landwirtschaftlichen Rohstoffen ermöglichen, ohne die Aspekte der Agrobiodiversität aus den Augen zu verlie- ren. Die wachsende Nachfrage nach Biomasse für die energetische Nutzung wird zurzeit hauptsächlich über Raps oder Mais realisiert. Es besteht daher die berech- tigte Befürchtung, dass Monokulturen unsere landwirt- schaftlichen Nutzflächen dominieren. Im Vergleich dazu leistet der Anbau von Energieholz in Kurzumtriebsplan- tagen durch längere Umtriebszeiten einen wesentlich größeren Beitrag zur Agrobiodiversität. Forschungsar- beiten und Modellvorhaben müssen sich in diese Rich- tung orientieren. Den heute vorliegenden Antrag der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Dem Verlust an Agro- biodiversität entgegenwirken“ werden wir ablehnen. Zwar ist er inhaltlich tragbar, an einigen Stellen jedoch überholt. Bereits im Mai dieses Jahres wurde im Bun- destag ein Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD zu Maßnahmen zur Erhaltung der Artenvielfalt ver- abschiedet. Der darin geforderte nationale Strategieplan 12330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) zur biologischen Vielfalt der Bundesregierung steht kurz vor dem Abschluss. Er enthält ein breites Spektrum an Maßnahmen und Instrumenten zum Schutz und Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland und für entspre- chende Schritte auf europäischer und globaler Ebene. Die Große Koalition hat auch an dieser Stelle ihre Haus- aufgaben gemacht und wird diese wichtige Zielstellung weiter verfolgen. Gabriele Groneberg (SPD): Wenn wir uns heute mit dem Verlust der Agrobiodiversität beschäftigen, dann handelt es sich hier um ein Problem von zentraler entwicklungspolitischer Bedeutung. Circa 80 Prozent der biologischen Vielfalt, des natür- lichen Vorkommens an genetischen und biologischen Ressourcen weltweit liegen in Entwicklungsländern. Die landwirtschaftliche Vielfalt von Nutztieren und -pflan- zen ist Teil dieser biologischen Vielfalt. Der Erhalt die- ses Artenreichtums ist für die Entwicklungsländer exis- tenziell; denn Agrobiodiversität dient direkt der Ernährungssicherung. Es ist wichtig, die natürliche Ar- tenvielfalt, aber auch die Ergebnisse jahrtausendealter Züchtungsarbeit in Entwicklungsländern sowie das tra- ditionelle Wissen im Nutzpflanzenbereich zu erhalten. Landwirtschaftlich nutzbarer Artenreichtum wird die Entwicklungsländer weniger verletzlich machen gegen- über den Folgen des Klimawandels und erhöht ihre An- passungsfähigkeit gegenüber sich verändernden Um- weltbedingungen. Was ich damit meine, möchte ich an einem Beispiel erläutern: Das für seine formschönen Hörner bekannte Ankole-Rind in Uganda könnte innerhalb der nächsten Jahrzehnte aussterben, weil die Bauern lieber auf Rin- derarten mit höheren Milcherträgen zurückgreifen. Wäh- rend einer Dürreperiode stellte sich allerdings der Vorteil des einheimischen Rinds heraus. Die Bauern konnten mit den widerstandsfähigen Ankole-Rindern weite Stre- cken bis zur nächsten Wasserquelle zurücklegen. Die Bauern mit den importierten Rindern haben ihre gesamte Herde verloren. Dass in dem vorliegenden Antrag dieser Aspekt be- tont wird, kann ich zwar als Entwicklungspolitikerin be- grüßen. Dies habe ich auch in meiner Stellungnahme am 24. Mai 2007 deutlich zum Ausdruck gebracht. Aller- dings frage ich mich, warum Sie sich nicht mit der natio- nalen Strategie zur biologischen Vielfalt der Bundesre- gierung auseinandergesetzt haben. Im Übrigen haben wir mit der Verabschiedung des Koalitionsantrages im Mai 2007 zu Maßnahmen gegen den Artenrückgang und das Artensterben im Grunde dazu das Wesentliche gesagt, und auch deshalb hätten Sie Ihren Antrag zurückziehen können. Wenn Sie sich mit der Strategie zur biologischen Viel- falt der Bundesregierung beschäftigen, werden Sie schnell feststellen, dass die Große Koalition durchaus begriffen hat, dass das Thema Biodiversität in dieser Vielschichtigkeit zu erfassen ist und anspruchsvolle und auch umsetzbare Ziele zu definieren sind. Dies gilt so- wohl für den Erhalt der biologischen Vielfalt in allen Agrarökosystemen als auch für den Bereich Biodiversi- tät und Armutsbekämpfung. All dies wird auch in dieser Strategie dargelegt. Vor dem Hintergrund des ersten Millenniumsentwick- lungsziels, die Anzahl der Menschen, die Hunger leiden in der Welt, bis 2015 zu halbieren, sehen wir den Schutz und die nachhaltige Nutzung der Biodiversität als inte- grale Bestandteile einer wirtschaftlich, sozial und ökolo- gisch nachhaltigen Entwicklungspolitik an. Wir brauchen eine enge Kooperation mit den Ent- wicklungsländern, um eine gemeinsame Lösung zu erar- beiten. Angesichts unserer Rolle als Gastgeber für die neunte Vertragsstaatenkonferenz zum Schutz der biolo- gischen Vielfalt in Bonn im nächsten Jahr wäre es wün- schenswert, wenn Sie sich dazu entscheiden könnten, die Strategie zur biologischen Vielfalt der Bundesregierung, die wir entwickelt haben, offensiv mitzuvertreten. Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Die Landwirt- schaft ist unverzichtbarer Partner für den Erhalt der Bio- diversität in Deutschland. Eine besondere Rolle spielt dabei die Agrobiodiversität. Zu ihrer Sicherung ist eine ökologisch, ökonomisch und sozialverträgliche Nut- zung unabdingbar. In engem Zusammenhang zur Agro- biodiversität steht die Vielfalt von Bewirtschaftungs- und Produktionsformen. Anders als bei der biologischen Vielfalt, sind viele Bestandteile der Agrobiodiversität ausschließlich auf menschliche Aktivität angewiesen. Die Agrobiodiversität ist der Grundstein für die Siche- rung der menschlichen Ernährung und trägt gleichzeitig zum Erhalt der Ökosysteme bei. Das bedeutet, dass eine hohe Agrobiodiversität die zukünftigen Lebensgrundla- gen des Menschen sichert, unter anderem dadurch, dass ein breiter Genpool erhalten bleibt. Von den vorkom- menden rund 340 000 Pflanzenarten werden derzeit nur 7 000 vom Menschen genutzt. Weltweit gesehen brauchen wir beides: Wir brauchen den Naturschutz, den Schutz von biologisch bedeutsamen Flächen, Biotopen und Nationalparks. Wir brauchen aber auch die Landwirtschaft zur Produktion unserer Nah- rungsmittel sowie zur Produktion nachwachsender Roh- stoffe für die stoffliche und inzwischen insbesondere für die energetische Produktion. Jede Strategie zum Erhalt der biologischen Vielfalt muss die Ursachen für das Aussterben von Arten be- kämpfen und artenreiche Regionen schützen. 3 Prozent der weltweit beschriebenen Arten kommen in Deutsch- land vor. Das klingt sehr wenig, ist aber sehr viel. Es ist eine große Aufgabe, diesen Schatz zu schützen. Arten- vielfalt bedeutet Informationsvielfalt. Das Aussterben des Mammuts in Europa war eine Folge des Klimawandels. Es war unvermeidlich. Der Klimawandel ist allgegenwärtig und ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Der vom Menschen verursachte Anteil des Klimawandels muss weiter bekämpft werden, muss gemindert werden. Aber die durch den Klimawan- del hervorgerufene Veränderung des Artenspektrums werden wir nicht aufhalten können. Wir können höchs- tens versuchen, frühzeitig durch Anpassungsstrategien die Folgen zu mildern. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12331 (A) (C) (B) (D) Es gibt einen Rückgang an Arten, der über diese un- vermeidbare Änderung des Artenspektrums hinausgeht. Wir haben in Deutschland 48 000 Tierarten und 28 000 Pflanzenarten. 520 Tierarten sowie 512 Pflanzen- und Pilzarten sind ausgestorben. Der Präsident des Um- weltbundesamtes hat recht: Der Wandel des Artenspek- trums in Deutschland ist nicht dramatisch. Für Deutsch- land können wir verzeichnen, dass wir bei dichter Besiedlung und hoher Intensität der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung keinen großen Artenschwund haben. Der öffentliche Eindruck eines Artenrückgangs geht mit der Entfremdung der Menschen von der Natur einher. Wer nur Unter den Linden spazieren geht, weiß eben nicht, wie artenreich unsere Wälder sind. Die Zerstörung von Lebensräumen ist Hauptursache für den Rückgang der Artenzahl. Angesichts der Tatsache, dass die Weltbevölkerung 1800 bei 1 Milliarde Menschen lag und nun 6 Milliarden beträgt, ist es normal und rich- tig, dass wir Flächen verstärkt landwirtschaftlich nutzen und die Intensität der landwirtschaftlichen Nutzung er- höht haben. 1800 wurden in Deutschland 7 Doppelzent- ner Weizen auf 1 Hektar geerntet. Nun sind es über 90 Doppelzentner. Auf diese Intensivierung der Land- wirtschaft können wir nicht verzichten. Von daher können wir auch dem Antrag der Grünen nicht zustimmen. Denn er steht im krassen Widerspruch zur Forderung einer weltweit ausreichenden Nahrungs- mittelversorgung und einer weitreichenden Energiepro- duktion aus nachwachsenden Rohstoffen zugunsten des Klimaschutzes. Auf Deutschland bezogen können wir sagen: Vieles ist auf einem guten Weg. Probleme bereiten die zuneh- mende Flächeninanspruchnahme, das Zerschneiden von Naturräumen und das Eindringen fremder Arten. Aber weltweit betrachtet ist die Situation dramatisch anders. Die Bedrohung der Artenvielfalt wächst: Das an- haltende Bevölkerungswachstum erfordert vermehrte Anstrengungen bei der Armutsbekämpfung und damit auch eine vermehrte und intensivere Flächennutzung. Zunehmend mehr Menschen haben keinen Zugang zu gesundem Trinkwasser. Die Übernutzung der Fischbe- stände bedroht die Biodiversität in den Meeren. Und selbst wir in der EU schaffen es noch nicht einmal, den illegalen Fischfang in der Ostsee einzuschränken. Der weitere Verlust von Wäldern, unter anderem bedingt durch den fortgesetzten illegalen Holzeinschlag, hat Auswirkungen auf das Klima. Das gilt auch für die zu- nehmende Flächenkonkurrenz zwischen Nahrungsmit- telproduktion und Erzeugung von Biomasse für die ener- getische Nutzung. Wie diesen Herausforderungen international begegnet werden kann, ist noch weitgehend offen. Die FDP for- dert die Bundesregierung auf, schnellstens Lösungsan- sätze zu erarbeiten, wie sie dem Verlust der Agrobio- diversität gedenkt entgegenzuwirken. Die FDP wird sich diesbezüglich mit einer Kleinen Anfrage zur Wildpflan- zen-Gendatenbank in die parlamentarische Debatte ein- bringen. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Bereits Ende Mai haben wir uns mit der Agrobiodiversität befasst. Leider ging der gute Antrag der Kolleginnen und Kolle- gen der grünen Fraktion während der Debatte zum schwarz-roten Placebo-Antrag zur Biodiversitätsstrate- gie etwas unter. Das ist schade, denn die Artenvielfalt auf und neben dem Acker sowie in den Ställen ist min- destens genauso wichtig wie die Biodiversität in der Na- tur. Und mindestens ebenso gefährdet! Im Antrag wird auf das in der Öffentlichkeit kaum be- achtete Problem des Artenrückgangs bei Nutzpflanzen und Nutztieren hingewiesen. Dabei hat dieser Verlust der Artenvielfalt schwerwiegende Konsequenzen: Er bedeu- tet Verlust an genetischem Anpassungspotenzial. Damit wird unter anderem die Ernährungssicherung unserer Zukunft gefährdet. Wir brauchen eine große Vielfalt der Rassen, Sorten und Ökosysteme, um die zukünftigen Herausforderungen der Land- und Forstwirtschaft be- wältigen zu können. Die Herausforderungen werden durch den Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die Agrarökosysteme eher größer als kleiner. Doch dieser Rückgang an Agrobiodiversität passiert nicht so einfach von allein. Schauen wir also genauer hin: Er ist vor allem die Folge eines rücksichtslosen Kampfes um eine weltweite Konzentration von Wirt- schaftsmacht in immer weniger Händen, und es geht um Marktanteile! Wir als Linke haben dabei ein besonders kritisches Auge auf die Machenschaften der weltweit agierenden Agrarkonzerne. Der Saatgutmarkt wird zum Beispiel un- terdessen von fünf großen Unternehmen beherrscht. Diese interessieren sich für den Erhalt der Sortenvielfalt nur dann, wenn es ihren eigenen Interessen entspricht – als Ressource für noch mehr Profit und noch mehr Marktmacht! Ein freier Zugang aller Bäuerinnen und Bauern zum Saatgut ist in ihrer Welt nicht wichtig. Ein- zig die profitorientierte Vermarktung weniger Sorten ist von Bedeutung und wird durch das Patentrecht gesi- chert. Patente auf Tiere und Pflanzen schützen aber nur die Interessen der Agrarkonzerne. Sie eignen sich privat den natürlichen Reichtum an. Er gehört aber uns allen! Da- her ist der Patentschutz nicht im Interesse der Bäuerin- nen und Bauern, der Landwirtinnen und Landwirte und der Verbraucherinnen und Verbraucher! Deshalb ist für meine Fraktion Die Linke ganz klar: Patente auf Lebewesen sind absurd, und wir lehnen sie ab! Der öffentliche Zugang zu den natürlichen Ressour- cen muss gewährleistet bleiben. Das dient gleichzeitig auch dem Schutz der Artenvielfalt in Natur und Land- wirtschaft! Agrobiodiversität und die Debatte darüber dürfen aus Sicht meiner Fraktion auf keinen Fall dazu führen, dass nun die Agrogentechnik hoffähig gemacht wird. Diese erhöht nicht, sondern gefährdet die Artenvielfalt! Beson- ders problematisch ist die Nutzung dieser Risikotechno- logie in der Nähe von Genbanken, in denen Sorten durch Anbau konserviert werden. Daher tritt Die Linke auch konsequent gegen die Nutzung der Agrogentechnik in 12332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) der Nähe der Genbank für Kulturpflanzen in Gatersleben ein. Darüber gab es in diesem Jahr ja schon mehrere De- batten. Man kann vielleicht über die Höhe des Kontami- nationsrisikos streiten. Aber es ist nicht zu verstehen, warum es ausgerechnet an diesem Ort überhaupt einge- gangen werden muss. Denn zumindest den Risikofaktor „menschliches Versehen“ wird man niemals ausschlie- ßen können. Die Grünen führen in ihrem Antrag aus, die Aufhe- bung der obligatorischen Flächenstilllegung könnte ein weiteres Artensterben der Agrarökosysteme zu Folge ha- ben. Diese Gefahr sehen wir in der Tat auch. Allerdings muss diese Diskussion auch im Zusammenhang mit dem aktuell steigenden Bedarf an nachwachsenden Rohstof- fen, insbesondere für die energetische Nutzung, geführt werden. Der damit verbundene steigende Flächenbedarf ist unbestritten. Außerdem ist der Anbau von Biomasse nicht automatisch, aber eben in vielen Fällen energie- und klimapolitisch sinnvoll. Andererseits ist auch nicht jede Flächenstilllegung automatisch naturschutzfachlich wertvoll. Daher begrüßt Die Linke das Aussetzen der obligato- rischen Flächenstilllegung. Gleichzeitig machen wir uns Gedanken um den Ersatz der damit wieder reduzierten Rückzugsräume für bedrohte Pflanzen- und Tierarten im Agrarökosystem. Wir fordern, das Aussetzen der Flä- chenstilllegung durch eine Verstärkung anderer Agrar- umweltmaßnahmen und ökologisch sinnvoller Markt- anreizprogramme zu begleiten. Ziel muss unter anderem der Erhalt oder die Verbesserung der Agrobiodiversität sein. Darüber haben wir gestern im Agrarausschuss ja bereits gesprochen. Es wäre zum Beispiel denkbar, die ökologisch sinnvolle Gestaltung von Ackerseitenrändern als gesellschaftlich sinnvolle Arbeit der landwirtschaftli- chen Betriebe zum Erhalt der Kulturlandschaft noch konsequenter zu fördern. Die Agrobiodiversität ist öffentlich kaum beachtet, obwohl sie im Interesse der gesamten Gesellschaft liegt. Sie bietet unsere genetische Rückversicherung für zu- künftige Herausforderungen in der Landwirtschaft – ich nenne hier beispielhaft Tierseuchen, Trockenheit, Kälte, Standortangepasstheit – und ist andererseits Zeugnis un- serer jahrhundertealten landwirtschaftlichen Geschichte. Damit ist die Artenvielfalt unserer Nutztiere und -pflan- zen auch ein Wert an sich – ökologisch und kulturhisto- risch gleichermaßen. In diesem Sinne stimmen wir dem grünen Antrag zu, auch wenn wir nicht jeden einzelnen Vorschlag mit der gleichen Vehemenz unterstützen. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ar- tenvielfalt ist Ernährungssicherheit. Dies ist der Leitge- danke unseres Antrages zur Agrobiodiversität. Heute beruht ein Großteil der Welternährung nur noch auf einer kleinen Zahl von Kulturpflanzenarten. Die Zahl der Nutztierrassen ist auf einen Bruchteil der aus dem vorletzten Jahrhundert bekannten Vielfalt zurückge- gangen. Die Fruchtfolgen konzentrieren sich auf immer weniger ertragsstarke Sorten. Diese ertrags- und leis- tungsstarken Sorten und Rassen werden zudem intensiv angebaut und in Großanlagen gehalten. Eine solche Landwirtschaft aber ist gefährdet. Schädlinge und Krankheiten haben auf diese Weise ein leichtes Spiel. Schädlingskalamitäten und Seuchenzüge, die große wirt- schaftliche Schäden verursachen, gehören heute zum Alltag der „modernen“ Landwirtschaft. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um zu erkennen, wie leicht dieses sensible Gefüge überdehnt und die Ernährung der Welt- bevölkerung in Gefahr geraten kann. Im Agrarausschuss haben uns die Kollegen von der Union entgegengehalten, die Agrobiodiversität zu erhal- ten hieße, so zu wirtschaften wie im 19. Jahrhundert. So könne man die Welt heute nicht mehr ernähren. Diese Polemik zeigt, dass Sie das Anliegen unseres Antrages – den Erhalt des Genreservoirs zur Absicherung zukünf- tiger Ernten – nicht wirklich verstanden haben. Staatssekretär Müller ist da schon weiter. Er ließ im Oktober letzten Jahres erklären: „Unsere Verantwortung gegenüber den nach uns folgenden Generationen gebie- tet es, den großen Reichtum und die unermessliche Viel- falt der Nutzpflanzen, wie sie von Generationen von Bauern und Züchtern weltweit über Jahrhunderte aus Wildpflanzen entwickelt worden sind, als Nutzungs- potenzial für weitere züchterische Fortschritte und neu- artige Verwendungen von Pflanzen zu erhalten.“ Tref- fender kann man es nicht ausdrücken. Ja, wir brauchen neue Sorten, die standortangepasst gute Erträge bringen, um die Welt mit Nahrung und nachwachsenden Rohstoffen zu versorgen. Es besteht auch gar kein Widerspruch zwischen der Züchtung er- tragreicher Sorten und dem Erhalt der Agrobiodiversität. Vielmehr ist die Agrobiodiversität mit ihren großen Gen- pools Voraussetzung für die Züchtungsforschung. Aber es geht nicht nur darum, die Arten- und Sorten- vielfalt in Saatgutbanken zu erhalten. Wir wollen, dass sie auch angebaut und zur Bereicherung unseres Speise- zettels genutzt werden. Und das ist kein Zurück ins Ges- tern, sondern wir sind gut beraten, wenn wir die Zahl der genutzten Kulturpflanzenarten und -sorten vergrößern. Das gibt den Landwirten die Möglichkeit, die Fruchtfol- gen auszuweiten, was sowohl unter phytosanitären As- pekten als auch im Interesse des Erhalts der Boden- fruchtbarkeit nur sinnvoll sein kann. Wenn wir über Agrobiodiversität reden, dürfen wir nicht nur Kulturpflanzen im Blick haben, sondern müs- sen wir auch die Ackerbegleitflora und -fauna sehen. Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, den Artenrückgang bis 2010 zu stoppen. Dazu gehört auch die Artenvielfalt in unseren Agrarökosystemen, einschließlich Ackerkraut- diestel, Brauner Bär und Rebhuhn. Zu erreichen ist das nur durch den Ausbau von Agrar- und Waldumweltmaß- nahmen, eine bessere Förderung des Ökolandbaus, die Verminderung chemisch-synthetischer Pestizide und ei- nen verbindlichen Anteil an Strukturelementen anstelle der Flächenstilllegung. Auch qualifizierte Cross-Com- pliance-Regelungen und eine mittelständische Züch- tungsforschung, die ihre Kraft nicht auf wenige gentech- nisch veränderte Sorten, sondern auf Vielfalt und die Herausforderungen der Zukunft konzentriert, können ei- nen Beitrag zum Erhalt der Biodiversität leisten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12333 (A) (C) (B) (D) Die vielfältigen, artenreichen Kulturlandschaften, die mit diesen Maßnahmen entstehen, sind genau diejeni- gen, die die Menschen in unserem Land schätzen. Kein Mensch liebt ausgeräumte Agrarlandschaften, in denen die Schläge fast bis zum Horizont reichen. Auch dies sollte für Sie ein Grund sein, unseren Antrag zu unter- stützen. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Messen und Ge- schäftsreisen als Chance für den Tourismus- standort Deutschland (Tagesordnungspunkt 25) Klaus Brähmig (CDU/CSU): Deutschland verfügt im internationalen Bereich über ein hohes Ansehen als Kongress- und Tagungsziel. Durch seine Professionali- tät, seine Zuverlässigkeit, der Gewährleistung eines si- cheren Umfeldes sowie durch die gute Tagungs- und Verkehrsinfrastruktur kann sich Deutschland an vorders- ter Stelle der attraktiven Tourismusstandorte behaupten. Auch das große Potenzial von über 1 000 außergewöhn- lichen Tagungsstätten wie etwa Schlösser, Burgen, Mu- seen, Industriedenkmäler, Freizeitparks und modernste Tagungszentren wird immer stärker genutzt. So liegt Deutschland nach einer Studie des International Asso- ciation Meeting Market 2005 im internationalen Ver- gleich nach den USA auf Rang zwei der beliebtesten Kongress- und Tagungsstandorte. Trotz neuester Kom- munikationstechnik ist die Bedeutung des Kongresswe- sens nach wie vor sehr hoch, insbesondere für den Wis- sens- und Know-how-Transfer. Kongresse und Tagungen sind für die Kommunika- tion von Angesicht zu Angesicht und den interdisziplinä- ren Informationsaustausch unverzichtbar. Zudem lässt sich Sozialkompetenz nicht über das Internet vermitteln. Damit wird der deutschen Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft importiertes Wissen vor Ort kostengünstig zugänglich gemacht und ein wichtiger Beitrag zur Siche- rung des Informations- und Wissensvorsprungs Deutsch- lands geleistet. Gleichzeitig kann sich Deutschland mit seinem eigenen Know-how präsentieren und seine füh- rende Position als Exportweltmeister sichern. Der Mes- sen- und Dienstreisensektor ist neben den Urlaubsreisen von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Jeder dritte Ar- beitsplatz in der Tourismuswirtschaft ist direkt oder indi- rekt vom Tagungs- und Kongressreiseverkehr abhängig. Die Zahlen der Geschäftsreisenanalyse 2006 des Verban- des Deutsches Reisemanagement, VDR, belegen diese Tatsachen. Im Jahr 2005 lag die Anzahl von Geschäfts- reisenden bei rund 150 Millionen. Davon sind 35 Pro- zent Besucher von Messen, Kongressen, Firmenevents, Schulungen und Seminaren. Zudem profitiert die deutsche Tourismuswirtschaft in erheblichem Maße von Geschäftsreisenden, die insbe- sondere auch in der Nebensaison und unter der Woche für die Auslastung der Beherbergungsbetriebe und der Gaststätten sorgen. Reisende aus dem Ausland verbin- den oft ihre Kongress- und Messebesuche mit privaten Reisen in Deutschland. Geschäftsreisende geben dabei durchschnittlich doppelt so viel Geld aus wie reine Ur- laubsgäste. Dabei profitiert der Einzelhandel enorm. Doch stellen Geschäftsreisen nicht nur eine wirtschaftli- che Notwendigkeit dar, sondern auch einen Kostenfak- tor. Es besteht hinsichtlich der verwaltungstechnischen Abläufe bei der Organisation von Dienstreisen ein er- hebliches Effektivitäts- und Einsparpotenzial. Mit unserem Antrag möchten wir die Rahmenbedin- gungen für Messen und Geschäftsreisen weiter verbes- sern, um den Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutschland weiter zu entwickeln und weiter wettbe- werbsfähig, in der immer stärker werdenden internatio- nalen Konkurrenz zu etablieren. Deshalb fordern wir insbesondere den Abbau bürokratischer Hemmnisse und die Vereinfachung bürokratischer Abläufe. Statistik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchführungspflich- ten, denen Unternehmen bei Geschäftreisen unterliegen, müssen geprüft werden. Zudem fordern wir die Überprü- fung der aktuelle Situation im Hinblick auf die Bearbei- tung von Visa-Anträgen für Aussteller und Geschäftrei- sende im Rahmen der Schengen-Regelung und inwieweit diese Bedingungen praktikabler gestaltet wer- den können. Die Bewerbung Deutschlands als Kongress- und Ta- gungsstandort muss von der Deutschen Zentrale für Tou- rismus, DZT, stärker als bisher auf Geschäftsreisende ausgerichtet werden. Dabei kann bei der Vermarktung mit den Namen großer Dichter, Denker, Erfinder und Schriftsteller geworben werden. Hier gibt es oft Image- vorteile gegenüber der Vermarktung als reinem Urlaubs- ziel. Als Reisemotiv stehen bei Tagungen und Kongres- sen auch die fachlichen Themen und Inhalte der Veranstaltungen sowie die Möglichkeit des Erfahrungs- austausches im Vordergrund. Zudem besticht Deutsch- land mit seinen sehr interessanten und attraktiven The- menjahren. Kulinarisches Deutschland heißt im diesem Jahr das Motto und beweist eindrucksvoll, dass Deutsch- lands Spezialitäten die Gourmets der Welt begeistern können. Unser Preis-Leistungs-Verhältnis braucht auch mit keinem Land dieser Welt einen Vergleich zu scheuen. Ein weiterer wichtiger Aspekt für den Kongress- und Tagungsstandort Deutschland ist eine gut ausgebaute und moderne Infrastruktur. Für Besucher von Messen und Kongressen sind öffentliche Verkehrsmittel in den großen Messestädten Deutschlands, wie Berlin, Dresden Frankfurt, Hannover und andere, die schnellste und ein- fachste Art sich zu bewegen. Eine effektive Vereinfa- chung der öffentlichen aber auch privaten Verkehrsinfra- struktur kann durch die mehrsprachige Gestaltung der Verkehrszeichen und Hinweistafeln, zumindest an gro- ßen Messestandorten, erreicht werden. Die Länder und Kommunen müssen aufgefordert werden, diese loh- nende Maßnahme umzusetzen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für unsere Forderungen einzusetzen, damit Deutschland nicht nur weltweit wettbewerbsfähig, sondern auch weiterhin an der Spitzenposition der attraktivsten Messe- und Kon- gressstandorte international bleibt. Um dieses Ziel zu er- 12334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) reichen, muss Deutschland seine weltoffene, tolerante und gastfreundliche Art bewahren, getreu dem Motto des DZT „Deutschland – Das Reiseland“. Anita Schäfer (Saalstadt) (CDUCSU): Die Bedeu- tung von Messen und Geschäftsreisen für den Touris- musstandort Deutschland steigt. Das führt der vorlie- gende Antrag der Koalitionsfraktionen ganz deutlich aus. Die Zahlen sprechen für sich, und sie unterstreichen nachhaltig, dass die Relevanz der Geschäftsreisen und insbesondere der Messen für unsere Wirtschaft und den Standort Deutschland nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Da ist zum Einen der große Komplex der Geschäfts- reisen. Gerade für eine Handels- und Exportnation wie Deutschland ist es ein unabdingbares Muss, die Infra- struktur und die Rahmenbedingungen hierzu auf dem bestmöglichen Stand zu halten. Vor diesem Hintergrund sind vielfältige Maßnahmen möglich und nötig. Der An- trag führt hier etliche auf, zum Beispiel im Bereich von Verkehrsdienstleistungen. Der andere Komplex, auf den ich mich konzentrieren möchte, ist der Bereich des Messetourismus; dabei nicht in seiner Bedeutung für die großen Messestandorte, son- dern vielmehr hinsichtlich seiner regionalen Relevanz. Wir verfügen in der Bundesrepublik mit zahlreichen Messen und Ausstellungen über ein erhebliches Poten- zial, um innovative Produkte, zukunftsweisende Techno- logien und überzeugende Dienstleistungen unserer Unternehmen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Messen und Ausstellungen geben als wichtige Leis- tungsschauen ein sehr anschauliches Beispiel für die Wirtschaftskraft unseres Landes. Sie sind damit zugleich ein starker und wirkungsvoller Magnet für Geschäftsrei- sende wie auch Verbraucher. Zu den rund 150 internationalen Messen kommt ein dichtes Netz regionaler Fach- und Verbraucherausstel- lungen. Dabei ist eine zunehmende Verknüpfung von Messe- und Kongressaktivitäten zu beobachten. Messe- begleitende Kongresse und Tagungen haben jährlich etwa 400 000 Besucher. Zusammen werden knapp 1,9 Millionen Teilnehmer gezählt. Als ein Schlüsselbe- reich in der deutschen Dienstleistungswirtschaft sind Messen und nationale wie internationale Wirtschaftsaus- stellungen gerade für die kleinen Standorte damit ein un- erhört wichtiges Mittel der Eigendarstellung. Eines der Hauptziele von Messeausstellern ist die Neukundengewinnung. Das äußern immer wieder mehr als 90 Prozent der ausstellenden Unternehmen. Für die Messestandorte sind das einerseits Messebesucher, die als Geschäftsreisende direkt die Gastronomie und Frem- denverkehrsbetriebe nutzen und die in ihren Parallelpro- grammen zum Messebesuch die Freizeit- und Touristik- angebote der Region nachfragen und in Anspruch nehmen. Andererseits bedeutet diese Messezielsetzung aber zugleich auch eine Ansprache von immer wieder neuen Geschäftsreisenden, die insbesondere für die klei- nen Standorte auch zu Multiplikatoren und Werbeträgern für die Region werden. Gerade in diesem Bereich eröff- nen sich positive Imagewirkungen für die Regionen auch über die Ansprache weiterer Zielgruppen und damit die Möglichkeit zu einer nachhaltigen Vermarktung als Tou- rismusregion. Die positiven Effekte des Messetourismus hinsichtlich des Umsatzes, der Beschäftigung, der Aus- lastung etc. liegen damit auf der Hand. An kleineren Messestandorten sind sie für die regionale Wirtschaft aber von proportional wesentlich größerer Bedeutung. Daher ist mir unsere Forderung, eine stärkere Wer- bung und bessere Vermarktung von Messen und Ge- schäftsreisen durch die DZT zu prüfen, ein besonders wichtiges Anliegen, weil neben der Chance zur Stärkung des Tourismusstandortes auch eine Standortstärkung ei- ner Stadt und Region erreicht werden kann. In den vergangenen Jahren hat sich neben der insge- samt wachsenden Bedeutung des Messetourismus aber auch gezeigt, dass die Zahlen der Teilnehmer und Aus- steller bei den verschiedenen Messen und Ausstellungen rückläufig gewesen sind. Darauf müssen wir reagieren. Als Beispiel für diese Entwicklung möchte ich Ihnen kurz die Situation der Messe- und Veranstaltungs GmbH in meinem Wahlkreis in Pirmasens schildern. Dies liegt an der Grenze zu Frankreich und ist mit der Nähe zu Lu- xemburg auch gut erreichbar von einem internationalen Handelsplatz. Es handelt sich dabei um den größten Messestandort in Rheinland-Pfalz, der in den 60er- und 70er-Jahren der größte Standort für die Messen der Schuhindustrie war. Mit dem Zusammenbruch dieser Monopolindustrie musste die Messe neue Wege gehen. Aufgabe der Mes- severantwortlichen war und ist eine neue Positionierung als Veranstaltungsort. Wenn durch attraktive Messen oder Kongresse Geschäftsreisende in eine Stadt oder in eine Region kommen, profitiert nicht allein die Messe davon, sondern die Besucher tragen zur Wertschöpfung bei und stärken somit auch die Tourismuswirtschaft. Die Pirmasenser Messe zeichnet sich heute nicht al- lein durch zahlreiche regionale Ausstellungen, sondern auch durch nationale und internationale Messen aus. Hierzu haben die Verantwortlichen beispielsweise neue Messen entwickelt. Vorstellbar wäre aber auch die Bün- delung von Spezialthemen, zum Beispiel eine Messe „Junge Designer aus drei Ländern“ oder „Wellness im Dreiländereck“, aber auch neue Ansätze wie zum Bei- spiel ein Wettbewerb für Hotel- und Kongressinvestitio- nen in Kooperation mit der Messe. Doch eine neue inhaltliche Ausrichtung von Messen reicht nicht allein. Der Messebesucher oder der Ge- schäftsreisende will nicht nur eine interessante Veran- staltung erleben, sondern er will auch ohne große Mühe zum Ort kommen. Als ausländischer Gast will er in sei- ner Sprache oder zumindest in einer gängigen internatio- nalen Sprache informiert werden. Damit diese Voraus- setzungen gegeben sind, ist auch die Unterstützung vonseiten der Bundesregierung nötig, wie wir es in unse- rem Antrag formuliert haben. Es gibt – wenn ich damit auf einige Einzelheiten in unserem Antrag zurückkommen darf – um die Stadt Pirmasens herum beispielsweise noch keine internatio- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12335 (A) (C) (B) (D) nalen Schilder. Es gibt keinen Shuttletransport vom Hauptbahnhof zur Messe oder vom 20 Kilometer ent- fernten Flughafen Zweibrücken nach Pirmasens. Das sind Faktoren, die sich in der Vergangenheit bei den klei- neren Messen, aber auch bei der alle zwei Jahre stattfin- denden Verbrauchermesser „hageha“ als nachteilig er- wiesen haben. Diese Messe zieht Besucher aus Frankreich, Luxemburg und dem Saarland an. Es ist eine der größten Verbraucherausstellungen in Rheinland- Pfalz. Die Lage von Pirmasens in unmittelbarer Nähe zum Elsass, Lothringen, Luxemburg, Saarland und Ba- den-Württemberg sorgt für ein großes Einzugsgebiet und viele Besucher, die aber noch zahlreicher wären, wenn die Bedingungen im Umfeld besser wären. Dazu gehört eine bessere Verkehrsanbindung mit der Bahn und den Bussen, aber auch der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Wenn die Rahmenbedingungen für Messen und Ge- schäftsreisen durch die Bundesregierung verbessert wer- den, stärken wir auch den Tourismusstandort Deutsch- land. Auf diese Weise kann auch insbesondere aus kleineren Städten oder ländlich strukturierten Regionen touristisches Potenzial entwickelt werden. Davon profi- tiert die Wirtschaft und damit natürlich unser ganzes Land. Brunhilde Irber (SPD): Einmal mehr haben die Deutschen im vergangenen Jahr den Tourismuswettbe- werb als Reiseweltmeister beendet. Deutsche Urlauber haben für Auslandsreisen über 60 Milliarden Euro aus- gegeben. Umgekehrt haben unsere ausländischen Gäste jedoch nur 26 Milliarden Euro nach Deutschland ge- bracht. Zwar gilt nach wie vor: Deutschland ist für Kongresse und Tagungen der beliebteste Messestandort in Europa, und darauf können wir stolz sein. Dennoch glaube ich fest daran, dass wir unseren Standort attraktiver gestal- ten können, indem wir entsprechende gesetzliche Rah- menbedingungen schaffen. An diesem Punkt setzt der vorliegende Antrag der CDU/CSU und der SPD „Mes- sen und Geschäftsreisen als Chance für den Tourismus- Standort Deutschland“ an. Für den Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutsch- land haben Messen und Geschäftsreisen eine unschätz- bare Bedeutung. 2006 haben ausländische und deutsche Geschäftsreisende in Deutschland gemeinsam 82,6 Mil- lionen Geschäftsreisen mit Übernachtungen unternom- men; dabei wurden über 60 Milliarden Euro mit (Tages-) Geschäftsreisen umgesetzt. Laut der Studie „Internatio- nal Association Meetings Market“ der International Congress and Convention Association, ICCA, sind wir bei Tagungen und Kongressen weltweit die Nummer zwei hinter den USA. Über 1,85 Millionen Veranstaltun- gen mit knapp 90 Millionen Teilnehmern wurden organi- siert und durchgeführt. Hinzu kommt eine große Zahl von Regionalmessen. Laut der aktuellen VDR-Ge- schäftsreiseanalyse planen neun von zehn Unternehmen für das Jahr 2008 gleich viele oder sogar mehr Ge- schäftsreisen. Jeder dritte Beschäftigte unternahm min- destens eine Geschäftsreise. Die Tendenz ist steigend, das Tourismussegment der Geschäftsreisen boomt. Auch benachbarte Wirtschaftsbereiche profitieren von den Geschäftsreisenden, die außerhalb der Hauptur- laubszeiten und unter der Woche dafür sorgen, dass Ho- tels und Gaststätten ausgelastet sind. Jeder fünfte Beher- bergungsbetrieb rechnet sogar mit einem Zuwachs der Hotelübernachtungen im kommenden Jahr. Deutschland ist für Geschäftsreisende nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil in Deutschland die Zimmerpreise durchschnittlich halb so hoch sind wie in den Metropolen Moskau, Genf, Paris, London oder Rom. Laut „European Travel Moni- tor“ liegt bundesweit der durchschnittliche Anteil der Geschäftsreisen bei 30 Prozent und derjenige der Pri- vatreisen bei 70 Prozent. Aber ausländische Tagungsteil- nehmer verbinden oft ihre Geschäftsreisen mit privaten Reisen in Deutschland. 2006 gaben sie mit 148 Euro pro Tag durchschnittlich doppelt so viel Geld aus wie reine Urlaubsgäste. Daher ist es richtig, dass wir in unserem Antrag die stärkere Ausrichtung der Auslandswerbung der Deutschen Zentrale für Tourismus, DZT, auf Ge- schäftsreisende verlangen. Wenn wir unseren Aufwärts- trend nicht unterbrechen wollen, brauchen wir eine effi- zientere Bearbeitung von Visa-Anträgen für Aussteller und Geschäftsreisende und eine damit einhergehende eu- ropaweite Harmonisierung der langwierigen Antragsver- fahren. Übrigens: Für uns sind die touristischen Organisatio- nen in Deutschland wichtige Partner bei der Planung und Einführung neuer Richtlinien oder Bestimmungen. Des- halb haben wir bereits in den rot-grünen Jahren das Bud- get der DZT erhöht. Auch in der schwarz-roten Koali- tion ist es uns gelungen, in den Bundeshaushalt 2008 eine erneute Anhebung der Bundeszuwendung an die DZT um 500 000 Euro auf 25,5 Millionen Euro durchzu- setzen. In den nächsten Jahren ist ebenfalls eine kontinu- ierliche Erhöhung dieser Bundeszuwendung um eine halbe Million pro Jahr geplant, da wir als SPD um die Bedeutung der Werbetätigkeit der DZT für das deutsche Wirtschaftswachsturn wissen. Mit ihrer Kampagne „Die Welt zu Gast bei Freunden“ und der Standortinitiative „Deutschland – Land der Ideen“ wurden weltweit 3,5 Milliarden Menschen erreicht. Da Deutschland in er- heblichem Maße vom Imagegewinn der Fußballwelt- meisterschaft profitiert hat, wirbt die DZT im Ausland aktuell unter dem neuen Slogan „Deutschland. Einfach freundlich“ auch mit einem neuen Logo, das die Natio- nalfarben Schwarz-Rot-Gold in Form eines Balls zeigt und damit das positive Image der Fußball-WM aufgreift. Geschäftsreisen sichern weit über eine halbe Million Arbeitsplätze in Deutschland. Jeder dritte Arbeitsplatz der deutschen Tourismuswirtschaft ist direkt oder indirekt vom Tagungs- und Kongressreiseverkehr abhängig. Deutschlandweit ist heute jeder dritte Hotelgast Tagungs- oder Kongressteilnehmer. Kein Wunder, denn 2006 haben deutsche Unternehmen für die Geschäftsreisen ihrer Mit- arbeiter stolze 47,4 Milliarden Euro ausgegeben. Damit wird eines ganz deutlich: Wirtschaftswachstum hängt we- sentlich vom deutschen Geschäftsreisetourismus ab. Mit 2,8 Millionen Arbeitsplätzen im vor- und nachgelagerten Bereich und mehr als 110 000 Ausbildungsplätzen ist der Tourismus eine boomende Branche für Beschäftigung. Offizielle Schätzungen gehen von circa 300 000 neuen 12336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Arbeitsplätzen bis 2015 in Deutschland aus. Besonders freue ich mich über die gestiegene Ausbildungsbereit- schaft im Gastgewerbe. Auch die Einführung des Ausbil- dungsberufs „Kaufmann/Kauffrau für Tourismus und Freizeit“ zeigt, dass die Tourismusbranche ihrer gesell- schaftlichen Verantwortung bewusst ist. In diesem Zu- sammenhang appellieren wir an die Verantwortlichen in den Ländern, die Qualität im Dienstleistungsbereich durch entsprechende Ausbildungsangebote, insbesondere die Aufnahme des Schwerpunktes „Geschäftsreisema- nagement“ und die Förderung von Fremdsprachenkennt- nissen, zu verbessern. Die Welttourismusorganisation prognostiziert bis 2020 ein Wachstum der weltweiten Touristenankünfte in Deutschland von über 4 Prozent. Eine Wachstumspro- gnose der DZT für 2015 besagt, dass Deutschland mit erfolgreichem Marketing 58 Millionen Übernachtungen aus dem Ausland erzielen könnte. Das wären etwa 16 Millionen mehr als heute ohne Camping. Wenn auch ländliche Regionen von diesen positiven Trends profitie- ren könnten, wäre dies ein wichtiger wirtschaftlicher Im- puls. Die SPD ist sich ihrer Verantwortung für den Mittel- stand äußerst bewusst. Laut der Geschäftsreiseanalyse 2007 des Verbandes Deutsches Reisemanagement e. V., VDR, wenden sich immer mehr Unternehmen ange- sichts steigender Energie- und Reisekosten als Form der Geschäftsreisevermeidung Video- und Telefonkonferen- zen zu. In der überwiegend mittelständisch geprägten deutschen Tourismuswirtschaft sind Kostensteigerun- gen für Geschäftsreisen um 24 Prozent wie im letzten Jahr oftmals nicht finanzierbar. Im Rahmen unserer Mit- telstandspolitik setzen wir uns daher in diesem Antrag für Verbesserungen im Reisemanagement und für den Abbau von bürokratischen Hemmnissen im Bereich der Statistik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchfüh- rungspflichten ein. Ich habe diesen Antrag von Anfang an mit Initiative und großem Enthusiasmus vorangetrieben. Ich gebe zu, dass ich an der einen oder anderen Stelle weitergehende Vorschläge und präzisere Forderungen eingebracht habe, die leider nicht realisierbar waren. Weitergehenden Handlungsbedarf sehe ich beispielsweise im zu kompli- zierten Steuersystem für Geschäftsreisen, in den exzessi- ven Aufbewahrungsfristen für Reisekostenabrechnungen oder in der Unterscheidung von Dienstreise, Einsatz- wechseltätigkeit und Fahrtätigkeit. Auch eine Neudefini- tion des Begriffs „regelmäßige Arbeitsstätte“ ist überfäl- lig. Man kann auf seinem Standpunkt stehen, aber man sollte nicht darauf sitzen. Das wusste bereits Erich Kästner. So ist dieser Antrag zwar eine Kompromisslösung. Ich denke aber, dass da- mit ein Schritt in die richtige Richtung getan wird, um die herausragende Stellung des Messestandortes Deutschland im internationalen Ranking weiter auszu- bauen. Einig waren wir mit dem Koalitionspartner in dem Wunsch, das Reiseland Deutschland zu stärken. Dazu gehören neben bereits Erwähntem der Ausbau der Infra- struktur mit mehrsprachigen Hinweistafeln an großen Messestandorten wie zum Beispiel Hannover, Frankfurt a. M. und Köln. Außerdem sollen die Deutsche Bahn und andere Verkehrsanbieter ihre Verkehrsmittel und Bahnhöfe so weit wie möglich barrierefrei gestalten. Schließlich ist auch beim Ausbau der Verkehrswege da- rauf zu achten, dass Umsteigezeiten möglichst gering gehalten werden. Wir wollen mit diesem Antrag ein positives Zeichen für den Messe- und Kongressstandort Deutschland in Europa setzen und mit attraktiven Angeboten das Seg- ment „Geschäftsreisen“ weiter fördern. Auch bin ich mir sicher, dass sich die wirtschaftliche Entwicklungsdyna- mik der neuen EU-Länder positiv auf den Markt für Ge- schäftsreisende auswirken wird. Ernst Burgbacher (FDP): Der Antrag der Regie- rungsfraktionen, Messe- und Geschäftsreisen als Chance für den Tourismusstandort Deutschland zu begreifen und zu fördern, ist begrüßenswert. Messen und Geschäftsrei- sen stellen eine große Chance, aber auch eine große He- rausforderung für den Tourismusstandort Deutschland dar. Im Jahr 2006 gaben deutsche Unternehmen für Ge- schäftsreisen mehr als 47 Milliarden Euro aus, was einen Anstieg um 3 Prozent im Vergleich zu den Ausgaben im Jahr 2005 bedeutet. Jede dritte Übernachtung und jeder zweite Euro in der Kasse der deutschen Hotellerie stammt aus Geschäftsreisen. Die Anzahl der Reisenden ist ebenfalls um 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf fast 158 Millionen Reisende gestiegen. Diese Geschäfts- reisen führen zu fast 52 Millionen Hotelübernachtungen. Allerdings waren die Gesamtausgaben für Geschäfts- reisen in Deutschland von 54,1 Milliarden Euro in 2003 auf 44,0 Milliarden Euro in 2004 deutlich zurückgegan- gen. Welche Möglichkeiten gibt es hier, die Geschäftrei- sen noch attraktiver für Unternehmen zu machen? Es fallen die hohen – oftmals staatlichen – Kostentrei- ber einer (Geschäfts-) Reise auf. Knapp 54 Prozent der Reiseausgaben entfielen 2006 auf die Verkehrsträger. Dabei sind die Ausgaben für die Flugtickets mit 30 Prozent der Geschäftsreisekosten und insgesamt 14,4 Milliarden Euro der größte Einzelposten der Kos- ten. Flugreisen befinden sich laut VDR-Geschäftsreise- analyse 2007 weiter im Aufwind, eine einseitige Belas- tung des Luftverkehrs würde sich hier negativ auswirken und wäre nachteilig für den Geschäftsreisesektor und die damit verbundenen Arbeitsplätze. Außerdem suchen im- mer mehr Unternehmen – darunter vor allem kleinere und mittlere Unternehmen – aufgrund der Reisekosten Alternativen zu Geschäftsreisen. Alternativen werden vor allem in Telefon- und Videokonferenzen gesehen. Die Anwendung anderer Formen der Kommunikation zeigt, dass die Unternehmen ein Interesse daran haben, möglichst wirtschaftlich mit ihrer Zeit und ihren Res- sourcen umzugehen. Bereits 65 Prozent der Unterneh- men praktizieren diese Art der Reisevermeidung. Jedoch haben auch diese Wege ihre Grenzen. So betonte auch der Präsident des VDR Michael Kirnberger die Bedeu- tung der Geschäftsreisen für die deutschen Unterneh- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12337 (A) (C) (B) (D) men. Um überall auf der Welt Geschäfte machen zu kön- nen, ist die deutsche Wirtschaft auf die Mobilität ihrer Mitarbeiter angewiesen. Gerade für ein exportorientier- tes Land wie Deutschland sind Geschäftsreisen unab- dingbar für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatz- sicherheit. Viele bürokratische Hemmnisse, wie beispielsweise die zehnjährige Aufbewahrungsfrist der Reisekostenab- rechnung – § 147 AO – oder die unterschiedlichen Ver- pflegungspauschalen, bewirken einen hohen Aufwand und somit weitere unnötige Kosten. Sicherlich ist im Zuge der immer noch vorhandenen Terrorgefahr verstärkt auf die Sicherheit an Flughäfen zu achten, denn gerade auch die Sicherheitsmaßnahmen machen Deutschland für ausländische Gäste so attraktiv. Ohne Zweifel darf nicht an geeigneten und notwendigen Sicherheitsmaßnahmen gespart werden. Jedoch dürfen Sicherheitsmaßnahmen den Firmen und Reisenden nicht die Mobilität nehmen oder diese unverhältnismäßig ver- teuern. Die Sicherheitsgebühr, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 veranschlagt wurde, ließ die Flugpreise um 5 Prozent steigen. Gebühren und bürokratische Hemmnisse stellen die größten Kostentreiber dar. Großunternehmen stellen in der Regel mehrere Mitarbeiter ein, um den erhöhten bü- rokratischen Aufwand zu bewältigen. Kleinere Unter- nehmer sind jedoch dazu nicht in der Lage und sind folg- lich mit diesen Pflichten überlastet. Während das Reisebudget und die Zahl der Reisenden 2006 im Mittel- stand im Schnitt um 4 Prozent stiegen, kamen die großen Unternehmen mit 5 Prozent weniger aus, obwohl deren Mitarbeiter viel häufiger Geschäftsreisen unternehmen. Aus diesem Grunde sollte vorrangig die Entbürokrati- sierung das Ziel sein. Denn nur so lassen sich die Kosten der Flug- und somit auch der Geschäftsreise senken. Ge- mäß der Ziffer 9 des Koalitionsvertrages ist der Bürokra- tieabbau ein wesentliches Ziel der Bundesregierung. Ein guter Schritt in diese Richtung wäre die Entbürokratisie- rung bei Geschäftsreisen. Der internationale Tourismus muss weiter gefördert werden, und es müssen attraktive Angebote für ausländi- sche Messeteilnehmer entwickelt werden. Vor allem die neuen Quellmärkte der Wirtschaftsmächte China, Indien und die EU-Osterweiterung bieten Chancen. Gleich- zeitig gilt es, Deutschland als internationalen Messe- standort in Europa zu stärken. Dazu zählt neben der Vernetzung der Verkehrswege und -mittel auch die mehrsprachige Gestaltung der Beschilderung der Ver- kehrszeichen und Hinweistafeln. Um eine möglichst hohe Mobilität und unkomplizierte Einreise ausländi- scher Geschäftsreisender zu ermöglichen, muss eine zü- gigere Visavergabe erfolgen. Der Geschäftsreisemarkt wirkt stabilisierend auf die wirtschaftliche Lage. Er ist saisonunabhängig und weit- gehend krisenfest, weil Mobilität meistens eine wichtige Voraussetzung für Wachstum ist. Die CDU/CSU-Fraktion hatte bereits in der vergange- nen Legislaturperiode einen Antrag „Rahmenbedingun- gen für Geschäftsreisen verbessern“ vorgelegt, der aller- dings von der damaligen rot-grünen Regierungsmehrheit abgelehnt wurde. Es ist erfreulich, dass die SPD sich nun auch für die Stärkung des Geschäftsreisesektors einsetzt. Dem vorliegenden Antrag der Regierungsfraktionen kann die FDP in vielen Punkten zustimmen. Ich biete gerne an, im Ausschuss ausführlich zu diskutieren und eventuell einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Es ist unstrittig: Mes- sen und Geschäftsreisen sichern zahlreiche Arbeitsplätze in der Tourismuswirtschaft, vor allem in höherpreisigen Hotels außerhalb von Ferien und Wochenenden, in den First- und Businessklassen der Flugzeuggesellschaften und der ersten Klasse der Bahn. Wenn die Welt nur aus Tourismus bestehen würde, hätte der Antrag meiner Kol- leginnen und Kollegen aus dem Tourismusausschuss von CDU/CSU und SPD seine Berechtigung. Ich meine aber, auch wir Tourismuspolitiker müssen über den Tellerrand blicken. Deswegen sollte für Geschäftsreisen das Motto gelten: So viel wie nötig und so effektiv, kostengünstig und ökologisch wie möglich. Davon ist im Antrag der Koalition nichts zu finden, hier geht es trotz der schon ohne Zutun der Bundesregierung wachsenden Branche um noch mehr Geschäftsreisen ohne Rücksicht auf die Auswirkungen auf Klima und Umwelt. Unter der Überschrift „Schmutzbilanz mit Folgen“ zeigt die Wirtschaftswoche in einem Artikel vom 24. September 2007 auf, dass die Wirtschaft in ihrem Denken schon ein ganzes Stück weiter ist als die Verfas- serinnen und Verfasser dieses Antrages. Rund ein Drittel der 500 VDR-Mitglieder – VDR steht für Verband Deut- sches Reisemanagement – beschäftigt sich nach einer Umfrage des Verbandes mit Klimaschutzproblemen, ein Viertel diskutiert darüber, in die CO2-Kompensation von Dienstreisen einzusteigen. Die internationale Travel-Ma- nagement-Vereinigung ACTE hält im Schnitt 40 Prozent aller Dienstreisen für verzichtbar, wenn stattdessen kon- sequent Video-, Web- und Telefonkonferenzen genutzt würden. Um nicht missverstanden zu werden: Auch die Linke weiß, dass das sich Versammeln an einem Ort – und sei aus geschäftlichen oder dienstlichen Gründen – mehr ist als das Austauschen von Informationen. Und wenn Dienst- und Geschäftsreisen noch stärker in mittel- ständischen Landhotels – möglichst außerhalb der Sai- son – stattfinden, wissen auch wir die positiven Effekte für die Wirte und die Beschäftigten zu würdigen. Zunehmend mehr Unternehmen nutzen die Bahn statt Inlandsflüge, schaffen sich schadstoffarme Autos an bzw. mieten solche für Dienstreisen, leisten für Flüge Kompensationszahlungen an „Atmosfair“ und andere Organisationen, weisen für ihre Geschäftsreisenden per- sönliche CO2-Bilanzen aus und schaffen Synergien durch Fahrgemeinschaften. Damit wird nicht nur ein Beitrag für die Umwelt geleistet. Die Unternehmen sen- ken Kosten und fördern die Gesundheit Ihrer Beschäftig- ten durch Reduktion von nicht gerade stressarmen Rei- sen. Von all dem ist im Koalitionsantrag nicht die Rede. Stattdessen soll die Bundesregierung in einem Sammel- surium von Einzelpunkten und Prüfaufträgen aufgefor- 12338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) dert werden, Messen- und Geschäftsreisen weiter voran- zubringen. Begrüßenswert ist, dass die Koalition bei diesem Antrag auch an die Barrierefreiheit denkt. Aber wie und warum nur im Zusammenhang mit Geschäfts- reisen? Laut Koalition soll die Bundesregierung bei allen baulichen Einrichtungen des Bundes auf Barrierefreiheit achten. Das ist schön, aber bereits gesetzlich im Bundes- gleichstellungsgesetz und Baugesetzbuch geregelt. An- statt zu fordern, dass die Bundesregierung auch die Län- der und Kommunen darauf hinweist sollte der Bundestag die Pflicht auf Barrierefreiheit für alle Neubauten ver- bindlich im Baugesetzbuch verankern. Gleiches gilt auch hinsichtlich der Barrierefreiheit bei der Bahn und anderen Bereichen des Personentransports. Schon jetzt erklärt die Bundesregierung sich bei diesbe- züglichen Forderungen regelmäßig für nicht zuständig, obwohl der Bund ja noch Eigentümer der Bahn ist und nicht wenig Geld für den ÖPNV zur Verfügung stellt. Statt Privatisierungen voranzutreiben, sollte die Bundes- regierung hier Ihren Pflichten als Eigentümer gerecht werden – zum Wohle von Geschäfts- und Privatreisen- den und allen anderen Bürgerinnen und Bürgern. Auch die Frage der Förderung von Sprachkompetenz von den in der Tourismuswirtschaft tätigen Menschen oder die Frage der Bearbeitung von Visa-Anträgen ist keine spe- zifische Frage des Geschäftsreisetourismus. Völlig ausgeblendet ist im Koalitionsantrag die Frage der Dienstreisen von uns selbst, der Bundesregierung und den in Bundesbehörden Beschäftigten. Wie viele un- nötige Dienst- und Heimreisen gibt es allein durch die doppelten Dienstsitze aller Bundesministerien in Berlin und Bonn? Der überfällige Umzug aller Bundesministe- rien nach Berlin würde das Steuersäckel und die Umwelt erheblich entlasten. Auch das darüber hinausgehende Dienstreisemanagement der Bundesbehörden muss kri- tisch hinterfragt werden, und vielleicht sollten wir Abge- ordnete künftig nicht nur unsere Nebeneinkünfte son- dern auch unsere persönliche CO2-Bilanz offenlegen? Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Markt für Tagungen und Kongresse stellt ein bedeu- tendes wirtschaftliches Segment dar. Laut einer Analyse des VDR, des Verbandes Deutsches Reisemangement, wurden im Jahr 2006 157,8 Millionen Geschäftsreisen von Unternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern durch- geführt. Jede Stunde beginnen in Deutschland durch- schnittlich 17 200 Geschäftsreisen. Der Anteil der Geschäftsreisen stellt aber auch einen erheblichen Teil des Personenverkehrs dar. Dementspre- chend ergeben sich gravierende Folgen für die Umwelt. Klimawandel, Umweltaspekte, aber auch die Erhöhung der Benzinpreise und die Kerosinsteuerdiskussion füh- ren dazu, dass Unternehmen anfangen, ihre Geschäfts- reisegewohnheiten zu überdenken. Wir begrüßen diese Entwicklung und setzen uns für einen umweltverträgli- chen, barrierefreien, erfolgreichen, aber auch effizienten Geschäftsreisetourismus ein. Der nationale Tagungs- und Kongressmarkt ist vor al- lem ein Markt in den großen Metropolen: Berlin, Mün- chen, Hamburg, Leipzig, Frankfurt seien an dieser Stelle nur beispielhaft genannt, alles Orte mit einer guten in- nerstädtischen Infrastruktur und Verkehrsanbindung. Hier funktioniert der Geschäftstourismus vor allem durch außergewöhnliche Veranstaltungsstätten und zu- sammen mit kulturellen Angeboten. Unser vielseitiges Kultur- und Naturgut bietet einen gewissen Mehrwert. Diesen Mehrwert gilt es zu erhalten und nicht durch Kürzungen von öffentlichen Mitteln zu vernichten. Lei- der vermisse ich diesen Aspekt gänzlich in Ihrem An- trag. Wir machen uns im Bereich des Geschäftsreisetouris- mus stark für regionale, nachhaltige und qualitativ hoch- wertige Angebote mit einer guten Kunden- und Service- orientierung. Eine Konzentration auf wenige Metropolen gilt es zu verhindern. Nur so kann auch zukünftig bran- chenübergreifend eine Vielzahl von Arbeitsplätzen in den ländlichen Räumen gesichert werden. Es gilt, verstärkt vor Ort und in den Regionen Netz- werke und Kooperationen zwischen Industrie und Tou- rismusverbänden zu bilden, um daraus neue Projekte für den Geschäftsreisetourismus zu entwickeln. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Oldtimer von Fein- staub-Fahrverboten ausnehmen (Tagesord- nungspunkt 24) Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Seit der Erfin- dung des Motorwagens durch Karl Benz im Jahr 1886 gehört das Automobil zu unserem Leben, und in Deutschland haben wir aus dieser Innovation viel ge- macht. Ein Blick auf das erste Automobil und ein heuti- ges Modell zeigt: Es hat sich in der technischen Ent- wicklung viel getan. Oldtimer sind Zeitzeugen dieser Entwicklung sie haben den heutigen technischen Entwicklungsstand erst ermöglicht. Dies trifft in beson- derem Maße auch für die Standards der Automobilindus- trie zur Emissionsvermeidung zu. Sie sind Qualitäts- merkmal und Verkaufsargument für die heutigen Modelle – Modelle, die in 30 Jahren auch Oldtimer sein können. Die Geschichte des Automobils ist auch durch den Widerspruch von Begeisterung für Technik und Komfort und Nebenwirkungen gekennzeichnet. Emissionen bil- deten zu allen Zeiten Anlass für öffentliche Diskussio- nen und sind Gegenstand einer stetigen Verschärfung der Rahmenbedingungen. Neu ist die Qualität, mit der wir die Diskussion führen. Die Folgen für das Klima und die Gesundheit rücken in den Vordergrund der Verkehrspoli- tik. Wir debattieren über die Folgen von verkehrsbeding- ten Emissionen in unseren Verkehrszentren, den Städten. Jede Maßnahme, die hier begrenzend wirkt, wird unsere Zustimmung finden, wenn sie die Realitäten und Not- wendigkeiten anerkennt und geeignet ist, spürbare Ver- besserungen herbeizuführen. Hierüber besteht grund- sätzlich Einigkeit in der Politik und bei den Verbänden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12339 (A) (C) (B) (D) Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie in nationales Recht wurde die Zuständigkeit der Umsetzung der Vor- gaben den Ländern zugewiesen. In welchem Umfang die Kennzeichnung zur Einführung von Umweltzonen führt, liegt im Ermessen der jeweiligen Kommune bzw. Lan- desbehörde. Dies gilt ebenso für die Erteilung genereller oder einzelner Ausnahmeregelungen. Übergangsfristen sind nicht vorgesehen. Feinstaubfahrverbote bedrohen Mittelständer, Busunternehmer, Anlieger, Wohnmobil- besitzer und eben auch Oldtimer. Wir Deutsche versu- chen wieder einmal unserem Ruf als „Saubermänner“ Europas gerecht zu werden: von Null auf Hundert in ei- nem Atemzug. Doch wie sieht das Ergebnis ein halbes Jahr nach un- serer ersten Debatte nach dem Inkrafttreten der Kenn- zeichnungsverordnung aus? In Deutschland werden der- zeit für 21 Städte Umweltzonen geplant. Andere Städte haben die Entscheidung zurückgestellt. Nicht ein einzi- ges feinstaubbedingtes Umweltfahrverbot wurde in die- sem Jahr ausgesprochen. Blüten trieben bei uns die Vorschläge für Ausnahme- regelungen von feinstaubbedingten Fahrverboten. Sie waren so vielgestaltig, wie unser Land nur sein kann. Verunsicherung bei den Bürgern, den Unternehmen und Verbänden war die Folge. Zahlreiche Anfragen haben mein Büro und die Büros meiner Kollegen hierzu er- reicht. Selbst die entscheidungsbegünstigten Länder und Kommunen waren in ihrem Gestaltungsrecht verunsi- chert. Von den Möglichkeiten einer Allgemeinverfügung machten die wenigsten Gebrauch. Auch hier wuchs der Wunsch nach bundesweit einheitlicher Ausgestaltung der Ausnahmen. Besonders den Berliner Oldtimerfahrern wird noch die Titelseite der „Berliner Morgenpost“ vom 21. März 2007 in Erinnerung sein. Der hier aufgeführte Katalog für Ausnahmen und Kosten von Umweltfahrverboten dürfte die unrühmliche Spitze in der Debatte darstellen. Mit umfangreichen Nachweispflichten für die technische Unmöglichkeit der Nachrüstung, Kostenpflichten für den Verwaltungsaufwand, Fahrtenbüchern und Kilome- terbegrenzungen waren diese Regelungsvorschläge des rot-roten Senats in Berlin an Bürgerfeindlichkeit und Bürokratie-Irrsinn kaum noch zu übertreffen. Eine bundesweit einheitliche Ausnahmeregelung ist im Vergleich zu den vielgestaltigen Vorschlägen für die Bürgerinnen und Bürger klar verständlich. Sie erfordert keine Zeit, keinen Papieraufwand, keine Verwaltungs- kosten, sie fördert im besten Fall die Tourismusbranche. Kurzum: Sie ist am Bürger und den tatsächlichen Gege- benheiten orientiert – sie ist vernünftig. Dieser Antrag sieht eine solche Lösung für Oldtimer vor. Die Diskussion zeigte wiederholt, dass wir bei Old- timern von unterschiedlichen Sachverhalten sprechen. An die Adresse meiner Kollegen gerichtet darf ich des- halb in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass der Begriff des Oldtimers eng gefasst ist. Es sind Fahr- zeuge in einem guten technischen und orginalgetreuen Erhaltungszustand, die älter als 30 Jahre sind. In Deutschland gibt es insgesamt 470 000 Fahrzeuge über 25 Jahre. 153 000 Fahrzeuge besitzen das H-Kennzei- chen. Oldtimer sind ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Rund 6 Milliarden werden auf diesem Gebiet jährlich in Deutschland umgesetzt. Die wiederholte Herabsetzung und Gleichsetzung der Fahrzeuge mit gewöhnlichen Altfahrzeugen seitens ein- zelner Vertreter des Bundesministeriums für Umwelt wie auch einzelner Kollegen wird weder diesem technischen Kulturgut noch dem privaten Engagement ihrer Halter gerecht. Sie geht schlicht am Thema vorbei. Für die Hal- ter und Fahrer sind Oldtimer nicht nur Liebhaberei, son- dern auch eine Verpflichtung aus Begeisterung und Inte- resse am technischen Kulturgut Automobil. Wir reden hier nicht von Prosecco-Gesellschaft oder Protzkisten, wie leider manche vorschnell und inkompetent urteilen. Tatsache ist: Die Fahrleistung eines Oldtimers beträgt im Durchschnitt jährlich weniger als 1 500 km, der Durch- schnittswert von Oldtimern in Deutschland liegt unter 15 000 Euro, und in diese Statistik sind die 300SL-Flü- geltürer genauso eingerechnet wie der VW Käfer oder der Fiat 500. Über 90 Prozent der Besitzer sind Ange- stellte. Wir haben uns in den Diskussionen mit unserem Koalitionspartner und in den parlamentarischen Beratun- gen deshalb aktiv für eine bürgernahe und sachgerechte bundesweit einheitliche Lösung eingesetzt. An dieser Stelle gilt mein besonderer Dank meinem Kollegen Jens Koppen. Seinem Engagement haben wir einen Antrags- entwurf zu verdanken, der in der Koalition zur Diskussion gestellt wurde. Über die darin geforderten bundesweit ein- heitlichen Ausnahmeregelungen für benzinbetriebene Fahrzeuge, Oldtimer, Anlieger und ortsansässige oder auftragsgebundene klein- und mittelständische Unter- nehmer sowie eine Übergangsfrist von fünf Jahren konnte mit den Kollegen von der SPD jedoch keine Eini- gung erzielt werden. Wir sind als CDU/CSU nach wie vor bereit, nicht nur für die Oldtimer dies bundeseinheit- lich zu regeln. Wir wollen Politik bürgerfreundlich und praxisnah gestalten. Ich begrüße daher ausdrücklich die Zustimmung der unionsgeführten Bundesländer im Bundesrat am 21. September 2007 zum Antrag Hessens, Oldtimer von den feinstaubbedingten Fahrverboten auszunehmen. Einer Symbolpolitik des Bundesministeriums für Um- welt auf dem Rücken der Halter, Fahrer und all jener, die Freude an Oldtimern haben, konnte erfolgreich eine Ab- sage erteilt werden. Bei einem Anteil von 0,07 Prozent am Verkehr ist der Effekt feinstaubbedingter Fahrver- bote fragwürdig. Wir sind deshalb froh über die Ent- scheidung des unionsdominierten Bundesrates und ge- hen fest davon aus, dass Bundesminister Gabriel sich an diesen Beschluss des Bundesrates hält. Deshalb ist die- ser FDP-Antrag überholt und der Sachverhalt geklärt. Ich möchte aber nicht verschweigen, dass ich mich trotz- dem über diese Initiative freue. Selbst das rot-rote Berlin kommt nunmehr zur Ver- nunft. Die linke Umweltsenatorin Lompscher hat in der „Berliner Morgenpost“ vom heutigen Donnerstag Män- gel der Regelung eingeräumt und Nachbesserungen an- gekündigt. Wenn auch spät, kommen vielleicht linke Politiker dann mal zur Vernunft, wenigstens punktuell. 12340 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Mal sehen, was diese Ankündigung in der Realität be- deutet. Für die Oldtimer wurde eine bundeseinheitliche Re- gelung durch den Bundesrat jetzt erreicht, der Flecken- teppich in Deutschland wurde somit verhindert, der FDP-Antrag hier ist hinfällig. Wir sind froh darüber, dass wir in Deutschland einen Anschlag auf das automo- bile Kulturgut Oldtimer verhindert haben. Die Diskussion zu einem Sachverhalt aus der Praxis zeigt mir, wie Europa an der Realität vorbeigehen kann. Die zugrunde liegende EU-Richtlinie ist daher aus mei- ner Sicht völlig überzogen, praxis- und bürgerfern. Zu- dem widerspricht sie dem Prinzip der Subsidiarität. Be- reits jetzt sind weitere Untersuchungen und Grünbücher in der Schublade, mit denen die EU sich erneut in die kommunale Selbstverwaltung einmischen will. Hier müssen wir im Interesse unserer Bürgerinnen und Bür- ger wie auch der Wirtschaft aufpassen. Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Wir alle wollen und brauchen saubere Luft zum Leben. Damit die Luft in Europa sauberer wird und gesundheitsschädliche Fein- stäube reduziert werden, hat die EU das Instrument der Luftreinhaltepläne eingerichtet. Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments hat in dieser Woche schärfere Grenzwerte für Feinstaub be- schlossen. Die Kommission erwartet, dass durch die Ver- schärfung die Zahl der Todesfälle durch Luftverschmut- zung von jährlich 370 000 auf 230 000 sinken kann. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat ent- schieden, dass die Anwohner stark befahrener Straßen die Kommunen verklagen dürfen, wenn die EU-Grenz- werte für Feinstaubbelastung überschritten werden. Denn seit 2005 dürfen in Deutschland die geltenden Grenzwerte für Feinstaub nur an 35 Tagen im Jahr über- schritten werden; viele deutsche Großstädte können das nicht gewährleisten. Die Kommunen sind aber in der Verantwortung, mit Aktionsplänen dieses Ziel zu errei- chen. Mit der Feinstaubverordnung können Kommunen Umweltzonen einrichten und Fahrzeugen mit zu hohem Schadstoffausstoß ein Fahrverbot für diese Zonen ertei- len. Grundsätzlich sind von diesen Fahrverboten ältere Fahrzeuge, zum Beispiel Autos mit altem Dieselmotor – EURO 1 und schlechter – und Benziner ohne Kataly- sator oder Kat-Fahrzeuge der ersten Generation, betrof- fen, es sei denn, sie werden mit einem Katalysator oder Rußfilter nachgerüstet. Oldtimer sind Autos, die älter als dreißig Jahre sind. Oldtimer können gewöhnlich nicht nachgerüstet werden. Der FDP-Antrag will deshalb eine bundesweite Aus- nahme für Oldtimer von den Feinstaubfahrverboten. Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Grundprinzip der Eu- ropäischen Union. Es entspricht dem Subsidiaritätsprin- zip, dass Probleme, die auf untergeordneten Ebenen ge- regelt und gelöst werden können, auch dort geregelt werden sollen. Die Kommunen, die in der Verantwor- tung für die Einhaltung ihrer Luftreinhaltepläne stehen, können regionale Begebenheiten, landschaftliche Beson- derheiten und spezielle Probleme am besten beurteilen und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Unserer Meinung nach ist die Entscheidung, wer wann welche zusätzliche Ausnahmeerlaubnis erhält, bestens bei der jeweiligen Kommune aufgehoben. Ausnahmen – zum Beispiel für Oldtimer, damit das Brauchtum ausgeübt werden kann – können auf kommunaler Ebene hinrei- chend gut getroffen werden. Die Bundesländer haben in der Sitzung des Bundesra- tes am 21. September dem Antrag aus Hessen zuge- stimmt und eine generelle Ausnahme von Oldtimern be- schlossen. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung den Wunsch der Länder berücksichtigen wird. Denn es ist dringlich, dass die Kennzeichnungsverordnung in Kraft treten kann und die Kommunen die Maßnahmen zur Luftreinhaltung umsetzen können. Wir haben in unserem Entschließungsantrag der Ko- alitionsfraktionen vorgeschlagen, die gefundene Rege- lung nach zwei Jahren zu evaluieren. Nach zwei Jahren werden wir uns erneut damit beschäftigen, ob die Kom- munen in dem von ihnen gewünschten Rahmen in der Lage waren, das Ziel einer sauberen Luft zu erreichen. Die Länder setzen damit die Maßstäbe und dürfen die gesundheitlichen Aspekte nicht vernachlässigen. Oldtimer sind auch für mich ein Kulturgut. Oldtimer gehören in unserem Automobilland zur Geschichte. Auch in Zukunft soll der Oldtimerfan sein Hobby pfle- gen und sein schönes Auto fahren dürfen. Die Frage ist, ob hochbelastete Städte bundesweite Ausnahmeregelun- gen brauchen oder ob es ausgereicht hätte, die vorhande- nen Möglichkeiten auf kommunaler Ebene auszuschöp- fen, um Oldtimertreffen, Autokorsos oder gelegentliche Fahrten in die Zentren zu ermöglichen. Unsere Intention war, diese Frage nicht von oben für alle Regionen zu ent- scheiden, sondern die entsprechende Wahlmöglichkeit vor Ort zu erhalten. Das Problem, das ich bei der bundesweiten Ausnah- meregelung für Oldtimer sehe, ist, dass eine Regel ein- geführt wird und mit ihr eine Fülle von Ausnahmen. Zwar gilt das deutsche Sprichwort: Keine Regel ohne Ausnahme. Ich gebe aber zu bedenken, dass mit jeder zugelassenen Ausnahme bei denjenigen, die nicht von der Regel befreit wurden, Gefühle von Unverständnis und Benachteiligung aufkommen. Es kommt die Frage auf: Wieso dürfen die und ich nicht? Zum Beispiel ist der Handwerker, der seinen 15 Jahre alten Firmenwagen nicht nachrüsten kann, gezwungen, ein neues Fahrzeug anzuschaffen. Er könnte sich aller- dings auch einen Oldtimer anschaffen und dürfte dann weiter in der Umweltzone ausliefern. Beides kann er sich vielleicht aber nicht leisten. Seine wirtschaftliche Existenz steht auf dem Spiel. Sicherlich gibt es viele Ar- gumente, die in einzelnen Fällen für eine Befreiung vom Fahrverbot sprechen können. Einzelentscheide und Här- tefallausnahmen wird es ja auch geben. Eine generelle Ausnahme für mittelständische Unternehmer gibt es aber nicht. Die Forderung nach Ausnahmen für Wirtschafts- verkehre wird aber von der Wirtschaft erhoben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12341 (A) (C) (B) (D) Es gibt viele Weiterentwicklungen des deutschen Sprichwortes mit der Regel und den Ausnahmen. Eine Variante lautet: Die Ausnahme belästigt die Regel, bis sie selber Regel ist. Es gibt noch andere Interessengrup- pen, die Ausnahmen von den Fahrverboten fordern, zum Beispiel die Wohnmobilfahrer. Die haben auch nachvoll- ziehbare Argumente dafür, dass sie nicht außerhalb der Umweltzone parken wollen. Die EU fordert Ausnahmen für Touristen, denn eine Urlaubsreise mit dem Auto durch unterschiedliche Umweltzonen bringt wenig Ver- gnügen. Eine Ausnahme folgt der Ausnahme folgt der Ausnahme, und der Sinn der Regel, nämlich der Gesund- heitsschutz, stellt sich hinten an. Individuelle und öffentliche Interessen sind gegenei- nander abzuwägen. Ich hoffe, dass die Länder in dem von ihnen gewünschten Rahmen, den öffentlichen Inter- essen der Luftreinhaltung und damit dem Schutz der Menschen vor krankmachenden Schadstoffen genügen werden. Dies werden wir nach zwei Jahren prüfen. Die gefährlich hohe Feinstaubbelastung in den Bal- lungsräumen einzudämmen, ist unser aller Interesse. Den Erfolg der Luftreinhalte- und Aktionspläne lässt sich an den Feinstaubwerten messen. Die Grenzwerte der EU sind der Maßstab unseres Handelns. Die Kom- munen müssen sich anstrengen. Im Mittelpunkt steht die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger. Patrick Döring (FDP): Ich bin mir sicher, die große Zahl der hier Anwesenden schätzt William Shakespeare außerordentlich. Da nehme ich mich nicht aus. Und wir erwarten sicherlich alle mit großer Spannung die Verfil- mung eines seiner vortrefflichsten Stücke, das in diesen Tagen in die deutschen Kinos kommt. Aber bei aller Liebe zu Shakespeares Komödien: Die jüngsten Auffüh- rungen von Viel Lärm um Nichts und Wie es euch gefällt, die ich in diesem Hohen Hause in den letzten Monaten erleben durfte, fand ich eher missraten. Auch das Drama, das die Koalition in der Diskussion um die Ausnahme von Oldtimern von den Feinstaub- Fahrverboten aufgeführt hat, bekommt zu Recht schlechte Kritiken. Die Autoren und Regisseure der Ko- alition haben an dem kleinen Dramolett zwar lange gear- beitet, aber das Ergebnis ist nicht sehr sehenswert. Aus gutem Grund wird der letzte Akt jetzt in der Nachtvor- stellung aufgeführt. Es ist verständlich, dass man diesem Stück eher keine Zuschauer wünscht. Monatelang wurde da diskutiert und unser Antrag mit der Bitte aufgeschoben, man brauche die Zeit, um eine vernünftige Lösung zu finden. Der Berg kreißte – und gebar einmal mehr eine Maus. Die von der Koalition vorgelegte Entschließung ist ein Zeugnis der Ohnmacht. Die Vernunft wurde offensichtlich wieder einmal dem Prinzip geopfert: Anstatt eine klare Entscheidung zu fäl- len, sollte die Diskussion für weitere zwei Jahre aufge- schoben werden, um dann die Auswirkungen der Ver- ordnung zu überprüfen. Für viele Betroffene wäre es dann freilich schon zu spät gewesen. Wir können daher von Glück sagen, dass im Bundes- rat die Länder mit vereinter Kraft diesen Unsinn verhin- dert haben und, in Übereinstimmung mit dem von uns hier vorgelegten Antrag, auf einer Ausnahme für die Oldtimer bestanden. Ich erwarte nun mit Spannung die Umsetzung durch die Regierung. Hier darf es keine Halbheiten geben. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie hät- ten es einfacher haben können. Von Anfang an war klar, dass die Einbeziehung der Oldtimer in die Fahrverbote unverhältnismäßig sein würde. Hätten Sie Ihren Willen durchgesetzt, der Schaden wäre immens gewesen: Der- zeit sind in Deutschland 21 Fahrverbotszonen in Pla- nung – und nach dem Feinstauburteil des Bundesverwal- tungsgerichtes werden es sicherlich bald noch mehr sein. Sie hätten dieses großartige Hobby, durch das einzigar- tige Fahrzeuge und damit auch ein kulturelles Erbe be- wahrt werden, quasi unmöglich gemacht. Bei jeder Fahrt wäre von dem Fahrer verlangt worden, sich zu erkundi- gen, ob und wo Fahrverbote bestehen und sich gegebe- nenfalls eine Ausnahmegenehmigung zu besorgen. Auch hätte das Verbot schwere Folgen für Wirtschaft und Tourismus gehabt. Fahrverbote wären nicht nur das Ende für Oldtimer-Rundfahrten gewesen, sondern hätten auch eine Branche gefährdet, die europaweit jedes Jahr Milliarden Euro in den Bereichen Versicherungen, Fahr- zeughandel, Reparatur und Restaurierung von Oldtimern umsetzt. Es wäre ein Leichtes gewesen, all dies durch die An- nahme unseres Antrages gleich zu verhindern. Stattdes- sen brauchte es erst eine Entschließung des Bundesrates, um der Regulierungswut der schwarz-roten Bundesre- gierung Einhalt zu gebieten. Der Anteil der Oldtimer an den Feinstaubemissionen in Deutschland ist denkbar ge- ring. Nach einer Studie des Fraunhofer-Institutes ma- chen Pkw ohnehin nur insgesamt 4 Prozent des Feinstau- baufkommens aus. Und der Anteil der Oldtimer an der Zahl der Personenwagen liegt bei gerade einmal 0,4 Pro- zent. Noch geringer ist ihr Anteil an der jährlichen Stre- ckenleistung. Es ist daher geradezu lächerlich, die Ent- scheidung, ob Oldtimer ausgenommen werden sollen, zu einer Frage der Volksgesundheit zu machen. Man muss sich tatsächlich fragen, warum Teile der Koalition – vor allem aufseiten der Sozialdemokratie – so nachdrücklich darauf beharren, die Oldtimer aus un- seren Städten zu verbannen. Anstatt Ihre Energien darauf zu verschwenden, den Menschen das Leben schwer zu machen, sollten Sie sich besser um wirkliche Lösungen bemühen. Das Feinstaubproblem wird jedenfalls nicht gelöst, indem man ein paar Autoklassiker aus den Innenstädten verbannt. Letztlich braucht es ein Gesamtkonzept und auch überregionale Ansätze. Doch hier machen Sie es sich sehr einfach und lassen die Kommunen mit ihren Problemen im Regen stehen. Anstatt Oldtimer aus den Städten auszusperren, soll- ten Sie noch einmal über die Beschaffenheit der Grenz- werte nachdenken. Die Jahresgrenzwerte müssen schär- fer, die Tageswerte aber flexibler werden. Sonst werden wir weiterhin die paradoxe Situation haben, dass in eini- gen Kommunen mit einer permanent hohen Feinstaub- 12342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) konzentration, die aber die Grenzwerte nur selten über- schreitet, nichts geschieht, während auf der anderen Seite Städte an den Pranger gestellt werden, die nur an wenigen Tagen im Jahr ein dann aber sehr hohes Fein- staubaufkommen haben. Das Europäische Parlament hat hier schon vorgedacht. Die Bundesregierung hat diese Initiative aber leider bisher abgelehnt. Ich empfehle Ih- nen dennoch gerne den Beschluss des europäischen Um- weltausschusses als Lektüre. Anstatt die Jagd auf Oldtimer zu eröffnen, sollten Sie endlich die 1. Bundesimmissionsschutz-Verordnung no- vellieren, um auch Grenzwerte für die Millionen kleiner Holzfeuerungsanlagen einzuführen. Denn diese stoßen insgesamt etwa genauso viel Feinstaub aus wie die Mo- toren von Lkw, Pkw und Motorrädern zusammen. Anstatt den Autoklassikern das Grab zu schaufeln, sollten Sie ein integriertes Konzept, zusammen mit Län- dern und Kommunen, aber auch den europäischen Nach- barn, entwickeln. Nur wenn wir die zahlreichen Fein- staubquellen in den Griff bekommen, können wir das Problem lösen. Nichts von alledem haben Sie bisher getan. Stattdes- sen erschöpft sich Ihre politische Arbeit in Aktionismus und Symbolpolitik. Den Schaden haben die Menschen in Deutschland, denen nicht effektiv geholfen wird – oder deren Interessen Sie für den öffentlichen Effekt opfern. Es ist wahrlich ein Trauerspiel, das die Koalition hier aufgeführt hat, und es wird leider wohl auch nicht das letzte sein, das Schwarz-Rot uns auf dieser Bühne dar- bieten wird. Es bleibt abzuwarten, wie Ihr Publikum dies goutiert. Im vorliegenden Fall können wir von Glück sa- gen, dass durch den Bundesrat das größte Unglück ver- hindert wurde. Ein gutes Licht auf die Politik dieser Re- gierung wirft dies freilich nicht. Lutz Heilmann (DIE LINKE): Der Bundestag debat- tiert heute zum zweiten Mal über Oldtimer. Es geht um die Frage, ob Oldtimer generell in Umweltzonen fahren dürfen oder nicht. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, Oldtimern die Teilnahme am gesamten Straßenverkehr zu verbieten. Genau diesen Eindruck vermitteln aber die Oldtimer-Lobby und ihr Sprachrohr, die FDP. Auch wird der Anschein erweckt, die spezialisierten Werkstätten stehen vor dem Ruin. Dem ist aber nicht so – und das will meines Wissens auch niemand, auch Die Linke nicht, obwohl der durch- schnittliche Oldtimer-Besitzer nicht gerade zu unserer klassischen Wählerschicht gehört. Dies weiß ich aus ei- genem Erleben, als Tankstellenkassierer bediente ich früher eine Reihe von Oldtimer-Fahrern. Ein Oldtimer ist eben nicht als Alltagsfahrzeug ge- dacht, sondern nur als zusätzliches „Liebhaber-Stück“ für gelegentliche Ausfahrten vorgesehen. Das muss man sich erst mal leisten können. Deshalb nährt die FDP mit ihrem Antrag den gelegentlich geäußerten Vorwurf, sie sei die Partei der Besserverdienenden. Mit diesem An- trag wird einseitige Klientelpolitik betrieben. Umwelt- und Gesundheitsschutz sind bei der FDP anscheinend nur Lippenbekenntnisse. Denn genau darum geht es – um den Gesundheits- schutz der Bevölkerung in den Innenstädten. Dafür wer- den nach Auskunft der Bundesregierung derzeit 21 Um- weltzonen vorbereitet. Dadurch wird die extrem gesundheitsgefährdende Feinstaubbelastung gesenkt. Der EU-Grenzwert wird in vielen Städten, insbesondere an Hauptverkehrsstraßen, sehr häufig – zu häufig – über- schritten. Auch für das hochgiftige Stickstoffdioxid gilt ab 2010 ein strenger Grenzwert, der bislang vielerorts überschritten wird. Mit Umweltzonen werden also nicht Oldtimerfahrer schikaniert, sondern die Bevölkerung in den Innenstäd- ten vor Gesundheitsgefahren geschützt. Oldtimer sind dabei nicht vernachlässigbar, sondern eine nicht uner- hebliche Quelle von Luftverschmutzung. Obwohl sie nur 0,4 Prozent an der gesamten Pkw-Flotte Deutschlands ausmachen, sind Oldtimer für 3 Prozent der Stickoxid- emissionen verantwortlich. Ihr Schadstoffausstoß liegt um bis zum 60-Fachen über einem Neuwagen. Deswegen gibt es für Oldtimer keine generelle Be- freiung – und das ist auch gut so! Es ist aber nun nicht so, dass Oldtimer gar nicht in den Umweltzonen fahren dürfen. Denn die Kommunen können und sollen selber entscheiden, inwieweit sie Old- timern und anderen Betroffenen – dazu gleich mehr – Ausnahmen erteilen. Berlin als Vorbild und Vorreiter wird als erste Kom- mune ab dem 1. Januar 2008 eine Umweltzone einrich- ten. Stuttgart und andere Städte Baden-Württembergs wollten ursprünglich früher loslegen, mussten ihren Starttermin aber immer wieder verschieben. Man könnte einen gängigen Werbeslogan deshalb etwas abwandeln in „Baden-Württemberg – wir können alles außer Um- weltzone“. Vielleicht haben sie aber nur auf die Bestimmungen Berlins gewartet, um sie zu übernehmen? Berlin jeden- falls hat eine großzügige Regelung für Oldtimer geschaf- fen. Klar können sie weiter für Hochzeitsfahrten oder Ähnliches genutzt werden. Klar erhalten auch private Oldtimer eine unbefristete Ausnahmegenehmigung. Da- mit dürfen sie pro Jahr 700 Kilometer in der Umwelt- zone fahren. Diese erstreckt sich nun nicht auf ganz Berlin, son- dern nur auf den S-Bahn-Ring. Wenn man da einmal rein- oder durchfährt, sind das fünf bis zehn Kilometer. Oldtimer können also weiterhin gelegentlich über die „Linden“ fahren und ihre Werkstätten besuchen. Und Oldtimerbesitzer, die in der Umweltzone wohnen, müs- sen ihren Wagen weder verkaufen noch außerhalb der Umweltzone parken. Deswegen frage ich mich: Warum diskutieren wir ausgerechnet über Oldtimer in Umweltzonen? Kritisch ist nicht der Freizeitverkehr mit Oldtimern. Die wirklich problematischen Fälle sind Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmer, die aufs eigene Auto angewiesen sind. Er- freulicherweise hat sich durch die nachträgliche Rege- lung für G-Kats der Kreis der Betroffen erheblich reduziert. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12343 (A) (C) (B) (D) Auch der Wirtschaftsverkehr, dessen Lkw und Trans- porter oft veraltet sind, ist ein Problem. In beiden Fällen hat Berlin ebenfalls sinnvolle Ausnahmeregelungen ge- schaffen. Klar ist aber auch, dass nicht allen eine Aus- nahme erteilt werden kann. Dann könnte man die Um- weltzone gleich sein lassen. In der Bundesregierung und insbesondere beim klei- neren Koalitionspartner wird ja viel über „fordern und fördern“ gestritten. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung auch im Gesundheitsschutz dem För- dern mehr Gewicht gegeben hätte. Denn wenn man Menschen zu Einschränkungen zwingt – Fahrverbote sind in der Tat eine Einschränkung –, dann sollte man ih- nen auch Alternativen anbieten. Da der Gesundheitsschutz eine öffentliche Aufgabe ist, sollte er nicht nur denjenigen angelastet werden, die alte Fahrzeuge haben. Nein, die Bundesregierung ist gegenüber der EU für die Einhaltung der Grenzwerte mitverantwortlich. Deshalb hätte sie die steuerliche För- derung der Umrüstung von Fahrzeugen mit Dieselrußfil- tern deutlich großzügiger gestalten müssen. Die sehr ent- täuschenden Zahlen bislang erfolgter Umrüstungen belegen, dass 330 Euro viel zu wenig sind. Auch für den Wirtschaftsverkehr sollten Förderpro- gramme – so weit möglich zur Nachrüstung, ansonsten zur Flottenerneuerung – aufgelegt werden. Der Schutz der Gesundheit der Menschen geht alle an, nicht nur Einzelne! Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben über den Antrag der FDP ja schon einmal An- fang März 2007 debattiert. Ich habe damals – wie andere meiner Kolleginnen und Kollegen – eine Kennzeich- nungsverordnung begrüßt, die am 1. März 2007 in Kraft getreten war, heute aber schon wieder der Vergangenheit angehört. Was war geschehen? Es hatte handwerkliche Fehler gegeben, zu spät war aufgefallen, dass ein nicht unerheb- licher Teil von Fahrzeugen mit älteren Kats – nach US- Norm – ohne Plakette bleiben würde und so nicht in der Umweltzone fahren dürfe. Fahrzeuge mit Katalysatoren der ersten Generation – G-Kat, Kats nach US-Norm – haben jedoch keine schlechteren Abgaswerte als Euro-1- Fahrzeuge, die nach der ersten Version der Verordnung die grüne Plakette erhalten. Schon Anfang März hatte die Bundesregierung angekündigt, dies zu korrigieren. Bundesumweltminister Gabriel hat am 4. Juli 2007 eine entsprechende Änderung der Plakettenverordnung ins Kabinett eingebracht. Die FDP hat mit ihrem Antrag für die Oldtimer eine generelle Ausnahmeregelung von den Fahrbeschränkun- gen gefordert. So sollten alle Oldtimer mit H-Kennzei- chen sowie möglichst auch jene mit dem „roten 07er- Kennzeichen“ pauschal von der Verordnung ausgenom- men werden. Wir haben dieses Anliegen in der ersten Lesung abgelehnt. Denn es ist sachlich und mit Blick auf eine vorsorgende Luftreinhaltung nicht einzusehen, dass alten Diesel-Oldtimern erlaubt sein soll, ein Mehrfaches an Feinstaub auszustoßen als andere Fahrzeuge. Aus der Beschlussempfehlung – 16/6327 – des Verkehrsauschus- ses lässt sich entnehmen, dass auch die Mehrheit der Ab- geordneten einen Freifahrtschein für Oldtimer ablehnt. Das ist auch richtig so. Vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundes- verwaltungsgerichtes in Leipzig sind Kommunen drin- gend aufgefordert, die Belastung der Bevölkerung mit Feinstaub wirksam einzudämmen. Das Feinstauburteil von Leipzig erinnert die Städte und Gemeinden nicht nur an ihre Verantwortung, sondern es zieht sie zur Verant- wortung. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 27. Sep- tember 2007 höchstrichterlich entschieden, dass Anwoh- ner von besonders mit Feinstaub belasteten Straßen ihr Recht auf saubere Atemluft gerichtlich durchsetzen kön- nen. Kommunen könnten sich nicht auf das Fehlen eines Aktionsplans zur Luftreinhaltung berufen, entschieden die Richter. Sie müssen vielmehr dafür sorgen, dass ein wirksames Aktionsprogramm auch realisiert wird. Denn schon 2002 wurde mit den rot-grünen Vorgaben im Bundes-Immissionsschutzgesetz und der dazugehöri- gen Verordnung den Kommunen eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfügung gestellt, mit denen sie ge- gen die Emissionsquellen vorgehen können. Auch die Ermächtigungsgrundlagen für Verkehrsverbote oder -be- schränkungen stammen aus dem Regelwerk von 2002. Bis dahin waren Verkehrsbeschränkungen wegen Luft- verunreinigungen stets nur symbolische Politik. Wir Grünen haben diese falsche Praxis beendet. Wir haben damals im Bundes-Immissionsschutzgesetz zwei neue Ermächtigungsgrundlagen für Verkehrsbeschrän- kungen wegen Luftverunreinigungen geschaffen – § 40 Abs. 1 und Abs. 2 BimSchG. Damit wurden Kommunen zu Verkehrsverboten und -beschränkungen ermächtigt, die in Luftreinhalte- oder Aktionsplänen vorgesehen sind und ihnen wurde gestattet, unabhängig von den planerischen Instrumenten Verkehrsbeschränkungen und -verbote zu erlassen, wenn der Verkehr zur Überschreitung von Im- missionswerten beiträgt. Die Planung der Umweltzonen ist ein wesentliches Instrument der Kommunen, die Grenzwertüberschrei- tungen in den Griff zu bekommen. Symbolische Politik ist es aus unserer Sicht jedoch, Umweltzonen mit Fahr- beschränkungen anzukündigen und einzurichten und zu- gleich so viele Ausnahmetatbestände zu schaffen, dass die Idee der Umweltzone wieder ad absurdum geführt wird. Im Jahr 2002 hatten Bundestag und Bundesrat der 22. BImSchV zugestimmt. Doch schon mit Näherrücken des Termins und erst recht aufgrund der Feinstaubmes- sungen vor 2005 änderte sich die Haltung in vielen Län- dern und Kommunen. Es war schnell klar: Viele Bal- lungsräume würden die Grenzwerte reißen. Doch statt sich um wirksame Maßnahmen zu kümmern, forderten einzelne Länder nun eine Revision der EU-Vorgaben. Ziel: Grenzwerte, die man nicht einhalten kann, müssen eben angehoben werden. Es soll hier nicht ungesagt blei- ben, dass viele Länder und Kommunen rechtzeitig Luft- reinhaltepläne und Aktionspläne auf den Weg gebracht haben. 12344 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) Was die Umweltzonen und Oldtimer angeht, so hat uns doch Herr Koch aus Hessen überrascht: Er hat sein Herz für das Kulturgut Oldtimer entdeckt und flugs im September 2007 im Bundesrat den Antrag gestellt, die Oldtimer in den Ausnahmekatalog der Verordnung auf- zunehmen. Das Land Hessen war mit seinem Ände- rungsantrag zur Kennzeichnungsverordnung erfolgreich, und der Bundesrat stimmt der Verordnung mit dieser Än- derung zu. Mit dem Nachbessern an der Verordnung wa- ren die Oldtimer-Lobbyisten auf den Plan getreten und haben offenbar ganze Arbeit geleistet. Jetzt stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung respektive der Umwelt- minister diese Bundesratsentscheidung hinnimmt oder daran die ganze Verordnung scheitern lässt und wieder auf Anfang geht. Dies würde natürlich bedeuten, dass damit die Rechtsgrundlage für die Umweltzonen ab 2008 infrage steht. Eine weitere Verzögerung können sich Bund und Länder im Kampf gegen den Feinstaub jedoch nicht leisten. Wir waren dafür, pragmatische Regelungen für Old- timer-Veranstaltungen in Städten zu finden, und ange- sichts der überschaubaren Zahl von Oldtimer waren wir für begrenzte Sondergenehmigungen, aber eine generelle Ausnahme halten wir auch nach der Bundesratsentschei- dung nicht für sachgerecht. Schließlich ruft dies auch an- dere Betroffeneninteressen für weitere Ausnahmetatbe- stände auf den Plan. Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Wohngeldrechts und zur Änderung anderer wohnungsrechtlicher Vor- schriften (Zusatztagesordnungspunkt 10) Gero Storjohann (CDU/CSU): Seit 40 Jahren wer- den durch das Wohngeld die Wohnkosten einkommens- schwacher Mieter und selbst nutzender Eigentümer be- zuschusst. Diese Leistung unseres Sozialstaates hat sich bewährt und ist für sozial schwache Bürger unverzicht- bar. Die Wohngeldberichte der Bundesregierung belegen das ein ums andere Mal. Der Wohngeldbericht der Bundesregierung aus 2002 hat erhebliche Vollzugsprobleme bei der Bewilligung von Wohngeldleistungen offenbart. Lange Bearbeitungs- zeiten und komplizierte Berechnungsverfahren wurden von den Betroffenen beklagt, sowohl auf der Seite der Wohngeldempfänger als auch aufseiten der Mitarbeiter der Bewilligungsstellen. Dies bildete den Rahmen für die Koalitionsvereinba- rung zwischen CDU/CSU und SPD in Bezug auf die Weiterentwicklung des Wohngeldgesetzes. Daher zitiere ich den Text an dieser Stelle ausdrücklich: „Das Wohn- geld wird weiterhin der sozialen Absicherung des Woh- nens dienen. Wohngeld ist eine Fürsorgeleistung. Bund und Länder werden das Wohngeldrecht zügig mit dem Ziel einer deutlichen Vereinfachung überprüfen“. So steht es im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD. Mit dem heutigen Entwurf eines Gesetzes zur Neu- regelung des Wohngeldrechts und zur Änderung anderer wohnungsrechtlicher Vorschriften setzt die Große Koali- tion dieses Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um. Es ist jedoch ein weiterer Aspekt hinzugetreten: Von der Hartz-IV-Gesetzgebung wurde auch das Wohngeld umfassend betroffen. So wurden Transferleistungsemp- fänger durch dieses Gesetz, vom Wohngeld ausgeschlos- sen. Damit wurde deutlich gemacht, dass es sich hierbei um zwei eigenständige soziale Sicherungsinstrumente handelt. Real wurde das Wohngeld auf einen Kernbe- reich von Leistungsempfängern zurückgeführt. Dieser Kernbereich umfasst im Wesentlichen Menschen mit niedrigem Arbeitseinkommen bzw. mit niedriger Rente. Durch die Vollkostenübernahme für das Wohnen bei ALG-II-Empfängern im Rahmen der Grundsicherung ist ein großer Teil der Wohngeldempfänger entfallen. Zwischenzeitlich sind Schnittstellenprobleme zwi- schen den Leistungssystemen identifiziert und auch An- zeichen für Fehlanreize aufgetreten. So haben sich zum Beispiel Vollzugsschwierigkeiten zwischen Wohngeld- stellen und den für die Grundsicherung für Arbeit- suchende zuständigen Stellen bei der Gewährung von SGB-Il-Leistungen und Wohngeld aufgetan. Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist es daher, den Verwaltungsaufwand im Vollzug zu vermindern und Schnittstellen mit den Transferleistungsgesetzen zu ver- einfachen. Darüber hinaus sollen die Wohngeldmittel noch effizienter verwendet werden. Weiteres Ziel des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwur- fes ist es, die Normen sowohl für Antragsteller als auch für die Bearbeiter einfacher und besser verständlich zu machen. Dem setzt das komplizierte deutsche Steuer- recht jedoch natürliche Grenzen. Die Große Koalition leistet mit diesem Gesetzentwurf auch einen Beitrag zum Bürokratieabbau in Deutschland; er ist sicher nicht ent- scheidend, aber ein weiterer Baustein unser Ziele bei diesem Thema. Was sieht das Gesetz im Einzelnen vor? Lassen Sie mich die wichtigsten Neuerungen kurz darstellen. Durch das Gesetz wird der wohngeldrechtliche Haus- haltsbegriff fortentwickelt. Alle Mitglieder einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft werden fortan in diesen nach dem Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen einbe- zogen werden. Dadurch entfällt die für die Verwaltung äußerst kompliziert durchzuführende Vergleichsberech- nung. Auch wird dadurch die bisherige Regelung der vo- rübergehenden Abwesenheit hinfällig. Die Arbeit der Verwaltung bei Berechnung des jeweiligen Wohngeldan- spruchs wird damit erheblich erleichtert. Des Weiteren wird durch den Gesetzentwurf die für die Höhe des Wohngeldes maßgebliche Differenzierung in vier Baualterklassen wegfallen. Auch hier musste die Verwaltung in der Vergangenheit immer umständliche Berechnungen anstellen. Dies wird durch das neue Ge- setz jetzt bereinigt. Erhebliche Verbesserungen bringt der Gesetzentwurf auch für die Bezieher von Wohngeld. So haben wir die Rückforderung des Wohngeldes von den Erben erheb- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12345 (A) (C) (B) (D) lich erleichtert. Ferner werden durch das Gesetz die ge- samtschuldnerische Haftung aller Haushaltsmitglieder und die Erweiterung der Aufrechnungs- und Verrech- nungsmöglichkeiten bei überzahltem Wohngeld einge- führt. Der Bundesrat hat mit seiner Stellungnahme eine Vielzahl von Anregungen gegeben, bei denen die Bun- desregierung bereits eine Zustimmung oder entspre- chende Anpassung im parlamentarischen Verfahren empfiehlt. Auch wir werden die vom Bundesrat aufge- worfenen Fragen eingehend prüfen. Uns ist klar, dass zum wichtigen Punkt der Beibehaltung der sachfremd im Wohngeldgesetz verankerten Ausgleichsregelung für grundsicherungsbedingte Mehrkosten die Wünsche von Bundesrat und der Vorschlag der Bundesregierung noch nicht zusammenpassen. Deshalb müssen wir wohl den inhaltlichen Zusammenhang zum parallel zu beratenden Entwurf eines Zweiten SGB-XII-Änderungsgesetzes be- rücksichtigen. Ich sehe der Ausschussberatung mit Interesse entge- gen und wünsche mir, dass Wohngeld auch in Zukunft ein wirksames Instrument des verantwortungsvollen So- zialstaates bleibt. Sören Bartol (SPD): Die zeitnahe Überarbeitung des Wohngeldgesetzes mit dem Ziel einer deutlichen Verein- fachung hatten CDU/CSU und SPD im Koalitionsver- trag festgelegt; dieses Vorhaben wird mit dem vorliegen- den Gesetzentwurf umgesetzt. Dieser Gesetzentwurf ist ein dringend notwendiger Schritt zur Entbürokratisierung, der Verwaltungsauf- wand vermindert, Schnittstellen mit Transferleistungsge- setzen des SGB II vereinfacht, Wohngeldmittel noch ef- fizienter verwendet und Regelungen für Bürgerinnen und Bürger verständlicher gestaltet. Es ist ein wichtiger Gesetzentwurf, auch weil er zugleich eine Aktualisie- rung diverser Bereiche und Begrifflichkeiten an eine veränderte gesellschaftspolitische Realität vornimmt. Dazu zählen unter anderem die Fortentwicklung des wohngeldrechtlichen Haushaltsbegriffs, die Einführung der gesamtschuldnerischen Haftung aller Haushaltsmit- glieder sowie die Erweiterung der Aufrechnungsmög- lichkeit bei überzahltem Wohngeld und des Datenab- gleichs. Vorgesehen ist außerdem der Wegfall der für die Höhe des Wohngeldes maßgeblichen Differenzierung in vier Baualtersklassen, den ich entgegen der Auffassung des Bundesrats ausdrücklich begrüße. Zum einen vereinfacht dies das Verwaltungsproze- dere, zum ändern trägt man damit der Entwicklung Rechnung, dass der Wert vieler Altbauten in den letzten Jahren durch Renovierungen und Sanierungen erheblich gestiegen ist. Bislang wurde in den Berechnungen allein auf das Baujahr abgestellt. Im vorliegenden Gesetzent- wurf – § 12 WoGG-E – sind die Höchstbeträge nun der bisherigen Bauklasse IV aus der Tabelle des geltenden § 8 WoGG entnommen: Eine Leistungsverbesserung, die ich – auch vor dem Hintergrund des Wohn- und Mieten- berichts 2006 der Bundesregierung – für richtig halte. Für weit genug gehend halte ich sie nicht. Man muss an dieser Stelle klar sagen: Der Weisheit letzter Schluss kann der Gesetzentwurf in der vorliegenden Form nicht sein. Zwar dient die Neuformulierung des Wohngeldgeset- zes in erster Linie der Verwaltungsvereinfachung, und diesem Anspruch wird sie in der Tat gerecht; den seit 2002 zu konstatierenden eklatanten Preisanstieg im Be- reich der Nebenkosten aber lässt sie außer Betracht. Mittel- und langfristig haben wir mit dem CO2-Ge- bäudesanierungsprogramm eine adäquate und nachhal- tige Antwort auf steigende Energiekosten gefunden. Durch die energetische Sanierung von Wohnungen und Häusern werden die Belastungen von Mietern und Ei- genheimbesitzern erheblich reduziert. Um etwa 40 Pro- zent konnte der Heizenergieverbrauch je Quadratmeter Wohnfläche in den letzten 20 Jahren mit entsprechenden Maßnahmen bereits gesenkt und der CO2-Ausstoß ver- ringert werden. Deshalb hatten wir das CO2-Gebäudesa- nierungsprogramm für 2006 um 350 Millionen Euro auf 1,5 Milliarden Euro aufgestockt. Allein in diesem Jahr konnten mit dem Programm 265 000 Wohnungen und Gebäude saniert und 900 000 Tonnen Kohlendioxid ver- mieden werden. Durch erneuerte Fassaden und Fenster, eine verbesserte Wärmedämmung und modernisierte Heizungen lassen sich bis zu 25 Prozent Energie sparen. So können die finanziellen Belastungen der Haushalte erheblich gesenkt werden. Energieeffizienz wird künftig auch bei der Woh- nungsauswahl ein zentrales Kriterium sein: Ab 2008 wird der Energieausweis zu einem wichtigen Instrument für Mieterinnen und Mieter, das zu Transparenz und län- gerfristig zu weiteren Gebäudesanierungen führen wird. Aber natürlich benötigt die Sanierung unseres kom- pletten Gebäudebestandes Zeit; denn längst nicht alle Wohngeldempfänger wohnen in energetisch sanierten Häusern. Vor dem Hintergrund von Preissteigerungen in Höhe von 30 Prozent bei Heizung und Warmwasser im Vergleich zu 2002 sollte daher auch eine Weiterentwick- lung des Wohngeldes Gegenstand der parlamentarischen Beratungen sein. Hierbei sollte es auch darum gehen, mögliche Instru- mente zur Schließung der Gerechtigkeitslücke zwischen den Unterkunftskosten nach § 22 SGB II und dem Wohngeld zu prüfen. Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die jetzige Gesetzeslage wohngeldberech- tigte Haushalte gegenüber Empfängern von ALG II, bei denen eine Vollbruttokostenerstattung der Miete inklu- sive der Nebenkosten erfolgt, benachteiligt. Wenn also das Wohngeld seiner Intention, einkom- mensschwache Haushalte, die ihren Lebensunterhalt aus eigener Hand bestreiten, angesichts der Mietbelastung jedoch an ihre finanziellen Grenzen stoßen, vor einer Überforderung zu schützen, auch in Zukunft gerecht werden will, sollten wir nicht nur über eine Anpassung der Miethöchstbeträge an die aktuellen Entwicklungen des Wohnungsmarktes und entsprechende Änderungen der Wohngeldleistungstabellen diskutieren. Angesichts der immens gestiegenen Nebenkosten wäre hier eine Regelung in Betracht zu ziehen, bei der 12346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) auch warme Nebenkosten zu den zuschussfähigen Wohnkosten zählen können. Dabei muss es um eine nicht nur sozial-, sondern ebenfalls energiepolitisch sinnvolle Lösung gehen. In welchem Rahmen dies konkret erfolgen könnte, ist noch zu eruieren. Möglich wäre etwa die Festschreibung von Höchstgrenzen nach einem vom Energiebedarf aus- gehenden Berechnungssystem. Wir brauchen ein starkes, der veränderten Entwick- lung angepasstes Wohngeld, wenn es auch in Zukunft ein funktionierendes Element unserer Wohnungspolitik sein soll, das einkommensschwachen Haushalten ein angemessenes und familiengerechtes Wohnen ermög- licht. Das gilt umso mehr, wenn wir Menschen aus dem ALG-Il-Bezug herausholen wollen. Joachim Günther (Plauen) (FDP): Der heute in ers- ter Lesung zu behandelnde Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Wohngeldes war zwischen den Regie- rungsparteien im Koalitionsvertrag vereinbart und somit keine größere Überraschung. Allerdings überrascht der Inhalt schon; denn die Koalitionsparteien hatten sich in diesem Zusammenhang nicht nur darauf verständigt, das Wohngeldgesetz zu entschlacken und zu vereinfachen, sondern es sollte auch – so hatte ich es jedenfalls ver- standen – durch die materielle Verbesserung des Wohn- geldes auf die in den letzten Jahren erheblich gestiege- nen Wohnkostensteigerungen, insbesondere durch die extrem gestiegenen Energiekosten, reagiert werden. Ich will die Kostensteigerungen seit 2001 noch einmal nen- nen, damit klar ist, dass es hier nicht um Bagatellbeträge geht: Die Kosten für Strom sind um 23,8, für Gas um 30,3 und für Öl um 53,3 Prozent gestiegen. Das führt im Extremfall dazu, dass die Betriebskosten die Kaltmiete weit übersteigen und das Wohngeld damit seine Wirkung komplett verfehlt. Es ist also einerseits zu loben, dass mit dem Entwurf Erleichterungen und Vereinfachungen geschaffen wur- den, zum Beispiel durch den Wegfall der für die Höhe des Wohngeldes maßgeblichen Differenzierung in vier Baualtersklassen oder durch die Klarstellung wohnungs- rechtlicher Begriffe sowie der Abgrenzung zu Transfer- leistungen für ALG-II-Empfänger. Andererseits wird aber die tatsächliche Mietkostenentwicklung nicht be- rücksichtigt. Das entspricht nicht dem eigentlichen An- liegen des Wohngeldes. Der Koalitionsvertrag beschreibt dieses Anliegen, indem er besagt, dass das Wohngeld der sozialen Absicherung des Wohnens diene. Ich teile diese Auffassung, finde im Entwurf aber keine entsprechende Umsetzung. Die Bundesregierung hat zwar im Wohn- geld- und Mietenbericht 2006 sowie in einer Antwort auf Fragen der Fraktionen der FDP, der Grünen und der Lin- ken durchaus richtig erkannt, dass die Belastungen für Geringverdiener mit einem Wohngeldanspruch insbe- sondere durch die warmen Betriebskosten extrem gestie- gen sind. Sie hat diese Erkenntnisse aber nicht in erfor- derlichem Maße in den hier vorliegenden Entwurf einfließen lassen. Zum Beispiel macht allein der Wegfall der Baualtersklassen eine Anhebung der Höchstbeträge nicht entbehrlich. Aus meiner Sicht ist es nicht hinnehmbar, dass Bezie- her von Arbeitslosengeld II Unterkunftskosten und Heiz- kosten fast vollständig vom Staat ersetzt bekommen, während Bezieher von Wohngeld nur einen Zuschuss zur Grundmiete und zu den kalten Betriebskosten erhalten. Da insbesondere die hohen Energiekosten bei den Be- triebskosten zu Buche schlagen, ergibt sich hier klar eine Gerechtigkeitslücke. Über dieses Thema wird in den fol- genden Debatten sicherlich noch zu reden sein. Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Kommen wir gleich auf den Punkt: Seit dem 1. Januar 2001 ist das Wohngeld nicht mehr erhöht worden. Seit 2001 sind die Mieten ohne Nebenkosten um 6,5 Prozent gestiegen. Die Ge- bühren für Wasser, Abwasser und Müll sind in diesem Zeitraum um über 10 Prozent, die Kosten für Strom um 23,8 Prozent, für Gas um 30,3 Prozent und für Öl um 53,3 Prozent gestiegen. Für diese Preissteigerungen gibt es bis heute keinen Ausgleich und keinen Zuschlag zum Wohngeld. Die Heizkosten werden überhaupt nicht be- rücksichtigt. Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf zur Neuregelung des Wohngeldgesetzes ist keine Wohngeldreform, die diesen Namen wirklich verdient. Die Grundsatzfrage nach der längst überfälli- gen Erhöhung des staatlichen Zuschusses zum Wohnen wird vollständig ausgeklammert. Die Bundesregierung muss ihre Zusagen aus dem Koalitionsvertrag ernst neh- men und ihren Feststellungen aus dem soeben veröffent- lichten Wohngeld- und Mietenbericht 2006 Taten folgen lassen. Heute müssen knapp 60 Prozent aller Wohngeld- bezieher tatsächlich eine höhere Miete zahlen, als bei der Wohngeldberechnung zugrunde gelegt wird. Hier wird nicht auf die tatsächlich gezahlte Miete abgestellt, son- dern es gelten Höchstbeträge, je nach Wohnungsstan- dard, Baujahr und Wohnort, die im Wohngeldgesetz festgelegt sind. Der Wegfall der Differenzierung der vier Baualtersklassen bringt für Wohngeldempfänger insbe- sondere in Altbauwohnungen einen spürbaren Vorteil. Dagegen ist der Versuch, wohnungsbezogene Leistun- gen aufeinander abzustimmen, beim besten Willen nicht erkennbar. Im Gegensatz zu Haushalten, die Anspruch auf ALG II haben, bleiben bei Wohngeldempfängern die Heizkosten völlig unberücksichtigt. Auch der jetzt vor- gelegte Gesetzentwurf macht keinen Versuch, diese Ge- rechtigkeitslücke zu schließen. Seit Einführung der Hartz-Gesetze sank nach Anga- ben des Städtetages die Zahl der Wohngeldbezieher von 2,3 Millionen um zwei Drittel auf rund 680 000 Men- schen. Die Zahl der Geringverdiener, die als sogenannte „Aufstocker“ Unterkunftskosten erhalten, stieg dagegen zwischen September 2005 und März 2007 um 20 Pro- zent auf inzwischen 1,15 Millionen. Damit Niedrigein- kommensbezieher/innen nicht zu Bedürftigen nach dem SGB II werden, fordern wir eine deutliche Erhöhung des Wohngeldes um mindestens 15 Prozent sowie die Anhe- bung der Einkommensgrenzen für Wohngeldbezieher/in- nen. Außerdem müssen Heizkosten und Warmwasser endlich im Wohngeld berücksichtigt werden. Hierzu befindet sich bereits ein Antrag meiner Fraktion im par- lamentarischen Verfahren. Die Fortentwicklung des wohngeldrechtlichen Haushaltsbegriffs ist durchaus zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12347 (A) (C) (B) (D) begrüßen, da so auch andere Haushaltsmitglieder als Fa- milienangehörige in den Genuss von Wohngeld kommen und veränderten Lebensformen Rechnung getragen wird. Allerdings führt die vorgeschlagene Formulierung auch nach Einschätzung des Bundesrates zu einer Schlechterstellung von Behinderten, die in einer Wohn- gemeinschaft leben, gegenüber Behinderten als Be- wohner von Alten- und Pflegeheimen. Für Wohn- gemeinschaftsmitglieder und Verwaltung wird hoher zusätzlicher organisatorischer Aufwand durch notwen- dige wiederholte Antragsstellungen wegen Änderung des Gesamteinkommens bei Tod oder Auszug eines Hausgemeinschaftsmitgliedes verursacht. Auch die hier- mit verbundene gesamtschuldnerische Haftung aller Haushaltsmitglieder bei Wohngemeinschaften ist skep- tisch zu sehen. Zukünftig soll nur eine Person der Wohngemeinschaft Wohngeld für die Gruppe in Anspruch nehmen können, sofern sich die Gruppe gemeinsam versorgt. Nach § 4 des Wohngeldgesetzentwurfs würde sich das Wohngeld allerdings nach dem Gesamteinkommen aller Mitglieder der Wohngemeinschaft richten, und bei der Berechnung des Wohngeldes wären sämtliche Haushaltsmitglieder zu berücksichtigen. Dadurch wären dann bei einer Erstat- tung von Wohngeld neben der wohngeldberechtigten Person auch die anderen Haushaltsmitglieder als Ge- samtschuldner haftbar zu machen. Die Tragweite der er- weiterten Rücküberweisung und Erstattung im Todesfall kann auf die Schnelle nicht abgeschätzt werden. Hier ist Sorge zu tragen, dass die überlebenden Haushaltsmit- glieder nicht in eine finanziell prekäre Situation geraten. Aus Sicht meiner Fraktion verbleiben zu viele Kritik- punkte und Änderungsbedarfe, als dass dieser Gesetz- entwurf still und leise, bei Nacht und Nebel, durch das Parlament gehen könnte. Daher wird in der Fraktion Die Linke die Ansetzung einer Anhörung zum Wohn- geldrecht prüfen und setzt dabei auf breite parlamentari- sche Unterstützung. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bundesregierung setzt mit dem vorliegenden Gesetzent- wurf unter dem Deckmantel der Verwaltungsvereinfa- chung konsequent ihre Politik gegen moderne Wohn- und Lebensformen fort. Quasi in einer Nacht- und Nebel- aktion erscheint kurzfristig auf Drängen der Koalition ein Gesetz auf der Tagesordnung, das in der Konsequenz Menschen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Wohngemeinschaften nötigt, eine vergleichsweise teu- rere Einzelwohnung zu beziehen, sofern sie aufgrund ih- rer Einkommenssituation Wohngeld in Anspruch neh- men müssen. Künftig sollen für die Wohngeldberechnung nicht mehr die zum Haushalt zählenden Familienmitglieder, sondern alle „Haushaltsmitglieder“ herangezogen wer- den. Wohn-und Wirtschaftsgemeinschaften sollen per definitionem zu dieser gehören. Zukünftig werden alle Wohngemeinschaften von der Alten-WG, der Studenten- WG bis zur Berufstätigen-WG bei neuen Mitbewohnern deren Einkommen prüfen müssen. Bei nicht abschätzba- ren Armutsrisiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit werden sie künftig mit in die Haftung genommen. Dies widerspricht dem Geist dieser modernen Wohnformen, in denen sich nicht familiär gebundene Individuen oft- mals nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit zu einer Wohngemeinschaft zusammenschließen. Dass es sich hierbei nicht um eine Randgruppe handelt, beweist eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes: Hiernach le- ben 10 Prozent aller Alleinstehenden – dies sind rund 1,5 Millionen Personen – mit anderen Personen unter ei- nem Dach. Die Strategie der Zerschlagung von modernen Wohn- formen ist nicht neu. Schon beim Arbeitslosengeld II hatten SPD und CDU ab 1. August 2006 per „Fortent- wicklungsgesetz“ die Umkehr der Beweislast bei nicht- eheähnlichen Lebensgemeinschaften eingeführt. Seither gilt immer schon dann die Vermutung der Bedarfsge- meinschaft, wenn Partner länger als ein Jahr zusammen- leben. In diesem Falle wird im SGB II das Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft ver- mutet. Diese kann allerdings noch widerlegt werden. Nach dem Willen der Bundesregierung soll das beim Wohngeld nicht mehr möglich sein. Mit der geplanten Reform des Wohngeldes geht die Bundesregierung über das im SGB II geltende Prinzip der Verantwortungsge- meinschaft hinaus. Hier sollen bei der Berechnung des Wohngeldes auch die Personen mit ihrem Einkommen als Haushaltsmitglied berücksichtigt werden, die mit ei- ner wohngeldberechtigten Person in einer „Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft“ leben. Hierdurch verfehlt die Bundesregierung nicht nur ihr selbst gesetztes Ziel der Harmonisierung mit den Regelungen im SGB II. Sie er- weitert auch den Kreis der mit ihrem Einkommen zu be- rücksichtigenden Personen um Wohngemeinschaften, bei denen kein wechselseitiger Wille besteht, Verantwor- tung füreinander zu tragen. Die erwarteten Kosteneinsparungen durch nicht ge- zahltes Wohngeld werden eher kurzfristiger Natur sein. Denn Personen mit keinem oder nur geringem Einkom- men werden faktisch genötigt, in Einzelwohnungen zu ziehen, um an Transferzahlungen zu gelangen. Dies dürfte unter dem Strich, in der Regel teurer für Bund, Länder und Kommunen sein. Außerdem wird der Bedarf an Wohnungen für Einzelhaushalte steigen und einen Preisanstieg auf diesem Teilmarkt zur Folge haben, was sich mittelfristig wiederum negativ auf die Kosten für Transferleistungen auswirkt. Der Gesetzesentwurf sieht keine Erhöhung des Wohn- geldes vor. Seit der letzten Erhöhung zum 1. Januar 2001 sind in vielen Regionen Deutschlands die Mieten und Nebenkosten gestiegen. Wenn das Wohngeldgesetz wei- terhin seine Funktion der wirtschaftlichen Sicherung an- gemessenen Wohnens behalten soll, ist eine Anpassung an die gegebene Kostenentwicklung unerlässlich. Zu- dem verpasst die Bundesregierung mit ihrer Initiative die Chance, die aufgetretenen Fehlentwicklungen im Bezug von Arbeitslosengeld II zu korrigieren. Die Zahl der so- genannten Aufstocker ist seit Einführung des Arbeits- losengeldes II kontinuierlich gestiegen. Heute beziehen rund 1,1 Millionen Erwerbstätige zusätzlich zu ihrem Erwerbseinkommen Arbeitlosengeld II. Davon erhalten 12348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 (A) (C) (B) (D) aufgrund der Entwicklungen im Niedriglohnsektor rund 275 000 Bedarfsgemeinschaften ausschließlich Kosten der Unterkunft, die zum Großteil von den Kommunen fi- nanziert werden. Bündnis 90/Die Grünen fordern die Bundesregierung auf, durch eine konsequente Auswei- tung von Mindestlöhnen und eine längst fällige Anpas- sung der Wohngeldhöhe gegenzusteuern, damit das Wohngeld wieder als vorrangiges Sicherungssystem fun- gieren kann. Karin Roth, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- nister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das Wohngeld ist ein bewährtes Instrument unserer sozialen Wohnungspolitik. Es unterstützt einkommensschwache Haushalte dabei, sich am Wohnungsmarkt mit angemes- senem und familiengerechtem Wohnraum zu versorgen. Durch die letzte große Reform im Wohngeld und das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeits- markt, wurden Transferleistungsempfänger vom Wohn- geld ausgeschlossen. Deren angemessene Kosten der Unterkunft einschließlich der Heizkosten werden seit 2005 bei der jeweiligen Transferleistung berücksichtigt. In der Umsetzung zeigten sich an einigen Schnittstellen des Wohngeldgesetzes mit den Transferleistungsgesetzen Vollzugsschwierigkeiten, insbesondere mit dem Arbeits- losengeld II. Das Wohngeldrecht soll deshalb weiter ver- einfacht werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf er- füllen wir den Auftrag aus dem Koalitionsvertrag, das Wohngeldrecht mit dem Ziel einer deutlichen Vereinfa- chung zu überprüfen. Lassen Sie mich zwei Beispiele für die Vereinfachungen nennen: Die bisherige Unterteilung in vier Baualtersklassen soll abgeschafft werden. Für alle Gebäude sollen statt- dessen künftig einheitliche Höchstbeträge für die be- rücksichtigungsfähige Miete oder Belastung gelten. Da- durch werden Mieter und Vermieter entlastet, weil sie das Jahr der Bezugsfertigkeit und die Ausstattung des Gebäudes nicht mehr mitteilen müssen. Die entspre- chenden Informationspflichten fallen also weg. Diese Vereinfachung baut aber nicht nur für Bürger und Wohn- geldstellen spürbar Bürokratie ab. Sie hat gleichzeitig auch höhere Wohngeldleistungen für viele Haushalte zur Folge und ist für uns deshalb ein ganz zentrales Element der Novelle. Viele der Haushalte mit einer Baualtersklasse vor 1992 – das waren im Jahr 2005 circa 74 Prozent aller Wohngeldhaushalte – werden bessergestellt, weil auch für sie künftig allein die höchste Baualtersklasse gelten soll. sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19 nd 91, 1 2, 0, T 22 118. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11 Anlage 12 Anlage 13 Anlage 14 Anlage 15
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611800000

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle-

ginnen und Kollegen!

Ich habe einige Mitteilungen zu machen, bevor wir in
unsere Tagesordnung eintreten.

In der letzten Septemberwoche haben die Kollegen
Peter Götz, Gerd Bollmann und Jörg van Essen ihre
60. Geburtstage gefeiert.


(Beifall)


Im Namen des ganzen Hauses möchte ich dazu herzlich
gratulieren und alle guten Wünsche übermitteln.

Die FDP-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege
Christoph Waitz anstelle der Kollegin Gisela Piltz
neues Mitglied im Beirat nach § 39 des Stasi-Unter-
lagen-Gesetzes werden soll. Sind Sie mit diesem Vor-
schlag einverstanden? – Das sieht ganz so aus. Dann ist
der Kollege Christoph Waitz in den Beirat gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde

Rede
auf Verlangen der Fraktionen FDP und DIE
LINKE

Haltung der Bundesregierung zu Veränderun-
gen bei der Bezugsdauer des Arbeitslosengel-
des I und bei der Rente ab 67 und entspre-
chenden Äußerungen des Bundesministers für
Arbeit und Soziales Franz Müntefering

ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und FDP

Menschenrechte und Demokratie in Birma
durchsetzen

– Drucksache 16/6600 –

ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung
richts des Auswärtigen Ausschuss
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
tzung

en 11. Oktober 2007

.00 Uhr

Leibrecht, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Den Gemeinsamen Standpunkt der EU zu
Birma/Myanmar stärken
– Drucksachen 16/5608, 16/6611 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Detlef Dzembritzki
Harald Leibrecht
Monika Knoche
Kerstin Müller (Köln)



(ZP 1 bis ZP 3 siehe 117. Sitzung)


ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit an
Beitragszahler zurückgeben – Beitragssen-
kungspotenziale nutzen

– Drucksache 16/6434 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

text
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Miriam Gruß, Sibylle Laurischk, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Chancengerechtigkeit von Beginn an
– Drucksache 16/6597 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-

zung zu TOP 34)

ratung des Antrags der Abgeordneten

und des Be-

(3. Aus fahren (Ergän a)


Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
Waitz, Christian Ahrendt, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP

Notwendige Verbesserungen am Tele-
mediengesetz jetzt angehen

– Drucksache 16/5613 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP

Verpackungsverordnung sachgerecht novel-
lieren – Weichen stellen für eine moderne
Abfall- und Verpackungswirtschaft in
Deutschland

– Drucksache 16/6598 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Koppelin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP

Missbilligung der Äußerungen des Bundes-
ministers der Verteidigung Dr. Franz Josef
Jung zum Abschuss von in Terrorabsicht ent-
führten Flugzeugen

– Drucksache 16/6490 –

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Birgitt Bender, Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Beitragsfreie Entgeltumwandlung – Erst prü-
fen, dann entscheiden

– Drucksache 16/6606 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl-
Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von
Klaeden, Anke Eymer (Lübeck), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, Gert
Weisskirchen (Wiesloch), Niels Annen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Die Krise des KSE-Vertrages durch neue
Impulse für konventionelle Abrüstung und
Rüstungskontrolle in Europa beenden

– Drucksache 16/6603 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss

ZP 10 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-
gelung des Wohngeldrechts und zur Änderung
anderer wohnungsrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/6543 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 8, 13 und 26 werden abge-
setzt. In der Folge werden die Tagesordnungspunkte 14
und 15, 16 und 17, 18 und 19, 20 und 21, 22 und 23 so-
wie 24 und 25 jeweils getauscht. Das ist ja alles sehr
übersichtlich und deswegen sicherlich sofort verständ-
lich.

Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
merksam:

Der in der 115. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträg-
lich zusätzlich an den Rechtsausschuss (6. Ausschuss)

und den Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur
Mitberatung überwiesen werden.

Jahressteuergesetzentwurf der Bundesregie-
rung 2008 (JStG 2008)


– Drucksache 16/6290 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Sind Sie mit diesen vorgetragenen Veränderungen
einverstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist
das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatz-
punkt 4 auf:

3 Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie-
rung

Aufschwung, Teilhabe, Wohlstand – Chancen
für den Arbeitsmarkt

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit an
Beitragszahler zurückgeben – Beitragssen-
kungspotenziale nutzen

– Drucksache 16/6434 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP vor, über den wir später na-
mentlich abstimmen werden. Ich weise jetzt auch schon
darauf hin, dass wir im Laufe des Nachmittags, vermut-
lich gegen 17 Uhr, eine weitere namentliche Abstim-
mung haben werden.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Franz
Müntefering.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und
Soziales:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben unser Regierungsprogramm in Mese-
berg mit dem Satz eingeleitet:

Deutschland befindet sich im Wandel. Die Globali-
sierung und die demographische Entwicklung stel-
len Politik und Gesellschaft vor große Herausforde-
rungen

– aber auch vor große Chancen. Dann haben wir die
Wege und die Instrumente beschrieben und vorgezeich-
net, die zu diesen Zielen führen: zu Aufschwung, zu
Teilhabe, zu Wohlstand in Deutschland. Zu diesen We-
gen und Instrumenten will ich sprechen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Bundesregie-
rung nimmt die Herausforderung an und nutzt die Chan-
cen. Wir sind dankbar für jeden, der dabei mitmacht: in
der Wirtschaft, den Gewerkschaften, den Verbänden, den
Kirchen, den Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen. Ich
will stellvertretend einige nennen.

Ich nenne Betriebsräte aus Nordhausen, die sich enga-
gieren für die Kolleginnen und Kollegen, die Sorge ha-
ben um ihre Arbeitsplätze. Ich nenne kleine und große
Unternehmen, die wir auszeichnen für ihr vorbildliches
Verhalten in ihren Unternehmen im Zusammenwirken
mit ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Ich nenne die Integration durch Sportaktionen in Ber-
lin-Kreuzberg, wo Ehrenamtliche in den Vereinen dafür
sorgen, dass junge Menschen von der Straße geholt wer-
den und eine Perspektive bekommen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich nenne zwei junge Frauen, die ich gestern kennen-
gelernt habe. Sie begleiteten schwer behinderte, spas-
tisch gelähmte junge Menschen in Rollstühlen. Diese
jungen Frauen sind aus Wuppertal und arbeiten als As-
sistentinnen, als Betreuerinnen für diese jungen Men-
schen. Wenn man das erlebt, weiß man, dass es großartig
ist, wie sie sich da engagieren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Ich nenne junge Auszubildende, die ich in München
kennengelernt habe. Sie stehen jeden Morgen so auf,
dass sie um 5 Uhr losfahren können irgendwo im Bay-
ern-Land, um in München die Ausbildung zu machen.
Sie sagen: Jawohl, wir machen das. Wir lernen, wir wol-
len die Ausbildung, und wir wollen anschließend in ei-
nen guten Beruf hineinkommen.

Ich nenne eine große Spedition, die sich, was die Aus-
zubildenden angeht, entschieden hat, zunächst einmal
100 Ausbildungsplätze für Hauptschülerinnen und Haupt-
schüler anzubieten. Sie sagen: Wir stellen 300 ein;
100 davon nehmen wir aus der Hauptschule.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich nenne die Laufer Mühle, eine Einrichtung, in der
ich vor wenigen Wochen war – Frau Schmidt und Herr
Müller waren dabei –, wo wir mit Menschen sehr enga-
giert darüber gesprochen haben, was sie tun, damit die,
die sonst keine Chance am Arbeitsmarkt hätten, solche
Chancen bekommen.

Ich nenne dies alles stellvertretend. Vieles wäre noch
zu nennen. Was ich damit sagen will, ist: Es sind in
Deutschland viele neben der Politik, außerhalb der Poli-
tik unterwegs, die sich engagieren und die mithelfen,
dass dieses Land vorankommt. Denen sagen wir unseren
Dank und unseren Respekt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir tun unsere politische Arbeit, und wir tun sie mit
Zuversicht. Denn die vergangenen Jahre haben gezeigt:
Gestaltung ist möglich, auch ehrgeizige Ziele sind er-
reichbar. Wir simulieren keinen Idealzustand für
Deutschland. Aber es gibt auch keinen Grund zur Ver-
zagtheit. Die Aufgaben sind groß. Wir wissen, die Ar-
beitslosigkeit ist hoch, sie ist zu hoch. Die Verteilung der
Bildungs- und Lebenschancen ist ungerecht. Auch die
Verteilung des Vermögens ist ungerecht. Aber das Poten-
zial für eine gute und erfolgreiche gemeinsame Zukunft
in unserem Land ist groß. Vom Erfolg aller sollen alle
sozial gerecht profitieren – heute, aber auch morgen und
übermorgen. Deshalb müssen wir heute die Saat legen
für den Wohlstand von morgen und für nachhaltiges und
dauerhaftes Wachstum auch für die nächsten Jahrzehnte.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Heute dürfen wir selbstbewusst feststellen: Die An-
strengung zahlt sich aus. Deutschland ist auf einem gu-
ten Weg. Die Bundesregierung der Großen Koalition ist
fest entschlossen, zum Nutzen unseres Landes und sei-
ner Menschen diesen Weg zu gehen, auch wenn es an-
strengend ist – und es ist anstrengend; manchmal ma-
chen wir es uns unnötig anstrengend.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Franz Müntefering

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Weg zu Wachs-
tum, Teilhabe und Wohlstand heißt auch und zuvorderst
„mehr und gute Arbeit“; denn Arbeit ist sinnstiftend für
jeden Menschen. Sie ist die Bedingung für Wohlstand,
der gemeinsam erwirtschaftet wird. Deshalb bleiben der
Kampf für mehr und gute Arbeit und die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit herausragende Ziele dieser Bun-
desregierung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Mehr Arbeit ist möglich. Deutschland ist wettbe-
werbsfähig. Dazu tragen wir bei, und das werden wir
auch weiter tun. Deutschland hat noch mehr Arbeit, die
auch mobilisiert werden muss. Ein paar Beispiele:

Dienst Mensch am Mensch. Wir haben in Meseberg
beschlossen, dass die Gesundheitsministerin ein Kon-
zept zu der Idee „Dienst Mensch am Mensch“ im
Bereich Pflege vorlegt. Da gibt es gerade in einer älter
werdenden Generation, in einer älter werdenden Gesell-
schaft viele Aufgaben, große Bedarfe und große Chan-
cen. Das Gesundheitswesen einschließlich des ganzen
Pflegebereichs ist, wenn man so will, die größte Bran-
che, die wir in dieser Gesellschaft haben. Da wird es Ar-
beitsplätze und noch mehr Arbeitsplätze geben als bis-
her. Wir müssen dieses ganze System nicht nur begreifen
als etwas, worüber wir sprechen, wie wir Geld sparen
wollen. Das Gesundheitswesen und das Pflegewesen
sind nicht dann am besten, wenn wir möglichst wenig
ausgeben, sondern wenn die Menschen, die darauf ange-
wiesen sind, etwas davon haben. Das dürfen wir bei all
dem, was wir tun, nicht aus den Augen verlieren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Zweites Beispiel: Haushalt. Dass es da Möglichkeiten
gibt, mehr und legale und sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung zu organisieren, das zeigt uns zum Bei-
spiel unser Nachbar Frankreich. Dienstleistungen im pri-
vaten Bereich müssen so weit wie möglich aus dem
Nebel der Schwarzarbeit herausgeholt und geordnet
werden. 2008 werden wir aktiv werden: Haushalt als
Auftraggeber – das wollen wir stärker systematisieren
und damit zusätzliche Impulse setzen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Drittes Beispiel: Infrastruktur. Gerade bei der Infra-
struktur leben wir an vielen Stellen von der Substanz;
das ist vielen nicht bewusst. Das gilt ganz besonders für
den kommunalen Bereich, bei Gebäuden, Wegen und
Kanälen. Wir geben deutlich weniger für diesen Bereich
aus als Anfang der 90er-Jahre. Damals waren es 2,8 Pro-
zent unseres BIP, heute sind es 1,4. Die Gemeinden zum
Beispiel geben aktuell nur 18 Milliarden Euro im Jahr
aus. Wir bräuchten aber das Doppelte oder Vierfache.
Wenn wir heute nicht reparieren und instandsetzen, wird
es morgen oder übermorgen um ein Vielfaches teurer.
Deshalb müssen wir in die Infrastruktur des Landes in-
vestieren. Diese Infrastruktur ist ein Gut, eine Bedin-
gung dafür, dass wir Hochleistungsland und Wohlstands-
land bleiben können. Wir, Bund, Länder und Gemeinden
– ich nenne die beiden Letztgenannten ganz ausdrück-
lich –, müssen den Mut haben, die Arbeitsplätze, die es
gibt, zu heben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir haben zu Beginn der Koalition das 25-Milliarden-
Programm vereinbart. Das setzt sich fort. Das führt dazu,
dass wir in diesem und in den kommenden Jahren stabil
9,1 Milliarden Euro für Investitionen des Bundes im
Verkehrswesen zur Verfügung haben.

Viertes Beispiel: energetische Gebäudesanierung.
Sie ist von besonderem Gewicht und ein Gewinn in drei-
facher Hinsicht: Energetische Gebäudesanierung bringt
Arbeitsplätze vor Ort, bei den kleinen und mittleren Un-
ternehmen; sie ist gut für den Klimaschutz, und sie
amortisiert sich in fünf bis zehn Jahren; denn die Ener-
giepreise werden nie wieder so niedrig sein, wie sie mal
gewesen sind. Wir müssen diese Linie der energetischen
Gebäudesanierung fortsetzen. Wir müssen das intensi-
vieren. Wir müssen die Chance nutzen, mit Umweltthe-
men, mit einer vernünftigen Klimapolitik Arbeitsplätze
zu schaffen. Das ist eine alte Idee, die so aktuell ist, wie
sie nur sein kann. Heute wissen wir alle: Wer vernünf-
tige Umweltpolitik, wer vernünftige Klimapolitik macht,
muss deshalb nicht in die Zeit der Sandalen und langen
Locken zurückfallen, sondern kann das im Wohlstands-
leben aller tun.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nichts gegen Sandalen!)


– Zwischenfragen sind zwar nicht erlaubt, Zwischenrufe
von mir aus aber schon. Ihr seht ja heute auch alle ge-
pflegt aus. Das ist mit euch alles anders geworden.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir Hochleis-
tungsland sein wollen – und das wollen wir –, dann müs-
sen wir Hochbildungsland sein. Wir haben in den ver-
gangenen Tagen zur Kenntnis nehmen dürfen, dass die
Nobelpreise für Physik und Chemie an Deutsche verge-
ben worden sind. Von hier aus meinen und sicherlich Ih-
rer aller Glückwunsch an die Professoren Grünberg und
Ertl.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind stolz auf die beiden. Und natürlich: Schönen
Gruß an all die jungen Grünbergs und Ertls: Macht
voran! Wir möchten, dass ihr in zehn oder 20 Jahren
auch die Nobelpreise bekommt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und jetzt noch Glückwünsche an die Frauennationalmannschaft!)


– Das kommt dazu.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Franz Müntefering
Bildung ist unser Schicksal. Bildung ist die entschei-
dende Bedingung, damit wir Wohlstandsland bleiben
können. Deutschland muss die Zahl der Schulabbrecher
deutlich reduzieren und die Zahl der Studenten deutlich
erhöhen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Und insbesondere den Kindern mit Migrationshinter-
grund müssen wir ein ehrliches und wirksames Angebot
machen.

Ich habe einen Bürgerbrief bekommen, der sich, weil
er kurz ist, zum Zitieren eignet:

Meine Enkelin Claudia besuchte mich mit Freund
Fabio.

So schreibt mir diese Frau.

Fabio stellte sich vor: Schweizer, in Sizilien gebo-
ren, fünfjährig mit den Eltern in die Schweiz einge-
wandert, kam in die Schule. Der Lehrer stellte
Sprachschwierigkeiten fest. Da bekam Fabio zwei
Jahre Einzelunterricht in Deutsch auf Staatskosten,
machte Abi und studierte.

Die Briefschreiberin fragt abschließend:

Wie viele deutsche Ingenieure hätten wir mehr,
wenn wir unsere Immigrantenkinder vergleichbar
förderten?


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist eine sehr berechtigte und sehr nachdenklich ma-
chende Frage, eine Frage, die den Finger in die Wunde
legt.

Das gilt auch für Ausbildung. Eine gute Ausbildung
ist noch immer der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit.
Der Ausbildungsmarkt ist erfolgreich. Zum Beginn des
Ausbildungsjahres sind bundesweit bislang 530 700 Aus-
bildungsverträge abgeschlossen worden. Aber rund
29 000 Jugendliche sind noch unversorgt. Im letzten Jahr
um diese Zeit waren es noch knapp 50 000. Das beweist:
Es ist besser geworden. Aber trotzdem gilt auch in die-
sem Jahr, dass wir jetzt alle Anstrengungen in die Nach-
vermittlungen legen müssen, und zwar gemeinsam: Poli-
tik, Betriebe und Sozialpartner. Die 40 000 Plätze für
Einstiegsqualifizierung, die die Bundesregierung fördert,
werden dabei entscheidend mithelfen, so wie das Pro-
gramm „U 25“ und der neue Qualifizierungskombi, der
rückwirkend am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft tritt.

Ein weiteres wichtiges Element haben die Koalitions-
fraktionen mit dem Konzept „Jugend, Ausbildung und
Arbeit“ eingebracht. Wir haben in Meseberg verabredet,
dass wir die Prüfung sehr bald abschließen werden und
schauen, was wir in den Bereichen Ausbildungsbonus
für überdurchschnittlich ausbildende Betriebe, Ausbil-
dungskostenzuschüsse für die Ausbildung bestimmter
Gruppen von benachteiligten Altbewerbern, Einsatz von
Ausbildungspaten und Verstärkung der personellen Res-
sourcen der Berufsberatung umsetzen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im September war
die Arbeitslosigkeit in Deutschland so niedrig wie seit
zwölf Jahren nicht mehr: 1 Million arbeitslose Men-
schen weniger als vor zwei Jahren, 694 000 weniger als
vor einem Jahr. Bei den über 50-Jährigen sind 191 000
weniger arbeitslos – das sind 17,4 Prozent – als vor ei-
nem Jahr. Bei den unter 25-Jährigen sind 103 000 weni-
ger arbeitslos – das sind 19,6 Prozent – als vor einem
Jahr. Dazu kommen 1 Million offene Stellen. Wann kön-
nen wir in Deutschland eigentlich von einem Erfolg der
politischen Arbeit sprechen, wenn nicht an dieser Stelle?


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Erfolge sind überall vorhanden, aber sie verteilen sich
regional noch sehr unterschiedlich, dramatisch unter-
schiedlich. Der Kreis Eichstätt meldet mit 1,8 Prozent
Arbeitslosigkeit de facto Vollbeschäftigung, während am
anderen Ende der Skala die Stadt Görlitz mit
21,6 Prozent eine Arbeitslosigkeit aufweist, die deutlich
macht: Wir haben das Ziel „Arbeit für alle“ noch lange
nicht erreicht. Deswegen werbe ich für einen Kommu-
nalkombi, um in Regionen mit besonders verfestigter
Langzeitarbeitslosigkeit mehr Chancen auf Arbeit zu er-
öffnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen in dieser Situation in Deutschland den Weg
finden, denen, die aus der Geschichte heraus in ganz be-
sonderer Weise Schwierigkeiten haben, am Arbeitsmarkt
Arbeit zu finden, besondere Hilfe zu geben. Wir müssen
diese Situation des Landes nutzen – 1 Million offene
Stellen –, dafür zu werben, dass sich strukturell etwas
verändert. Ein Unterschied von 20 Prozent zwischen
Eichstätt und Görlitz darf nicht bleiben. Dafür müssen
wir miteinander streiten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich bin gegen Schönmalerei. Ich werbe für Realis-
mus. Aber ich bin gegen die Propheten des Depressiven,
die mir immer noch zu oft begegnen


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und die eines auf jeden Fall nicht sind, nämlich ins Ge-
lingen verliebt. Das muss man aber sein, wenn es gelin-
gen soll.

Dieser Tage, am 4. Oktober, las ich in einer ddp-Ti-
ckermeldung über die Arbeitslosigkeit in der Gruppe
der Älteren, von einer wichtigen Person veranlasst:

Nach wie vor würden jeden Monat rund 100 000 äl-
tere Menschen über 50 Jahre arbeitslos, seit Jahres-
beginn seien es eine Million Menschen. Es seien
auch kaum mehr Menschen über 50 als früher, die
wieder einen Job erhielten. Und viele davon fänden
nur kurzfristige Beschäftigung oder Leiharbeit.
Hier gebe es dringenden Handlungsbedarf …

Richtig ist: Im September gab es mehr als 102 000 Zu-
gänge aus der Generation 50 plus in Arbeitslosigkeit.
Es gab aber im September auch 141 000 Abgänge von
„50-Plus-ern“ aus der Arbeitslosigkeit heraus.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Franz Müntefering

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Seit Anfang 2007 stehen 1 004 000 Zugänge von
„50-Plus-ern“ in Arbeitslosigkeit 1,235 Millionen neuen
Stellen gegenüber, die von über 50-Jährigen besetzt wur-
den: über 230 000 neue Chancen und Perspektiven.

Wenn man solche Darstellungen in solchen Meldun-
gen liest, in denen die 100 000 minus genannt werden,
aber die 140 000 plus nicht, dann kann einen schon der
heilige Zorn packen. Von bewusster Täuschung ist das
nicht ganz weit entfernt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Insgesamt haben wir im zweiten Quartal 2007 eine
Beschäftigungsquote von 52 Prozent bei den über 55-Jäh-
rigen. Das waren 1968, als Rot-Grün begann, 37,7 Pro-
zent.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1968? Da war ich erst 12!)


– 1998. Habe ich etwas Falsches gesagt?


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, 1968!)


– 1998. Ich habe das Gefühl, das ist schon lange her; da-
her kommt das vielleicht bei mir.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)


1998 waren es also 37,7 Prozent. Im zweiten Quartal
dieses Jahres sind es 52 Prozent. Jetzt sage ich noch eine
Zahl, weil ich mir das gestern noch einmal differenziert
habe heraussuchen lassen: Bei den 55- bis 59-Jährigen
liegt der Anteil jetzt bei 67,2 Prozent. Über zwei Drittel
der 55- bis 59-Jährigen sind wieder in Beschäftigung.
Mit Verlaub, darauf dürfen wir alle miteinander stolz
sein. Das ist eine gute Entwicklung.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Mese-
berg nicht nur Akzente für mehr Arbeit, sondern auch
für gute Arbeit gesetzt. Wir haben in der Koalition eine
schwierige, aber doch Einigung über zwei Instrumente
erzielt, um Lohndumping und Dumpinglöhne zu verhin-
dern: erstens das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Wir
verändern das Entsendegesetz und werden nächstes Jahr
allen Branchen, die die Voraussetzungen erfüllen, hier
einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn ermöglichen.


(Zuruf von der LINKEN: Was ist mit der Post?)


Zweitens aktualisieren wir das Mindestarbeitsbedingun-
gengesetz, um auch diejenigen Branchen für Mindest-
lohnregelungen zu erreichen, in denen die Tarifbindung
unter 50 Prozent liegt und die deshalb nicht ins Entsen-
degesetz aufgenommen werden können. Auch das pas-
siert in 2008. Darauf haben wir uns in der Koalition ge-
einigt; das setzen wir um.

Noch in diesem Jahr nehmen wir zu alten Bedingun-
gen nach bisherigem Modus den Bereich Briefdienste
ins Entsendegesetz auf.

(Beifall bei der SPD)


Die Tarifparteien haben sich auf einen Tarifvertrag geei-
nigt und den Antrag auf Aufnahme ins Gesetz und auf
Allgemeinverbindlichkeit für ihren Tarifvertrag gestellt.
Wir gehen die Umsetzung und die Aufnahme ins Arbeit-
nehmer-Entsendegesetz jetzt zügig an, sodass bis zum
Neujahrstag zeitgleich mit dem Ende des Briefmonopols
in Deutschland ein allgemeinverbindlicher Mindestlohn
für Briefdienste möglich ist. Ich möchte das.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, Ziel von Mindestlohnrege-
lungen ist es, zu verhindern, dass mit Dumpinglöhnen
Menschen unwürdig behandelt werden und mit Lohn-
dumping ehrliche und faire Unternehmer in die Knie
konkurriert werden.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu guter Arbeit ge-
hört, dass wir im Bundesministerium für Arbeit und So-
ziales an einem Konzept zur Humanisierung der Arbeits-
welt arbeiten. Auch das haben wir in Meseberg noch
einmal miteinander vereinbart. Da geht es um Präven-
tion, um Gesundheitsschutz, um alters- und alternsge-
rechte Arbeit, um Möglichkeiten zur Qualifizierung, um
familiengerechte Arbeitswelt. Außerdem haben wir in
Meseberg vereinbart, dass wir analysieren und prüfen,
was im Bereich Zeitarbeit geschieht. Die Zeitarbeit hat
sich inzwischen zu einer soliden und seriösen Branche
entwickelt. Das ist gut, und das soll auch so bleiben. Da-
bei wollen wir sie stützen und stabilisieren.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Aber wir müssen prüfen, ob die Methode Zeitarbeit
überall so ausgestaltet ist, wie wir uns das vorgestellt ha-
ben.


(Beifall bei der SPD)


Zeitarbeit darf nicht dazu führen, dass Belegschaften
ausgegliedert und dann drei Tarifstufen niedriger wieder
zurückgeholt werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Lachen bei der LINKEN)


Zeitarbeit soll nicht zu Dauerarbeit werden und schon
gar nicht zum Zweck willkürlich herbeigeführter niedri-
ger Löhne.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kornelia Möller [DIE LINKE]: Dafür habt ihr aber gesorgt!)


Wir werden uns dazu melden.

Meine Damen und Herren, gute Arbeit, das heißt
auch: Chancen zur Weiterbildung und Weiterqualifi-
zierung. Hier ist Deutschland Entwicklungsland.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Allerdings!)


Hier sind wir eindeutig nicht auf der Höhe der Zeit. Uns
fehlen in Deutschland nachweisbar Maschinenbau- und






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Franz Müntefering
Elektroingenieure. Dazu haben wir in Meseberg drei
Punkte beschlossen:

Erstens und zuvorderst wollen wir das eigene Poten-
zial nutzen. Das heißt, wir müssen alle Menschen, die le-
gal in Deutschland sind, bilden, ausbilden und qualifizie-
ren. Das, was wir an Potenzial haben, sind die
Menschen. Wir brauchen sie. Mit ihnen müssen wir die
Aufgaben, die wir in diesem Land zu erfüllen haben, er-
füllen. Das ist die erste Bedingung in diesem Zusam-
menhang.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Kurzfristig, zum 1. November, öffnen wir zweitens
den Arbeitsmarkt für Maschinenbau- und Elektroinge-
nieure aus den zwölf neuen EU-Mitgliedstaaten. Für sie
wird das Prinzip der Nachrangigkeit am deutschen Ar-
beitsmarkt aufgehoben. Ausländische Studenten haben
nach Abschluss ihres Studiums wie bisher ein Jahr Zeit,
Arbeit zu finden. Neu ist: Auch für sie entfällt das Prin-
zip der Nachrangigkeit.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Das heißt, sie können sich gleichrangig am deutschen
Arbeitsmarkt bewegen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Drittens. Wir wollen eine arbeitsmarktadäquate Steu-
erung der Zuwanderung hochqualifizierter Fachkräfte
vorsehen. Die Bundesregierung wird ein Konzept zur
Zuwanderung entwickeln, das den Interessen unseres
Landes auch in der nächsten Dekade Rechnung trägt.
Bei der Erarbeitung dieses Konzepts sollen quantitative
und qualitative Instrumente geprüft und die Erfahrungen
anderer Länder bei der arbeitsmarktbezogenen Steue-
rung der Zuwanderung einbezogen werden. Es geht um
eine arbeitsmarktadäquate Arbeitsmigration. Aber ich
sage noch einmal: Zuerst sind die zu qualifizieren, die in
unserem Lande sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist ein
reiches Land. Dennoch gibt es Armut. Gegen existenz-
gefährdende Armut haben wir verlässliche Solidar-
und Grundsicherungssysteme.


(Zuruf von der LINKEN: Mindestlohn!)


Das Arbeitslosengeld II und die Sozialhilfe decken das
Existenzminimum ab.


(Zuruf von der LINKEN: Sagen Sie!)


Ob das noch so ist und ob die Anpassungsmechanismen
richtig funktionieren, überprüfen wir gerade. Im Novem-
ber werden wir valide Zahlen vom Statistischen Bundes-
amt vorliegen haben. Und dann wird die Bundesregie-
rung sehr rasch entscheiden, ob und wie reagiert werden
kann.

Wir haben in Meseberg ein weiteres aktives Instru-
ment zur Armutsbekämpfung und zur Arbeitsschaffung
angepeilt. Wir arbeiten aktuell an einem Gesamtkonzept,
das einen Bonus für Arbeit, den Erwerbstätigenzuschuss,
mit dem bewährten und zu erweiternden Instrument des
Kinderzuschlags verbindet. Mit diesem neuen Instru-
ment wollen wir Erwerbstätige, die vollbeschäftigt oder
nahe daran sind, aber mit ihrem Arbeitseinkommen nicht
das Existenzminimum erreichen, möglichst vor Hilfebe-
dürftigkeit schützen. Sie fallen dann nicht mehr unter die
Vermögensprüfung nach dem SGB II.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nach unseren bisherigen Berechnungen könnten wir mit
diesem Instrument auch mehrere Hunderttausend Kinder
aus der Hilfebedürftigkeit herausholen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Armutsbe-
kämpfung haben wir vor allem die Kinder im Blick. Wir
wollen und werden vom Interesse des Kindes her den-
ken.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Aus materieller Armut darf keine Chancenarmut wer-
den,


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


keine Armut an Bildung, keine Armut an Gesundheit
und keine Armut an Teilhabe. Aber das passiert heute
oft. Gleiche Chancen auf Bildung, Ausbildung und Ar-
beit zu organisieren, das ist und bleibt der Schlüssel, um
Armut nachhaltig zu bekämpfen und ihr dauerhaft vor-
zubeugen. Hier haben wir eine große Verantwortung.
Alle stehen in dieser Verantwortung: Bund, Länder und
Gemeinden. Wir dürfen nicht an der falschen Stelle spa-
ren. Das, was wir jetzt in die Kinder und Jugendlichen
und in die Chancengerechtigkeit investieren, ist sehr gut
angelegtes Geld, auch für die Zukunft unseres Landes.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Vom Interesse des Kindes her zu denken, das führt
nach meiner Überzeugung auch dazu, dass wir die Hilfe
anders organisieren müssen als nur über direkte Geld-
leistungen. Niedrige Kitagebühren, ein gesundes Mittag-
essen in Kita oder Schule und spezielle Unterstützung
bei der Einschulung, das könnten Hilfen sein, die direkt
bei den Kindern ankommen, die diese direkten Hilfen
ganz besonders brauchen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Armut zu bekämpfen und Teilhabe zu sichern, das
sind unsere Ziele in Deutschland, aber darüber hinaus
auch in der Europäischen Union und in der Welt. Auch
hier ist die Bundesregierung mit ihrer Politik aktiv. Wäh-
rend unserer EU-Ratspräsidentschaft haben wir das
Soziale in Europa sichtbarer gemacht und das europäi-
sche Sozialmodell gestärkt. Daran knüpfen wir in der
Teampräsidentschaft mit Portugal und Slowenien an.
Deshalb habe ich in dieser Woche in Lissabon einen Vor-
stoß gemacht zur Ergänzung der integrierten Leitlinien,
der Lissaboner Leitlinien, die im nächsten Jahr fortge-
schrieben werden. Es soll in der Beschäftigungsleitlinie
um die Bekämpfung von Armut bei Familien und Kin-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Franz Müntefering
dern und um den Anspruch auf faire, gerechte Löhne ge-
hen. Es gab dafür viel Zustimmung von den europäi-
schen Partnern und Kommissionsvertretern. Wir werden
auch international den Prozess von Heiligendamm fort-
setzen; auch das haben wir in Meseberg vereinbart.

Wir werden von hier aus nicht alle Probleme der Welt
lösen können; aber wir können und wir wollen mithel-
fen, dass soziale Kohärenz im Handeln der großen inter-
nationalen Organisationen wie UNO, ILO, WTO, IWF
und Weltbank gestärkt wird und Mechanismen für die
soziale Gestaltung der Globalisierung vorankommen.
Denn das ist klar: Das Soziale ist Wachstums- und Stabi-
litätsfaktor – bei uns im Land, in Europa und in der Welt.
Deswegen liegt für Deutschland – Exportweltmeister,
der wir sind – die soziale Gestaltung, auch die soziale
Gestaltung der Welt, im wohlverstandenen eigenen Inte-
resse.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Deshalb engagieren wir uns – die Bundeskanzlerin, der
Außenminister, der Wirtschaftsminister, alle, die wir in
diesem Kabinett, in dieser Bundesregierung unterwegs
sind – in Europa und darüber hinaus auch für diesen
Aspekt. Wenn wir über die Zukunftsfähigkeit von Arbeit
und Sozialem in Deutschland sprechen, müssen wir wis-
sen: Das verbindet sich aufs Engste mit der Frage, wie es
denn in Europa und darüber hinaus in dieser Welt weiter-
geht. Wir wollen als reiches Land unseren Teil dazu bei-
tragen, dass Armut in der Welt, soweit es denn nur mög-
lich ist, bekämpft wird. Dass die soziale Dimension
bleibt, dass das Ökonomische und das Ökologische – das
ist wichtig – um das Soziale ergänzt werden und dass
daraus eine vernünftige, kohärente soziale Politik wird
– nicht nur in Deutschland, sondern auch darüber hinaus –,
dafür wollen wir in dieser Bundesregierung unseren Bei-
trag leisten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, unsere
schöne Hauptstadt Berlin und ihre Menschen sind für
eine gewisse Sprödigkeit bekannt. In Berlin heißt das
höchste Lob: Da kannste echt nich meckern!


(Heiterkeit)


Über Sinnhaftigkeit und Leistung dieser Großen Koali-
tion wird seit ihrem Bestehen viel sinniert und viel ge-
deutet, meistens skeptisch. Ich sage Ihnen voraus: Wenn
es die Große Koalition einmal nicht mehr geben wird
– irgendwann in 17 500 Stunden oder so ähnlich –,


(Heiterkeit der Abg. Elke Ferner [SPD])


werden sich viele im Land umsehen und werden, wenn
sie die Leistungen der Großen Koalition bewerten, sa-
gen: Da kannste echt nich meckern!


(Langanhaltender Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611800100

Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort erhält zunächst der Kollege Dirk Niebel für
die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1611800200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Bundesarbeitsminister hat eben eine interes-
sante Rede gehalten,


(Zuruf von der SPD: Eine gute!)


die über weite Strecken sogar als launige Rede bezeich-
net werden kann.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Er hat auch allen Grund dazu!)


Er hat Dinge gesagt, denen ich nicht zustimme. Er hat
Dinge gesagt, denen ich zustimme. Er hat völlig zu
Recht das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land gelobt. Er hat völlig zu Recht die Leis-
tungsfähigkeit vieler Menschen in diesem Land gelobt.
Ich glaube, bei diesem Lob hat er einzig die Damen-Fuß-
ballnationalmannschaft vergessen, die ich jetzt aus-
drücklich beglückwünschen möchte.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus Brandner [SPD]: Das haben die Grünen schon getan! Da kommen Sie zu spät!)


Besonders interessant an der Rede des Vizekanzlers und
Arbeitsministers war aber, dass er offenkundig weder
Kraft noch Mut hat, das arbeitsmarktpolitisch inte-
ressanteste Thema in der öffentlichen Diskussion hier
konkret anzusprechen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands hat einen Stein ins Wasser geworfen. Statt
der geneigten Öffentlichkeit vom Platz des Ministerprä-
sidenten von Rheinland-Pfalz auf der Bundesratsbank
aus zu erklären, was er für die Zukunft Deutschlands und
den Arbeitsmarkt möchte, sieht er vom spanischen Ba-
destrand zu, wie sich die Wellen auf den Arbeitsminister
zu bewegen und sie ihn auf lange Frist wahrscheinlich
wegspülen werden.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Das, was Sie machen, ist nur primitiv! Jeder hat Anspruch auf Urlaub, Herr Niebel!)


Die Agenda 2010 wurde von den Sozialdemokraten
noch bis vor kurzem als Auslöser für den Schröder-Auf-
schwung gelobt. Mittlerweile schämen Sie sich um die
Wette. Es stellt sich die Frage, ob sich diese Krise der
SPD – ich sage den Sozialdemokraten in Union und
SPD: den Linksaußen werdet ihr nicht nachlaufen kön-
nen; sie sind schon so lange unterwegs, dass ihr sie nie
überholen könnt –


(Beifall des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])







(A) (C)



(B) (D)


Dirk Niebel
zu einer Krise der Bundesregierung entwickelt. Das steht
zu befürchten und wäre schlecht für die Menschen in
Deutschland.


(Beifall bei der FDP)


Um das beurteilen zu können, müssen wir einmal in
Ruhe betrachten, was die Führungsreserve der SPD im
Kabinett von Frau Merkel tut. Sigmar Gabriel taucht in
seiner uns bekannten Bescheidenheit ab und sagt gar
nichts. Er versteckt sich quasi unter dem Stein. Da wir
schon bei den Steinen sind: Wir stellen fest, dass auf-
grund der unklaren Aussagen in dieser innerparteilichen
Diskussion, durch die eine Regierungskrise ausgelöst
werden kann, der Wunsch, ein Parteiamt zu bekommen,
sehr ausgeprägt sein muss. Herr Steinbrück gibt den Mo-
derator. Herr Steinmeier ist genauso klar wie eine
Sphinx.

Der Arbeitsminister wird alleine gelassen, obwohl er
inhaltlich ausnahmsweise einmal recht hat; denn die Ar-
beitslosigkeit ist gerade bei den älteren Menschen über-
proportional zurückgegangen. Alle Forschungsinstitute
sagen, dies habe einen ursächlichen Zusammenhang mit
der Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I.


(Beifall bei der FDP)


Am 11. November 2006 hat Kurt Beck in der Süd-
deutschen Zeitung gesagt – ich zitiere –:

Unser Anspruch muss sein, alles zu tun, damit
Menschen schnell wieder Arbeit bekommen, und
nicht, dass sie etwas länger und etwas besser in der
Arbeitslosigkeit leben können. Wir wissen: Je län-
ger jemand draußen ist, desto schwerer hat er es,
wieder reinzukommen.

Diesen Teufelskreis mussten wir durchbrechen.
Wer das jetzt wieder rückgängig macht, begeht ei-
nen schweren Fehler.

Damals, am 11. November, hatte er noch recht.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ja, am 11. 11.!)


Jetzt macht er eine Rolle rückwärts und lässt den Ar-
beitsminister im Regen stehen, obwohl der Rückgang
bei den älteren Arbeitslosen mit 4,7 Prozent überpro-
portional war und obwohl – dies hat der Minister selbst
gesagt – die Beschäftigungsquote der über 50-Jährigen
deutlich auf 52 Prozent gestiegen ist, was zwar immer
noch viel zu wenig ist, aber immerhin. Die Höhe des An-
spruchs aus der Arbeitslosenversicherung bemisst sich
nach dem Nettolohn. Je länger man arbeitslos ist, desto
geringer ist die Chance, dieses Nettolohnniveau wieder
zu erreichen. Also ist es folgerichtig, die Leistungsdauer
möglichst weitgehend auszuschöpfen.

Das ist wirtschaftlich völlig nachvollziehbar; poli-
tisch muss es aber verhindert werden. Das hat die vorhe-
rige Regierung getan. Dies geschah völlig zu Recht auch
mit den Stimmen dieses Hauses. Wir dringen darauf,
dass nicht der Fehler begangen wird, in die alte Politik
zurückzufallen. Nach nur einem Jahr des wirtschaftli-
chen Aufschwungs werden die gleichen Fehler der letz-
ten Jahrzehnte begangen, mit dem Ergebnis, dass Men-
schen ausgegrenzt und ihnen die Teilhabechancen in
diesem Land genommen werden. Das ist falsch.


(Beifall bei der FDP)


Sie, geehrte Frau Bundeskanzlerin – wir sehen, dass
Sie vorübergehend im Land sind –, finden im Ausland
völlig zu Recht viele gute und sehr deutliche Worte. Im
Inland glänzen Sie durch Schweigen. Frau Bundeskanz-
lerin, bei den wichtigsten Themen, die die Menschen in
diesem Land bewegen, führen Sie nicht. Es geht um die
Chance, einen Arbeitsplatz zu haben. Nicht die Höhe
oder Dauer irgendeiner Transferleistung, sondern die
Möglichkeit, sich als mündiger Bürger seinen Lebensun-
terhalt selbst zu erwirtschaften, ist sozial gerecht. Ihre
Aufgabe ist es, deutlich zu machen, was diese Regierung
hierzu erreichen will.


(Beifall bei der FDP)


Die Frage, was gerecht ist oder nicht, beantwortet
man nicht mit der Feststellung, dass man 12, 18 oder
24 Monate lang eine Versicherungsleistung erhält. Die
Frage, was gerecht ist, kann man bei dem Systemwech-
sel vom Versicherungssystem in das Fürsorgesystem
stellen. Man darf und muss vielleicht sogar darüber strei-
ten, ob es gerecht ist, dass derjenige, der sein Geld ver-
lebt hat, sofort Arbeitslosengeld II, also die Unterstüt-
zung der Allgemeinheit, erhält, während derjenige, der
Vorsorge betrieben hat, erst einmal einen Großteil seiner
Lebensleistung einbringen muss. Darüber kann man un-
ter der Überschrift „Gerechtigkeit“ diskutieren.


(Beifall bei der FDP)


Was Sie, meine Damen und Herren Genossen von der
SPD, machen, ist purer Populismus. Sie können sich
auch nicht hinter Umfragen verstecken, wonach
80 Prozent der Bevölkerung Ihr Vorhaben toll finden.
Bieten Sie Freibier an, und Sie werden die gleichen Er-
gebnisse bekommen, weil alle, die kostenfrei trinken
können, das gut finden.

Sie müssen sich darüber klar werden, ob Sie regieren
oder opponieren wollen. Ich verstehe, dass Kurt Beck,
wenn er Kanzler werden möchte, Optionen eröffnen
muss. Seit Juni dieses Jahres sieht kein Umfrageinstitut
in Deutschland eine auch nur rechnerische Mehrheit für
eine sogenannte Ampel, abgesehen davon, dass wir bei
einer solchen nicht mitmachen würden. Deswegen muss
sich Kurt Beck, wenn er einmal Kanzler werden will,
Optionen eröffnen. Aber damit stärkt er diejenigen am
linken Rand, die ohnehin nicht mehr links überholt wer-
den können; dort werden sich nämlich diejenigen sam-
meln, die von Kurt Beck in die Arme der Kommunisten
getrieben werden.


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Das ist Ihr strategischer Fehler. Das sollten Sie wissen
– das sollte auch die Union wissen – und bei den politi-
schen Schritten, die Sie jetzt einleiten, bedenken.


(Beifall bei der FDP)


Richtig wäre es, dafür zu sorgen, dass die Menschen
in der Mitte der Gesellschaft am Aufschwung beteiligt
werden. Die Bürger fragen völlig zu Recht: Wo ist mein






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Niebel
Aufschwung? Herr Steinbrück freut sich wie ein Schnee-
könig über Steuermehreinnahmen, vergisst dabei aber
regelmäßig, dass es die Bürgerinnen und Bürger sind,
die diese Steuern gezahlt haben. Die Entlastung der
Menschen ist das Entscheidende. Die Bundesagentur für
Arbeit sammelt Geld ein. Geben Sie es denen zurück, die
es bezahlt haben, also den Arbeitnehmern und Arbeitge-
bern! Der Anstaltsleiter in Nürnberg sagt, er habe Über-
schüsse in Höhe von 6,5 Milliarden Euro.


(Zuruf von der LINKEN: Warum denn?)


Geben Sie diese im Wege von Beitragssenkungen zu-
rück, damit die Menschen in der Mitte der Gesellschaft
Geld für Konsum haben,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Machen wir doch!)


die Betriebe Geld für Investitionen haben, Arbeit billiger
wird und damit die Chance auf einen Arbeitsplatz erhöht
wird und im Endeffekt die Arbeitslosigkeit sinkt. Das
wäre der richtige Weg!

Über die Arbeitslosenversicherung hinaus sagen Sie
kein einziges Wort zu notwendigen Reformen, was das
Arbeitsrecht, betriebliche Bündnisse für Arbeit, ein mo-
dernes Steuerrecht und ein modernes Transfersystem be-
trifft. Diese Regierungserklärung hat eines gezeigt: Sie
haben nichts außer den alten Konzepten, die schon in
den vergangenen Jahrzehnten nicht funktioniert haben.
Diese versuchen Sie bis zum nächsten Wahltermin
durchzusetzen. Das ist ein großer Fehler und ein Verlust
für die Menschen in Deutschland.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611800300

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Falk für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ilse Falk (CDU):
Rede ID: ID1611800400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

sei mir erlaubt, mit einem Zitat von Abtprimas Notker
Wolf zu beginnen, dessen Buch mit dem Titel „Worauf
warten wir noch?“ ganz oben auf den Bestsellerlisten
steht und offenbar den Nerv vieler Menschen trifft. Je-
denfalls gehe ich davon aus, dass die meisten es auch le-
sen und nicht nur verschenken. Ich zitiere den Anfang
des Kapitels mit der Überschrift „Gleichheit – eine deut-
sche Obsession?“:

Kann es sein, dass der Kommunismus gar nicht un-
tergegangen ist? Dass er sich in Wirklichkeit … nur
unsichtbar gemacht hat, um unangefochten zu herr-
schen? Dass er diesmal durch die Hintertür gekom-
men ist und sich unter dem Pseudonym „soziale
Gerechtigkeit“ bei uns eingeschmeichelt hat? Oder
gibt es eine andere Erklärung dafür, dass wir Ge-
rechtigkeit und Gleichheit nicht mehr auseinander-
halten?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte der
letzten Zeit ist wesentlich von den Themen soziale Ge-
rechtigkeit, gleichberechtigte Teilhabe, Bekämpfung von
Armut und Anerkennung von Lebensleistung geprägt,
um nur die am häufigsten genannten zu nennen. Positiv
besetzt sind eigentlich alle. Dennoch sind sie inzwischen
zu wahren Kampfbegriffen in der politischen Auseinan-
dersetzung geworden. Was den Bürgern und Bürgerin-
nen unter diesen Begriffen manchmal zu ihrem angeb-
lich Besten verkauft wird, entpuppt sich häufig als
Bevormundung und Gängelung – damit als Eingriff in
die Freiheitsrechte des Einzelnen –, bedeutet aber häufig
nicht mehr Gerechtigkeit und Teilhabe.

Einzelne oder organisierte Interessenvertreter sind als
Rattenfänger unterwegs, und wir Politiker starren wie
das Kaninchen auf die Schlange und trauen uns nicht
mehr, Zusammenhänge zu erklären und dem gesunden
Menschenverstand eine Chance zu geben, von großarti-
gen Ausnahmen, wie wir eben gehört haben, abgesehen.
Wir trauen uns auch nicht mehr, schlicht und ergreifend
Nein zu sagen, wenn es um die Befriedigung von immer
neuen Wünschen geht, statt Hilfe zur Selbsthilfe zu för-
dern und die Eigenkräfte zu stärken.

Kann unser Ziel wirklich eine Gleichmacherei aller
und die weitgehende Umverteilung des Erwirtschafteten
sein? Kann das ohne massives Eingreifen des Staates auf
Kosten der Freiheit seiner Bürger funktionieren? Haben
wir nicht schon viel zu lange die Bürger entmündigt und
ihnen vorgegaukelt, alles für sie regeln zu können? Wird
durch Gleichmacherei nicht die Vielfalt der Leistungs-
träger und damit das Herzstück unserer Gesellschaft be-
schnitten?

Entscheidend und ein Gebot sozialer Gerechtigkeit ist
es, gleiche Chancen für alle Menschen zu schaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jeder Mensch hat Begabungen und Fähigkeiten, die er
einbringen kann, soll und in aller Regel auch möchte.
Diese zur Entfaltung zu bringen, ist die eigentliche He-
rausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft.

Natürlich hat auch der Staat die Verpflichtung, soziale
Verantwortung zu übernehmen und denen Sicherheit zu
geben, die sich selbst nicht helfen können, sei es, weil
sie vorübergehend oder dauerhaft in ihrer Leistungsfä-
higkeit eingeschränkt sind. Sie bedürfen der Solidarität
der Gemeinschaft, aber auch der des Staates. Dabei geht
es um materielle und praktische Unterstützung im tägli-
chen Leben, gute gesundheitliche Vorsorge und Versor-
gung, gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben und Unterstützung bei der Eingliederung in den
Arbeitsmarkt.

Gesellschaftliche Teilhabe bedarf des Zusammen-
spiels vieler Kräfte. In diesem Zusammenhang sind die
starke Familie zu nennen, die funktionierende Nachbar-
schaft, die schon erwähnten Ehrenamtlichen, aber auch
Arbeitgeber und Institutionen wie die Kirchen, Gewerk-
schaften, Wohlfahrtsverbände und freien Träger. Sie alle
– oder besser: wir alle – stehen an erster Stelle in der
Verantwortung füreinander, und erst dann kommt der
Staat,






(A) (C)



(B) (D)


Ilse Falk

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


jedenfalls dann, wenn sich alle Genannten nicht nur der
Verantwortung bewusst sind, sondern sie auch tatsäch-
lich wahrnehmen. An dieser Stelle wird es manchmal
ganz schön brüchig. Wir alle kennen versagende Fami-
lien und Unternehmer, die Ausgrenzung von Unbeque-
men und die Verweigerung von selbstverständlichen
Pflichten. Glücklicherweise gibt es aber auch großartige
Beispiele für Aktivität, Kreativität, Fürsorge im besten
menschlichen Sinn wahrgenommener Unternehmensver-
antwortung und gelebter Nächstenliebe. Dadurch fällt es
leicht, auf den allumsorgenden Staat zu verzichten und
ihn auf seine originären Aufgaben zu verweisen. Das
heißt, runter mit den Sozialausgaben und rauf mit Quali-
fizierung und Investitionen. Das schafft Arbeitsplätze
und Wohlstand und bringt Menschen aus staatlicher Ab-
hängigkeit. Das ist sozial.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir können gerade jetzt an den Zahlen ablesen, wie
das Konzept „Investieren, sanieren, reformieren“ ver-
bunden mit der Idee des Förderns und Forderns Früchte
trägt und wir einen Aufschwung erleben, den noch vor
einem Jahr kaum einer für möglich gehalten hätte.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)


Ich will die Zahlen nicht wiederholen. Der Minister hat
sie in aller Ausführlichkeit genannt. Sie sprechen für
sich und sind eindrucksvoll: Hunderttausenden von
Menschen werden neue Chancen geboten.

Die Große Koalition hat mit ihrer Politik die Weichen
richtig gestellt. Aber – das will ich nicht unerwähnt las-
sen – der wirtschaftliche Aufschwung ist neben einer
günstigen weltwirtschaftlichen Lage in erster Linie den
vielen leistungsbereiten Menschen in unserem Land zu
verdanken. Wir freuen uns über diesen Aufschwung;
denn er ist die zwingende Voraussetzung für eine Teil-
habe auch der Schwächeren. Wir wollen, dass der Auf-
schwung bei allen ankommt. Es geht nicht um neue Ku-
schelecken, sondern um Teilhabe am Arbeitsmarkt und
die Chance, sein Einkommen selber zu erwirtschaften.
Das muss das Ziel sein. Das gilt auch für diejenigen, die
es besonders schwer haben. Das haben wir gestern in
eindrucksvoller Weise auf unserem Kongress erleben
können, bei dem es um die Teilhabe der Menschen mit
Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt ging. Dabei
wurde deutlich, wie viele gerne einen Arbeitsplatz auf
dem ersten Arbeitsmarkt hätten und sich anstrengen, um
dieses Ziel zu erreichen. So gut Werkstätten für Behin-
derte auch sind, so wichtig ist es, dass wir den Menschen
mit Behinderungen auch eine Chance auf dem ersten Ar-
beitsmarkt bieten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Höhere Steuereinnahmen und die verbesserte Situa-
tion der Sozialkassen dürfen uns nicht verführen, den
Pfad der Tugend zu verlassen. Die Devise muss weiter-
hin lauten: Arbeitskosten senken und die Wettbewerbs-
fähigkeit der Wirtschaft stärken, damit Arbeitsplätze ent-
stehen. Weil das so ist, hat für die Union die Senkung der
Beitragslast in der Arbeitslosenversicherung oberste Pri-
orität.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversiche-
rung auf 3,9 Prozent ist bereits vorgeschlagen. Wir sind
uns sicher, dass es bei der Verabschiedung des entspre-
chenden Gesetzentwurfs 3,5 Prozent sein werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das bedeutet bei einem Einkommen von 2 000 Euro eine
monatliche Ersparnis für Arbeitnehmer und Arbeitgeber
von jeweils 30 Euro, also von jeweils 360 Euro im Jahr.
Das ist doch schon was.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Richtig ist es ebenso, weitere Anreize zur Schaffung
von Arbeitsplätzen zu geben. Dafür Geld einzusetzen, ist
klug. Deshalb hat sich die Koalition vorgenommen, in
einem Bereich, der bisher eher stiefmütterlich behandelt
wurde, etwas zu tun, Stichwort „Haushalt als Arbeitge-
ber und Auftraggeber“. Hierzu hat meine Fraktion erste
Überlegungen angestellt, die dazu geeignet sind, einer-
seits die Schaffung von sozialversicherungspflichtigen
Arbeitsplätzen zu fördern und andererseits vorhandene
Arbeitsplätze aus der Schwarzarbeit herauszuführen.
Wir lichten zugleich den Förderdschungel und erhöhen
die Abzugsmöglichkeiten teilweise deutlich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will meine Rede nicht beenden, ohne einen drin-
genden Appell nach innen, das heißt an unsere eigene
Verantwortung als Regierungskoalition, zu richten. Ver-
lässliche Rahmenbedingungen sind das A und O für
Wirtschaft und Gesellschaft und sind unabdingbar, wenn
wir das Vertrauen der Bürger in unsere Politik gewinnen
wollen. Da darf es nicht passieren, dass verabschiedete
Gesetze bereits nach sechs Monaten infrage gestellt wer-
den – ich denke hier an Begehrlichkeiten bei der Rente
mit 67 – oder in Grundsatzfragen alle elf Monate ein
Richtungswechsel stattfindet.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611800500

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.


Ilse Falk (CDU):
Rede ID: ID1611800600

Ich bin gleich fertig.

Markenzeichen einer erfolgreichen Politik insgesamt
müssen Verlässlichkeit und Umsicht sein. Ziel einer er-
folgreichen Sozialpolitik muss es sein, Chancen und
Leistungsgerechtigkeit weiter auszubauen, um so die Vo-
raussetzungen für nachhaltiges Wachstum und Auf-
schwung zu schaffen und damit die Chance für Teilhabe
und Wohlstand zu eröffnen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611800700

Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Gregor Gysi,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611800800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Müntefering, ich habe Ihnen gern zugehört. Ich könnte
genauso wie Herr Niebel sagen: Zum Teil konnte ich zu-
stimmen, zum Teil nicht. Es werden sicherlich andere
Teile als bei Herrn Niebel sein. Ich finde es auch okay,
dass Sie versuchen, im Bundestag Ihren Parteitag vorzu-
bereiten; das kann man hinnehmen. Aber ich habe ein
Problem mit Ihnen selbst. Ich glaube, dass Sie einmal
sozialdemokratisches Urgestein waren. Dann bekamen
Sie die Chance auf den SPD-Vorsitz unter Herrn
Schröder, und zwar unter der Bedingung, dass Sie die
Agenda 2010 akzeptieren. Ich vermute, dass Sie am An-
fang so dachten wie ich heute, nämlich dass die Agenda
2010 unsozialdemokratisch ist.


(Klaus Brandner [SPD]: Wer macht denn aus dem Bundestag einen Parteitag?)


Dann haben Sie sich schrittweise durchgerungen, das
Ganze zu vertreten und zu verteidigen. Nun sind Sie
noch nicht einmal bereit, sich an einer Stelle ein Stück
zurückrudern zu lassen, weil es ein so schwieriger psy-
chologischer Vorgang war. Aber wir können die Bevöl-
kerung nicht mit den Problemen von zwei Herren beläs-
tigen. Sie haben das zu lösen, und zwar im Interesse der
Arbeitslosen.


(Beifall bei der LINKEN – Elke Ferner [SPD]: Wen meinen Sie jetzt: Lafontaine und Gysi?)


Ihre These, dass der Abbau der Arbeitslosigkeit Er-
gebnis von Agenda 2010, Hartz IV und der Arbeits-
marktreform ist, ist falsch. Schon ein Ökonomiestudent
weiß nach dem ersten Semester, dass die Konjunktur
entscheidend ist, nicht die Agenda 2010 oder Hartz IV.
Zum Abbau der Arbeitslosigkeit haben Sie umfassend
Stellung genommen. Sie haben Zahlen genannt; dazu
werde ich noch etwas sagen. Aber Sie müssten noch ein
paar andere Tatsachen erwähnen, zum Beispiel dass die
Hälfte der neuen Jobs Teilzeitjobs sind, dass mehr als die
Hälfte der neuen Jobs Mini- und Midi-Jobs mit kargen
Löhnen sind und dass viele in Leiharbeit mit abenteuerli-
chen Löhnen sind. Sie müssten erwähnen, dass der An-
teil der Frauen unter den Arbeitslosen zunimmt. Sie
müssten sagen, dass die Arbeitslosigkeit im Westen
schneller abgebaut wird als im Osten, was die Schere
wieder stärker auseinandergehen lässt. Sie müssten er-
wähnen, dass Langzeitarbeitslose besonders schwer zu
vermitteln sind und dass das noch heute gilt. Ich sage Ih-
nen: Über 1,2 Millionen Menschen in Deutschland wa-
ren im September 2007 länger als ein Jahr arbeitslos.
Diese lassen sich besonders schwer vermitteln.

Nun kommen wir zu anderen Zahlen: 26 Prozent der
ALG-I-Bezieher haben einen neuen Job gefunden, aber
nur 11 Prozent der ALG-II-Bezieher. Das ist ein drama-
tischer Unterschied. Nun kommen wir zu einer Statistik
der Bundesagentur für Arbeit. Mich hätte es gefreut,
wenn Sie, Herr Bundesminister, auch diese vorgetragen
hätten. Nehmen wir einen ganz konkreten Monat, den
September 2007. Von den 55- bis 64-jährigen Arbeitslo-
sen sind 40 000 Menschen im September aus dem Bezug
von Arbeitslosengeld I herausgefallen, 6 000 davon des-
halb, weil sie einen neuen Job hatten, 34 000 aber des-
halb, weil sie ALG II beziehen, weil sie einen 1-Euro-
Job haben oder weil sie Rente beziehen. Das heißt, ein
Siebtel hat einen neuen Job. Das ist keine signifikante
Größe. Sie hätten hier erwähnen müssen, dass die meis-
ten, die aus dem Bezug des Arbeitslosengeldes I fallen,
keinesfalls eine Erwerbsarbeit aufnehmen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wenn man mehr Arbeit schaffen will, dann muss man
über andere Dinge diskutieren. Dann müssen wir da-
rüber diskutieren, dass wir Arbeitszeit zu verkürzen ha-
ben, um Arbeit gerechter zu verteilen. Aber Sie verlän-
gern die Lebensarbeitszeit um zwei Jahre.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


– Ich wusste, dass Sie jetzt aufschreien. – Wir müssen
darüber diskutieren, dass wir einen öffentlich geförder-
ten Beschäftigungssektor brauchen, und zwar dort, wo
die Privatwirtschaft nicht investiert, wo aber wichtige
Arbeit zu leisten ist. Ein Beispiel dafür ist der Förderun-
terricht für Schülerinnen und Schüler, denen das Lernen
schwerer fällt,


(Beifall bei der LINKEN)


für Migrantenkinder – ein schönes Beispiel, das Sie hier
genannt haben – oder auch Unterricht für Kinder mit be-
sonderer Begabung. Wir müssten darüber reden, dass
wir eine Investitionspauschale für Kommunen brauchen.
Selbstverständlich brauchen wir – das haben Sie gesagt –
eine bessere Bildung und Ausbildung.

Im Juni 2005 haben Sie, Herr Müntefering, gesagt,
dass Sie die alte Regelung, nach der Arbeitslosengeld bis
zu 32 Monate gezahlt wird, verteidigen wollen, dass
man sie also belassen muss, und zwar wegen der schwie-
rigen Arbeitsmarktlage für Ältere und damit die SPD ein
Zeichen setzen kann, dass sie die Sorgen der älteren Ge-
neration ernst nimmt. Das ist ein Zitat von Ihnen vom
Juni 2005. Da Sie damals gesagt haben, nur mit einer
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I von bis zu
32 Monaten nimmt man die Sorgen der älteren Genera-
tion ernst, muss ich Sie fragen, ob Sie die Sorgen jetzt
nicht mehr ernst nehmen; denn es hat sich doch für die
Älteren nichts geändert.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Weil sich die Union und die FDP immer besonders
darüber aufregen – Herr Niebel, für Sie ist eine Bezugs-
dauer von 32 Monaten ja völlig indiskutabel –, muss ich
Sie an Folgendes erinnern: Als Sie noch zusammen mit
Herrn Kohl regierten, gab es Arbeitslosengeld I bis zu
32 Monaten. Damals war selbst die FDP noch einen Tick
sozialdemokratischer als die SPD heute.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi

(Beifall bei der LINKEN)


Der SPD-Vorsitzende Beck beginnt jetzt, sich selbst
zu widerlegen. Er hat gewisse Thesen aufgestellt, als Mi-
nisterpräsident Rüttgers vorgeschlagen hat, das
Arbeitslosengeld I länger zu zahlen. Herr Rüttgers hat
das vorgeschlagen, und die CDU hat das auf eine Art
und Weise beschlossen, die nicht akzeptabel ist, und
zwar deshalb, weil Sie von der Union Generationenun-
gerechtigkeit einplanen. Sie sagen im Ernst, die jungen
Arbeitslosen sollten dafür bezahlen, dass Ältere länger
Geld bekommen. Das ist wirklich indiskutabel. Sie wen-
den sich an die schwächste Gruppe in der Gesellschaft
und wollen diese bezahlen lassen, nicht aber eine Ver-
mögensteuer oder die Überschüsse, die die Bundesagen-
tur für Arbeit jetzt hat, verwenden. Das ist nicht hin-
nehmbar. Aber immerhin hat Rüttgers vorgeschlagen,
die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I zu verlängern.
Damals hat Herr Beck gesagt, das sei indiskutabel und
ein Generalangriff auf die Agenda 2010, der für ihn
nicht infrage komme. Nach einem Jahr sieht er das an-
ders. Das finde ich in Ordnung. Schrittweise versucht er,
die SPD für uns koalitionsfähig zu machen. Das muss
man akzeptieren,


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


wobei ich sage, dass noch weitere Schritte erforderlich
sind, auch in der Außen- und Friedenspolitik, in der
Steuer- und Sozialpolitik und vor allen Dingen bei der
Angleichung der Verhältnisse in Ost und West. Aber
erste Schritte sind zu erkennen.

Nun stellt sich die Regierung dagegen, was nicht
nachvollziehbar ist. Sie, Herr Müntefering, nennen
Gründe, wenn auch nicht heute. Heute haben Sie sie ver-
schwiegen, was die FDP wiederum zu Recht hervorge-
hoben hat. Aber Sie haben sie außerhalb des Bundesta-
ges benannt. Sie sagen, wie alle anderen Neoliberalen
auch, eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslo-
sengeldes I wäre kontraproduktiv. Der Druck auf die Ar-
beitslosen nähme ab, irgendeine, und sei es die am
schlechtesten bezahlte Tätigkeit anzunehmen, die Ar-
beitslosen würden sich in der sozialen Hängematte aus-
ruhen etc. Ich sage zu all diesen Argumenten eines: Ich
finde sie wirklich unverfroren und böswillig.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Weit über 90 Prozent aller Arbeitslosen wünschen eine
neue Erwerbsarbeit in Würde. Das ist auch ihr gutes
Recht.

Dann nehmen Sie eine kleine Minderheit, die es im-
mer und in jeder gesellschaftlichen Gruppe gibt, und ma-
chen daraus eine Theorie für die Mehrheit der Arbeitslo-
sen. Im Übrigen sind gerade die älteren Arbeitslosen
besonders erpicht darauf, eine Erwerbsarbeit zu bekom-
men. Ich kenne Leute, die einmal Ingenieure waren und
heute beispielsweise als Pförtner arbeiten, bloß um ir-
gendeine Erwerbsarbeit zu haben. Ein solches Urteil
steht uns nicht zu; das will ich ganz klar sagen.

(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt ein zweites, schon gewichtigeres Argument:
das Argument der Frühverrentung. Man sagt, die Un-
ternehmen und die Betroffenen würden eine längere Be-
zugsdauer von Arbeitslosengeld I nutzen, um die Früh-
verrentung anzustreben. Zunächst einmal ermöglichen
wir als Gesetzgeber die Frühverrentung. Das ist dieselbe
Theorie wie bei den Steuerschlupflöchern. Alle regen
sich darüber auf, dass sie genutzt werden, nachdem man
so ein Gesetz beschlossen hat. Wir regeln das doch und
nicht die andern.

Aber zum Zweiten verstehe ich dann bei der Frühver-
rentung eines nicht. Ich muss etwas genauer werden.
Zum 31. Dezember 2007 laufen § 65 Abs. 4 SGB II und
§ 428 SGB III aus. Damit entfällt die sogenannte 58er-
Regelung, also die Wahlmöglichkeit für 58-jährige und
ältere Arbeitslose, sich als Arbeitslose und Arbeitsu-
chende registrieren zu lassen oder eine Frührente zu be-
antragen. Dabei ist die Frührente um bis zu 18 Prozent
gekürzt. Heute haben sie eine Wahlmöglichkeit. Nun
laufen beide Bestimmungen aus. Das begründen Sie
auch noch damit, keine Frühverrentung zu wollen. Sie
vergessen aber, dass § 5 Abs. 1 SGB II klar regelt, dass
man jede andere Transferleistung nehmen muss, bevor
man ALG II beziehen kann.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Zu Recht!)


Damit ist dort geregelt, dass diejenigen, wenn die beiden
Bestimmungen auslaufen, gezwungen sind, eine Früh-
rente zu beantragen. Wenn sie aber dazu gezwungen
sind, sagen Sie jemandem mit 58 oder 59: Du musst jetzt
eine Rente beantragen – minus 18 Prozent –, und noch
mit 88 Jahren ist sie um 18 Prozent geringer.

Das halte ich schon grundgesetzlich für sehr bedenk-
lich. Ich bitte Sie aber, geben Sie wenigstens unserem
Antrag statt, die verkürzte Verrentung aus § 5 Abs. 1
SGB II herauszunehmen und die §§ 65 Abs. 4 und 428
fortzusetzen, damit es für ältere Arbeitslose die Wahl-
möglichkeit gibt!


(Beifall bei der LINKEN)


Nun sagen Sie, man soll nicht immer pessimistisch
sein; man muss auch mal die Leistung sehen. All das
will ich akzeptieren. Ich weiß auch, je nach Situation
sieht man all das etwas unterschiedlich; das ist mir nicht
neu. Aber wir haben ja das ZDF-Politbarometer. Was
sagt es denn? Es sagt, 78 Prozent der Bevölkerung mer-
ken nichts vom Aufschwung, nichts von mehr Wohl-
stand, nichts von höheren Chancen. Woran liegt das?
Liegt das daran, dass sie es nicht begreifen, oder liegt
das an deren Situation? Was machen Sie denn seit Jah-
ren, seit der Regierung von SPD und Grünen und nun
fortgesetzt von der Union und der SPD? Sie haben die
Körperschaftsteuer für die Deutsche Bank und andere
Aktiengesellschaften von 45 auf jetzt 15 Prozent ge-
senkt. So ein Geschenk bekäme kein sozial Bedürftiger
in dieser Gesellschaft je von Ihnen wie die Deutsche
Bank und andere Aktiengesellschaften.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi
Sie erwähnen dabei nie, dass die Körperschaftsteuer
in den USA, in Frankreich und in Großbritannien über
30 Prozent beträgt, bei uns nur noch 15 Prozent.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Sagen Sie mal, tut Ihnen das eigentlich wirklich nicht weh, so etwas vorzutragen?)


Sie haben den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer
von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. Sie haben für Ak-
tiengesellschaften die Verkaufserlössteuer gestrichen.
Sie erheben keine Vermögensteuer. All das machen Sie
und reduzieren damit die Einnahmen des Staates. An-
schließend erhöhen Sie die Mehrwertsteuer um 3 Pro-
zentpunkte, um die Normalverdienenden und sozial
Schwachen zur Kasse zu bitten.


(Beifall bei der LINKEN)


Außerdem senken Sie den Sparerfreibetrag, damit die
Normalverdienenden mehr Steuern bezahlen müssen.
Auch die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes kürzen
Sie von bis zu 32 Monaten auf 18 bzw. 12 Monate. Dann
führen Sie das unwürdige ALG II ein, bitten Kranke zur
Kasse und stellen Krankenkassen schlechter. Sie machen
Minusrunde für Minusrunde bei den Rentnerinnen und
Rentnern und sagen: Künftig gibt es die Rente zwei
Jahre später, nämlich erst ab 67 Jahre. Sie gehen keine
Schritte zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost
und West. Die Pendlerpauschale streichen Sie für die
Hälfte der Bezieher, und die andere Hälfte bekommt
deutlich weniger.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611800900

Herr Kollege Gysi, denken Sie bitte auch an die Rede-

zeit.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611801000

Ja.

Lassen Sie mich nur noch darauf hinweisen, dass
1,2 Millionen Menschen geringfügige, lächerliche Löhne
erhalten. Inzwischen befinden sich 800 000 Beschäftigte
in einem Leiharbeitsverhältnis – das hat zumindest das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung festgestellt –
und arbeiten für unerträglich niedrige Löhne. Hinzu
kommt, dass die Reallöhne in Deutschland um 6 Prozent
gesunken sind. Das alles erklärt, warum sich viele zu
Recht nicht wohlfühlen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Zum Schluss möchte ich noch auf etwas eingehen,
was mich sehr geärgert hat. Man muss endlich den Min-
destlohn für die Postbeschäftigten durchsetzen, wie Sie
es angekündigt haben. Dies richtet sich aber gar nicht an
die Adresse des Bundestages, sondern an die Tarifpar-
teien. Ich muss wirklich sagen: Es ist ein starkes Stück,
dass man Ende des Jahres 2007 für unterschiedliche
Mindestlöhne der Beschäftigten der Post im Osten und
im Westen sorgen möchte.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Kostenstruktur ist in ganz Deutschland gleich. Ich
sage das auch in Richtung Verdi. Mich hat auch geärgert,
dass der Marburger Bund akzeptiert hat, dass ein Arzt an
einer Universitätsklinik im Osten 400 Euro weniger be-
kommt. Auch damit muss endlich Schluss sein.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611801100

Nächster Redner ist der Kollege Ludwig Stiegler für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1611801200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der

Kollege Gysi gerade so agitiert hat, habe ich mir über-
legt, wie er wohl geredet hätte, wenn er in Berlin nicht
aus der Verantwortung geflüchtet wäre


(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)


und in der Lage gewesen wäre, eine Bilanz vorzustellen,
wie sie Franz Müntefering vorgestellt hat.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dann hätte er ein rhetorisches Feuerwerk entfacht. Er hat
ja SED-Erfahrung. Man hat damals gelernt, dass man
eine Regierung mit viel weniger Erfolgen loben muss.
Herr Gysi ist anders als die frustrierten PDSler aus dem
Westen, die zum Lachen in den Keller gehen. Herr Gysi
hätte hier eine wahre Prachtrede gehalten. Deshalb sage
ich: Geschenkt wegen Kümmerlichkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Zur geschätzten Kollegin Falk, die uns philosophi-
sche Betrachtungen nahegebracht hat; sie hat sich hier
mit Äbten beschäftigt. Als Klosterschüler habe ich dafür
volles Verständnis. Ich muss Ihnen sagen: Dieser Abt
scheint den Aristoteles, den er in seinem Studium ken-
nengelernt hat, vergessen zu haben. Aristoteles sagt
nämlich in der Nikomachischen Ethik: Gerechtigkeit ist
Gleichheit. Dem Genus proximum der Gleichheit fügt er
die Differentia specifica nach Verdienst, Bedarf und
Leistung hinzu. Wir gehen davon aus: Gerechtigkeit ist
mehr Gleichheit; aber im Detail gibt es feine Differen-
zen.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist aber nicht Aristoteles! – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Das ist Stiegler, aber nicht Aristoteles! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist nicht Aristoteles, das ist Stiegler! – Beifall bei Abgeordneten der SPD)


So ist es eben auch in einer Großen Koalition. Wir als
Große Koalition sind das Genus proximum; aber ich bin
die sozialdemokratische Differentia specifica. Darum
betone ich manche Dinge anders als Frau Falk.


(Beifall bei der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Reden Sie in Ihrem Ortsverein eigentlich auch so, Herr Stiegler?)







(A) (C)



(B) (D)


Ludwig Stiegler
– Ja, selbstverständlich. Aristoteles ist mein ständiger
Begleiter.


(Heiterkeit bei der SPD)


Er ist nach wie vor ein guter Ratgeber, übrigens auch,
was seine rhetorischen Übungen angeht. Da betont er
das Peithomenon, das Überzeugende.

Franz Müntefering hat die beste Bilanz vorgelegt, die
ein Bundesarbeitsminister seit 20 Jahren – ich erinnere
an Norbert Blüm – präsentiert hat, und dazu kann man
ihm gratulieren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Er hat hier die Zusammenhänge umfassend dargestellt.
Er hat unsere Unterstützung. Wir alle haben unsere Er-
fahrungen mit dem Arbeitsmarkt. Wir haben für
Hartz IV gesorgt. 2005 dachten wir: In zwei Jahren ist
die Arbeitslosigkeit halbiert. Wir haben zusehen müssen,
wie uns die Realökonomie und die Dotcom-Blase einen
Strich durch die Rechnung gemacht haben. Am Ende hat
sich gezeigt: Nicht die Arbeitsmarktbedingungen sind
das Entscheidende, sondern die Nachfrage nach Arbeit
und die wirtschaftliche Aktivität. Der Aufschwung hat
durch die veränderten Arbeitsmarktbedingungen einen
zusätzlichen Anstoß bekommen, weil zur Nachfrage
nach Arbeit die richtigen Instrumente vorhanden waren.
Das ist die richtige Reihenfolge.

Zurzeit lese ich wegen der Finanzmarktkrise häufiger
die Webseiten der Zentralbanken. Ich habe auf der
Webseite der englischen Zentralbank eine Rede von
David Blanchflower gefunden – die Leute dort würden
Westerwelle für einen Sozialisten und Brüderle für einen
Kommunisten halten –;


(Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD])


dieses Mitglied des Monetary Policy Committee sagt, er
habe die europäischen Arbeitsmarktbedingungen unter-
sucht. Unglücklicherweise, schreibt er, habe sich heraus-
gestellt, dass es keine oder nur eine ganz kleine
Verknüpfung zwischen den sogenannten diversen Markt-
rigiditäten und den Änderungen in der Arbeitslosigkeit
gibt. Er hat Europa betrachtet und festgestellt: Weder
gibt es eine Korrelation zwischen der Arbeitslosigkeit
und der Bezugsdauer, noch gibt es eine Korrelation zwi-
schen der Arbeitslosigkeit und dem Kündigungsschutz.
Es gibt nicht einmal einen Unterschied hinsichtlich der
Stärke der Gewerkschaften. Er sagt: Entscheidend sind
die Produktmärkte, die Kapitalmärkte und die Bau-
märkte. Als Einziges stellt er eine Korrelation zwischen
Arbeitslosigkeit und Wohnungseigentum fest, was näm-
lich zu einer mangelnden Mobilität führt. – So ein engli-
scher Zentralbanker.

Er sagt am Ende: The labour market follows. – Der
Arbeitsmarkt folgt, nämlich den Arbeitsbedingungen
und der Nachfrage nach Arbeit. Wenn schon die Englän-
der so weit sind, das zu erkennen, dann müssen unsere
Liberalen irgendwann nachziehen.


(Beifall bei der SPD)


Darum haben wir in der Koalition folgende Themen
bearbeitet: Arbeit schaffen, Forschung und Entwicklung
fördern, Bildung fördern, neue Erkenntnisse in Produkte
und Dienstleistungen umsetzen, also Unternehmensneu-
gründungen fördern – eine Aufgabe, die wir in diesem
Jahr haben – und die erneuerbaren Energien fördern.
Dazu sage ich Ihnen: Allein im letzten Jahr hat die KfW
für das energetische Programm Kredite in Höhe von
17 Milliarden Euro ausgereicht, Investitionen in Höhe
von 29 Milliarden Euro angestoßen und damit 500 000
Arbeitsplätze im Handwerk und im Mittelstand gesi-
chert. Das und nicht der Sozialabbau ist aktive Arbeits-
marktpolitik.


(Beifall bei der SPD)


In diesem Jahr ist es genauso: 12,2 Milliarden Euro
bis zum September, 370 000 Arbeitsplätze. Ich erinnere
an die Handwerksförderung. Ich erinnere an die Förde-
rung der kommunalen Investitionen.

Dank der Gewerbesteuerreform treten die Kommunen
endlich wieder als Nachfrager auf dem Baumarkt auf.
Wir werden mit ihnen zusammen, Frau Falk, das Thema
als Auftraggeber angehen. Das hatte ich schon während
der Koalitionsverhandlungen versucht. Franz Müntefering
kennt meine Rechungen. Damals waren die Großen des
Reiches in diesem Bereich noch etwas zurückhaltend.
Ich denke, wir werden das hinbekommen. Aber dann
müssen auch die Arbeitsbedingungen stimmen. Es muss
klar sein: Nur dann, wenn die Arbeitsbedingungen stim-
men – nicht bei Niedriglöhnen oder ausbeuterischen
Löhnen –, wird das über den Haushalt als Arbeitgeber
funktionieren.


(Beifall bei der SPD)


Wir unterstützen alle Bemühungen für die lebens-
lange Weiterbildung. Wir haben heute den Instrumenten-
kasten, mit dem wir die Nachfrage nach Arbeit finanzie-
ren oder unterstützen können. Wenn es denn stimmt,
dass es jetzt 1 Million registrierte offene Stellen gibt
– die Bundesagentur sagt: das ist nur die Hälfte der wirk-
lich vorhandenen –, dann erwarte ich, dass die Arbeits-
agenturen und die Optionsgemeinden Tag und Nacht ar-
beiten, um mit dem Instrumentenkasten, den ihnen Franz
Müntefering und die Große Koalition hingestellt haben,
die Menschen in Arbeit bringen. Das ist jetzt die Haupt-
aufgabe, und das ist unser gemeinsames Ziel.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dazu gehört natürlich auch gute Arbeit. Dazu gehören
auch tarifliche Mindestlöhne, so zum Beispiel die im
Gebäudereinigerhandwerk seit 1. Juli. Die Welt ist nicht
zusammengebrochen, weil die Gebäudereiniger Min-
destlöhne bekommen. Sie wird auch nicht zusammen-
brechen, wenn die Postler anständig bezahlt werden. Ich
warne Herrn Gerster und andere davor, gelbe Schmutz-
gewerkschaften zu gründen, um eine anständige Bezah-
lung der Postler zu hintertreiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Hier hätte ich mir auch Beifall von meinem Koalitions-
partner gewünscht, aber der kann ja innerlich stattgefun-
den haben und ist noch nicht nach außen getragen wor-
den. Ich entnehme jetzt manchem Anlächeln, dass






(A) (C)



(B) (D)


Ludwig Stiegler
zwischen der inneren Einstellung und dem äußeren Aus-
druck noch ein kleiner Hiatus besteht. Das wird sich aber
schon noch finden. Wie heißt es doch so schön:

Blamier mich nicht, mein schönes Kind,
und grüß mich nicht unter den Linden;
wenn wir nachher zu Hause sind,
wird sich schon alles finden.


(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)


Gerade die Einführung von Mindestlöhnen führt also zu
mehr Kaufkraft und mehr wirtschaftlichen Erfolgen.

Ich denke an einen weiteren Punkt: Dabei handelt es
sich um die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“. Vor uns liegen die
Haushaltsberatungen. Wir haben Anträge zur Investi-
tionsförderung in Höhe von 1 Milliarde Euro. Wir müs-
sen dafür sorgen, dass diese Investitionen in Ost wie in
West getätigt werden. Wenn wir das jetzt versäumen,
könnte es passieren, dass wir erst im nächsten Investi-
tionszyklus hier wieder zum Zuge kommen. Deshalb
mein Appell an die Haushälter: Denkt daran, dass die
steuerliche Investitionsförderung ausläuft. Lasst uns we-
nigstens diese Gemeinschaftsaufgabe miteinander vo-
ranbringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, Franz Müntefering hat auf
dem Arbeitsmarkt wirklich unglaublich viel bewegt. Er
hat auch recht, wenn er sagt: Vorrangig ist es, dass wir
die Menschen in Arbeit bringen. – Wir übersehen aber
nicht, dass es auch Menschen gibt, die Sorgen haben. So
treibt viele Ältere die Sorge um, wie es mit ihnen weiter-
geht. Darum wird in der SPD intensiv darüber diskutiert,
wie man es schaffen kann, dass das, was wir eigentlich
wollten, dass es geltendes Recht wird, umgesetzt wird.
Das ist in diesem Fall ein interner Streit. Das freut die
Opposition. Ich gönne ihr, dass sie sich darüber freut.
Das Leben ist ja sonst so karg. Das können Sie also ha-
ben. Geschenkt.

Ich halte aber fest: Wir nehmen die Sorgen der Men-
schen ernst. Ich habe gestern gesagt: Wir tragen die Re-
gierung auf Händen, aber gelegentlich machen wir eine
Pause, und dann reden wir mit dem Volk. Das sagt uns
dann gelegentlich etwas anderes, als uns die Regierung
sagt. Dann gibt es eben eine kleine Verwirrung und einen
kleinen Disput, aber am Ende ist es in 99 Prozent der
Fälle so: Wir sind stolz darauf, was wir gemeinsam mit
der Regierung in der Großen Koalition erreicht haben.
Wir werden alles dafür tun, dass wir wie bei dem be-
rühmten Märchen von der Prinzessin auf der Erbse die
Erbse auch noch beseitigen und dann ganz ruhig schla-
fen. Dafür werden wir miteinander in anständiger Weise
sorgen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wer ist die Prinzessin? – Zuruf von der CDU/CSU: Wer ist die Erbse?)


Meine Damen und Herren, es war immer auch die
Botschaft von Franz Müntefering: Den Menschen muss
Sicherheit im Wandel gegeben werden. Daran lasst uns
arbeiten. Der Wandel bleibt. Dass die Menschen aber
diesem Wandel in Sicherheit mit Zuversicht begegnen
können, dafür werden wir gemeinsam sorgen.

Glück auf!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611801300

Der Kollege Fritz Kuhn ist der nächste Redner für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611801400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Franz Müntefering hat für seine Rede viel Beifall be-
kommen. Ich finde, dass man aus dem Beifall heraushö-
ren konnte, dass es sich um drei verschiedene Arten von
Beifall handelte. Zum einen mag es anerkennender Bei-
fall für die Leistungen von Franz Müntefering gewesen
sein. Zum anderen – das war bei der CDU/CSU deutlich
herauszuhören – handelte es sich um eine Art Antibeifall
für Herrn Beck und seinen Vorschlag zum Arbeitslosen-
geld I. Zum Dritten hörte man bei beiden großen Volks-
parteien eine Art Pfeifen im Walde angesichts der Dis-
kussion, die sie noch vor sich haben.


(Dirk Niebel [FDP]: Das Dritte habe ich auch gehört!)


Interessant finden wir, dass Sie in den letzten Tagen
ständig darüber diskutieren, wie die Agenda 2010 bei
der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I revidiert wer-
den soll, dass aber bis auf ein paar süffisante Nebenbe-
merkungen weder der Arbeits- und Sozialminister noch
die Redner von CDU/CSU und SPD in der Lage sind, in
diesem Hohen Hause auf die Debatte einzugehen. An Ih-
rem Verhalten ist wirklich einiges komisch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Wir wollen und müssen differenziert über die Agenda
2010 reden. Aber ich will einmal eines deutlich machen.
Die Agenda hatte – zu diesem Strang der Agenda stehen
wir nach wie vor – einen Hauptsinn, nämlich Schluss zu
machen mit all den diffusen Vorruhestandsmodellen,
die zu nichts anderem führen als zu dem stillen Deal
zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, dass ältere
Belegschaften leichter entlassen werden können, weil
entweder die Versichertengemeinschaft oder der Staat
dafür aufkommen, sodass die Kultur der Altersarbeit im
Laufe der Jahre und Jahrzehnte richtig ruiniert wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Deswegen haben wir gemeinsam, die allermeisten jeden-
falls, die Agenda 2010 so gestaltet, dass die Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes I – wenn auch mit Übergangslö-
sungen – reduziert wurde.

Der Vorschlag des SPD-Vorsitzenden Beck heißt
nichts anderes, als mit dieser zentralen Logik der
Agenda, die alle begrüßt haben, zu brechen. Beck setzt
an der völlig falschen Stelle an. Ich glaube nicht, dass






(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn
das die Beschäftigungskultur für ältere Arbeitnehmer in
unserem Lande wieder verbessern kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ausgerechnet, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, in einem Moment, wo es gelungen ist, die Be-
schäftigungsquote älterer Arbeitnehmer zu steigern – die
Erwerbsquote bei den über 55-Jährigen lag im Jahr 2001
bei 37,9 Prozent und liegt jetzt bei 48,4 Prozent –, gehen
Sie in die Gegenrichtung und machen den Vorschlag, sie
wieder zu reduzieren.

Gott sei Dank haben Sie, wenn ich dem Handelsblatt
von heute folgen darf, die Ansätze zur Erweiterung der
Erwerbsminderungsrente auf Eis gelegt.


(Jörg Tauss [SPD]: Was wollen die Grünen?)


Ich hoffe, dass das so stimmt. Denn dieser Vorschlag
würde nichts anderes bedeuten, als die Chancen älterer
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, Arbeit zu finden,
weiter zu reduzieren.

Kommen Sie mir an dieser Stelle nicht mit den Um-
fragen. Wenn man die Leute fragt, ob sie eine längere
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere wollen,
dann sagt die große Mehrheit natürlich Ja. Aber wenn
Sie die Leute fragen würden, ob sie eine längere Bezugs-
dauer oder mehr Chancen für arbeitslose über 55-Jäh-
rige, wieder in Arbeit zu kommen, wollen, was meinen
Sie, wie die Ergebnisse der Umfrage dann aussähen? Es
ist doch völlig logisch, dass das Ergebnis von der Frage
abhängt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Ich fordere die SPD auf, sich noch einmal wirklich zu
fragen, an welchen Stellen die Agenda 2010 zu verän-
dern ist, und den falschen Vorschlag, der jetzt bei Ihnen
in der Umlaufbahn ist, nicht umzusetzen.


(Jörg Tauss [SPD]: Was wollen die Grünen?)


Übrigens ist die CDU/CSU in dieser Debatte keinen
Deut besser. Willkommen im Rüttgers-Klub, kann ich da
nur sagen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe viel Erstaunliches gelesen. Ich weiß ja nicht so
genau, Frau Merkel, wie es bei der CDU im Innern zu-
geht. Aber der stärkste Spruch, den ich seit langem ge-
hört habe, kam von Ihrem mittelstandspolitischen Spre-
cher, Herrn Michael Fuchs, der in der Leipziger
Volkszeitung zur Verlängerung des Arbeitslosengeldes
sagte:

Das haben wir doch damals nur angenommen, weil
jeder wusste, das kommt nicht.

Ich danke für die Lesehilfe von CDU-Programmen und
CDU-Parteitagsbeschlüssen. Wir müssen in der Zu-
kunft also davon ausgehen: Was Sie beschließen, haben
Sie nur angenommen, weil Sie hoffen, dass es nicht
kommt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die CDU hat ja eine Tradition auf dem Gebiet. Von
1927 bis 1984 lag die Bezugsdauer des Arbeitslosengel-
des in Deutschland bei 12 Monaten. Ab 1984 hat Helmut
Kohl zusammen mit der FDP die Dauer systematisch auf
32 Monate angehoben. Das hatte einen einfachen Grund,
Frau Merkel: Er wollte den Haushalt sanieren. Denn Ar-
beitslosenhilfe wird vom Bundeshaushalt gezahlt und
Arbeitslosengeld von der Versichertengemeinschaft. So
konnte man die Verhältnisse sehr schön zulasten der Ver-
sichertengemeinschaft verschieben, übrigens auch zulas-
ten aller Arbeitslosen, weil die hohen Lohnnebenkosten,
die das bewirkt hat, natürlich die Neuinvestitionen in Ar-
beit reduziert haben. Da sollten Sie jetzt klare Kante zei-
gen und sagen, was Sie eigentlich wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Merkel, ich fordere Sie als CDU-Vorsitzende
auf,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie können sie höchstens bitten!)


sich nicht hinter der SPD zu verstecken und Herrn
Röttgen und all diejenigen zu stoppen, die davon reden,
dass man dann die Koalition aufkündigen müsse – oder
wie auch immer sie sich geäußert haben. Sie müssen ein-
mal klar sagen, was Sie selber machen wollen. Sie wol-
len doch eigentlich das Gleiche, nur modifiziert um eine
Generationenungerechtigkeit, weil bei Ihnen die Jungen
für die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosen-
geldes I zahlen sollen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich stelle die Frage, was hier eigentlich die Priorität
ist. Ich finde, die Große Koalition beschreibt die Priorität
nicht.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Doch! Arbeitsplätze schaffen!)


Ist es wichtiger, die Transferleistungen um einige Mo-
nate zu verlängern, oder wäre es nicht besser, alle Mittel
darauf zu konzentrieren, dass wieder mehr Menschen
schneller in Arbeit kommen, wenn sie arbeitslos gewor-
den sind?


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Da haben Sie völlig Recht!)


Dies tun Sie aber nicht, weil Sie beides gleichzeitig wol-
len und keine Prioritäten setzen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Herr Müntefering, ich komme zu einigen Punkten, bei
denen Sie in Ihrem Debattenbeitrag ausgewichen sind.
Es geht um die Bilanz der Arbeitsmarktpolitik der Gro-
ßen Koalition.

Erstens. Ihr großes Versprechen, Frau Merkel, die
Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu senken, kön-
nen Sie nicht einhalten. Wenn Sie den Anstieg des Pfle-






(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn
geversicherungsbeitragssatzes um 0,25 Prozentpunkte zum
Sommer 2008 dazunehmen, dann liegen Sie über 40 Pro-
zent und nicht unter 40 Prozent. Sie haben also Ihr erstes
zentrales Ziel Ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik – bis-
lang jedenfalls – nicht erreicht.

Zweitens. Sie, Herr Müntefering, haben immer von
einer Neuausrichtung der aktiven Arbeitsmarktpolitik
gesprochen. Sie wollten die Instrumente prüfen und de-
ren Anzahl reduzieren. Bislang ist dies nicht geschehen.
Sie prüfen seit über zwei Jahren und machen nichts an-
deres, als immer neue Programme aufzulegen, anstatt die
dezentrale Kompetenz der Fallmanager in den Arbeits-
agenturen zu stärken.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])


Es kommt ein Programm nach dem anderen. Heute
haben Sie wieder zwei neue angekündigt. Ich nenne Ih-
nen einmal den Grund, warum Sie diese Programme auf-
legen. Wer keinen Mut zu weiteren Strukturreformen
hat, der flüchtet systematisch in Programme: hier ein
Kombilohn, dort eine Kleinigkeit zum Mindestlohn, aber
kein ausreichender Mindestlohn; hier ein Programm für
Lehrlinge, dort ein kommunales Ergänzungsprogramm.
Es gibt aber keine Stringenz, woran man erkennen kann,
in welcher Art und Weise Sie weiter reformieren wollen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt kommt Ihr Vorschlag!)


Das Gleiche gilt für die Arbeit der Arbeitsgruppe
Niedriglohn. Seit langem brüten Sie über dem Erwerbs-
tätigenzuschuss. Eigentlich sollte ein entsprechender
Vorschlag den Menschen im unteren Lohnbereich netto
mehr bringen. Jetzt geht es aber nur noch um einen
Lohnkostenzuschuss. Ich sage klar: Eine Koalition, die
sich zwischen Mindestlohn und flächendeckendem
Kombilohn nicht entscheiden kann, wird keine klare
Richtung in die Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik
Deutschland bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Merkel, an Ihre Adresse sage ich: Wenn der Satz
„Wer voll arbeitet, der muss damit ein existenzsichern-
des Einkommen für sich und seine Familie erzielen kön-
nen“ richtig sein soll, dann müssen Sie einmal sagen,
wie Sie das – Sie lehnen ja den Mindestlohn ab – errei-
chen wollen. Sie tun es aber nicht, weil der flächende-
ckende Kombilohn keine Antwort auf die vor uns liegen-
den Probleme ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will unsere Reformrichtung im strukturellen Be-
reich verdeutlichen. Wir sagen zunächst einmal, dass die
Agenda 2010 an verschiedenen Stellen richtig war. Bei-
spielsweise hat die Zusammenlegung von Arbeitslosen-
hilfe und Sozialhilfe 500 000 Menschen die Möglichkeit
eröffnet, Anschluss am Arbeitsmarkt zu finden und wie-
der in die Erwerbsarbeit zu kommen. Wenn Sie sich in
der Bevölkerung umhören, dann werden Sie aber erfah-
ren, dass das Arbeitslosengeld II, was die Ermittlung des
Bedarfs und die Auszahlung betrifft, von den Bürgern
noch nicht als Existenzsicherung und als Chance ver-
standen wird, wieder schnell in die Erwerbsarbeit zu
kommen. Hier hat die Agenda 2010 Defizite, und wir
meinen, dass man an dieser Stelle ansetzen muss.

Ich nenne in diesem Zusammenhang erstens den Re-
gelsatz. Ich erwarte, dass Sie entsprechende Zahlen lie-
fern, Herr Müntefering. Zweitens stellt sich die Frage
nach einem Mindestlohn, für den wir nach dem von uns
vorgeschlagenen Verfahren sind. Dazu gehört auch das
Thema Kinderarmut, Frau Merkel, die sich weiter aus-
breitet. Die Zahl der Bezugsberechtigten von Arbeitslo-
sengeld II sinkt ja nicht. Es muss mehr getan werden als
die Erhöhung des Regelsatzes aufgrund der Preissteige-
rungen und die Zahlung des Kinderzuschlages, um die
Kinderarmut in diesem Land zu bekämpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Den Bereich des Altersvermögens müssen wir refor-
mieren. Alle, die mit den Leuten reden, wissen doch,
dass die Art, wie das Altersvermögen abgeschmolzen
wird, eines der Hauptärgernisse der Bevölkerung im Zu-
sammenhang mit der Agenda 2010 ist. Deswegen sage
ich: Schauen Sie sich doch noch einmal unseren Vor-
schlag eines Altersvorsorgekontos an. So können wir
großzügiger und breiter aufgestellt Altersvermögen
schützen, und das ist auch eine unbürokratische Lösung.

Herr Müntefering, ich komme zum wichtigsten Argu-
ment: Die Arbeit im Niedriglohnbereich ist in Deutsch-
land zu teuer, weil wir zu hohe Lohnnebenkosten erhe-
ben. Deswegen gibt es so viel Schwarzarbeit. Deswegen
haben so viele Menschen, die in diesem Bereich Vollzeit
arbeiten, zu wenig Geld zum Leben, sodass sie ergän-
zende Arbeitslosengeld-II-Leistungen in Anspruch neh-
men müssen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611801500

Herr Kollege Kuhn.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611801600

Wir sagen dazu: Lasst uns in diesem Bereich die

Lohnnebenkosten in der Breite im Rahmen eines Pro-
gressivmodells senken! Lasst uns den Schwerpunkt der
Reformarbeit darauf legen! Es muss doch möglich sein,
eine falsche Struktur, die zur Verteuerung einfacher Ar-
beit in Deutschland führt, zu ändern. Frau Merkel, jetzt
sollen alle im Hightechbereich einen Arbeitsplatz su-
chen; dort wird investiert. Was haben wir denn davon,
wenn wir keine Arbeitsplätze für die einfachen Leute ha-
ben, für diejenigen, die die erforderliche Qualifikation
nicht haben, aber in unserem Land arbeiten wollen und
arbeiten müssen? In diesem Bereich gibt es strukturelle
Hindernisse. Herr Müntefering, ich fordere Sie auf, an
dieser Stelle etwas zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611801700

Herr Kollege Kuhn, schauen Sie zwischendurch ein-

mal auf die Redezeit.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611801800

Bitte?






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611801900

Können Sie zwischendurch einmal auf die Anzeige

Ihrer Redezeit schauen?


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611802000

Es ist schlecht, wenn man sich auf die Redezeit kon-

zentriert. Man sollte sich auf den Inhalt konzentrieren,
Herr Präsident.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611802100

Das ist wohl wahr. Das ist eine spezifische Herausfor-

derung, die alle Mitglieder des Hauses immer wieder
trifft.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611802200

Ich komme Ihnen zuliebe zum Schluss.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Große Koalition hat in dieser Debatte bislang
nicht gesagt, wohin sie dieses Land eigentlich reformie-
ren will. Sie verteilen Geld, das wahrscheinlich nicht
mehr lange da ist. Sie legen nichts zurück, und anstelle
von Strukturreformen zur Verbesserung der Lage der
Dauerarbeitslosen finden Programme statt, aber ohne
System und ohne klare Richtung.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611802300

Herr Kollege Kuhn, ich bedanke mich für die aus-

drückliche Sympathieerklärung, weise aber darauf hin,
dass sie von meiner Großzügigkeit bei der Bemessung
Ihrer Redezeit noch deutlich überboten wird.


(Heiterkeit)


Nun hat das Wort der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe für
die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1611802400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

kann direkt an die Rede des Kollegen Stiegler anknüp-
fen: Es ist wirklich schön und macht Spaß, als Mitglied
der Regierungskoalition eine so erfolgreiche Politik in
diesem Hause vertreten zu können, wie sie diese Große
Koalition und diese Bundesregierung machen. Das ist
wirklich eine schöne Sache.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das schlägt sich in überzeugenden Zahlen zum wirt-
schaftlichen Wachstum nieder. Wir haben das schon im
letzten Jahr erlebt. Das Institut der deutschen Wirtschaft
kündigt in diesen Tagen ein wirtschaftliches Wachstum
von 2,5 Prozent in diesem Jahr an. Die Zahlen sind be-
eindruckend. Davon beißt keine Maus einen Faden ab.
Das ist nicht schlechtzureden. Die Bilanz der wirtschaft-
lichen Entwicklung dieses Landes ist beeindruckend,
und das schlägt sich in sehr guten Arbeitsmarktzahlen
nieder. Darauf sind wir stolz.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die Arbeitslosigkeit ist immer noch zu hoch, aber
immerhin ist die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen
zurückgegangen. Im Vergleich zum September letzten
Jahres haben wir 694 000 Arbeitslose weniger; der
Minister hat zu Recht darauf hingewiesen. Im Vergleich
zum September 2005 sind es sogar 1,1 Millionen Ar-
beitslose weniger. Das ist eine gute Entwicklung. Wer
ehrlich ist, muss gerade aufseiten der Opposition zuge-
ben: Das hätten Sie so nicht erwartet.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die Zahl der Erwerbstätigen ist auf fast 40 Millionen ge-
stiegen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigten ist auf fast 27 Millionen gestiegen.

Damit das, was der Kollege Gysi dazu gesagt hat,
nicht unwidersprochen stehen bleibt, will ich betonen:
Innerhalb eines Jahres haben wir bei der sozialversiche-
rungspflichtigen Beschäftigung einen Zuwachs von
555 000 Stellen zu verzeichnen. Es ist wahr, Herr Gysi:
Davon sind rund die Hälfte Vollzeitstellen und rund die
Hälfte Teilzeitstellen. Das ist doch völlig in Ordnung.
Wir haben knapp 300 000 Vollzeitstellen und knapp
300 000 Teilzeitstellen mehr als vor einem Jahr. Was ha-
ben Sie denn in Ihrer Zeit als Senator für Wirtschaft und
Arbeit geschaffen? Welche Zahlen können Sie dagegen-
stellen? Wir sind stolz auf die Zahlen, die wir vorzuwei-
sen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Nur zur Erklärung, weil Sie vom ersten Semester
Ökonomiestudium gesprochen haben: Es mag an Ihrer
Uni ja vielleicht so erzählt worden sein, wie Sie es dar-
gestellt haben, aber ich will Ihnen sagen, dass Mini- und
Midijobs nicht zur sozialversicherungspflichtigen Be-
schäftigung gehören. Wenn Sie heute ein Ökonomiestu-
dium aufnehmen würden, würde Ihnen das im ersten Se-
mester erläutert. Der Zuwachs an Mini- und Midijobs
kommt zu diesem Aufwuchs an sozialversicherungs-
pflichtiger Beschäftigung hinzu. Reden Sie es also nicht
klein; bleiben Sie mindestens bei der Wahrheit!


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])


– Herr Tauss, wir regieren doch noch zusammen. Ich
habe jetzt zwei Jahre lang nicht Ihre Zwischenrufe ge-
hört. Die habe ich vermisst.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Zur Frage, wo der Aufschwung ankommt und wer da-
von etwas merkt. Es mag ja sein, dass von den rund
25 oder 26 Millionen Menschen, die in Arbeit waren, als
wir die Regierung übernommen haben, nicht jeder sagt,
dass es ihm besser geht. Denn sie hatten ja schon vorher






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe
Arbeit. Aber die Millionen Menschen, die in der Amts-
zeit der Großen Koalition Arbeit bekommen haben – es
sind keine 26 Millionen, aber es sind Millionen – wis-
sen, dass es ihnen heute besser geht. Ihre Situation und
die ihrer Familien haben sich erheblich verbessert. Da-
rauf sind wir stolz. Sie bemerken den Aufschwung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Man kann also feststellen: Wir sind uns in der Großen
Koalition nicht in allem einig, aber wir haben gemein-
sam eine Menge erreicht. Wir sind gemeinsam erfolg-
reich und konzentrieren uns in der Zukunft gemeinsam
auf die Lösung der Probleme, die jetzt auf dem Arbeits-
markt noch besonders drängen. Es gibt Problemregio-
nen. Dafür gibt es unter anderem den Kommunalkombi.
Es ist richtig, dass man regional Schwerpunkte setzt, wo
sie notwendig sind.

Wir konzentrieren uns auf die Gruppen, zum Beispiel
die Langzeitarbeitslosen und die Menschen mit Behin-
derungen, die bisher vom Aufschwung weniger profi-
tieren als andere. Die Arbeitslosigkeit bei Menschen mit
Behinderungen ist in einem Jahr um 10 Prozent gesun-
ken. Das ist für sich genommen eine große Zahl. Bei ei-
nem Rückgang von insgesamt 15 Prozent zeigt das aber
auch, dass Handlungsbedarf besteht. Deswegen gehen
wir besonders an diese Problemgruppen auf dem Ar-
beitsmarkt heran.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Gleichzeitig haben wir in dieser Zeit Diskussionen,
die sich Rot-Grün in ihrer Regierungszeit gewünscht
hätte. Herr Kuhn, Sie mussten nie darüber diskutieren,
wohin man mit Milliardenüberschüssen will. So eine
Debatte kennen Sie aus Ihrer eigenen Regierungsverant-
wortung gar nicht. Wir sind froh, dass wir in einer Situa-
tion sind, in der es um die Frage geht, was wir mit den
Überschüssen machen. Unsere Position als Union ist
klar: Wir wollen die vorhandenen Überschüsse an die
Beitragszahler zurückgeben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sind zuversichtlich, dass wir uns mit unserem Koali-
tionspartner darüber verständigen können.

Ich will, weil es immer wieder um das geht, was bei
den Menschen ankommt, einmal auf Folgendes hinwei-
sen: Wenn wir eine Senkung des Arbeitslosenversiche-
rungsbeitrages auf 3,5 Prozent schaffen, dann haben
wir die Beitragszahler in der Zeit der Großen Koalition
um 20 Milliarden Euro entlastet, indem wir den Bei-
tragssatz von 6,5 Prozent auf 3,5 Prozent gesenkt haben.
Das sind eine stolze Bilanz und eine gute Leistung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist die Politik, die wir gemeinsam erarbeitet haben
und die wir gemeinsam zu vertreten haben.

Ich will an das anknüpfen, was der Arbeitsminister
gesagt hat. In der Diskussion bezüglich des Regelsatzes
im SGB II muss für uns die Priorität darin liegen, dass
alle Kinder in diesem Land eine echte Chance haben und
dass das Geld, das für die Kinder gedacht ist, in der Tat
bei den Kindern ankommt. Das ist unsere gemeinsame
Verantwortung, der wir gerecht werden.

Wir stehen als Große Koalition gemeinsam, denke
ich, für das, was in Meseberg verabredet worden ist. Wir
sind vertragstreu. Das sage ich ganz deutlich. Das gilt
auch für alle Verabredungen, die wir zum Mindestlohn
getroffen haben. Aber klar ist natürlich auch: Es gibt ein
paar ungewöhnliche Entwicklungen, über die man reden
muss. Sie haben es angesprochen. Es geht zum Beispiel
um den ehemaligen Arbeitsminister von Herrn Beck. Ich
habe den Bundesarbeitsminister danach gefragt. Es ist
wirklich so: Herr Gerster ist nicht wegen neoliberaler
Umtriebe von Herrn Beck entlassen worden, sondern da-
mals aus anderen Gründen ausgeschieden.

Herr Gerster kündigte gestern die Gründung einer
neuen Gewerkschaft an. Er sagte: Es gibt Leute, die sich
von Verdi nicht vertreten fühlen. Es könne dieser Tage
eine Gewerkschaftsgründung geben, und vielleicht gebe
es dieses Jahr noch miteinander konkurrierende Tarifver-
träge.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Ex-Arbeits-
minister der SPD sucht sich eine Gewerkschaft, die tap-
fer für niedrige Löhne kämpft. Das ist politisch ein Stück
aus dem Tollhaus.


(Beifall des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE] – Ludwig Stiegler [SPD]: Wir müssen fest zusammenstehen, damit das nicht passiert! Fest zu Meseberg stehen! Mit Meseberg gegen Gerster!)


Wir werden sehen müssen, wie wir rechtlich damit um-
zugehen haben; aber es ist ein Stück aus dem Tollhaus.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Deswegen werden wir sorgfältig das zu prüfen haben,
was auch angesichts angekündigter Klagen einer rechtli-
chen Analyse bedarf. Wir stehen zu den Verabredungen,
die wir getroffen haben.

Lassen Sie mich noch etwas zum Arbeitslosengeld I
sagen, weil es sich in der Debatte immer um Jüngere und
Ältere dreht. Als CDU haben wir auf unserem Bundes-
parteitag einen Beschluss gefasst, Herr Kuhn, aus dem
ich nur einen Punkt zitieren will, über den häufig nicht
gesprochen wird. Wir haben festgelegt, dass wir längere
Zahlungen nicht ans Lebensalter, sondern an die Bei-
trags- und Lebensleistung knüpfen wollen. Wer 15 Jahre
lang eingezahlt hat, soll 15 statt 12 Monate lang Arbeits-
losengeld beanspruchen können. Was hat das denn mit
Älteren zu tun? Bei uns gibt es Leute – ich denke hier an
meinen Stellvertreter Stefan Müller –, die mit 16 Jahren
angefangen haben, Beitrag zu zahlen. Wenn jemand mit
16 anfängt, Beiträge zu zahlen, dann hat er nach unserem
Konzept mit 31 Jahren Anspruch auf eine um drei Mo-
nate längere Arbeitslosengeldzahlung. Wird da ein Älte-
rer begünstigt? Er kann noch in der Jungen Union sein,
sogar bei den Jusos könnte er sein; er darf noch nicht bei
den alten Herren Fußball spielen. Ein Anfang-30-Jähri-
ger ist doch kein Alter, der da begünstigt wird. Es gibt si-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe
cherlich auch andere, die 30 Semester Politologie studie-
ren. So etwas steht Ihnen in Ihrer Fraktion, Herr Kuhn,
vielleicht näher als die Werdegänge, die wir bei uns ha-
ben.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Ich sage Ihnen ganz deutlich: Es geht nicht um Jüngere
oder Ältere, sondern es geht darum, Beitrags- und Le-
bensleistung zu honorieren. Das ist unser Vorschlag, mit
dem wir in die weiteren Gesprächen gehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611802500

Das Wort erhält der Kollege Jörg Rohde für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1611802600

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren der Koalition! Vor allem aber: Sehr geehrte
ehemalige Beteiligte an der rot-grünen Regierungskoali-
tion von 2002 bis 2005! Ich gehe zunächst auf die heu-
tige Debatte ein. Herr Müntefering, Sie haben die Zeitar-
beit erwähnt und gesagt, es solle sich nicht um
Dauerarbeitsplätze handeln. Aber es gibt beispielsweise
in der IT-Branche Arbeitnehmer, die es ablehnen, einen
Arbeitsplatz in dem Unternehmen anzunehmen, in dem
sie eingesetzt sind. Denken Sie bitte auch an diese Ar-
beitnehmer, Herr Minister, die in einer sicheren Zeitar-
beitsfirma bleiben möchten.

Leider haben Sie heute kein Wort zu den immer noch
hohen Arbeitslosenzahlen bei den Schwerbehinderten
gesagt. Hier bin ich Herrn Brauksiepe für seine Bemer-
kung sehr dankbar.

Herr Gysi, Arbeitszeitverkürzung ist der falsche Weg.
Die 35-Stunden-Woche, die übrigens von der IG-Metall
durchgesetzt wurde, hat sehr viele Arbeitsplätze ge-
schaffen – aber im Ausland und nicht hier in Deutsch-
land, Herr Gysi.


(Beifall bei der FDP – Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: So ein Quatsch!)


Herr Stiegler, eine Antwort sind Sie schuldig geblie-
ben. Es wäre natürlich interessant gewesen, zu erfahren,
wie sich die SPD-Bundestagsfraktion beim Thema
ALG I positioniert. Ich dachte, dies sei gerade für Ihre
Partei eine zentrale Frage.


(Beifall bei der FDP)


Mit unserem heutigen Entschließungsantrag eröffnen
wir von der FDP allen Kolleginnen und Kollegen, be-
sonders aber den Abgeordneten der SPD, die Möglich-
keit,


(Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD])


sich zu Ihren Überzeugungen von 2003 zu bekennen.
Bleiben Sie heute standhaft und stimmen Sie Ihrer eige-
nen wortwörtlichen Begründung zur damaligen Verkür-
zung der Bezugsdauer des ALG I noch einmal zu!


(Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Über Begründungen wird aber normalerweise nicht abgestimmt!)


Diese Argumente waren damals richtig und sind es heute
noch. Sie sollten zu Ihrer Meinung stehen.

Andernfalls erklärten Sie heute, dass Sie damals Fal-
sches beschlossen hätten. Oder hängen Sie heute Ihre
Meinung wie eine Fahne in einen populistischen linken
Wind? Wir Liberale freuen uns schon auf den Abgleich
der Namen nach Auszählung der heutigen namentlichen
Abstimmung. Damals haben schließlich 592 Abgeord-
nete diesem Gesetz zugestimmt.


(Dirk Niebel [FDP]: Ziemlich große Mehrheit!)


Anstatt aber den älteren Arbeitssuchenden Steine in
Form von vermeintlichen Wohltaten durch einen verlän-
gerten ALG-I-Bezug in den Weg zu legen, sollten Sie
den Jobsuchenden über 50 Jahre lieber die Türen des Ar-
beitsmarktes weiter öffnen. Über die Jahrzehnte haben
sich etliche Beschäftigungs- und Wiedereinstellungs-
hemmnisse für Ältere in die Arbeitsmarktgesetzgebung
eingeschlichen. Einige wenige davon sind durch die Ar-
beitsmarktreformen von Rot-Grün beseitigt worden.
Aber anstatt nun auch die restlichen Beschäftigungs-
hemmnisse für Ältere auszuräumen, diskutieren Sie da-
rüber, wie man das Rad wieder zurückdrehen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, lassen Sie
sich bei dieser Diskussion nicht von der SPD einwi-
ckeln; drängen Sie lieber auf eine Entrümpelung der Ar-
beitsmarktgesetze!


(Beifall bei der FDP)


Meine Damen und Herren, lassen Sie sich von der FDP
einmal kurz sagen, wodurch ältere Beschäftigte und Ar-
beitslose bedroht bzw. am Wiedereintritt in den Arbeits-
markt behindert werden. Die Regelung zur Altersteilzeit
stellt einen Fehlanreiz zum vorzeitigen Arbeitsende dar.
Miserable Hinzuverdienstmöglichkeiten machen die Er-
werbstätigkeit parallel zum Altersrentenbezug völlig un-
attraktiv. Die 58er-Regelung lässt die Potenziale der über
58-Jährigen ungenutzt verkümmern.


(Beifall bei der FDP)


Diese Missstände gilt es anzugehen.


(Dirk Niebel [FDP]: Sehr richtig!)


Wir dürfen nicht das vorzeitige Arbeitsende subven-
tionieren, sondern wir müssen alle Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer durch kontinuierliche Weiterqualifi-
zierung länger am Arbeitsmarkt halten. Wir müssen die
58er-Regelung, mit der ältere Arbeitslose nur noch ge-
fördert, aber nicht mehr gefordert werden, wie geplant
auslaufen lassen. Da ich gestern im Ausschuss sehr ge-
nau zugehört und den Vorstoß der SPD bemerkt habe,
sage ich Ihnen: Hände weg von diesem Gesetz!


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Jörg Rohde
Auch für diejenigen, die schon eine Altersrente bezie-
hen, müssen wir es durch eine Erhöhung der Hinzuver-
dienstgrenzen attraktiv machen, einem Nebenerwerb
nachzugehen.

Allerdings nahen Weihnachten und Parteitage, und
schon wollen linke Sozialromantiker und Märchenerzäh-
ler in der SPD und vielleicht auch in der Union auf Kos-
ten der Beitragszahler ein Wahlgeschenk kaufen, dessen
Umfang die Haushaltspolitiker auf mindestens 2 Milliar-
den Euro taxieren. Lassen Sie diesen Unsinn, meine Da-
men und Herren! Folgen Sie den Vorschlägen der FDP
und nutzen Sie die Überschüsse der Bundesagentur für
Arbeit für eine größtmögliche Senkung des Beitrags zur
Arbeitslosenversicherung. Denn davon profitieren alle
Arbeitnehmer.


(Beifall bei der FDP)


Dadurch würde die Arbeit in Deutschland günstiger und
wettbewerbsfähiger, und es würden mehr Arbeitsplätze
entstehen. So bringen wir Deutschland voran.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
kehren Sie zur Vernunft zurück! Beenden Sie jetzt Ihren
Wettstreit mit der Fraktion Die Linke um die schlech-
teste und teuerste Arbeitsmarktpolitik! Bleiben Sie in der
Arbeitsmarktpolitik dem Grundsatz des Förderns und
Forderns treu! Bekräftigen Sie die Gesetzesbegründung
aus dem Jahre 2003 und folgen Sie heute dem Antrag
der FDP!

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611802700

Das Wort erhält der Kollege Klaus Brandner für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1611802800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Die heutige Regierungserklärung,
die mit den Stichworten Aufschwung, Teilhabe, Wohl-
stand und Chancen für den Arbeitsmarkt überschrieben
ist, weist darauf hin, dass die gute wirtschaftliche Ent-
wicklung für die Menschen gestiegene Chancen am Ar-
beitsmarkt mit sich gebracht hat.

Das Handelsblatt hat gestern gemeldet, dass sich die
deutsche Wirtschaft im Hinblick auf die Auftragsein-
gänge in einem Investitionsrausch befindet. Auch bei der
Industrieproduktion sind positive Zahlen zu verzeich-
nen. Die wirtschaftliche Entwicklung ist robust, und
das in einem schwierigen Umfeld, in dem die Rohöl-
preise und der Eurokurs auf Rekordniveau sind und in
dem die Immobilienkrise in den USA auf die deutschen
Banken ausstrahlt und auch auf die Situation anderer
Unternehmen Auswirkungen hat.

Trotz dieses schwierigen internationalen Umfeldes ist
es uns erstens gelungen, die Zahl der Arbeitslosen von
gut 5 Millionen auf 3,5 Millionen Menschen zu reduzie-
ren. Zweitens ist es uns gelungen, dafür zu sorgen, dass
der Finanzminister voraussichtlich in diesem Jahr erst-
mals einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen kann.
Wann konnte zuletzt ein Rückgang der Arbeitslosigkeit
in Millionenhöhe verkündet werden? Das ist ein ent-
scheidender Erfolg unseres Arbeits- und Sozialministers
Franz Müntefering. Ich finde, das sollte heute herausge-
stellt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wann konnte ein Finanzminister so positive Zahlen vor-
legen, wie dies Peer Steinbrück tun konnte?


(Beifall bei der SPD)


Das ist ein hervorragender Erfolg unseres Finanzminis-
ters, der seinesgleichen sucht.

Die Fakten können sich im internationalen Vergleich
sehen lassen, vor allem dann, wenn man berücksichtigt,
dass kein anderes westeuropäisches Land die Kosten der
deutschen Vereinigung zu schultern hatte; diese Kosten
waren übrigens nicht aus der Portokasse zu zahlen, wie
uns manche glauben machen wollten.

Die Profiteure dieser guten Entwicklung sind die
1,5 Millionen Menschen, die wieder Arbeit gefunden ha-
ben. Wir sind dem Ziel, mehr Beschäftigung zu schaffen,
schon ein großes Stück näher gekommen. Damit geben
wir uns aber nicht zufrieden. Wir wollen noch mehr
Menschen Teilhabe und Arbeit ermöglichen, und wir
wollen gute Arbeitsbedingungen schaffen, damit die
Menschen in Würde arbeiten können. Deshalb folgen
wir unserer Leitlinie, die deutlich zum Ausdruck bringt:
Wir wollen die Reformen am Arbeitsmarkt menschen-
würdig und mit Augenmaß umsetzen; bei manchen Re-
formen ist das in der Vergangenheit leider aus dem Blick
geraten. Das hat für uns Sozialdemokratinnen und So-
zialdemokraten das Prä, und dafür stehen wir ein.


(Frank Schäffler [FDP]: Was heißt das konkret?)


Wir wollen, dass die wirtschaftliche Dynamik nicht nur
wenigen, sondern möglichst vielen Menschen nutzt. Wir
wollen – das haben wir mit dem Agendaprozess gezeigt –,
dass von diesem erfolgreichen Prozess am Ende alle et-
was haben.

Wir Sozialdemokraten haben für die Agenda einiges
an gesellschaftlichem Gegenwind in Kauf genommen.
Heute ist noch einmal deutlich geworden, dass unser jet-
ziger Koalitionspartner dabei nicht immer mit hilfrei-
chen Äußerungen aufgetreten ist.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr! Aber da sind wir nachsichtig!)


Es gibt viele Ministerpräsidenten, es gibt selbst Regie-
rungsmitglieder, die sich oft einen schlanken Fuß ge-
macht haben. Rüttgers ist sicherlich nur ein Name. Er hat
über die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslo-
sengeld I schwadroniert, tatsächlich will er eine massive
Kürzung der Leistungen. Das muss an dieser Stelle auch
ganz offen angesprochen werden.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Klaus Brandner
Insofern wäre zumindest aus meiner Sicht – die Bundes-
kanzlerin ist nicht mehr da – ein deutlicheres Wort in
mancher Situation erwünscht und hilfreich gewesen,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dürfen wir Sie zitieren?)


um diesen sozial gesteuerten Reformprozess systema-
tisch fortsetzen zu können.

Denn die Erfolge sind da. Die Erfolge der Großen
Koalition – auf sie ist heute mehrfach hingewiesen wor-
den –, aber auch die Erfolge, für die wir zusammen mit
einem anderen Koalitionspartner den Grund bereitet ha-
ben, für die Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder den
Grund bereitet hat, haben uns neue Spielräume und neue
finanzielle Möglichkeiten gegeben, die wir nutzen


(Beifall bei der SPD)


für Investitionen in die Zukunft, die wir nutzen für eine
bessere Bildung für unsere Kinder, die wir nutzen für
mehr Innovationen, für gute Arbeit und die wir nutzen
für eine bessere Infrastruktur und nicht zuletzt für eine
Klimapolitik, die uns ein Leben auf diesem Planeten erst
ermöglicht. Das sind die Zukunftsaufgaben, denen wir
uns stellen.

Konjunktur und Arbeitnehmerrechte, das ist immer
eine große Herausforderung, der wir uns stellen müssen.
Dabei ist es aus meiner Sicht ganz wichtig, dass man
klarstellt, dass Wachstum auch ohne den Abbau von Ar-
beitnehmerrechten geschieht.


(Beifall bei der SPD)


Ich kann mich sehr gut an die heftigen und ideologischen
Diskussionen über Mitbestimmungsrechte, über Tarif-
autonomie, über Kündigungsschutz erinnern. Sie alle
sollten geschliffen werden, Teile sollten geopfert wer-
den, damit wir wieder mehr Arbeit in diesem Land ha-
ben. Ich sage ganz deutlich: Die Sicherung der Arbeit-
nehmerrechte, die mir ein Herzensanliegen ist, steht
wirtschaftlichem Wachstum nicht entgegen.


(Beifall bei der SPD)


Die Menschen brauchen Sicherheit, sie brauchen Boden
unter den Füßen, damit sie innovativ und kreativ zum
Wohle unseres Landes wirken können. Deshalb gibt es
mit uns keinen Abbau des Kündigungsschutzes, um es
klar und deutlich zu sagen.


(Beifall bei der SPD)


In den letzten Tagen ist über die Beschäftigung Älte-
rer und über die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I
diskutiert worden. Wir machen uns diese Diskussion
nicht leicht, wie Sie alle wissen und erleben. Da hat es
Herr Rüttgers schon leichter. Diese Diskussion – lassen
Sie mich das sagen – hat allerdings neben dem Inhaltli-
chen eine positive Begleiterscheinung: Wir können bei
dieser Diskussion auf die grandiosen Erfolge der Ar-
beitsmarktpolitik dieser Regierung und der Vorgänger-
regierung hinweisen. Sie wäre sonst niemals so zur
Kenntnis genommen worden. Rechte und Linke im Haus
hätten niemals so gelobt, was sich am Arbeitsmarkt alles
bewegt hat. Das ist auch ein Punkt, der manchmal erst
auf Umwegen zutage tritt. – Ich sehe freundliches Ni-
cken bei unserem Koalitionspartner, in den Reihen der
CDU/CSU. – Das wäre ansonsten kleingeredet worden.
Dieser Erfolg kann sich sehen lassen. Er gibt Menschen
Hoffnung und Halt. Darauf können wir stolz sein.


(Beifall bei der SPD)


Die Erfolge am Arbeitsmarkt, gerade für Ältere,
sind angesprochen worden – ich will sie nicht alle wie-
derholen –: Über 200 000 Menschen über 50 haben im
letzten Jahr Arbeit gefunden. Die Erwerbsbeteiligung
der Älteren ist deutlich gestiegen von 38 Prozent in den
90er-Jahren auf über 52 Prozent jetzt. Das sind gute Zah-
len. Aber damit dürfen wir uns insgesamt gesehen nicht
zufriedengeben. Wir brauchen eine noch viel höhere Er-
werbsbeteiligung Älterer. Wenn unsere Bevölkerung
schrumpft, wenn immer weniger Jüngere nachwachsen,
muss unser Wohlstand mehr und mehr von den Älteren
mit geschaffen werden. Deshalb brauchen wir eine hö-
here Erwerbsbeteiligung aller Bevölkerungsgruppen,
insbesondere der Älteren. Das setzt ein Umdenken in
den Betrieben voraus. Der Prozess des altersgerechten
Arbeitens beginnt erst. Er wird noch dauern, wie wir
wissen. Deshalb wollen wir die Bezugsdauer von
Arbeitslosengeld I für Ältere unter diesem Risikoge-
sichtspunkt verlängern. Wir wollen diesem Umstand
Rechnung tragen.

Deshalb sage ich aber auch ganz deutlich: Die Aufre-
gung in der Diskussion darüber, dass damit eine Abkehr
von der Agendapolitik verbunden sei, ist völlig überzo-
gen. Ich sehe dafür überhaupt keinen Zusammenhang.


(Beifall bei der SPD)


Die eigentliche Herausforderung liegt ganz woanders.
Die Zukunftsfragen heißen: Wie können wir die Bun-
desagentur für Arbeit zu einer Beschäftigungsversiche-
rung weiterentwickeln? Wie muss eine präventive Ar-
beitsmarktpolitik aussehen, damit Arbeitslosigkeit erst
gar nicht entsteht? Wie sieht eine Arbeitsmarktpolitik für
eine Welt mit völlig veränderten Erwerbsbiografien aus?

Die Anforderungen an ein Erwerbsleben haben sich
deutlich verändert. Elternzeiten für beide Ehepartner,
Pflegezeiten für Eltern, Sabbaticals zur Weiterbildung,
eine völlig neue berufliche Ausrichtung, all das ist neben
neuen Berufsbildern gefragt. Hierzu werden von uns,
verbunden mit dem Stichwort gleitende Übergänge in
den Ruhestand zum Beispiel auch aus gesundheitlichen
Gründen, Antworten erwartet. Wir müssen Antworten
darauf finden, wie wir die höheren Flexibilitätsanforde-
rungen mit Sicherheit verbinden können.

Die Bundesagentur der Zukunft muss sich deshalb
mehr in Richtung einer präventiven Politik orientieren:
Beratung in der Schule, in der Ausbildung, bei den Über-
gängen aus der Schule in das Arbeitsleben und aus Fami-
lienzeiten, bei der Weiterbildung, bei der Qualifizierung
und bei der zweiten Chance. Die Aufgabe, für eine quali-
tativ hochwertige Arbeitsmarktpolitik zu sorgen, bleibt
bestehen. Deshalb besteht aus unserer Sicht die Aufgabe,
dafür zu sorgen, dass Arbeitslosigkeit gar nicht erst ent-
steht. Mit dieser Zukunftsorientierung gehen wir an die
Arbeitsmarktpolitik heran.






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Brandner
Deshalb sage ich ganz deutlich: Es geht nicht vorran-
gig um die Frage, ob der Beitrag zur Arbeitslosenversi-
cherung angesichts der guten Finanzsituation um weitere
0,3 Prozentpunkte gesenkt werden kann.


(Beifall bei der SPD)


Im Vordergrund steht, dass wir neben der Beitragssatz-
senkung von 6,5 Prozent auf 4,2 Prozent – eine weitere
Senkung auf 3,9 Prozent ist jetzt schon beschlossen – die
Frage beantworten müssen, welche Aufgaben zukünftig
wahrgenommen werden sollen, damit die Menschen
möglichst schnell wieder in Arbeit kommen, um nicht
aus dem Arbeitsprozess herauszufallen


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und um dafür zu sorgen, dass die Arbeitslosenversiche-
rung zu einer Beschäftigungsversicherung weiterentwi-
ckelt wird.

Uns geht es um gute Arbeit. Ich habe gesagt, die Ar-
beitswelt hat sich verändert – nicht nur als Folge von
veränderten Wünschen Einzelner, sondern auch wegen
anderer Lebensentwürfe und des globalen Wettbewerbs.
Wir wissen, dass Teile der Wirtschaft mit einfachen Re-
zepten darauf reagieren: Lohnsenkungswettbewerb,
Leiharbeit, Rückkehr zu kürzeren Taktzeiten, Umgehung
von Tarifverträgen, verstärkte Schichtarbeit an Wochen-
enden und Ähnliches. Der Druck wird einfach an die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitergereicht. Das
wollen wir nicht. Ich kann nur davor warnen. Das ist zu
kurz gesprungen. Der richtige Weg für uns ist: nicht län-
ger, schneller und härter, sondern besser, intelligenter
und qualifizierter. Das sind die Losungen, für die unsere
Arbeitsmarktpolitik steht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Gerade für
das Thema Zeitarbeit sind uns gute Beispiele bekannt
– zum Beispiel bei Audi –, mit denen deutlich gemacht
wird, dass wir den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“ früher verwirklichen müssen und dass Mindest-
löhne notwendig sind, damit es nicht dazu kommt, dass
man bei vollschichtiger Arbeit nicht von seinem Arbeits-
einkommen leben kann.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1611802900

Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Müller für

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1611803000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als

die Große Koalition vor zwei Jahren ihre Arbeit aufge-
nommen hat, haben die Menschen in diesem Land die
Hoffnung damit verbunden, dass die drängenden Pro-
bleme in diesem Land endlich gelöst werden.

(Jörg Tauss [SPD]: Wie bisher!)


Ich kann heute feststellen: Wir haben die Hoffnungen
der Menschen nicht enttäuscht.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig!)


Wir haben uns der Lösung der drängenden Probleme in
unserem Land zugewandt. Wir haben uns den Herausfor-
derungen, die Globalisierung und demografischer Wan-
del mit sich bringen, gestellt und versuchen, sie einer
Lösung zuzuführen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das gilt ausdrücklich nicht nur für die Arbeitsmarkt-
und Sozialpolitik, sondern das gilt auch für viele andere
Bereiche, in denen es heute nachweisbare Erfolge unse-
rer Politik gibt: im Bereich der Finanz- und Haushalts-
politik, im Bereich der Umwelt- und Energiepolitik und
im Bereich der Familienpolitik, um nur ein paar Bei-
spiele zu nennen. Aber wir haben von vornherein gesagt:
Das zentrale Handlungsfeld dieser Regierung und der sie
tragenden Fraktionen ist die Arbeitsmarktpolitik, weil
sich politische Erfolge dort unmittelbar messen lassen
und bei den Menschen unmittelbar ankommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Erfolge unserer Arbeit lassen sich heute an den
Zahlen ablesen. Ich glaube, die Zahlen sind so gut, dass
man sie immer wieder vortragen sollte: Die Arbeitslosig-
keit betrug im September 2005 4,6 Millionen, im Sep-
tember 2007 3,5 Millionen. Sozialversicherungspflichtig
beschäftigt waren im September 2005 26,5 Millionen
Menschen, im September 2007 26,9 Millionen. Wir ha-
ben weniger Jugendliche, die arbeitslos sind, und mehr
Ältere, die wieder eine Beschäftigung gefunden haben.
Diese Zahlen zeigen, dass die Große Koalition erfolg-
reich arbeitet. Wir leisten unseren Beitrag dazu, dass im-
mer weniger Menschen auf Fürsorge angewiesen sind
und immer mehr Menschen von ihrer eigenen Arbeit le-
ben können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das, was wir in zwei Jahren gemeinsam mit der SPD
erreicht haben, kann sich sehen lassen und lässt sich in
verschiedenen Bereichen der Arbeitsmarktpolitik able-
sen, zum Beispiel bei der Senkung des Beitrags zur
Arbeitslosenversicherung um 2,3 Prozentpunkte. Wir
haben damit nicht nur die Lohnzusatzkosten gesenkt,
Arbeit und Arbeitsplätze in Deutschland wieder wettbe-
werbsfähig gemacht, sondern gleichzeitig auch dafür ge-
sorgt, dass den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
in unserem Land von ihrem Bruttolohn netto mehr übrig
bleibt. Das ist ein Erfolg, auf den wir stolz sein können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nun gibt es ja einen Antrag der FDP.


(Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Vielleicht möchte Herr Dr. Kolb dazu eine Zwischen-
frage stellen.






(A) (C)



(B) (D)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611803100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dr. Kolb?


Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1611803200

Bitte schön.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1611803300

Herr Kollege Müller, nachdem heute immer wieder

die angeblichen Entlastungen der Arbeitnehmer von den
Vertretern der Koalition beschworen werden, möchte ich
Sie fragen: Wären Sie denn bereit, uns zu sagen, wie
hoch die Mehrbelastungen der Arbeitnehmer auf-
grund der Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge,
der Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge, der ab-
sehbaren Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrages
und der Erhöhung der Mehrwertsteuer sind? Ich glaube,
dass sich insgesamt ein negativer Saldo ergibt. Stimmen
Sie dem zu?


Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1611803400

Ich stimme dem ausdrücklich nicht zu, Herr Kollege

Dr. Kolb. Wir führen diese Debatte ja heute nicht zum
ersten Mal. Ich gebe Ihnen gern noch einmal die Unter-
lagen des Instituts der deutschen Wirtschaft, aus denen
ich im Ausschuss schon einmal zitiert habe. Dieses Insti-
tut kommt im Endergebnis dazu, dass es eine Entlastung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegeben hat.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allein die Zusatzbelastung durch die Mehrwertsteuererhöhung!)


Ich stelle Ihnen diese Unterlagen sehr gerne zur Verfü-
gung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Herr Kollege Dr. Kolb, uns liegt heute ein Antrag der
FDP mit dem Titel „Überschüsse der Bundesagentur für
Arbeit an Beitragszahler zurückgeben – Beitragssen-
kungspotenziale nutzen“ vor. Sie sprechen sich darin für
eine weitere Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenver-
sicherung mindestens auf 3,5 Prozent aus. Dieser Antrag
trägt das Datum 19. September 2007. Dazu fällt mir nur
ein: Guten Morgen! Auch schon ausgeschlafen? – All
das, was Sie in diesem Antrag fordern, haben Vertreter
der Großen Koalition schon seit Wochen und Monaten in
diesem Hause immer wieder besprochen und beschlos-
sen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir diesen Weg
weitergehen werden. Ihre Nachhilfe haben wir in diesem
Zusammenhang jedenfalls nicht nötig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben Fehlentwicklungen im SGB II abgebaut.
Da ging es nicht allein darum, Missbrauch zu bekämp-
fen, sondern auch darum, ungerechtfertigte Inanspruch-
nahme einzudämmen und vor allem die knapper werden-
den Mittel auf diejenigen zu konzentrieren, die wirklich
Hilfe brauchen. Wir haben mit der Initiative „50 plus“
die Beschäftigungschancen und -perspektiven für ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land
verbessert, gleichzeitig aber ein Signal gegeben, dass die
Wirtschaft jetzt nicht länger nur von Beschäfti-
gungschancen Älterer sprechen darf, sondern in der
Pflicht ist, dafür zu sorgen, dass Menschen über
50 wirklich wieder eingestellt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir werden diesen Kurs fortsetzen, insbesondere im
Hinblick auf diejenigen, bei denen dieser Aufschwung
am Arbeitsmarkt so noch nicht angekommen ist. Die
Zahlen werden immer wieder deutlich gemacht; sie wer-
den auch gar nicht bestritten. Nicht wahr ist, dass der
Aufschwung an den Langzeitarbeitslosen und den Men-
schen mit geringeren Qualifikationen bislang komplett
vorbeigegangen ist. In der Tat können wir uns da aber
noch sehr viel mehr wünschen. Gerade für diese Gruppe
der Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten
sind wir in der Verantwortung, mehr zu tun.

Eine zweite Gruppe, um die wir uns intensiv küm-
mern müssen, sind die Jugendlichen. Der Kollege
Brandner hat sie bereits angesprochen. Auch hier gilt es,
noch mehr Anstrengungen zu unternehmen, um die Ju-
gendlichen in eine Beschäftigung zu bringen. Es bleibt
dabei: 400 000 jugendliche Arbeitslose unter 25 sind im-
mer noch 400 000 zu viel. Es bleibt dabei, dass auch die-
jenigen eine Chance bekommen müssen, die heute die
Hauptschule verlassen, ohne anschließend unterzukom-
men. Auch für sie werden wir noch einiges machen.

Unser Ziel ist, dass kein junger Mann und keine junge
Frau die Schule verlässt und dann in die Arbeitslosigkeit
fällt. Unser Ziel ist – das haben wir schon mehrfach for-
muliert –, dass jedem, der die Schule verlässt, ein Aus-
bildungsplatz, ein Arbeitsplatz, eine Qualifizierungs-
maßnahme oder eine gemeinnützige Beschäftigung
angeboten wird. All das ist besser, als zu Hause herum-
zusitzen, weil man keine Arbeit hat.

Wir haben in den letzten zwei Jahren dafür gesorgt,
dass diejenigen, die Hilfe brauchen, diese auch bekom-
men. Wir haben Instrumente geschaffen, um Menschen
mit besonderen Vermittlungshemmnissen bessere Chan-
cen am Arbeitsmarkt zu bieten, und wir haben dafür ge-
sorgt, dass die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands
hinsichtlich der Arbeitsplätze verbessert wurde.

Insofern rufe ich Ihnen zu: Die Zeiten der ruhigen
Hand in Deutschland sind vorbei. Deutschland bewegt
sich nach vorn. Das ist auch das Verdienst dieser Bun-
desregierung und der sie tragenden Fraktionen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Und von Franz Müntefering!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611803500

Nächster Redner ist der Kollege Rolf Stöckel für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rolf Stöckel (SPD):
Rede ID: ID1611803600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundes-

minister Müntefering hat heute Morgen eine eindrucks-






(A) (C)



(B) (D)


Rolf Stöckel
volle Zwischenbilanz und einen ausführlichen Ausblick
auf die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dieser Bundesre-
gierung gegeben. Ich glaube, wir können ein bisschen
stolz darauf sein, dass wir hinsichtlich der Ziele, mit de-
nen wir angetreten sind, in der Tat inzwischen erste Er-
folge auf dem Arbeitsmarkt verzeichnen, die auch nach-
haltig sind. Es bleibt richtig und prioritär, dass verstärkt
in Qualifizierung und Beschäftigung investiert wird, und
es zeigt sich, dass diese Anstrengungen vor allen Dingen
die älteren Arbeitnehmer erkennbar erreicht haben.

Das heißt aber auch – Minister Müntefering hat die
Beschlüsse der Bundesregierung, die wir noch umzuset-
zen haben, angesprochen –, dass diese Politik ständig
verbessert und weiterentwickelt werden muss. Es ist
keine Schande – das hat diese Debatte ausdrücklich do-
kumentiert –, dass gerade eine Partei wie die SPD da-
rüber diskutiert, wie man einerseits eine richtige Antwort
auf die besondere Situation von älteren Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern und Arbeitslosen findet
und auf der anderen Seite für neue Arbeitsbiografien und
neue Herausforderungen gerade für junge Familien mit
Kindern, die auch vom Risiko der Arbeitslosigkeit be-
droht sind, neue Lösungen findet, die dazu beitragen,
dass die Armutsrisiken von Familien und besonders
von Kindern nachhaltig abgebaut werden.


(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler [SPD])


Im Streit in der SPD geht es auch darum, dass die
Arbeitslosenversicherung, die wir zu einer Beschäfti-
gungs- und Arbeitsversicherung weiterentwickeln wol-
len, eine solidarische Risikoversicherung ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Äquivalenz von Lebensleistung und gezahlten Bei-
trägen spielt eine große Rolle. Ich glaube, darauf müssen
wir auch eine Antwort geben. Sie drückt sich in dem
prozentualen Anteil des Arbeitslosengeldes I am bisheri-
gen Verdienst aus; sie muss sich aber auch in einer zeitli-
chen Differenzierung ausdrücken. Diese besteht zwar
schon, aber sie kann womöglich verbessert werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Eines wird die SPD nicht mitmachen – das muss ich
als Nordrhein-Westfale auch dem dortigen Ministerprä-
sidenten Rüttgers klar sagen –: durch das alleinige Beto-
nen der Leistungsgerechtigkeit einen schleichenden Weg
in eine private Ansparversicherung anzubahnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Situation junger Familien und das Armutsrisiko
von Kindern war in den letzten Wochen vor allem durch
Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften ein
öffentliches Thema, das zunehmend an Bedeutung ge-
winnt. Deswegen begrüße ich die Zusage des Bundesar-
beitsministers, gerade in diesem Bereich nicht nur die
Modi der Transferleistungen zu überprüfen, sondern mit-
zuhelfen, zu einem koordinierten Vorgehen und einem
Bündnis gegen Kinderarmut und für Bildungs- und
Lebenschancen von Kindern zu kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozial-
hilfe hat viele Menschen aus der verdeckten und ver-
schämten Armut in die soziale Grundsicherung nach
dem SGB II geholt. Sie hat die Statistik ehrlicher ge-
macht und die staatlichen Instrumente zur Bekämpfung
der Langzeitarbeitslosigkeit und der Armut verbessert.
Arbeitsplätze und existenzsichernde Familieneinkom-
men sind prioritär und stellen die materielle Basis zur
Vermeidung von Kinderarmut dar. Der Erfolg unserer
Politik ist sichtbar. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Hartz IV
ist deshalb auch zweieinhalb Jahre nach Inkraftteten des
Gesetzes – sicherlich ist noch vieles zu verbessern – we-
der der Grund für zunehmende Armut noch ein geeigne-
ter Gradmesser.

Entscheidend ist die Weiterentwicklung der von uns
eingeleiteten Maßnahmen der Familien-, der Gesund-
heits-, der Bildungs-, der Arbeitsmarkt-, der Sozial- und
der Integrationspolitik. Ich rufe dem neuen Ministerprä-
sidenten Bayerns zu, der heute in einem Interview sagt,
er habe Verständnis dafür, wenn ältere Arbeitslose mehr
und länger Arbeitslosengeld I bekommen wollten als
Menschen aus der Türkei oder Bosnien: Ich finde, diese
Form der Spaltung von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern gehört in das 20. Jahrhundert, aber nicht in eine
moderne Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.


(Beifall bei der SPD)


Unser Ziel bleibt, dass möglichst viele Menschen un-
abhängig von einer staatlichen Grundsicherung leben
können – Hilfe zur Selbsthilfe –, dass sie sich aber im
Bedarfsfall auch darauf verlassen können. Ausmaß und
Gründe für Armutsrisiken bei Kindern sind viel weitge-
hender, als diejenigen meinen, die öffentlich immer wie-
der auf Armut durch Hartz IV verweisen. Zu keiner Zeit
hat es mehr Maßnahmen sowie Struktur- und Leistungs-
verbesserungen zur Bekämpfung der Armutsrisiken bei
Kindern gegeben als heute. Wir haben seit 1998 – zuerst
unter Rot-Grün, dann in der Großen Koalition – die Fa-
miliensozialleistungen wesentlich verbessert: dreimalige
Erhöhung des Kindergeldes und des steuerfreien Exis-
tenzminimums, Senkung der Eingangssteuersätze, För-
derprogramme für soziale Städte, erweiterte Rechts-
ansprüche, Leistungen nach dem SGB II sowie
Kinderzuschlag für Familien. Die Bundesländer haben
4 Milliarden Euro für den Ausbau von Ganztags-
grundschulen bekommen. Wir haben mit dem größten
Investitionsprogramm in der Geschichte, dem Tagesbe-
treuungsausbaugesetz, eine enorme Kraftanstrengung
unternommen, um die Strukturen insbesondere bei der
Betreuung der unter Dreijährigen zu verbessern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Frau Merkel hat vor einigen Monaten die Initiative er-
griffen und gefordert, die Kinderrechte sowie das Recht
auf Förderung und Entwicklung in das Grundgesetz auf-
zunehmen. Die Debatte darüber muss dazu führen, diese
Initiative zu unterstützen und zu einem gemeinsamen
Vorgehen der föderalen Ebenen zu kommen. Nur so wer-
den wir Strukturverbesserungen erreichen, die notwen-
dig sind, um Kinderarmut auf allen Ebenen zu bekämp-
fen.






(A) (C)



(B) (D)


Rolf Stöckel

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die meisten Kinder und Jugendlichen in Deutschland le-
ben in Wohlstand. Aber das heißt nicht automatisch, dass
sie gegen Misshandlungen oder Verwahrlosung, insbe-
sondere emotionaler Art, in einer Gesellschaft gefeit
sind, in der zunehmend weniger Kinder leben. Es kommt
darauf an, dass wir gemeinsam, Bund, Länder und Kom-
munen, Verbände und alle anderen, die gesellschaftliche
Verantwortung tragen, die Kinderrechte stärken und die
Bedingungen, unter denen Kinder in Deutschland auf-
wachsen, verbessern. Frau Merkel, wir unterstützen Sie
auf diesem Weg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611803700

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Laurenz Meyer für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Jetzt mal gradlinig bleiben!)



Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1611803800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube,
dass alle, die Bedenken hatten, wie sich diese Debatte
vor dem aktuellen Hintergrund entwickeln wird, eines
Besseren belehrt worden sind. Ich finde, das ist eine sehr
wichtige Debatte. Wir müssen sie unbedingt fortsetzen.
Denn eines ist ganz klar: Wenn es uns nicht gelingt, den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland
klarzumachen, dass die durchgeführten Reformen und
die geplanten Veränderungen ihnen zum Vorteil gerei-
chen, und wenn der Aufschwung nicht bei den Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern ankommt, dann wird
die Glaubwürdigkeit der sozialen Marktwirtschaft insge-
samt nicht gestärkt, sondern geschwächt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir uns jetzt über-
legen, wie wir es wirklich schaffen können, dass bei de-
nen, die jetzt in den Arbeitsprozess gekommen sind – die
meine ich in erster Linie –, von dem, was sie sich erar-
beiten, auch möglichst viel ankommt. Dazu dient bei-
spielsweise die Senkung des Arbeitslosenversiche-
rungsbeitrags. Wenn wir das schaffen, dann kommt bei
den Betroffenen direkt mehr Geld an, und wir leisten zu-
sätzlich einen Beitrag zur Schaffung von mehr Arbeits-
plätzen in Deutschland.

Wir müssen aufpassen, dass wir an der Stelle, an der
wir jetzt sind – das ist wirklich ein Scheideweg –, nicht
den Fehler machen, Programme mit zusätzlichen Ausga-
ben zu beschließen; wir müssen vielmehr alle Maßnah-
men daraufhin abklopfen, ob sie einen zusätzlichen Bei-
trag zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen leisten, ja
oder nein,


(Beifall bei der CDU/CSU)


ob sie einen Beitrag dazu leisten, dass mehr Geld beim
Arbeitnehmer ankommt, ja oder nein, und ob sie einen
Beitrag dazu leisten, dass es in der Wirtschaft in
Deutschland mehr Wettbewerb unter den Unternehmen
gibt, ja oder nein.

Schauen wir uns an, was sich zurzeit – der Kollege
Brauksiepe hat einen Teilaspekt angesprochen – zum
Beispiel im Bereich der Post tut. Herr Müntefering, ich
sage in vollem Ernst: Macht Ihnen nicht Sorge, was da
zurzeit beispielhaft abläuft? Ich sehe, dass ein Unterneh-
men einen Arbeitgeberverband gründet, damit anschlie-
ßend der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt
werden kann; daraufhin wollen andere Unternehmen
eine Gewerkschaft gründen, um dagegenzuhalten. Das
ist doch eine Fehlentwicklung, die wir nicht mitmachen
dürfen. Wir müssen alle auffordern, sich endlich an ei-
nen Tisch zu setzen und vernünftige Arbeitsbedingungen
für die Arbeitnehmer in diesem Bereich zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Gelbe Marktwirtschaft!)


Wir werden den Weg der Zersplitterung von Arbeitneh-
mervertretungen und Arbeitgebervertretungen nicht mit-
gehen; denn wir sehen diesen Prozess mit großer Sorge.
Unternehmen und Arbeitgeber versuchen in allen mögli-
chen Branchen – einige waren bei Ihnen, Herr
Müntefering –, den Mindestlohn und die Möglichkeit,
Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, dazu
zu benutzen, weniger Wettbewerb in ihren Branchen zu
erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das betrifft die Zeitarbeitsbranche, Entsorgungsfirmen
und viele andere mehr. Die großen Unternehmen in den
verschiedenen Branchen wollen den Wettbewerb mit den
kleinen und mittleren Unternehmen minimieren. Sie be-
dienen sich dazu ausgerechnet des Instruments der Er-
klärung von Tarifverträgen für allgemeinverbindlich und
des Entsendegesetzes. Herr Müntefering, wenn Sie oder
wir auf diese Praktiken hereinfallen würden – ich bin si-
cher, dass Sie es nicht tun –, dann würden wir der sozia-
len Marktwirtschaft in Deutschland einen Bärendienst
erweisen. Die CDU/CSU und ich sind jedenfalls nicht
bereit, diesen Weg mitzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wettbewerb ist für mich das Schlüsselwort der sozialen
Marktwirtschaft, wenn es um die Wirtschaft geht. Wenn
weniger Wettbewerb herrscht, werden wir alle teuer da-
für bezahlen. Letztendlich werden die Arbeitnehmer mit
einer Maßnahme, die gut gemeint ist, bestraft.

Wir haben in einem weiteren Bereich etwas gemacht,
was gut gemeint war, aber leider zu einer Fehlentwick-
lung geführt hat. Das betrifft die Hinzuverdienstmög-
lichkeiten beim ALG II. Wir müssen darangehen, die-
sen Bereich neu zu organisieren. Ich habe meine
Zweifel, ob die von Ihnen bisher vorgeschlagene Lösung
die richtige ist. Unabhängig davon haben Sie in einem
Teilaspekt recht. Wir müssen bis zu einem Betrag von
1 200 Euro einen gleitenden Übergang erreichen und
Brüche vermeiden. Wenn bei einem Betrag von
800 Euro ein neuer Bruch erfolgen würde, wäre das für






(A) (C)



(B) (D)


Laurenz Meyer (Hamm)

das System genauso schlecht wie der Bruch bei jetzt
400 Euro. Wir müssen den unteren Teilbereich der gerin-
gen Einkommen neu organisieren – das betrifft auch die
Anrechnung von Kindern –, damit sich eine Kombina-
tion von ALG II, einem Miniminijob und Schwarzarbeit
nicht lohnt. Unternehmen und Arbeitnehmer arbeiten da
zurzeit Hand in Hand. Wir dürfen diese Fehlentwicklung
nicht hinnehmen.

Das Gleiche gilt für den Kinderzuschlag. Die derzei-
tige Situation ist skandalös. Wir müssen verfassungsge-
mäße Wege finden, damit nicht ein Geringverdiener,
etwa einer in der Gruppe der Bezieher von Einkommen
bis 1 200 Euro, für sein Kind nur ungefähr die Hälfte der
Transferleistungen dessen bekommt, der keine Arbeit
hat. Wir müssen das Problem intelligent mit Anreizen lö-
sen, damit Kinder in diesem Einkommensbereich gleich-
gestellt werden und sich Arbeit für diejenigen lohnt, die
Arbeit aufnehmen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, mein letzter Punkt sind die
privaten Haushalte. Ich bin froh, dass wir in diesem
Bereich endlich aktiv werden wollen, um die Ziele und
die Anreize richtig zu setzen. Zurzeit hat keiner auf bei-
den Seiten – weder der Haushalt als Arbeitgeber noch
der Arbeitnehmer – ein Interesse daran, die Schwarz-
arbeit zu minimieren, damit die Leute in sozialversiche-
rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse kommen. Wir
haben ungefähr 200 000 gemeldete Stellen – Minijobs
plus andere Beschäftigungsverhältnisse –, aber 4 Millio-
nen Beschäftigte in den Privathaushalten. Es muss uns
doch gelingen, wenigstens einige Hunderttausend dieser
Beschäftigten in sozialversicherungspflichtige Beschäf-
tigungsverhältnisse zu bringen, indem wir die richtigen
Anreize setzen.

Das ist für mich soziale Marktwirtschaft. An diesen
Kriterien – Wettbewerb, und was dient den Arbeitgebern
und den Arbeitnehmern in Deutschland, damit mehr Ar-
beitsplätze entstehen? – sollten wir die Maßnahmen und
das Riesenpaket an Reformen, das wir jetzt vor uns ha-
ben, messen. Dann sind wir auf einem guten Weg, und
dann werden wir diesen positiven Weg, hier vielfach be-
schrieben, zum Nutzen der Menschen in Deutschland
weitergehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611803900

Ich schließe die Aussprache.

Im Rahmen des Tagesordnungspunkts 3 kommen wir
zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6624 zur Abgabe
einer Erklärung durch die Bundesregierung. Die Frak-
tion der FDP hat namentliche Abstimmung verlangt. Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge-
sehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze an den Ur-
nen besetzt? – Jetzt sind alle Urnen besetzt. Ich eröffne
die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1)

Wir kommen zum Zusatzpunkt 4. Interfraktionell wird
die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/6434 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich bitte diejenigen, die der weiteren Beratung folgen
wollen, Platz zu nehmen, und diejenigen, die Gespräche
führen wollen, dies nach Möglichkeit außerhalb des Saa-
les zu tun. Ich möchte gerne in der Debatte fortfahren.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d so-
wie Zusatzpunkt 5 auf:

4 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermö-
gens „Kinderbetreuungsausbau“

– Drucksache 16/6596 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Kinderbetreuungsausbau mit mehr Mitteln,
Fachkräften und Qualität ausstatten – Rechts-
anspruch auf Ganztagsbetreuung 2010 einfüh-
ren

– Drucksache 16/6601 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Grietje Bettin, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Angebot und Qualität der Kindertagesbetreu-
ung schneller und verlässlicher ausbauen –
Realisierung nicht erst 2013

– Drucksache 16/6607 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

1) Ergebnis Seite 12167 C






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Bericht der Bundesregierung über den Stand
des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot
an Kindertagesbetreuung für Kinder unter
drei Jahren 2007

– Drucksache 16/6100 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Miriam Gruß, Sibylle Laurischk, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Chancengerechtigkeit von Beginn an

– Drucksache 16/6597 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver-
fahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1611804000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieses

Thema ist eine gesellschaftspolitische Revolution. Wir
reden heute über den Ausbau der Kinderbetreuung in
Deutschland. Die politische Debatte darüber ist seit vie-
len Jahren im Gange. Die Saat ist mit dem Tagesbetreu-
ungsausbaugesetz, kurz: TAG, gesät worden. Dieses
Gesetz ist unter Federführung von Renate Schmidt ent-
standen und am 1. Januar 2005 in Kraft getreten. Es
stellt einen ersten richtigen Schritt zur Ausweitung der
Kinderbetreuung in Deutschland dar. Wir setzen die-
sen Weg fort mit der heute stattfindenden Beratung des
Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Sonderver-
mögens „Kinderbetreuungsausbau“. Das Ganze hat zum
einen finanzielle Aspekte und zum anderen vor allen
Dingen gesellschaftspolitische. Ich halte die gesell-
schaftspolitischen Aspekte und die damit verbundenen
Weichenstellungen für viel wichtiger.

Zunächst einmal geht es um die Eltern, vor allen Din-
gen um die Mütter mit kleinen Kindern im Alter zwi-
schen einem und drei Jahren. Was wir mit dem verstärk-
ten Ausbau von Krippen- und Kindergartenplätzen
in den Kommunen erreichen wollen, ist eine Verände-
rung der derzeitigen Situation. Die derzeitige Situation
ist gekennzeichnet von einer Spaltung in Ost und West.
Entgegen dem sonstigen Standard ist das Angebot an
Kleinkinderbetreuungsmöglichkeiten wie Krippenplät-
zen im Osten viel besser als in Westdeutschland. Ich
sage ganz persönlich: Ich hätte mir gewünscht, dass die
besonderen Erfahrungen, die man in Ostdeutschland mit
dieser Betreuung gemacht hat – als Kind bin ich selbst in
dieser Form betreut worden –, viel früher Einfluss auf
die Politik dieses Landes gehabt hätten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass es Deutschland gutgetan hätte, wir hät-
ten früher damit angefangen und hätten diese Erfahrung
mit eingebracht.

Ich erinnere mich an jemanden, der die These vertre-
ten hat – er ist dann niedersächsischer Justizminister ge-
worden –, die überproportional starke rechtsextreme
Einstellung in Ostdeutschland, die es durchaus gibt,
rühre daher – so weit ging das! –, dass die Kleinkinder
zusammen aufs Töpfchen gehen.


(Ina Lenke [FDP]: Ja, genau! Das kennen wir auch!)


Da habe ich mich gefragt: In welcher Welt lebt dieser
Kollege?


(Zurufe von der SPD: Genau!)


Ich halte es daher für richtig, dass wir in der Großen
Koalition übereingekommen sind, den Ländern und den
Kommunen finanziell deutlich unter die Arme zu grei-
fen, auch wenn es nicht unsere originäre Aufgabe ist
– eigentlich ist es gar nicht unsere Aufgabe –, uns als
Bund um dieses Thema zu kümmern.


(Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP])


Eigentlich haben wir gar keine Veranlassung, dafür Geld
bereitzustellen. Aber das ist ein Thema, bei dem man
nicht nur zuschauen kann, bei dem es um das langfristige
soziale Zusammenleben in diesem Land geht. Das hat
auch eine ökonomische Komponente, die für den Bund
natürlich mit entscheidend ist, nämlich dass möglichst
viele Frauen, wenn sie gut ausgebildet sind


(Renate Gradistanac [SPD]: Und Männer!)


– natürlich sollten auch die Männer ihre Kinder betreuen –,
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tatsächlich le-
ben können.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611804100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Ina Lenke?


Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1611804200

Ja, bitte sehr.


(Christel Humme [SPD]: Nicht schon wieder die gleiche Frage! Die kennen wir schon! – Weitere Zurufe)



Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1611804300

Von der Regierungsbank will ich überhaupt nichts hö-

ren. Sie haben hier gar nichts zu sagen, wenn wir als Par-
lamentarier diskutieren.






(A) (C)



(B) (D)


Ina Lenke

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe eine Frage an den Kollegen. Herr Schneider,
Sie haben gesagt, dass das Parlament in Berlin mit der
Kinderbetreuung eigentlich nichts zu tun hat. Da habe
ich genau hingehört. Ich würde Ihnen gern Art. 3 des
Grundgesetzes entgegenhalten, nach dem der Staat die
tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von
Frauen und Männern fördert und auf die Beseitigung be-
stehender Nachteile hinwirkt. Deshalb fühle ich mich als
Parlamentarierin im Bundestag dazu aufgerufen, von
hier aus zu helfen. Sie sind sicherlich meiner Meinung,
oder?


Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1611804400

Frau Lenke, ein Blick ins Gesetzbuch und gerade ins

Grundgesetz ist meistens gut; vielen Dank. Ich wollte
damit sagen, dass wir von der Ausgabeseite her zwar ei-
gentlich nicht dafür zuständig sind, dass wir als Bund
aber natürlich ein Gesamtinteresse haben. Wir wollen
den Ländern und Kommunen einen Schub geben, dass
sie die von uns als richtig erkannte Weichenstellung mit-
tragen, die Benachteiligung, die es in diesem Bereich
bisher gibt, weil zu wenig Betreuungsplätze vorhanden
sind, abzubauen. Dafür stellen wir Mittel bereit.

Andersherum habe ich es noch nie erlebt, dass ein
Bundesland oder eine Kommune sich an friedenserhal-
tenden Maßnahmen finanziell beteiligt hat. Wir beteili-
gen uns in diesem Fall trotzdem, weil uns dieses Projekt
viel zu wichtig ist, als dass es scheitern dürfte. Es hat in
den vergangenen Jahrzehnten nicht die Priorität in die-
sem Land gehabt.

Ich bin froh, dass sich das jetzt ändert; denn es geht
gerade für Frauen und Männer um einen entscheidenden
Punkt: um die Wahlfreiheit zwischen Beruf und Fami-
lie. Ich bin selbst junger Familienvater; ich habe eine an-
derthalbjährige Tochter. Meine Frau ist seit einem hal-
ben Jahr wieder im Beruf, und ich weiß, wie schwierig
es ist, die Familie und eine Vollzeitstelle zu verknüpfen.
Ich weiß aber auch, wie wichtig es für sie war – bei uns
in Erfurt ist es so, dass jeder, der möchte, einen Kinder-
betreuungsplatz bekommt –, wieder arbeiten gehen zu
können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])


Dies hat auch viel mit Selbstachtung und Selbstverwirk-
lichung zu tun.

Wenn die Gesellschaft das, was sie braucht – nämlich
mehr Kinder –, tatsächlich haben will, dann müssen wir
in diesen Bereich investieren. Deswegen bin ich sehr
froh, dass wir – das möchte ich klar sagen – an dieser
Stelle Schwerpunkte setzen.

Mit diesem Sondervermögen investieren wir in den
ersten Jahren 2,15 Milliarden Euro, damit die Betreu-
ungsplätze nicht nur personell ausgestattet sind, sondern
überhaupt erst geschaffen werden; das ist entscheidend.
2,15 Milliarden Euro ist ein sehr hoher Betrag. Das zeigt
unsere Schwerpunktsetzung. Das verbessert sozusagen
die Qualität unserer Staatsausgaben, weil das zukunfts-
gewandt ist. Das führt die Finanzpolitik des Finanz-
ministers der vergangenen Jahre fort. Ich bin froh, dass
er – wie auch wir Haushalts- und Finanzpolitiker – ge-
sagt hat: Wir sind dabei. Das ist sehr wichtig. Ich bin
gern bereit, dafür Geld zur Verfügung zu stellen.


(Ina Lenke [FDP]: Das stimmt auch nicht! Er hat sich gewehrt!)


Dafür stellen letztendlich ja die Bürgerinnen und Bürger
diesem Staat ihr Geld in Form von Steuern zur Verfü-
gung.

Ich möchte aber gerne noch ein paar andere Punkte
ansprechen. Eine Frage ist, ob mit dieser Schwerpunkt-
setzung Ungerechtigkeit einhergeht. Hier gibt es ja zwi-
schen uns und der Union – das wird von Unionsseite
sicherlich auch noch vorgetragen – einen Dissens. Ge-
rade vonseiten der CSU wird gefordert, dass wir zusätz-
lich zum Ausbau der Plätze in Kindertagesstätten ein
Betreuungsgeld einführen. In diesem Zusammenhang
möchte ich fragen: Gibt es denn bisher Gerechtigkeit
zwischen denen, die Kinder haben und arbeiten möch-
ten, und denen, die Kinder haben und zu Hause bleiben
wollen? Ich sage, die gibt es nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt nämlich derzeit nicht überall ein passendes An-
gebot. In Ostdeutschland gibt es dies. Nicht umsonst ist
Potsdam als familienfreundlichste Stadt ausgezeichnet
worden. Dagegen zahlen Freunde von mir, die in Baden-
Württemberg leben und in Stuttgart arbeiten, für die Be-
treuung ihres kleinen Sohnes, den sie vor kurzem be-
kommen haben, 800 Euro an eine Tagesmutter. Bei ei-
nem Halbtagsjob wird es schon schwierig, so viel Geld
netto, also aus versteuertem Einkommen, zu verdienen.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Deshalb die steuerliche Absetzbarkeit, Herr Kollege!)


Es ist dann nicht mehr attraktiv, arbeiten zu gehen. Ich
halte es für eine Benachteiligung, wenn denen, die arbei-
ten gehen wollen und zum Sozialprodukt dieses Landes
beitragen wollen, im Endeffekt nichts übrigbleibt.

Diejenigen, die in dieser Frage Wahlfreiheit haben
– ich will, dass es Wahlfreiheit gibt; jeder soll das für
sich selbst entscheiden können; ich will niemandem vor-
schreiben, was er zu tun hat –, werden bereits gefördert,
wenn sie sich für die Betreuung zu Hause entscheiden.
Ich nenne beispielsweise das Ehegattensplitting. Hier-
durch werden Alleinverdiener bevorteilt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es handelt sich um Steuerbeträge von mehreren Milliar-
den Euro, auf die wir durch Einräumung dieser Möglich-
keit verzichten. Ein weiterer zusätzlicher Vorteil, der zu-
sammen mit dem genannten berücksichtigt werden
muss, besteht in der Möglichkeit zur kostenlosen Mit-
versicherung des Ehepartners – es kann sich ja auch um
den Ehemann handeln – in der Krankenversicherung.






(A) (C)



(B) (D)


Carsten Schneider (Erfurt)



(Beifall bei der SPD) stimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion

der FDP auf Drucksache 16/6624 zur Abgabe einer Er-
Gesetz unser Land verändern wird. Wir beschließen ja
hier sehr oft und sehr viel. Ich glaube aber, dass dieses
Gesetz entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unseres

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 569;
davon

ja: 98
nein: 465
enthalten: 6

Ja

CDU/CSU

Peter Rauen

FDP

Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr (Münster)

Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke

Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)

Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
bene Stimmen 570. Mit Ja haben gestimmt 98, mit Nein
haben gestimmt 466, enthalten haben sich 6 Kollegen.
Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.

Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Martin Zeil

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert

Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Ulrike Höfken
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass dieses klärung durch die Bundesregierung bekannt: Abgege-
Wenn wir nun ein Betreu
– darüber wird es ja eine pol
kostete das mindestens 2 bis


(Steffen Kampeter [CDU spruch ohne Betreuung Ich frage Sie: Sind 2,7 Millia gelegt in der Ermöglichung der Schaffung eines qualitat zum Beispiel in Form kleine darüber hinaus in der Senkun am Ende sogar in einer ko Warum muss für einen Kind den, aber nicht für die Schule führung eines Schulgeldes – aber, dass es sehr wichtig is dungsfernen Schichten im Ki derkrippe möglichst frühzeiti gen ja, dass man hier ganz frü Möglichkeit zu geben, das B Denn dank der PISA-Studie dungsarmut aufgrund sozial Wäre es angesichts dessen n dergartenbzw. Kinderkrippe ten würden? Ich denke, wir s ten und hier unsere Prioritäte ungsgeld einführen würden itische Diskussion geben –, 2,7 Milliarden Euro. /CSU]: Kein Rechtsansgeld, Herr Kollege!)


rden Euro nicht besser an-
wirklicher Wahlfreiheit, in
iv viel besseren Angebots,
rer Gruppen, und vielleicht
g der Gebührensätze sowie
mpletten Kostenbefreiung?
ergartenplatz gezahlt wer-
? Ich bin nicht für die Ein-

auf keinen Fall! Ich denke
t, gerade Kindern aus bil-
ndergarten bzw. in der Kin-
g – die Wissenschaftler sa-
hzeitig ansetzen muss – die
este aus sich zu machen.

wissen wir, wie sehr Bil-
er Selektion vererbt wird.
icht am besten, wenn Kin-
nplätze kostenfrei angebo-

ollten diesen Weg beschrei-
n setzen.
Landes ist und maßgeblich
Gerechtigkeit beiträgt; denn
sprochen – gerade für Kinder
ten und Kinder mit Mig
entscheidend, dass sie im Kin
derkrippe schon als Kleinkin
deren Kindern zusammen sin
Möglichkeit gegeben wird, i
zu entfalten. Von daher hand
setz nicht nur um eine finanz
nicht nur um ökonomische
Frauen und Männer arbeiten
werbstätigenzahlen gesteiger
auch um die Frage von sozial
bin ich froh, dass wir dieses G
reits von Renate Schmidt an
den Weg bringen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD so der CDU Vizepräsidentin Gerda H Ich komme nun zurück z und gebe Ihnen das von d Schriftführern ermittelte Erge zur Herstellung sozialer – ich habe das vorhin ange aus bildungsfernen Schichrationshintergrund ist es dergarten bzw. in der Kin der Deutsch lernen, mit and und ihnen insgesamt die hre Fähigkeiten am besten elt es sich bei diesem Ge ielle Angelegenheit; es geht Fragen und darum, dass können und damit die Ert werden, sondern es geht er Gerechtigkeit. Von daher esetz, das ursprünglich be gestoßen wurde, heute auf wie bei Abgeordneten /CSU)


asselfeldt:
um Tagesordnungspunkt 3
en Schriftführerinnen und
bnis der namentlichen Ab-






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf (Frankfurt)


Nein

CDU/CSU

Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer (Lübeck)

Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Ralf Göbel
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu

Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler (Wiesbaden)

Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich

Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer (Altötting)

Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer (Hamm)

Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Hildegard Müller
Carsten Müller


(Braunschweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Bernward Müller (Gera)

Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)

Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)

Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)

Andreas Schmidt (Mülheim)

Ingo Schmitt (Berlin)

Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl (Heilbronn)

Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)

Gerald Weiß (Groß-Gerau)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer (Neuss)

Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)

Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)

Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert

Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose

Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder

DIE LINKE

Hüseyin-Kenan Aydin
Karin Binder
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)

Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Nina Hauer
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)

Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)

Frank Hofmann (Volkach)

Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)

Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)

Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)

Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)

Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-

Hanewinckel
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Ortwin Runde
Anton Schaaf
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Renate Schmidt (Nürnberg)

Heinz Schmitt (Landau)

Carsten Schneider (Erfurt)

Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz


(Everswinkel)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen


(Wiesloch)

Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)

Volker Schneider


(Saarbrücken)

Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Jörn Wunderlich

Fraktionsloser
Abgeordneter

Gert Winkelmeier

Enthalten

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Winfried Hermann
Peter Hettlich
Dr. Anton Hofreiter
Monika Lazar
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Ende der Reformagenda 2010! – Gegenruf der Abg. Ute Kumpf [SPD]: Herr Kollege Beck!)


Nun fahren wir in der Debatte fort. Ich erteile das
Wort dem Kollegen Otto Fricke für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1611804500

Geschätzte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Ich glaube, eines muss man bei dieser
Debatte als Opposition ganz klar festhalten: Wir streiten
uns nicht mehr über die Frage des Ob der Betreuung der
unter Dreijährigen, sondern um die Frage des Wie.


(Beifall bei der FDP)


Wir sind da in unserem Lande, auch wenn immer noch
versucht wird, Streitigkeiten zu erzeugen, viel weiter ge-
kommen. Ich glaube auch nicht, dass es uns bei der
Frage des Wie und der Frage, was für die Kinder und die
Familien am besten ist, wirklich weiterbringt, noch über
das Ob zu diskutieren.

Bei der Frage des Wie kommen wir an einen ganz ent-
scheidenden Punkt: Was ist bei der Frage, wie das Geld
bei denen ankommt, die es brauchen, zu beachten? Zu
beachten ist, dass der Bürger erkennen können muss:
Wer ist verantwortlich, wer gibt das Geld aus, wie viel
kostet es – das sollte man gerade mit Blick auf die Kin-
der sehen, denen man die Schulden auferlegt –, und wen
kann ich ansprechen, wenn es nicht funktioniert? An die-
ser Stelle hat die Koalition nach unserer Meinung
schlicht versagt.

Die Gründe dafür sind einfach. Wir machen eine
Mischfinanzierung und werden jetzt ein Sondervermö-
gen anlegen. Die Länder werden dann Berichte erstellen,
wie das Geld grob zu verteilen ist, und in den Kommu-
nen wird geschaut, wie das umgesetzt wird. Die einzelne
Kinderkrippe und die einzelne Kinderbetreuungseinrich-
tung werden das Geld erst verspätet bekommen. Wenn
sie es nicht bekommen und fragen, wer dafür zuständig
ist, wird wieder – das erleben wir doch – von der Kom-
mune aufs Land verwiesen und vom Land – die Länder
müssten eigentlich heute hier vertreten sein – auf den
Bund. Das wird geschehen, wenn angeblich irgendetwas
nicht funktioniert und irgendeine Verordnung nicht
stimmt. Dieses Risiko, liebe Große Koalition, tragen Sie;
Sie haben die Verantwortung, wenn im Wirrwarr unserer
Verwaltung wieder einmal manches untergeht.


(Beifall bei der FDP)


Der zweite Punkt. Warum schaffen Sie eigentlich die-
ses Sondervermögen? Sie könnten doch jedes Jahr im
Haushalt etwas dafür einstellen. Der Grund liegt darin,
dass der Finanzminister das eigentlich ganz anders ha-
ben wollte als die Familienministerin, die ihm das einge-
brockt hat. Die Familienministerin hat gesagt: Ich bin
zwar gesetzgebungsmäßig nicht zuständig;


(Christel Humme [SPD]: Doch!)

aber gefühlt bin ich doch zuständig – das Gefühlte ist in
der Politik ja im Moment wichtiger als der Verstand –,
also mache ich das. – Darauf hat der Finanzminister fest-
gestellt, dass das aber eine zu hohe Belastung bedeutet;
denn er will – das ist der eigentliche Grund für dieses
Sondervermögen – zeigen, wie die Neuverschuldung je-
des Jahr weiter abgebaut wird. Also wird in diesem Jahr
ein Sondervermögen angelegt – wir haben ja Steuer-
mehreinnahmen, was gut ist –, damit die Neuverschul-
dung nicht im nächsten Jahr wieder steigt.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!)


Der nächste Punkt ist: Man war nicht bereit, das
Ganze auf die Kommunen zu übertragen.


(Ina Lenke [FDP]: Genau! Das wäre das Beste gewesen!)


Übrigens glaube ich, dass der Bund dazu anders als die
Länder bereit gewesen wäre. Diese Große Koalition
wäre mit ihrer Zweidrittelmehrheit in der Lage gewesen,
das zu tun.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie hätte den Kommunen Umsatzsteuerpunkte geben
können. Aber sie hat es nicht getan, besonders deswegen
nicht, weil die Länder das nicht wollten. Die Länder ha-
ben hier die klebrigen Finger. Das ist der eigentliche
Grund, warum das Ganze nicht an die Kommunen über-
tragen wird. Für meine Fraktion steht klar und deutlich
fest: Das Geld muss den Kommunen gegeben werden.
Sie sind in der Verantwortung und werden vom Bürger
angesprochen, wenn etwas nicht richtig funktioniert.

Mein letzter Punkt. In Bezug auf die weitere Belas-
tung weise ich darauf hin, dass es auch in späteren Jah-
ren – das sage ich ganz bewusst; das wird nämlich 2013
sein, wenn es diese Große Koalition gar nicht mehr gibt;
davon gehen wohl auch die einzelnen Parteien der Gro-
ßen Koalition aus – die Verpflichtung gibt, 770 Millio-
nen Euro pro Jahr für die Betreuung auszugeben. Herr
Minister, das werden sich die Haushälter ganz genau an-
schauen. Im Moment können Sie das noch verdecken,
weil es nicht in der Finanzplanung ist. Aber faktisch be-
lasten wir heute, auch wenn das keine gesetzliche Ver-
pflichtung ist, den Bund weiter mit zusätzlichen Ausga-
ben für etwas in der Sache Gutes; aber wir sorgen nicht
dafür – das sollte eigentlich die Hauptverpflichtung ge-
genüber den Kindern sein –, dass die Verschuldung ab-
gebaut wird und wir unseren Kindern nicht nur eine gute
Kinderbetreuung hinterlassen, sondern auch möglichst
wenig Schulden. Daran müssen wir noch arbeiten.


(Beifall bei der FDP)


Als Schlusswort, liebe Große Koalition: Kommen Sie
bitte nicht am Ende des Jahres oder im nächsten Jahr da-
mit, dass das alles nicht so gut läuft, weil Sie nicht er-
wartet haben, was es an verwaltungsmäßigen Kompli-
ziertheiten gibt.


(Heiterkeit der Abg. Ina Lenke [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Otto Fricke
Die Bürger, die Kinder, die Familien werden Sie daran
messen, welches Geld bei ihnen ankommt, und wir wer-
den Sie erst recht daran messen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611804600

Nächster Redner ist nun der Kollege Steffen

Kampeter für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1611804700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Für diejenigen, die schon etwas länger im Parla-
ment sind, ist es eine eher merkwürdige Debatte: Es soll
über Familienpolitik debattiert werden, und die Haus-
haltspolitiker eröffnen die Debatte. Es wird nicht nur die
Familienministerin, sondern auch der Finanzminister re-
den. Die Verbindung dieser wichtigen Politikbereiche
macht deutlich, dass es einen erheblichen Bedeutungs-
und Wahrnehmungswandel hinsichtlich der Familien in
unserer Gesellschaft und in der Großen Koalition gibt


(Ina Lenke [FDP]: In der CDU!)


und dass die Familienpolitik vom Rand ins Zentrum des
Regierungshandelns und des parlamentarischen Han-
delns rückt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Kollege Schneider hat deutlich gemacht, dass
Haushaltspolitik eben nicht nur Erbsenzählerei ist und
sich nicht nur mit Plus, Minus und Schulden beschäftigt,
sondern als zentralen Kern auch Gesellschaftspolitik ent-
hält. Es ist auch eine gesellschaftspolitische Entschei-
dung, wofür der Staat Geld ausgibt und wofür nicht. Die
Entscheidung, die heute ansteht, zeigt die steigende
Wertschätzung für die Menschen in unserem Land, die
sich für Familie und Kinder entscheiden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Dabei geht es uns aus Haushältersicht nicht nur da-
rum, immer mehr Titel für die Familien im Haushalt zu
schaffen, sondern es geht natürlich auch darum, die Qua-
lität der familienpolitischen Instrumente zu verbessern
und die Zielsetzung der Bundesregierung darauf auszu-
richten. Ein zielgenauerer Einsatz der Gelder, die wir für
die Familie investieren, bedeutet im Ergebnis mehr
Möglichkeiten und mehr Entscheidungsfreiheit für die
Familien. Das ist das eigentliche Signal, das von dieser
Finanzdebatte an die Bevölkerung gehen soll.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Worum geht es im Detail? Der heutige Vorschlag, die
Förderung für die unter Dreijährigen zu verbessern,
muss in die Gesamtstrategie eingebettet werden, die wir
im Bundeshaushalt und in der Familienpolitik in den
vergangenen zwei Jahren entwickelt haben. Der erste
Schritt ist bereits erfolgt. Bei diesem Schritt geht es um
die materielle Wahlfreiheit. Ich nenne das Stichwort
Elterngeld. Das Elterngeld ist neben dem Ehegattensplit-
ting ein zentrales Instrument der materiellen Wahlfrei-
heit, das insbesondere in der Mitte dieser Gesellschaft
wirkt, also da, wo sich immer weniger Menschen, wie
wir festgestellt haben, für die Familie entscheiden. Dort
bedarf es der Sicherstellung einer materiellen Organisa-
tionsfreiheit; dort müssen wir investieren. Deswegen
war das Signal, das von der Einführung des Elterngeldes
ausging, für die Mitte unserer Gesellschaft so wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ina Lenke [FDP]: Herr Kampeter, 40 Prozent kriegen nur die Hälfte!)


Der zweite Schritt wird heute eingeleitet. Dabei ist es
mir wichtig, Folgendes festzuhalten: Aus Sicht der
Unionsfraktion ist trotz der Ausweitung der Kinderbe-
treuungsmöglichkeiten klar, dass der große Teil der unter
Dreijährigen auch zukünftig in den Familien, also von
den Eltern, erzogen wird. Auch das ist ein wichtiges Si-
gnal, das von dieser Debatte ausgeht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wollen bis zum Jahre 2013 schrittweise für etwa
ein Drittel der Menschen auch die organisatorische
Wahlfreiheit ausbauen. Für diejenigen Menschen, die
ihre unter dreijährigen Kinder nicht in der Familie erzie-
hen wollen – über die Gründe sollte die Politik nur zu-
rückhaltend urteilen –, brauchen wir Betreuungsange-
bote. Diese Menschen verdienen unseren Respekt und
keine Anklage. Der Staat ist hier in der Pflicht, diese Le-
bensentscheidung zu respektieren. Im Übrigen soll denje-
nigen, die sich aufgrund organisatorischer Mängel bisher
schwertun, sich für Kinder und Familie zu entscheiden,
diese Entscheidung erleichtert werden. Es handelt sich
also um eine wichtige gesellschaftspolitische Debatte
über eine an sich haushaltspolitische Entscheidung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit diesem Gesetz werden wir noch in diesem Jahr
ein Sondervermögen errichten. Den Familien ist es re-
lativ egal, woher das Geld kommt. Hauptsache ist,


(Ina Lenke [FDP]: Hauptsache, es kommt an!)


dass wir denjenigen, die für die Kinderbetreuung und für
die dort notwendigen Investitionen zuständig sind, das
Geld kurzfristig und bedarfsgerecht zur Verfügung stel-
len. Mit unserer verfassungskonformen Lösung gehen
wir diesen Weg. Wir sollten nicht in eine Finanzverfas-
sungsdebatte – wie vorhin die Kollegin von der FDP –
eintreten und uns streiten,


(Ina Lenke [FDP]: Das haben wir gar nicht nötig!)


sondern einen vernünftigen Weg finden, damit die Inves-
titionen dort ankommen, wo sie tatsächlich benötigt wer-
den.

Es können damit Betreuungsplätze eingerichtet, aus-
gebaut und saniert werden. Es können Ausstattungsmaß-
nahmen durchgeführt werden. Es kann in den Ausbau der
Kindertagesbetreuung investiert werden. Dieses unbüro-






(A) (C)



(B) (D)


Steffen Kampeter
kratische Vorgehen ist ein wichtiges Signal an diejenigen,
die Verantwortung für die entsprechenden Investitionen
in den Kommunen tragen. Wir wollen die Familien nicht
aus finanzverfassungsrechtlichen Gründen im Regen ste-
hen lassen. Wir haben eine Aufgabe, und diese Aufgabe
wollen wir mit diesem Gesetz erfüllen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich habe vorhin ausgeführt, dass ich der Auffassung
bin, dass ein Beitrag der Haushaltspolitik darin besteht,
dass wir die Gelder dorthin transportieren, wo sie tat-
sächlich hingehören. Wir sind gebrannte Kinder. Im
Rahmen verschiedener Gesetzgebungsmaßnahmen hat
der Bund Geld zur Verfügung gestellt; die Gemeinden
haben aber gesagt: Es kommt nicht bei uns an. Deswe-
gen ist ein wichtiger Baustein dieses Gesetzes die Ver-
waltungsvereinbarung, die vom entsprechenden Hause
feder-Leyen beschlossen worden ist.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


– Was habe ich gesagt?


(Ina Lenke [FDP]: Feder-Leyen!)


– Ich wollte „federführend“ sagen.

Zwei Dinge sind mir besonders wichtig: Erstens. Wir
kontrollieren, dass das Geld auch tatsächlich für den
Ausbau der Kinderbetreuungsplätze ausgegeben wird.
Wenn es nicht für entsprechende Investitionen verwen-
det wird – Herr Kollege Steinbrück, ein Versprecher fällt
mir auch noch zu Ihnen ein; keine Sorge –, dann gibt es
Ärger. Wir wollen, dass das Geld dort ausgegeben wird,
wo Betreuungsplätze benötigt werden, wo die Familien
es tatsächlich brauchen. Einige schreien, das sei Büro-
kratie. Meines Erachtens ist in diesem Fall Bürokratie
notwendig, damit wir diese Mittel nicht mit der Gieß-
kanne verteilen, sie letztendlich in den Länderhaushalten
versickern und die Kommunen sich auf die Suche bege-
ben und fragen, wo die Gelder geblieben sind. Dann kla-
gen die Familien nämlich uns an, weil wir nicht dafür
gesorgt haben, dass das Geld dort angekommen ist, wo
es hingehört, nämlich in der Betreuungsinfrastruktur der
unter Dreijährigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611804800

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Fricke?


Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1611804900

Der Kollege Fricke ist sehr bekannt für gute Zwi-

schenfragen; deswegen sehr gerne, Frau Präsidentin.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611805000

Bitte.


Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1611805100

Herr Kollege Kampeter, dem, was Sie gerade in Be-

zug auf die richtige Verwendung der Gelder gesagt ha-
ben, stimme ich im Grundsatz zu.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


– Sogar vollständig, weil wir alle im Haushaltsausschuss
diese Erfahrung gemacht haben.


Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1611805200

Darüber sollten Sie vielleicht einmal mit der Kollegin

Lenke diskutieren.


(Ina Lenke Darüber brauche ich mit der Kollegin Lenke gar nicht zu diskutieren. Sie weiß das meistens besser als mancher Haushälter. Herr Kollege Kampeter, Sie haben gerade gesagt, dass es, wenn die Länder das Geld nicht dafür verwenden, wofür es vorgesehen ist, Ärger gibt. Das hört sich stark an; Sie wirken ja auch am Rednerpult stark. Für mich stellt sich aber die Frage: Wie machen Sie das? Was machen Sie denn dann? Sagen Sie mehr als: „Das ist böse, was ihr da gemacht habt!“? Oder enthält das Gesetz wirklich eine Regelung, damit Sie sagen können: „Das ist eine Fehlverwendung. Wir streichen euch die Gelder, bzw. ihr müsst sie zurückgeben“? Herr Kollege Fricke, als Jurist sollten Sie wissen: Ein Blick ins Gesetz und in die Verwaltungsvereinbarungen hilft immer weiter. Wir haben das Verfahren klar geregelt – Kollege Steinbrück nickt –: Die Gelder werden nur auf Antrag für bestimmte Maßnahmen, die ich hier aufgezählt habe, bewilligt. Zweitens machen wir ein Monitoring, um sicherzustellen, dass der Ausbau der Betreuung der unter Dreijährigen vorangeht. Das ist im Vergleich mit allen vorherigen Gesetzen, bei denen wir behauptet haben, Geld für die Familien auszugeben, ein Gesetz, das den zielgenauesten und im Übrigen auch unbürokratischsten Einsatz garantiert. (Ina Lenke [FDP]: Das wollen wir doch erst einmal sehen!)

Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1611805300
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1611805400

Damit sorgen wir dafür, dass das Geld da ankommt, wo
es erforderlich ist, nämlich in den Gemeinden, die die
Aufgaben zu lösen haben, die sich im Zusammenhang
mit der Betreuung von unter Dreijährigen stellen. Damit
setzen wir Maßstäbe. Das ist vorbildlich und familien-
freundlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein weiterer Punkt ist der Zuschuss für den Betrieb.
Die Begeisterung der Finanzpolitiker darüber ist einge-
schränkt;


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr eingeschränkt!)


der Kollege Fricke hat darauf hingewiesen. Wir sind der
Auffassung, dass das eigentlich Ländersache ist. Aber
auch hier gilt: Wenn sich die Länder nicht ihrer Verant-
wortung für die Familien stellen, sollten wir die Fami-
lien nicht darunter leiden lassen. Das muss jedoch lang-






(A) (C)



(B) (D)


Steffen Kampeter
sam wirklich der letzte Vorgang sein, bei dem die Länder
erst Kompetenzen übernehmen wollen, aber im nächsten
Schritt eine Finanzierung durch den Bund fordern. Unter
Kaufleuten gilt das als unanständiges Verhalten. Das
sollte kein Regelfall sein. Das bedeutet einen Abzug in
der B-Note. Das ist ein Mangel dieses Gesetzes; das will
ich nicht verschweigen.


(Beifall bei der FDP)


Unser Verhalten nützt aber unter dem Strich den Fami-
lien; auch das muss man klar sagen.

Ein weiterer Punkt, den ich hier ansprechen möchte,
ist die Verbindung zwischen dem Rechtsanspruch auf
Kinderbetreuung für unter Dreijährige und dem Betreu-
ungsgeld. Für die Unionsfraktion ist klar, dass das eine
nur kommt, wenn das andere vereinbart wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen wird im anstehenden Gesetzgebungsverfah-
ren deutlich zu machen sein – das bezieht sich nicht auf
dieses Gesetz, sondern auf das Folgegesetz hinsichtlich
des Sozialgesetzbuches –, in welcher Art und Weise das
umgesetzt werden soll. In der Koalition sind wir diesbe-
züglich, so glaube ich, auf einem guten Weg. Der Kol-
lege Singhammer wird alles, was in diesem Zusammen-
hang zum Sozialgesetzbuch VIII gesagt werden muss,
vortragen.

Insgesamt finde ich: Dies ist ein guter Tag für die Fa-
milien, weil wir eine Aufgabe lösen, die die Familien an
uns herangetragen haben. Es ist ein guter Tag für die
Haushalts- und Finanzpolitik, weil wir den nahezu schon
zu frechen Forderungen in Höhe von 7 oder 8 Milliarden
Euro, die wir hier investieren sollten, nicht nachgekom-
men sind, sondern gemeinsam mit dem Bundesfinanzmi-
nister und der Bundesfamilienministerin eine Ober-
grenze festgelegt haben und dafür Sorge getragen haben,
dass das Geld tatsächlich bei den Familien ankommt und
nicht in den Länderhaushalten versickert.

Dies ist insgesamt ein guter Tag für die Große Koali-
tion, weil wir Handlungsfähigkeit bewiesen haben und
deutlich gemacht haben, dass wir zur Lösung der Pro-
bleme, die die Menschen in diesem Land haben, einen
vernünftigen Beitrag leisten können. Wir wissen, dass
bei der Erziehung die Hauptaufgabe bei den Familien
selbst liegt. Aber wir als Staat, wir als Große Koalition
wollen in dem Maße, in dem wir es können, helfen. Des-
wegen ist dies ein guter Vorschlag.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611805500

Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Diana Golze

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611805600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Ich gebe jeder Politikerin und jedem
Politiker recht, wenn sie oder er sagt, dass mit dem heute
vorliegenden Gesetzesvorhaben zur Errichtung eines
Sondervermögens „Kinderbetreuungsausbau“ ein wich-
tiger Schritt gemacht wird. Es ist gut, dass in den letzten
Monaten Dynamik in diese Debatte gekommen ist. Es ist
auch gut, dass es hier zu einem Prozess des Umdenkens
der politisch Handelnden gekommen ist: weg von der
Stigmatisierung der Kindertagesbetreuung und hin zu ei-
ner gesellschaftlichen Akzeptanz von Kindertagesstät-
ten. Diese Leistung muss man Ihnen, Frau von der
Leyen, unumwunden zugestehen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Bei den Sozialdemokraten war da keine Kehrtwende notwendig!)


Ja, es ist gut, dass es intensive Gespräche mit den Län-
dern gegeben hat. Es ist natürlich auch gut, dass es zu ei-
ner grundsätzlichen Einigung zwischen Bund, Ländern
und Kommunen über die Wichtigkeit dieses Themas und
letztlich über die Umsetzung des Ausbaus gekommen ist.
Ja, es ist gut, dass Herr Steinbrück schlussendlich das nö-
tige Signal der Mitfinanzierung dieses Vorhabens durch
den Bund in Form dieses Sondervermögen gegeben hat.

Doch vor allem angesichts der Höhe des Sonderver-
mögens stellt sich die Frage, wie ein Kinderbetreuungs-
angebot aussehen wird, das mit einer solchen Summe
ausgebaut wird. Damit bin ich bei dem, was die Linke
zum einen an diesem Sondervermögen und dessen ge-
setzlicher Ausgestaltung und zum anderen an den vorge-
sehenen Änderungen im Kinder- und Jugendhilfegesetz
kritisch betrachtet.

Bei einem Blick in die Historie der Kindertagesbe-
treuung wird schnell offensichtlich, dass das, was heute
als großer Durchbruch gefeiert wird, letztlich ein Ablen-
kungsmanöver kurz vor Fristablauf ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Tagesbetreuungsausbaugesetz ist mit dem Datum
27. Dezember 2004 versehen. Heute, am Tag der De-
batte über die nötige Finanzierung, schreiben wir den
11. Oktober 2007. Angesichts der zeitlichen Abläufe
und der Fristen von der Verabschiedung des Gesetzes
2004 bis zur Schaffung des Sondervermögens 2007 bin
ich gespannt, wann die Bundesrepublik endlich das
große Ziel erreicht, auf einen vergleichbaren Stand wie
Schweden, Dänemark oder Frankreich zu kommen.

Eine solche Politik geht zulasten der Kinder, die
schon jetzt von einer guten Tagesbetreuung profitieren
sollten. Es ist schon beachtlich, Frau von der Leyen, wie
Sie es geschafft haben, der Öffentlichkeit den ausgehan-
delten Kompromiss zum ab 2013 bestehenden Rechts-
anspruch als Erfolg zu verkaufen,


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Stimmt aber!)


obwohl dieser laut Tagesbetreuungsausbaugesetz bereits
2010 gelten sollte.


(Nicolette Kressl [SPD]: Ist doch nicht wahr!)


Es ist vielleicht eines der Glanzstücke des Politikmarke-
tings, ein großes Versagen als immensen Schritt nach
vorn zu verkaufen.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Diana Golze
Denn das neue Vorhaben, nicht 2010, sondern erst 2013
einen solchen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung zu
garantieren, sehe ich nicht als Erfolg, sondern als weite-
ren traurigen Beweis verfehlter Kinder- und Familienpo-
litik.


(Beifall bei der LINKEN)


Nennen Sie die Dinge beim Namen, Frau Ministerin!
Die Bundesrepublik Deutschland erreicht das durch die
rot-grüne Bundesregierung gesetzlich verbriefte Ziel, bis
2010 ein bedarfsgerechtes Kinderbetreuungsnetz auszu-
bauen, nicht einmal ansatzweise. Im Bericht des Fami-
lienministeriums zum Stand des Ausbaus der Kinderta-
gesbetreuung vom 12. Juli 2007 war man ehrlicher. Da
heißt es, dass der Ausbau von einer geringen Dynamik
gekennzeichnet ist. Man schlussfolgert auf Seite 4 – ich
zitiere –:

Die bisherige Entwicklung reicht damit nicht aus,
um das Ausbauziel des TAG zu erreichen.

Das war im Juli dieses Jahres.

Die Bundesrepublik wird im Jahre 2013 auf einem
Stand sein, der schon jetzt, im Jahre 2007, nicht ausrei-
chend ist. In § 24 a Abs. 4 des TAG steht – ich zitiere
wieder –:

Solange das erforderliche Angebot noch nicht zur
Verfügung steht, sind bei der Vergabe der neuge-
schaffenen Plätze
1. Kinder, deren Wohl nicht gesichert ist, und
2. Kinder, deren Eltern oder alleinerziehende El-
ternteile eine Ausbildung oder Erwerbstätigkeit
aufnehmen …,
besonders zu berücksichtigen.

Sie wollen mit diesem Sondervermögen ein Kinderbe-
treuungsnetz aufbauen, das 35 Prozent der in der Bun-
desrepublik lebenden Kinder einen Kita-Platz liefert.
Dieses Angebot wird nicht für alle Kinder ausreichen,
die dies in Anspruch nehmen wollen. Ich befürchte,
dass, wie schon jetzt, leider auch in meinem Bundesland
Brandenburg die Kinder von erwerbslosen Eltern vom
Besuch einer Kita ausgeschlossen bleiben. Das hätte
dann nichts, aber auch gar nichts mit einem Rechts-
anspruch für jedes Kind zu tun; denn dieser muss un-
abhängig vom Erwerbsstatus der Eltern gelten.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611805700

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Kressl?


Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611805800

Da sie wahrscheinlich wieder keine Frage stellt,

werde ich das heute nicht zulassen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Weil Sie wieder nicht antworten können! – Gegenruf von der LINKEN: Das entscheidet wohl die Präsidentin, ob das eine Frage ist oder nicht!)


Gleichzeitig frage ich mich, warum Sie Ihren eigenen
Anreizgesetzen so wenig Vertrauen schenken. Sollte Ihre
Elterngeldlogik aufgehen, würde es 2013 mit den ge-
schaffenen Plätzen recht eng in den Kitas und Tagespfle-
gestuben. Gut wäre es gewesen, wenn Sie sich nicht nur
darauf festgelegt hätten, wann dieser Rechtsanspruch für
unter Dreijährige kommt, sondern was der Rechts-
anspruch umfasst: ob er für alle Kinder gilt und wie
lange Kinder mit diesem Rechtsanspruch in der Kita be-
treut werden können. Dazu schweigt sich die Bundes-
regierung einmal mehr aus.

Nun werden Sie mir vielleicht sagen, dass dies nicht
in das Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens ge-
höre. Aber ich sage Ihnen: Ein Rechtsanspruch macht
aus unserer Sicht nur dann einen Sinn, wenn er auf das
Kind bezogen festgeschrieben ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Nur dann entspricht er dem, was Sie, Frau von der
Leyen, mit Ihren eindrucksvollen Rechenbeispielen von
einem Podium zum nächsten tragen, nämlich einem An-
gebot, das kein Kind vor der Kita-Tür stehen lässt, das
kein Kind von der Betreuung halb- oder ganztags aus-
schließt, weil seine Eltern nicht in der glücklichen Situa-
tion sind, einen Nachweis über die wirtschaftliche Not-
wendigkeit der Betreuung vorzulegen. Das sollten Sie
dann auch klar und deutlich sagen, Frau Ministerin.

Wenn Erwerbstätigkeit der Eltern weiterhin der Maß-
stab ist, dann wird das Gesetz in der Tat zu dem, wie Sie
es verfassungsmäßig begründen. Hier muss auch ich
leider auf die Verfassungsmäßigkeit eingehen. Den
Ausbau der Kinderbetreuung und die dazu nötige An-
schubfinanzierung mit Art. 104 b des Grundgesetzes zu
begründen, ist mehr als fragwürdig. In Art. 104 b heißt
es – ich zitiere erneut –:

Der Bund kann … den Ländern Finanzhilfen für be-
sonders bedeutsame Investitionen der Länder und
der Gemeinden … gewähren, die
1. zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaft-
lichen Gleichgewichts oder
2. zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschafts-
kraft im Bundesgebiet oder
3. zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums
erforderlich sind.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir als Frak-
tion Die Linke verwahren uns dagegen, dass Kinder auf
ein Instrument zur Förderung der Wirtschaftskraft redu-
ziert werden.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Wir wollen nicht, dass der Ausbau der Kinderbetreuung
zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtlichen Gleich-
gewichts herangezogen wird. Wir wollen nicht, dass er
als ausgleichendes Moment für die unterschiedlichen
wirtschaftlichen Entwicklungen dienen soll. Und all dies
nur wegen Ihrer verkorksten Föderalismusreform!


(Beifall bei der LINKEN – Nicolette Kressl [SPD]: Das ist doch Blödsinn!)


Wir wollen, dass eine Kindertagesbetreuung entsteht, die
vorrangig ein Ziel hat: qualitativ hochwertige früh-
kindliche Förderung und Bildung für jedes Kind unab-






(A) (C)



(B) (D)


Diana Golze
hängig vom Erwerbsstatus oder der Herkunft seiner El-
tern.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, hochwertige
Betreuung setzt auch einen Betreuungsschlüssel voraus,
der Erzieherinnen und Erzieher in die Lage versetzt, dem
Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsanspruch, der an
Kindertagesbetreuung heute gestellt wird, gerecht zu
werden. Auch setzt sie voraus, dass genügend Erziehe-
rinnen und Erzieher da sind. Kein Wort dazu in den ver-
gangenen Wochen von der Bundesregierung. Ich frage
Sie: Wer soll die Kinder in den vielen neuen Kitas be-
treuen?

Hochwertige Betreuung setzt eine gute Ausbildung
und übrigens auch eine gute Bezahlung für Erzieherin-
nen und Erzieher sowie für Tagesmütter und Tagesväter
voraus.


(Beifall bei der LINKEN)


Kein Wort dazu in den vergangenen Wochen von der
Bundesregierung.

Wie soll die Kinderbetreuung in den kommenden Jah-
ren aussehen? Welche Mindestanforderungen stellen
wir? Was sind die Qualitätsstandards? Kein Wort dazu in
den letzten Wochen von der Bundesregierung.

Die Länder und Kommunen werden diese Fragen
sicherlich stellen, spätestens dann, wenn die Kitas fertig-
gestellt sind und man nach qualifiziertem Personal sucht.
Denn alle politischen Kräfte fordern qualifiziertes Perso-
nal. Niemand will irgendeine beliebige Betreuung. Alle
wollen eine qualitativ hochwertige.

Schließlich und endlich komme ich auf das politische
Hintertürchen zu sprechen, das Sie der CSU gelassen ha-
ben, Frau von der Leyen. Ich spreche von der Einfüh-
rung des sogenannten Betreuungsgeldes. Dadurch rü-
cken Sie Ihre eigene Debatte in ein fragwürdiges Licht.
Durch diesen Passus der Begründung, auch wenn er mit
der Formulierung „soll eingeführt werden“ versehen ist,
wird die Diskussion über die Rolle der öffentlichen Kin-
dertagesbetreuung weit zurückgeworfen. Mit dieser Ab-
sichtserklärung werden wieder die alten Diskussionen
über Bildung und Betreuung einerseits und Förderung,
Erziehung und Elternsorge andererseits eröffnet.

Ich kenne diese Diskussionen, Frau Ministerin. Sie
endeten bisher nie dort, wo Sie mit Ihrem Vorstoß ei-
gentlich hin wollten. Diese Debatten führen immer wie-
der in die Rabenmüttersackgasse, die Sie eigentlich
überwinden wollten. Dass sich elterliche Sorge und öf-
fentliche Kindertagesbetreuung ergänzen, wobei die öf-
fentliche Kindertagesbetreuung die Erziehung der Kin-
der fördern, sie den Eltern aber nicht abnehmen soll,
davon lenkt die Debatte über das Betreuungsgeld ab. Da-
durch werden diese zwei Aspekte in unzulässiger Weise
gegenübergestellt.


(Beifall bei der LINKEN)


Ihr großzügiges Zugeständnis wird sich nicht positiv
auf das ursprüngliche Ziel auswirken. Dadurch werden
die Unterschiede noch größer gemacht: Die einen be-
kommen einen Kitaplatz, die anderen das Betreuungs-
geld. Ich hoffe immer noch auf den bereits mehrmals
deutlich artikulierten Widerstand der SPD-Familienpoli-
tikerinnen und der SPD-Familienpolitiker. Außerdem
hoffe ich, dass Frau Fischbach recht hat. Sie hat im Rah-
men einer Diskussionsrunde beim Deutschen Jugend-
institut gesagt – da diese Veranstaltung öffentlich war,
darf ich das hier wiederholen; außerdem war auch die
Ausschussvorsitzende dort –: Das Betreuungsgeld wird
nicht kommen; darauf gebe ich Ihnen mein Wort. – Ich
hoffe darauf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611805900

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich nun

der Kollegin Nicolette Kressl.


Nicolette Kressl (SPD):
Rede ID: ID1611806000

Sehr geehrte Frau Kollegin, Sie haben in Ihrer Rede

wieder eine Reihe von unzulässigen Vermischungen vor-
genommen und unzulässige Behauptungen aufgestellt.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl! Richtig! Das war alles Schrott!)


Ich will nicht auf alle eingehen; aber eines muss klarge-
stellt werden. Ich bitte ausdrücklich darum, dass Sie
nicht mehr behaupten, dass es in irgendeiner Form einen
eingeschränkten Rechtsanspruch geben wird.

Wir haben klar festgelegt, dass bis zum Jahr 2013
eine Aufbauphase stattfinden wird. Wir wollen, dass bis
dahin für 35 Prozent der unter Dreijährigen Betreuungs-
plätze zur Verfügung stehen; das haben Sie unzulässiger-
weise mit dem Hinweis auf einen Rechtsanspruch ver-
mischt. Danach werden alle Eltern, die das wollen bzw.
darauf angewiesen sind, eine Garantie auf einen Betreu-
ungsplatz für ihre unter dreijährigen Kinder bekommen;
das haben wir mehrmals betont. Im Interesse der Sache
bitte ich Sie, in diesem Fall den Ansatz, den heute Mor-
gen auch Herr Müntefering angesprochen hat, zu verfol-
gen; denn wir machen hier einen riesigen gesellschaftli-
chen Schritt. Manchmal ist es sinnvoll, dass auch die
Opposition sagt: Da kann man wirklich nicht meckern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611806100

Es gibt noch einen zweiten Wunsch nach einer Kurz-

intervention. Darf ich diese Kurzintervention aufrufen,
bevor Sie antworten, Frau Golze? – Frau Kollegin
Fischbach.


Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1611806200

Sehr geehrte Frau Kollegin Golze, wenn man zitiert

bzw. davon berichtet, was gesagt wurde, macht es sich
immer gut, den gesamten Zusammenhang darzustellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Nicolette Kressl [SPD])







(A) (C)



(B) (D)


Ingrid Fischbach
Es macht sich aber nicht gut, nur eine einzige Zeile he-
rauszunehmen und nicht zu erklären, worüber vorher ge-
sprochen wurde.

Die Damen, die an der von Ihnen erwähnten
Podiumsdiskussion teilgenommen haben, wussten schon
ganz genau, wie das Betreuungsgeld ausgestaltet sein
wird, wie hoch es sein wird, wer es bekommen und wer
es nicht bekommen wird. Ich habe darauf hingewiesen,
dass wir in dieser Diskussion überhaupt noch nicht so
weit sind. Daher habe ich an diesem Abend gesagt: Sie
können sicher sein, dass das so nicht kommen wird; da-
rauf gebe ich Ihnen mein Wort. – Ich bitte Sie, dass Sie
diesen Zusammenhang darstellen.

Eine Kollegin – ich schaue jetzt zur FDP – wusste
schon ganz genau, wahrscheinlich aus anderen Zusam-
menhängen, wie diese Regelung ausgestaltet sein wird.
Vielleicht haben einige Kolleginnen Visionen. Ich weiß
nicht, ob das auch für Sie gilt. Ich zumindest hatte keine
Visionen. Deshalb war das, was ich in diesem Zusam-
menhang gesagt habe, richtig. Ich bitte Sie, diesen Ge-
samtzusammenhang zu berücksichtigen und ihn auch
darzustellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Ina Lenke [FDP])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611806300

Frau Kollegin Golze, bitte.


Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611806400

Zur ersten Kurzintervention. Ich habe nicht davon ge-

sprochen, dass es einen eingeschränkten Rechtsanspruch
geben wird, sondern ich habe meine Befürchtung zum
Ausdruck gebracht.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Wissen Sie, ich habe lange Politik im Land Brandenburg
gemacht. Da ist genau dasselbe passiert: Man hat sich
hehre Ziele gesteckt und dann, als man festgestellt hat,
dass das Geld nicht reicht, bei denen gespart, die sich am
wenigsten dagegen wehren können, nämlich bei den
Kindern erwerbsloser Eltern. Man hat den Rechts-
anspruch wieder eingeschränkt.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Befürchtung ist, dass hier genau dasselbe pas-
siert: dass man sich ein hehres Ziel vornimmt – wir un-
terstützen dieses Ziel ja –, aber nicht nachkommt mit
dem Ausbau. Dass man nicht weit genug geht, sehen wir
leider schon jetzt an der Frage, inwieweit auch wir als
Bund finanzielle Verantwortung tragen. Ich befürchte,
dass der Rechtsanspruch so, wie Sie ihn sich vorgenom-
men haben, nicht wird kommen können. Bis 2013 wol-
len Sie für 35 Prozent der Kinder Plätze schaffen. Was
passiert, wenn am 1. Januar 2014 mehr Kinder vor der
Tür stehen und Kinder abgewiesen werden müssen, weil
nicht genügend Plätze vorhanden sind?


(Nicolette Kressl [SPD]: Es gibt einen Anspruch!)

Wie wollen Sie das dann rechtfertigen? Wie wollen Sie
diesen Rechtsanspruch, wie Sie es nennen, dann umset-
zen? Das ist meine Befürchtung. Sie können mir diese
Befürchtung ganz einfach nehmen, indem Sie in das Ge-
setz schreiben: Der Rechtsanspruch gilt für alle Kinder
unabhängig vom Erwerbsstatus der Eltern.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau Fischbach, dass Sie versuchen, sich zu rechtfer-
tigen, kann ich verstehen. Es waren noch weitere Kolle-
ginnen des Hauses anwesend. Es wäre interessant, zu
erfahren, wie diese Ihren Satz aufgenommen haben, den
Sie – ich habe ihn mir aufgeschrieben – gegenüber dem
Diskussionsleiter dieser Runde, einem Journalisten der
Süddeutschen Zeitung, genau so gesagt haben. Wir wa-
ren alle erfreut, das zu hören, da auch die Kolleginnen
der SPD hoffen, dass dieses Betreuungsgeld nicht
kommt. Insofern haben wir diesen Satz wohlwollend zur
Kenntnis genommen. Dass Sie ihn jetzt wieder etwas
entschärfen, finde ich schade; es hätte Ihnen gut zu Ge-
sicht gestanden, dabei zu bleiben.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611806500

Nun hat das Wort die Kollegin Krista Sager für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611806600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-

ehrte Frau von der Leyen, es ist zweifellos Ihr Verdienst,
dass Sie die Modernisierungsblockaden von CDU und
CSU in der Familien- und Kinderpolitik aufgebrochen
haben.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Welche Blockaden, Frau Kollegin?)


Sie haben das in einem Bereich getan, in dem der ideolo-
gische Drahtverhau im konservativen Lager traditionell
besonders dicht ist, nämlich bei der Betreuung der unter
Dreijährigen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was haben Sie während Ihrer sieben Jahre Regierungszeit gemacht?)


Aber wenn ich mir anschaue, wie der CSU-Vorsit-
zende, Herr Huber, und der neue Ministerpräsident von
Bayern, Herr Beckstein,


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Guter Mann!)


Sie beim Betreuungsgeld schon wieder traktieren, be-
komme ich das Gefühl, dass Sie auf Ihren innerparteili-
chen Baustellen in den nächsten Jahren noch gut zu tun
haben werden.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Machen Sie sich da mal keine Sorgen!)


Nach der Rede von Herrn Kampeter zum Betreuungs-
geld muss ich sagen: Ich beneide Sie nicht um die Auf-
gabe, moderne Familienpolitik mit Ihren Freunden hier
durchdeklinieren zu müssen.






(A) (C)



(B) (D)


Krista Sager

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ina Lenke [FDP]: Sie haben gar nichts gemacht! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sieben Jahre lang!)


– Stellen Sie mir eine Frage; dann antworte ich darauf.

Wer bildungsfernen Familien mit einem geringen Fa-
milieneinkommen Geld dafür anbietet, dass sie ihr Kind
nicht in die frühe Förderung bringen, wer ihnen dieses
Geld, wenn sie sich entscheiden, ihr zweijähriges Kind
doch zur Sprachförderung in die Kita zu bringen, wieder
abnimmt, der handelt verantwortungslos gegenüber den
schwächsten Kindern in dieser Gesellschaft, Herr
Kampeter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist verantwortungslos gegenüber den Kindern, die
die schlechtesten Startchancen haben. Da muss ich eines
sagen: Der Wunsch einer Partei, Eltern für einen be-
stimmten Lebensentwurf eine Art Anerkennungsbonus
zu zahlen, muss zurücktreten hinter der Ausrichtung von
Familienpolitik auf die Kinder, die frühe Förderung am
dringendsten nötig haben. Das haben Sie bisher offen-
sichtlich nicht verstanden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Ich appelliere an die Frauen in der Großen Koalition:
Lassen Sie sich auf diesen Kuhhandel nicht ein! Es ist
ein Kuhhandel zulasten der Schwächsten in dieser Ge-
sellschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kommen wir jetzt einmal weg vom pädagogischen
Ansporn und reden wir über die Wirklichkeit. In der
Wirklichkeit, meine Damen und Herren, ist auch heute
bei weitem nicht alles gut. Wenn das, was Sie heute be-
schließen, umgesetzt wird, dann brauchen Sie sich nicht
selbstzufrieden zurückzulehnen; denn es wird den
Rechtsanspruch erst dann geben, wenn die Kinder der
Eltern, die heute Elterngeld erhalten, schon längst in die
Schule gehen. Das ist die Wirklichkeit. Deshalb muss
man doch sagen: Ein großer Schritt für die CDU/CSU ist
eben noch kein großer Schritt für die Menschheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der FDP)


Wir haben Ihnen einen Vorschlag dafür gemacht, wie
man auf der Basis der von Rot-Grün beschlossenen Ge-
setze den Ausbau jetzt so forcieren kann, dass es diesen
Rechtsanspruch tatsächlich schon im Jahre 2010 und
nicht erst im Jahre 2013 gibt. Diese Chance sollten Sie
wirklich ergreifen.

Sie haben sich bisher auch ziemlich um die klare Aus-
sage herumgemogelt, ob es um einen Rechtsanspruch für
einen Ganztagesplatz geht. Dass nicht alle Eltern einen
Ganztagesplatz nachfragen werden, ist eine Binsenwahr-
heit. Haben sie aber einen Rechtsanspruch auf einen
Ganztagesplatz? Das ist doch die entscheidende Frage;

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Reden Sie doch einmal zu dem Gesetzentwurf, der heute auf der Tageordnung steht! Frau Präsidentin, sie redet nicht zur Tagesordnung! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Zur Tagesordnung!)


denn nur so kann die Mangelverwaltung in der Bundes-
republik Deutschland beseitigt werden, was wir – auch
beim Zeitbudget – wirklich erreichen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die nächste Frage, die sich stellt, lautet: Was wird nun
eigentlich mit den Kindern über drei Jahre? Wir wissen
doch längst, dass der garantierte Halbtagesplatz vielen
Eltern von Kindern über drei Jahre nicht ausreicht.


(Ina Lenke [FDP]: Ja!)


Wir wissen auch, dass der tatsächliche Förderbedarf
für viele Kinder bei über vier Stunden liegt. Das heißt,
wir brauchen einen Rechtsanspruch auf einen Ganzta-
gesplatz vom ersten Lebensjahr bis zum Eintritt in die
Schule. Davon sind wir noch weit entfernt. Frau Ministe-
rin, das heißt, die Verhandlungen mit den Ländern müs-
sen an diesem Punkt jetzt weitergehen. Es darf hier keine
Besinnungspause aufgrund von Selbstzufriedenheit ge-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen jetzt, was der Bund leisten will. Wir wis-
sen aber nicht, was die Länder leisten werden, und wir
wissen erst recht nicht, was die Kommunen leisten kön-
nen. Ohne den garantierten eigenen Finanzierungsbei-
trag von Ländern und Kommunen wird es den Rechtsan-
spruch noch nicht einmal im Jahre 2013 geben.

Wir haben Ihnen den Vorschlag gemacht, die
5 Milliarden Euro, die durch eine Begrenzung der Höhe
des Ehegattensplittings freigesetzt würden, dafür zu ver-
wenden.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja, jetzt kommt heraus, was Sie wollen! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Den Familien wegnehmen! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Kahlschlag bei den Familien!)


Das würde bedeuten, dass die Länder und Kommunen
mehr Geld erhalten. Dann würde der Finanzierungsan-
teil der Kommunen und Länder nicht so in der Luft
hängen, wie dies bei Ihnen jetzt der Fall ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Kürzungsorgie!)


Dass der Finanzierungsanteil in der Luft hängt, ist des-
wegen dramatisch, weil wir hier nicht nur über einen
quantitativen Ausbau reden, sondern wir reden auch
über eine viel höhere Qualität der frühen Förderung.
Darauf muss sich der Blick jetzt konzentrieren.

Wir brauchen pädagogische Konzepte und umfas-
sende Förderstrategien: Aufwertung der Erzieherinnen-
und Erzieherausbildung, ausreichend gutes Personal,
kleinere Gruppen, Stärkung der Elternkompetenz, Ver-






(A) (C)



(B) (D)


Krista Sager
zahnung von Elementarbereich und Grundschule. Wir
brauchen daneben eine Senkung der Schwelle für Kinder
aus armen Familien – sie müssen ein kostenloses Mittag-
essen und eine kostenlose Betreuung erhalten –, damit
sie tatsächlich früh gefördert werden können.


(Otto Fricke [FDP]: Dafür reichen 5 Milliarden Euro aber nicht aus!)


Diese gewaltige qualitative Aufgabe steht vor uns.
Deswegen wäre es besser gewesen, wenn der Bund bei
den Betriebskosten einen höheren Anteil geleistet hätte,
damit die Gegenfinanzierung auch für diese qualitative
Herausforderung gewährleistet wäre. Die Flucht vor der
Gegenfinanzierung und Ihre Absicht, nicht zeitgemäße
Transferleistungen nicht abzubauen und sich in das Son-
dervermögen Investition hineinzuflüchten, weil man die
entsprechenden Aufgaben dann mit Schulden finanzie-
ren kann, bedeutet die Kapitulation vor der riesigen qua-
litativen Aufgabe, die frühe Förderung ernst zu nehmen
und dieses Vorhaben wirklich in Gang zu bringen.

Frau von der Leyen, heute ist vielleicht ein Tag, an
dem Sie sagen: Ich lehne mich zurück; ich bin zufrieden.
Ich kann Ihnen aber ganz klar sagen: Immer dann, wenn
man in der Politik glaubt, dass man etwas im Kasten hat,
muss man einsehen, dass in Wirklichkeit noch große
Aufgaben vor einem stehen.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Machen Sie sich keine Sorgen!)


Wir werden Sie jeden Tag an diese großen Aufgaben er-
innern. Darauf können Sie sich verlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wir sind viel besser als sieben Jahre Rot-Grün!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611806700

Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Bundes-

finanzminister Peer Steinbrück das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1611806800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Es ist manchmal atemberaubend, was der Öf-
fentlichkeit in solchen Reden – in diesem Falle in Ihrer,
Frau Sager – alles versprochen wird, ohne die Frage zu
beantworten, ob sich dies einigermaßen in den Propor-
tionen des finanziell Darstellbaren bewegt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir haben einen Finanzierungsvorschlag gemacht!)


– Wenn Sie einen solchen Finanzierungsvorschlag ma-
chen – ich bin bei der Bewertung des Ehegattensplit-
tings wahrscheinlich gar nicht so weit entfernt von Ih-
nen –,


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach so!)

dann müssen Sie der Öffentlichkeit natürlich auch deut-
lich machen, welche Grenzen dem durch die Verfas-
sungsgerichtsspruchpraxis gesetzt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das müssen Sie den Menschen schon erklären. Sie dür-
fen nicht den Eindruck vermitteln, dass Sie, wenn Sie in
diesem Haus nur könnten, wie Sie wollten, dies landes-
und bundesweit völlig losgelöst von dem, was das Bun-
desverfassungsgericht als Rahmen vorgibt, veranlassen
würden.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 5 Milliarden Euro sind doch verfassungskonform!)


Ich möchte auch die Oppositionsparteien in diesem Zu-
sammenhang gern zu einer gewissen Mäßigung aufru-
fen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611806900

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Sager?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1611807000

Bitte sehr.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611807100

Herr Minister, ist Ihnen bekannt, dass es Modelle von

durchaus seriösen Wissenschaftlern gibt, wonach man aus
den 20 Milliarden Euro für das Ehegattensplitting durch-
aus 5 Milliarden herausnehmen kann, ohne dass das die
kleinen und mittleren Einkommen belastet, und dass diese
5 Milliarden Euro dann nicht nur dem Bund, sondern auch
den Ländern und Kommunen zufallen würden? Ist Ihnen
ferner bekannt, dass 5 Milliarden Euro 50 Prozent dessen
sind, was heute für die Krippenbetreuung in Deutschland
eingesetzt wird, und die Krippenbetreuung damit nicht
nur im Hinblick auf die Quantität, sondern auch die Quali-
tät vorangebracht werden könnte?


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Haben Sie etwas gegen Ehe?)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1611807200

Diese Stellungnahmen mag es geben. Unabhängig da-

von ist der Zwischenruf berechtigt, weil das Bundesver-
fassungsgericht dabei auf die Institution Ehe abstellt.
Aus den Recherchen und Nachfragen, die ich veranlasst
habe, kann ich Ihnen berichten, dass über die Einführung
eines verfassungskonformen Realsplittings allenfalls
1 bis 2 Milliarden Euro zu heben sind und nicht die von
Ihnen apostrophierten 5 Milliarden Euro.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur vom Bund! – Gegenruf des Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unseriös!)


Noch einmal: Ich bitte darum, nicht völlig von be-
stimmten Rahmenbedingungen abzuheben, wenn solche
Zahlen und Ankündigungen hier in den Raum geworfen
werden. Damit folge ich dem heutigen Hinweis von
Herrn Müntefering, dass eine selektive Information der






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
Öffentlichkeit auch eine falsche Information der Öffent-
lichkeit sein kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, ich würde gerne zwei bis
drei grundsätzliche Bemerkungen machen. Ich habe bei
der ersten Lesung des Bundeshaushalts 2008 darauf hin-
gewiesen, dass die Bundesrepublik Deutschland alle An-
strengungen unternehmen muss, um ihren zukünftigen
Wohlstand zu sichern. Ich glaube, dass es drei Schlüssel-
begriffe gibt, die auch in der heutigen Debatte zur Förde-
rung der Kinderbetreuung eine erhebliche Rolle spielen
müssen, um dieses Wohlstandsniveau zu erhalten und
auszubauen: Das ist eine bessere Bildung in Deutsch-
land; dazu zähle ich insbesondere auch die frühkindliche
Betreuung. Das ist eine höhere Erwerbstätigkeit von
Frauen – insbesondere der sehr gut qualifizierten jünge-
ren Generation von Frauen – vor dem Hintergrund der
Alterung unserer Gesellschaft. Und es sind mehr Kinder.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Von diesen drei wichtigen Stellschrauben reden wir
im Zusammenhang mit der Förderung von Betreuungs-
plätzen. Noch einmal zur Verbesserung der Erwerbstä-
tigkeit von Frauen: Diese ist in Deutschland im Ver-
gleich zu der Entwicklung in anderen europäischen
Ländern unterdurchschnittlich. Das können wir uns defi-
nitiv nicht leisten. Die älter werdende Gesellschaft tut
sich einen Tort an, wenn sie diese Frauen, die – dieser
Satz fällt mir als Mann sehr schwer – zunehmend bes-
sere schulische, berufliche und akademische Abschlüsse
machen als Männer, nicht in den Stand versetzt, eine ei-
gene Berufsbiografie zu schreiben und gleichzeitig Kin-
der in die Welt zu setzen. Dies bedeutet Wohlstandsver-
luste für die Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Ich will da keine Missverständnisse haben. Ich meine
das als Finanzminister nicht nur im Sinne einer platten
ökonomischen Sichtweise, wie mir das unterstellt wurde.
Ich meine das in einem sehr weiten Sinne – auch mit
Blick auf die Gleichverteilung der Entwicklungsmög-
lichkeiten von Männern und Frauen, aber auch mit Blick
darauf, wie es mit dem Wohlstand und der Wohlfahrt in
der Bundesrepublik Deutschland weitergeht.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben diesbezüglich gegenüber anderen europäi-
schen Ländern einen Nachteil. Erkennbar bieten wir un-
seren Kindern nicht annähernd gleiche Bildungschan-
cen, wie sie in anderen europäischen Ländern geboten
werden. Das zeigen – nicht zu unserem Stolz; im Gegen-
teil: Da wird eine große Portion Selbstkritik fällig – lei-
der alle Studien auf. Auch mit Blick auf die von mir
mehrfach erwähnte Erwerbstätigkeit von Frauen hinken
wir deutlich hinterher. Es ist Zeit, dass wir an die Ver-
hältnisse anknüpfen, die es in Schweden, in Finnland, in
Großbritannien, in Frankreich und in den Niederlanden
längst gibt.
Das, was wir auf den Weg bringen, ist übrigens nicht
neu erfunden worden. Ich darf mit einem gewissen Stolz
hinzufügen, dass die Vorgängerregierung – eine rot-
grüne Bundesregierung – diesen Weg bereits eröffnet
hat, was bei einer solchen Gelegenheit nicht verschwie-
gen werden sollte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dies gilt gerade auch aus der Sicht des Bundes, obwohl
– an der Bemerkung ist mir gelegen mit Blick auf die
ewigen Forderungen, die Sie immer an die Adresse des
Bundes stellen – diese Förderung der Betreuungsinfra-
struktur zunächst jedenfalls laut Grundgesetz nicht ge-
rade eine prädestinierte bzw. vorgeprägte Aufgabe des
Bundes ist.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich auch nicht gesagt!)


Deshalb finde ich auch, dass Sie die Länder und Kom-
munen etwas stärker in die Pflicht nehmen dürfen, zumal
derzeit die Finanzausstattung und Finanzentwicklung
der Länder und Kommunen deutlich besser ist als die
des Bundes.


(Ina Lenke [FDP]: Na ja!)


– Aber selbstredend. Beide Gruppen von Gebietskörper-
schaften werden in diesem Jahr einen positiven Finan-
zierungssaldo aufweisen. Der einzige Depp, der das
nicht macht, bin ich für den Bund.


(Ina Lenke [FDP]: Sie müssen Ihre Schulden abbezahlen!)


Die Länder werden in diesem Jahr einen positiven
Finanzierungssaldo von 5 Milliarden bis 6 Milliarden
Euro erzielen. Sicherlich ist der Hinweis erlaubt, dass
sie – jedenfalls in diesem Zusammenhang – erkennbar
größere Spielräume haben als der Bund.

Wenn der Bund bzw. ein sonst garstiger Finanzminis-
ter – Ärmelschoner, Ratzefummel und Bleistift in der
Hand, nur um zu streichen –


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir sind Schlimmeres gewohnt!)


trotzdem entscheidet, dafür Geld auszugeben, dann ge-
schieht das aus den übergeordneten wichtigen Gründen,
die ich zu Anfang meiner Ausführungen erwähnt habe.
Dazu habe ich von Anfang an gestanden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssen zu den familienpolitischen Erfolgen unse-
rer europäischen Nachbarländer aufschließen. Wir bieten
mit dem, was wir jetzt in Gang setzen, eine zielgenauere
Unterstützung und verschaffen einer längst überfälligen
Wahlfreiheit der Eltern endlich Spielraum. Dies sage
ich gerade mit Blick auf Kinder von Eltern oder aus Fami-
lien – wenn es überhaupt Familienstrukturen gibt –, die
garantiert nicht zu den Privilegierten unserer Republik ge-
hören.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich auf meinen
Ehrenamtstouren in meiner damaligen Funktion in Nord-
rhein-Westfalen zu häufig die Erfahrung gemacht habe,
dass wir es zunehmend mit Kindern zu tun haben, die
aus völlig zerrütteten, kaum noch vorhandenen Fami-
lienverhältnissen kommen, keine Regelmäßigkeit ken-
nen, nicht mit Messer und Gabel essen können, keine
Bücher kennen, denen nicht vorgelesen wird, denen
keine Regelmäßigkeit vermittelt wird und die in diesem
Zustand die vorprogrammierten Verlierer unserer Gesell-
schaft und damit auch die prädestinierten Transferemp-
fänger in einigen Jahrzehnten – das heißt zulasten der
Steuer- und Abgabenzahler – sind. Deshalb ist die Schaf-
fung einer Betreuungsinfrastruktur gerade für diese Kin-
der von entscheidender Bedeutung.

Ich habe zu häufig die Erfahrung gemacht, was es für
diese Kinder und übrigens auch für ihr Sozialverhalten
positiv bewirkt, endlich einmal in Gruppen integriert zu
werden und dadurch möglichst auch Zugang zu Bildung
bis hin zu Deutschkenntnissen zu erhalten und über die
gleichen Möglichkeiten wie andere Kinder zu verfügen,
wenn sie eingeschult werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bei dieser Gelegenheit kann man zwar die Einfüh-
rung eines Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung bis
hin zum ersten Schuljahr fordern, Frau Sager – ich will
das gar nicht kritikasterhaft bewerten; das ist als Opposi-
tionspolitikerin leicht gesagt –, aber erklären Sie mir
auch, wie wir das machen sollen, wenn man an anderer
Stelle verzichten muss, um so ein Vorhaben zu finanzie-
ren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber müssen wir reden, aber nicht über das Arbeitslosengeld I!)


Wir führen einen Rechtsanspruch für das Jahr 2013
ein. Dies hat eine völlig neue Qualität. Nicht zuletzt über
die Verankerung dieses Rechtsanspruchs, der dann ab
dem Kindergarten- bzw. Betreuungsjahr August 2013
folgende gilt, ist auch eine wichtige Korsettstange einge-
zogen worden, damit das Geld an der richtigen Stelle an-
kommt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das antworte ich auch den Vertretern der FDP. Denn die
Länder und die Kommunen werden eines Tages nach-
weisen müssen, dass sie diesen Rechtsanspruch erfüllt
haben. Für den Fall, dass sie vielleicht Geld zweckent-
fremdet ausgegeben haben – im Übrigen sind die Aus-
führungen von Herrn Kampeter völlig zutreffend –, ist
mit der Verwaltungsvereinbarung, die wir mit den Län-
dern abgeschlossen haben – übrigens mit einer sehr de-
taillierten Erfolgskontrolle –, eine weitere Korsettstange
als Garant eingezogen worden.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Anders als in den Fällen, die wir gemeinsam bekle-
ben.


(Heiterkeit)

– Ich meine: beklagen. Auf das Kleben komme ich noch
zu sprechen. Ich denke an das Bild von den klebrigen
Händen; wir stehen gemeinsam unter dem Eindruck,
dass zum Beispiel die Regionalisierungsmittel bei der
Förderung der Schienenpersonennahverkehre nicht im-
mer wie vorgesehen angekommen sind oder zu kompen-
satorischen Ausweichmanövern der Länder geführt ha-
ben.


(Ina Lenke [FDP]: Deshalb wollten wir das auch anders! Sie haben es so gemacht!)


Gelegentlich habe ich den Eindruck, dass es bei den
Kosten der Unterkunft auch so ähnlich laufen könnte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Otto Fricke [FDP])


Ich möchte auch noch einen dritten Bereich erwäh-
nen, der dieses Thema unmittelbar betrifft. Dabei geht es
um die 1,5 Milliarden Euro, die der Bund in der Folge
eines Ergebnisses des Vermittlungsausschusses vor eini-
gen Jahren im Zusammenhang mit Hartz IV eigentlich
den Kommunen zum Einstieg in die Betreuung der unter
3-Jährigen zugewiesen hat und von denen wir bis zum
heutigen Tag nicht so genau wissen, was die Kommunen
damit gemacht haben.


(Beifall bei der SPD)

Um auf die Praxis zu sprechen zu kommen – darf ich

Ihre Fragestellung, bezogen auf das Sondervermögen,
schon vorwegnehmen, Herr Fricke? –: Sie sagen, das sei
ein bisschen „Tricky Dicky“ oder „fickelinsch“. Ich
lasse mich nicht lange bitten und gebe zu: Wir gründen
dieses Sondervermögen, weil wir in diesem Jahr Liqui-
ditätsgewinne haben. Ich sage der Öffentlichkeit ganz
klar: Mit den Mehreinnahmen, die wir haben, gründen
wir dieses Sondervermögen. Das ist übrigens kein No-
vum; denn schon in der Vergangenheit haben wir gele-
gentlich Sondervermögen eingerichtet. Es gibt auch ein
aktuelles Sondervermögen zur Tilgung der Schulden zur
Integration der neuen Bundesländer. Vor diesem Hinter-
grund halte ich den ewigen, inflationär geworfenen
Bannstrahl der Verfassungswidrigkeit für ermüdend.
Warum soll dies verfassungswidrig sein?


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611807300

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Fricke?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1611807400

Bitte sehr.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611807500

Herr Kollege Fricke, bitte.


Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1611807600

Sehr geehrter Herr Minister, nachdem Sie die wahren

Gründe genannt haben, warum Sie finanziell so vorge-
hen – ich habe eigentlich nichts zur Verfassungsmäßig-
keit gesagt –,


(Nicolette Kressl [SPD]: Das hat er schon immer gesagt!)







(A) (C)



(B) (D)


Otto Fricke
möchte ich versuchen, dort anzusetzen, wo der Kollege
Kampeter mir deutlich ausgewichen ist. Sie haben er-
klärt: Wir wollen nicht, dass das kommt, und deswegen
prüfen wir das genau. Die Länder müssen alles vorlegen
und zeigen, wofür sie die Gelder verwendet haben. – Ich
versuche, es präzise auf den Punkt zu bringen, Herr
Minister: Wenn Länder und Kommunen es ausweislich
einer Nachprüfung nicht richtig gemacht haben, haben
Sie dann ein Druckmittel? Bisher haben die Länder Gel-
der wiederholt falsch verwendet; das haben wir festge-
stellt. Aber können Sie Länder und Kommunen zwingen,
das Geld zurückzuzahlen, wenn sie das Geld falsch ver-
wenden, wenn das Geld also nicht bei den Kindern und
Familien ankommt, die es brauchen, oder bleibt das Geld
letztlich nicht doch dort? Ist das nicht weiterhin die
Folge? Ich sehe jedenfalls keine Rückzahlungsverpflich-
tung.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1611807700

Um so offen und wahrhaftig zu antworten, wie Sie

mich kennen, Herr Fricke: Das einmal den Bundeslän-
dern gegebene Geld wird man nicht wiederbekommen.
Aber da wir auf dem Geldsack sitzen, wenn es um die
einschlägige Förderung von Investitionsmaßnahmen,
auch beim Umsatzsteuerpauschalbetrag für die Be-
triebsausgaben, geht, werden wir pro futuro diesen Geld-
strom kontrollieren und feststellen, welche Bundeslän-
der sich vorbildlich verhalten.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Zum ersten Mal! – Nicolette Kressl [SPD]: Rechtsanspruch!)


Derjenige, der auf diesem Geldsack sitzt, bin bekannt-
lich ich.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Bei der Einrichtung des infrage stehenden Sonderver-
mögens sehe ich keine Schwierigkeiten. Bislang ging in
Ihren Ausführungen unter, meine Damen und Herren
von der Opposition, dass es für den Bund sehr schwierig
ist, das zu tun – Sie haben das sogar noch als mehr not-
wendig angemahnt, Frau Sager –, nämlich Betriebsaus-
gaben auf der Ebene der Kommunen zu finanzieren.
Wie Sie wissen, sind die Kommunen verfassungsrecht-
lich gesehen nicht Bestandteil des Bundes, sondern der
Bundesländer. Daher gibt es keine direkten Finanzbezie-
hungen zwischen Bund und Kommunen. Wir haben aber
einen Weg gefunden. Wir ermöglichen über die Bundes-
länder eine Förderung der Betriebsausgaben, die bei den
Kommunen ankommt. Der einzig verfassungskonforme
Weg ist hierbei die Lösung, die die Koalitionsfraktionen
gefunden haben, nämlich einen Pauschalbetrag bei der
Umsatzsteuer.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)


Kein Umsatzsteuerpunkt! Ich wäre ja mit dem Klammer-
beutel gepudert, wenn ich das täte; denn hier wäre eine
dynamische Entwicklung absehbar. Ich bin gerne hilf-
reich, aber nicht blöd.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind gerne hilfreich!)


Wir sehen daher einen Pauschalbetrag vor, der allerdings
einem entsprechenden Erfolgskontrollprozess ausgesetzt
sein muss, damit die Betriebsausgabenförderung bei den
Bundesländern so ankommt, wie wir es uns vorstellen.

Dies ist ein weiterer sehr wichtiger Schritt zur Ver-
wirklichung einer modernen Familienpolitik. Mein Bei-
trag im Rahmen einer gestaltenden Finanzpolitik bestand
immer darin, dafür Sorge zu tragen, dass wir in der Fa-
milienpolitik etwas im Bereich der frühkindlichen Be-
treuung in Gang setzen, was in der mittleren Sicht richtig
ist, um vorprogrammierte Transferzahlungen zu mini-
mieren. Wenn wir am Anfang dieses Prozesses in der
Lage sind, Menschen einen gerechten Zugang zu Bil-
dungseinrichtungen zu ermöglichen, Kinder mit ausrei-
chenden Deutschkenntnissen in die Schulen zu schicken,
die Zahl der Schulabbrecher zu verringern, den Jugendli-
chen Ausbildungsplätze in ausreichender Zahl zur Verfü-
gung zu stellen und sie weiterzuqualifizieren, dann ent-
spricht das meinem Verständnis einer vorsorgenden
Sozialpolitik, damit man hinterher nicht sehr viel teurer
etwas reparieren muss, was sich durch Investitionen am
Anfang dieses Entwicklungsprozesses sehr viel günsti-
ger und für die Menschen in ihrer eigenverantwortlichen
Lebensgestaltung sehr viel besser machen lässt. Ich
freue mich, dass wir auf dieser Wegstrecke so gut voran-
gekommen sind.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611807800

Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Ina Lenke für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1611807900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau

von der Leyen, Sie haben es gegen den Widerstand von
Parteifreunden in der CDU und CSU geschafft, dass der
Bund Geld für die Kinderbetreuung bereitstellt. Herr
Steinbrück, ich kann mich noch sehr genau an den An-
fang dieser Diskussion erinnern. Sie waren es, der Wi-
derstand gegen diese Bundesfinanzierung geleistet hat.

Nun zum Finanzierungsvorschlag im Antrag der
FDP-Bundestagsfraktion. Sie wissen, dass wir den Fi-
nanzierungsbedarf durch die Erhöhung des Anteils der
Gemeinden an der Umsatzsteuer nach Vorwegabzug des
Bundesanteils decken wollten. Das war verfassungskon-
form, was bei Ihrem Konzept zumindest nicht so klar ist.


(Beifall bei der FDP – Steffen Kampeter [CDU/ CSU]: Keinerlei Erfolgskontrolle!)


Sicher ist, dass der Staat allein mit staatlicher Kinder-
betreuung die Nachfrage nach mehr Plätzen für unter
Dreijährige nicht zügig decken kann. Bisher haben Ver-
käuferinnen, Kellnerinnen und Krankenschwestern, also
Frauen mit unregelmäßigen Arbeitszeiten, zum Beispiel
auch an Wochenenden, keine Chance, ihre Erwerbstätig-






(A) (C)



(B) (D)


Ina Lenke
keit und die Kinderbetreuung in staatlichen Einrichtun-
gen zu organisieren.


(Caren Marks [SPD]: Das stimmt nicht!)


Dieses Defizit gleichen jetzt schon private Anbieter
aus. Viele haben lange Wartelisten. Die FDP will durch
die Einbeziehung privater Anbieter ein breiteres Ange-
bot schaffen. Nur privat-gewerbliche Anbieter werden
bisher vom Konzept der Bundesregierung ausgenom-
men. Zum Beispiel gibt die Familienministerin Betrie-
ben über EU-Mittel 10 000 Euro pro neu geschaffenen
Krippenplatz. Warum nicht auch für Existenzgründerin-
nen?


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Die FDP fordert die Gleichbehandlung aller Anbieter
und ein Ende der Ausgrenzung der von Eltern stark
nachgefragten privat-gewerblichen Anbieterinnen bzw.
Anbieter. Wir sind uns doch einig – besonders wir
Frauen- und Familienpolitikerinnen –, dass wir gerade
Frauen den Weg in die Selbstständigkeit ebnen wollen.
Dann bitte aber auch mit diesem Ausbildungsprofil. Ich
habe manchmal den Eindruck, auch in den Sitzungen des
Familienausschusses, dass Sie den Privaten in dieser
Hinsicht misstrauen und nur dem Staat vertrauen, und
das ist falsch.


(Beifall bei der FDP)


Der Bericht der Bundesregierung über die Betreuungs-
angebote für unter Dreijährige in Deutschland beweist,
dass das bisher keine Erfolgsstory ist. Deutschland, bes-
ser: Westdeutschland – Frau Golze, da gebe ich Ihnen
recht –, hinkt hinterher. Die Zeit drängt, die Gemeinden
stehen in den Startlöchern. Die FDP fordert die Bundes-
regierung und die Bundesländer auf, die Finanzströme
von Bund und Ländern so zu bündeln, dass die Gemein-
den passgenaue Angebote für Familien machen können.
Aufgrund der Alterung unserer Gesellschaft stehen
Städte und Gemeinden schon heute im Wettbewerb um
junge Familien. Eine Gemeinde ist nur attraktiv, wenn
auch das Angebot an Kinderbetreuung stimmt. Familien-
freundlichkeit ist kein Almosen, sondern ein wichtiger
Standortvorteil. Der Mangel an Betreuungsmöglichkei-
ten ist ein Problem des Westens, und deshalb werden die
Angebote auch angenommen. Ich hoffe, dass wir unsere
Kinderbetreuung so verbessern, dass sie das Niveau der
Betreuung in den neuen Bundesländern erreicht.

Ich komme zum Schluss. Die FDP fordert die Bun-
desregierung auf, erstens mit den Ländern zu vereinba-
ren, dass auch privat-gewerbliche Anbieter bei den
Finanzhilfen einbezogen werden,


(Caren Marks [SPD]: Warum das?)


zweitens mit der Einführung von Bildungs- und Betreu-
ungsgutscheinen jedem Kind die staatliche Subvention
als Budget in die jeweilige Einrichtung, die die Eltern
wollen, mitzugeben und drittens eine Offensive für eine
noch bessere Ausbildung und für mehr Fachkräfte, Er-
zieherinnen und Tageseltern zu starten. Bis 2013 werden
zusätzlich 46 000 Tagesmütter und 66 000 Personen in
Kitas für die Betreuung der unter Dreijährigen benötigt.
Die Bundesagentur für Arbeit ist in diese Kampagne ein-
zubeziehen.

Alles, was wir hier machen – darin sind wir uns sicher
einig –, dient dem Ziel, allen Kindern Bildung und Be-
treuung zukommen zu lassen.


(Beifall bei der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611808000

Für die Bundesregierung hat nun die Bundesministe-

rin Frau Dr. Ursula von der Leyen das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-
handeln heute im Parlament ein Thema mit einem sehr
trockenen Titel: Sondervermögen „Kinderbetreuungs-
ausbau“. Ich finde, es ist ganz spannend, welch ein le-
bendiger Vorgang sich dahinter verbirgt. Ein Vorgang
– das zeigt die Diskussion hier in diesem Parlament –,
der beweist, dass die Große Koalition tatsächlich zu gro-
ßen Schritten in der Lage ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wer hätte im Januar dieses Jahres gedacht, dass wir
neun Monate später fraktionsübergreifend und über alle
drei Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – nicht
mehr diskutieren, ob wir all das brauchen, sondern heftig
darüber debattieren, wie wir es gut machen, wie wir Kin-
derbetreuung qualitativ hochwertig gestalten? Das ist ein
richtig großer Erfolg für diese Große Koalition in der ge-
sellschaftspolitischen Debatte.


(Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Neun Monate sind ein kluger Zeitraum!)


Ich glaube, das ist auch für die Menschen etwas, wo
Politik plötzlich ganz pragmatisch und spürbar gestal-
tend wird, und gerade das wird eigentlich von der Politik
gewünscht und gefordert. Wir schaffen gemeinsame An-
gebote.

Frau Golze, wenn Sie bemängeln, dass der Bericht,
der heute zur Diskussion steht, mit den Zahlen vom
15. März 2006 besagt, der Kinderbetreuungsausbau für
unter Dreijährige komme zu langsam voran, kann ich
nur sagen: Ja! Deshalb tun wir jetzt diese großen Schritte
– mehr und schneller –, damit die jungen Menschen spü-
ren: Es ist uns nicht gleichgültig, wenn sie sich für Kin-
der entscheiden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich möchte noch mal deutlich sagen: Hier zeigt sich
eine Politik, die nicht nur wohlwollend nickt oder Sonn-
tagsreden schwingt, sondern die handelt, die dort unter-
stützt, wo der Staat gezielt helfen kann, wo er seine Auf-
gabe und seine Verantwortung wahrnimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
Meine Damen und Herren, die jungen Familien wer-
den durch eine gute und flexible Kinderbetreuung mehr
Möglichkeiten haben. Sicherlich macht der Ausbau der
Kinderbetreuung vieles leichter, aber mit Sicherheit
nicht alles. Er kann manche Hürde bei dem schwierigen
Spagat zwischen Kindererziehung und Arbeitswelt ab-
bauen. Aber die Hauptlast bleibt bei den Eltern – und na-
türlich auch die meiste Freude und die große Verantwor-
tung für den Alltag mit Kindern. Ich nehme nur einige
Beispiele: fiebernde Kinder, durchwachte Nächte, Trotz-
phasen, Platzwunden, Eifersucht zwischen Geschwis-
tern. Das ist der Alltag von Menschen, die sich für Kin-
der entscheiden, von allen Eltern, weit über das dritte
Lebensjahr hinaus.

All das bewältigen sie einmal besser und einmal
schwächer, aber völlig unabhängig davon – das ist mir
wichtig –, welches Etikett eines Familienmodells wir ih-
nen in der öffentlichen Diskussion aufkleben. Ich sehe
unsere Aufgabe in der Politik nicht darin, Familien in
Modelle einzuteilen. Ich sehe die erste und vornehmste
Aufgabe von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft darin, zu
fragen, in welchen Lebenssituationen Familien es beson-
ders schwer haben, nur weil sie Kinder erziehen. In sol-
chen Situationen muss der Staat ihnen gezielt helfen,
darf sich nicht vor der Verantwortung drücken und muss
als Staat konsequent handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])


Aus den Diskussionen der vergangenen Wochen und
Monate, als es darum ging, die Strukturen der Kinderbe-
treuung – das möchte ich noch einmal betonen – auf ein
europäisches Durchschnittsniveau anzuheben, macht
mich doch zunehmend der Aspekt nachdenklich, warum
sich parallel dazu bei einigen Menschen das Gefühl ent-
wickeln konnte, sie würden benachteiligt. Das ist mit Si-
cherheit nicht so. Ich habe bewusst und beharrlich dafür
gekämpft, dass der Ausbau der Kinderbetreuung eben
nicht zulasten des Ehegattensplittings, nicht durch eine
Kürzung des Kindergelds, aber auch nicht durch Ver-
schuldung finanziert wird.


(Nicolette Kressl [SPD]: Eine Kürzung war nie im Gespräch!)


Denn das wäre eine Finanzierung für Familien zulasten
anderer Familien gewesen und nicht etwa eine Leistung
der gesamten Gesellschaft. Das konnte ich nicht akzep-
tieren.

Es ist uns nun gelungen, eine echte politische Priorität
für Familien insgesamt zu setzen, weil in Familien neu
und mehr investiert wird. Dafür geht vor allem mein ho-
her Dank an Sie, Herr Bundesfinanzminister, und an die
Familienpolitikerinnen und -politiker sowie die Haus-
haltspolitikerinnen und -politiker. Das war wirklich eine
heroische gemeinsame Aufgabe, die wir zusammen ge-
stemmt haben. Keine Familie verliert dadurch. Sehr
viele Familien gewinnen dadurch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Ich frage noch einmal: Woher kommt das Gefühl,
dass durch den Ausbau der Kinderbetreuung die Erzie-
hung von Kindern zu Hause nicht genügend gewürdigt
wird? Ich denke, dass sich hier inzwischen ein schon
lange bestehendes Gefühl offenbart, dass Erziehung in
den vergangenen Jahren von dieser Gesellschaft insge-
samt zu wenig gewürdigt wurde,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


dass Erziehung dieser Gesellschaft kein wirklich vorran-
giges und gemeinsam getragenes Anliegen ist.

Ich will es noch einmal unmissverständlich sagen:
Das Elternhaus ist unersetzlich. Die Erziehung von Kin-
dern vom ersten Tag an und weit über das dritte Lebens-
jahr hinaus durch Mutter und Vater


(Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP])


ist einzigartig, kostbar, und sie ist das Wichtigste, was
eine Gesellschaft schützen muss.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Denn primär daraus erwächst in einer Gesellschaft die
Bereitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmen
und sich für sie einzusetzen – sei es durch die Erfahrung,
die Eltern machen, indem sie Kinder erziehen, sei es
aber auch durch die kindliche Erfahrung, geliebt zu wer-
den und geborgen zu sein.

Warum also hat Erziehung keinen höheren Stellen-
wert in unserer Gesellschaft? Warum haben wir Kinder-
erziehung so lange allein den Frauen zur Aufgabe ge-
macht? Wo ist das lebendige, aktive, begeisternde
Vaterbild? Wo sind die männlichen Erzieher in Kinder-
gärten und die männlichen Grundschullehrer?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Nicolette Kressl [SPD], zur CDU/CSU gewandt: Ihr müsst klatschen! – Ute Kumpf [SPD]: Das war die CDU! 16 Jahren lang! – Caren Marks [SPD], zur CDU/CSU gewandt: Da sitzen sie!)


Erziehung zu Hause geht Mutter und Vater gleicherma-
ßen an.

Aber auch Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen
ihre Verantwortung wahrnehmen; denn nur dann haben
Eltern auch eine Chance auf gelingende Erziehungs-
arbeit. Sie wissen, dass wir dafür gezielte finanzielle Hil-
fen, eine kinderbewusste Arbeitswelt und eine hochwer-
tige Infrastruktur brauchen.

Nachdem ich eingangs all diese Fragen gestellt habe,
möchte ich sagen: Ich habe mich darüber gefreut, dass
wir diese Debatte in den letzten Monaten gemeinsam so
konstruktiv geführt haben. Es ist zum Schluss etwas Gu-
tes herausgekommen.

Aber jetzt stehen wir am Anfang der nächsten De-
batte. Jetzt haben wir, Bund, Länder und Kommunen,
gemeinsam die Chance, nicht nur die Kinderbetreuung
auszubauen, sondern auch auf gute Qualität zu achten,
über die besten Konzepte zu debattieren:






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wie gestaltet man eine enge Zusammenarbeit zwischen
den Tagesmüttern, den Krippen, den Kitas und den El-
ternhäusern? Wie schaffen wir nachhaltige Bildungskon-
zepte für die ersten zehn Lebensjahre eines Kindes? Je
jünger ein Kind ist, desto besser muss die Qualität der
Erziehung sein. Wir müssen für die Erzieherinnen und
Erzieher, für die Tagesmütter Chancen auf mehr Fort-
und Weiterbildung schaffen.

In den ersten Lebensjahren eines kleinen Kindes be-
ginnt auch der Kampf gegen Armut; denn Armut gründet
zuallererst auf Bildungsarmut. Der Kampf gegen Bil-
dungsarmut beginnt aber damit, dass Kinder spielend
miteinander lernen können. Wir alle wissen: Bildung ist
der Schlüssel zur Welt.

Lassen Sie uns den heutigen Tag feiern. Wir haben
Grund, zu feiern, weil das, was geschaffen worden ist,
gut ist. Ich danke noch einmal allen Beteiligten. Es wäre
nicht gegangen, wenn nicht alle Beteiligten so eng zu-
sammengestanden und auch wirklich große neue Schritte
gewagt hätten.

Wir sind jetzt am Anfang der Bewältigung der nächs-
ten großen Aufgabe; ich meine das große Thema „Quali-
tätsoffensive beim Ausbau der Kinderbetreuung“.


(Ute Kumpf [SPD]: Reden Sie mal mit Ihren CDU-Länderchefs!)


Wir, der Bund, möchten die Länder und die Kommunen
bei dieser Diskussion gern begleiten. Wir möchten die
Qualität in der Kindertagesbetreuung verbessern. Wir
wollen die frühkindliche Bildung und Förderung in den
Kindertageseinrichtungen mit einer Qualitätsoffensive
voranbringen. Wir alle wissen, dass viele Erzieherinnen
und Erzieher gute Arbeit leisten, aber keine oder kaum
Erfahrungen mit der Betreuung von Kindern unter drei
Jahren und mit der engen Zusammenarbeit mit den El-
tern dieser Kinder haben. Das ist Neuland.


(Ute Kumpf [SPD]: Dafür gibt es schon viele Beispiele!)


Wir können da viel von unseren Nachbarn, den Franzo-
sen, den Schweden, den Dänen, den Engländern oder
den Holländern, lernen.

Hierbei werden wir seitens des Bundes unterstützen,
gute Praxis auswerten und gemeinsam mit Trägern,
Kommunen und Ländern Umsetzungswege erproben.
Ich möchte alle, die mitgeholfen haben, diesen ersten
Schritt möglich zu machen, einladen, gemeinsam zu dis-
kutieren, und zwar so konstruktiv, wie wir das in den
letzten Monaten gemacht haben. Wenn die Qualität der
Kinderbetreuung stimmt, dann werden wir mit dem Aus-
bau wirklich Erfolg haben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611808100

Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Anna

Lührmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611808200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Als Mitglied des Haushaltsausschusses will
ich mich jetzt auf die Finanzierung Ihres Konzeptes zur
Kinderbetreuung, die etwas unsolide ist, konzentrieren.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das hat Herr Fricke schon versucht!)


Sie wollen dieses Jahr 2,15 Milliarden Euro in einem
Sondervermögen parken und dieses Geld dann in den
nächsten fünf Jahren schrittweise für Kinderbetreuung
ausgeben. Um diesen optischen Haushaltstrick für Sie,
liebe Bürgerinnen und Bürger, verständlich zu machen,
will ich das noch einmal in Ruhe erklären.


(Christel Humme [SPD]: Nachhilfeunterricht!)


– Vielleicht brauchen Sie ja die Nachhilfe auch noch,
Frau Kollegin.


(Caren Marks [SPD]: Ein bisschen frech!)


Normalerweise gibt eine Regierung – so steht es im
Gesetz – erst in dem Jahr Geld aus, in dem es benötigt
wird. Sie soll keine Schattenhaushalte bilden, indem sie
in einem Jahr etwas zur Seite legt und dann schrittweise,
Jahr für Jahr, wieder ausgibt. Das dient der Transparenz,
damit Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger, jedes Jahr er-
kennen können, wie viele Schulden eine Regierung auf-
nimmt und wie es um die Staatsfinanzen bestellt ist.

Die Koalition legt dieses Sondervermögen an, um
sich dieses Jahr künstlich arm zu rechnen. Wenn Sie den
normalen, vom Gesetz vorgegebenen Weg gehen wür-
den, wäre es möglich, schon in diesem Jahr deutlich we-
niger Schulden zu machen. Dann hätte die Koalition
aber ein Problem.

Nach Ihrem Plan sollen im nächsten Jahr immer noch
11,9 Milliarden Euro Schulden gemacht werden. Ohne
Sondervermögen würden Sie im nächsten Jahr die Ver-
schuldung erhöhen. Das sähe ganz schlecht aus und gäbe
ganz schlechte Schlagzeilen. Nur weil Sie eine gute
Presse haben wollen, Herr Steinbrück, verpassen Sie die
Chance, schon dieses Jahr ganz konkret 2,15 Milliarden
Euro weniger Schulden zu machen. Auch wenn dieses
Jahr die Steuereinnahmen sprudeln, werden Sie über
12 Milliarden Euro Schulden aufnehmen. Sie selbst sa-
gen immer wieder, der Bund habe eine strukturelle De-
ckungslücke im Haushalt. Jetzt wollen Sie die Länder
mit einer Pauschale am Umsatzsteueraufkommen betei-
ligen – das mag noch ganz intelligent sein –, erhöhen da-
durch aber diese strukturelle Lücke im Bundeshaushalt.


(Nicolette Kressl [SPD]: Und was hat die Frau Sager vorhin gesagt?)


Das heißt, der Trick, den Sie hier machen, dient viel-
leicht den Umfragewerten der Koalition und der Optik
Ihres Haushalts, geht aber zulasten der Kinder, die diese
Schulden irgendwann einmal wieder zurückzahlen müs-
sen. Sie geben den Kindern zwar einen Betreuungsplatz,






(A) (C)



(B) (D)


Anna Lührmann
aber Sie geben ihnen auch die Schulden gleich mit ins
Gepäck.


(Caren Marks [SPD]: Ich glaube, das sehen die Kinder von morgen anders!)


Das hat mit solider Haushaltspolitik wirklich nichts zu
tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir Grüne haben hingegen ein Konzept vorgelegt,
mit dem der notwendige Ausbau der Kinderbetreuung
wirklich nachhaltig finanziert werden könnte. Darüber
haben Sie sich gerade schon mit Frau Sager unterhalten.
Wir wollen in einem ersten Schritt das Ehegattensplit-
ting in eine Individualbesteuerung mit übertragbarem
Höchstbetrag umwandeln. Das wäre auch verfassungs-
fest. Sie, Herr Steinbrück, haben eben gesagt, dass selbst
bei einem Realsplitting 1 bis 2 Milliarden Euro mehr he-
reinkommen würden, und haben im gleichen Atemzug
eine selektive Informationsweitergabe durch Frau Sager
gerügt. Sie selbst haben aber verschwiegen, dass sich
Ihre Zahl „bis zu 2 Milliarden Euro“ nur auf den Bund
bezieht.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr! Das ist falsch!)


Die Mehreinnahmen durch eine Umstellung auf das
Realsplitting würden auch bei den Ländern und bei den
Kommunen anfallen. Das heißt, wir hätten selbst nach
dem von Ihnen als verfassungsfest bezeichneten Modell
gesamtstaatlich – darauf kommt es an – Mehreinnahmen
von mindestens 4 Milliarden Euro. Das gehört dazu,
wenn man hier alle Informationen weitergeben will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In einem zweiten Schritt sieht unser Konzept vor,
dass der Bund eine Kinderbetreuungskarte schafft, die
dafür sorgt, dass die Leistungen direkt an die Eltern ge-
hen und nicht den Umweg über die klebrigen Hände der
Länder nehmen. Das funktioniert auch, und zwar mit ei-
nem Geldleistungsgesetz; diese Frage haben wir prüfen
lassen. Sie stellen sich hier immer hin und tun so, als sei
die Weitergabe von Geld über Umsatzsteueranteile der
einzig gangbare Weg. Das stimmt aber nicht. Man kann
das auch über ein Geldleistungsgesetz machen. Das
funktioniert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Nach unserem Konzept würde wirklich jedes Kind
unter drei Jahren einen Betreuungsplatz bekommen,
wenn die Eltern es wollen – ohne zusätzliche Schulden-
aufnahme. Das ist nachhaltige Haushaltspolitik. Das ist
der richtige Weg für den Ausbau der Kinderbetreuung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Bei den Bildungsgutscheinen hat es auch nicht funktioniert! Ohne Angebot funktioniert es nicht!)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1611808300

Nun hat das Wort die Kollegin Caren Marks für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1611808400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Erlauben
Sie mir, Herr Kampeter – er ist, wie ich glaube, gerade
nicht da –, vorab einen kleinen Hinweis.


(Zurufe von der CDU/CSU: Doch! Bei der Regierungsbank! – Christel Humme [SPD]: Auf der Regierungsbank! Das ist ja erstaunlich!)


– Dahinten ist er.


(Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU] begibt sich zurück zu seinem Platz)


– Sie können ja auch im Laufen zuhören.


(Nicolette Kressl [SPD]: Da bin ich mir nicht so sicher!)


Herr Kampeter, Kinder, die eine Kita besuchen, werden
ebenfalls von ihren Eltern erzogen, nicht selten verant-
wortungsvoller als andere.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: So habe ich das auch nicht gemeint!)


– Aber gesagt.


(Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP])


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, moderne Fa-
milienpolitik ist ein komplexes Gebäude. An diesem Ge-
bäude muss kontinuierlich weitergearbeitet werden. Die
tragenden Pfeiler dieses Gebäudes sind Infrastruktur,
Zeit und Geld für Familien. Mit dem Gesetz zur Errich-
tung eines Sondervermögens „Kinderbetreuungsausbau“
setzen wir in der Großen Koalition neue Bausteine, um
das Gebäude nach den heutigen Bedürfnissen von Fami-
lien weiter zu modernisieren: ein konsequenter Schritt
nach dem TAG und dem Elterngeldgesetz. Als Bauleiter
lässt der Bund die Bauherren – das sind in diesem Falle
die Länder und Kommunen – nicht im Regen stehen.

Als Familienpolitikerin möchte ich mich an dieser
Stelle ausdrücklich bei unserem Finanzminister Peer
Steinbrück bedanken. Dank seines sehr guten Vorschla-
ges ist die Finanzierung der Modernisierungskosten so-
lide gewährleistet. Erst durch diesen Finanzierungsvor-
schlag haben sich Bund und Länder nach monatelangem
Hin und Her auf einen deutlichen Ausbau der Betreu-
ungsplätze für unter Dreijährige geeinigt.

Mit der Bereitstellung des Sondervermögens ermög-
licht der Bund die Finanzierung der notwendigen Inves-
titionen im gesamten Bundesgebiet. Wir schaffen mit
dieser Unterstützung Vertrauen und Planungssicherheit
für Länder und Kommunen, aber vor allem – ich glaube,
das ist das Wichtigste – für die Familien in diesem Land.


(Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Frau von der Leyen war im Caren Marks Übrigen auch beteiligt! Wenn Sie das auch erwähnen würden!)





(A) (C)


(B) (D)


– Das haben Sie ja erwähnt.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich habe auch den Kollegen Steinbrück erwähnt!)


Mit diesen Mitteln können die Kommunen neue Krip-
penplätze schaffen, bestehende Kitas renovieren bzw.
diese für die Benutzung durch jüngere Kinder umrüsten.

Das Gesetz ist eingebettet in ein Gesamtkonzept.
Finanziell wird sich der Bund außer an den Investitions-
kosten – so sieht es das Konzept vor – dauerhaft auch an
den laufenden Betriebskosten beteiligen. Damit inves-
tieren wir in Qualität, das heißt auch in Personal. Die
SPD hat sich von Anfang an vehement für eine Beteili-
gung des Bundes auch an den Betriebskosten eingesetzt.
Als verlässlicher Partner der Kommunen haben wir ver-
hindert, dass diese finanziell überfordert werden. Nur
mit den Kommunen an unserer Seite wird nämlich der
Betreuungsplatzausbau schnellstmöglich umgesetzt wer-
den. Darauf haben die Familien schon lange gewartet.


(Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das war nur nicht die SPD-Verhandlungsposition in der Kommission!)


Der ebenfalls im Gesamtkonzept verankerte Rechts-
anspruch auf ein Betreuungs- und Bildungsangebot ab
dem vollendeten ersten Lebensjahr wird ab 2013 gelten.
Ich freue mich, dass es uns, der SPD, gelungen ist, die
Einführung eines Rechtsanspruchs trotz anfänglicher
Widerstände seitens der Union in der Großen Koalition
umzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU] – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unverschämte Rede!)


Hiermit stellen wir sicher, dass die vom Bund zur Verfü-
gung gestellten Mittel bei den Kommunen ankommen
und tatsächlich in den Ausbau der Betreuungsplätze flie-
ßen. Außerdem wertet der Rechtsanspruch die frühkind-
liche Bildung auf. Er ermöglicht mehr Chancengleich-
heit, für die schon bei den Kleinsten gesorgt werden
muss. Für eine gute Entwicklung brauchen Kinder näm-
lich nicht nur liebevolle Eltern, Herr Kampeter, sondern
auch eine optimale Förderung in einer Gruppe; denn
Kinder brauchen auch Kinder.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein garantierter Be-
treuungsplatz gibt Eltern die Verlässlichkeit, die sie be-
nötigen, um Familie und Beruf zu vereinbaren. Nach der
Phase des Elterngeldbezuges erwarten Mütter und Väter
zu Recht einen guten Betreuungsplatz für ihre Kinder.
Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ermög-
licht echte Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Le-
bensmodellen von Familien. Er trägt dem Wunsch der
meisten jungen Frauen und Männer Rechnung, die so-
wohl Anerkennung und Erfolg im Beruf als auch ein Fa-
milienleben mit Kindern wollen und wünschen. Oft
hatten insbesondere Mütter aufgrund fehlender Betreu-
ungsangebote keine Chance, einer Erwerbstätigkeit
nachzugehen. Die Erwerbstätigkeitsquote von Müttern
ist in Deutschland im internationalen Vergleich nach wie
vor niedrig. Auf das Lebensmodell „Kind oder Karriere“
hatten Männer noch nie Lust, die meisten Frauen von
heute aber auch nicht mehr. Im Übrigen ist Erwerbstätig-
keit von Eltern – das gilt insbesondere für Alleinerzie-
hende – die beste Armutsprävention.

Eingangs habe ich moderne Familienpolitik mit ei-
nem komplexen Gebäude verglichen. Die Modernisie-
rung des Gebäudes wird mit der finanziellen Beteiligung
des Bundes und der Verankerung des Rechtsanspruchs
entscheidend vorangetrieben. Um das Haus mit Leben
zu füllen, müssen zahlreiche Akteure mitwirken. Neben
der Politik bedarf es der Unterstützung von Wirtschaft,
Gewerkschaften, Verbänden, Vereinen und Kirchen. Nur
in einem breiten Bündnis wird es gelingen, unsere Ge-
sellschaft familien- und kinderfreundlicher zu gestalten.

Mit der Sicherstellung der Finanzierung machen wir
beim Ausbau der Kinderbetreuung einen Quanten-
sprung. Die von Rot-Grün eingeleitete moderne Famili-
enpolitik ist nicht mehr aufzuhalten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611808500

Das Wort hat die Kollegin Miriam Gruß von der FDP-

Fraktion.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1611808600

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Wenn man zum Schluss einer so lan-
gen und heftigen Debatte redet, tut man das immer unter
dem Motto „Es ist schon viel gesagt worden, aber noch
nicht von jedem“. Ich hoffe, dass ich Ihnen trotzdem
noch ein paar Aspekte bieten kann, die für die Debatte
erhellend und interessant sind.

Natürlich beurteilen wir von der Opposition den Aus-
bau der Kinderbetreuung grundsätzlich als positiv. Aber
auch mir ist es wichtig, an dieser Stelle noch einmal da-
rauf einzugehen, dass wir nicht nur mehr Quantität, son-
dern auch mehr Qualität brauchen. Ich freue mich dies-
bezüglich über die Worte insbesondere der Ministerin
hier.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In dieser Woche hat – das wussten Sie vielleicht noch
nicht – ein großer Tester Tintentankstellen, den schon oft
zitierten Flachbildfernseher sowie einen Backtoaster und
eine Margarine mit dem Namen „Idee“ getestet, die da-
für sorgen soll, dass die Kinder besser Ideen entwickeln
können. Das ist alles gut und schön und sicherlich auch
wichtig in unserer Welt. Aber nicht getestet werden die
Einrichtungen, denen wir als Eltern unsere Kinder anver-
trauen. Die Kinder verbringen dort im Schnitt 4 000 Stun-
den ihres Lebens. Hier fehlen einheitliche Standards, die
bundesweit gelten und die uns Eltern das Gefühl geben,
dass wir unsere Kinder guten Gewissens außer Haus be-
treuen lassen können.

Das ist eine wichtige Erkenntnis, die allerdings, so
glaube ich, in diesem Haus unstreitig ist: Die Betreuung






(A) (C)



(B) (D)


Miriam Gruß
außer Haus ist die erste neue, aber auch sehr wichtige
Lebens- und Lernumgebung von Kindern neben der
Familie, und um die Kinder muss es uns letzten Endes
gehen. Ich spreche an dieser Stelle zwar als kinder- und
jugendpolitische Sprecherin der Fraktion, aber auch als
Vorsitzende der Kinderkommission, die die Qualitätsof-
fensive, die Sie angesprochen haben, sehr begrüßt. Wir
brauchen diese Qualitätsoffensive.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Was brauchen Kinder noch? Kinder benötigen für
eine gesunde Entwicklung Bindungspersonen, die für
ihre emotionalen Bedürfnisse verfügbar sind. Kinder
brauchen stabile Bindungen; sie sind notwendig für die
gesunde motorische, kognitive und emotionale Entwick-
lung. Stabile Bindungen können allerdings nicht nur zu
Müttern oder Vätern aufgebaut werden, sondern auch zu
weiteren Bezugspersonen. Das kann neben der Tante aus
der Familie auch die Tagesmutter oder der Tagesvater
sein, ebenso die Erzieherin oder der Erzieher.


(Ina Lenke [FDP]: Genau!)


Es ist evident, welche Vorteile stabile Bindungen ha-
ben: Die Kinder sind kreativer, aufmerksamer und fle-
xibler. Sie haben eine höhere Ausdauer, eine bessere Ge-
dächtnisleistung und Sprachentwicklung. Sie verfügen
in der Regel über höhere Bildungsabschlüsse und weisen
aufgrund guter Ernährung auch eine bessere Gesundheit
auf. Auch dies muss ein wichtiger Aspekt in dieser De-
batte sein. Ziel muss es sein, den Kindern von Anfang an
bessere Chancen zu bieten, wie es die FDP in ihrem An-
trag „Chancengerechtigkeit von Beginn an“ deutlich ge-
macht hat.


(Beifall bei der FDP)


Bei der Bildungsoffensive muss es also um Zweierlei ge-
hen: zum einen um die Inhalte und zum anderen um das
Personal.

Noch einmal zu den Bildungsinhalten. Ja, auch das
freie Spiel und das Erlernen sozialer Kompetenz sind
wichtig. Wir hatten gestern ein aufschlussreiches Exper-
tengespräch in der Kinderkommission, in dem deutlich
wurde, dass auch Themen wie kulturelle Bildung in die-
sen Bildungseinrichtungen Eingang finden müssen.
Auch der frühe Zugang zu den Naturwissenschaften und
das frühe Erlernen von Medienkompetenz sind wichtig.
Dazu braucht man eben motivierte und kompetente
Fachleute, die sich für diese Aufgaben zur Verfügung
stellen. Ich betone, was ich an dieser Stelle schon oft ge-
sagt habe: Wir brauchen mehr männliche Erzieher.

Was ich hier anspreche, ist natürlich in hohem Maße
Ländersache. Aber ich denke, dass sich der Bund da
nicht aus der Verantwortung stehlen darf. Wir müssen an
dieser Stelle klarmachen – wir werden heute von vielen
gehört –, dass hier weitergearbeitet werden muss und
dass man es nicht bei dem Anschub, den der Bund leis-
tet, bewenden lassen darf. Wir müssen über den Perso-
nalschlüssel für die Einrichtungen gemeinsam weiterde-
battieren.
Sie merken, ich habe hier nicht gemeckert, sondern
habe konstruktive Vorschläge gemacht und auch gelobt.


(Ina Lenke [FDP]: Genau! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!)


Die Opposition verhält sich an dieser Stelle im Interesse
der Kinder konstruktiv.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611808700

Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Christel Humme [SPD])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1611808800

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Es freut mich, dass auch die Opposition uns zubil-
ligt, dass kaum ein vergleichbares politisches Großvor-
haben in den letzten Jahren so dynamisch angepackt und
so erfolgreich und rasch umgesetzt worden ist wie die
Kinderbetreuung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir werden die Zahl der Kinderbetreuungsplätze ver-
dreifachen. Wir haben mit einem neuen Anschub die
Leistungskraft enorm gesteigert. Das führt bei dem Mo-
dell der Kinderbetreuung nicht zu klimaschädlichen
Auswirkungen, sondern es begünstigt ein Klima der
Kinder- und Familienfreundlichkeit in Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die Menschen in unserem Land, die Millionen von
Müttern und Vätern sowie viele junge Paare, die über ih-
ren Kinderwunsch momentan noch nachdenken, erfah-
ren nun Planungssicherheit für die Betreuung ihrer
Kleinsten. Taten statt Worte, Gesetzesbeschlüsse statt
Ankündigungen, Chefsache statt Gedöns: Das ist unsere
Leitlinie.


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt gar keine Kindergartenplätze!)


Der Ausbau der Kinderbetreuung ist aber nur ein Teil
eines Gesamtkonzepts des von Bund und Ländern verab-
redeten Ausbaus der Betreuung für Kinder unter drei
Jahren. Im Begründungsteil des vorliegenden Gesetzent-
wurfs über das Sondervermögen wird ausdrücklich da-
rauf hingewiesen, dass im nächsten Schritt weitere Re-
gelungen folgen. Dort heißt es beispielsweise:

Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder
von 1 bis 3 Jahren nicht in Einrichtungen betreuen
lassen wollen oder können, eine monatliche Zah-
lung (z. B. Betreuungsgeld) eingeführt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Damit wird der Grundsatz der Wahlfreiheit darge-
stellt. Keiner Familie, keinem Elternpaar, weder Müttern






(A) (C)



(B) (D)


Johannes Singhammer
noch Vätern sollen Vorschriften gemacht werden, wie
sie ihre Familie zu organisieren haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Wir wollen Familien unterstützen, gleich welches Le-
bensmodell sie gewählt haben. Wir wollen ihnen nicht
weniger, sondern mehr Wahlfreiheit geben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Den richtigen Platz für die gesetzliche Festlegung der
Wahlfreiheit zu finden, wird das nächste große Vorhaben
sein, das zur Änderung des Sozialgesetzbuches VIII füh-
ren wird. Darin wird zum einen die gesetzliche Ver-
pflichtung zum Ausbau der Kinderbetreuung und die
Einführung eines Rechtsanspruchs auf eine Betreuung
für alle Kinder vom vollendeten ersten bis zum dritten
Lebensjahr ab dem Kindergartenjahr 2013/14 geregelt
sowie zum anderen ab 2013 die Einführung eines Be-
treuungsgeldes. Wir werden zunächst sorgfältig über
die Ausgestaltung des Betreuungsgeldes beraten und sie
dann festlegen. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir aber
nicht den Haushalt des Jahres 2013 beschließen; auch
das ist richtig.

Warum sind synchron der Ausbau von Kinderbetreu-
ungsplätzen und die Einführung eines Betreuungsgeldes
notwendig? Ein großer Fortschritt, den diese Koalition
nicht nur zu verantworten hat, sondern auf den sie auch
stolz ist, war die Einführung des Elterngeldes. Rot-Grün
ist es in sieben Jahren nicht gelungen, das Elterngeld auf
den Weg zu bringen. Wir haben es innerhalb von sieben
Monaten geschafft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Freuen Sie sich darüber. Wir haben es gemeinsam ge-
schafft. Für die ersten Eltern, die Elterngeld beziehen,
läuft der Anspruch 2008 aus. Es stellt sich die Frage,
was danach kommt. Dann stellt sich die Frage der Be-
treuung. Deshalb brauchen wir den Ausbau der Kinder-
betreuung. Zunehmend wird sich aber auch die Frage
nach einem Betreuungsgeld stellen; denn Wahlfreiheit
bedeutet nicht Schulterklopfen, sondern auch finanzielle
Wahlfreiheit.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stehen Sie eigentlich auf einem Karton roher Eier?)


Beim beschleunigten Ausbau der Betreuung der unter
Dreijährigen wird von einer Versorgungsquote von
35 Prozent in diesem Zeitraum ausgegangen. Nach
Adam Riese bleiben 65 Prozent der Kinder übrig, für die
keine derartige Betreuung in Anspruch genommen wird.
Auch an diese Familien müssen wir denken. Wir müssen
daran denken, dass Schulterklopfen einen finanziellen
Ausgleich nicht ersetzen kann.

Mit dem Betreuungsgeld entsprechen wir dem Her-
zenswunsch vieler Eltern, möglichst viel Zeit mit ihren
Kindern zu verbringen. Ich bin mir ganz sicher, dass,
wenn wir eine Umfrage unter den Kindern machen wür-
den, herauskommen würde, dass sehr viele Kinder ihrer-
seits den Wunsch haben, möglichst viel Zeit mit ihren
Eltern zu verbringen.


(Ina Lenke [FDP]: Haben Sie Enkelkinder? Dann fragen Sie die doch einmal!)


Die Forderung nach einem Betreuungsgeld ist daher
nicht mit dem Füllhorn der Sozialleistungen zu verglei-
chen, nach dem Motto: Freibier für alle. Da gibt es im-
mer Beifall. Diese Forderung entspricht vielmehr dem
Wunsch der Familien, viel Zeit miteinander zu verbrin-
gen.


(Daniela Raab [CDU/CSU]: So ist es! Soll vorkommen!)


Viele Eltern empfinden es als Bevormundung – auch
das darf ich an dieser Stelle sagen –, wenn sie feststellen,
dass die Lebensentscheidungen, egal wie sie ausfallen,
in eine gewisse Rangfolge gestellt werden,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


wenn sie feststellen, dass nur das eine Lebensmodell
politisch korrekt und zulässig ist, ein anderes, nämlich
die Entscheidung, für eine gewisse Zeit oder dauerhaft
für Kinder zu Hause zu bleiben, als „verzopft“, lächer-
lich oder altmodisch dargestellt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Diese Differenzierung wollen wir nicht. Wir überlassen
es den Familien, zu entscheiden und zu wählen, wie sie
ihr Leben gestalten wollen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Wir auch!)


An dieser Stelle möchte ich noch etwas sagen: Hüten
wir uns davor, den Eindruck zu erwecken, die Familie
sei eine bildungsfreie Zone. Ich bin froh, dass das heute
nicht geschehen ist. Bildung wird zuallererst – darin sind
wir uns einig – in der Familie vermittelt.


(Caren Marks [SPD]: In manchen Familien!)


Ich würde mich freuen, wenn der Betreuungsschlüssel
– es ist schon angesprochen worden, dass wir ihn verbes-
sern wollen, was Aufgabe der Länder ist –, der in einer
Kleinkita wie einer Familie gegeben ist, auch in einer
Kita im üblichen Sinn erreicht würde. Dieses Verhältnis
wird wohl nur sehr selten erreicht. Wir wollen die Wahl-
freiheit nicht für 35, nicht für 50, sondern für
100 Prozent der Väter und Mütter. Dazu werden wir die
entsprechenden Vorlagen erarbeiten.

Es ist gut und notwendig, dass wir das Tempo in der
Familienpolitik erhöht haben. Vor wenigen Wochen hat
das Statistische Bundesamt die Geburtenzahlen für das
zurückliegende Jahr 2006 veröffentlicht. Wenn die Zahl
der geborenen Babys in Deutschland ein Indikator – ne-
ben vielen anderen – für den Handlungsbedarf in der Fa-
milienpolitik ist, dann dürfen wir im Tempo für mehr Fa-
milien- und Kinderfreundlichkeit in Deutschland nicht
nachlassen. 1964 erblickten in den damaligen beiden
deutschen Staaten 1,4 Millionen Babys das Licht der
Welt. Laut den Zahlen des Statistischen Bundesamtes
waren es im Jahr 2006 nicht 1,4 Millionen, auch nicht






(A) (C)



(B) (D)


Johannes Singhammer
1 Million, nicht 900 000, nicht 800 000, nicht 700 000,
sondern 672 000.

Ein familienfreundliches Deutschland, eine kinder-
freundliche Grundstimmung in unserem Land entsteht
nicht über Nacht, sondern bedarf der Nachhaltigkeit mit
dem großen Projekt „mehr Kinderbetreuungsmöglich-
keiten“, mit dem Rechtsanspruch, aber eben auch mit
dem Betreuungsgeld. Kardinal Josef Frings sagte ein-
mal:

Die Zukunft des Volkes hängt nicht von der Zahl
der Kraftwagen ab, sondern von der Zahl der Kin-
derwagen.

Der Kardinal hat recht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611808900

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

das Wort der Kollege Dieter Steinecke von der SPD-
Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dieter Steinecke (SPD):
Rede ID: ID1611809000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es ist mir eine Freude, gleich in meiner ersten
Rede von dieser Stelle über einen großen sozialdemokra-
tischen Erfolg sprechen zu dürfen. Mit der Errichtung ei-
nes Sondervermögens „Kinderbetreuungsausbau“ setzen
wir unsere langjährige Politik für Kinder, für Familien
fort. Es ist sicherlich nicht falsch, an dieser Stelle aus-
drücklich unserem Finanzminister Peer Steinbrück zu
danken; denn schließlich nehmen wir, wie man so schön
sagt, richtig Geld in die Hand.


(Beifall bei der SPD)


Natürlich gebührt auch allen anderen Dank, die am Ge-
lingen des Projekts beteiligt waren.

Wofür wird das Geld verwendet? Diese Frage ist auf
den ersten Blick nicht besonders originell. Ab 2013 wird
ein Rechtsanspruch auf Tagesbetreuung für alle Kinder
unter drei Jahren bestehen. Kapazitäten müssen gezielt
ausgebaut werden. Wir wollen jedoch nicht nur in Beton
investieren; auch Quantität allein ist nicht entscheidend.
Die Qualität der Betreuungsangebote muss stimmen.
Dafür stehen wir im Interesse der Kinder in unserem
Land und für die Zukunft unseres Landes.

Als Bundes- wie auch Kommunalpolitiker möchte ich
an dieser Stelle hervorheben, dass es ausgesprochen
wichtig ist, nicht nur die Errichtung von Kindertagesstät-
ten und -krippen zu fördern, sondern auch deren laufen-
den Betrieb.

Im Zentrum sozialdemokratischer Politik stehen die
Menschen. Im Zentrum unserer Familienpolitik stehen
neben Müttern und Vätern, wenn nicht sogar an erster
Stelle, die Kinder. Bildung und Erziehung beginnen
nicht erst mit dem dritten Lebensjahr oder gar erst mit
der Einschulung. Schon früher werden wichtige Weichen
gestellt. Für viele, zu viele Kinder aus bildungsfernen
Schichten und Kinder, deren Muttersprache nicht
Deutsch ist, ist am Tag der Einschulung der Zug zwar
noch nicht endgültig abgefahren, aber deutlich verspätet.
Diese Verspätung aufzuholen, kostet viel Kraft, viel Zeit
und vor allen Dingen sehr viel Geld.


(Beifall bei der SPD)


Ein umfassendes Angebot an Tagesbetreuung für Kinder
unter drei Jahren ist eine unabdingbare Voraussetzung
für Chancengerechtigkeit, für einen fairen Zugang zur
Ressource Bildung für alle Kinder.

Um diesem hohen Anspruch gerecht zu werden, be-
darf es einer hohen Qualität der Betreuung. Nun bin ich
keineswegs der Auffassung, dass der Weg zum Erzieher-
beruf oder zur Tagespflegeperson ein Fachhochschulstu-
dium erfordern sollte, jedenfalls nicht für alle. Doch für
Tagesmütter und hoffentlich auch bald für Tagesväter
sollte es durchaus etwas mehr sein als ein 20-stündiger
Crashkurs.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Johannes Singhammer [CDU/CSU])


Wenn ich von Qualität in der frühkindlichen Betreu-
ung und Erziehung spreche, dann meine ich vor allem
jene in Krippen und anderen geeigneten und für die
Altersgruppe unter drei Jahren angemessenen Tagesein-
richtungen. Das Ausbildungsniveau der Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter garantiert hohe Standards, die Insti-
tutionalisierung Verlässlichkeit.


(Beifall der Abg. Christel Humme [SPD])


Der Mensch ist, wie schon Aristoteles wusste, von
dem wir heute bereits häufiger gehört haben, ein Gesell-
schaftswesen. Als Pädagoge sage ich Ihnen: Kinder ge-
hören unter Kinder.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Es gibt aber auch Familien mit mehreren Kindern!)


Vor allem in der Gruppe kann Integration geleistet wer-
den. Gerade in einer Gesellschaft wie der unseren, in der
viele Kinder keine Geschwister haben, können sie hier
bereits von sehr klein auf soziale Kompetenz erlernen
und leben.


(Beifall der Abg. Christel Humme [SPD])


Die Qualität der Einrichtungen zu sichern und auszu-
bauen, bleibt eine Daueraufgabe. Daran braucht uns nie-
mand zu erinnern.

Sie sehen, wir lehnen uns nicht selbstzufrieden zu-
rück, sondern wir blicken voraus. Wir werden den Weg
zu einer bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen
Kinderbetreuung in unserem Land weiter beschreiten.
Der Grundstein für ausreichende Kapazitäten ist gelegt.
In den weiteren Beratungen zum SGB VIII werden wir
uns gründlich mit dem Qualitätsaspekt beschäftigen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611809100

Herr Kollege Steinecke, ich gratuliere Ihnen im Na-

men des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut-
schen Bundestag.


(Beifall)


Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/6596, 16/6601, 16/6607, 16/6100
und 16/6597 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 n sowie
die Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf:

34 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Wohngeldgesetzes und des Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch

– Drucksache 16/4019 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Jugendgerichtsgesetzes und
anderer Gesetze

– Drucksachen 16/6293, 16/6568 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Regionalisierungsgesetzes

– Drucksache 16/6310 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Finanzierung der Beendigung des subventionier-

(Steinkohlefinanzierungsgesetz)


– Drucksache 16/6566 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-
lung der Weiterverwendung nach Einsatzun-

(Einsatz-Weiterverwendungsgesetz – EinsatzWVG)

– Drucksache 16/6564 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Innenausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-

(ERPWirtschaftsplangesetz 2008)

– Drucksache 16/6565 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Bundesversorgungsgesetzes und
anderer Vorschriften des Sozialen Entschädi-
gungsrechts
– Drucksache 16/6541 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetz-
buch und anderer Gesetze
– Drucksache 16/6542 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 9. Februar 2007 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Australien
über die Soziale Sicherheit von vorübergehend
im Hoheitsgebiet des anderen Staates beschäf-
tigten Personen („Ergänzungsabkommen“)

– Drucksache 16/6567 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales

j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes und
anderer Gesetze
– Drucksache 16/6560 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Haushaltsausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Legehennenbetriebsregister-
gesetzes

– Drucksache 16/6559 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Deutsche Forschungsflotte leistungsfähig erhal-
ten – mittel- und langfristige Programme
erarbeiten

– Drucksache 16/4064 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

m) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung

Technikfolgenabschätzung (TA)


TA-Projekt: Biobanken für die humanmedizi-
nische Forschung und Anwendung

– Drucksache 16/5374 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit

n) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Nationales Reformprogramm Deutschland
2005 bis 2008
Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2007

– Drucksache 16/4560 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 6 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz,
Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP

Notwendige Verbesserungen am Telemedien-
gesetz jetzt angehen

– Drucksache 16/5613 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP

Verpackungsverordnung sachgerecht novellie-
ren – Weichen stellen für eine moderne Abfall-
und Verpackungswirtschaft in Deutschland

– Drucksache 16/6598 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Rege-
lung der Weiterverwendung nach Einsatzunfällen, Ta-
gesordnungspunkt 34 e, liegt inzwischen auf Druck-
sache 16/6650 die Gegenäußerung der Bundesregierung
zu der Stellungnahme des Bundesrates vor, die wie der
Gesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 m auf.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 35 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes über die Bereinigung von Bundes-
recht im Zuständigkeitsbereich des Bundes-
ministeriums der Justiz
– Drucksache 16/5051 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/6626 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Joachim Stünker
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/6626, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5051 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenom-
men.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 35 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Pflichtversiche-
rungsgesetzes und anderer versicherungs-
rechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/5551 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/6627 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Daniela Raab
Marianne Schieder
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/6627, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5551 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 35 c:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Protokoll vom 28. Oktober 1993 zur
Änderung des Europäischen Übereinkommens
vom 30. September 1957 über die internatio-
nale Beförderung gefährlicher Güter auf der
Straße (ADR)


– Drucksache 16/6121 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 16/6610 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/6610, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 16/6121 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein-
stimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 35 d:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bioethische Grundsätze auch bei Arzneimit-
teln für neuartige Therapien sicherstellen

– Drucksachen 16/4853, 16/5582 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/5582, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4853 abzu-
lehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)


Übersicht 8

über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht

– Drucksache 16/6452 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist einstimmig angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses.

Tagesordnungspunkte 35 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 269 zu Petitionen

– Drucksache 16/6443 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 269 ist einstimmig angenom-
men.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 35 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 270 zu Petitionen

– Drucksache 16/6444 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 270 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 271 zu Petitionen

– Drucksache 16/6445 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 271 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegen-
stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 272 zu Petitionen

– Drucksache 16/6446 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 272 ist einstimmig angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 35 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 273 zu Petitionen

– Drucksache 16/6447 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 273 ist bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Frak-
tionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 274 zu Petitionen

– Drucksache 16/6448 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 274 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion
bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 35 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 275 zu Petitionen

– Drucksache 16/6449 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 275 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke.

Tagesordnungspunkt 35 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 276 zu Petitionen

– Drucksache 16/6450 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 276 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP-
Fraktion und der Fraktion Die Linke.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell,
Cornelia Behm, Winfried Hermann, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Einführung eines Erneuerbare Energien Wär-
megesetzes – EEW

– Drucksachen 16/3826, 16/5361 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Michael Kauch
Hans-Kurt Hill
Hans-Josef Fell

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Dirk Becker von der SPD-
Fraktion.


Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1611809200

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir heute über ein Erneuerbare-Energien-Wärme-
gesetz reden, dann tun wir das aus gutem Grund. Ich
möchte eingangs fünf Feststellungen zum Wärmemarkt
insgesamt treffen:

Erstens. Der Wärme- und Kältemarkt – man sollte
den Kälteanteil nicht vergessen, wenn man über den






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Becker
Wärmemarkt spricht – stellt den größten Anteil am deut-
schen Endenergieverbrauch.

Zweitens. Er ist gekennzeichnet durch einen hohen
Anteil fossiler Energieträger mit der Folge klimaschädli-
cher Abgase.

Drittens. Er ist gekennzeichnet durch eine große Im-
portabhängigkeit in erster Linie bei Gas und Öl.

Viertens. Gerade diese hohe Importabhängigkeit ist
im Hinblick auf die Versorgungssicherheit problema-
tisch. Es muss daher darum gehen, diese Importabhän-
gigkeit in der Zukunft zurückzuführen.

Fünftens. Preissteigerungen – in erster Linie bei Öl
und Gas – führen zu Problemen, gerade in sozial schwa-
chen Haushalten. Das heißt, wir werden auch auf dem
Wärmesektor zunehmend mit der sozialen Frage kon-
frontiert. Auch hier muss es Antworten geben, wie man
diesen brennstoffgebundenen Preissteigerungen entge-
genwirken kann.

Es stellt sich also die Frage: Was können wir tun? Ich
will zwei Dinge kurz skizzieren: Wir müssen Maßnah-
men ergreifen, um den Energieverbrauch zu reduzieren.
Die Bundesregierung hat hierzu Programme aufgelegt.
Eines ist das Gebäudesanierungsprogramm, mit dem wir
das Ziel verfolgen, Energieeinsparmaßnahmen umzuset-
zen. Ein anderes ist die Förderung des Einsatzes effi-
zienterer Anlagentechnik und effizienterer Heizungssys-
teme.

Ferner kommt dem Einsatz erneuerbarer Energien be-
sonderes Augenmerk zu. Warum ist das so? Der Einsatz
erneuerbarer Energien senkt die eben angesprochene Im-
portabhängigkeit. Dies erhöht die Versorgungssicherheit
und dämpft brennstoffbezogene Heizkosten. Darüber hi-
naus sind die erneuerbaren Energien unverzichtbar,
wenn die Klimaschutzziele, die die Bundesregierung be-
schlossen hat, erreicht werden sollen. Ich möchte auf das
EEG, auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz, für den
Strombereich verweisen. Hieran kann man erkennen,
was ein rechtlicher Ansatz zu leisten imstande ist. Nicht
nur, dass Klimaschutzziele erreicht werden, nicht nur,
dass die Importabhängigkeit reduziert wird – es hat auch
einen Effekt auf die heimische Wirtschaft: 200 000 Jobs
und weltweit erfolgreich operierende Unternehmen sind
die Folge dieses Konstruktes Erneuerbare-Energien-Ge-
setz. Nun gilt es, Vergleichbares auch im Wärmebereich
sicherzustellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die entscheidende Frage, die wir uns stellen müssen,
lautet: Wie kann dies im Wärmemarkt gelingen? Wir ha-
ben das Ziel, dass der Anteil der erneuerbaren Energien
im Wärmebereich bis 2020 bei 14 Prozent liegt; so ist es
von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung
beschlossen.

Im Koalitionsvertrag steht, dass wir ein „regenerati-
ves Wärmenutzungsgesetz“ wollen und das Marktan-
reizprogramm fortführen. Mehr ist dort zu diesem Punkt
nicht ausgeführt. In den letzten Monaten gab es in den
Koalitionsfraktionen unterschiedliche Überlegungen.

Ich möchte kurz auf die Position der SPD-Fraktion
eingehen. Bereits Ende letzten Jahres haben wir uns für
ein Fondsmodell ausgesprochen. Was wollen wir mit
diesem Fondsmodell verfolgen? Dieses Modell soll der
Verrechtlichung und Verstetigung des Marktanreizpro-
gramms dienen. Eine große Schwachstelle des bisheri-
gen Marktanreizprogramms war es, dass die Haushalts-
mittel schon Mitte des Jahres verausgabt waren, sodass
Antragsteller nicht mehr zum Zuge kamen. Wir wollten
eine rechtlich verbindliche Fortentwicklung dieses
Marktanreizprogramms mit einer entsprechenden Auf-
stockung. Die Einführung des Ordnungsrechts haben wir
auch im Bereich der Wärmenutzung für möglich gehal-
ten. Dies haben wir allerdings nicht favorisiert.


(Michael Kauch [FDP]: Hört! Hört!)


– Ich komme gleich dazu.

Es gab eine Reihe von Gesprächen – auch mit der
Union, die sich etwas schwer getan hat, eine einheitliche
Position zu finden; das muss man auch einmal sagen.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Na, na, na! – Ulrich Kelber [SPD]: Bis heute noch nicht!)


– Zumindest gibt es bis heute Irritationen, auch in der
Öffentlichkeit. – Entscheidend ist aber das, was die Bun-
desregierung beschlossen hat – darauf sollten wir uns
jetzt konzentrieren –, nämlich ein ambitioniertes Pro-
gramm vorzulegen, das IKEP, das Integrierte Klima- und
Energieprogramm.

Gerade zum Bereich Wärme haben wir Vorschläge
gemacht, die – ich denke, das darf man sagen – viele
nicht für möglich gehalten hätten.

Erstens. Unser gemeinsames Anliegen, nämlich die
Verrechtlichung, Verstetigung und Aufstockung des
Marktanreizprogramms auf 350 Millionen Euro, ist Ge-
genstand dieses Beschlusses. Das ist ein großer Erfolg
für den Wärmemarkt,


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


insbesondere auch deshalb, weil von diesem Programm
Impulse für die Entwicklung neuer Technologien in die
Industrie und die Unternehmerschaft ausgehen. Über
dieses Programm betreiben wir Technologieförderung
hinsichtlich des Einsatzes erneuerbarer Heizungstechni-
ken.

Zweitens: das Ordnungsrecht. Es wurde vereinbart,
eine Pflicht zum Einsatz sowohl von solarer Strahlungs-
wärme als auch von sonstigen erneuerbaren Energien
einzuführen, damit in Zukunft bei Neubauten und grund-
legenden Sanierungen eine Verpflichtung zum Einsatz
erneuerbarer Energien besteht.

Ich sage: Das sind gute Ansätze. Ich sage aber auch:
Das ist nur ein Einstieg. Es müssen weitere Schritte fol-
gen; wir befinden uns noch am Anfang dieser Debatte
innerhalb der Koalition.






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Becker
Ich will kurz auch auf einige Risiken hinweisen.
Wenn man das Ordnungsrecht hier einführen will, muss
man ehrlicherweise auch auf die Vollzugsproblematik
hinweisen. Wir haben Probleme der Kontrolle, nachzu-
vollziehen, ob der ordnungsrechtliche Ansatz tatsächlich
eingehalten wird. Das muss man im Hinterkopf haben.
Gerade vor dem Hintergrund der doch sehr geringen
Neubau- und Modernisierungstätigkeit muss man
schauen, wie groß der Anteil sein kann, den dieses
Instrument zur Erreichung des 14-Prozent-Ziels beiträgt.
Ich denke aber, dass wir hier insgesamt einen richtigen
Einstieg gefunden haben.

Ich habe eine Bitte an das Ministerium. Wir haben er-
lebt, dass durch die recht starken Veränderungen bei den
Fördervoraussetzungen im bisherigen Marktanreizpro-
gramm eine gewisse Verunsicherung ausgelöst wurde.
Die Fördersätze wurden innerhalb eines Jahres verän-
dert. Das ist nicht unbedingt dazu geeignet, auf Dauer
Vertrauen im Markt zu wecken. Es ist wichtig, jetzt auf
Basis dieser Regelung verlässliche und über mehrere
Jahre geltende Fördervoraussetzungen festzulegen sowie
dieses Programm über die Öffentlichkeitsarbeit und die
entsprechende Fachschulung der Handwerker und derje-
nigen, die vor Ort Kontakt zum Bürger haben, anzuprei-
sen, zu bewerben und offensiv damit umzugehen.

Ich denke, wenn wir in dieser Form mit dem Pro-
gramm umgehen, dann können wir die gesteckten Ziele
erreichen. 14 Prozent bis 2020 ist ein hohes Ziel, aber es
ist erreichbar. Über das IKEP werden wir unseren Bei-
trag hierzu leisten.

Danke.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611809300

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1611809400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP

hält eine bessere Förderung erneuerbarer Energien bei
der Wärmegewinnung für überfällig. Wir haben unser
Interesse in den vergangenen Jahren vielleicht zu stark
auf den Strombereich fokussiert. Das Ergebnis ist eine
weiterhin bestehende sehr starke Abhängigkeit von Gas-
importen aus Russland; zudem gibt es hohe CO2-Emis-
sionen im Gebäudesektor. Neben der Energieeinsparung
müssen wir dem Einsatz erneuerbarer Energien im Ge-
bäudebereich endlich zum Durchbruch verhelfen – ich
denke, da sind wir uns einig –, sei es durch Biogas,
durch Erdwärme, durch Holzpelletheizungen oder durch
Solarthermie.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist ein zentraler Baustein sowohl für den Klima-
schutz als auch für die Versorgungssicherheit. Aber man
muss es auch richtig machen. Die Große Koalition
macht mit ihren Beschlüssen von Meseberg vor, wie es
nicht sein sollte. Ich fand es sehr schön, dass Herr
Becker in sehr großer Offenheit gesagt hat, dass keine
der Koalitionsfraktionen das Fördermodell, das der Um-
weltminister vorgelegt hat, eigentlich wollte.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Wir sind begeistert!)


Die Regierung setzt ganz klar auf Zwang, Bürokratie
und Subventionen, nicht aber auf Marktanreize. Das ist
ein staatsorientiertes Programm par excellence. Von ei-
nem sozialdemokratischen Umweltminister hätten wir
wahrscheinlich auch nicht viel anderes erwarten können.


(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist die Funktionstaste F3: Textbausteine für Ihre Rede!)


Dass die Union das mit ihrer Kanzlerin und vor allem
mit ihrem Wirtschaftsminister mitmacht, finde ich aller-
dings sehr traurig. Aber was soll man auch von einem
Wirtschaftsminister erwarten, dem jede ordnungspoliti-
sche Vorstellung darüber fehlt, wie man Klimaschutz
wirtschaftspolitisch vernünftig gestaltet, und der nichts
anderes tut, als zu bremsen und zu reparieren?


(Beifall bei der FDP)


Ich möchte noch einmal klarmachen, was die Große
Koalition künftig von den Hausbesitzern verlangt: Sie
sollen im Rahmen von Modernisierungen zur Nutzung
erneuerbarer Wärme verpflichtet werden, und zwar ein-
heitlich nach dem gleichen System, unabhängig davon,
wie hoch die Kosten für das jeweilige Gebäude sind.
Wenn es nach dem Umweltminister geht, kommen dra-
konische Strafen bei Nichterfüllung hinzu. Das ist nicht
effizient, das ist kein Markt, sondern Staatszwang mit ei-
ner massiven Kontrollbürokratie, und zwar in jedem ein-
zelnen Haus.


(Beifall bei der FDP)


Herr Glos hat dafür gesorgt, dass das System bei den
Verhandlungen in der Koalition noch einmal richtig
durchlöchert wird. Es sind Härtefall- und Ausnahmere-
gelungen dazugekommen, die die ohnehin schon nötige
Bürokratie noch einmal vervielfacht haben. Das ist der
Erfolg, den das Wirtschaftsministerium erreicht hat. Ich
frage mich, ob Sie mit all diesen Härtefall- und Ausnah-
meregelungen letztendlich den Beamten den Ermessens-
spielraum übertragen wollen. Das ist kein Weg für mehr
Rechtssicherheit, das wird zu sehr unterschiedlicher Ver-
waltungspraxis in den einzelnen Bundesländern führen.


(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Wo ist denn der Unterschied zur FDP-Lösung in Baden-Württemberg?)


Es ist völlig unklar, ob die gesamte Zwangsbürokratie
dazu führt, dass die notwendigen Umweltziele erreicht
werden. Deshalb traut die Große Koalition diesem Wär-
megesetz ja auch nicht wirklich. Denn zusätzlich zur
Zwangsbürokratie gibt es noch einen kräftigen Schluck
aus der „Subventionspulle“. Diese Koalition ist in dieser
Diskussion einmal angetreten, den Einsatz erneuerbarer
Wärme haushaltsneutral zu fördern. Davon ist jetzt über-
haupt nicht mehr die Rede. Stattdessen will man die Ver-






(A) (C)



(B) (D)


Michael Kauch
steigerungserlöse aus dem Emissionshandel nutzen, um
die Mittel der Förderprogramme massiv zu erhöhen.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Herr Kauch, wollen Sie jetzt gerade den Emissionshandel streichen?)


Fazit: Schwarz und Rot setzen mit den Meseberg-Be-
schlüssen auf Dirigismus, Bürokratie und Staatsknete.


(Beifall bei der FDP)


Langsam dämmert manchem in der Union, was man
da beschlossen hat. Heute hat der stellvertretende Frak-
tionsvorsitzende Friedrich in den Ruhr Nachrichten er-
klärt, man wolle die Gängelung von Hausbesitzern und
die Eingriffe ins Eigentum verhindern und ihnen ent-
schieden entgegentreten. Meine Damen und Herren von
der CDU/CSU, dann machen Sie das auch! Tun Sie nicht
nur in der Presse so, als würden Sie sich für weniger
Bürokratie für die Hauseigentümer einsetzen, sondern
stoppen Sie die Regierungspläne. Nicht die Details von
Minister Gabriels Entwurf, sondern das ganze Förder-
modell ist verfehlt.


(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Eigene Vorschläge!)


– Das ist eine sehr schöne Überleitung. Die FDP hat eine
Alternative für ein Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz
vorgelegt.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wie ist das in BadenWürttemberg?)


Dabei legt der Staat nicht für jeden Hausbesitzer fest,
wie groß der Anteil an erneuerbarer Wärme sein soll,
sondern nur für die gesamte Volkswirtschaft. Welcher
Hausbesitzer welchen Anteil mit welcher Technologie
erreicht, wollen wir dem Markt überlassen.

Um ein solches Gesetz möglichst unbürokratisch zu
gestalten, wollen wir es auf der obersten Handelsebene
ansetzen. Wer Heizöl und Erdgas in Verkehr bringt, soll
erneuerbare Wärme nachweisen müssen. Diese Nach-
weise können die Brennstoffhändler dann bei Biogasein-
speisern oder Hausbesitzern erwerben, die erneuerbare
Energien nutzen.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Und das ist dann völlig unbürokratisch?)


Das wäre für die Hausbesitzer ein echter Investitionsan-
reiz, und zwar ohne Zwang und Bürokratie in jedem ein-
zelnen Haus.


(Beifall bei der FDP)


Wir haben vor der Sommerpause ein solches Modell
in den Deutschen Bundestag eingebracht. Ich ermuntere
die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, diese
Vorlage zu nutzen.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Davon wird es auch nicht besser!)


Wir werden kein Modell zur Förderung erneuerbarer
Wärme hinbekommen, das nichts kostet. Aber wir kön-
nen zumindest zu einem Modell kommen, das mit mög-
lichst wenig Bürokratie und mit hoher Effizienz arbeitet.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist doch völlig bürokratisch!)


Sorgen Sie, meine Damen und Herren in der CDU/
CSU, endlich für ein Umsteuern in der Union und erin-
nern Sie sich, womit Sie nach der Bundestagswahl 2005
im Deutschen Bundestag angetreten sind!

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611809500

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1611809600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klimaschutz ist in
diesen Tagen eines der zentralen Themen der nationalen
und internationalen Politik. Die Häufigkeit der Debatten
zu diesem Thema in diesem Hause ist dafür ein beredtes
Zeichen.

Die Große Koalition hat sich von Anfang an den He-
rausforderungen des Klimawandels gestellt und schon
im Koalitionsvertrag vereinbart, „bis zum Jahr 2020 die
Energieproduktivität gegenüber 1990 zu verdoppeln“
und

die Marktpotenziale erneuerbarer Energien im Wär-
mebereich durch die Fortführung des Marktanreiz-
programms im bisherigen Umfang

– da sind wir Gott sei Dank schon ein ganzes Stück wei-
ter –

sowie durch weitere Instrumente, wie zum Beispiel
ein regeneratives Wärmenutzungsgesetz, besser zu
erschließen.

Unter dem Eindruck unter anderem der Studien des
IPCC haben der Europäische Rat im März und der G-8-
Gipfel in Heiligendamm im Juni – beide unter dem Vor-
sitz der Bundeskanzlerin – sehr ehrgeizige Ziele für die
Klimaschutzpolitik beschlossen. Unsere Aufgabe auf na-
tionaler Ebene ist es nun, weit über die Koalitionsverein-
barung hinaus diese Ziele in nationale Politik umzuset-
zen.

Das Bundeskabinett hat deshalb bei seiner Klausurta-
gung in Meseberg am 23. und 24. August Eckpunkte für
ein Energie- und Klimapaket beschlossen. Insgesamt
sollen damit Deutschlands CO2-Emissionen bis zum
Jahr 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 reduziert wer-
den.

Ein besonders hohes Klimaschutzpotenzial birgt der
Wärmesektor. Gerade dem Gebäudebereich, der zu zwei
Dritteln als wärmetechnisch sanierungsbedürftig gilt,
kommt dabei mit rund 35 Prozent des Energieverbrauchs
und fast 20 Prozent aller Kohlendioxidemissionen eine
zentrale Rolle zu.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Maria Flachsbarth
Aufgrund der in den letzten Jahren stetig steigenden
Kosten für fossile Energieträger amortisieren sich Inves-
titionen in bessere Dämmung, modernere Heizungstech-
nik und Umstellung auf erneuerbare Energien recht
schnell. Denn Wohnungseigentümer und Mieter sparen
laut Bundesbauministerium durch Gebäudesanierung
durchschnittlich etwa 86 Cent pro Quadratmeter pro
Monat. Das sind bei einer 80 Quadratmeter großen Woh-
nung etwa 60 Euro pro Monat, also über 700 Euro pro
Jahr.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wir
haben das bereits mehrfach diskutiert. Ich sage das, denn
eigentlich steht heute Ihr Antrag auf der Tagesordnung.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nicht „eigentlich“!)


Sie rennen mit Ihrem Antrag bei uns tatsächlich offene
Türen ein. Die Bundesregierung hat in Meseberg in Be-
zug auf Wärme beschlossen, den Anteil erneuerbarer
Energien auf 14 Prozent im Jahr 2020 zu erhöhen, die
Energieeinsparordnung in zwei Schritten um jeweils
30 Prozent in den Jahren 2008 und 2012 zu verschärfen,
den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromer-
zeugung bis zum Jahr 2020 auf 25 Prozent zu verdop-
peln und die Nah- und Fernwärmenetze auszubauen. Die
Eckpunkte, die dort beschlossen wurden, werden bis An-
fang April – also in einem sehr überschaubaren Zeitraum –
in Gesetze gegossen.

Wir haben als CDU/CSU-Fraktion ein integriertes
Wärmekonzept erarbeitet, das in das in dieser Woche
von unserer Fraktion verabschiedete Positionspapier „Si-
cher – sauber – sozial: Drei Dimensionen der Energiepo-
litik“ Eingang gefunden hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)


– Das haben wir gut gemacht; das finde ich auch.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aber die drei „S“ sind von der Deutschen Bahn geklaut!)


Auch in Bezug auf den Wärmebereich legen wir da-
bei besonderen Wert auf Sozialverträglichkeit und haben
das Ziel, Mietern, Eigentümern und den betroffenen
Branchen Planungs- und Investitionssicherheit zu geben.

Unser integriertes Wärmekonzept beinhaltet insbe-
sondere folgende Punkte:

Erstens wollen wir die Wärmeerzeugung aus erneuer-
baren Energien ausbauen. Wir schlagen dazu bei großen
Gebäuden, bei Neubauten und grundsätzlicher Sanie-
rung eine Pflicht zur anteiligen Nutzung vor, um eine hö-
here Marktdurchdringung als bisher zu erreichen. Zu den
erneuerbaren Energien zählen wir in diesem Zusammen-
hang insbesondere Solarthermie, oberflächliche und
tiefe Geothermie, feste Biomasse und Biogas. Die Mittel
für das Marktanreizprogramm – es ist tatsächlich ein
großer Erfolg, Herr Kauch – wollen wir verstetigen und
verrechtlichen. 1 Euro Förderung löst bis zu 10 Euro pri-
vate Investitionen aus. Von einem Förderungsdschungel
kann also keine Rede sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb begrüßen wir besonders, dass die Mittel für das
MAP im Haushaltsentwurf 2008 unter Hinzuziehung
von Erlösen aus dem Verkauf von Zertifikaten im Emis-
sionshandel auf 350 Millionen Euro aufgestockt werden.
Herr Kauch, wenn Sie meinen, dass das MAP überflüs-
sig ist, dann müssen Sie das hier auch sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Als zweiten Punkt wollen wir die Effizienz der fossi-
len Wärmeerzeugung und Wärmeverteilung verbessern;
denn trotz der Verdoppelung des Einsatzes erneuerbarer
Energien auf dem Wärmesektor bis 2020 werden auch
dann mehr als 85 Prozent der Wärme aus fossilen Pri-
märenergieträgern gewonnen werden müssen. Natürlich
müssen wir auch hier technologische Weiterentwicklun-
gen und höhere Effizienzen erreichen.

Drittens wollen wir die Wärme in Häusern und Woh-
nungen besser halten. Deshalb begrüßen wir die erhebli-
che Aufstockung der Mittel für das CO2-Gebäudesanie-
rungsprogramm auf insgesamt 5,6 Milliarden Euro im
Zeitraum von 2006 bis 2009.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Viertens. Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammen-
hang ist und bleibt das Investor-Nutzer-Dilemma in
Mietverhältnissen. Aufgrund der Vorgaben im Mietrecht
können Vermieter die notwendigen Investitionen einer
Sanierungsmaßnahme nur sehr begrenzt auf die Mieter
umlegen. Den Profit einer Sanierungsmaßnahme haben
aber die Mieter durch die sinkenden Nebenkosten. Hier
muss eine bessere Regelung her, weil es einen Sanie-
rungsstau gibt. Ohne Zweifel ist es für den Mieter güns-
tiger, die Investitionen in eine Wärmesanierung mitzufi-
nanzieren, um danach davon zu profitieren, als aufgrund
ständig steigender Kosten jedes Jahr höhere Heizungs-
rechnungen bezahlen zu müssen. Einen Sanierungs-
zwang, über den in letzter Zeit diskutiert wurde, lehnen
wir allerdings strikt ab.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Fünftens. Da, wo die Nachfrage nach Wärme und die
Nachfrage nach Strom räumlich zusammenfallen, ist und
bleibt die Kraft-Wärme-Kopplung die effizienteste
Technologie zur Umwandlung von Primärenergie. Des-
halb unterstützen wir das Meseberg-Ziel, den KWK-
Stromanteil bis 2020 zu verdoppeln. Bei einer Decke-
lung der Umlage auf 750 Millionen Euro pro Jahr sollen
ausschließlich der Neubau und die Modernisierung von
Anlagen, die bei Inbetriebnahme das Hocheffizienzkrite-
rium der KWK-Richtlinie erfüllen, gefördert werden. Es
ist unserer Meinung nach zu prüfen, ob es sinnvoll ist,
den Betreibern großer Anlagen anstelle einer KWK-För-
derung eine CO2-Gutschrift für vermiedenen Heizener-
gieeinsatz zuzuweisen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir streben zudem höhere Anschlussquoten bei Fern-
und Nahwärmenetzen an und wollen prüfen, wie bessere






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Maria Flachsbarth
Anreize für Bau bzw. Ausbau von Wärmeversorgungs-
netzen gesetzt werden können. Ohne das sind die KWK-
Ziele nicht zu erreichen. Dabei muss allerdings die na-
türliche Konkurrenz zwischen Gas- und Wärmenetzin-
frastruktur entsprechend den individuellen örtlichen Ge-
gebenheiten entschieden werden.

Sechstens. Klimaschutz wollen wir mit verbesserten
Rahmenbedingungen für Energie-Contracting erreichen.
Es bietet eine Win-win-Situation, wenn klimaschädliche
Emissionen, der Energieverbrauch sowie die Energie-
kosten von Bestandsgebäuden mit marktwirtschaftlichen
Instrumenten kurzfristig deutlich gesenkt werden kön-
nen. Wir wollen dieses Potenzial durch ein Energie-Con-
tracting-Beschleunigungsgesetz schnellstmöglich erschlie-
ßen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
sehen, dass die Koalitionsfraktionen und die Bundesre-
gierung im Wärmebereich längst das umsetzen, was Sie
in Ihrem Antrag zu Recht fordern. Die Bundesregierung
wird die Eckpunkte von Meseberg bis Anfang Dezember
2007 in Gesetze gegossen haben. Dazu wird unter ande-
rem ein Wärmegesetz gehören. Wir, die CDU/CSU-
Fraktion, werden es an den Eckpunkten messen, die ich
Ihnen vorgestellt habe, und dabei Wert darauf legen,
dass es möglichst technikoffene Vorgaben gibt. Wir wol-
len Ziele festsetzen, aber keine Wege vorschreiben.
Wichtig für uns ist eine möglichst kosten- und energieef-
fiziente CO2-Ersparnis.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


Ihr Antrag hat sich damit erledigt. Ich lade Sie ein, mit
auf unseren Weg zu kommen. Wir antworten pragma-
tisch mit einem integrierten Wärmekonzept auf den Kli-
mawandel und setzen einen umfassenden Instrumenten-
mix ein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611809700

Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Hans-Kurt Hill (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611809800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir Klimaschutz sozial gerecht gestalten wollen,
brauchen wir insbesondere im Wärmesektor das Ord-
nungsrecht. Herr Kollege Kauch, ich glaube, nachdem
ich Ihren Beitrag dazu gehört habe, dass das bei der FDP
noch nicht angekommen ist.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Es ist die Frage, wie man das definiert!)


Außerdem gilt: Bester Garant für bezahlbare Energie ist
der konsequente Ausbau der erneuerbaren Energien.
Wirksamer Klimaschutz ist nur mit klaren Vorgaben zu
erreichen; denn bei Selbstverpflichtungen – das kennen
wir insbesondere aus der Industrie – passiert erst einmal
gar nichts. Förderprogramme erreichen die Bürgerinnen
und Bürger mit geringem Einkommen erst gar nicht. Der
Wärmebereich ist dafür ein gutes Beispiel: Bei rasant
steigenden Heizkosten machen sich Sonnenkollektoren
schnell bezahlt. Das Marktanreizprogramm für Solar-
wärme fördert aber bisher zu fast 100 Prozent nur Häus-
lebauer, was natürlich auch gut ist. Mieter profitieren
kaum; denn die Wohnungswirtschaft sieht keinen An-
lass, die Heizkosten der Mieter zu senken. Daran ändert
übrigens auch der weichgespülte Energiepass nichts, den
sich die Bundesregierung abgerungen hat. Der Punkt ist:
Geringverdiener und Hartz-IV-Empfänger sind in der
Regel Mieter in schlecht sanierten Wohnungen.

Umso mehr begrüßen wir, dass die Grünen mit ihrem
Antrag und nun auch die Bundesregierung der Links-
fraktion folgen und konsequent auf einen ordnungsrecht-
lichen Rahmen setzen. Der mittlerweile vorliegende Re-
ferentenentwurf der Bundesregierung zum Erneuerbare-
Energien-Wärmegesetz ist also ein Schritt in die richtige
Richtung. Allerdings zeigt uns die Erfahrung, dass es bei
dieser Großen Koalition noch ein weiter Weg bis zu ei-
nem Gesetz ist. Ich habe mit Aufmerksamkeit vernom-
men, dass wir damit noch bis zum Dezember warten
müssen. Ich hoffe, wir müssen nicht noch länger warten.

Deshalb an dieser Stelle einige Eckpfeiler, an denen
ein glaubwürdiges Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz
festzumachen ist: Erstens. Es müssen alle Gebäude in
die Pflicht genommen werden, und zwar ohne Aus-
nahme. Das gilt vor allem für die Wohnungswirtschaft.
Zweitens. Der Mindestanteil erneuerbarer Energien
muss einen deutlichen Klimaschutzbeitrag leisten. Drit-
tens. Erneuerbare Wärmeenergien haben Vorrang vor
Wärmedämmung.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Warum?)


Wenn sie den nicht haben, dann müssen die Ersatzmaßnah-
men hohe Anforderungen wie den Passivhausstandard er-
füllen. Viertens. Bei erneuerbaren Energien eingesetzte
Techniken müssen ein echtes CO2-Minderungspotenzial
haben und auch dementsprechend angerechnet werden.
Fünftens. Auch Nah- und Fernwärmenetze sollen nach
dem Anteil eingespeister erneuerbarer Energien bewertet
werden.

Auch wenn wir nicht mit allen Inhalten des Grünen-
Antrags übereinstimmen, so ist er doch ein Faustpfand;
denn beim EEG-Entwurf der Bundesregierung kommt,
wie wir das in der Vergangenheit schon oft erlebt haben,
jetzt erst einmal der Weichspülgang. Mal sehen, was da-
von übrig bleibt. Deswegen werden wir Linke dem An-
trag der Grünen in diesem Fall zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611809900

Das Wort hat der Bundesminister Sigmar Gabriel.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-
desrepublik Deutschland hat sich im Rahmen der euro-
päischen Beschlüsse zur Klima- und Energiepolitik ver-
pflichtet, bis zum Jahr 2020 einen Anteil von 20 Prozent
erneuerbarer Energien in Europa durchzusetzen. Um die-
ses europäische Ziel zu erreichen, hat die Bundesregie-
rung in Meseberg beschlossen, erstens den Anteil der
erneuerbaren Energien am Strommarkt auf 25 bis 30 Pro-
zent zu erhöhen – bislang war das Ziel lediglich
20 Prozent –, zweitens den Anteil der Biokraftstoffe bis
2020 auf 20 Volumenprozent anzuheben – das bedeutet
17 Prozent am Energiegehalt; bisher gab es nur eine
Zielsetzung von 5,75 Prozent bis 2010 – und drittens –
darum geht es heute – den Anteil erneuerbarer Energien
am Wärmemarkt auf 14 Prozent bis 2020 zu steigern;
bislang liegt dieser Anteil bei 6 Prozent.

Das Erreichen dieser nationalen Ziele ist die Voraus-
setzung, um die internationalen Ziele der Europäischen
Union erreichen zu können. Für den Strommarkt berei-
ten wir die Novelle des EEG vor, die das Bundeskabinett
noch in diesem Jahr verabschieden wird, für die Ziele
der Biokraftstoffe haben wir das Biokraftstoffquotenge-
setz, und um die Ziele am Wärmemarkt zu erreichen,
will das Bundeskabinett am 5. Dezember den Entwurf
eines Wärmegesetzes für erneuerbare Energien verab-
schieden und dem Parlament zuleiten. Derzeit befinden
wir uns in der Ressortabstimmung.

Kernpunkte des Gesetzes sind erstens das Regelwerk
des Ordnungsrechts und zweitens die Förderung. Herr
Kauch, eine andere Möglichkeit, Politik zu machen, als
durch eine Mischung aus Ordnungsrecht und Förderung
kenne ich nicht. Ihr Vorschlag ist auch Ordnungsrecht.
Sie regen an, den Mineralölkonzernen vorzuschreiben,
einen Anteil von Bioöl oder Bioenergie einzusetzen. Das
ist auch Ordnungsrecht; das ist auch Bürokratie; das ist
auch Gesetzgebung.


(Michael Kauch [FDP]: Ja, aber nicht für die ganze Bevölkerung!)


– Das Problem ist nur: Der Vorschlag ist nicht durch-
dacht. Wenn Sie ihn umsetzen, müssen Sie entweder zu-
lassen, dass massiv Biomasse aus anderen Ländern hier-
herkommt – im Zweifel aus Palmöl oder Sojaöl, für die
die Regenwälder abgeholzt wurden –, oder Sie müssen
zulassen, dass es in Deutschland zu einer weiteren Ver-
schärfung der Nutzungskonkurrenzen kommt. Denn wir
haben nicht genug Anbaufläche für Biomasse zur Strom-
erzeugung, zur Kraftstofferzeugung und zur reinen Ver-
brennung zur Wärmeerzeugung. Sie werden also eine
massive Nutzungskonkurrenz herbeiführen, und Sie
müssen irgendwann entscheiden, was die effizienteste
Form der Biomassenutzung ist, wenn Sie nur eine be-
grenzte Anbaufläche zur Verfügung haben.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611810000

Herr Minister Gabriel, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Kauch?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:

Wenn ich den Satz zu Ende gesprochen habe, gerne,
Herr Präsident. – Die effizienteste Form der Biomasse-
nutzung ist eben nicht, Biomasse einfach zu verbrennen
– das schlagen Sie vor –, sondern Kraft-Wärme-Kopp-
lung damit zu betreiben oder Kraftstoffe daraus zu ma-
chen, insbesondere Biogas zu nutzen, und bei der Strom-
erzeugung die Grundlastfähigkeit der regenerativen
Energien zu erreichen. Sie wollen, dass ein Riesenanteil
schlicht und ergreifend verbrannt wird. Das ist ineffizi-
ent; das führt zu Konkurrenzen mit Nahrungsmitteln; so
viele Flächen haben Sie nicht. Deshalb ist der Vorschlag
undurchdacht, Herr Kauch. Das ist alles, was man dazu
sagen kann.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Der ist ideologisch pur, der Vorschlag! Das ist wichtiger!)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1611810100

Herr Minister, erlauben Sie mir den Hinweis, dass Ih-

nen Ihre Referenten unseren Antrag möglicherweise
falsch zusammengefasst haben. Vielleicht habe ich ihn
auch nicht richtig vorgetragen. Ich möchte Sie darauf
hinweisen – gerade habe ich versucht, das deutlich zu
machen –, es geht uns nicht darum, dass die Brennstoff-
händler beispielsweise eine Quote Biogas oder Bioheiz-
stoffe aus Biomasse dort einspeisen müssen. Vielmehr
wollen wir Nachweise handeln. Das heißt, wenn jemand
etwa eine Solarthermieanlage auf einem Haus betreibt,
kann er sich das zertifizieren lassen und mit diesen
Nachweis handeln, Stichwort: Zertifikatehandel, wie Sie
das von der FDP kennen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Ganz unbürokratisch!)


Es geht uns darum, dass es Biomasse sein kann, aber
auch Erdwärme oder Solarthermie. Deshalb wäre es
schlimm, wenn wir das, was Sie beschreiben, vorschla-
gen würden. Das tun wir aber nicht.

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:

Herr Kollege Kauch, es mag sein, dass Sie Ihren An-
trag in Ihrer Rede verkürzt vorgestellt haben. Sie haben
aber gesagt, dass Sie auf einen bestimmten Anteil von
Biomasse setzen wollen. Ich habe gerade bei Ihrem Vor-
trag im Rahmen Ihrer Zwischenfrage überlegt, welche
Bürokratie Ihr Vorschlag auslösen würde.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist ja unglaublich. Ich bin doch dafür, es so zu
machen, wie wir es derzeit diskutieren, nämlich erstens
eine Nutzungspflicht für erneuerbare Energien bei der
Wärmeerzeugung in Neubauten und bei grundlegenden
Sanierungen in Altbauten – nur dann, wenn es wirt-
schaftlich zumutbar ist; anders wäre es rechtlich nicht
darstellbar – und zweitens eine Wahlfreiheit zwischen
den unterschiedlichen Formen der Nutzung erneuerbarer
Energien, ausgenommen das schlichte Verbrennen. Da-
für habe ich eben die Gründe genannt.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Sigmar Gabriel
Wahlfreiheit gibt es auch bei Erfüllung der Vorschriften
zur Energieeinsparung in der Energieeinsparverordnung
durch Wärmedämmung oder der Nutzung erneuerbarer
Energien. Dazu ist es allerdings notwendig, eine enge Ver-
zahnung des Wärmegesetzes für erneuerbare Energien mit
der Energieeinsparverordnung herzustellen.

Die Energieeffizienz bei Neubauten und bei der grund-
legenden Sanierung in Altbauten soll nach Willen der
Bundesregierung in dieser Verordnung um 30 Prozent an-
gehoben werden. Wer erneuerbare Energien nutzt, muss
seine Energieeffizienz dann nur um 15 Prozent steigern.
Wer allerdings keine erneuerbaren Energien nutzt, der
muss die Energieeffizienz gegenüber dem heutigen Ni-
veau um 45 Prozent steigern.

Wenn öffentlich gesagt wird, es gebe keine Wahlfrei-
heit, dann ist das schlicht falsch. Wenn wir allerdings die
völlige Freiheit der Wahl zwischen Energieeffizienzstei-
gerung durch Wärmedämmung und erneuerbaren Ener-
gien schaffen und somit keine Verzahnung herstellen
würden, dann würden wir die europäischen und auch die
nationalen Ziele beim Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien im Wärmebereich nicht erreichen.

Viel wichtiger ist: Würden wir darauf verzichten, das
vorzuschreiben, würden wir dazu beitragen, dass wir den
Erfolgskurs der Schaffung neuer Arbeitsplätze auf dem
Strommarkt im Bereich des Wärmemarktes nicht fortset-
zen können. Herr Kauch, das ist übrigens mein größter
Vorwurf gegenüber Ihrem Programm. Schon heute gibt
es auf diesem Gebiet 235 000 neue Arbeitsplätze – profi-
tiert hat davon insbesondere der Strommarkt – dank ge-
sicherter Rahmenbedingungen für Industrie und Hand-
werk. Durch die Umsetzung Ihrer Vorschläge würden
keine gesicherten Rahmenbedingungen für Industrie und
Handwerk geschaffen. Würden wir Ihren Vorschlägen
folgen, Herr Kauch, würde das dazu führen, dass wir auf
die Chance, auf dem Wärmemarkt zusätzlich 200 000
neue Jobs zu schaffen, verzichten.


(Beifall bei der SPD)


Das ist es, was uns dazu bewegt, nicht mitzumachen.

Wir sehen darüber hinaus eine verlässliche Förderung
der Investitionen zur Umsetzung der Gesamtmaßnahmen
nach dem Wärmegesetz vor, wenn der Eigentümer seine
Nutzungspflicht freiwillig übererfüllt. Dies wird in der
Regel natürlich schon dann der Fall sein, wenn er bei-
spielsweise eine Wärmepumpe nutzt; schließlich wird er
nicht 15 Prozent seiner Heizungsanlage austauschen,
sondern 100 Prozent. Dafür müssen die entsprechenden
Mittel zur Verfügung stehen.

Herr Kauch, Ihre Argumentation ist problematisch:
Hier fordern Sie öffentlich, erneuerbare Energien stärker
zu fördern. Im Haushaltsausschuss treten Sie allerdings
dafür ein, die Mittel der Auktionierung zur Senkung der
Stromsteuer zur Verfügung zu stellen. Das heißt, Sie se-
hen gar keine Möglichkeit vor, Markteinführung zu be-
treiben. Die Finanzierung des Markteinführungsinstru-
ments, dessen Richtigkeit Sie gelegentlich öffentlich
feststellen, soll durch die Mittelkürzungen, die Ihre
Fraktionskollegen im Haushaltsausschuss vorschlagen,
zusammengestrichen werden. Das eigentlich Problema-
tische an Ihren Vorschlägen ist, dass Sie sich als Um-
weltpolitiker gegen die Finanz- und Ordnungspolitiker
Ihrer Fraktion in der Regel nicht durchsetzen können.


(Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das soll bei der Großen Koalition gelegentlich auch vorkommen!)


Übrigens sind die 350 Millionen Euro aus der Auktio-
nierung eine Erhöhung um fast 200 Prozent gegenüber
der 2005 im Marktanreizprogramm bewilligten Größen-
ordnung der Mittel. Das ist eine deutliche Aufstockung.

Entscheidend wird allerdings nicht sein, was wir ins
Gesetz schreiben, sondern das, was am Ende umgesetzt
wird. Da haben wir erhebliche Probleme – das sollten
wir zugeben –, weil wir in den Ländern und in den Kom-
munen ein Vollzugsdefizit haben. Übrigens liefert auch
der Bund Beispiele dafür, dass er bei grundlegenden Sa-
nierungen nicht einmal die geltende Energieeinsparver-
ordnung beachtet, weil niemand mehr ihre Einhaltung
kontrolliert.

Wir werden deshalb überlegen müssen, wie wir die
Einhaltung der wichtigen gesetzgeberischen Vorgaben
für den Klimaschutz und eine größere Versorgungsunab-
hängigkeit gewährleisten können. Manche unserer auf
Entbürokratisierung ausgerichteten Maßnahmen der Ver-
gangenheit haben im Ergebnis dazu geführt, dass keiner
mehr kontrolliert, ob die gesetzgeberischen Vorgaben
eingehalten werden. Das ist eines der Probleme, vor de-
nen wir stehen.

Wir werden wahrscheinlich auch darüber nachdenken
müssen, wie wir beispielsweise durch eine stärkere Ein-
beziehung des Schornsteinfegerhandwerks Beratung und
Durchsetzung der entsprechenden gesetzgeberischen
Verordnungen in der Praxis umsetzen können. Hier sehe
ich das größte Defizit. Gespräche mit Handwerksmeis-
tern zeigen: Wenn das, was wir ins Gesetz schreiben – es
kann alles Mögliche sein –, nicht durchgeführt wird,
dann haben wir mit Zitronen gehandelt. Deswegen soll-
ten wir in den Beratungen viel Augenmerk darauf legen,
wie wir etwas zustande bringen wollen.

Was die grundlegenden Sanierungen angeht: Wenn
wir den „Kesselaustausch“ nicht allein betrachten könn-
ten, wenn vielmehr immer erst umfangreiche weitere
Baumaßnahmen hinzukommen müssen, dann würden
wir unsere Vorgaben nicht einhalten. Der Teufel steckt
also auch bei diesem Thema im Detail. Wir verfolgen
mit der Verabschiedung des Wärmegesetzes drei Zielset-
zungen: Klimaschutz, mehr Unabhängigkeit von Ener-
gieimporten, insbesondere hinsichtlich Gas, und die
Schaffung von bis zu 200 000 neuen Arbeitsplätzen
durch die Fortsetzung der Erfolgsgeschichte im Bereich
der erneuerbaren Energien. Ich hoffe, dass wir in den
Beratungen dieses Gesetzentwurfs vor allen Dingen die
praktischen Probleme werden lösen können.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611810200

Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Göppel von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Josef Göppel (CSU):
Rede ID: ID1611810300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

wollen bei diesem Thema, dem Wärmegesetz, jetzt
Tempo machen. Ich höre nun vom Minister Gabriel, dass
der Entwurf noch in der Ressortabstimmung ist. Wenn
man da genauer hinschaut, merkt man: Da gibt es einen
Konflikt zwischen den Wohnungspolitikern und den
Bauleuten, vor allem denen im Verkehrsministerium.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das Wirtschaftsministerium ist auch dabei! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seien Sie mal ganz ehrlich! Sie sind doch sonst so ehrlich! Das Problem heißt Glos!)


– Das ist auch dabei, Kollege Kelber. Es gibt sogar
Leute, die heute in der Presse sagen, dass sie den Ent-
wurf ablehnen, obwohl er noch gar nicht da ist. Wenn je-
mand Presseerklärungen abgibt, ohne mit den Leuten der
zuständigen Arbeitsgruppe zu reden, nehmen wir das
nicht besonders ernst.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen bei diesem Gesetz Tempo machen, weil es
für das Handwerk und für den Klimaschutz viel bringt.
Der Entwurf, so wie er jetzt vorgesehen ist, nimmt auch
Rücksicht auf die sozialen Belange. Uns als Unionsfrak-
tion ist wichtig, Akzeptanz für den Klimaschutz dadurch
zu erreichen, dass wir die soziale Situation der Men-
schen, zum Beispiel älterer Hauseigentümer, berücksich-
tigen.

Deswegen ist der Punkt „Abstimmung des Verhältnis-
ses zwischen Mietern und Vermietern“, den meine Kol-
legin Flachsbarth angesprochen hat, so wichtig. Dafür
gibt es in der Praxis Lösungen. Wir als Bundestag kom-
men nicht darum herum, die rechtlichen Voraussetzun-
gen dafür zu schaffen, dass die Investitionskosten der
Hauseigentümer sich auf die Miete umlegen lassen. Ich
denke, das Gerechteste wäre, den Umlegungszeitraum
an den Zeitraum zu binden, in dem sich die Investitions-
kosten amortisieren. Das ist ein Prinzip, das klar und
durchsichtig ist und das für Vermieter und Mieter Ge-
rechtigkeit schafft.

Die Punkte, die uns als Unionsfraktion wichtig sind
– ich nenne sie noch einmal –, sind bestimmte Pflichten
für Neubauten und die verstetigte Förderung. Ich möchte
mich an dieser Stelle bei unserem Koalitionspartner be-
danken, dass er vom Umlageverfahren abgegangen ist,
weil es auf diese Weise möglich war, die Zustimmung
der gesamten Unionsfraktion zu erreichen.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])


Das ist jetzt, denke ich, eine ausgewogene Lösung.

Die Vorschläge, die Sie, Kollege Kauch, gemacht ha-
ben, sind generell mehrfach auch für den Emissionshan-
del unterbreitet worden. Ich will nicht in Abrede stellen,
dass man sich vorstellen kann, den gesamten Emissions-
handel am Import fossiler Stoffe sozusagen aufzuhän-
gen. Nur, da gibt es die Unwucht – wir beide haben es
schon mehrfach diskutiert – zwischen Heizungsenergie
und Mobilitätsenergie. An diesem Problem scheitert die
Umstellung in der konkreten politischen Praxis.

Ich denke, die Argumente für unseren Weg beim
Wärmegesetz, die Minister Gabriel hier vorgetragen hat,
sind zugkräftig, wenn wir es schaffen, die verstetigte
Förderung ins Gesetz zu bringen.

So wie wir im KWK-Gesetz eine Summe von
750 Millionen Euro pro Jahr festgelegt haben, so müssen
in diesem Gesetz 350 Millionen Euro stehen, damit der
Markt sich darauf einstellen kann und wir von dem Rauf
und Runter wegkommen; Kollege Becker, das haben Sie
richtig gesagt. Es braucht Stetigkeit in der Förderung des
Marktanreizprogramms, damit die zusätzlichen 200 000
Arbeitsplätze wirklich kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn ich in meinem Wahlkreis herumfrage, sagen
alle Handwerker: Das ist Auftragsvolumen für das örtli-
che Handwerk. Das können nicht internationale Baulö-
wen erledigen. Das ist Auftragssumme und Wertschöp-
fung für das örtliche Handwerk. Deswegen liegen wir
mit diesem Konzept richtig: eine ordnungspolitische
Vorgabe für die Neubauten und eine verstetigte Förde-
rung.

Ich möchte allerdings einen Punkt aus Ihrer Rede,
Herr Kollege Gabriel, noch aufgreifen, nämlich die
Frage des Einsatzes von Biogasen und Pflanzenöl bei
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Ich bin sehr dafür,
dass wir deutliche finanzielle Anreize zum Einsatz klei-
ner Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen in diesem Gesetz
verankern, aber ich würde es im Hinblick auf ländliche
Räume nicht völlig ausschließen wollen, dass auch ein-
mal unmittelbar Gas aus der Biogasanlage oder örtlich
erzeugtes Pflanzenöl zum Heizen verwendet wird. Ich
würde mir da eine kleine Öffnungsklausel wünschen.
Wir müssen das Gesetz so anlegen, dass die Akzeptanz
tatsächlich in allen Regionen und unter allen Lebensum-
ständen gegeben ist. Wir werden mit diesem Gesetz Er-
folg haben, damit den Klimaschutz in Deutschland vo-
ranbringen und neue Arbeitsplätze schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611810400

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

der Kollege Hans-Josef Fell von Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611810500

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Seit fast zwei Jahren wartet Deutschland auf
ein Wärmegesetz für erneuerbare Energien. Trotz groß-
spuriger Ankündigungen im Koalitionsvertrag hat die
Große Koalition bis heute kein Wärmegesetz zuwege ge-
bracht. Das ist typisch für den Regierungsstil von Frau

(D)







(A) (C)



(B) (D)


Hans-Josef Fell
Merkel und Umweltminister Gabriel im Klimaschutzbe-
reich: viel Rhetorik, aber Versagen beim Handeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD)


Auch die heutigen Ankündigungen von Frau Flachsbarth
und Herrn Becker, zum Frühjahr 2008 endlich ein Wär-
megesetz aufzulegen, sind nicht glaubhaft; denn im
Handelsblatt von heute sind Ausführungen von Frau
Reiche zu lesen, in denen sie all das wieder infrage stellt,
was Sie beschlossen haben.

Dabei geben die Branchenzahlen eine eindeutige Ant-
wort auf Ihr Nichtstun. Der Binnenmarkt für Sonnenkol-
lektoren ist in Deutschland im ersten Halbjahr 2007 um
35 Prozent eingebrochen, der für Biogas- und Holzpel-
letsanlagen sogar um 50 Prozent. Die Nutzung der Tie-
fenerdwärme kommt weiterhin nur schleppend in Gang.
Angesichts dieser Probleme können wir nicht bis zum
nächsten Frühjahr warten; denn die Wärmeerzeugung
verursacht etwa 25 Prozent aller CO2-Emissionen in
Deutschland. Gleichzeitig wissen viele Bürgerinnen und
viele Bürger nicht mehr, wie sie die steigenden Preise für
konventionelle Energie bezahlen sollen. Der Weltölpreis
bewegt sich seit kurzem auf Rekordniveau; er schwankt
um 80 Dollar pro Barrel. Die abzusehende Verknappung
bei Erdöl und Erdgas wird die Preise weiter nach oben
treiben.

Erneuerbare Energien und Energieeinsparmaßnahmen
sind die Antwort auf steigende Energiepreise, auf Kli-
mazerstörung und Verknappung sowie auf die zuneh-
menden politischen Risiken bei der Versorgung mit
Erdöl und Erdgas. Doch die Große Koalition tut, abgese-
hen von Ankündigungen, nichts, um den Einbruch im
Markt für erneuerbare Wärmeenergien zu verhindern.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


Sie nimmt offensichtlich sogar billigend Konkurse von
Produzenten in Kauf. Gleichzeitig rühmen Sie sich,
mehr Haushaltsmittel im Bereich der Energieeinsparung
für das von Rot-Grün initiierte Gebäudesanierungspro-
gramm bereitgestellt zu haben. Doch Sie haben gleich-
zeitig die Förderbedingungen so verschlechtert, dass es
auch hier einen unglaublichen Markteinbruch gegeben
hat: Die Nachfrage nach Altbausanierungsmitteln ist
nämlich um 65 Prozent im ersten Halbjahr 2007 zurück-
gegangen.

Nein, meine Damen und Herren, aktive und verant-
wortungsvolle Klimaschutzpolitik sieht anders aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt bei Ihnen eine himmelschreiende Diskrepanz
zwischen Worten und Taten. Ich frage mich, warum er-
höht die Öffentlichkeit nicht den Druck, damit den Kli-
maschutzworten der Bundesregierung endlich auch Kli-
maschutztaten folgen.


(Dirk Becker [SPD]: Weil sie es anders sieht als Sie!)


In Meseberg hat die Große Koalition erneut beschlos-
sen, ein Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz einzubrin-
gen. Da müssen Sie sich doch fragen lassen, warum Sie
dort Beschlüsse über Sachverhalte fassen, die Sie bereits
vor zwei Jahren im Koalitionsvertrag festgeschrieben
haben, aber noch nicht umgesetzt haben.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Weil man nicht alles in zwei Jahren abarbeiten kann!)


Es ist allerdings interessant, dass Sie mit dem ordnungs-
rechtlichen Ansatz wichtige Grundsätze für ein Erneuer-
bare-Energien-Wärmegesetz im Meseberger Beschluss
genauso gefasst haben, wie wir Grünen in dem Antrag,
der der heutigen Debatte zugrunde liegt.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Sage ich doch: Wir sind viel weiter, als Sie glauben!)


Sie wollen Bauherren verpflichten, bei allen Neubau-
ten und Altbausanierungen einen festgelegten Anteil für
erneuerbare Energien zu verwenden. Richtig so! Wir ha-
ben das längst vorgeschlagen. Aber warum lehnen Sie
dann unseren Antrag ab? Im Umweltausschuss konnten
Sie keinen einzigen stichhaltigen Grund für Ihre Ableh-
nung nennen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das hat noch nie gestört!)


Aber bei genauerem Hinsehen wird mir das klar: Sie ha-
ben eine so große Menge von Ausnahmetatbeständen
formuliert, dass Ihr Vorschlag für ein Erneuerbare-Ener-
gien-Wärmegesetz nach Ihren Vorstellungen ohne nen-
nenswerte Wirkung bleiben würde.


(Dirk Becker [SPD]: Das steht in Ihrem Antrag auch drin!)


Die heutigen Einwände von Frau Reiche sollen offenbar
alle wirksamen Maßnahmen für erneuerbare Energien
endgültig verhindern.

Der Vorschlag des Ministers strotzt doch nur so von
Ausnahmen von der Baupflicht, sodass die Umsetzung
von vornherein ausgehöhlt wird. So werden Sie ein Er-
neuerbare-Energien-Wärmegesetz gestalten, wie Sie
auch das Marktanreizprogramm bisher gestaltet haben,
nämlich fast wirkungslos mit Produktionsrückgängen
und ohne verlässliche Rahmenbedingungen für eine
Branche, die eigentlich wachsen will und wachsen muss.
Mit häufigen Haushaltsstopps, laufend veränderten För-
derbedingungen und zu geringen Haushaltsmitteln im
Marktanreizprogramm haben Sie den Ausbau der Bran-
che richtiggehend verhindert. So werden Sie Ihre Klima-
schutzziele nicht erreichen. Mit einem Ziel von
14 Prozent Anteil erneuerbarer Energien an der Wärme-
versorgung bis 2020, Herr Gabriel, liegen Sie weit unter
den Möglichkeiten. Wir Grünen haben in unserem
Energiekonzept 2.0 nachgewiesen, dass das Doppelte
möglich ist.

Herr Bundesminister Gabriel, wir haben die Nase voll
von Ihren schönen Worten und vollmundigen Reden für
erneuerbare Energien.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Statt für die Kohle zu kämpfen, ist es Zeit, zu erneuerba-
ren Taten zu schreiten. Bevor Sie als Verantwortlicher






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Josef Fell
für viele Konkurse in der Branche der erneuerbaren
Energien in die Geschichte eingehen werden,


(Dirk Becker [SPD]: Meine Güte!)


rate ich Ihnen, endlich Hand anzulegen. Die Einbrüche
in der Branche der erneuerbaren Energien im Jahre 2007
sprechen doch für sich. Nehmen Sie sie ernst; ansonsten
setzen Sie Hunderttausende Arbeitsplätze aufs Spiel,
statt 200 000 neue zu schaffen, wie wir das eigentlich
gemeinsam wünschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611810600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Einführung eines Erneuerbare Energien Wär-
megesetzes – EEW“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5361, den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/3826 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD

Regierungskonferenz zur Änderung der ver-
traglichen Grundlagen der Europäischen
Union und Unterrichtung der Bundesregie-
rung entsprechend Ziffer VI der Vereinba-
rung zwischen Deutschem Bundestag und
der Bundesregierung über die Zusammenar-
beit in Angelegenheiten der Europäischen
Union

– zu dem Antrag der Abgeordneten Markus

(Heilbronn)

der FDP

EU-Regierungskonferenz schnell zum Erfolg
führen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

EU-Regierungskonferenz – Für eine hand-
lungsfähige und demokratische EU

– Drucksachen 16/6399, 16/5882, 16/5888,
16/6632 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth (Heringen)

Markus Löning
Alexander Ulrich
Rainder Steenblock

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im vergangenen Jahr hatte ich für die Botschaf-
terkonferenz Jean-Claude Juncker zum Thema „Europäi-
sche Verfassung“ eingeladen. Ich erinnere mich noch
sehr genau, was er gesagt hat, nämlich dass das Problem
mit der europäischen Verfassung sei, dass sie für 50 Pro-
zent der Europäer zu viel Europa enthält und für die
anderen 50 Prozent zu wenig Europa. Ich glaube, tref-
fender konnte man das Dilemma, in dem wir im vergan-
genen Jahr waren, nicht beschreiben.

Noch besser erinnere ich mich an das Jahr 2005, als
nach den zwei verlorengegangenen Referenden in
Frankreich und den Niederlanden Europa sozusagen flä-
chendeckend von Katerstimmung erfasst war.

Warum sage ich das? Um endlich einmal den Blick
dafür freizumachen, wo wir heute stehen.

Vor einem Jahr sagten viele noch: Die Reform ist tot. –
Heute stehen wir kurz vor dem Abschluss einer Regie-
rungskonferenz, auf der dann über den Reformvertrag
der Europäischen Union entschieden werden soll, einen
Vertrag, der endlich den Weg frei macht für die notwen-
dige Runderneuerung unserer Arbeitsgrundlagen in
Europa.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Dass wir das geschafft haben, darauf können wir in
der Tat miteinander stolz sein. Das ist unser gemeinsa-
mes Verdienst. Als Präsidentschaft ist es der Bundesre-
gierung gelungen, dem Prozess der Vertragsreform
neuen Atem einzuhauchen. Mit dem Einigungswillen al-
ler Mitgliedstaaten gelang es, beim Europäischen Rat im
Juni in Brüssel ein umfassendes politisches Mandat zu
verabschieden.

Ich will an dieser Stelle im Hohen Hause nicht ver-
gessen, eines zu erwähnen: Wir konnten auch nur des-
halb so offensiv und auch so entschlossen auf der euro-
päischen Ebene verhandeln, weil wir uns jederzeit der
Unterstützung des Deutschen Bundestages und auch des






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
Bundesrates sicher sein konnten. Deshalb gilt: Wenn die
politische Einigung beim informellen Treffen der Staats-
und Regierungschefs in Lissabon gelingt, dann ist das
unser gemeinsamer Erfolg. Dafür mein aufrichtiger und
herzlicher Dank Ihnen allen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich habe nicht vergessen, dass wir bei alldem in der
Tat Abstriche machen mussten. Wir mussten auf das
Konzept einer Verfassung und den entsprechenden Titel
verzichten. Wir haben es entgegen unserer Vorstellung
nicht hinbekommen, die Grundrechtecharta in den Ver-
trag aufzunehmen. Immerhin ist es uns gelungen, ihre
Rechtsverbindlichkeit festzuschreiben. Wir haben auch
hinnehmen müssen, dass die Einführung der doppelten
Mehrheit erst verzögert stattfindet. Dies waren schmerz-
liche Kompromisse, die aber notwendig waren – ich bin
mir sicher, die meisten von Ihnen sehen das genauso –,
um die Gesamteinigung, um die es ging, zu erreichen.

Schwerer wiegt in meinen Augen, dass es uns mit die-
sen schmerzlichen Kompromissen gelungen ist, die we-
sentliche Substanz der Verfassung zu erhalten und die
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Handlungs-
fähigkeit der Europäischen Union gestärkt wird.


(Beifall des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])


Nicht nur ich, sondern auch viele andere, die für unser
Land auf Brüsseler Ebene verhandelt haben, haben gera-
dezu penetrant den Satz wiederholt: „Die Welt wartet
nicht auf Europa.“ Dieser Satz hat seine Richtigkeit mit
Blick auf die aufstrebenden Mächte in Ostasien, China
und Indien, behalten. Die wirtschaftlichen und politi-
schen Gewichte in der Welt verschieben sich durchaus.
Das macht deutlich, wie wichtig es war, dieses Eini-
gungswerk in Europa durchzusetzen. Rückblickend
muss man sagen, dass diese Einigung ohne Alternative
war.

Diese europäische Reform macht uns handlungsfähi-
ger beim Klimaschutz, bei der Energieversorgung und
beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus. All
das erfordert ein Europa, das einig und geschlossen ist.
Dazu brauchen wir erneuerte Arbeitsgrundlagen, zumal
wir jetzt ein Europa der 27 haben.

Lassen Sie mich noch ein paar Punkte aufzählen, die
ich zu den Fortschritten zähle: der – wenn ich so sagen
darf – hauptamtliche Präsident des Europäischen Rates,
wodurch mehr Kontinuität in der Zukunft gesichert wird;
die Aufwertung des Hohen Repräsentanten für Außen-
und Sicherheitspolitik, was aus meiner Perspektive be-
sonders wichtig ist; mehr und dadurch erleichterte Ab-
stimmungen in den europäischen Gremien mit qualifi-
zierter Mehrheit; die Einführung der doppelten Mehrheit
und schließlich die Verkleinerung der Kommission. Das
sind fünf Punkte, über die Einigung erzielt wurde und
die aus meiner Sicht deutlich machen, wie wertvoll diese
Einigung tatsächlich war.

Ich will nicht vergessen, dass auch die Rechte des Eu-
ropäischen Parlaments und die der nationalen Parla-
mente deutlich gestärkt worden sind. Ich komme zu dem
Ergebnis, dass trotz aller Schwierigkeiten und trotz allen
Ringens, das wir hinter uns haben, die demokratische
Legitimation Europas am Ende dieses Prozesses gestärkt
wird.

Ich weiß, dass wir gemeinsam mit Ihnen – sozusagen
im Vorgriff auf die Vertragsreform – eine Vereinbarung
zwischen Bundesregierung und Bundestag geschlossen
haben. Ich erinnere mich – Herr Löning, Sie werden
gleich darauf zurückkommen –,


(Markus Löning [FDP]: Davon können Sie ausgehen!)


dass es am Anfang etwas geruckelt hat. Ich bin mir aber
sicher, dass sich das im Vorgriff Vereinbarte etablieren
wird. Bevor Sie das gleich monieren, sage ich Ihnen von
hier aus: Das, was ich tun kann, um diese Vereinbarung
mit Leben zu erfüllen, will ich gerne tun.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind noch nicht ganz am Ende. Sie alle kennen
den Gang der Verhandlungen bei der Regierungskonfe-
renz, die nun unter portugiesischer Ratspräsidentschaft
stattfindet. Sie wissen, dass die entscheidenden Voraus-
setzungen für den Erfolg dieser Regierungskonferenz
sind, dass wir im Juni ein klares, sehr detailreiches poli-
tisches Mandat beschlossen haben und die portugiesi-
sche Ratspräsidentschaft danach einen sehr ehrgeizigen
– um nicht zu sagen: straffen – Zeitplan gesetzt hat. Das
hatte immerhin zur Folge, dass jetzt ein erster vollständi-
ger Vertragsentwurf vorliegt, der auf der Rechtsexper-
tenebene gebilligt wurde. Ich denke, die Ergebnisse wur-
den Ihnen in den letzten Tagen zugestellt. Dieser
Entwurf ist alles in allem kein Werk geworden – ich war
gestern auf der Buchmesse –, das für den Literaturnobel-
preis infrage kommt; aber das ist ein sorgfältig ausbalan-
cierter Text, mit dem das politische Mandat vom Juni
sehr korrekt umgesetzt wurde. Deshalb bin ich fürs Erste
sehr zufrieden damit.

Sie wissen, dass einige über das Mandat hinausge-
hende Wünsche haben. Wir werden diese Wünsche auf
dem nächsten Allgemeinen Rat der europäischen Außen-
minister in der kommenden Woche zu beraten haben. Ich
kann nicht ausschließen, dass einiges davon das Treffen
der Staats- und Regierungschefs erreichen wird. Deshalb
sage ich: Wir sind zwar noch nicht am Ziel, aber so nahe
dran wie jetzt waren wir im gesamten Prozess noch nie.
Deshalb bin ich optimistisch, dass die Einigung gelingen
wird.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Wenn sie gelingt – damit komme ich zum Schluss –,
sollten wir zusehen, dass die Verträge noch in diesem
Jahr, und zwar vor Weihnachten unter portugiesischer
Ratspräsidentschaft unterzeichnet werden, damit genü-
gend Zeit bleibt, um das Ratifizierungsverfahren vor den
Europawahlen 2009 durchzuführen. Ich würde mich sehr
freuen, wenn Deutschland mit einer raschen Ratifizie-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
rung modellhaft voranginge. Ich hoffe, das gelingt uns
gemeinsam.

Weniger an dieses Hohe Haus gerichtet als an manche
europäische Nachbarn, die hinsichtlich Veränderungen
am Text noch Erwartungen haben, sage ich: Wenn wir
diese Chance in Europa verpassen, dann werden wir so
schnell keine neue bekommen. Aber eben weil das alle
wissen, bin ich zuversichtlich, dass die Einigung gelingt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611810700

Das Wort hat der Kollege Markus Löning von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Markus Löning (FDP):
Rede ID: ID1611810800

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Kolle-

ginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Lob
beginnen: Herr Steinmeier, der Bundesregierung ist es in
der Tat gelungen, einen europäischen Sack Flöhe zusam-
menzubinden und zum Abschluss eines schwierigen Pro-
zesses entscheidend beizutragen. Dafür gebührt Ihnen
unser aller Lob. Das ist ganz ohne Zweifel so.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, der Umstand, dass sich diese Bundesregie-
rung an einer wesentlichen Stelle von ihrer Vorgänger-
regierung unterscheidet, nämlich darin, dass Kanzlerin
und Außenminister mit einer positiven Grundeinstellung
gegenüber Europa aufgetreten sind, hat entscheidend
dazu beigetragen, dass Ihnen das gelungen ist. Das ist
ein deutlicher Unterschied zur Vorgängerregierung. Ich
glaube, dass das die Einigung deutlich befördert und er-
leichtert hat. Insofern loben wir Sie an dieser Stelle und
freuen uns, dass sich die Politik der Bundesregierung
von der der Vorgängerregierung unterscheidet.

Wir werden uns nach Abschluss des Europäischen
Rates übernächste Woche anschauen, wie die Texte am
Ende des Tages tatsächlich aussehen. Wir werden es be-
werten und auch an der Erklärung von Laeken messen.
Wurden die gesteckten Ziele erreicht? Bekommen wir
mehr Demokratie in Europa? Bekommen wir mehr
Transparenz in Europa? Es wird, so wie ich das aus jetzi-
ger Perspektive beurteilen kann, sicher ein eher ge-
mischtes Bild geben.

Es gibt – zumindest laut der bisher vorliegenden Eini-
gungen – ohne Zweifel eine Reihe von Themen, bei de-
nen die Europäische Union mit diesem Vertrag vorwärts-
kommen würde. Es gibt aber durchaus auch eine Reihe
von Themen, bei denen wir nicht vorwärtskommen. Es
gibt auch eine Reihe von Themen, bei denen es gut ist,
dass das Geplänkel darüber endlich einmal abgeschlos-
sen wird. Auch dazu haben Sie ein wahres Wort gesagt:
Die Welt wartet nicht auf Europa. Es wird Zeit, dass wir
unsere internen Organisationsdebatten endlich abschlie-
ßen und dazu kommen, dass wir in Europa wieder Poli-
tik in der Substanz machen können


(Beifall bei der FDP)


und dass wir beim Binnenmarkt vorwärtskommen.

Kollege Martin Zeil wird nachher noch einige Worte
zum Binnenmarkt sagen. Ich sehe da ein großes Problem
auf Europa zukommen; hier wird auf ein Kern-Asset der
Europäischen Union verzichtet. Ich hoffe, dass wir in
den Substanzen vorwärtskommen, zum Beispiel auch
bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Herr Außenminister, ich hatte eben ein Gespräch mit
einem Kollegen aus Holland.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist immer gut!)


Er sagte: Dass ihr Deutsche das Konzept der doppelten
Mehrheit akzeptiert – ich glaube, es ist wichtig, dass das
hier im Deutschen Bundestag einmal gesagt wird –, ist
ein außerordentlich großes Zugeständnis an eure polni-
schen Nachbarn; es ist eine Großherzigkeit, die wir in
Holland nur mit großen Problemen gegenüber unserer
eigenen Bevölkerung vertreten könnten. Ich glaube, dass
es richtig und wichtig ist, dies gegenüber unseren polni-
schen Freunden zu betonen und zu sagen, dass die Bun-
desrepublik den Polen an vielen Stellen in den letzten
Jahren mit großen Schritten entgegengekommen ist


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und dass wir von daher auch von unseren polnischen
Freunden erwarten, dass sie jetzt dabei helfen, dass
Europa vorwärtskommt, und dass sie keine weiteren
Steine in den Weg legen.

Europa sollte ohne Schwierigkeiten aus Polen vor-
wärtskommen können. Diesen Wunsch gebe ich Ihnen
zum Gipfel mit. Ich hoffe, dass diese Botschaft auch in
Warschau ankommt. Wir sind unter Schmerzen damit
einverstanden, dass Zugeständnisse gemacht werden.
Aber wir erwarten dann auch Zugeständnisse von der an-
deren Seite und den Willen, an einem gemeinsamen
Europa zu arbeiten. Wir haben gar keine Alternative
dazu, mit Polen unter dem europäischen Dach in Zu-
kunft ernsthaft zusammenzuarbeiten. Wir profitieren da-
von, die Polen profitieren auch davon. Das muss endlich
in vernünftige Bahnen gelenkt werden, damit wir in der
Substanz nach vorne kommen.

Es gibt eine ganze Reihe von anderen Punkten, die
wir unterstützen und über die wir uns freuen. Das heißt,
wenn das nächste Europäische Parlament den Kommis-
sionspräsidenten wählen wird, dann stellt sich auch an
uns als Parteien und als europäische Parteifamilien die
Frage: Wie wollen wir den Europawahlkampf 2009 füh-
ren? Werden wir die Parteien weiter nach vorne stellen?
Werden wir in den europäischen Parteifamilien enger zu-
sammenrücken und auch im Europawahlkampf klarer
politische Wahlkämpfe führen, oder werden wir es wie
bisher handhaben, dass sehr viel nationale Politik und






(A) (C)



(B) (D)


Markus Löning
sehr wenig gemeinsame europäische Politik gemacht
wird?

Lassen Sie mich, Herr Steinmeier, zum Schluss auch
einmal Herrn Juncker zum Thema Grundrechtecharta zi-
tieren. Herr Juncker ist jemand, den man in europapoliti-
schen Debatten in Deutschland immer gut zitieren kann.
Mir hat er etwas über den Verfassungsvertrag und über
die Debatte über die Grundrechtecharta erzählt. Er sagte
mir: Wir Europäer missionieren in der Welt für Grund-
rechte und für Menschenrechte, und dann sind wir nicht
in der Lage, uns selbst auf eine rechtsverbindliche
Grundrechtecharta zu einigen; das ist doch lächerlich.
Wo der Mann recht hat, hat er recht. Es ist eine Schande,
dass wir bei der Rechtsverbindlichkeit nicht weiterge-
kommen sind.


(Beifall bei der FDP)


Ganz zum Schluss: Herr Steinmeier, Sie haben dem
Parlament nichts im Vorgriff zugestanden. Das Parla-
ment hat über seine beiden Mehrheitsfraktionen seine
Rechte bei der Erteilung des Mandates nicht wahrge-
nommen. So herum wird ein Schuh daraus.


(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Parlament hat seit der ersten Hälfte der 90er-Jahre
nach Art. 23 Grundgesetz das Recht, bei der europäischen
Gesetzgebung und der Erneuerung von Verträgen mitzu-
wirken. Es hat seitdem diese Rechte niemals umgesetzt.
Seit einem Jahr gibt es eine Vereinbarung, und diese Ver-
einbarung muss endlich mit Leben erfüllt werden. Ich
weiß, dass es nicht an Ihnen liegt. Wir sind sogar von Ih-
rem Kollegen aus dem Wirtschaftsressort aufgefordert
worden, endlich unsere Rechte wahrzunehmen. Ich weiß,
dass es bei den Damen und Herren der Mehrheitsfraktio-
nen liegt.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist die Unwahrheit, Herr Löning! Das wissen Sie!)


Ich wünsche mir, dass Sie mit Ihrer Fraktion reden und
sie auffordern, die Rechte endlich wahrzunehmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Wer die Wahrheit kennt und die Unwahrheit sagt, der ist ein …!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611810900

Das Wort hat der Kollege Gunther Krichbaum von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gunther Krichbaum (CDU):
Rede ID: ID1611811000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei

allem, was wir heute kritisieren, sollten wir auch einmal
den Blick zurück richten. Es ist etwas mehr als zwei
Jahre her, dass in europäischen Nachbarländern – in
Frankreich und in den Niederlanden – die europäische
Verfassung in zwei Referenden abgelehnt worden ist.
Danach verordnete sich Europa eine Denkpause, die in
Wahrheit aber eine Phase der Ratlosigkeit war. Niemand
wusste, wie es mit diesem Europa weitergehen sollte.
Hier war es tatsächlich der Erfolg der Bundesregierung
unter Angela Merkel und unter Ihnen, Herr Außenminis-
ter Steinmeier, die den gordischen Knoten mit der „Ber-
liner Erklärung“ und einem vertrauensbildenden Prozess
durchschlug, an dessen Ende ein sehr ausgeformtes
Mandat stand, das es umzusetzen galt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Trotz allem anderen, was wir in diesen Vertrag auf-
nehmen wollten, ist doch die Substanz dieses Vertrages
– dieser Verfassung, die wir ursprünglich wollten – ge-
wahrt worden. Sicherlich ist nicht zu unterschätzen, dass
hier Symbole wie eine Fahne, eine Hymne und eine Prä-
ambel fehlen – Letztere ist gewissermaßen ein Werteka-
non innerhalb der Europäischen Union –; denn genau
diese identitätsstiftenden Merkmale hätten dazu geführt,
dass sich die Bürger in dieser Verfassung stärker hätten
wiederfinden können. Dazu ist es nun leider nicht ge-
kommen. Aber wir dürfen den Erfolg jetzt nicht kleinre-
den; denn Europa hat seine Handlungsfähigkeit zurück-
gewonnen.

Das ist besonders wichtig vor dem Hintergrund, dass
wir bislang auf der Grundlage des Vertrages von Nizza
standen, eigentlich auf einem institutionellen Europa der
Zwölf, obwohl wir doch mittlerweile 27 geworden sind
und in absehbarer Zeit mit Kroatien 28 Mitgliedstaaten
sein werden. Die Kinderschuhe konnten jetzt also in der
Ecke stehen gelassen werden. Wir haben jetzt einen in-
stitutionellen Rahmen, mit dem wir auf das Europa von
heute und insbesondere auf die Herausforderungen des
Europas von morgen reagieren können.

Nur schlagwortartig möchte ich dies belichten: Wir
haben die Einführung eines Mehrheitsprinzips auf brei-
ter Front und eben nicht mehr die Blockademöglichkei-
ten mit einem Einstimmigkeitsprinzip. In diesen Kontext
passt die Forderung Polens mit ihrer Ioannina-Klausel
überhaupt nicht hinein, weil man damit gerade jene Blo-
ckaden aufrechterhalten will, die dieser Vertrag überwin-
den soll.

Kollege Löning, wir brauchen gar nicht mehr bis zum
Gipfel zu warten. Morgen wird Herr Kaczynski nach
Berlin kommen. Dies ist eine gute Gelegenheit für die
Bundesregierung, bereits in diesem Gespräch, das Frau
Merkel führen wird, wenn ich richtig informiert bin, da-
rauf hinzuweisen und für eine Bewegung in dieser Frage
Werbung zu betreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dass die Grundrechtecharta verbindlich ist, ist ein
weiterer Vorteil für die Bürger. Denn Grundrechte sind
zunächst einmal Abwehrrechte des Bürgers gegenüber
dem Staat. Ich hätte mir gewünscht, dass die Diskussion
in Großbritannien vor diesem Hintergrund geführt wor-
den wäre. Denn ich weiß nicht, ob eine Regierung, die
dem Bürger plötzlich seine Abwehrrechte vorenthalten
möchte, gut dasteht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Aber das müssen die Menschen in Großbritannien ent-
scheiden. Ich denke, hier sind wir entscheidend vorange-






(A) (C)



(B) (D)


Gunther Krichbaum
kommen. Außerdem hat der Deutsche Bundestag nun
mehr Rechte. Allerdings müssen wir unseren neuen
Möglichkeiten auch gerecht werden.

Herr Kollege Löning hat richtigerweise die Zusam-
menarbeitsvereinbarung zwischen dem Bundestag und
der Bundesregierung angesprochen. Aber wir müssen
den Kontrollmöglichkeiten und -pflichten, die unser na-
tionales Parlament in der Europapolitik jetzt hat, nach-
kommen können. Wir fordern die Bundesregierung auf,
sich dafür einzusetzen, dass die Texte auf europäischer
Ebene auch in deutscher Sprache vorgelegt werden.
Deutsch, Französisch und Englisch sind gleichberech-
tigte Sprachen. Wir möchten an dieser Stelle keine Bes-
serbehandlung, sondern eine Gleichbehandlung. Herr
Außenminister, wir fordern Sie auf, alles Erdenkliche zu
tun, damit die Fortschrittsberichte am 7. November die-
ses Jahres auch in deutscher Sprache vorgelegt werden,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


wonach es im Augenblick aber leider nicht aussieht.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass das
keine Sonderposition Deutschlands ist. Deutsch ist die
Muttersprache von über 90 Millionen Menschen und hat
insbesondere in Osteuropa und in den neuen EU-Bei-
trittsstaaten als erste Fremdsprache eine große Bedeu-
tung.

Wir können festhalten: Mit diesem Reformvertrag ha-
ben wir eine Gebrauchsanweisung für Europa bekom-
men. Europa ist demokratischer und transparenter ge-
worden. Ich glaube, wir sollten genau das festhalten, und
zwar ungeachtet aller Steine, die auf diesem Weg noch
vor uns liegen. Ich bin zuversichtlich, dass wir diese
Steine mit viel gutem Willen aus dem Weg räumen kön-
nen.

Lassen Sie mich noch auf einen zweiten Aspekt zu
sprechen kommen: auf die Akzeptanz Europas. Europa
ist immer nur so gut, wie es in der Lage ist, auf die Kern-
fragen seiner Bürger Antworten zu geben. Europa muss
auf die veränderten Herausforderungen in der Welt, die
sich angesichts der Globalisierung stellen, reagieren.
Jüngst hat Bundespräsident Köhler in seiner Berliner
Rede auf die Chancen der Globalisierung hingewiesen,
zu Recht aber auch unterstrichen, dass viele Menschen
der Globalisierung mit großer Sorge und mit Ängsten
begegnen. Europa muss seine Wettbewerbskraft stärken;
denn wir konkurrieren mit den USA und mit den Län-
dern in Fernost. Deswegen ist es wichtig, dass wir unsere
Ressourcen und Möglichkeiten bündeln.

Beispiel Forschungspolitik. Wir werden in Europa
immer nur so erfolgreich sein, wie wir innovativer als
andere Regionen in der Welt sind; denn Arbeitsplätze
werden durch Innovationen geschaffen. In der For-
schungspolitik ist es mit Sicherheit sinnvoller, dass wir
unsere Anstrengungen im Rahmen von Großforschungs-
vorhaben viel stärker als in der Vergangenheit koordinie-
ren, als dass 27 Länder jeweils ihr eigenes Süppchen ko-
chen. Erst heute Morgen hat Herr Minister Müntefering
zu Recht darauf hingewiesen, dass der Schlüssel in der
Bildung liegt. In Europa tun wir im Bildungsbereich
nach wie vor insgesamt zu wenig. Wenn wir die Ziele
der Lissabon-Strategie weiterhin ernst nehmen wollen,
dann müssen wir uns hier viel mehr engagieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das gilt auch für andere Themengebiete, zum Bei-
spiel für den Klimawandel. Der Klimawandel verunsi-
chert die Bürger. Insbesondere in Afrika führt er dazu,
dass Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren, weil
ihr Land keine Früchte mehr liefert. Durch den Klima-
wandel werden sie in die Flucht getrieben. Der dadurch
entstehende Migrationsdruck, der auch in Europa spür-
bar wird, stellt uns dann vor Fragen der inneren und äu-
ßeren Sicherheit. Diese Zusammenhänge sind nicht vom
Tisch zu wischen. Auf diese Fragen kann Europa insge-
samt eine bessere und glaubwürdigere Antwort liefern,
als wenn das jeder einzelne Mitgliedstaat für sich ge-
nommen tut. Ich denke, hier besteht noch sehr viel Po-
tenzial. An dieser Stelle müssen wir deutlich mehr tun
als in der Vergangenheit.

Da ich gerade über die identitätsstiftenden Politikbe-
reiche spreche, die uns zusammenführen können, möchte
ich auf die auswärtige Kulturpolitik zu sprechen kom-
men; hier schaue ich insbesondere den Kollegen Steffen
Reiche an. Wir können in Europa in diesem Bereich noch
deutlich mehr tun. Denn Europa ist immer nur so gut, wie
es von den Menschen gelebt wird, wie es die Menschen
zusammenführt.

Allen Unkenrufen, was das deutsch-polnische Ver-
hältnis angeht, zum Trotz muss man sagen: In den Zivil-
gesellschaften funktioniert es doch prima. Wir haben
600 Städtepartnerschaften. Wir haben ein Deutsch-Pol-
nisches Jugendwerk, von dem ich mir persönlich wün-
sche, dass es von beiden Staaten wirksamer unterstützt
wird als gerade in den letzten Monaten. Hier tut sich sehr
viel. Deswegen müssen wir immer fein differenzieren
zwischen der polnischen Regierung und der polnischen
Bevölkerung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Wie gesagt, alles, was die Menschen zusammenführt,
wird gut sein für Europa. Letztlich ist das Europa, das
wir heute gestalten, das Europa für unsere Kinder, mit
viel mehr Chancen, als wir sie in der Vergangenheit je
hatten, mit allen Möglichkeiten für einen großen Wohl-
stand, mit einer Friedenssicherung, mit der Sicherung
von Demokratie und Freiheit – Werten, die bei uns
manchmal leider allzu selbstverständlich geworden sind,
um die wir aber weltweit beneidet werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1611811100

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Diether Dehm von

der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611811200

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Seit dem vorigen Freitag liegt uns der Entwurf eines
EU-Reformvertrages vor. Auf dem informellen Gipfel-
treffen der Staats- und Regierungschefs am 18./19. Okto-
ber, also in einer Woche, soll über ihn eine politische
Einigung erzielt werden. Da ist es müßig, heute über das
Verhandlungsmandat vom 23. Juni zu diskutieren; das
hat sich erledigt.

Die Bundesregierung hat seit Juni grob gegen die mit
dem Bundestag geschlossene Unterrichtungsvereinba-
rung verstoßen und führt auch die Bürger hinters Licht.
Nicht wenige Kolleginnen und Kollegen – Herr Löning,
so wird ein Schuh daraus – lassen das mit sich machen.

Allein die Form der Vertragsentwurfs ist eine Zumu-
tung. Es ist ein reiner Änderungsvertrag, der ohne die
anderen Verträge gar nicht zu verstehen ist. Selbst inte-
ressierteste Bürger können sich da nicht hindurchfinden,
solange sie nicht links den Vertrag von Nizza und rechts
davon den gescheiterten Verfassungstext legen. Das ist
keine Aufklärung, das ist ein Puzzle. Wer das so eingefä-
delt hat, scheut das eigene Volk und die Volksabstim-
mung wie der Teufel das Weihwasser; er scheut jegliche
lebendige Bürgerbeteiligung.

Hier verstehe ich besonders die FDP und die Grünen
nicht. Sie versuchen, sich als Bürgerrechtsparteien dar-
zustellen, vorzugsweise wenn es um ferne Länder geht.


(Markus Löning [FDP]: Sie sind immer nur Bürgerrechtspartei, wenn es um Kuba geht!)


Aber wenn wir das Grundgesetz ergänzen wollen, damit
wir über den wichtigsten EU-Vertrag eine Volksabstim-
mung durchführen können, wie es einer Verfassung und
einer lebendigen Bürgerbeteiligung zukommt, schlagen
Sie die Hände über dem Kopf zusammen.

Was mir aber die Schuhe ausgezogen hat – vielleicht
ging es Ihnen auch so, Herr Löning –, war, als gestern im
EU-Ausschuss Elmar Brok auf meine Frage nach der
Verwirrtechnik mit dem Reformvertrag sinngemäß ge-
antwortet hat: Da müsse man halt sarkastisch werden
und nach den gescheiterten Volksabstimmungen in
Frankreich und in den Niederlanden „Transparenz he-
rausnehmen“. Wer es nicht glaubt, möge das im Wort-
protokoll nachlesen, Herr Bodewig.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Es gibt kein Wortprotokoll! – Kurt Bodewig [SPD]: Das ist eine Verdrehung! – Gegenruf des Abg. Markus Löning [FDP]: Deswegen verweist er ja darauf!)


– Ich habe es aber mitgeschrieben. Das ist mit das Zy-
nischste, was ich in diesem Haus seit zwei Jahren gehört
habe: „Transparenz herausnehmen“ – lesen Sie das
nach! –, weil die Volksabstimmungen in Frankreich und
in den Niederlanden gescheitert sind.

Ich denke, Herr Brok hat guten Grund, „Transparenz
herauszunehmen“. Der Vertragsentwurf enthält in
Art. 27 des geänderten EU-Vertrages wieder das Aufrüs-
tungsgebot des gescheiterten Verfassungsvertrages.
Wörtlich heißt es:
Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militäri-
schen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.

Die militärischen Fähigkeiten, die verbessert werden
sollen, dienen der Durchführung von Missionen, auch
außerhalb der Union. Mitgliedstaaten, die – so heißt es –
„anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militäri-
schen Fähigkeiten erfüllen“, können „eine Ständige
Stukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union“
bilden.

Im Protokoll Nr. 4 zum Vertrag wird das weiter kon-
kretisiert: Bis 2010 sind

bewaffnete Einheiten bereitzustellen, die auf die in
Aussicht genommenen Missionen ausgerichtet sind,
taktisch als Gefechtsverband konzipiert … und fä-
hig sind, innerhalb von 5 bis 30 Tagen Missionen
… aufzunehmen.

Um die bewaffneten Einheiten zu ermöglichen, soll nach
dem genannten Art. 27 die in Verteidigungsagentur um-
getaufte Rüstungsagentur „Maßnahmen zur Stärkung der
industriellen und technologischen Basis des Verteidi-
gungssektors“ unterstützen bzw. selbst durchführen. Das
alles bedeutet weltweite Militärinterventionen nach au-
ßen und Militarisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
nach innen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Wenn hier eingewendet wird, das sei nicht neu, das
habe schon im gescheiterten Verfassungsvertrag gestan-
den, dann antworte ich: Das ist nicht neu. Deswegen ha-
ben wir den Verfassungsvertrag auch abgelehnt, und des-
wegen lehnen wir den jetzigen Vertragsentwurf ebenfalls
ab.


(Beifall bei der LINKEN – Kurt Bodewig [SPD]: Sie werden auch den nächsten ablehnen!)


– Gestalten Sie ihn nach dem Sozialstaatsprinzip und
entsprechend dem Angriffskriegsverbot des Grundgeset-
zes. Sie werden sehen, dass wir ihn dann nicht ablehnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Militarisierung ist ein wesentlicher Grund für die
Ablehnung des Vertragsentwurfs, die Ausrichtung auf
einen marktradikalen Neoliberalismus ein anderer.

Auch bei Verfassungsfragen zählt das Kleingedruckte
besonders viel. Gegenüber unserer Kritik wird ange-
führt, in Art. 3 des geänderten EU-Vertrages solle doch
ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft stehen. Ich
weise darauf hin, dass hier von einer „wettbewerbsfähi-
gen sozialen Marktwirtschaft“ die Rede ist, der Wettbe-
werb dem Sozialen also vorangestellt wurde.

Im Übrigen ist im Vertrag über die Arbeitsweise der
EU – dort, wo es praktisch wird – immer nur von einer
„offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ die
Rede. Dieser Wettbewerb ist ein race to the bottom, zu
den niedrigsten zivilisatorischen Standards, ein Wettlauf
hin zum Billiglohn und in das Steuerdumping. Es ist ein
Weglauf der Konzerne vor der grundgesetzlichen Sozial-
bindung des Eigentums.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Diether Dehm

(Markus Löning [FDP]: Das haben Sie 30 Jahre erlebt! Das ist doch billigste Demagogie!)


Wenn die Deutsche Bank, die Stromkonzerne, Heu-
schrecken oder die Rüstungsimporteure von Wettbewerb
reden, wer denkt dabei an einen sportlich fairen Wettbe-
werb? Was denken dabei die Arbeiter bei VW, denen die
EU ihr Werk noch DAX-förmiger zurechthauen will?
Was denken die vielen Hundert in Salzgitter, die bei un-
verfälschtem Wettbewerb wegrationalisiert werden sol-
len? Was denken die Menschen in Osnabrück, wo das
Landeskrankenhaus durch Privatisierung wettbewerbsfä-
higer gemacht, aber alles teurer, schlechter und unwirt-
schaftlicher wurde? Was denken die Studierenden in
Hamburg, Hannover, Frankfurt und Göttingen, die bei
diesem Wettbewerb der Hochschulen mittlerweile einen
Fulltimejob brauchen, um ihren Studienplatz zu finan-
zieren?


(Martin Zeil [FDP]: Was hat das mit Europa zu tun?)


Was denkt der Landwirt im Zusammenhang mit dem
Atomlager Gorleben in Lüchow-Dannenberg, wenn die
EU den Wettbewerb hier plötzlich verfälscht und einsei-
tig weiterhin und stärker in die Atomforschung inves-
tiert?


(Martin Zeil [FDP]: In der Schule hätte man früher „Thema verfehlt“ gesagt!)


Was fällt zum Wettbewerb ein, wenn in Oldenburg Mit-
arbeitern in den Großfleischereien mithilfe des EU-For-
mulars E 101 der Sozialversicherungsschutz weggenom-
men wird? Was empfindet schließlich der Besitzer einer
Dönerbude in Braunschweig, die Neonazis abgefackelt
haben, wenn Staat und Gesellschaft sagen, wir können
dir nicht helfen, wir wollen den Wettbewerb doch nicht
verfälschen?


(Kurt Bodewig [SPD]: Bei allem Respekt: Das ist der größte Unsinn!)


Der Begriff „unverfälschter Wettbewerb“ ist zwar
nicht mehr im unmittelbaren Vertragstext des geänderten
EU-Vertrages enthalten, versteckt, aber nicht weniger
verbindlich, findet er sich jetzt im Protokoll Nr. 4: Zu
dem Binnenmarkt, wie er in Art. 3 des Vertrages be-
schrieben werde, gehöre ein „System, das den Wettbe-
werb vor Verfälschungen schützt“.

Ach ja: Wo bleibt übrigens das von Frau Merkel ver-
sprochene Protokoll zur sozialen Dimension der EU?
Durch das Grundgesetz werden wir alle an drei elemen-
tare Grundwerte gebunden: Demokratie, Sozialstaatlich-
keit und Rechtsstaatlichkeit. Keine Mehrheit, nicht ein-
mal eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag darf daran
rütteln. Die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 des
Grundgesetzes ist davor. Das gilt für staatliche Maßnah-
men hier in Deutschland, aber auch für die Abtretung
von entsprechenden Befugnissen an die EU.

Als Werte, auf denen sich die EU gründen soll, stehen
in Art. 2 des Vertrages aber plötzlich nur Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit. Ein cleverer Kopf aus der Bun-
desregierung hat mir gestern im EU-Ausschuss entgeg-
net, es würde keine Sozialstaatlichkeit im Reformvertrag
stehen, weil die EU kein Staat sei. Warum steht denn
dann die Rechtsstaatlichkeit, aber nicht die Sozialstaat-
lichkeit darin?


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Befugnisse, hoheitlich tätig zu werden, auf die EU
übertragen werden, dann kann damit keine Freistellung
von der Bindung an den Grundsatz der Sozialstaatlich-
keit verbunden sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer das zulässt, verhält sich verfassungsfeindlich. Hin-
ter dem Rücken der Menschen, gegen ihre sozialen
Ängste und gegen demokratische Mehrheiten gibt es
keine lebendige und keine vertiefte EU. Was Sie mit
dem Reformvertrag betreiben, ist keine Integration, son-
dern bürokratisches Aneinanderhauen und Zusammen-
tricksen bei gleichzeitiger Vertiefung der sozialen Grä-
ben. Damit fahren Sie die EU gegen die Wand.

Darum können wir allen Ihren Anträgen nicht zustim-
men. Wir fordern die Bundesregierung auf, den Vertrags-
entwurf nicht zu unterschreiben und stattdessen eine
transparente Verfassung anzustreben, deren Ausrichtung
demokratisch, freiheitlich, sozial und friedenssichernd
ist, damit das Volk nicht mehr Angst haben muss vor der
EU und Sie nicht mehr vor dem eigenen Volk.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611811300

Ich gebe das Wort dem Kollegen Rainder Steenblock,

Bündnis 90/Die Grünen.


Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611811400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Man ist wieder einmal geneigt, hier eine Lehrstunde in
politischer Strategie folgen zu lassen. Aber ich will nur
einen Satz dazu sagen: Wir sind uns, glaube ich, alle ei-
nig, dass der jetzt vorliegende Reformvertragsentwurf
schlechter ist als das, was alle in diesem Haus gemein-
sam wollten. Denn von wenigen Ausnahmen abgesehen
wollten alle in diesem Haus einen transparenten, ge-
schlossenen Verfassungsvertragsentwurf. Wir haben das
alle unterstützt.

Lieber Kollege Dehm, es stellt sich doch die Frage,
ob man nicht mit der Zustimmung zu einem Kompro-
miss, bei dem einem nicht alles passt, letztendlich mehr
erreichen kann, als wenn man durch Fundamentaloppo-
sition einen politischen Prozess kippt und am Ende – so
wie jetzt – einen intransparenten Vertrag hat, der noch
unbefriedigender ist. Deshalb glaube ich, dass Die Linke
schlecht beraten ist und beraten war, mit anderen in
Europa den Verfassungsvertrag zu bekämpfen und damit
zu dem beizutragen, was wir jetzt haben. Das war nicht
unser Wunsch und es war nicht unsere Intention. Wir
wollten einen transparenten Verfassungsvertrag haben,
und dazu stehen wir.






(A) (C)



(B) (D)


Rainder Steenblock

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Zuruf von der LINKEN)


Aber, lieber Kollege Diether Dehm, ich stimme Ihrer
Kritik am Verfahren und am vorliegenden Antrag der
Koalition völlig zu. Ich finde diesen Antrag in der Sache
– gemessen an dem Anlass, dass wir dieses Vertragswerk
hier würdigen sollen – ausgesprochen peinlich. Das, was
darin steht, ist in der Sache peinlich. Mit diesem Antrag
will man – das kritisieren wir massiv – zu einem extrem
späten Zeitpunkt, zu dem – Herr Kollege Dehm und Herr
Kollege Löning haben das auch gesagt – die Verhandlun-
gen praktisch abgeschlossen sind, ein Mandat erteilen.
Das ist absurd.

Zudem ist dieses Mandat nicht mit politischen Vorga-
ben ausgestattet. Die einzige politische Vorgabe ist, dass
die Regierung ein Mandat bekommt und uns am Ende ei-
nes Verhandlungsprozesses immer berichten soll, was
sie tut. Es wird nicht gesagt, wofür man eigentlich steht
und was die Regierung verhandeln soll. Damit ist die
parlamentarische Vertretung in diesem Lande in einer Si-
tuation, in der man sich überlegen muss, ob die Regie-
rung dieses Parlament eigentlich nur braucht, um Be-
richte zu erstatten. Das Parlament muss die Ziele und die
Inhalte der Politik vorgeben. Das gilt auch für Europa.
Deshalb finde ich diesen Antrag schlecht, und wir wer-
den ihm auch nicht zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben die Verhandlungsposition der Bundesre-
gierung in allen Verhandlungsphasen immer unterstützt
und glauben, dass die Bundesregierung viel dazu beige-
tragen hat, dass jetzt etwas dabei herauskommt, was un-
ter den gegebenen Bedingungen in der Sache positiv ist.
Was mir allerdings Sorgen macht, ist die Frage, wo die
Bundesregierung zurzeit im europäischen Konzert spielt.
Man muss sich zum Beispiel nur anschauen, wie der bri-
tische Untersuchungsausschuss massive Kritik an der
Verhandlungsführung der Bundesregierung übt. Wir ha-
ben das auch immer getan. Der Europaausschuss sagt
sehr deutlich, dass diese Form von Geheimdiplomatie,
die wir an vielen Stellen kritisiert haben, dazu führt, dass
die Debatte über diesen Vertragsentwurf nicht mehr ver-
nünftig zu führen ist.

Dann ist die Frage nicht mehr, ob der Entwurf richtig
oder falsch ist; diese Form von Geheimdiplomatie führt
vielmehr dazu, dass das Thema populistisch ausgenutzt
werden kann und eine vernünftige Debatte über den Ver-
trag und die Politik nicht mehr möglich ist. Deswegen
verlangen wir eine transparente Debatte von Anfang an.
Das sollte die Lehre daraus sein. Auch wenn wir in der
Sache nicht auseinander sind: Das Verfahren war
schlecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben von Herrn Krichbaum und anderen gehört,
wie wichtig Zielsetzungen in der Energiepolitik oder in
Bezug auf Europa als Handlungspartner im globalen
Wettbewerb sind, in denen wir übereinstimmen. Aber
die Art und Weise – Barroso hat das, wie ich finde, zu
Recht kritisiert –, wie von Deutschland bzw. von Frank-
reich aus in der Energiepolitik statt einer Öffnung die
Abschottung der Energiemärkte betrieben wird, ist kon-
traproduktiv für die wettbewerbsorientierte Energiepoli-
tik, die wir brauchen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Es ist kontraproduktiv, dass wir nicht in der Lage sind,
zumindest im Bereich der Versorgungspipelines eine
gemeinsame Energieaußenpolitik zu betreiben. Dass
Russland bilateral die einzelnen europäischen Länder
abgreift, kann nicht im Interesse der Europäischen
Union sein. Deutschland spielt in dieser Debatte keine
produktive Rolle. Wir haben viel Engagement aufge-
bracht. Aber derzeit habe ich das Gefühl, dass uns alle
anderen – die Briten, Barroso oder Sarkozy – in der eu-
ropapolitischen Debatte davonlaufen, und wir bilden
gegenwärtig das Schlusslicht.

Ich würde mich freuen, wenn Herr Steinmeier und
Frau Merkel gemeinsam das Engagement aus der Zeit
der Ratspräsidentschaft –


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611811500

Herr Kollege!


Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611811600

– mein letzter Satz – wiederbeleben und in diesem

Hause wieder verstärkt europäische Themen ansprechen
– das gilt besonders für die Ostpolitik, einen Schwer-
punkt ihrer Präsidentschaft, der ein bisschen ins Leere
gelaufen ist –, Ziele vorgeben und diese auf der europäi-
schen Bühne verwirklichen würden. Das ist ein Wunsch,
der über die Verfassung hinausgeht, und es ist auch et-
was, was im deutschen Interesse liegt.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611811700

Das Wort hat der Kollege Michael Roth, SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1611811800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Bundesaußenminister, Sie haben völlig recht: In
den vergangenen Jahren haben sich trotz erheblicher
Schwierigkeiten auf der europäischen Ebene die Pessi-
misten, Blockierer und Verweigerer nicht durchgesetzt.
Das ist sicherlich auch ein Verdienst der Europapoliti-
kerinnen und Europapolitiker der hier vertretenen Frak-
tionen. Denn wir haben immer wieder deutlich gemacht:
Europa ist nicht allein die Angelegenheit von Diploma-
ten, Beamten und Exekutivvertretern; europapolitische
Debatten gehören in die Mitte des Bundestages. Deswe-
gen ist es gut, dass wir heute diese Diskussion führen.






(A) (C)



(B) (D)


Michael Roth (Heringen)

Dennoch bleibt bei all dem Positiven, über das wir
uns heute schon verständigt haben, ein bitterer Beige-
schmack; denn es ist immer noch zu konstatieren, dass
das gemeinsame Fundament an politischen Überzeugun-
gen in der Europäischen Union brüchiger geworden ist.

Das sollte uns aber nicht veranlassen, den Kopf in den
Sand zu stecken. Ich rate vielmehr dazu, einmal den
Blick von außen auf die Europäische Union zu richten.
Das ist auch mein Appell an den Kollegen Dehm. Viel-
leicht sollten Sie, statt nur nach Kuba zu fahren und dort
die Unfreiheit zu loben,


(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)


auch die Länder besuchen, die voller Bewunderung den
europäischen Integrationsprozess verfolgen. Die haben
eine ganz andere Vorstellung von Europa als die, die Sie
uns eben einzureden versucht haben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Europa wird doch nicht als großer Aufrüster wahrge-
nommen, der unilateral seine Interessen durchzusetzen
versucht. Wir werden doch nicht als großer Umweltzer-
störer und diejenigen wahrgenommen, die Unfreiheit
und Ungerechtigkeit zementieren. Ganz im Gegenteil:
Das Modell Europa steht doch gerade dafür, dass wir
wirtschaftliches Wachstum mit sozialer Stabilität und
ökologischer Nachhaltigkeit verknüpfen. Wir haben
zwar auch Lernbedarf und müssen noch besser werden,
es kann aber nicht angehen, dass sich hier Links- und
Rechtspopulisten treffen, einseitig auf Europa eindre-
schen und gar nicht merken, welchen Schaden sie uns al-
len damit zufügen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Martin Zeil [FDP])


Wir brauchen nicht ein schwächeres, sondern ein stärke-
res Europa.

Selbstverständlich ist es legitim, europäische Ent-
scheidungen gegebenenfalls zu kritisieren, wie wir es
immer wieder getan haben. Uns haben manche Geset-
zesinitiativen, die die Europäische Kommission in den
vergangenen Jahren auf den Weg gebracht hat, nicht ge-
schmeckt. Aber wir haben Einfluss zu nehmen versucht.
Wir haben uns an dem Gesetzgebungsprozess aktiv be-
teiligt. Davon lebt die europäische Demokratie. Bei aller
Kritik an dem Verfassungsvertrag bzw. dem jetzigen Re-
formvertrag sind wir in vielen Bereichen ein gutes Stück
vorangekommen.

Offensichtlich muss ich noch ein paar Fakten nennen;
denn ich kann es nicht hinnehmen, dass im Hinblick auf
das Verfahren alles in einen Topf geworfen wird. Wir,
die Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion, hal-
ten das eingeschlagene Verfahren für verbesserungswür-
dig; das ist klar.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es hat eine längere Diskussion darüber gegeben, wie wir
die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregie-
rung konkret zu interpretieren haben. Es war doch ein
gutes Zeichen, dass zumindest die Europapolitiker in al-
len Fraktionen der einhelligen Meinung waren, dass die
Bundesregierung vor einem Beschluss über die Auf-
nahme der Arbeit einer Regierungskonferenz den Bun-
destag um das Einvernehmen ersuchen muss. Es ist nicht
so gelaufen, wie wir uns das vorgestellt haben. Mein
Kollege Schäfer hat sehr frühzeitig auch öffentlich da-
rauf hingewiesen, dass es nicht an uns gescheitert ist,
sondern dass es offensichtlich in der Fraktionsspitze un-
seres Koalitionspartners noch Diskussionsbedarf gab;
das ist nun einmal so. Wir lernen daraus und machen in
unserem fraktionsübergreifenden Antrag noch einmal
deutlich, dass der Bundestag am gesamten Verfahren an-
gemessen beteiligt wird.

Wir müssen in den nächsten Jahren darauf achten,
dass wir die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bun-
desregierung parlamentsfreundlich interpretieren; daran
besteht gar kein Zweifel. Die Signale, die bisher von der
Bundesregierung ausgegangen sind, stimmen mich au-
ßerordentlich optimistisch, dass uns das auch gelingen
wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Denn die Bundesregierung hat in den Verhandlungen
die Position des Deutschen Bundestages Wort für Wort
umzusetzen versucht. Dass das natürlich in einer EU
der 27 nicht so einfach ist, dürfte zumindest den Prag-
matikern und denjenigen, die einmal Koalitionsver-
handlungen – sei es im AStA, sei es woanders – geführt
haben, klar sein.

Ich will noch einige wenige inhaltliche Bemerkungen
zu dem vorliegenden Entwurf des Reformvertrages ma-
chen und dabei zunächst den Rechtsexperten danken. Wir
mussten diesen Weg beschreiten, um das Mandat, auf das
sich der Junigipfel glücklicherweise verständigt hat, weit-
gehend zu retten. Es strotzt sicherlich nicht gerade vor
parlamentarischer Beteiligung. Aber wir alle wussten,
dass vor dem Hintergrund der erheblichen Auseinander-
setzungen zwischen den Staats- und Regierungschefs
nicht mehr drin war und dass es ein großer Erfolg der
deutschen Ratspräsidentschaft war, zumindest ein eng
umfasstes Mandat erreicht zu haben, das nun von Rechts-
experten weitgehend umgesetzt wurde.

Es gibt noch einige wenige offene Fragen. Diese soll-
ten im Sinne des Reformvertrages geklärt werden. Des-
halb ein klares Nein an die Forderungen vor allem der
polnischen Seite! Die Ioannina-Regelung sollte – sie ist
in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt – das blei-
ben, was sie ist: ein Gentlemen’s Agreement. Es bedeu-
tet, dass man sich im Rat auch bei den Entscheidungen,
die mit Mehrheit getroffen werden, um eine möglichst
breite Zustimmung bemüht. Das ist der Versuch, euro-
päische Entscheidungen auf ein breites Legitimations-
fundament zu stellen. Aber es sollte nicht auch noch in
den Reformvertrag aufgenommen werden. Dort steht
schon – das gebe ich zu – die eine oder andere Abstrusi-
tät drin. Selbstverständlich ist der Reformvertrag in den
vergangenen Monaten nicht transparenter geworden.
Wenn wir aber Bilanz ziehen, stellen wir fest – das will
ich unterstreichen –, dass das Ergebnis auch für die






(A) (C)



(B) (D)


Michael Roth (Heringen)

Freundinnen und Freunde eines vereinten sowie demo-
kratisch und sozial verfassten Europas akzeptabel ist.
Deswegen können wir zustimmen.

Natürlich sehe ich mit Sorge, dass die Opt-outs und
Opt-ins, die auf Druck der Briten hineingekommen sind,
nicht gerade zur Klarheit beitragen. Wir müssen uns
auch fragen, wo eigentlich die parlamentarische Kon-
trolle gerade in dem sensiblen Bereich der Innen- und
Justizpolitik bleibt. Auch ich bin nicht mit allem einver-
standen. Aber wir alle wissen: Wir sind nicht alleine in
diesem Team. Umso wichtiger ist es, dass die Staats- und
Regierungschefs nicht noch einmal Zugeständnisse ma-
chen, dass die Zahl der Opt-outs nicht ausgeweitet wird,
dass die Ioannina-Regel nicht in den Vertrag aufgenom-
men wird und dass wir uns bei den notwendigen Über-
gangsregelungen auf eine möglichst parlamentsfreundli-
che Vereinbarung verständigen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist der Maßstab!)


Wir wissen, es dürfte einige Schwierigkeiten geben,
wenn der Reformvertrag wirklich Anfang 2009 in Kraft
tritt. Das wird vor den Wahlen zum Europäischen Parla-
ment sein. Wir haben die Neubenennung des Ratsvorsit-
zenden und des Hohen Repräsentanten, des ehemals so-
genannten europäischen Außenministers, und bestimmte
Regelungen eingeführt, die wir in dem Sinne interpretie-
ren sollten, –


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611811900

Herr Kollege Roth!


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1611812000

– dass die Rechte des Europäischen Parlaments nicht

eingeschränkt werden und auch der Kommissionspräsi-
dent im Lichte der Ergebnisse der Wahl des Europäi-
schen Parlaments bestallt wird. Auch das ist ein Stück
Demokratie.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611812100

Herr Kollege Roth, kommen Sie bitte zum Schluss.


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1611812200

Ich wünsche der Bundesregierung alles Gute für die

nächste Woche, und ich hoffe auf ein gutes Ergebnis.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611812300

Ich gebe das Wort dem Kollegen Martin Zeil, FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Martin Zeil (FDP):
Rede ID: ID1611812400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ja, wir wollten die EU-Verfassung, weil wir
wollen, dass Europa endlich effizienter und handlungsfä-
higer wird. Gemessen daran weist dieser Vertrag, wie er
jetzt vorliegt, Defizite auf, die wir in unserem Antrag be-
nannt haben. Wir wissen auch, dass er noch längst nicht
in trockenen Tüchern ist. Deswegen möchte ich die Bun-
desregierung von uns aus eindringlich bitten, in der
nächsten Woche, wenn der informelle Rat zusammen-
tritt, auf jeden Fall standhaft zu bleiben, keine weiteren
Abweichungen zuzulassen und keinen Versuchungen an-
gesichts gewisser Wahltermine in anderen Ländern
nachzugeben.


(Beifall bei der FDP)


So erfreulich es ist, dass jetzt überhaupt ein Vertrags-
werk vorliegt, so unerfreulich sind aus unserer Sicht ei-
nige wirtschaftspolitische Weichenstellungen. Es geht
um das Bekenntnis zu einem Kernstück der marktwirt-
schaftlichen Ordnung in Europa, und das ist der freie
und unverfälschte Wettbewerb. In dem Entwurf für die
Verfassung war dieser noch eines der Hauptziele der EU.
Jetzt taucht er nur noch in einer Protokollnotiz auf.


(Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


– Herr Kollege Dehm, ich weiß, dass Sie das nicht beun-
ruhigt, weil Sie in einem System des realen Sozialismus
von Marktwirtschaft und Wettbewerb nicht viel halten.


(Lachen bei der LINKEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Genau!)


Aber jeden Anhänger der sozialen Marktwirtschaft muss
dies beunruhigen.


(Beifall bei der FDP)


Der Vorstoß war nicht überraschend; denn er kommt
aus der Tradition eines Ludwig XIV. Genau dies ist aber
besorgniserregend – Herr Kollege Krichbaum hat vorhin
von der Wettbewerbskraft Europas gesprochen, das ist
genau der Punkt – dieser Angriff auf marktwirtschaftli-
che Prinzipien stößt in der Europäischen Union kaum
auf Widerstand. Es geht ja immerhin um einen Grund-
pfeiler, es geht um die Wettbewerbsphilosophie, die Sie,
Herr Kollege Dehm, nicht teilen, die aber 50 Jahre lang
eine strukturbestimmende


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Soziale Marktwirtschaft! Das ist ein Unterschied!)


und sehr freiheitliche Funktion in der Europäischen Ge-
meinschaft hatte.


(Beifall bei der FDP)


Frau Merkel wurde noch im Februar 2007 mit dem schö-
nen Satz zitiert: „Ich vertrete das Prinzip Wettbewerb
mit großer Leidenschaft.“ Von dieser Leidenschaft war
bei diesen Verhandlungen nichts zu spüren; denn die
Bundesregierung ist dieser doch sehr fundamentalen Än-
derung überhaupt nicht entschieden entgegengetreten.
Im Antrag der Koalitionsfraktionen – auch dies spricht
Bände – wird das Thema überhaupt nicht erwähnt.

Wir müssen grundsätzlich mit großer Sorge sehen,
dass das Pendel ohne klare Position der Bundesregierung
von Marktwirtschaft in Richtung zu mehr Protektionis-
mus und Staatswirtschaft ausschlägt. Diese Tendenz ha-
ben wir ebenfalls bei den Verhandlungen über die EU-






(A) (C)



(B) (D)


Martin Zeil
Dienstleistungsrichtlinie gesehen. Diese Bestrebungen
sind auch von der französischen Seite industriepolitisch
motiviert: Die Kommission soll auch bei der Genehmi-
gung von Fusionen Wettbewerbsaspekte zurückstellen.
Aber – das muss uns einen – wenn sich Europa einmal
auf den Pfad des Protektionismus begibt, ist die Erosion
der marktwirtschaftlichen Ordnung nicht mehr aufzuhal-
ten.

Es ist auch ein großes Problem, Herr Kollege, dass
wir uns offensichtlich innerhalb der Europäischen Union
über ein einheitliches europäisches Wirtschafts- und So-
zialmodell nicht verständigen können. Die Debatte wird
nicht offen geführt. Die Regierungen sind in dieser
Frage sehr stark zerstritten und schwanken zwischen der
Befürwortung freier Märkte und einem starken Interven-
tionismus hin und her. Von dort ist es dann nicht mehr
weit zu den Schutz- und Abschottungsmaßnahmen zur
Gestaltung der Globalisierung: gegen ausländische In-
vestoren, zur Beschränkung des Kapitalverkehrs.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611812500

Herr Kollege!


Martin Zeil (FDP):
Rede ID: ID1611812600

Ich komme zum Schluss. – Das hätte in der Tat fatale

Folgen. Europa muss sich entscheiden. Es ist dringend
geboten, die marktwirtschaftlichen Prinzipien von Wett-
bewerb, Transparenz und Gegenseitigkeit weltweit zu
exportieren, anstatt das Heil in immer mehr Protektionis-
mus zu suchen.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611812700

Nächster Redner ist Kollege Thomas Silberhorn von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1611812800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ich das Klein-Klein im Verlauf dieser europapoli-
tischen Debatte betrachte, meine ich schon, wir laufen
Gefahr, in Themen abzugleiten, die eher das europapoli-
tische Alltagsgeschäft betreffen, und verkennen dabei,
vor welcher Herausforderung wir jetzt stehen. Wer hätte
Anfang des Jahres gedacht, dass wir heute in der Lage
sein werden, über einen Reformvertrag zu diskutieren,
der bereits am 18./19. Oktober von allen Mitgliedstaaten
unterzeichnet werden soll?

Wir sollten unsere Kraft darauf richten, das, was die
deutsche Ratspräsidentschaft vorbereitet hat, jetzt tat-
sächlich zum Erfolg zu führen. Wir haben nach dem
Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags die
große Chance, nun die Reform der Europäischen Union
durchzusetzen. Das muss unser Hauptanliegen sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich will gerne die Kritik aufgreifen, die im Hinblick
auf unsere Zusammenarbeitsvereinbarung mit der Bun-
desregierung verschiedentlich formuliert worden ist. Ich
will dabei den Blick nicht zurück richten, jedoch die Ge-
legenheit nutzen, deutlich zu machen, wie meine Frak-
tion diese Vereinbarung interpretiert: Dabei müssen
beide, Bundesregierung und Bundestag, zusammenwir-
ken. Aufgabe der Bundesregierung ist es nicht, den Bun-
destag bloß zu unterrichten, sondern wir erwarten ein
förmliches Ersuchen um Einvernehmen mit dem Mandat
einer Regierungskonferenz. Es ist auch wichtig festzu-
stellen, dass die Bundesregierung nicht erst auf Wider-
spruch seitens des Bundestags reagieren darf, sondern
von sich aus um dieses Einvernehmen ersuchen muss.

Dabei genügt es schließlich nicht, uns eine allgemeine
Beschreibung des Mandats zu übermitteln, sondern uns
muss das vorliegende Mandat zur Verfügung gestellt
werden, auf dessen Grundlage wir überhaupt erst beur-
teilen können, ob wir das Einvernehmen zu der Einberu-
fung einer Regierungskonferenz erteilen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Den zweiten Part hat aber dieses Haus zu spielen. Der
Deutsche Bundestag muss sich darauf verständigen
– alle Fraktionen dieses Hauses –, dieses Einvernehmen
vor Einsetzen einer Regierungskonferenz zu erteilen,
und zwar in Form einer Entschließung, die wir hier ge-
meinsam diskutieren. Wir sollten uns auch die Möglich-
keit offen halten, während der laufenden Regierungskon-
ferenz weiterhin Stellungnahmen zu beschließen, sodass
die Bundesregierung im schlimmsten Fall sogar einen
Parlamentsvorbehalt in die Regierungskonferenz ein-
bringen und damit ihre eigene Verhandlungsposition
stärken kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das wäre der richtige Weg, mit der Zusammenarbeits-
vereinbarung umzugehen.

Wir bringen mit unserem Antrag unser Einvernehmen
mit dem Standpunkt der Bundesregierung zum Aus-
druck. Es ist gelungen, die Substanz des Verfassungsver-
trages zu erhalten. Hin und wieder wird kritisiert, dass
Abstriche vorgenommen worden sind, zum Beispiel bei
Übergangsregelungen hinsichtlich der Stimmengewich-
tung im Rat oder hinsichtlich der Grundrechte-Charta.
Ich glaube, es ist wichtig, zu sehen, dass diese Sonderre-
gelungen dazu beitragen sollen, dass das Vertragswerk
am Ende auch wirklich die Zustimmung in allen Mit-
gliedstaaten findet. Deswegen muss man mit der Hin-
nahme dieser Abstriche schon die klare Erwartung ver-
binden, dass alle Regierungen, die diesen Kompromiss
eingehen wollen, in ihren Ländern konstruktiv daran
mitwirken, dass die Ratifikation zustande kommt. Das
gilt für alle Mitgliedstaaten, namentlich für Großbritan-
nien und Polen. Diese Erwartung muss man jetzt deut-
lich formulieren, bevor man am 18./19. Oktober einen
Kompromiss schließen kann.

Die Wünsche nach Sonderregelungen gehen aller-
dings so weit, dass man versucht, das Mehrheitsverfah-
ren im Rat – es wurde im Verlauf der Geschichte deut-
lich ausgeweitet – zu konterkarieren, indem man durch
einen besonderen Mechanismus faktisch ein Minderhei-
tenvotum einführt. Das würde dem Ziel des Reformver-






(A) (C)



(B) (D)


Thomas Silberhorn
trags und auch den Reformen der letzten Jahre natürlich
völlig widersprechen. Wir können keine Sonderregelun-
gen hinnehmen, die unserer grundlegenden Ausrichtung
völlig zuwiderlaufen. Wir treten deshalb dafür ein – das
ist wichtig –, dass es im Zusammenhang mit den Bera-
tungen über den Ioannina-Mechanismus dabei bleibt,
dass Polen dem Vertrag eine Erklärung anhängen kann;
wir können uns aber nicht damit einverstanden erklären,
dass diese Erklärung in den Vertragstext aufgenommen
wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Lassen Sie mich noch ein Thema ansprechen, das aus
deutscher Sicht meines Erachtens in den nächsten zwei
Wochen noch einmal diskutiert werden muss. Dieser
Vertrag sieht vor, dass die Anzahl der Sitze im Europäi-
schen Parlament auf insgesamt 750 und auf 96 pro Mit-
gliedstaat begrenzt wird. Es soll ausdrücklich festge-
schrieben werden, dass die Sitze im Europäischen
Parlament degressiv proportional verteilt werden. Das
heißt – das ist neu –, je größer ein Mitgliedstaat ist, desto
weniger repräsentativ wird seine Bevölkerung im Euro-
päischen Parlament vertreten sein. Mit jeder neuen Er-
weiterung wird diese Repräsentativität weiter abnehmen,
und das geht natürlich zulasten der großen Mitgliedstaa-
ten, namentlich zulasten Deutschlands.

Diese Regelung steht in einem ganz klaren inneren
Zusammenhang mit der Errichtung der doppelten Mehr-
heit im Rat. Doppelte Mehrheit bedeutet, dass für Ent-
scheidungen des Rats nicht nur die Mehrheit der Mit-
gliedstaaten, sondern auch eine Bevölkerungsmehrheit
vorhanden sein muss. Auf diese Weise kommt das Ge-
wicht der Bevölkerungen im Rat zum Tragen. Wenn die
Einführung des Mechanismus der doppelten Mehrheit
im Rat bis 2014 verschoben werden soll, dann sehe ich
keinen Grund, weshalb wir einer Verschlechterung der
Repräsentativität im Europäischen Parlament schon ab
2009 einseitig zustimmen sollten. Deswegen plädiere ich
dafür, dass wir die neue Sitzverteilung im Europäischen
Parlament, der wir im Grundsatz zustimmen, erst dann
einführen, wenn das Gewicht der Bevölkerungen auch
im Rat tatsächlich stärker zum Tragen kommt, indem
2014 das Prinzip der doppelten Mehrheit eingeführt
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich glaube, dass wir das in den Verhandlungen nochmals
auf den Tisch legen müssen.

Ich will gern das Verfahren der genauen Verteilung
der Sitze – es wird zurzeit im Europäischen Parlament
beraten – ansprechen. Der Vorschlag, der morgen wahr-
scheinlich eine Mehrheit finden wird, läuft darauf hi-
naus, dass viele kleine und mittelgroße Staaten ganz gut
bedacht werden. Er hat aber den großen Makel, dass die
Sitzverteilung im Europäischen Parlament bei jeder Er-
weiterung komplett neu verhandelt werden müsste. Ich
meine, auch das müsste in unserem Interesse nochmals
diskutiert werden. Ich würde ein im Deutschen Bundes-
tag entsprechend angewandtes Verfahren bevorzugen
– die Abgeordneten der Union im Europäischen Parla-
ment haben einen entsprechenden Vorschlag gemacht –,
nach dem die Verteilung der Sitze auf die einzelnen Mit-
gliedstaaten im Vorhinein festgelegt wird, sodass nicht
mit jedem Erweiterungsschritt komplett neu darüber ver-
handelt werden muss, welcher Mitgliedstaat wie viele
Sitze bekommt. Ich meine, dass wir auch dieses Thema
in unserem Interesse nochmals aufgreifen müssen.

Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Die
Kompetenzneuordnung in diesem Vertrag ist aus meiner
Sicht ein wesentlicher Fortschritt. Es gibt eine Reihe von
Klarstellungen, dass die Europäische Union ausschließ-
lich Kompetenzen wahrnehmen darf, die ihr übertragen
worden sind, und dass Kompetenzerweiterungen nicht
im Wege faktischer Vertragsänderungen, sondern nur
durch förmliche Vertragsänderungen stattfinden dürfen.
Es ist auch ein Fortschritt, dass das Subsidiaritätsprinzip
genauer gefasst wird und dass die Europäische Union
nicht einfach dann tätig werden darf, wenn die europäi-
sche Ebene selbst der Auffassung ist, dass sie es besser
kann, sondern nur dann, wenn die Mitgliedstaaten eine
Aufgabe nicht ausreichend bewältigen können. Und da-
her – so die Klarstellung im Vertrag – besser die EU tätig
wird. Nur dann ist eine europäische Kompentenz be-
gründet.

Vor diesem Hintergrund überrascht mich schon, was
Kommissionspräsident Barroso zum Subsidiaritätsprin-
zip gesagt hat. Natürlich ist es eine Schranke für die
Kompetenzausübung der Europäischen Union, aber es
ist nicht gegen die europäischen Einrichtungen gerichtet.
Es soll dazu beitragen, dass das, was auf europäischer
Ebene beraten und beschlossen wird, tatsächlich auf Ak-
zeptanz bei den Mitgliedstaaten trifft. Nur bei diesem
Verständnis macht es Sinn, dass die nationalen Parla-
mente stärker beteiligt werden und eine explizite Auf-
gabe in der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritäts-
prinzips wahrnehmen sollen.

Ich denke, dass wir diese Vorstellung vom Subsidiari-
tätsprinzip in der laufenden Debatte noch einmal sehr
klar formulieren sollten und bei einem Erfolg des Ver-
handlungsprozesses in der Umsetzung der europäischen
Rechtsetzung vertreten und einbringen müssen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611812900

Ich gebe das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin,

Bündnis 90/Die Grünen.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611813000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber

Kollege Silberhorn, ich kann fast alles unterschreiben,
was Ihre Interpretation dessen betrifft, was notwendig
ist, bevor diese Regierung bzw. Herr Steinmeier Ver-
handlungen beginnt. Er müsste nämlich um das Einver-
nehmen des Hauses bitten.


(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Die Regierung insgesamt!)


Das ist eine richtige Position.






(A) (C)



(B) (D)


Jürgen Trittin

(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Nur, was Sie hier nicht erwähnt haben, Herr Silberhorn
– das macht Ihren Antrag so peinlich –, ist, dass es Ihr
Fraktionsvorsitzender gewesen ist, der diese richtige An-
forderung des Parlamentes abgeblockt hat,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Richtig! – Dr. Werner Hoyer [FDP]: So ist es! – Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Wahrheit!)


weswegen wir uns heute mit der absurden Situation he-
rumschlagen müssen, zu Verhandlungen über einen Ver-
trag, der inzwischen sogar schon von den Sprachjuristen
ausgearbeitet wird, nachträglich das Einvernehmen zu
erteilen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Das ist nicht mein Verständnis von parlamentarischem
Selbstbewusstsein. Ich würde mir wünschen, lieber Herr
Silberhorn, dass Sie es bewerkstelligen, dass die Lern-
prozesse bei Herrn Kauder, was die Rechte des Parla-
ments angeht, künftig schneller vonstatten gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP] und des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Zweite Bemerkung. Man soll in einer solchen Debatte
keine Pappkameraden aufbauen. Es ist tatsächlich so,
dass die Frage des Wettbewerbs in Europa eine ganz
zentrale Rolle spielt. Die Sicherstellung des Wettbe-
werbs ist eine Schlüsselfrage für das Funktionieren der
Europäischen Gemeinschaft. Das ist auch ein Stück weit
ein Friedensansatz. Trotzdem bleibt der Satz richtig,
dass die Sicherstellung des unverfälschten Wettbewerbs
eine dauerhafte Aufgabe der Kommission, aber kein Ziel
der Europäischen Gemeinschaft ist. Es ist ein Mittel zum
Zweck. Deswegen ist die jetzige Positionierung, dies
aufzunehmen und klarzustellen, dass die Kommission
das Recht hat, auf einen unverfälschten Wettbewerb zu
dringen, richtig. Das ist – an dieser Stelle muss ich Herrn
Barroso recht geben – schon eine Mahnung an die Bun-
desregierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihre Position ist, in der Energiepolitik beispielsweise
das Unbundling von Betrieb, Netzen und Produktion
nicht umzusetzen. Das behindert den Wettbewerb inner-
halb Europas. Hier kommt die Kommission, gestützt
auch auf die Bestimmungen des neuen Reformvertrages,
zu Recht ihrer Aufgabe nach. An dieser Stelle verhält
sich die sonst hochgelobte Bundesregierung, was
Europafragen angeht, nicht im Geist des Vertrages, den
wir heute hier in der Substanz begrüßen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])


Letzte Bemerkung. Wenn man so etwas wie einen sol-
chen Vertrag beurteilt, muss man immer schauen, was
die Alternative ist. Das ist meines Erachtens in Ihrer
Rede zu kurz gekommen, lieber Diether Dehm. Wenn
ich mich mit diesem Vertragsentwurf zu beschäftigen
habe, ist die Messlatte doch der jetzige Rechtszustand,
die jetzige Verfasstheit der Europäischen Union. Ich bin
damit unzufrieden, dass wir nicht die Kraft hatten, das,
wofür wir in Europa stehen, nämlich für einen ambitio-
nierten Grundrechtekatalog – übrigens ausgestattet mit
viel besseren sozialen Rechten, als sie im Grundgesetz
stehen –, explizit in den Vertrag hineinzuschreiben.

Wenn ich aber einen Strich darunter ziehe und mich
frage, wer durch diesen Vertrag gestärkt worden ist,
stelle ich doch fest: Gestärkt worden ist das Europäische
Parlament. Der gesamte Bereich der Justiz- und Innen-
politik wird künftig in den Bereich der Mitentscheidung
fallen. Da gibt es mehr Demokratie und nicht weniger
Demokratie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gestärkt worden sind die nationalen Parlamente, die
künftig früher, wenn sie denn das Selbstbewusstsein von
Herrn Silberhorn und nicht das von Herrn Kauder haben,
bei solchen Fragestellungen entsprechend eingreifen
können. Gestärkt werden schließlich die Rechte der Bür-
gerinnen und Bürger in Europa. Wenn 1 Million Men-
schen in Europa eine Initiative ergreifen, wird die Kom-
mission darauf reagieren müssen. Das heißt, es gibt zum
ersten Mal in der Geschichte der EU eine Art Volksbe-
gehren.

Ich finde, für dieses Mehr an Demokratie lohnt es
sich, sich auf die schwierige Suche nach Kompromissen
zu machen, die Ihnen, Herr Außenminister, ja noch be-
vorsteht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611813100

Nächster Redner ist der Kollege Kurt Bodewig, SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Kurt Bodewig (SPD):
Rede ID: ID1611813200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Den Schlussausführungen des Kollegen Trittin kann ich
mich nur anschließen.

Ich glaube, wir sollten einmal kurz zurückblicken.
Was war denn vor einem Dreivierteljahr? Da gab es eine
Reflexionsphase, in der nicht reflektiert wurde, sondern
in der das Verfassungsprojekt einfach zur Seite gelegt
wurde. Das war vor einem Dreivierteljahr. Es ist eine un-
geheure Leistung der deutschen Ratspräsidentschaft und
der Bundeskanzlerin, aber auch des jetzt hier anwesen-
den Bundesaußenministers – er hat in vielen, zum Teil
nächtelangen Gesprächen über Wochen hinweg eben-
falls dafür gesorgt –, dass Kompromisse gefunden wur-
den.

Es ist so, dass wir jetzt keinen Verfassungsvertrag,
sondern einen Reformvertrag haben. Aber die Substanz






(A) (C)



(B) (D)


Kurt Bodewig
ist erhalten geblieben. Das ist eigentlich der entschei-
dende Punkt. Deswegen tut sich ja heute die Opposition
etwas schwer; sie spricht dann über Verfahren. Ich
glaube allerdings, dass wir mit der Entschließung vom
14. Juni der Regierung ein deutliches Mandat erteilt ha-
ben. Wenn ich diese Entschließung mit dem abgleiche,
was nun herausgekommen ist, dann stelle ich fest, dass
90 Prozent erhalten geblieben sind. Das war ja die Auf-
gabe. Wenn wir mal ganz ehrlich sind, müssen wir uns
doch eingestehen, dass viele im Juni anderer Meinung
gewesen wären, wenn sie damals die berechtigte Erwar-
tung gehabt hätten, dass dieses Ergebnis erreichbar ge-
wesen wäre. Wir sollten so ehrlich sein, uns einzugeste-
hen, dass wir mit diesem Erfolg nicht gerechnet haben.
Auch das sollte man einmal unterstreichen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Jetzt will ich einmal auf die sehr krude Konstruktion
des Kollegen Dehm und seinen Popanz um den Milita-
rismus eingehen.


(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Nein! Lohnt doch nicht!)


Ich habe noch nie von dem Konstrukt gehört, dass es ei-
nen Kriegsauftrag darstelle, wenn man Normierungen
vornehme. Es gilt vielmehr das Gegenteil: Dank der
Gründung der Europäischen Union ist diesem Teil Euro-
pas die längste Phase der Abwesenheit von Krieg, die
wir je hatten, zuteilgeworden.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dieser Frieden ist wirklich ein Resultat der Europäi-
schen Union.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was ist im Kosovo?)


Wenn man das nicht begreifen will, dann sollte man we-
nigstens nicht populistisch denen in die Hände arbeiten,
die die demokratischen Grundsätze dieser Gesellschaft
infrage stellen. Genau das geschieht aber.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dann komme ich zu der Ungeheuerlichkeit der Um-
deutung der Aussagen von Elmar Brok, der ja nicht ein-
mal meiner Partei angehört, die hier vorgenommen wor-
den ist. Ich halte das für eine Unverschämtheit;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein, das hat er so gesagt! Das habe ich so mitgeschrieben!)


denn Elmar Brok hat im Ausschuss sinngemäß Folgen-
des – und das zu Recht – gesagt: Teile der französischen
Linken, unterstützt von der extremen Rechten Frank-
reichs, haben das Referendum dazu benutzt, einen Ver-
fassungsvertrag, der in sich schlüssig und kompakt war,
infrage zu stellen. Das Ergebnis ist jetzt, dass Trans-
parenz verloren gegangen ist. Statt 500 Seiten sind es
3 000 mit einer Vielzahl von Verweisen und einzelnen
Abschnitten.
Das ist dabei herausgekommen. Ich glaube der PDS
bzw. der Linken nicht, wenn sie sagt, dass es ihr um die
genannten beiden Kernfragen geht. Es geht ihr vielmehr
darum, hier etwas abzulehnen und populistisch
Meinungsmache gegen Europa zu betreiben. Ich habe
generell etwas gegen Populisten, weil sie keine Verant-
wortung zeigen und ihre politische Aufgabe nicht wahr-
nehmen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Ich will nur daran erinnern, dass wir über den jetzt
eingeschlagenen Umweg die Arbeitsweise der Europäi-
schen Union vertraglich festgeschrieben haben. So ist in
Art. 136 der Sozialdialog enthalten. Es gibt ein eigenes
Kapitel zur Sozialpolitik. Ich glaube, damit können wir
argumentieren.

Zur Grundrechtecharta möchte ich sagen: Es handelt
sich dabei um ein britisches Problem. Wenn eine Regie-
rung ihren Bürgern Grundrechte verwehrt, muss sie die-
sen Konflikt im eigenen Land austragen. Ich sage aber
auch, dass wir es über diesen Umweg sehr reell geschafft
haben, die Grundrechtecharta in Europa verbindlich zu
machen. Das ist das, was wir wollen. Das ist eine sehr
starke soziale Komponente. Man sollte das eine oder an-
dere Vorurteil wirklich aus der Diskussion herausneh-
men.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich will noch einen zweiten Punkt ansprechen. Ich
glaube, dass die polnische Regierung die Illusion hatte,
Größe mit Sitzen zu verbinden. Wir haben uns mit der
Quadratwurzel beschäftigen müssen. Ich war ja ganz
froh, dass sie nicht noch einen Zwillingsbonus gefordert
hat.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Und jetzt kommt der Ioannina-Kompromiss. Das ist ein
Gentleman’s Agreement. Ich kann dazu nur sagen: Ich
glaube, dass die polnische Regierung mit dem Renom-
mee ihres Landes spielt. Ich bin mir sicher, dass diese
Regierung nicht für ihre Bevölkerung spricht. Denn alle
Umfragen zeigen: Die polnische Bevölkerung ist pro-
europäisch und will ein starkes Europa und nicht eines,
das zerfasert.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich kann gut damit leben, dass wir darüber nachdenken,
ob eine Erweiterung nicht mehr Generalanwälte beim
EuGH erforderlich macht; denn das ist ein allgemeiner
Grundsatz. Aber Spezialforderungen, etwa Vetorechte an
jeder Stelle zu implementieren, um die Handlungsfähig-
keit Europas einzuschränken, lassen bei dieser Regie-
rung eine mangelnde Integrationsfähigkeit erkennen.

Wir haben ein anderes Problem, nämlich dass manche
Mitgliedstaaten – dabei schaue ich einmal über den Ka-
nal – Europa nicht als Integrationsprojekt sehen, sondern
als eine große Freihandelszone. Ich glaube aber, Europa
ist stark und kann seine Funktion wahrnehmen, weil es






(A) (C)



(B) (D)


Kurt Bodewig
ein Integrationsprojekt ist. Deswegen hat Juncker etwas
unrecht, wenn er sagt, für 50 Prozent der Europäer sei in
der Verfassung zu viel Europa gewesen und für
50 Prozent zu wenig. Ich würde sagen, es ist für mindes-
tens 70 Prozent zu wenig und für 30 Prozent zu viel ge-
wesen. Denn zwei Drittel der Mitgliedstaaten hatten rati-
fiziert, und wir alle müssen diesen Prozess jetzt
wiederholen.

Deshalb fände ich es ganz gut, wenn wir im Sinne der
Identifikation mit Europa, die sich in vielen Symbolen
widerspiegelt – in der Flagge, der Hymne, dem Euro, der
übrigens von den 300 Millionen betroffenen Menschen
in Europa sehr wohl angenommen wird; darüber hinaus
haben wir das Problem, dass er auch anderswo äußerst
attraktiv ist; im Europatag, in einem Leitspruch –, dieje-
nigen, die nicht Euroskeptiker, sondern Integrationsbe-
fürworter sind, vielleicht motivieren können, diese
Symbole in jeweiligen nationalen Begleitgesetzen fest-
zusetzen. Wir sollten im Deutschen Bundestag beschlie-
ßen, das in die nationale Gesetzgebung einfließen zu las-
sen, um deutlich zu machen, dass neben der deutschen
Fahne zu Recht die europäische Fahne steht. Ich glaube,
damit würde man ein bisschen Spreu vom Weizen tren-
nen; dann ist man auch fairer in der europäischen Dis-
kussion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611813300

Herr Kollege Bodewig, der Herr Kollege Dehm

würde gern eine Zwischenfrage stellen.


Kurt Bodewig (SPD):
Rede ID: ID1611813400

Ja, eine nehmen wir.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sonst leidet das Niveau wieder!)



Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611813500

Es sind trotzdem zwei, wenn Sie gestatten; aber ich

mache es ganz kurz.


Kurt Bodewig (SPD):
Rede ID: ID1611813600

Ich hatte es schon vermutet.


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611813700

Sie haben die Formulierung von Elmar Brok so ähn-

lich wiedergegeben, wie auch ich sie im Ohr habe. Als
Ergebnis der gescheiterten Referenden in den Niederlan-
den und Frankreich ist Transparenz aus der Verfassung
herausgenommen worden. Wäre nicht mehr Transparenz
die richtige Antwort gewesen, und war das nicht auch
die Vorgabe durch die drei Ds, die in das Kommunika-
tionsverfahren aufgenommen werden sollten?

Zweitens. Weil ich nicht der Meinung bin, dass zum
Beispiel das Deutsche Reich allein deswegen ein Kon-
strukt des Friedens war – das war es ja nicht –, weil bei
seiner Gründung die Kriege zwischen einzelnen Ländern
aufhörten, habe ich die Frage, ob Sie, wenn Sie von der
Abwesenheit von Krieg in Europa sprechen, den Koso-
vokrieg ausblenden und ob Sie sich zum anderen vorstel-
len könnten, dass die Formulierung, militärische Fähig-
keiten schrittweise zu verbessern, auch in Richtung
Abrüstung und nicht in Richtung Aufrüstung gedeutet
werden könnte. Wenn ja, warum schreibt man es dann
nicht in den Vertrag hinein?


Kurt Bodewig (SPD):
Rede ID: ID1611813800

Ich habe nichts gegen Abrüstung; das wissen alle. Ich

glaube, dass Rüstung nicht unbedingt der produktivste
Wert einer Gesellschaft ist. Gegen Abrüstung hat in die-
sem Hause wohl kein einziger Abgeordneter etwas ein-
zuwenden.

Zweitens. Ich habe davon gesprochen, dass in diesem
Raum Europas die längste Phase der Abwesenheit von
Krieg herrscht. Deswegen – genau das zeigt das Beispiel
Kosovo – sind die Länder im Westbalkan so daran inte-
ressiert, Teil des europäischen Integrationsprojektes zu
werden. Allein eine weite Perspektive führt dazu, dass
Kampfhandlungen dort minimiert worden sind und dass
Zivilgesellschaften sich wieder neu errichten. Das ist die
beste Argumentation dafür, dass das Konstrukt Europäi-
sche Union genau der Friedensgarant ist, den wir haben
wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Drittens. Ich möchte noch etwas zu den Ausführun-
gen von Elmar Brok sagen. Er hat sehr deutlich gemacht,
dass es in Frankreich gar nicht um die europäische Frage
ging. Einzelne haben dieses Thema aus innenpolitischen
Gründen instrumentalisiert. Ich selber habe an Podiums-
diskussionen in Frankreich teilgenommen und weiß da-
her, dass es da nicht um Europa, sondern um Chirac und
andere Personen ging. Manche, die vorher in der Regie-
rungsverantwortung waren, haben sich eines Populismus
befleißigt, den ich für nicht verantwortlich halte. Das
war die Situation in Frankreich. Es hätte eine Phase der
Reflexion geben sollen. Wir haben festgestellt, dass alle
auf Deutschland geschaut haben, weil eine starke Präsi-
dentschaft die letzte Chance war, den Verfassungspro-
zess wieder in Gang zu bringen. Genau das ist gelungen.
Darauf können wir stolz sein.

Diese drei Punkte, die sich auf Ihre Fragen beziehen,
weisen darauf hin, dass die EU für die Gesellschaften in
Europa und für die globale Friedensentwicklung absolut
notwendig ist. – Vielen Dank, für Ihre Fragen. Sie dürfen
sich jetzt gerne wieder setzen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


In den letzten anderthalb Minuten meiner Rede
möchte ich noch einige kritische Punkte ansprechen. Bei
allem Dank an die Rechtsexperten gibt es noch einige
Probleme, die nicht nur technischer Natur sind. Ich
nenne nur ein einziges Beispiel. In der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik geht es unter anderem um
Fluggastdaten im Rahmen eines Abkommens zwischen
Europa und den USA. Die Situation ist so, dass es eine
parlamentarische Kontrolle nicht geben wird. Das EP
und auch der EuGH können sich damit nicht befassen,
weil es eine rein intergouvernementale Angelegenheit






(A) (C)



(B) (D)


Kurt Bodewig
ist. Das halte ich für falsch. Ich möchte Sie daher bitten,
darauf ein besonderes Augenmerk zu legen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich weiß, es wird in der Schlussphase noch schwie-
rige Verhandlungen geben. Aber ich denke, dass
Deutschland aufgrund der während der Präsidentschaft
gewonnenen Erfahrungen die Portugiesen darin unter-
stützen kann, dass das, was in Berlin erarbeitet worden
ist, in Lissabon in einen anspruchsvollen Vertrag mün-
det. Wir wünschen uns das. Ihnen, Herr Außenminister,
wünschen wir allen Erfolg.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611813900

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Dr. Stephan Eisel, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Stephan Eisel (CDU):
Rede ID: ID1611814000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir die Bürger für die europäische Idee weiter be-
geistern wollen, dann müssen wir uns immer wieder der
Frage zuwenden, warum die europäische Einigung not-
wendig bleibt. Denn wir haben es mit dem merkwürdi-
gen Phänomen zu tun, dass der Erfolg der europäischen
Einigung teilweise die Motivation der Bürger erschwert,
weil dieser Erfolg als selbstverständlich erachtet wird.

Die Motivation der Gründergeneration „Nie wieder
Krieg! Nie wieder Diktatur!“ hat zum Erfolg der Euro-
päischen Union geführt. In diesen Wochen feiern die ers-
ten Städtepartnerschaften ihr 60-jähriges Jubiläum. Ich
nenne nur die erste deutsch-englische Städtepartner-
schaft zwischen Oxford und Bonn. Ich glaube, wir kön-
nen heute gar nicht mehr ermessen, was es bedeutet hat,
dass wenige Monate nach dem Zweiten Weltkrieg die
Kriegsgegner aufeinander zugegangen sind und sich die
Hand gereicht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das zweite große Ziel, nämlich Freiheit für ganz
Europa, ist ebenfalls erreicht worden. Es gilt vielen
heute als selbstverständlich. Es ist der jungen Generation
nur schwer zu vermitteln, was der Eiserne Vorhang war
und was Mauer und Stacheldraht bedeuteten. Es wird die
Frage gestellt, warum es mit der Europäischen Union
und mit der europäischen Integration weitergehen muss,
da doch diese Ziele erreicht sind.

Uns Europäern wird in der Zeit der Globalisierung
immer klarer, dass wir nur ein kleiner Teil dieser Welt
sind. Der Außenminister hat gesagt, dass die Welt nicht
auf Europa wartet. Heute leben nur 7,5 Prozent der Welt-
bevölkerung in den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union. 2050 werden es nach Angaben der UNO auf-
grund des unterschiedlichen Bevölkerungswachstums
nur 4 Prozent sein. Wir haben nur dann eine Chance, un-
sere Werte, unsere politische Kultur und unsere Lebens-
weise zu bewahren, wenn wir zusammenrücken. Wir
werden dies aber nicht schaffen, wenn wir uns innerhalb
der Europäischen Union, die zukünftig nur 4 Prozent der
Weltbevölkerung ausmacht, das Leben schwer machen.
Das ist die Legitimation, die für die europäische Eini-
gungsbewegung notwendig ist.

Deswegen war es wichtig, nach der Schaffung des
Binnenmarktes, der Formulierung des Ziels einer Politi-
schen Union und der Einführung des Euro das Verfas-
sungsprojekt anzupacken. Mit dem Reformvertrag in der
jetzigen Form haben wir natürlich weniger erreicht, als
wir erreichen wollten. Das wird deutlich, wenn man die
ursprüngliche Idee von einer Verfassung, die von einem
Verfassungskonvent gestaltet wurde, zum Vergleich he-
ranzieht. Aber trotzdem ist dieser Reformvertrag viel
mehr als die jetzige Grundlage der Europäischen Union,
der Vertrag von Nizza. Deshalb ist dieser Reformvertrag
ein Erfolg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ein ganz wesentlicher Punkt in diesem Reformvertrag
ist das Subsidiaritätsprinzip, das zwei Seiten hat: Die
eine Seite ist Dezentralisierung; nicht alles muss auf eu-
ropäischer Ebene gemacht werden. Die zweite Seite des
Subsidiaritätsprinzips ist aber, dass die Ebene, der eine
Aufgabe zugewiesen wird, für die Erledigung dieser
Aufgabe gestärkt werden muss. Es gibt auf europäischer
Ebene Aufgaben, für die sie noch nicht stark genug ist.
Als Stichworte nenne ich nur die europäische Außenpo-
litik und die europäische Sicherheits- und Verteidigungs-
politik.

Lieber Herr Kollege Dehm von der zur Linkspartei
umgetauften PDS, die früher einmal SED hieß.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Jetzt Linke!)


– Das hat Ihnen anscheinend gut gefallen. – Dass Sie
hier Europa und die Europäische Union als Hort des Mi-
litarismus bezeichnen,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das habe ich nicht gesagt!)


hat in etwa die dialektische Qualität, die dazu geführt
hat, die Mauer zum antifaschistischen Schutzwall umzu-
interpretieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Da Sie das immer noch machen, kann ich Ihnen nur sa-
gen: Bei Ihnen gilt hinsichtlich der politischen Erkennt-
nis offensichtlich der im Musikgeschäft verbreitete Satz:
„Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert“. Sie
sollten endlich einen Schritt weitergehen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sehr komisch! Jetzt erbitte ich Gelächter!)


Für mich ist der Reformvertrag eine Etappe – aller-
dings eine wichtige – und nicht das Ziel der europäi-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Stephan Eisel
schen Integration. Es muss weitergehen, und zwar nicht
nur, weil es, wie ich vorhin gesagt habe, in unserem Inte-
resse liegt, dass wir Europäer uns enger zusammen-
schließen müssen, sondern auch, weil wir ein Vorbild für
die Welt sind. Wir und die Generationen vor uns in
Europa haben gezeigt, dass es möglich ist, in Vielfalt zu-
sammenzuleben und Konflikte ohne Gewalt und Krieg
zu lösen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Afghanistan und Kosovo!)


Wie sähe die Welt aus, wenn dieses Beispiel Schule ma-
chen würde?

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611814100

Herr Kollege Eisel, Sie sind für den Kollegen

Paziorek in den Deutschen Bundestag nachgerückt. Sie
haben heute zum ersten Mal in diesem Hohen Hause ge-
sprochen. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute für
Ihre politische und persönliche Zukunft.


(Beifall)


Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 16/6632. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/6632 die Annahme des Antrags der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/6399 mit
dem Titel „Regierungskonferenz zur Änderung der ver-
traglichen Grundlagen der Europäischen Union und Un-
terrichtung der Bundesregierung entsprechend Ziffer VI
der Vereinbarung zwischen Deutschem Bundestag und
der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Ange-
legenheiten der Europäischen Union“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU bei
Gegenstimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen
und Die Linke und Enthaltung der Fraktion der FDP an-
genommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/5882 mit dem Titel „EU-Re-
gierungskonferenz schnell zum Erfolg führen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD
und der CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion der
FDP angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
16/5888 mit dem Titel „EU-Regierungskonferenz – Für
eine handlungsfähige und demokratische EU“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD,
der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Verfahrens in Familiensachen und in den
Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbar-
keit (FGG-Reformgesetz – FGG-RG)


– Drucksache 16/6308 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Klä-
rung der Vaterschaft unabhängig vom Anfech-
tungsverfahren

– Drucksache 16/6561 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über genetische Unter-
suchungen zur Klärung der Abstammung in
der Familie

– Drucksache 16/5370 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin der Justiz, Brigitte Zypries.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Brigitte Zypries (SPD):
Rede ID: ID1611814200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Ich denke, wir sind uns alle einig: Wenn man das
Familienrecht ändert, gestaltet man die Gesellschaft. Das
hat nicht zuletzt die große Scheidungsreform gezeigt.
Wenn man das Verfahrensrecht ändert, gestaltet man – so
kann man meinen – nicht so recht. Aber man darf,
glaube ich, die Augen nicht davor verschließen, dass das
Verfahrensrecht in vielen Fällen nicht nur dienende
Funktion hat, sondern – das gilt gerade für das Familien-
recht – dazu angetan ist, dafür zu sorgen, dass die Rechte
der Beteiligten tatsächlich durchgesetzt werden können.
Denn wenn ein Vater erst einmal ein halbes Jahr keinen
Umgang mit seinem zweijährigen Kind hat, dann wird
diese Beziehung in solch einer Weise gestört, dass dies
kaum wieder aufgearbeitet werden kann. Deshalb ist es
so wichtig, dass gerade im Familienrecht besonders






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Brigitte Zypries
schnell entschieden wird, insbesondere wenn es um das
Sorgerecht bzw. um das Umgangsrecht geht.

Wir haben heute zwei Gesetzentwürfe der Bundesre-
gierung zu beraten, die beide mit dem familienrechtli-
chen Verfahren zu tun haben, zumindest im weitesten
Sinne. Der eine betrifft eine Neufassung des FGG; das
ist ein richtig dickes Gesetzeswerk. Wir haben dabei ei-
nen einheitlichen allgemeinen Teil neu geregelt. Wir ha-
ben die Verfahrensrechte und die Mitwirkungsrechte der
Beteiligten erstmals umfassend geklärt. Das gilt nicht
nur für familiengerichtliche Verfahren, sondern auch für
Betreuungssachen, Unterbringungssachen, Nachlass-
sachen, Registerfragen oder die Freiheitsentziehung.
Diesen ganzen Bereich regeln wir neu. Wir strukturieren
das bis heute zersplitterte Rechtssystem neu und gestal-
ten es effizienter.

Der größte Teil der sogenannten FGG-Reform, der
Reform des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit,
beschäftigt sich mit Familiensachen. Ich würde gern als
Erstes die Schaffung des Großen Familiengerichts nen-
nen. Endlich wird es möglich, über alle Familiensachen
bei einem Gericht zu entscheiden. Die heute oft beklagte
Zersplitterung zwischen Familiengericht einerseits und
Amtsgericht andererseits tritt nicht mehr ein.

Wir wollen mit diesem Gesetz regeln, dass Kind-
schaftssachen künftig vorrangig und beschleunigt zu be-
arbeiten sind. Ich habe eben gesagt, warum das erforder-
lich ist. Dies betrifft vor allem Kleinkinder. Wenn hier
erst einmal lange Zeit kein Umgangsrecht besteht, dann
wird etwas unwiederbringlich geschädigt, und es bedarf
vieler Verfahren oder Hilfen, um das zu bereinigen.

Wir wollen deshalb die einvernehmliche Lösung von
Verfahren in Kindschaftssachen stärken. Das heißt, wir
wollen in gewissen Fällen quasi vorschreiben, dass es
eine Art Mediation geben muss, eine Verständigung da-
rüber, ob man sich nicht doch noch einvernehmlich eini-
gen kann. Wir wollen den Kindern für die Zukunft das
Recht eines eigenen Verfahrensbeistandes geben. Sie
sind diejenigen, die in diesen Verfahren am meisten be-
troffen sind und deshalb gegebenenfalls objektive Hilfe
brauchen.

Die Entscheidung ist das eine. Die Frage, wie man eine
solche Entscheidungen vollstreckt, ist das andere. Des-
halb schlagen wir bei der Vollstreckung von Sorge- und
Umgangsentscheidungen Verfahren vor, die das Ganze
schneller und effektiver gestalten und mehr Druck aus-
üben können.

Insgesamt ist es eine gute Reform. Die Tatsache, dass
sie so lange gedauert hat, jetzt aber mit ihren über
800 Seiten allenthalben große Zustimmung erfährt, zu-
mindest im Großen und Ganzen – natürlich gibt es Kritik
im Einzelnen; das versteht sich von selbst –, zeigt mir,
dass wir hier auf dem richtigen Wege sind. Ich bin si-
cher, dass der Deutsche Bundestag die teilweise vorhan-
denen Monita der Verbände im Rahmen von Sachver-
ständigenanhörungen noch diskutieren und dann im
Zweifel zu einem vernünftigen Ergebnis kommen wird.
Der zweite Gesetzentwurf betrifft das Klärungsver-
fahren hinsichtlich der Vaterschaft. Dieses Thema be-
schäftigt uns schon lange. Bereits vor knapp zwei Jahren
habe ich mich für ein Verbot heimlicher Vaterschaftstests
ausgesprochen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies
jetzt bestätigt und festgestellt, diese Tests stellten einen
tiefen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffe-
nen dar und seien daher nicht erlaubt. Auf der anderen
Seite gibt es natürlich ein legitimes Interesse des Vaters
bzw. des vermeintlichen Vaters, zu wissen, ob er wirk-
lich der Vater ist, und auch ein Recht des Kindes auf
Kenntnis der Abstammung.

Deshalb haben wir mit diesem Gesetzentwurf ver-
sucht, einen neuen Weg zu gehen. Während das Recht
heute nur das Anfechtungsverfahren kennt, stellen wir
mit dem neuen Gesetzentwurf, der Ihnen jetzt zur Bera-
tung vorliegt, ein Verfahren vor, das nur die Feststellung
der Abstammung regelt und nicht gleich mit einer Los-
sagung verknüpft ist. Es wird also die Möglichkeit geben,
festzustellen, ob jemand der Vater ist oder nicht; dieser
wird auch dann, wenn er nicht der Vater ist, erklären kön-
nen, er wolle trotzdem die soziale Familie aufrechterhal-
ten: Ich will mich nicht von meiner Familie lossagen, in
der wir zehn Jahre lang gut zusammengelebt haben; das
will ich jetzt nicht zerstören, nur weil ich zwar der soziale,
aber eben nicht der biologische Vater bin.

Wir zeigen hier einen Weg auf, der den Interessen der
Väter und der Kinder Rechnung trägt, auch wenn ich
weiß, dass es Bedenken gibt, ob den Kindern nicht zu
viele Rechte gegeben werden. Wir geben den Kindern
das Recht, dann, wenn es ihnen psychisch schlecht geht
– wenn sie beispielsweise in der Pubertät erhebliche Pro-
bleme haben –, zu verlangen, dass der Vater oder der
vermeintliche Vater – also derjenige, der die Feststel-
lungsklage erheben will – die Vaterschaftsfeststellungs-
klage um ein Jahr verschiebt. Damit wollen wir die
Rechte von Kindern schützen, zumal die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts eine solche Regelung
nahelegt.

Ich weiß, dass der Kollege Gehb diese doppelte Mög-
lichkeit, die wir vorne und hinten eingezogen haben, als
zu weit gehend ansieht. Das werden wir noch zu disku-
tieren haben. Hinsichtlich der Frage, ob dies nach der
Rechtsprechung aus Karlsruhe aus Verfassungsgründen
erforderlich ist, werden wir weiteren verfassungsjuristi-
schen Sachverstand im Rahmen von Anhörungen hinzu-
ziehen können. Ich freue mich auf die Beratungen.

In einem bin ich mir ganz sicher: Wir haben mit bei-
den Gesetzentwürfen einen richtigen Weg beschritten,
der dem Wohle von Kindern und der möglichst schnellen
Beilegung von familiären Streitigkeiten dient. Dass es
im Einzelnen noch Korrekturen geben kann, das gehört
zum Struck’schen Gesetz.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611814300

Ich gebe das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger, FDP-Fraktion.






(A) (C)



(B) (D)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1611814400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Wir begrüßen es, dass wir heute eine
Debatte zum Familienrecht führen; denn es gibt Hand-
lungsbedarf. Auf der Tagesordnung stehen nun im Rah-
men der verbundenen Debatte mit der großen Reform
der Freiwilligen Gerichtsbarkeit und dem Verfahren zur
Feststellung der Vaterschaft zwei wichtige Themen. Uns
fehlt aber ein ganz wichtiges Thema, nämlich die über-
fällige abschließende Beratung des Unterhaltsrechts.


(Beifall bei der FDP)


Sie gehört hierher. Zeitungsberichten konnten wir vor
kurzem entnehmen, dass es wieder einmal eine Einigung
gegeben habe. Vor der Sommerpause hatten wir es auch
mit dem Versuch einer Einigung zu tun. Leider liegt
heute kein Ergebnis vor. Natürlich tragen Familienrecht
und Unterhaltsrecht zur Gestaltung unserer Gesellschaft
bei. Dass die Unterhaltsberechtigten hier Klarheit brau-
chen und man das nicht weiter auf die lange Bank schie-
ben sollte, auch das gehört, wie ich finde, in die heutige
Debatte zum Familienrecht.

Frau Ministerin, wir begrüßen sehr, dass jetzt zwei
Gesetzentwürfe zu zwei Themen vorliegen; ich habe be-
reits gesagt, dass wir sie für sehr wichtig halten. Es geht
um die Feststellung der Vaterschaft, und zwar vor dem
ganz konkreten Hintergrund der Entscheidung des Bun-
desgerichtshofs aus dem Jahre 2005 und vor dem Hinter-
grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
vom Februar dieses Jahres.

Dass heimliche Vaterschaftstests vorgenommen wer-
den, bewegt nicht nur sehr viele Menschen, sondern
diese Tests haben auch ziemlich große Dimensionen an-
genommen. Im Jahre 2005 belief sich ihre Zahl auf
50 000. Damit wurde ein Umsatz von 40 Millionen Euro
gemacht. In 80 Prozent der Fälle wurde die biologische
Vaterschaft des rechtlichen Vaters bestätigt, in immerhin
20 Prozent der Fälle aber nicht. Es ist doch klar, dass die
Notwendigkeit besteht, etwas zu unternehmen, damit
diese Heimlichkeit aufhört. Wodurch die Väter veran-
lasst werden, an ihrer biologischen Vaterschaft zu zwei-
feln, das muss uns hier im Bundestag nicht interessieren;
das hat höchst persönliche Gründe, die im familiären Be-
reich liegen. Klar ist allerdings, dass diese Entwicklung
nicht weitergehen sollte. In rechtlicher Hinsicht darf sie
auch nicht weitergehen, weil die Verwertbarkeit der Er-
gebnisse heimlicher Vaterschaftstests durch höchstrich-
terliche Rechtsprechung untersagt worden ist. Daher be-
grüßen wir, dass zwei Gesetzentwürfe vorliegen.

An dieser Stelle erlaube ich mir, darauf hinzuweisen,
dass die FDP-Bundestagsfraktion im Januar 2005 einen
Antrag mit dem einfachen Titel „Verfahren der Vater-
schaftstests vereinfachen und Grundrechte wahren“ in
den Bundestag eingebracht hat, in dem wir genau den
Weg, den Sie jetzt gehen wollen, die Trennung der Ab-
stammung von der möglicherweise folgenden Anfech-
tung, vorgeschlagen haben. Insofern hat die Bundesre-
gierung die Gedanken, die wir schon damals in unserem
Antrag niedergelegt haben, nun in ihren Gesetzentwurf
aufgenommen.
Uns liegt auch ein Vorschlag des Bundesrates vor. Wir
sind der Meinung, dass er von der Zielrichtung her in ei-
nem Punkt eher nicht zu unterstützen ist. Dieser Aspekt
hat mit der besonderen Lebens- und Entwicklungssitua-
tion, in der sich die Kinder befinden, zu tun. Es geht um
zweierlei: zum einen um das Grundrecht des Vaters, zu
wissen, ob er wirklich der biologische Vater ist, und zum
anderen um die Grundrechte des Kindes. Das kann in-
nerhalb einer Familie zu sehr schwierigen Situationen
führen. Ich sage ganz offen, dass wir vom Grundsatz
bzw. vom Ansatz her eher die Richtung befürworten, die
im Gesetzentwurf der Bundesregierung eingeschlagen
wurde.

Dazu möchte ich noch eine ergänzende Bemerkung
machen. Frau Ministerin, vielleicht sollten wir im Rah-
men dieses Gesetzgebungsverfahrens, möglicherweise
in einer Anhörung im Rechtsausschuss zu den verschie-
denen familienrechtlichen Gesetzentwürfen, noch über-
prüfen: Was ist mit dem mutmaßlichen biologischen Va-
ter, der nicht der rechtliche Vater ist? Schließlich gibt es
auch den Fall, dass der rechtliche Vater seine Vaterschaft
gar nicht anfechten möchte, dass aber jemand anders, der
sich nicht in einem rechtlichen Verhältnis zum Kind be-
findet, meint, er sei der eigentliche biologische Erzeuger
und Vater. Dieser Punkt ist in keinen der Gesetzentwürfe
aufgenommen worden. Ich denke, diese Frage können
wir im Laufe der Beratungen im Rechtsausschuss erör-
tern.

Ein wichtiger Bestandteil eines Familienrechts im
21. Jahrhundert ist ein angepasstes Verfahrensrecht.
Deshalb ist die vorgelegte Reform, die sehr umfangreich
ist, für unsere Beratungen eine gute Grundlage. Frau Mi-
nisterin, es fällt mir besonders leicht, das zu sagen. Denn
ein strittiger Punkt, der immer unter dem Schlagwort
„Scheidung light“ bzw. „Notarielle Scheidung“ behan-
delt wurde, ist in Ihrem Gesetzentwurf nicht enthalten.
An dieser Regelung wurde auch aus dem Kreis der Ko-
alitionsfraktionen schon im Vorfeld Kritik geäußert.
Umso leichter und vielleicht auch umso vorurteilsfreier
können wir jetzt in die Einzelberatungen zu diesem um-
fangreichen Gesetzespaket gehen.

Viele der vorgelegten Regelungen unterstützen wir:
die Einführung des Großen Familiengerichts, die Bestel-
lung eines Verfahrensbeistands und all die Maßnahmen,
durch die versucht wird, die Verfahren zu verbessern und
Kindschaftssachen Vorrang einzuräumen.

Aus der Sicht der FDP-Bundestagsfraktion sehe ich
Beratungsbedarf, wenn es um die Verhängung von Ord-
nungsmitteln geht, um umgangsrechtliche Entscheidun-
gen durchzusetzen. Das ist ein hochsensibler Bereich.
Bisher gab es Zwangsmittel. Jetzt sollen es Ordnungs-
mittel werden. Ob das für das Kindeswohl das Richtige
ist, wagen wir infrage zu stellen. Ich glaube, es wird gut
sein, sich auch über diese Punkte intensiv mit Experten
zu unterhalten.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611814500

Ich gebe das Wort der Kollegin Ute Granold, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1611814600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir beraten heute zwei Gesetzentwürfe. Ich beschränke
mich auf die Reform des Verfahrens in Familiensachen
und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichts-
barkeit und überlasse die Klärung der Vaterschaft unab-
hängig vom Anfechtungsverfahren sehr gerne meinem
Kollegen Dr. Gehb, der zu diesem Verfahren nicht nur
eine sehr gefestigte Meinung hat, sondern geradezu prä-
destiniert ist, dazu zu sprechen – wobei wir in der Union
seine Meinung voll und ganz teilen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zu betonen war notwendig!)


Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, was die
Unterhaltsreform angeht, kann ich Sie beruhigen. Ich
denke, wir sind da auf einem guten Weg und können die
Arbeit an dem Gesetzentwurf sicherlich noch in diesem
Jahr abschließen und das dann im nächsten Jahr auf den
Weg bringen, sodass das Gesetz für die Bürgerinnen und
Bürger zur Anwendung kommt.

Was die heutige Reform angeht, so muss ich sagen:
Wir sind sehr stolz, dass wir ein so großes Gesetzeswerk
– 800 Seiten, Sie haben es ja gehört – auf den Weg brin-
gen können. Es ist eine gute Grundlage für die weiteren
Beratungen. Was das Familienverfahrensrecht angeht,
haben wir derzeit ein Sammelsurium von Rechtsvor-
schriften: die ZPO, das FGG-Verfahren, die Hausratsver-
ordnung, also eine Vielzahl von Gesetzen mit verschiede-
nen Verhandlungsmaximen wie Beibringungsgrundsatz
und Amtsermittlungsgrundsatz. Selbst für die Praktiker
ist das Hin- und Herverweisen mühsam. Aber insbeson-
dere für die Menschen ist es sehr schwierig, da durchzu-
blicken und Akzeptanz zu finden, gerade weil es den pri-
vaten Bereich des Lebens betrifft, sollte alles für die
Bürger praxisnah geregelt sein.

Reformbestrebungen gibt es schon lange Zeit. Schon
Mitte der 50er-Jahre gab es eine Kommission zur Re-
form des FGG; aber sie hat die Vorschläge nie so weit
gebracht, dass sie ins parlamentarische Verfahren einge-
mündet sind. Jetzt ist ein Gesetzeswerk auf den Weg ge-
bracht worden, das, denke ich, modern ist, das allgemein
verständlich ist und mit dem wir insbesondere dafür sor-
gen, dass das materielle Recht schnell und effektiv
durchgesetzt werden kann.

Wir haben eine klare Gliederung in diesem Gesetzent-
wurf. Im Allgemeinen Teil gibt es erstmals eine klare
Definition des Beteiligtenbegriffes. Aufgrund der Viel-
zahl der Beteiligten ist es ganz wichtig, dass dieser Be-
griff normiert ist. Wir haben das Verfahren der einstwei-
ligen Anordnung einheitlich geregelt. Auch die
Rechtsmittel und die Fristen, die bislang sehr unter-
schiedlich waren, sind vereinheitlicht. Wir haben erst-
mals – das finde ich besonders gut, weil wir in Deutsch-
land sehr viele binationale Ehen haben – die Verfahren
mit Auslandsberührung gebündelt in diesem Allgemei-
nen Teil zusammengefasst. Das ist für die Praxis wirk-
lich hervorragend.

Dann folgt das Herzstück, die Regelung der Familien-
sachen, also Scheidung und alles, was daran hängt: Un-
terhalt, Kindschaftssachen, Güterrecht, Hausratsverord-
nung, Versorgungsausgleich – auch da kommt ja noch
eine materielle Neuregelung –, Wohnungszuweisung
und auch Gewaltschutzsachen. Im Rahmen der heutigen
ersten Lesung möchte ich nur einige wenige Punkte an-
sprechen. Das vereinfachte Scheidungsverfahren, die so-
genannte Scheidung light, ist ja nun Gott sei Dank vom
Tisch. Sie hat nicht nur in der Rechtspraxis, sondern
auch unter den Menschen für viel Verwirrung gesorgt,
weil man dachte, man geht zum Notar und wird geschie-
den, alles geht ganz schnell und einfach. So ist es nicht.
Wir haben für Scheidungen schon derzeit ein sehr einfa-
ches und zügiges Verfahren. Das genügt vollkommen.
Wir möchten aus dem Schutzgedanken der Ehe heraus
doch dafür sorgen, dass man sich das Ganze genau über-
legt, dass man gut beraten ist, weil eine Scheidung doch
weitreichende Folgen für die Betroffenen hat. Aus die-
sem Schutzgedanken der Ehe heraus sagen wir, es soll
bei dem Verfahren bleiben, das bislang galt. Das Große
Familiengericht – es wurde bereits mehrfach angespro-
chen –, das die Trennungs- und Scheidungsangelegen-
heiten regelt, wird kommen. Neu ist, dass das Vormund-
schaftsgericht aufgelöst wird. Vormundschaftssachen,
Pflegschafts- und Betreuungssachen, Adoptionen, Le-
benspartnerschaften und auch die Gewaltschutzsachen
sind mit geregelt, wobei wir bei der Beratung noch ein-
mal über die Gewaltschutzsachen nachdenken sollten.
Es gibt ja auch Gewaltschutzverfahren und Verfahren zu
Stalking, die nicht im familiären Bereich liegen. Wir
sollten noch einmal darüber reden, warum zum Beispiel
der Fall eines Filmstars, der bestalkt wird und ein Ge-
waltschutzverfahren anstrengt und der Stalker mit ihm
gar nichts zu tun hat, es keine familiäre Bindung gibt,
am Familiengericht verhandelt werden soll. Das wurde
in der Praxis auch schon reklamiert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot wurde ange-
sprochen. Ein ganz wichtiger Punkt in dieser Reform ist,
dass die Kindschaftssachen vorrangig zu behandeln sind,
weil die Kinder am ärgsten von einer solchen Tren-
nungs- und Scheidungssituation betroffen sind. Das
heißt also, innerhalb von vier Wochen ab Antragstellung
bei Gericht soll ein erster Termin anberaumt werden.
Das Jugendamt soll dabei sein, das Kind soll angehört
werden. In streitigen Fällen soll auch ein sogenannter
Verfahrensbeistand installiert werden, der ein eigenes
Antrags- und Beschwerderecht hat. Das ist eine gute Sa-
che. Dabei muss vielleicht auch einmal hingenommen
werden, dass ein anderes Verfahren, eine Unterhalts-
sache oder ein Wohnungszuweisungsverfahren, hinten
ansteht, weil das Kindeswohl für uns alle hier – ich
denke, das ist unbestritten – sehr im Vordergrund steht.

Der Einsatz des Umgangspflegers, der in der Praxis
derzeit schon sehr wichtig ist, soll in streitigen Um-
gangsverfahren jetzt gesetzlich geregelt werden. Er ver-






(A) (C)



(B) (D)


Ute Granold
sucht, zu koordinieren, weil der Kontakt des Vaters oder
der Mutter zum Kind sehr wichtig ist – unabhängig da-
von, dass die Eltern auf einer ganz anderen Ebene viel-
leicht erheblich streiten. Wenn die Kinder lange Zeit kei-
nen Kontakt zu einem Elternteil haben, dann ist das
eindeutig schädlich für sie.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Gesetzentwurf enthält auch einen Part zur Kon-
fliktlösung. Die Mediation, die außergerichtliche Streit-
schlichtung, wurde angesprochen. Das ist eine gute Sa-
che für die Scheidungsverfahren, aber noch besser für
die Kindschaftssachen. Man muss darauf hinwirken,
Einvernehmen herzustellen, wenn es darum geht, das
Sorgerecht, das Umgangsrecht und die Herausgabe von
Kindern zu regeln.

Weil es im Vorfeld bei den Verbänden ziemlich viel
Irritation gegeben hat, ist es ganz wichtig, dass diese
Streitschlichtung, diese Mediation lediglich an Elemente
des sogenannten Cochemer Modells angelehnt wird. Das
soll auch nur in den Fällen geschehen, die dafür geeignet
sind, dass man eine solche Streitschlichtung durchführt.
Es kann kein Zwang sein, weil man nicht immer mit-
einander reden kann. Dies gilt gerade dann, wenn Ge-
walt im Spiel ist. Innerhalb eines Scheidungsverfahrens
hat man es oftmals auch mit Gewaltdelikten zu tun. Es
kann dann nicht sein, dass man gezwungen wird, sich an
einen Tisch zu setzen. Man muss eine andere Regelung
finden, notfalls auch eine gerichtliche Entscheidung her-
beiführen. Auf freiwilliger Basis und in geeigneten Fäl-
len also Ja, ansonsten sollte man damit etwas zurückhal-
tender sein.

Wir wissen sehr wohl – die Länder haben das im Vor-
feld kritisiert –, dass das Gesetz natürlich zu einem per-
sonellen Mehrbedarf führen wird. Gerade die Jugend-
ämter werden dann mehr gefordert. Wir brauchen eine
bessere Sachausstattung dieser sogenannten Großen Fa-
miliengerichte. Das soll es uns aber wert sein, weil das
ein ganz wichtiges Verfahren ist. Ich füge hinzu: Die
Richter, Anwälte und alle anderen Betroffenen, also die
Professionen in diesem Verfahren, müssen immer gut
geschult und weitergebildet sein, damit das, was wir auf
den Weg bringen wollen, auch gut angewendet wird.

Ganz am Schluss noch einige Sätze zum einstweili-
gen Rechtsschutz. Es soll möglich sein, im summari-
schen Verfahren ohne Hauptsacheverfahren schnelle
Entscheidungen zu treffen. Weil es aber eben ein sum-
marisches Verfahren ist, muss die Möglichkeit bestehen,
dass das Hauptsacheverfahren durchgeführt wird. Das
geht nach dem Gesetzentwurf auf Antrag. Auf dem
Deutschen Familiengerichtstag wurde gesagt, es solle
obligatorisch sein, wenn es um Kindschaftssachen geht.

Darüber und auch über die Frage, inwieweit Konsens
mit den Ländern hergestellt werden kann, die hinsicht-
lich der Kosten das eine oder andere noch einmal geklärt
haben wollen, sollten wir in der weiteren Beratung im
Einzelnen noch einmal sprechen.
Dabei möchte ich es belassen. Ich hoffe auf gute Be-
ratungen im Ausschuss. Das spannende Thema der Va-
terschaftsanfechtung überlasse ich dem Kollegen Gehb.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611814700

Nächster Redner ist der Kollege Jörn Wunderlich,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611814800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Nach acht Jahren steht nun erneut eine Re-
form des FGG an. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe,
die wir uns vorgenommen haben. Das wird deutlich,
wenn man sich die Zielstellung, die mit dem Reformvor-
haben verbunden ist, anschaut: Ausbau des lückenhaften
FGG zu einer zusammenhängenden Verfahrensordnung,
rechtsstaatliche Ausgestaltung des Verfahrens, Koordi-
nierung mit anderen Verfahrensordnungen, anwender-
freundlicher Gesetzesaufbau und anwenderfreundliche
Gesetzessprache, Stärkung der konfliktvermeidenden
und konfliktlösenden Elemente im familiengerichtlichen
Verfahren.

Grundsätzlich stimmt die Linksfraktion diesem An-
sinnen zu, weil wir der Meinung sind, dass das Gesetz
damit transparenter und bürgernäher wird.

Wenn man sich diesen Gesetzentwurf jedoch einmal
vornimmt und sich durch die Vorschriften und Angele-
genheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit quält, dann
macht man eigentlich eine gegenteilige Erfahrung. Den
ersten Entwurf habe ich damals noch als Familienrichter
auf den Tisch bekommen. Ein bisschen hat sich geän-
dert. Beim Lesen der einschlägigen Vorschriften wird
man aber doch arg gequält.

Der grundsätzliche Ansatz, die entsprechenden Vor-
schriften der ZPO für Familiensachen in ein einheitli-
ches Familienverfahrensgesetz zu überführen und nur
die Besonderheiten in die jeweiligen Regelungsbereiche
außerhalb der vor die Klammer gezogenen allgemeinen
Regelung zu stellen, ist jedoch zu begrüßen.

Ebenso begrüßt meine Fraktion die vorgesehene Auf-
lösung des Vormundschaftsgerichts und die Förderung
der gerichtlichen und außergerichtlichen Streitbeilegung.
Großes Lob – ich glaube, das sehen wir fraktionsüber-
greifend so – verdient die Entscheidung zur Streichung
der vereinfachten Scheidung, die im ersten Referenten-
entwurf noch enthalten war; ich meine das sogenannte
Scheidung-light-Verfahren. Wenigstens in diesem Punkt
hat die Regierung eingesehen, dass der Schutz von Jus-
tizressourcen nicht zulasten der Rechtsuchenden gehen
darf.

Der Gesetzentwurf scheint aber in mancher Hinsicht
die Philosophie des in der Praxis doch umstrittenen und
wissenschaftlich nicht unabhängig evaluierten Coche-
mer Modells verwirklichen zu wollen; das ist gerade
schon angesprochen worden. Die Frage ist, wie viel






(A) (C)



(B) (D)


Jörn Wunderlich
Cochemer Modell im Sinne der Sorge- und Umgangsbe-
rechtigten verträglich ist. Das wird von meiner Fraktion
eben anders als vom Gesetzentwurf beantwortet. Es
kann nicht unter allen Umständen erzwungen werden,
dass Eltern sich einigen. Insbesondere die Fälle der
häuslichen Gewalt sind bei den Umgangsregelungen,
wie sie jetzt vorliegen, nicht ausreichend berücksichtigt.

Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot in § 155 ist
ebenso wie das Hinwirken auf Einvernehmen nicht
grundsätzlich zu kritisieren. Aber die besondere Situa-
tion in den Fällen häuslicher Gewalt muss einen stärke-
ren Niederschlag finden. Es fällt auf, dass der Gesetzent-
wurf ausdrücklich die Zusammenführung zerstrittener
Eltern und deren Versöhnung herbeizuführen versucht.
Situationen, in denen vorangegangene und angedrohte
Gewalthandlungen jede Zusammenführung zum Risiko
werden lassen und eine Versöhnung weder möglich noch
anzuraten ist, wird an keiner Stelle explizit Rechnung
getragen.

Rechts- und vor allem familienpolitisch für verfehlt
halte ich, dass anstelle freiwilliger Angebote immer wie-
der unter Berufung auf das vorgebliche Kindeswohl
Zwangsmaßnahmen ergriffen werden sollen. Dazu
möchte ich ganz konkret einen besonders wichtigen
Punkt nennen. Ein Ordnungsmittel zur Vollstreckung – die
Frau Ministerin hat es angesprochen – der Herausgabe
von Personen und zur Regelung des Umgangs ist in mei-
nen Augen untragbar: nämlich die Ordnungshaft. Es
geht nicht um einfache Verfahren, in denen ein normaler
Titel vollstreckt werden soll. Es geht um Menschen und
um das Kindeswohl. Das Kindeswohl wird hier ja immer
an erster Stelle genannt. Frau Ministerin, Sie wollen mir
doch nicht allen Ernstes sagen, dass es für das Kindes-
wohl förderlich ist, wenn ein Elternteil in Ordnungshaft
geht?


(Zuruf von der SPD: Wieso denn nicht?)


Es wird sehr schwer werden – das ist mir und meiner
Fraktion auch klar –, in diesem verfassungsrechtlich ge-
schützten und sehr sensiblen Bereich für alle Beteiligten
angemessene Lösungen zu finden. Daher schlage ich
vor, das neue familiengerichtliche Verfahren mit wenig
Zwang und möglichst viel außergerichtlicher Schlich-
tung und Beratung auszustatten.

Wir wollen, dass der Gesetzentwurf klare und eindeu-
tige Regelungen formuliert, die den Kindern und ihrem
Wohl in auffallend schwierigen Situationen und proble-
matischen Familienphasen Chancen für eine gute Ent-
wicklung und Erziehung eröffnen. Zu den weiteren
Entwürfen gibt es, denke ich, aufgrund der unterschiedli-
chen Interessenlagen – das ist hier schon angesprochen
worden – noch diversen Diskussionsbedarf in den Aus-
schüssen. Es handelt sich um die Umsetzung der verfas-
sungsgerichtlichen Vorgaben. Aber auch diesbezüglich
ist es dem Gesetzgeber – mithin uns – in seinem Gestal-
tungsraum unbenommen, die Rechte von Frauen und
Kindern entsprechend hoch anzusiedeln und zu schüt-
zen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611814900

Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611815000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In einem Punkt war das Gesetz über die freiwillige Ge-
richtsbarkeit schon immer eine Mogelpackung: In wei-
ten Teilen der Regelungen hatte es mit Freiwilligkeit
nichts zu tun. Ich denke nur an das gesamte Freiheitsent-
ziehungsverfahren, an die Betreuungs- und Unterbrin-
gungssachen und vieles andere, was mit Freiwilligkeit
beileibe nichts zu tun hat.

Ganz im Gegenteil: Das Gesetz zur Regelung der An-
gelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit war von
einem obrigkeitsstaatlichen Denken geprägt. Das
schreibt selbst die Bundesregierung in den einleitenden
Formulierungen zu diesem Gesetz. Es war voller Lü-
cken. Die Rechtssprechung hat nach dem Zweiten Welt-
krieg jahrzehntelang versucht, grundrechtliche Überle-
gungen durch Ausgestaltungen im Richterrecht zur
Geltung zu bringen und die Lücken im Gesetz zu schlie-
ßen.

Die Debatte über eine Reform des FGG – das ist
schon angesprochen worden – gibt es seit 50 Jahren. Seit
mindestens 25 Jahren gibt es zudem eine Debatte über
ein einheitliches Familienverfahrensrecht. Deshalb be-
grüßen die Grünen es ganz ausdrücklich, dass nun end-
lich ein umfassender Gesetzentwurf zur Regelung all
dieser Angelegenheiten auf den Tisch gelegt wird. Der
Gesetzentwurf richtet sich im Grundsatz an den Grund-
rechten der Bürgerinnen und Bürger und damit der Be-
teiligten aus und regelt in einem eigenen einheitlichen
Familienverfahrensgesetz all das einheitlich, was bisher
in der ZPO, im FGG, im BGB, in der Hausratsverord-
nung und in vielen anderen Regelungen so lückenhaft,
widersprüchlich und schwerverständlich gefasst war,
dass es für die Bürgerinnen und Bürger schier nicht zu
verstehen war.

Die Erreichung der selbst gesetzten Ziele des Gesetz-
entwurfs – nämlich eine zusammenhängende Verfah-
rensordnung zu entwickeln, eine vernünftige Koordinie-
rung mit den anderen Verfahrensordnungen zu erreichen
und einen anwenderfreundlichen Gesetzesaufbau darzu-
stellen – scheint uns in diesem Entwurf sehr wohl gelun-
gen. Insbesondere weise ich wie meine Vorrednerinnen
und Vorredner auf die Einrichtung des Großen Familien-
gerichts hin. Diese Forderung wird seit vielen Jahren er-
hoben und ist sicherlich auch berechtigt.

Ich will aber wie meine Vorrednerinnen und Vorred-
ner auch auf folgenden Punkt hinweisen: In der Begrün-
dung der Vorlage heißt es auf Seite 352 unter anderem:

Der Schwerpunkt des familiengerichtlichen Verfah-
rens liegt im Aspekt der Fürsorge des Gerichts für
die Beteiligten und in der erhöhten staatlichen Ver-






(A) (C)



(B) (D)


Jerzy Montag
antwortung für die materielle Richtigkeit der ge-
richtlichen Entscheidung …

Nach meiner Überzeugung verträgt sich eine solche rich-
tige Zielrichtung nicht mit der Idee einer Scheidung
light. Deswegen finden auch wir es richtig, dass dieses
Verfahren in dem Gesetzentwurf nicht weiterverfolgt
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Raab [CDU/CSU])


Zwei Punkte der Kritik will ich schon an dieser Stelle
anbringen. Die Auseinandersetzung im Einzelnen wer-
den wir im Rechtsausschuss zu leisten haben.

Die rechtsstaatliche Ausgestaltung des Verfahrens ist
eine Kernaussage über die Zielrichtung des Gesetzent-
wurfs. Zu einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Ver-
fahrens gehört auch ein ausreichender und dem System
und dem einzelnen Bürger und der einzelnen Bürgerin
angemessener Rechtsschutz. Deswegen kritisieren wir
ausdrücklich, dass die bisher vorhandene Nichtzulas-
sungsbeschwerde in diesem Verfahren ersatzlos gestri-
chen wird. Das wird dazu führen, dass es insbesondere in
den Verfahren, in denen es um Freiheitsentziehungen
geht – Abschiebeverfahren, Unterbringungs- und Be-
treuungssachen, aber auch Freiheitsentziehungen in an-
deren zivilrechtlichen Bereichen –, zu einer Uneinheit-
lichkeit der Rechtssprechung kommen kann und der
Rechtszug der Bürgerinnen und Bürger, der bisher mit
der Nichtzulassungsbeschwerde bis zum BGH eröffnet
war, verkürzt wird.

Der zweite Kritikpunkt ist schon angesprochen wor-
den. Ich will es kurz machen. Die Grundzüge des soge-
nannten Cochemer Modells werden von uns begrüßt.
Aber sie sind nicht für alle Familiensituationen ange-
messen.


(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Auch in diesem Zusammenhang darf ich aus dem Ge-
setzentwurf zitieren. Auf Seite 356 steht:

Das familiengerichtliche Verfahren ist wie keine
andere gerichtliche Auseinandersetzung von emo-
tionalen Konflikten geprägt, die letztlich nicht justi-
ziabel sind, aber einen maßgeblichen Einfluss auf
das Streitpotenzial und die Möglichkeiten zur gütli-
chen Beilegung einer Auseinandersetzung haben …
Der Verfahrensgesetzgeber muss ein geeignetes
Instrumentarium zum Umgang mit diesen Konflik-
ten bereitstellen.

Das ist bisher nicht ausreichend geschehen. Denn in Fäl-
len häuslicher Gewalt gilt es, Opfer und Täter nicht zu-
sammenzubringen, sondern voneinander zu trennen. Das
muss noch im parlamentarischen Verfahren in die ent-
sprechenden Verfahrensbestimmungen des Familienver-
fahrensgesetzes eingearbeitet werden.


(Beifall des Abg. Martin Zeil [FDP])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611815100

Herr Kollege Montag.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611815200

Dies ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611815300

Ich gebe das Wort der Kollegin Christine Lambrecht,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1611815400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich,
dass weitgehende Einigkeit zum einen bei der Bewer-
tung der Scheidung light – dieser Begriff hat sich einge-
bürgert – und zum anderen darüber besteht, dass die Re-
form des FGG-Verfahrens in die richtige Richtung geht.
Sicherlich sind noch nicht alle dieser Meinung. Aber wir
werden bei den anstehenden Beratungen viel erreichen,
und zwar im Hinblick auf die Transparenz für Bürgerin-
nen und Bürger, zügigere Entscheidungen in Familiensa-
chen und die Stärkung der Rechte der Kinder. Wenn man
sich heutzutage scheiden lassen will und es sind das Um-
gangsrecht und unterhaltsrechtliche Sachen zu klären,
dann ist es für den Bürger bzw. die Bürgerin ein sehr
schweres Unterfangen, herauszufinden, welches Gericht
zuständig ist und welche Verfahrensgrundsätze gelten.
Das eine wird beim Familiengericht verhandelt und ent-
schieden. Manch andere Dinge, die mit einer Scheidung
zusammenhängen, werden wiederum beim Amtsgericht
entschieden. Es werden unterschiedliche Akten geführt.
All das ist sehr schwer zu verstehen, und zwar nicht nur
für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für Juris-
ten, die nicht selbst mit Familiensachen betraut sind.
Deswegen begrüße ich die Einrichtung eines Großen Fa-
miliengerichts sehr. Man weiß in Zukunft, dass dort alles
anhängig ist und dass man sich dorthin zu wenden hat.
So wird das Verfahren für die Betroffenen transparenter.
Das wird auch dazu führen, dass die Gerichte weniger
belastet werden; denn alles ist in einer Hand.

Das wird hoffentlich auch die Dauer der Familienver-
fahren verkürzen. Im Jahr 2005 zum Beispiel betrug die
Verfahrensdauer bei Streitigkeiten über das Umgangs-
recht genau 6,8 Monate. Das ist zu lange. Zu diesem
Schluss kommt man, wenn man sich die Situation in ei-
ner Familie anschaut, die in Scheidung lebt. In der Zeit,
in der über das Umgangsrecht gestritten wird, haben
Kinder keinen Kontakt zum anderen Elternteil. Dadurch
kann die Beziehung gefährdet werden. Deswegen freut
es mich, dass der vorliegende Gesetzentwurf vorsieht,
dass über das Umgangsrecht schnell und vorrangig zu
entscheiden ist, das heißt, dass innerhalb eines Monats
nach Antragseingang darüber zu beraten ist. Ich glaube,
das ist ein wichtiger Schritt, um die Beziehung des Kin-
des zu dem Elternteil, mit dem es nicht mehr zusammen-
lebt, zu stärken, zu festigen oder gegebenenfalls über-
haupt aufrechtzuerhalten.






(A) (C)



(B) (D)


Christine Lambrecht

(Beifall bei der SPD)


Die Rechte der Kinder werden meines Erachtens wei-
ter gestärkt, beispielsweise durch die Einführung eines
Verfahrensbeistandes, der im Gegensatz zum Verfah-
renspfleger auf das Verfahren aktiv Einfluss nehmen
kann. Herr Wunderlich, ich kann in vielen Fällen keine
Bevormundung darin sehen, dass ein Verfahrensbeistand
beispielsweise die Möglichkeit hat, die Elternteile an ei-
nen Tisch zu bringen und zusammen mit ihnen zu versu-
chen, eine Umgangsrechtregelung zu vereinbaren. Selbst
wenn die Parteien aufgrund der Scheidungssituation zer-
stritten sind: Warum soll man sich nicht wenigstens in
Bezug auf das Kind einigen können? Den Zwang, den
Sie beschrieben haben, sehe ich aufgrund meiner Erfah-
rung als Scheidungsanwältin überhaupt nicht gegeben.


(Beifall bei der SPD – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Aus der Erfahrung des Gerichts kenne ich das aber auch anders!)


– Das mag sein. Vielleicht tauschen wir uns über unsere
unterschiedlichen Erfahrungen einmal aus. Aber Ihre
strikte Unterstellung, dadurch würden Zwang und Be-
vormundung ausgeübt, lehne ich ab; denn oft sind die
Parteien in einer solchen Situation hilflos. Da sie damit
nicht zurechtkommen, sind sie für einen Vorschlag von
außen sehr dankbar, mit dem ihnen eine Brücke gebaut
wird, die sie selbst gar nicht bauen könnten. Vielleicht
sollten wir diesen Aspekt in den anstehenden Beratun-
gen berücksichtigen.

Ich möchte noch etwas zur Kritik am Ordnungsgeld
sagen. Wenn gegen Umgangsrechtsvereinbarungen ver-
stoßen wird, kann das bislang mit Zwangsmitteln belegt
werden. Das erweist sich aber in vielen Fällen als stump-
fes Schwert, weil die Frist abgelaufen ist, innerhalb derer
solche Mittel verhängt werden können. Ein Beispiel: Es
ist festgelegt, dass das Kind über Weihnachten zum Va-
ter soll. Die Mutter lässt es aber nicht zum Vater. Es wird
dann versucht, die Vereinbarung per Zwangsmittel
durchzusetzen. Wenn aber Weihnachten bereits vorbei
ist, ist das nicht mehr möglich. Dann ist das Zwangsmit-
tel ein stumpfes Schwert. Ein Ordnungsgeld könnte auch
im Nachhinein verhängt werden – in diesem Fall nach
Weihnachten –, um der Mutter oder dem Vater aufzuzei-
gen, dass man in Zukunft so nicht mehr verfahren darf
und in erster Linie die Interessen des Kindes zu berück-
sichtigen hat. Vielleicht ist ein Ordnungsgeld nicht aus-
reichend. Aber ich glaube, dass ein vom Gericht ver-
hängtes Ordnungsgeld für viele ein Appell ist, mehr
Vernunft walten zu lassen. Deswegen, Frau Leutheusser-
Schnarrenberger, lassen Sie uns noch einmal darüber re-
den! Ich glaube, dass es im Hinblick auf den Umgang
des Kindes mit dem betroffenen Elternteil durchaus von
Interesse ist, dafür zu sorgen, dass das Umgangsrecht
durchgesetzt wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich zum Schluss – ich kann gar nicht auf
die ambitionierte Rede des Kollegen Gehb, die wir
gleich zu hören bekommen, reagieren –

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann rufen wir dazwischen!)


noch etwas zur Anfechtung der Vaterschaft sagen. Mo-
mentan sind die Väter in einer schwierigen Situation,
wenn sie die biologische Vaterschaft feststellen lassen
wollen, weil Zweifel aufgekommen sind; denn sie sind
zu einem Verfahren gezwungen, in dem nicht nur die Va-
terschaft festgestellt wird, sondern in dem sie diese auch
ausdrücklich anfechten müssen. Sie haben keine Mög-
lichkeit, sich für einen Mittelweg zu entscheiden. Diese
Situation werden wir jetzt durch ein zweigliedriges Ver-
fahren entschärfen. Wenn der Vater Zweifel hat, hat er
die Möglichkeit, nur die Vaterschaft feststellen zu lassen.
Was er mit dieser Erkenntnis macht, also wenn er zu den
20 Prozent gehört, die nicht die biologischen Väter ihrer
Kinder sind, ist ihm überlassen. Er kann auch sagen,
dass die Bindung zu dem Kind mittlerweile so groß ist,
dass er es weiterhin als sein Kind ansieht, auch wenn die
biologische Vaterschaft geklärt und er nicht der Vater ist.
Das war bisher nicht der Fall. Deswegen freut es mich,
dass es zu dieser Zweiteilung kommt.

Ich habe allerdings bei einem Punkt noch Bauch-
schmerzen. Ich bitte, dass wir uns alle darüber Gedanken
machen. Ich habe den Eindruck, dass die Hürde sehr
niedrig bzw. überhaupt nicht vorhanden ist, die der Vater
zu überschreiten hat, wenn er ein solches Verfahren an-
strengen möchte. Er muss lediglich erklären, dass er
Zweifel hegt.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eigentlich nicht einmal das!)


Viel mehr muss er nicht machen. Dann kommt es au-
tomatisch zu diesem Verfahren. Man muss bedenken,
dass damit Rechte Dritter betroffen sind, nämlich das
Recht des Kindes und das der Mutter. Wir müssen uns
auch überlegen, ob wir es schaffen – ohne wieder Hür-
den aufzubauen, also ohne sagen zu müssen: „Beim Fa-
schingsfest 19sowieso mit dem und dem“; so ist das ja
momentan –, einen Mittelweg zu finden, um die Interes-
sen und Belange des Kindes und der Mutter zu gewähr-
leisten. Vielleicht gelingt uns das in gemeinsamer An-
strengung. In diesem Sinne freue ich mich auf die
Zusammenarbeit und auf die Beratungen im Ausschuss.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611815500

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1611815600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mutter

eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat –
§ 1591 BGB. Sie schauen ganz erstaunt, Herr Strässer.
Das hört sich trivial an. Ich werde Ihnen gleich sagen,
dass das gar nicht so trivial ist. „Mater semper certa est“,
haben schon die Römer gesagt. Ein Auseinanderfallen
zwischen biologischer Abstammung und rechtlicher






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Jürgen Gehb
Mutterschaft kennt unser Recht nicht. Ich will im Mo-
ment die in Deutschland verbotene Leihmutterschaft und
das damit zusammenhängende Problem ausblenden,
dass durch In-vitro-Fertilisation extrakorporal in der Pe-
trischale eine Eizelle befruchtet und dann einer anderen
Frau implantiert wird. Gängigerweise kennen wir das
Problem nicht.

Ganz anders beim Vater. Da finden wir nicht etwa die
Regelung: Vater ist der Mann, der das Kind gezeugt
hat. – Schön wär’s.


(Heiterkeit)


Vater kann nämlich erstens der Mann sein, der zum Zeit-
punkt der Geburt des Kindes mit der Mutter verheiratet
ist – § 1592 Nr. 1 BGB –, oder der Mann, der die Vater-
schaft anerkannt hat – § 1592 Nr. 2 BGB –, oder derje-
nige, dessen Vaterschaft gerichtlich festgestellt worden
ist. Nun gibt es aufgrund des wissenschaftlichen Fort-
schritts treffsicherere Methoden zur Vaterschaftsfeststel-
lung als diejenige, die der als Literat auftretende Land-
gerichtsrat a. D. aus Freiburg Ingo Iltis in seinem
legendären Werk Die Dritte Grazie. Ungraziöse Verse zu
Lasten der Justiz wie folgt in einem Schüttelreim formu-
liert hat. Ich rezitiere die Ballade vom Schwängerer der
Frau L.:

Ein Dreierteam Frau Langer schwenkte,
bis sie die Schritte schwanger lenkte.
Der Richter erst des längern schwankte,
wem es denn wohl zum Schwängern langte.
Er fand das Schwängeren gelungen
dem, der den Längeren geschwungen.
Der eben diesen Längern schwang,
bereute dann das Schwängern lang.


(Heiterkeit und Beifall)


Warum trage ich diese Ballade vor?


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil es sonst keiner kann! – Christine Lambrecht [SPD]: Zugabe!)


Sie dient nicht nur dem Amüsement des Auditoriums
und zugegebenermaßen auch meinem eigenen – ich hätte
mich nur schwer beherrschen können, Ihnen diese vor-
zuenthalten –, nein.


(Heiterkeit)


Mit der Schaffung etwa molekularbiologischer Untersu-
chungen von Haaren, Speichel oder Blut – die klassische
DNA-Analyse – ist zwar eine Methode gewonnen. Aber
was nützt es denn dem rechtlichen Vater, dem Zahlvater
– manche würden auch sagen: dem Dukatenesel –, wenn
er das nicht geltend machen kann?

So ist es nach geltendem Recht. Versuchen Sie ein-
mal, diese gesetzliche Vermutung – praesumptio iuris –
zu erschüttern! Ich habe das schon mehrmals gesagt; das
kann man gar nicht oft genug sagen:


(Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie haben es schon öfters versucht!)

Ein Ehemann kann im Grunde genommen seine Vater-
schaft nur anfechten, wenn er nach zwölf Monaten Ab-
wesenheit auf einer Bohrinsel in Alaska zurückkommt
und seine Frau ihn mit einem dunkel pigmentierten
Säugling auf dem Arm empfängt. Alle anderen Hürden
sind viel zu hoch. Frau Lambrecht, Sie haben vorhin ge-
sagt, die Hürden sind viel zu niederschwellig. Jetzt sind
sie viel zu hochschwellig.


(Heiterkeit)


Ich will Ihnen den Fall nennen, mit dem sich das Bun-
desverfassungsgericht befasst hat und der dazu geführt
hat, dass wir aufgerufen sind, bis zum 31. März nächsten
Jahres eine neue Verfahrensart zu finden. Im Jahr 1994
hat der Beschwerdeführer die Vaterschaft für ein Kind
seiner Lebenspartnerin, mit der er zusammengelebt hat,
anerkannt. 1997 kamen die ersten Zweifel. Ein Urologe
hat ihm bescheinigt, dass seine Zeugungsfähigkeit auf
10 Prozent reduziert ist. Der Bundesgerichtshof hat ihm
erklärt: Eine 10-prozentige Zeugungsfähigkeit begründet
keinen durchgreifenden Zweifel gegen die Vaterschaft.

Derselbe Mann geht anschließend mit dem Kau-
gummi des Kindes zu einem privaten Genlabor und
macht den Test. Der Arzt sagt ihm: Ein jeder ist der Va-
ter, du nicht. – Der Mann sagt sich: „Jetzt hab ich’s!“
und geht wieder zum Familiengericht. Diesmal sagt der
Bundesgerichtshof: Das mag ja alles sein. Nur, das Er-
gebnis dieses Gutachtens können wir nicht zu Beweis-
zwecken verwerten. – Dafür hätte ich noch Verständnis.
Aber es hat auch nicht gereicht, um die Plausibilität sei-
ner Darlegung, nicht der Vater zu sein, zu begründen.
Die Figur des informationellen Selbstbestimmungs-
rechts, die vom Bundesverfassungsgericht im Volkszäh-
lungsurteil in den 80er-Jahren erfunden worden ist und
uns allenthalben begegnet, führt wieder einmal dazu,
dass verhindert wird, dass dem materiellen Recht zum
Durchbruch verholfen wird.

Deswegen haben nicht nur Sie, Frau Leutheusser-
Schnarrenberger, im Januar 2005, sondern auch ich am
11. März 2005 von dieser Stelle hier in der mir eigenen
Bescheidenheit schon einmal gefordert: Wir brauchen
neben dem Anfechtungsverfahren mit seinen formell
und prozedural hohen Anforderungen ein Verfahren, um
einfach festzustellen, ob man der Vater ist.

Der Grund ist doppelt sinnvoll: Wenn nämlich die Va-
terschaft feststeht, ist Ende, und er sagt: Ich war mal
wieder ein bisschen eifersüchtig. Gott sei Dank, alles in
Ordnung. – Wenn er erfährt, er ist nicht der Vater, kann
er sagen: Der Junge sieht zwar aus wie der Briefträger,
aber er ist ein netter Kerl.


(Heiterkeit)


Er ist mir irgendwie ans Herz gewachsen. Ich will unsere
soziale Bindung nicht kappen und verzichte auf ein An-
fechtungsverfahren. – Dazu muss er aber die Möglich-
keit haben.


(Heiterkeit)


Zum Abschluss komme ich zu der nachdenklichen
Frage, ob mit der Schaffung dieses dualen Verfahrens-
wegs – einmal lediglich Feststellung der Vaterschaft und






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Jürgen Gehb
zum anderen das sich eventuell anschließende Anfech-
tungsverfahren – der sogenannte heimliche Vaterschafts-
test, der besser diskreter Vaterschaftstest heißen sollte,
obsolet wird. Das wage ich zu bezweifeln. Wie soll sich
der Vater, der sich mit Zweifeln über seine Vaterschaft
quält, einen sichereren Eindruck vermitteln, ohne es an
die gerichtliche Glocke zu hängen? Er kann erst einmal
zu einem privaten Labor gehen und fragen: Bin ich’s
oder bin ich’s nicht? – Wenn er nicht der Vater ist, ist au-
ßer Spesen nichts gewesen. Aber wenn man erst in der
Familie den Zweifel anmeldet oder gar zum Familienge-
richt wieselt – da bin ich mir ziemlich sicher –, ist der
Familienfrieden ruiniert. Um das zu verhindern, muss
man, glaube ich, mit diesem diskreten Vaterschaftstest
noch rechnen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611815700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/6308, 16/6561 und 16/5370 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Klärung
der Vaterschaft unabhängig vom Anfechtungsverfahren,
Tagesordnungspunkt 7 b, liegt inzwischen auf Druck-
sache 16/6649 die Gegenäußerung der Bundesregierung
zu der Stellungnahme des Bundesrats vor, die wie der
Gesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Koppelin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP

Missbilligung der Äußerungen des Bundesmi-
nisters der Verteidigung Dr. Franz Josef Jung
zum Abschuss von in Terrorabsicht entführten
Flugzeugen
– Drucksache 16/6490 –

Über den Antrag werden wir später namentlich ab-
stimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1611815800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen!

... ist es unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG
schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage ei-
ner gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Men-
schen, die sich wie die Besatzung und die Passa-
giere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie
hoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls so-
gar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeiten
vorsätzlich zu töten.

Dies ist eine – ich habe sie zitiert – der zentralen Aussa-
gen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts vom 15. Februar 2006 zu § 14 Abs. 3 des damali-
gen Luftsicherheitsgesetzes.

Der Bundesverteidigungsminister hat in einem Inter-
view am 17. September 2007 zum Abschuss von Flug-
zeugen mit unbeteiligten Passagieren gesagt – ich zitiere
aus dem Interview –:

Wenn es kein anderes Mittel gibt, würde ich den
Abschussbefehl geben, um unsere Bürger zu schüt-
zen.

Mit dieser Aussage hat sich der Minister über die Ent-
scheidung und die Ausführungen des Bundesverfas-
sungsgerichts hinweggesetzt.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nein!)


Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
ferner ausgeführt, dass im Rahmen der Gestaltungsmög-
lichkeiten des Staates die Wahl immer nur auf solche
Mittel fallen kann, deren Einsatz mit der Verfassung in
Einklang steht. Für die FDP-Bundestagsfraktion stelle
ich fest: Der Abschuss entführter Passagierflugzeuge ge-
hört nicht dazu.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Diese Auffassung vertritt auch die für das Verfassungs-
recht mit zuständige Bundesjustizministerin. Sie hat er-
klärt:

Wir haben eine Verfassungsgerichtsentscheidung,
die uns solcher Diskussionen völlig enthebt.

Über diesen Komplex haben wir, meine Kolleginnen
und Kollegen, am 19. September in einer Aktuellen
Stunde diskutiert. Nach Auffassung der FDP-Bundes-
tagsfraktion erlaubt es dieser Vorgang aber nicht, einfach
zur Tagesordnung überzugehen; denn es geht um die
Einhaltung des wichtigsten Grundsatzes unserer Verfas-
sung, um die Einhaltung des Kerngrundsatzes der Unan-
tastbarkeit der Menschenwürde. An diesen Grundsatz
sind – wir sind alle froh darüber – alle staatlichen Or-
gane gebunden. Der Bundesverteidigungsminister ist
nach Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes an Recht und Ge-
setz gebunden. Der Deutsche Bundestag ist als Gesetz-
gebungsorgan an die verfassungsmäßige Ordnung ge-
bunden. Deshalb ist es ein wichtiger und notwendiger
parlamentarischer Vorgang, Äußerungen, die damit nicht
in Einklang zu bringen sind, hier in dieser Form anzu-
sprechen und sie zu missbilligen.


(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])







(A) (C)



(B) (D)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Das gehört zur Kontrollaufgabe des Parlaments.

Das Grundgesetz und die Autorität des Bundesverfas-
sungsgerichts stehen ebenso wenig zur Disposition wie
das Leben der Bürgerinnen und Bürger. Herr Bundesver-
teidigungsminister, leider mussten wir erst vor kurzem,
am Wochenende, in einem Interview lesen, dass Sie an
der Position, die Sie im Interview mit dem Focus im
September formuliert haben, eindeutig festhalten. Sie
haben auf eine Frage geantwortet, es gelte alles das, was
Sie dazu gesagt haben. Herr Minister Jung, Sie haben
hier im Bundestag bisher nicht die Gelegenheit genutzt,
klarzustellen, dass Sie nicht beabsichtigen, einen rechts-
widrigen Befehl zu erteilen.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611815900

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Gehb?


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1611816000

Bitte.


Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1611816100

Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie ha-

ben in Ihrer Rede wiederholt gesagt, das Bundesverfas-
sungsgericht habe entschieden, dass der Abschuss von
Zivilmaschinen verboten sei. Kennen Sie die Tenorie-
rungsformel des Bundesverfassungsgerichts, und kennen
Sie vor allen Dingen das obiter dictum – das ist eine Ent-
scheidung, die man so nebenbei trifft – in der
Randziffer 130?


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Erwachsene Juristen!)


Sie lautet:

Dabei ist hier nicht zu entscheiden, wie ein gleich-
wohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn
bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen
wären …

In Klammern folgt ein Rattenschwanz von Fundstel-
len aus Rechtsprechung und Literatur, die durchaus das
Phänomen betreffen, dass jemand in einer solchen Tri-
age-Situation, in einer unausweichlichen Situation, steht
und, wenn er handelt, dabei die Wahl zwischen Scylla
und Charybdis hat.

Ist Ihnen diese Randziffer bekannt, und würden Sie
vor dem Hintergrund dieses obiter dictums weiterhin
Ihre Behauptung aufrechterhalten, dass das Bundesver-
fassungsgericht verboten habe, Zivilflugzeuge dieserart
abzuschießen?


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist auch einfach verboten!)



Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1611816200

Herr Gehb, genau diese Ausführungen haben Sie in

der Aktuellen Stunde hier im Deutschen Bundestag ge-
macht. Ich kenne natürlich nicht nur diese Randziffer,
sondern auch viele folgende Randziffern dieser Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts. Es ist eine
ganz große Selbstverständlichkeit, dass über die straf-
rechtliche Verantwortung eines Ministers, der einen sol-
chen Befehl gibt, und eines Piloten, der in der Situation
ist, ihn ausführen zu sollen, aber nach dem Soldatenge-
setz nicht ausführen zu dürfen, das Bundesverfassungs-
gericht an dieser Stelle nichts sagen konnte.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Aha! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das ohne Randziffer! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Es ist so! Den Unterschied sollte man als Jurist kennen! Viertes Semester, Herr Kollege!)


Aber das Bundesverfassungsgericht musste natürlich
klar sagen, dass es eben nicht mit dem Grundgesetz in
Einklang zu bringen ist, wenn für den Abschuss entführ-
ter Passagierflugzeuge eine gesetzliche Grundlage – da-
mals in § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes – ge-
schaffen werden soll.

Dass es eine schwierige Situation ist, hat uns der Alt-
bundeskanzler Helmut Schmidt in vielen Ausführungen
deutlich gemacht.

Aber hier geht es darum, Herr Gehb, dass es keine
Grundlage gibt und auch keine gesetzliche Grundlage
dafür geschaffen werden kann, dass entführte Flugzeuge,
die mit Passagieren oder mit Besatzungsangehörigen be-
setzt sind, abgeschossen werden dürfen.


(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist der Trugschluss!)


Ich mache allgemein weiter, Herr Gehb; vielen Dank.

Es ist so, dass nach dem Soldatengesetz ein rechts-
widriger Befehl mit einer Aufforderung zu einer Straftat
nicht befolgt werden darf, dass auch der übergesetzliche
Notstand ein solches Verhalten rechtswidrig bleiben lässt
und dass nur in dieser persönlich ganz schwierigen
Situation, wenn ein solcher Fall tatsächlich eintreten
sollte, eine Abwägung vorgenommen wird, wie weit
eine persönliche Verantwortung vorliegt und welche
Konsequenzen ein Strafgericht daraus zu ziehen hat.

Es kann nicht im Raum stehen bleiben, dass ein Bun-
desverteidigungsminister nicht nur bereit gewesen wäre,
einen rechtswidrigen Befehl zu erteilen, sondern dass er
damit große Verunsicherung in die Kreise der Bundes-
wehr und ihrer Soldatinnen und Soldaten getragen hat.
Es ist es die oberste Verantwortung und Pflicht eines
Bundesverteidigungsministers, der ja der höchste Vorge-
setzte aller Soldatinnen und Soldaten ist, sich nur im
Rahmen dessen zu bewegen, was nach unserer Verfas-
sung geboten und möglich ist.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Deshalb ist es auch ein einmaliger Vorgang, dass der
Bundeswehr-Verband die Kampfjetpiloten im Rahmen
dieser Diskussion zur Befehlsverweigerung aufgefordert
und aufgerufen hat. Es ist bis heute im Bundestag noch
keine Klarstellung hinsichtlich der Pressemitteilungen
erfolgt, die besagen, dass es schon eine Aufforderung
geben solle – ich formuliere im Konjunktiv: geben solle –,
dass Kampfpiloten ausgesucht würden, die im Zweifel in
einer solchen Situation, die wir heute nicht antizipieren
können, bereit wären, einen Befehl auszuführen. Hier im
Bundestag muss klargestellt werden, dass das gar nicht
erst versucht wird, es eine solche Anweisung nicht gibt,
sodass insofern wieder Beruhigung bei den Soldatinnen
und Soldaten einkehren kann.

Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, halten dies alles für
einen sehr gravierenden Vorgang. Das darf so nicht im
Raum stehen bleiben. Wir dürfen nur über das reden,
was verfassungsrechtlich im Rahmen dessen, was das
Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung nie-
dergelegt hat und unser Grundgesetz vorsieht, möglich
ist. Deshalb bitten wir, unserem Missbilligungsantrag
zuzustimmen.

An die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von
der SPD-Bundestagsfraktion möchte ich sagen: Sie wer-
den frei entscheiden. Herr Kauder hat damals bei der
Rede Ihres Fraktionsvorsitzenden den Plenarsaal verlas-
sen. Jetzt hat er Sie quasi über die Presse angewiesen,
unseren Antrag abzulehnen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611816300

Frau Kollegin.


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1611816400

Sie werden bestimmt in Abwägung aller Argumente

entscheiden.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1611816500

Das Wort hat der Kollege Bernd Siebert, CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Bernd Siebert (CDU):
Rede ID: ID1611816600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, in der Tat
hatten wir nach der Aktuellen Stunde am 19. September
erwartet, dass Sie hier einen Missbilligungsantrag ge-
genüber unserem Verteidigungsminister einbringen. Das
haben Sie dann ja auch getan und eben noch einmal be-
gründet. Ich will nicht verhehlen, dass ich während der
Diskussion der letzten Tage durchaus die Vermutung
hatte – diese haben Sie am Schluss Ihrer Rede auch be-
stätigt –, dass es Ihnen gar nicht um eine sachliche De-
batte geht, sondern um politischen Klamauk. Das haben
ja insbesondere Ihre letzten Bemerkungen deutlich ge-
macht.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte versuchen, mich sachlich mit dem Thema
auseinanderzusetzen.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Die Verfassung ist kein Klamauk!)


– Aber die Schlussbemerkungen von Frau Leutheusser-
Schnarrenberger waren das sehr wohl, Herr Vorsitzender
der FDP und Herr Fraktionsvorsitzender.

Die Debatte über den möglichen Abschuss eines von
Terroristen entführten Flugzeugs wurde in den vergange-
nen Wochen heftig und überaus emotional geführt, so-
wohl hier als auch außerhalb dieses Parlaments. Das
überrascht nicht, handelt es sich doch um ein Thema, das
man gerne verdrängen möchte. Gerade wir als Politiker
dürfen diesen Fragen aber nicht ausweichen, auch wenn
es vielleicht bequemer wäre. Wir sind nämlich in dieses
Parlament gewählt worden, um auch auf solche unbe-
quemen Fragen eine Antwort zu geben.

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung hat dazu Stel-
lung bezogen. Als Minister ist es sein Auftrag, Sicher-
heitsvorsorge zu betreiben. Sicherheitsvorsorge bedeu-
tet, dass man im Voraus und nicht etwa im Nachhinein
Szenarien durchdenkt, die durchaus realistisch sind, wie
seit dem 11. September 2001 sicherlich allen zur Kennt-
nis gebracht wurde, sehr, sehr schmerzlich übrigens.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber diese Szenarien sind ja nicht mehr realistisch!)


Selbstverständlich bildet die Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts vom Februar 2006 die Grundlage
aller weiteren Überlegungen. Daran hat Franz Josef Jung
auch nie einen Zweifel aufkommen lassen. Es war also
in der Tat grotesk und vermessen, einem Bundesminister
zu unterstellen, wie Sie es leider eben wiederholt getan
haben, er wolle bewusst gegen die Verfassung verstoßen.

Die rot-grüne Bundesregierung hatte ein Gesetz ver-
abschiedet, weil es offensichtlich Regelungsbedarf gab.
Dieser Regelungsbedarf besteht auch nach der Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts fort. Verantwor-
tung in der Politik, so wie ich sie verstehe, bedeutet
nicht, nun achselzuckend zur Tagesordnung überzuge-
hen. Vielmehr geht es darum, innerhalb der von den Ver-
fassungsrichtern gesetzten Grenzen nach den möglichen,
angemessenen und verhältnismäßigen Maßnahmen und
dem politisch Machbaren zu suchen. Nichts anderes
macht Franz Josef Jung.

Immerhin geht es um die zentrale Frage, welche
Handlungsoptionen unser Land in einer existenziellen
Bedrohungslage besitzt. Die Aussage, ein entführtes
Flugzeug unter Umständen abzuschießen, stellt doch
keinen Automatismus dar. Daher gehen die gegenüber
Minister Jung erhobenen Vorwürfe am Kern seiner Ab-
sicht vorbei. Ihm geht es doch vielmehr darum, Men-
schenleben zu retten und die Bevölkerung zu schützen.

Das Luftsicherheitsgesetz – so wurde in der damali-
gen Debatte im Jahre 2004 hier vorgetragen –






(A) (C)



(B) (D)


Bernd Siebert
regelt in sehr engen Grenzen auch die Zulässigkeit
eines Flugzeugabschusses. … In unserer Demokra-
tie kann nur die Politik eine derart schwere Verant-
wortung übernehmen. Wir dürfen diese Last nicht
den Soldatinnen und Soldaten aufbürden.

Dieses Zitat stammt aus der Rede des damaligen Innen-
ministers Schily, gehalten am 30. Januar 2004 hier in
diesem Hause. Auch um diese Frage geht es.

Der Notstand, auf den Minister Jung hinweist, ist im
Strafgesetzbuch normiert. Das Bundesverfassungs-
gericht hat in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz
gerade im Hinblick auf diese Bestimmungen die straf-
rechtliche Seite des Abschusses eines Flugzeuges aus-
drücklich offengelassen. Wer sich im Falle des Miss-
brauchs eines entführten Flugzeuges als Terrorwaffe auf
den Notstand beruft, muss auf dieser Grundlage eigen-
verantwortlich entscheiden und handeln.

Kein politisch Verantwortlicher wünscht sich, in eine
solche Situation gestellt zu werden. Der damalige Minis-
ter Dr. Peter Struck hat einmal gesagt, es bliebe ihm da-
nach nur die Entscheidung zum Rücktritt. Diese Aussage
verdeutlicht aber gerade, dass der Inhaber der Befehls-
und Kommandogewalt allen Anlass hat, im Voraus eine
rechtliche und politische Klarstellung zu fordern. Insbe-
sondere in einer Verfassungsordnung, in der staatliche
Sicherheitsorgane nur aufgrund klarer, vorhersehbarer
und rechtlich einwandfreier Vorgaben eingesetzt werden
können, müssen grundlegende Weichenstellungen recht-
zeitig im Vorfeld erfolgen.

Die Akzeptanz eines generellen Abschussverbotes
würde die Entscheidungshoheit über die Frage, wann
und wo Menschen zu Tode kommen, allein den Terroris-
ten zubilligen. Der Staat muss jedoch die Initiative be-
halten. Die Antwort auf die Frage, wem das Gesetz des
Handelns zuzubilligen ist – Terroristen oder der demo-
kratisch legitimierten Staatsgewalt, die sich für ihr Vor-
gehen jederzeit politisch und rechtlich verantworten
muss –, dürfte eigentlich in diesem Hause einhellig aus-
fallen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom
Februar 2006 ist in jeder Hinsicht zu respektieren. Dies
gebietet unsere Achtung vor dem höchsten Gericht, dem
die verbindliche Interpretation des Grundgesetzes zu-
kommt. Ein sorgfältiges Studium des Urteils zeigt je-
doch, dass das Bundesverfassungsgericht Spielräume
aufzeigt


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


– aber selbstverständlich! –, die wir politisch ausfüllen
können und müssen. Das Urteil stellt insofern keine ab-
schließende Vorgabe für staatliches Handeln in extremen
Bedrohungslagen dar.

So hat das Gericht die juristische Behandlung be-
stimmter Konstellationen offengelassen. Wie sich die
Rechtslage bei kriegerischen Maßnahmen oder bei der
Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Ge-
meinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts-
ordnung gerichtet sind, darstellt, war zum Beispiel nicht
Gegenstand des Urteils. Hier hat das Bundesverfas-
sungsgericht jedenfalls auch eine solidarische Einstands-
pflicht des Einzelnen bis hin zur Aufopferung des eige-
nen Lebens nicht ausgeschlossen.

Dass heute Terroranschläge vorstellbar sind, die sich
mit kriegerischen Angriffen gleichsetzen lassen, hat die
Bundesregierung einvernehmlich im Weißbuch festge-
stellt. Die Schwierigkeit der Beurteilung, ab welchem
Ausmaß eines Terroranschlages diese Voraussetzungen
erfüllt werden, ist offenkundig. Allein deshalb jedoch
vor Extremsituationen die Augen zu verschließen, würde
weder der Schutzpflicht gegenüber den Bürgerinnen und
Bürgern gerecht, noch entspräche es der Fürsorgever-
pflichtung gegenüber den Angehörigen der Bundeswehr
und der Sicherheitskräfte, die dringend klare Vorgaben
und Rechtssicherheit benötigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wehrhafte Demokratie und Rechtsstaat bedeuten,
dass menschenverachtende Angriffe auf unser Gemein-
wesen nicht außerhalb unserer Rechtsordnung, sondern
gerade mit den Mitteln der Rechtsordnung bekämpft
werden müssen. Das mag eine Weiterentwicklung unse-
rer Verfassung und unseres Verfassungsverständnisses
erfordern, ist aber besser, als sich zur Handlungsunfähig-
keit zu verurteilen. Nichts stellt meiner Auffassung nach
unseren Rechtsstaat mehr infrage, als die Behauptung,
man sei extremsten Formen terroristischer Angriffe
wehrlos ausgeliefert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Hierzu auf der Basis des Urteils des Bundesverfas-
sungsgerichts nach politischen Lösungen zu suchen,
sollte Konsens in diesem Hohen Hause sein. Um nichts
anderes hat Bundesminister Jung bei seinem Vorstoß ge-
worben. Ich appelliere deshalb an die Fraktionen und an
uns alle in diesem Hause, gemeinsam daran zu arbeiten,
die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger im Rah-
men des Machbaren zu erhöhen.

Der Antrag der FDP wird uns dabei nicht helfen. Des-
wegen weisen wir ihn mit aller Entschiedenheit zurück.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611816700

Der Kollege Jan Korte hat jetzt das Wort für die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611816800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist die Tragik solch unvorstellbarer Terrorangriffe,
dass sie letztendlich juristisch nicht hinlänglich zu be-
handeln sind. Vielleicht wäre dieser Gesichtspunkt der
richtige Ansatz für die Debatte gewesen. Es ist aber ge-
nau andersherum gelaufen; denn Sie, Herr Minister
Jung, haben in einer Art Harter-Mann-Manier – offen-
sichtlich frei von Zweifeln und ohne, dass Sie einmal in






(A) (C)



(B) (D)


Jan Korte
sich gegangen sind – genau gewusst, was in einem be-
stimmten Fall, den man sich eigentlich gar nicht näher
ausmalen kann, zu tun ist. Ein Minister, der einen Abwä-
gungsprozess bereits abgeschlossen hat, bevor überhaupt
etwas passiert ist, kann nicht seriös über eine Frage dis-
kutieren, die nicht endgültig zu beantworten ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Ein Minister, der sich über die Rechtsprechung des
höchsten Gerichtes einfach hinwegsetzt – die Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger hat das schon dargelegt –,
ist nicht tragbar. Man stelle sich einmal vor, was hier los
gewesen wäre, wenn ein Minister der Linkspartei so ge-
redet hätte. Das muss man einmal klar sagen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Man muss politisch bewerten, in welchem Zusam-
menhang Sie Ihre Aussage über abzuschießende Flug-
zeuge getroffen haben. Parallel dazu hat ein anderer
Minister, nämlich Bundesinnenminister Schäuble, von
eventuellen nuklearen Anschlägen gesprochen. Die
Frage ist, welchen Einfluss diese Äußerungen auf das
gesellschaftliche Klima haben.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Sie erzeugen mit solchen Horror- und Angstszenarien
eine Stimmung in der Bevölkerung, wie sie bei einem
allgemeinen Ausnahmezustand herrscht. Die Menschen
werden dadurch empfänglich für autoritäre Politik-
ansätze, die wir grundsätzlich ablehnen. Das ist der Kern
der politischen Auseinandersetzung.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Die entscheidende Frage in den Debatten ist, ob ange-
sichts der inneren Militarisierung, die mit der von der
Großen Koalition verursachten äußeren Militarisierung
zusammenhängt, die Verhältnismäßigkeit noch gewahrt
ist und welche Ängste in der Bevölkerung dadurch aus-
gelöst werden. Wenn eine Bevölkerung Angst hat, dann
ist sie in der Folge nicht mehr mündig, dann lebt sie
nicht mehr frei und artikuliert sich entsprechend.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Die FDP hat heute einen Missbilligungsantrag einge-
bracht. Dies ist auch deswegen richtig, weil die Bundes-
kanzlerin, die eigentlich die Richtlinienkompetenz hat,
offensichtlich nicht in der Lage ist, dazu ein klares Wort
zu sprechen. Es gibt heute in diesem Haus eine Mehrheit
für diesen Antrag. Ich würde mir wünschen – das ist un-
sere Aufforderung an die SPD –, dass die SPD zu ihren
Worten steht und nun Taten folgen lässt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Ich glaube, dass wir in diesen Debatten mit Hysterie
und einer Haudrauf-Stimmung nicht weiterkommen.
Solche Zustände sind im Kern immer antidemokratisch.
Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass all die de-
mokratisch-rechtsstaatlichen Errungenschaften, über die
wir in den letzten Monaten gesprochen haben, in den
letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten unter großen Op-
fern erkämpft worden sind. Wir sollten daher etwas vor-
sichtiger und sorgfältiger mit solchen Fragen umgehen.
Darum stimmen wir diesem Antrag selbstverständlich
aus vollem Herzen zu.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611816900

Der Kollege Olaf Scholz hat jetzt das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Olaf Scholz (SPD):
Rede ID: ID1611817000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Debatte, die wir hier führen, ist eine sehr ernsthafte,
und sie sollte mit dem nötigen Ernst geführt werden. Ge-
statten Sie mir deshalb ein paar ernste Bemerkungen.

Dass der Deutsche Bundestag im Januar 2005 ein Ge-
setz beschlossen hat, das sich mit der Frage eines mögli-
chen Abschusses von Flugzeugen beschäftigt, das Luft-
sicherheitsgesetz, hat eine Ursache. Diese Ursache war
der 11. September 2001, waren die Terroranschläge auf
New York und andere Ziele in den Vereinigten Staaten.
Wir alle erinnern uns sehr genau an diese Ereignisse. Ich
glaube, in diesem Parlament oder anderswo sitzt nie-
mand, der sich nicht präzise daran erinnern kann, was er
machte, als ihn diese Nachricht erreichte, der die
schrecklichen Bilder von den Menschen, die aufgrund
des Anschlages dem Tode geweiht waren, nicht immer
wieder vor Augen hat.

Ich selbst verbinde damit noch sehr präzise andere Er-
innerungen. Ich war zu dieser Zeit Innensenator in Ham-
burg und trug damit Verantwortung. Wir unternahmen
damals den Versuch, herauszufinden, ob sich in der Stadt
oder anderswo in Deutschland weitere Terroristen befin-
den; denn wir mussten damals lernen, dass sich drei der
Attentäter ganz legal in Deutschland, in Hamburg auf-
hielten. Eine ganze Nacht lang versuchte ich mit der
Hamburger Polizei und allen anderen Sicherheitsbehör-
den, mögliche Komplizen und andere Täter zu finden. In
der Polizeizentrale waren immer wieder die Bilder der
Anschläge zu sehen. Deshalb finde ich es nur richtig,
dass sich der Deutsche Bundestag sehr sorgfältig mit der
Frage beschäftigt, was man tun kann. Deshalb fand und
finde ich es richtig, dass sich die letzte Bundesregierung
darüber Gedanken gemacht hat und einen entsprechen-
den Gesetzentwurf auf den Weg gebracht hat.

Debatten wie die, die wir heute führen, sind aber im-
mer wieder auch Anlass, sich sorgfältig mit der Frage zu
beschäftigen, was richtig ist. Im Nachhinein, nachdem
ich damals und jetzt und auch im Zusammenhang mit
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Gele-
genheit hatte, mich mit dem Thema auseinanderzuset-
zen, muss ich sagen: Ich bin froh darüber, dass es Kläger






(A) (C)



(B) (D)


Olaf Scholz
gegen das Gesetz gegeben hat, das ich als Abgeordneter
mit beschlossen habe, und ich bin nach langer, sehr sorg-
fältiger Überlegung sehr wohl der Überzeugung, dass
die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts richtig
ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sollten diese Debatte nutzen, um uns mit den Er-
wägungen des Gerichts auseinanderzusetzen. Das Ge-
richt hat uns gesagt: Ihr dürft kein Gesetz machen, das
den Abschuss eines Zivilflugzeuges mit unschuldigen
Menschen, die dem Tod geweiht sind, regelt. – Wir dür-
fen das nicht legalisieren, das ist im Kern die Aussage
des Bundesverfassungsgerichts.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Keine Carte blanche!)


Man kann verstehen, warum wir uns im Januar 2005 so
entschieden haben. Es ist aber richtig, dass uns das Bun-
desverfassungsgericht zurückgerufen und gesagt hat: So
könnt ihr das nicht machen; ihr könnt das nicht durch ein
Gesetz regeln.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP sowie der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht,
dass die Situation, die entstehen kann, eine ganz außer-
ordentliche ist und es keine generellen Regelungen ge-
ben kann, nach denen man sich auf diese Situation vor-
bereitet. Es hat nicht gesagt: Wenn man sich entscheidet,
die Verantwortung zu tragen und die Möglichkeiten der
Bundeswehr einzusetzen, bleibt man straffrei. Es hat nur
gesagt: Es kann sein, dass es so ist. Das ist eine Frage,
die das Gericht nicht zu klären hatte. Das Gericht hat
niemandem, weder den Soldaten der Bundeswehr noch
dem Bundesverteidigungsminister, die Sicherheit gege-
ben, dass sie sich darauf verlassen können, dass das zwar
illegal ist, aber straffrei bleibt.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist der Punkt!)


Das ist nicht das Ergebnis der Verfassungsrechtspre-
chung. Dieser Spielraum ist durch das Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts nicht entstanden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Insofern hat uns das Bundesverfassungsgericht damit al-
leingelassen. Es hat richtigerweise darauf hingewiesen,
dass wir uns in einer ganz besonderen und außerordentli-
chen Situation unserer Verantwortung zu stellen haben.

Es gibt nicht den Ausweg einer vorweggenommenen
Abwägung. Da sind wir mit dem Bundesverteidigungs-
minister nicht einer Meinung; denn es ist gewissermaßen
wie ein Gesetz, wenn ich mir jetzt überlege, was ich in
einer solchen Situation tun werde. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat uns gebeten, genau das zu unterlassen.
Es hat gesagt: Wir können das nicht wie ein Gesetz re-
geln. Wir können keine abstrakte Regelung für die Zu-
kunft treffen. Es muss der schicksalhafte Einzelfall blei-
ben, in dem die Menschen, die die Verantwortung
tragen, entscheiden. Darum distanzieren wir uns von den
Abwägungen, die der Bundesverteidigungsminister in
dieser Frage getroffen hat.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bitte darum, diese Debatte zu nutzen, um wieder
auf den Einzelfall zurückzukommen. Ich habe den
Wunsch, dass der Minister, dessen Arbeit ich unterstütze
– darauf werde ich gleich noch zu sprechen kommen –,
die Gelegenheit nutzt, dies zu tun. Das ist für ihn und
seine Arbeit genauso wichtig wie für die Bundeswehr
und die Soldaten, die dort tätig sind. Wir müssen uns an
die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und,
wie ich finde, aus Überzeugung an die Erwägungen des
Gerichts halten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen zu Anträgen, die in diesem Parlament ge-
stellt werden, Stellung beziehen. Deshalb will ich Ihnen
an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Die SPD-Bundes-
tagsfraktion hat sich entschieden, den Missbilligungsan-
trag abzulehnen;


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


denn wir wollen, dass Herr Jung Verteidigungsminister
bleibt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Niemand könnte verantworten, dass jemand Verteidi-
gungsminister ist, dem vom Bundestag eine solche Miss-
billigung ausgesprochen wurde. Das ist für uns der
Grund, so zu entscheiden. Er soll weiter im Amt bleiben.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schreiben gerade Bundestagsgeschichte mit dieser Argumentation!)


Er soll in dieser Regierung die Verantwortung für die
Soldaten dieser Republik tragen, und er soll es gut ma-
chen. Deshalb gibt es von uns keine Zustimmung zu die-
sem Antrag.

Ich will ein weiteres Thema ansprechen, das in die-
sem Zusammenhang eine Rolle spielt. Wir haben mit
dem damaligen Gesetz den Versuch unternommen, eine
Regelung zu treffen, die so nicht zu treffen war. Aber das
Bundesverfassungsgericht hat uns gesagt, dass wir
selbstverständlich eine Regelung treffen können für den
Fall, dass es sich um unbemannte Flugzeuge oder
Schiffe handelt, oder um Flugzeuge und Schiffe, in bzw.
auf denen sich nur Terroristen und Attentäter befinden.
Ich glaube, es ist richtig, wenn wir sehr bald eine solche
Regelung, die das Gericht ermöglicht hat, treffen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Übrigens ist das der wahrscheinlichere Fall. Aufgrund
all der Erkenntnisse, die wir aus der damaligen Katastro-
phe gezogen haben, und all den zusätzlichen Sicherheits-
maßnahmen ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass uns
eine genaue Kopie der damaligen Anschläge droht; es






(A) (C)



(B) (D)


Olaf Scholz
werden andere Situationen sein. Da wäre es hilfreich,
wenn uns in dem zulässigen Rahmen eine gesetzliche
Hilfe zur Verfügung stünde.

Was brauchen wir jetzt? Wir brauchen Maßnahmen
der Gefahrenabwehr, mit denen wir die Polizei der Län-
der bei den Aufgaben, die sie in diesem Zusammenhang
haben, unterstützen können. Weil wir nicht wollen, dass
sich unsere Polizei mit Kampfflugzeugen und U-Booten
ausrüstet, müssen wir gesetzlich ermöglichen, dass ihnen
in diesen Fällen die Bundeswehr hilft, aber eben nur in
den Fällen, in denen das Gericht das für zulässig gehal-
ten hat, und nur auf diesen Bereich bezogen. Unser Vor-
schlag ist, dies im Rahmen von Art. 35 des Grundgeset-
zes zu regeln. Wir planen aber in keiner Weise den
Einsatz der Bundeswehr im Innern. Das brauchen wir
nicht, und das ist auch nicht notwendig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN sowie der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Damit es keine Missverständnisse gibt: Wir haben
gute Gründe, den Einsatz der Bundeswehr zu beschrän-
ken. Ihre Instrumente sollen den Innen- und Sicherheits-
behörden zur Verfügung stehen; die Bundeswehr ist in
solchen Fällen nur als Hilfe gedacht. Wir wollen eben
nicht, dass über eine ausgeweitete Definition des Vertei-
digungsfalles eine Situation entsteht, in der die Bundes-
wehr in immer mehr Fällen eingesetzt wird. Ich bitte
alle, die diesen Gedanken verfolgen, ihn schnell wieder
fallen zu lassen und die Kurve zu kriegen; denn das kann
nicht gutgehen.

Soziologisch und bei Betrachtung der internationalen
Politik kommen wir mit diesem Begriff sehr weit; man
wundert sich, was alles Verteidigung sein kann. Leicht
könnten Fälle auftreten, die wir alle gemeinsam nicht
meinen. Deshalb sollte es bei der scharfen Trennung
bleiben, die unser Grundgesetz vorgibt. In diesem Sinne
sollten wir etwas Sinnvolles zustande bringen. Ich for-
dere daher alle auf, unseren Vorschlägen zu folgen, was
die Grundgesetzergänzung anbetrifft, und ansonsten
bitte ich nochmals, den Antrag abzulehnen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ihr seid mir Helden! Selbstbewusste Parlamentarier! Das macht Parlamentsgeschichte, Herr Scholz! Sie missbilligen, und wir dürfen nicht missbilligen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611817100

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege

Wolfgang Wieland.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611817200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

nehme den Zwischenruf des Kollegen Westerwelle auf:
Herr Kollege Scholz, Sie haben hier zwar erklärt, Sie
würden die Hand für die Missbilligung nicht heben; aber
Ihr Beitrag war in der Sache nichts anderes als die Miss-
billigung des Verteidigungsministers

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


und insbesondere der Vorstellungen der CDU/CSU-
Fraktion und dessen, was Herr Siebert gesagt hat.

Niemand aus der Opposition verkennt die Zwangs-
lage, in der sich der Verteidigungsminister befindet, und
spricht ihm ab, dass das Horrorszenario an die Nerven
gehe, dass sich ein Flugzeug einem Fußballstadion oder
einem Atomkraftwerk nähert. Darüber hat er ja in der
Hessenschau geredet. Allerdings gibt es ein großes
Aber: Auch diese Zwangslage kann nicht entschuldigen,
dass der auf die Verfassung vereidigte Minister so tut, als
habe es die Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts nicht gegeben. Dies ist auf das Schärfste zu miss-
billigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wir mussten als Grüne dieses Urteil auch zur Kennt-
nis nehmen; es wurde schließlich gegen uns erlassen.
Wir waren der Ansicht, dass die Verfassung den Ab-
schuss eines besetzten Passagierflugzeuges verbiete und
es deswegen nicht nötig sei, dies ausdrücklich noch ein-
mal ins Gesetz zu schreiben. Das Bundesverfassungsge-
richt hat den Kollegen Schily in der mündlichen Ver-
handlung gefragt: Wenn Sie gar keine Maschine
abschießen wollen, weshalb schreiben Sie dann eine Be-
fugnis ins Gesetz? Das war eine nur zu berechtigte
Frage. Wir als Grüne haben verstanden; dies gilt auch für
die SPD. Meine Damen und Herren von der Union, Sie
sollten endlich verstehen. Darauf warten wir.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Kollege Siebert, da Sie ständig nach Wegen und
Auswegen suchen und denken, es müsse irgendwie doch
noch gehen, zitiere ich aus der Entscheidung:

Eine solche Behandlung

– der Abschuss –

missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde
und unveräußerlichen Rechten. Sie werden da-
durch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung an-
derer benutzt wird, verdinglicht und zugleich
entrechtlicht; …

Eine schlimmere und zugleich eindeutigere Aussage ist
kaum möglich. Kein Minister darf entrechtlichen oder
verdinglichen. Weiter heißt es in diesem Satz, es werde
den „Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem
Menschen um seiner selbst willen zukommt“. Hier ist
Schluss mit allen anderen Überlegungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)


Was Ihren wiederholten Hinweis auf eine Passage an-
geht, in der von einem Angriff auf die Grundlagen des
Rechtsstaates die Rede ist, fordere ich Sie auf, zwei
Sätze weiter zu lesen. Da heißt es, dass die Szenarien ei-






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Wieland
nes Flugzeugangriffes gerade nicht diese Kriterien erfül-
len. Deswegen gibt es auch keinen Quasi-Verteidigungs-
fall, von dem Herr Schäuble immer redet. Er kann seinen
ganzen Otto Depenheuer und was er sonst immer holt,
um einen Ausnahmezustand herbeizureden, vergessen;
es käme hier zu keinem anderen Ergebnis. Die Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts war eindeutig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ein letzter Satz zum außergesetzlichen oder überge-
setzlichen Notstand. Wie der Begriff schon sagt, ist es
der Zustand außerhalb des Gesetzes. Aber ein Minister
steht doch nicht außerhalb des Gesetzes; er hat sich strikt
innergesetzlich zu bewegen. Der Bürger Jung mag das
vorbringen, wenn er denn – behüte, dass es geschieht –
einmal angeklagt wäre. Dann könnte er sich Schuld aus-
schließend oder entschuldigend darauf berufen. Aber er
kann doch als Minister keine staatsrechtliche Konstruk-
tion schaffen, nach der dies ein möglicher Weg wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Ich komme zum Schluss. Der eine Teil des Kabinetts
erklärt frank und frei, er wolle Passagiermaschinen ab-
schießen lassen, selbst wenn es keine gesetzliche Rege-
lung dafür gibt, und zwar so lange, bis es sie gibt. Der
andere Teil des Kabinetts ist darüber entsetzt. Es ist
keine Daffke der Opposition, wenn sie fragt: Wie steht
dazu eigentlich die Person, die die Richtlinienkompetenz
hat? Warum schweigt sie an dieser Stelle? Wie so oft ist
sie nicht festgelegt. Ich denke, das Parlament sollte ihr
eine Entscheidungshilfe geben, indem es diese Äuße-
rung und dieses Verhalten von Minister Jung eindeutig
missbilligt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611817300

Zum Abschluss dieser Debatte spricht der Kollege

Gert Winkelmeier.


Gert Winkelmeier (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611817400

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Entweder haben Sie, Herr Minister Jung, in Ihrem Haus
grottenschlechte Juristen, oder Sie haben während Ihres
Studiums ab und zu einmal geschlafen. Wie sonst ist es
zu erklären, dass Sie bis heute darauf bestehen, Men-
schenleben gegen Menschenleben abzuwägen, und da-
mit gegen Art. 1 des Grundgesetzes verstoßen? Dafür
wollen Sie sogar noch im Vorhinein Straffreiheit zugesi-
chert bekommen. Sie stehen einfach mit dem Grundge-
setz auf Kriegsfuß.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
zum Luftsicherheitsgesetz festgestellt, dass dies „schlech-
terdings unvorstellbar“ ist; der Ausdruck „schlechter-
dings“ ist an dieser Stelle ein Synonym für das Wort
„völlig“. Aus dieser Situation kommen Sie nicht heraus,
auch wenn Sie den kriminellen Akt, dass ein entführtes
Flugzeug als Terrormittel benutzt wird, zur militärischen
Angriffshandlung umdefinieren und versuchen, daraus
einen Verteidigungsfall zu konstruieren. Sie können sich
so viel drehen und winden, wie Sie wollen: Sie sind lei-
der Ihrem Kollegen Schäuble auf den Leim gegangen,
der sich schon als Student mit einem Grundsatzurteil des
Bundesgerichtshofes hätte auseinandersetzen müssen.
Vor 55 Jahren hat der BGH zwei Euthanasieärzte wegen
Beihilfe zum Mord verurteilt. Als Rechtfertigung sagten
sie, sie hätten mitgemacht, um zumindest einen Teil der
Kranken zu retten. Diese Argumentation hat der BGH
verworfen, weil der Grundsatz des kleineren Übels nicht
gilt, wenn es um Menschenleben geht.

Herr Minister, das Fatale an Ihrer Haltung ist nicht in
erster Linie Ihr Starrsinn. Sie sind der Inhaber der Be-
fehls- und Kommandogewalt. Damit ist Verantwortung
verbunden. Sie haben Verantwortung für Ihre Untergebe-
nen, in diesem Fall für die Piloten der Jagdgeschwa-
der 71 und 74. Dieser Verantwortung werden Sie jedoch
nicht gerecht; denn einen Teil dieser Piloten haben Sie
nach Ihren eigenen Aussagen bereits vor Jahresfrist,
während der Fußballweltmeisterschaft, auf eine Straftat
verpflichtet, nämlich auf einen glatten Verstoß gegen
§ 11 des Soldatengesetzes. Sie wollen aus dieser Angele-
genheit straffrei herauskommen? Das ist ungeheuerlich
und in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


In einer Demokratie muss der Bürger im Prinzip da-
rauf vertrauen können, dass sich seine Politiker Recht
und Verfassung nicht nach eigenem Gutdünken zurecht-
biegen. Wie können Sie erwarten, dass Ihre Soldaten,
zum Beispiel die in Afghanistan, bei einem solchen Vor-
bild nach wie vor rechtstreu handeln? Ganz nebenbei: In
der Praxis würden Sie niemals die erforderliche Zahl von
Piloten zusammenbekommen, die an 365 Tagen im Jahr
in zwei Geschwadern bereit wären, Ihre Abschussbe-
fehle auszuführen.

Sie haben sich völlig verrannt, Herr Minister. Weil Sie
da offensichtlich nicht mehr alleine herauskommen,
muss sich die Bundeskanzlerin endlich öffentlich von Ih-
nen distanzieren und Ihnen eine Rüge aussprechen,


(Beifall bei der LINKEN)


auch wenn sie damit ihren Parteifreund Herrn Koch ver-
grätzen sollte.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611817500

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6490 mit dem Titel
„Missbilligung der Äußerungen des Bundesministers der
Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung, zum Abschuss von
in Terrorabsicht entführten Flugzeugen“. Die Fraktion






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
der FDP verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Das ist
der Fall. Dann eröffne ich jetzt die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich hiermit die Abstimmung. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Ab-
stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)

Wir setzen unsere Beratungen fort. Ich rufe Tagesord-
nungspunkt 9 a und 9 b auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens
Ackermann, Kerstin Andreae, Ingrid Arndt-
Brauer und weiteren Abgeordneten eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes zur Verankerung der Genera-
tionengerechtigkeit

(Generationengerechtigkeitsgesetz)


– Drucksache 16/3399 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Katja Kipping, Jan Korte, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Soziale Gerechtigkeit statt Generationen-
kampf – Für eine nachhaltige Politik des
Sozialstaates im Interesse von Jung und Alt

– Drucksache 16/6599 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Es ist verabredet, hierüber eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist es so beschlossen.

Ich gebe zu, dass ich die Aussprache gerne eröffnen
würde, wenn die meisten, die dieser Debatte nicht folgen
wollen, den Saal verlassen und sich die übrigen auf ihre
Plätze begeben haben.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zuerst dem Kol-
legen Peter Friedrich für die SPD-Fraktion das Wort.

1) Ergebnis Seite 12238 C

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP])



Peter Friedrich (SPD):
Rede ID: ID1611817600

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Alle, die noch hiergeblieben sind, um ein
wenig zuzuhören, lade ich sehr herzlich ein, dieser De-
batte zu folgen, weil wir in der Tat über ein Thema spre-
chen, das eigentlich – dies erkennt man, wenn man die
Debatten des heutigen Tages verfolgt hat – alles durch-
zieht, was wir hier tun.

Wir haben heute über die Zukunft des Arbeitsmarktes
und über die Kinderbetreuung debattiert. Auch, wenn es
um die äußere Sicherheit geht, kommt eigentlich kein
Redner darum herum, darüber zu reden, dass es um eine
nachhaltige Sicherung unseres Wohlstandes, unserer
Freiheit und der Solidarität geht. Insofern durchzieht das
Thema Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit
sämtliche Debatten des Deutschen Bundestages immer
wieder. Deswegen war es das Anliegen von über
100 Abgeordneten, das, was die Politik permanent be-
schäftigt, auch ins Grundgesetz aufzunehmen.

Der Gesetzentwurf liegt Ihnen vor. Der Kernsatz lau-
tet:

Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip der
Nachhaltigkeit zu beachten und die Interessen künf-
tiger Generationen zu schützen.

Die Initiatorinnen und Initiatoren begehren, das ins
Grundgesetz aufzunehmen.

Der Gedanke der Nachhaltigkeit ist bereits heute in
Art. 20 a des Grundgesetzes angelegt. Dort ist er aber
auf den Bereich der Umwelt, der Ökologie, einge-
schränkt. Wir wollen, dass dieser Gedanke darüber hi-
naus gilt. Ich werde einige Beispiele dafür nennen, in
welchen Lebensbereichen der Gedanke der Nachhaltig-
keit verankert werden müsste und worüber Politik disku-
tieren sollte.

Wir haben uns der Frage zu stellen, ob die Formulie-
rung eines solchen Staatszieles geeignet ist, der Politik
die Selbstverpflichtung aufzulegen, dass sie die Interes-
sen künftiger Generationen und den Grundsatz der
Nachhaltigkeit tatsächlich in allen Politikbereichen be-
herzigt. Dazu wird mein Kollege Carl-Christian Dressel
insbesondere die juristische Seite abdecken.

Ich möchte einiges zu den verschiedenen Themenfel-
dern sagen, um die es geht. Wir Initiatorinnen und Initia-
toren aus vier Fraktionen dieses Hauses sind uns in dem
Ziel einig, die Selbstverpflichtung der Politik zu errei-
chen, bei allen Entscheidungen auch die Generationen-
gerechtigkeit ins Auge zu fassen. Wir sind uns aber kei-
neswegs einig, wenn es um die Instrumente geht, die zu
benennen sind. Deswegen sind wir wahrscheinlich auch
in unterschiedlichen Parteien.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das stimmt!)

Nachdem es uns gelungen ist, über alle Generationen

von Abgeordneten hinweg Initiatoren zu finden, finde
ich es sehr bedauerlich, dass es uns nicht gelungen ist,
dies auch über alle Parteien hinweg zu erreichen. Ich






(A) (C)



(B) (D)


Peter Friedrich
danke der Fraktion, die sich Die Linke nennt, dafür, dass
sie einen Antrag eingebracht hat, in dem sie auf der ers-
ten Seite begründet, warum es des Teufels ist, über
Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit zu reden,
während sie auf der zweiten Seite acht Forderungen auf-
stellt, was jetzt dringend zu tun ist, um Generationenge-
rechtigkeit und Nachhaltigkeit herbeizuführen. Dieses
Verhalten ist äußerst schizophren.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der LINKEN)


Ich teile nicht alle Ziele, die dort genannt werden, aber
erst zu sagen, das Ganze sei nicht nötig und es sei falsch,
darüber zu reden, um dann zu sagen, dass man das alles
bitte schön ändern muss, um die Ziele zu erreichen, ist
nicht gerade eine konsequente Politik.

Ich möchte etwas zu einem der Hauptfelder sagen, auf
dem die Nachhaltigkeit, so glaube ich, eine stärkere
Rolle spielen sollte, nämlich zur sozialen Sicherung. Die
letzte Bundesregierung, die letzte Koalition, hat es ge-
schafft, bei der Rente die Kapitaldeckung als eine wei-
tere Säule einzuführen. Ich glaube, dass das ein großer
Fortschritt gewesen ist. Ich denke, wenn man sich an-
schaut, wie die Menschen in diesem Land dieses Ange-
bot aufnehmen, dann merkt man, dass es inzwischen auf
Akzeptanz stößt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Ich glaube aber nicht – um das auch auszuführen und
Unterschiede zu benennen –, dass es sinnvoll ist, das
Element der Kapitaldeckung allen Formen sozialer Si-
cherung überzustülpen, insbesondere dort, wo es sich um
Risikoversicherungen handelt. Das Motto „Spare in der
Zeit, dann hast du in der Not!“ taugt aus meiner Sicht
nicht für Risiken des Lebens, die immer in Solidarität
abgesichert werden müssen. Es geht vielmehr darum:
Handele beizeiten, damit du nicht in Not gerätst! Das ist
die Aufgabe.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen ist es richtig, einen Grundsatz in die Verfas-
sung aufzunehmen, der die Politik darauf verpflichtet,
genau dies an die erste Stelle der Überlegungen zu set-
zen.

Viele, die den Gesetzentwurf mit unterschrieben ha-
ben, sind im Gesundheitsausschuss, und wir wissen um
die demografischen Probleme, die auf uns zukommen.
Wenn wir darüber reden, wie wir im Hinblick auf die
Gesundheit Nachhaltigkeit erreichen können, ist die
erste Antwort „Prävention“. Zuerst geht es darum, wie
wir zukünftige Risiken vermeiden und es den Menschen
ersparen können, in eine Notsituation zu geraten, krank
zu werden.


(Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])

Das zeigt, dass Generationengerechtigkeit und Nach-

haltigkeit nicht bedeuten, dass wir jetzt alle den Gürtel
enger schnallen und auf etwas verzichten müssen. Wir
können schon heute die Lebensqualität verbessern, um
in Zukunft zu mehr Nachhaltigkeit im Gesundheitswe-
sen zu gelangen. Ich glaube, da sollte es keinen Dissens
geben, auch wenn einige Zwischenrufer sich darum be-
mühen.

Des Weiteren möchte ich ein Thema ansprechen, das,
denke ich, alle umtreibt und auf das auch der zweite Teil
des Antrags abhebt: Steuern und Staatsverschuldung.
Für mich sind Vermögen- und Erbschaftsteuer ein origi-
näres Thema auch der Generationengerechtigkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In einer Situation, in der eine Gesellschaft demografi-
schen Wandel bewältigen muss, muss sie auch von de-
nen Steuern verlangen können, die von diesem demogra-
fischen Wandel in besonderer Weise profitieren. Das
sind unter anderem Erbinnen und Erben; das sind die
Vermögenden.

Wir wollen, dass diejenigen, die ihren Unterhalt da-
durch bestreiten, dass ihr Geld für sie arbeitet, einen hö-
heren Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtaufgabe leis-
ten als diejenigen, die mit ihrer eigenen Hände oder
Köpfe Arbeit ihr Auskommen bestreiten müssen. Des-
wegen gehört das für mich dazu. Ich verstehe aber nicht,
dass die Staatsverschuldung im Antrag der Linken ne-
giert wird. Die Bundesregierung dazu aufzufordern,
nichts vorzulegen, was eine Verschuldungsbremse be-
deuten würde, hat, mit Verlaub, mit linker Politik über-
haupt nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])


Die größte Umverteilung in diesem Land findet dadurch
statt, dass der Bund über Steuern insbesondere von den-
jenigen, die arbeiten, Geld einnehmen muss und es den-
jenigen in Form von Zinsen gibt, die von ihrem Vermö-
gen leben.


(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Staatsverschuldung bewirkt eine Umverteilung von un-
ten nach oben. Deswegen ist es keine linke Politik, zu
sagen: Egal wie hoch die Schulden sind, irgendjemand
wird sie schon irgendwann bezahlen.

Es geht darum, vernünftige Instrumente zu benennen.
Ich unterstütze ausdrücklich den Ansatz, der in Ihrem
Antrag enthalten ist, dass zur Frage der Verschuldung
auch immer die Frage der öffentlichen Daseinsfürsorge
und -vorsorge gehört. Ich glaube, dass wir auch betonen
müssen, dass der Zustand der öffentlichen Infrastruktur
und das, was wir in sie investieren, ein Beitrag zur Nach-
haltigkeit und Generationengerechtigkeit sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen glaube ich, dass wir die Investitionen in die-
sem Bereich zu Recht erhöhen müssen, auch wenn der
heutige Investitionsbegriff vielleicht nicht geeignet ist,
dies ordentlich abzubilden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Peter Friedrich

Dr. Heinrich L. Kolb Inge Höger Priska Hinz (Herborn) Dr. Christoph Bergner
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Michael Link (Heilbronn)

Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel

Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Dr. Anton Hofreiter
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Winfried Nachtwei
Omid Nouripour

Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Hellmut Königshaus Dr. Barbara Höll Ulrike Höfken Otto Bernhardt
Darüber, ob das vorgeschl
tige ist, werden wir trefflich s
müssen. Aber der Ansatz, d
keit und Nachhaltigkeit zu e
delns in allen Politikbereiche
wendig. In diesem Sinne ho
Debatte im weiteren Fortgang
Antrag.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, de und dem BÜNDNIS Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 559; davon ja: 149 nein: 404 enthalten: 6 Ja FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Daniel Bahr Uwe Barth Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Patrick Döring Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Horst Friedrich Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Miriam Gruß Joachim Günther Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Michael Kauch agene Instrument das richtreiten können und streiten ass Generationengerechtiginem Grundsatz des Hann werden müssen, ist notffe ich auf eine intensive der Beratungen zu diesem r CDU/CSU, der FDP 90/DIE GRÜNEN)


Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Martin Zeil

DIE LINKE

Hüseyin-Kenan Aydin
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Vizepräsidentin Katrin G
Ich komme zurück zum

punkt, der Abstimmung über
tion mit dem Titel „Missbill
Bundesministers der Verteid
zum Abschuss von in Terror
gen“. Ich gebe das von d
Schriftführern ermittelte Erge
stimmung bekannt: Es wurde
Mit Ja haben gestimmt 149,
405. Es gab 6 Enthaltungen.
lehnt.

Wolfgang Nešković
Petra Pau
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)

Volker Schneider


(Saarbrücken)

Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Peter Hettlich
öring-Eckardt:
vorherigen Tagesordnungs-
den Antrag der FDP-Frak-
igung der Äußerungen des
igung Dr. Franz Josef Jung
absicht entführten Flugzeu-
en Schriftführerinnen und
bnis der namentlichen Ab-
n 560 Stimmen abgegeben.
mit Nein haben gestimmt
Der Antrag ist damit abge-

Brigitte Pothmer
Claudia Roth (Augsburg)

Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf (Frankfurt)


Fraktionsloser
Abgeordneter

Gert Winkelmeier

Nein

CDU/CSU

Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Veronika Bellmann






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer (Lübeck)

Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu

Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler (Wiesbaden)

Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich

Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer (Altötting)

Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Laurenz Meyer (Hamm)

Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Hildegard Müller
Carsten Müller


(Braunschweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)

Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)

Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)

Andreas Schmidt (Mülheim)

Ingo Schmitt (Berlin)

Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl (Heilbronn)

Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Kai Wegner
Peter Weiß (Emmendingen)

Gerald Weiß (Groß-Gerau)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer (Neuss)

Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)

Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)

Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Detlef Dzembritzki
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Caren Marks Dr. Hermann Scheer Rüdiger Veit Dr. Wolfgang Wodarg
Wir kommen zurück zu un
jetzt der Kollege Daniel Bahr


(Beifall bei Daniel Bahr Frau Präsidentin! Meine li legen! Es war im Jahr 2003, a allen Fraktionen bei einer V Konzepte in der Rentenpoli nanzpolitik gestritten haben schiedlichen Parteien angehö dass wir eine gemeinsame In stellt, dass wir gemeinsam da enden, die allzu häufig die L rationen geschoben hat. W feststellen, dass wir alle – das PDS, die Sie auch in Lände allzu häufig in unseren Partei getragen haben. Deswegen wollen wir mi Jüngeren ausgegangen ist, ab aus den Fraktionen im Deu wird, der Politik Verpflichtu mer nur an den nächsten Tag min zu denken. Wir wollen v tik selbstverpflichtet, die La die nachfolgenden Generatio serer Debatte. Das Wort hat für die FDP-Fraktion. der FDP)


DP):
eben Kolleginnen und Kol-
ls jüngere Abgeordnete aus
eranstaltung über richtige

tik, Umweltpolitik und Fi-
. Aber obwohl wir unter-
ren, haben wir beschlossen,
itiative starten, und festge-
für sind, eine Politik zu be-
asten auf kommende Gene-

ir müssen selbstkritisch
gilt genauso für Sie von der
rn Verantwortung haben –
en dafür Mitverantwortung

t dieser Initiative, die von
er von allen Altersgruppen
tschen Bundestag getragen
ngen auferlegen, nicht im-
oder den nächsten Wahlter-
ielmehr, dass sich die Poli-
sten, die immer weiter auf
nen geschoben werden, zu
begrenzen und in ihren Ents
nengerechtigkeit zu achten.


(Beifall bei der FDP so der CDU/CSU, der SPD SES 90/DIE GRÜNEN)


Generationengerechtigkeit
tion nur so viel verbrauche
gende Generationen noch g
haben. Das gilt für die natür
wie für die finanziellen Ress
lungsspielraum angesichts d
immer mehr einengen. Wir k
– was wir immer wieder ge
ausgeben wollen – ob im so
oder Infrastruktur –, aber ein
hinnehmen: Mittlerweile ha
großes Ausmaß angenomme
schon vorhandenen Schulden
im Bundeshaushalt ausmac
Spielraum, diese Gelder für
ben.

Allein in den 45 Minuten
wird sich der Schuldenberg u
Dieses Geld steht uns nicht
zu Verfügung. Wir müssen
daran haben, Wege zu finden
cheidungen auf Generatio-

wie bei Abgeordneten
und des BÜNDNIS-

heißt, dass eine Genera-
n darf, dass auch nachfol-
enügend Freiheitschancen

lichen Ressourcen genauso
ourcen, die unseren Hand-
er Verschuldungssituation

önnen zwar darüber streiten
rne tun –, wofür wir Geld
zialen Bereich, für Bildung
es müssen wir als Faktum

t die Verschuldung ein so
n, dass die Zinsen für die
den zweithöchsten Posten

hen. Das nimmt uns den
andere Bereiche auszuge-

, die diese Debatte dauert,
m 1 455 300 Euro erhöhen.
mehr für andere Ausgaben
ein gemeinsames Interesse
, um das einzuschränken.
Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)

Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)

Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark

Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)

Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)

Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)

Maik Reichel
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-

Hanewinckel
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Ortwin Runde
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Renate Schmidt (Nürnberg)

Heinz Schmitt (Landau)

Carsten Schneider (Erfurt)

Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz


(Everswinkel)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes

Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen


(Wiesloch)

Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

Enthalten

SPD

Sebastian Edathy
Angelika Graf (Rosenheim)

Dr. h. c. Susanne Kastner
Christine Lambrecht
Gerold Reichenbach






(A) (C)



(B) (D)


Daniel Bahr (Münster)

Heute wurden viel zu häufig Wahlversprechen ge-
macht, und zwar von allen Parteien im Deutschen Bun-
destag. Die Vorhaben würden über Schulden finanziert,
die wieder von den nachfolgenden Generationen getra-
gen werden müssten.

Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir unter ande-
rem erreichen, dass wir verstärkt schon jetzt die Verant-
wortung für Entscheidungen tragen, die wir heute tref-
fen.


(Beifall bei der FDP)


Deswegen ist es mir sehr wichtig, dass eine breite De-
batte über den Gesetzentwurf stattfindet. Mir ist völlig
klar, dass jeder aus den Fraktionen seine eigenen Vor-
stellungen hat, wie unsere Ziele besser umgesetzt wer-
den könnten. Wir werden es nie leisten, dass alle Gene-
rationen aus den verschiedensten Fraktionen in einem
Gesetzentwurf zur Renten- und Umweltpolitik völlig
übereinstimmen. In diesen Bereichen haben wir unter-
schiedliche Ansätze. Mit dem Gesetzentwurf haben wir
aber eine Verpflichtung der Politik erreicht, sich in ihrem
Handeln generationengerechter zu verhalten. Das ist
schon eine große Leistung.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611817700

Jens Spahn spricht jetzt für CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1611817800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist gut, dass diese Debatte heute auch den Deutschen
Bundestag erreicht und unser Gesetzentwurf es nach et-
was längerer Zeit tatsächlich auf die Tagesordnung ge-
schafft hat. Worum geht es bei dem Gesetzentwurf?
105 Abgeordnete des Deutschen Bundestages aus vier
Fraktionen und im Übrigen aus allen Altersklassen – von
einer Seite des Hauses wird immer wieder auf den Ge-
gensatz Alt gegen Jung abgestellt; dabei wurde der Ge-
setzentwurf von Abgeordneten im Alter von 24 bis
64 Jahren eingebracht – verfolgen mit dem Gesetzent-
wurf ein gemeinsames Ziel, das sich in zwei Bereiche
aufteilt.

Zum einen geht es um die Frage des Staatsziels Gene-
rationengerechtigkeit, also die Verpflichtung aller Staats-
organe – des Bundestages, des Bundesrates, aber auch
des Bundespräsidenten und des Bundesverfassungsge-
richts –, die Ressourcen und Spielräume nachfolgender
Generationen auch mit Blick auf das Handeln aktueller
Generationen mit zu berücksichtigen. Ich habe noch
keine Debatte erlebt, in der jemand etwa das Sozial-
staatsprinzip als Staatsziel infrage gestellt hat,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Doch! Das ist kein Staatsziel!)

weil in der Verfassung nicht bis ins kleinste Detail in-
haltlich geregelt ist, wie dieses Prinzip auszufüllen ist.

Es bestehen zwar in der Tat unterschiedliche Auffas-
sungen darüber, wie dieses Ziel erreicht werden soll,
aber mit dem Gesetzentwurf wird erreicht – das soll auch
mit der Staatszielbestimmung erreicht werden –, dass
wir uns alle gemeinsam dem Ziel verpflichten, einen ge-
rechten Ausgleich zwischen den Generationen zu schaf-
fen. Das gilt im Übrigen auch für uns. Ich werde 2050
70 Jahre alt sein. Dann gehöre ich zu den Alten, die sich
mit Rücksicht auf Jüngere zu verhalten haben. Ein sol-
ches Staatsziel ist nicht nur in der Gegenwart, sondern
auch in Zukunft bindend.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Neben dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht
wollen wir zum anderen die Interessen der nachfolgen-
den Generationen in der Finanzverfassung berücksich-
tigt wissen.

Ich gebe zu, dass uns die Föderalismuskommission II
mit der Diskussion über eine Schuldenbremse ein Stück
weit eingeholt hat. Wenn die Ergebnisse vorliegen und
sogar über das hinausgehen, was wir vorschlagen, wer-
den wir gerne bereit sein, dem zu folgen. Im Kern geht
es darum, dass die bisherigen Instrumente und Regelun-
gen in der Finanzverfassung nicht verhindert haben, dass
wir insgesamt 1,5 Billionen Euro explizite und implizite,
also nicht ausgewiesene, Schulden – das gilt insbeson-
dere für die sozialen Sicherungssysteme – haben. Es ist
bezeichnend, dass wir es wahrscheinlich zum nächsten
Dekadenwechsel zum ersten Mal seit fast 40 Jahren
schaffen werden – so lange gibt der Bund mehr aus, als
er einnimmt –, einen ausgeglichenen Haushalt vorzule-
gen. Offensichtlich sind zusätzliche Mechanismen not-
wendig.

Denjenigen, die verfassungsrechtliche Bedenken ha-
ben und mahnen, wir sollten bei der Staatszielbestim-
mung sehr zurückhaltend sein und die Verfassung nicht
unnötig aufblähen, stimme ich im Grundsatz zu. Wenn
man aber erkennt, dass die geltenden verfassungsrechtli-
chen Mechanismen und Regelungen nicht geeignet sind,
das angestrebte Ziel – etwa in der Finanzverfassung – zu
erreichen, muss man über eine Verfassungsänderung
nachdenken. Auch die Interessen derjenigen, die sich
heute nicht artikulieren können und die in 20, 30, 40
oder 50 Jahren Schulden und Zinsen zu zahlen und dann
eventuell unter eingeschränkten Gestaltungsspielräu-
men zu leiden hätten, müssen in der aktuellen Politik
und in der Verfassung Berücksichtigung finden. Ich bin
daher auf die Anhörung, die unter Beteiligung von Ver-
fassungsrechtlern stattfinden wird, sehr gespannt. Dabei
wird es um die Gestaltungsspielräume und die Berück-
sichtigung der Interessen zukünftiger Generationen ge-
hen.

Ich möchte noch etwas zu dem Antrag der Linken sa-
gen. Dieser Antrag wurde in den letzten Tagen vorge-
legt, während unser Gesetzentwurf seit vielen Monaten
vorliegt. Wahrscheinlich ist er aus der Not geboren. Sie






(A) (C)



(B) (D)


Jens Spahn
hätten besser einfach Nein gesagt. Sie setzen in Ihrem
Antrag die stärkste Waffe der Linken, den sozialistischen
Schachtelsatz, ein.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Das kommt bei euren Anträgen nie vor!)


Er ist wirklich schwer zu verstehen. Das wäre noch zu
akzeptieren, wenn er inhaltlich gut wäre. Aber so ist er
einmal mehr ein Beleg für Ihre populistische Argumen-
tation, ein typisches Phänomen der Linkspartei.


(Widerspruch bei der LINKEN)


– Lesen Sie doch einmal Ihre Forderungen! Sie wollen
mehr BAföG, höhere Renten, ein höheres Arbeitslosen-
geld sowie mehr für das Gesundheitswesen und die Pfle-
geversicherung.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie erwähnen aber mit keinem einzigen Wort, wie das
Ganze bezahlt werden soll. Das ist das Populistische an
Ihrem Antrag. Das ist zu verurteilen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da Sie offenlassen, wie das Ganze bezahlt werden
soll, und im Zweifelsfall alles über Schulden finanzieren
wollen, tun Sie nicht nur nichts im Interesse zukünftiger
Generationen. Sie gehen vielmehr noch einen Schritt
weiter und machen bewusst Vorschläge, die ganz klar im
Gegensatz zu den Interessen künftiger Generationen ste-
hen. Dass Sie die Verteilungswirkung neuer Schulden
nicht verstehen, dass Sie nicht verstehen, dass gerade
Schulden für eine Umverteilung von unten nach oben
sorgen, weil durch Zinszahlungen, die über Steuern ge-
leistet werden müssen, letztlich diejenigen, die Schuld-
verschreibungen kaufen – das sind meistens Menschen
mit höherem Einkommen –, mehr Geld bekommen, ver-
wundert mich jedes Mal aufs Neue.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann mir nur wünschen, dass wir hier im Deut-
schen Bundestag im Rahmen dieses parlamentarischen
Verfahrens eine hoffentlich spannende und aufschluss-
reiche Anhörung erleben werden, in der es auch um die
Frage geht, was man wie am besten im Sinne unseres
Ziels in der Verfassung regeln kann. Am Ende sollten
wir gemeinsam, hoffentlich fraktionsübergreifend, unab-
hängig davon, dass wir Generationengerechtigkeit fast
alle seit vielen Jahren in unseren Reden erwähnen, ver-
suchen, das, was wir uns vorgenommen haben, was aber
in einer Demokratie nicht immer einfach umzusetzen ist,
bindend in die Verfassung hineinzuschreiben. Ich jeden-
falls freue mich auf die Debatte und gegebenenfalls auf
eine sehr strittige Auseinandersetzung.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611817900

Es spricht für die Linke die Kollegin Sevim

Dağdelen.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611818000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der

Rückbau und der Abbau von sozialen Errungenschaften
tarnen sich gern mit den schönsten Titeln. Der Genera-
tionenvertrag zwischen Jung und Alt in unserem Land ist
eine soziale Errungenschaft, und der Gesetzentwurf der
jungen Parlamentariergruppe hat einen schönen Titel:
Generationengerechtigkeitsgesetz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nur täuscht ein schöner Titel nicht darüber hinweg – klat-
schen Sie nicht zu früh! –, dass es in diesem Gesetzent-
wurf durchaus nicht um Gerechtigkeit, sondern um
plumpen Egoismus geht.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Wo? Eine Zeile!)


Es ist gewiss nicht leicht, zu ermitteln, was gerecht und
was ungerecht ist. Im Zweifel erkennt man aber die Ge-
rechten daran, dass sie nicht zuerst an sich denken, son-
dern an die anderen.


(Beifall bei der LINKEN)


Für die Linke möchte ich an eine Tatsache erinnern,
die so offensichtlich ist, dass man dazu neigt, sie manch-
mal zu vergessen. Alles, was uns heute zur Verfügung
steht, ist das Werk älterer Generationen. Alles, worüber
wir heute verfügen, unsere Technik, unsere Kultur, un-
sere sozialen und politischen Erfolge, sogar alles, was
uns heute hier in diesem Saal an Einrichtung und Aus-
stattung umgibt, fußt auf dem Lebenswerk derer, die
heute alt sind. Diese Generation hat in den Erfolg einer
Zukunft nachhaltig investiert, die wir heute unsere Ge-
genwart nennen. Es ist also völlig gerecht, dass diese äl-
tere Generation am materiellen Wohlstand der gegen-
wärtigen Gesellschaft teilhaben darf, für die sie
schließlich die Grundlagen geliefert hat.


(Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da widerspricht doch keiner!)


Der vorliegende Gesetzentwurf ist dagegen nicht nur
ungerecht, sondern auch noch schlicht beschämend.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Thema verfehlt! Setzen, sechs!)


Darin ist viel von Zukunft und Nachhaltigkeit die Rede.
Der Begriff der Nachhaltigkeit war ursprünglich einmal
positiv besetzt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611818100

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Spahn zulassen?






(A) (C)



(B) (D)


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611818200

Nein, im Moment nicht, vielleicht am Ende der Rede. –

Wie nun im Gesetzentwurf der jungen Parlamentarier zu
erkennen ist, machen sich diesen Begriff vermehrt dieje-
nigen zu eigen, denen es um die Nachhaltigkeit sozialer
Missstände geht. Es sind aber nicht die Alten, die der
Bewahrung der Lebensgrundlagen im Wege stehen, son-
dern es ist die Logik einer Wirtschaft, deren höchstes
Ziel der Profit ist, die den sozialen Frieden ebenso be-
droht wie die Lebensgrundlagen der zukünftigen Gene-
rationen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Gesetzentwurf liest sich so, als gäbe es eine wunder-
bare Welt von morgen, die den Jüngeren gehört, und eine
Welt von gestern, die von den Alten beherrscht wird und
den Weg in die Welt von morgen versperrt.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dann müssen Sie einen anderen Gesetzentwurf gelesen haben!)


Dies ist ein infantiles Weltbild.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Wo steht das im Gesetzentwurf? Haben Sie ihn überhaupt gelesen?)


Steht denn nicht jede Generation auf den Schultern der
alten, um dort zu wachsen, bis sie neue Generationen zu
schultern imstande ist?

Allem voran ist das Weltbild der jungen Parlamen-
tariergruppe aber unvollständig. Es bleiben darin die
wirklichen Konflikte unbeachtet, die uns den Weg in
eine gerechte Gesellschaft tatsächlich versperren.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ins Paradies!)


Die wahre Konfliktlinie in unserer Gesellschaft verläuft
nicht zwischen Jung und Alt. Sie verläuft auch nicht
zwischen denen, die Arbeit haben, und denen, die keine
Arbeit haben. Sie verläuft nicht zwischen den Kulturen,
und sie hat auch nichts mit der staatsrechtlichen Her-
kunft der Menschen zu tun. Nein, die echten Konfliktli-
nien verlaufen zwischen denen, die für ihre Arbeitsleis-
tung gerade einmal einen mäßigen Lohn bekommen, und
denen, die sich an der Arbeit ihrer Mitmenschen hem-
mungslos bereichern.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linie verläuft zwischen – es ist bemerkenswert, dass
das gerade die FDP moniert – denen, die nur ihre Ar-
beitskraft am Markt anbieten können,


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Schwarz-weiß ist die Welt!)


und jenen, die diesen Markt mit reichlich Kapital steu-
ern. Die echte Konfliktlinie verläuft zwischen solchen
jungen Menschen von heute, die schon ab der Wiege
ausgesorgt haben, und jenen, die sich ein ganzes Leben
lang ohne wirkliche Chancen plagen werden.

Die Konfliktlinie verläuft zwischen denen, die ohne
Arbeit leben und bleiben, und jenen, die ihren Beschäf-
tigten Überstunden und Mehrarbeit abverlangen. In der
Vermittlung dieser Konflikte liegt aller Anfang für eine
wirklich gerechte Gesellschaft für alle Generationen.
Schaut man sich dagegen den Gesetzentwurf dieser jun-
gen Parlamentariergruppe an, möchte man sagen: Aller
Anfang ist schwer.

Um den Startschwierigkeiten auf dem Weg in eine ge-
rechte Zukunft etwas abzuhelfen, hat Ihnen die Linke
heute einen Antrag vorgelegt. Mit der Verfassung geht
die Linke davon aus, dass das Sozialstaatsprinzip des
Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz den Staat verpflichtet, dafür
Sorge zu tragen, dass jeder Mensch in die Lage versetzt
wird, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und sich
selbst verwirklichen zu können.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Auch die, die noch nicht geboren sind!)


Wenn wir dieses Verfassungsprinzip endlich in die Tat
umsetzen würden – so ist es nämlich nicht –, brauchten
wir heute keine Debatte zu einem Unthema namens Ge-
nerationengerechtigkeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Verfassung zeichnet uns das unverwirklichte Bild
einer Gesellschaft, in der der Mensch Maß aller Dinge
ist und nicht die Verwertungslogik des Kapitals. In die-
ser Gesellschaft wird es dann auch eine Gerechtigkeit für
junge und alte Menschen geben.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611818300

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht Anna Lührmann.


Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611818400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Frau Dağdelen, wenn Sie den Antrag
gelesen hätten, wäre Ihnen aufgefallen, dass darin die
junge Generation mit keinem Wort vorkommt, sondern
von der künftigen Generation die Rede ist.

Es geht uns mit diesem Antrag darum, die Interessen
künftiger Generationen, also derjenigen, die noch nicht
geboren sind, in den Fokus der Politik zu stellen. Dieser
Antrag enthält also keine Spur von Egoismus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Unser Ziel ist, dass die künftig lebenden Generatio-
nen mindestens die gleichen Lebenschancen haben wie
wir, die heute leben. Das heißt, es geht uns darum, dass
wir alle, Jung und Alt, daran arbeiten, unseren Nach-
kommen eine intakte Umwelt und niedrigere Schulden-
berge zu hinterlassen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611818500

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Katja Kipping zulassen?


Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611818600

Ja.






(A) (C)



(B) (D)


Anna Lührmann

(Zuruf von der CDU/CSU: Es sind nicht alle so intolerant! – Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Jetzt kommt Kompetenz!)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611818700

Liebe Kollegin, wir haben nicht nur Ihre parlamenta-

rische Initiative gelesen, sondern auch die Papiere zur
Generationengerechtigkeit, die Sie bereits in der vergan-
genen Legislatur mit unterzeichnet haben. Da gab es
eine sehr interessante Fußnote, nämlich den Vermerk,
dass dieses Papier, das von jungen Abgeordneten in die
Öffentlichkeit getragen wurde, im Wesentlichen von der
Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ mit erarbeitet
wurde.


(Zuruf von der FDP: Das stimmt doch überhaupt nicht!)


Das ist eine Initiative – Sie haben gerade gesagt: von
Egoismus keine Spur –, die sehr wohl für Interessen und
Egoismus steht, weil sie von den sogenannten Arbeitge-
bern finanziert wird. Deswegen möchte ich Sie fragen:
Wie verträgt sich dieses Aufgreifen von ganz klaren
Wirtschaftslobbygruppen mit dem Anspruch eines freien
Abgeordneten und vor allen Dingen eines selbstbewuss-
ten demokratischen Diskurses?


Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611818800

Frau Kipping, ich weiß, auf welches Papier Sie an-

spielen. Das wurde übrigens nicht von der Initiative
„Neue Soziale Marktwirtschaft“


(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])


– ich darf jetzt antworten –, sondern von einem Think
tank namens „Berlin Police“ erarbeitet. Ich habe daran
mitgewirkt, bevor ich wusste, woher sie finanzielle Un-
terstützung bekommen. Ich habe das hinterher selber – –


(Lachen bei der LINKEN – Zurufe von der LINKEN)


– Man darf doch Fehler auch einmal zugeben.


(Erneute Zurufe von der LINKEN)


Das sollte in einer Demokratie auch einmal möglich
sein. Das scheint einigen Ihrer Parteikollegen eindeutig
schwerzufallen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wir können das auch allein! Wir haben das auch allein geschafft! Keine Sorge, wir kriegen das hin!)


Wir reden hier aber über etwas ganz anderes: Wir re-
den hier über einen interfraktionellen Gesetzentwurf, der
darauf abzielt, das Grundgesetz im Interesse künftiger
Generationen zu ergänzen. An diesem Punkt kann ich
nun wirklich keinen Egoismus entdecken.

Sie fragen, wie das mit dem Selbstverständnis von
Parlamentariern in Einklang zu bringen ist. Ich kann Ih-
nen zusichern: Viele Kolleginnen und Kollegen – auch
solche, die hier heute anwesend sind – haben viele Stun-
den damit zugebracht, sich – unabhängig von irgendei-
ner finanziellen oder anderen Unterstützung – über jedes
Wort und jedes Komma dieses Gesetzentwurfs Gedan-
ken zu machen und darüber zu reden.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr richtig! Wir können das nämlich auch allein!)


Es geht uns mit diesem Gesetzentwurf eindeutig darum,
die Interessen künftiger Generationen, die bisher zu we-
nig geschützt werden, in den Mittelpunkt der Politik zu
rücken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich will hier noch einmal erwähnen, dass sich unser
Gesetzentwurf von der Stoßrichtung anderer Vorlagen,
die auf die Ergänzung von Staatszielen ausgerichtet sind,
grundsätzlich unterscheidet. Uns geht es eben nicht um
einen Politikbereich wie Sport oder Kultur, sondern da-
rum, dass Menschen, die noch nicht geboren sind, zu
Rechtssubjekten gemacht werden. Wir wollen uns auch
um die Interessen dieser Menschen kümmern.

Wir wollen die Spielregeln unserer Demokratie dahin
gehend ändern, dass der politische Wettbewerb nicht
mehr zulasten derjenigen ausgetragen wird, die noch
nicht wählen gehen dürfen. Wir wollen also mehr Fair-
ness in der politischen Auseinandersetzung. Es soll in
Deutschland künftig unanständig sein, in Wahlkämpfen
etwas zu versprechen, was für künftige Generationen
eine Last sein wird. Wir wollen, dass stattdessen immer
wieder kritisch hinterfragt wird, welche Auswirkungen
politische Konzepte auch nach dem Ablauf einer Wahl-
periode haben.

Dass diese Fairness gegenüber künftigen Generatio-
nen fehlt, wird besonders beim Thema „Umweltschutz“
deutlich: Schmelzende Eisberge, strahlender Atommüll
und aussterbende Arten sind die Konsequenz nicht korri-
gierbarer Fehler, mit der wir unsere Kinder belasten.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Was hat das mit Haushaltspolitik zu tun?)


– Um genau dieses Thema geht es bei unserem Gesetz-
entwurf. Ihre intellektuellen Fähigkeiten überfordert das
anscheinend.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der FDP)


Ich möchte auf das Thema „Klimawandel“ zurück-
kommen. Die Ergebnisse der ranghöchsten Klimafor-
scher der UN sprechen eine klare Sprache: In den nächs-
ten hundert Jahren wird sich die Erde wahrscheinlich
zwischen 1,8 und 4 Grad Celsius erwärmen; der Meeres-
spiegel wird ansteigen; Wetterextreme wie Dürren und
Unwetter werden krass zunehmen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir haben längst den Zug verpasst, den
Klimawandel aufzuhalten. Die heutige Politik kann den
Klimawandel nur noch abbremsen und dafür sorgen,
dass es nicht noch schlimmer kommt. Diesen Fehler
sollten wir nicht wiederholen. Stattdessen sollte in Zu-
kunft folgendes Motto den Staat in seinem Handeln lei-






(A) (C)



(B) (D)


Anna Lührmann
ten: Wir haben die Erde von unseren Kindern nur ge-
borgt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Anhand dieses Beispiels sollte selbst den Kolleginnen
und Kollegen von der Linkspartei klar geworden sein,
dass Generationengerechtigkeit soziale Gerechtigkeit in
der Zukunft ist. Denn wer wird denn am schlimmsten
unter den Folgen des Klimawandels zu leiden haben?
Das werden nicht die Reichen sein, die sich von vielen
Problemen freikaufen können. Die ärmeren Bevölke-
rungsschichten in Europa, vor allem aber in Afrika und
in Asien werden unter den krassen Unwettern, unter dem
Mangel an Trinkwasser und Lebensmitteln zu leiden ha-
ben.

Was für die Umweltpolitik gilt, gilt auch für die
Staatsverschuldung und für die sozialen Sicherungssys-
teme. Politikerinnen und Politiker können heute
schmerzhafte Verteilungskonflikte mittels implizierter
und explizierter Verschuldung bequem auf die Zukunft
abschieben. Es ist aber ungerecht, wenn wir uns soziale
Gerechtigkeit heute auf Kosten von sozialer Ungerech-
tigkeit in der Zukunft erkaufen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn wir immer mehr Geld für Schuldendienst und
für andere Verpflichtungen aus der Vergangenheit ausge-
ben, dann hat der Staat immer weniger Mittel etwa für
Bildung und für soziale Sicherung zur Verfügung, und
das trifft vor allem die, die den Staat brauchen, nämlich
die sozial Schwachen. Diese absehbare Ungerechtigkeit
muss verhindert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Ich würde mich sehr freuen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wenn Sie unseren Gesetzentwurf in den fol-
genden Beratungen wohlwollend prüfen und wir am
Ende eine Zweidrittelmehrheit für mehr Generationen-
gerechtigkeit, für mehr Nachhaltigkeit hier im Plenum
zustande bringen würden. Ihre Enkelkinder, deren Kin-
der und Kindeskinder werden es Ihnen sicherlich dan-
ken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611818900

Der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel hat jetzt das

Wort für die SPD-Fraktion.


Dr. Carl-Christian Dressel (SPD):
Rede ID: ID1611819000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der

heutigen Debatte geht es um einen Gesetzentwurf, der
die generationenübergreifende Gerechtigkeit zum Ziel
hat. Meines Erachtens ist das ein ehrenwertes Ziel, und
ich denke, dass jeder von uns es für erstrebenswert hält.

(Zuruf von der LINKEN: Nie! Darunter versteht jeder etwas anderes!)


Bei dem uns vorliegenden Gesetzentwurf handelt es
sich zweifelsohne um den Versuch, grundlegenden ge-
sellschaftlichen Veränderungsprozessen Rechnung zu
tragen, die bestimmte Fragen aufwerfen. Die Frage ist
natürlich: Ist eine Änderung des Grundgesetzes die rich-
tige Antwort hierauf? Diesen Diskurs müssen wir mei-
nes Erachtens mit dem größten Respekt und auch mit al-
ler Sensibilität für die Generationen führen, die dieses
Land mit aufgebaut haben.

Ich unterstelle niemandem, die Solidarität zwischen
den Generationen infrage zu stellen. Für uns alle muss
klar sein: An der Solidarität zwischen den Generationen
darf kein Weg vorbeiführen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es darf nicht darum gehen, Verteilungsgerechtigkeit ge-
gen Generationengerechtigkeit auszuspielen. Beide be-
dingen einander. Wir haben in der Diskussion, auch in
der Öffentlichkeit, leider teilweise einen unsensiblen und
despektierlichen Umgang mit dem Thema erlebt. Bereits
in den Sprüchen Salomos steht geschrieben – ich weiß,
dass Sie bei der PDS das Buch nicht kennen –:


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist
der Leute Verderben.


(Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])


– Sünde ist Ihr Stichwort; da haben Sie recht.

Wir hätten über das Thema Generationengerechtig-
keit und über zukünftige Generationen weniger zu disku-
tieren, hätten wir nicht in der Gegenwart die Probleme,
die uns vergangenes Regierungshandeln Ihrer Partei ein-
gebrockt hat.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Euer Regierungshandeln, mein Lieber!)


Sie möchten das Thema Generationengerechtigkeit im-
mer wieder für Ihre eigene Profilierung instrumentalisie-
ren. Ich sage Ihnen einmal: Ihr Handeln ist genauso sün-
dig wie das derjenigen aus der Generation von Ichlingen,
die ein asymmetrisches Verständnis von Solidarität ha-
ben und die den Generationenvertrag aufkündigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Frank Spieth [DIE LINKE]: So altklug, wie Sie daherreden, kann ich mit 80 nicht sein!)


– Das alles ist eine Frage des gefühlten Alters, Herr Kol-
lege. Ich fühle mich noch jung genug, um Ihnen Kontra
zu geben.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Carl-Christian Dressel

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da wir schon zum Thema Alter sprechen: Die Älteren
vertrauen darauf, Solidarität von denjenigen erfahren zu
können, die sie selbst in die Welt gesetzt haben und de-
nen sie durch ihre Beiträge zum Aufbau dieses Landes
und unserer Gesellschaft ein vernünftiges Leben ermög-
licht haben.

Wir haben jetzt das gesellschaftliche Problem: Der
Generationenvertrag beginnt zu bröckeln; zu wenig Kin-
der werden geboren. Wir müssen darauf reagieren. Ist
eine Antwort darauf, das Grundgesetz zu ändern? Aus
verfassungsrechtlicher Sicht habe ich damit Probleme.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau!)


Diese verfassungsrechtliche Sicht teilen auch viele juris-
tische Kollegen. Das Problem der Gerechtigkeit,


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Sozialstaatsgebot!)


zu dem es nicht nur das Buch Eine Theorie der Gerech-
tigkeit von John Rawls gibt, ist ein sehr abstraktes. Der
Begriff der Gerechtigkeit lässt sich nur schwer definie-
ren. Wer artikuliert die Bedürfnisse einer noch nicht
existierenden Generation? Ich sehe das Problem, dass
die Verfassung durch die Aufnahme dieses Problems
weiter ausfranst und dass die Werteordnung des Grund-
gesetzes verwässert wird.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dann hätten Sie auch gegen den Tierschutz sein müssen!)


Wie ist eine faire Lastenverteilung zu definieren? Ist
es gerecht, Herr Kollege Bahr, dass der durchschnittliche
Deutsche im Jahr 2004 nominal doppelt so viel verdient
hat wie der durchschnittliche Deutsche im Jahr 1960?
Müssen demzufolge die heute Jungen einen Sondergene-
rationenausgleich an die Älteren überweisen? Der Ge-
rechtigkeitsbegriff lässt sich schwer bestimmen ebenso
wie der aus der Forstwirtschaft stammende Begriff der
Nachhaltigkeit.

Wir brauchen in der Verfassung keine Erklärungen zur
Selbstverpflichtung, wie Sie, Herr Bahr, es vorhin ausge-
führt haben. Wir brauchen in der Verfassung Normen, die
dem Bundesverfassungsgericht als Grundlage für Ent-
scheidungen dienen können. Das gilt zum Beispiel auch
für den hier häufig missbräuchlich angeführten Begriff
des Sozialstaates. Die politischen Entscheidungen, die
wir treffen, müssen das Thema Generationengerechtig-
keit stets berücksichtigen. Die Entscheidungen über
politische Maßnahmen, die diesbezüglich zu treffen
sind, sollten allerdings nicht in Form einer Staatszielde-
finition an Karlsruhe delegiert werden, sondern wir soll-
ten diese Entscheidungen selbst treffen und selbst be-
gründen können.

Ein Bereich, in dem wir das zurzeit tun, ist der Be-
reich der Föderalismusreform II. Hier tut sich zurzeit
wirklich die Chance auf, bei den öffentlichen Finanzen
zu mehr Nachhaltigkeit und Chancengerechtigkeit zu
kommen. Auf die Frage, ob es gerecht ist, den künftigen
Generationen 2 Billionen Euro oder gar noch mehr,
wenn Ihre Vorschläge berücksichtigt würden, an Schul-
den zu hinterlassen, würde ich nämlich antworten: Wir
sollten über diesen konkreten Punkt diskutieren, statt
Programmsätze ins Grundgesetz zu schreiben.

Wir müssen unsere Diskussion mit Respekt und Sen-
sibilität führen. Und um festzustellen, dass Verfassung
kein Klamauk ist, brauchen wir weder Zitate aus der
Bibel noch solche von bedeutenden Rechtsphilosophen.
Ganz im Gegenteil: Dazu reicht sogar der entsprechende
Zwischenruf des Kollegen Westerwelle beim letzten Ta-
gesordnungspunkt aus.

Ich danke Ihnen und freue mich auf eine ausgiebige
Diskussion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Was war das für ein Zwischenruf? – Gegenruf des Abg. Dr. CarlChristian Dressel [SPD]: „Die Verfassung ist kein Klamauk“!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611819100

Michael Kauch spricht jetzt für die FDP-Fraktion.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1611819200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der

Tat, die Verfassung ist kein Klamauk. Genau darum geht
es hier aber nicht. Vielmehr geht es darum, hier darüber
zu diskutieren, ob die Staatszielbestimmungen des
Grundgesetzes, die wir ja schon haben, ausreichend sind,
damit die Rechte der Menschen berücksichtigt werden,
die heute noch nicht geboren sind. Das ist genau der
Punkt, um den es hier geht. Menschen, die heute schon
geboren sind, haben Grundrechte. Deshalb besteht zum
Beispiel ein Unterschied zwischen dieser Debatte und
der über Kinderrechte. Da geht es ja um Kinder, die
heute schon Grundrechtsträger sind.

Wir müssen uns auch vergegenwärtigen, dass wir das
Grundgesetz in den 90er-Jahren bereits um weitere
Staatszielbestimmungen erweitert haben. Es erschließt
sich mir nicht, warum beispielsweise die Staatszielbe-
stimmung des Schutzes der Tiere vom Bundestag mit
Zweidrittelmehrheit beschlossen wurde, aber die künfti-
gen Generationen, die, die nach uns kommen, nicht den
gleichen Schutz in Form einer Staatszielbestimmung be-
kommen sollen.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich denke in diesem Zusammenhang, meine Damen
und Herren, immer an die Verteidigung der Habilita-
tionsschrift eines meiner Professoren zurück, der sich
darüber habilitiert hat, dass das Grundgesetz keine
Schranken gegen die dynamische Ausbeutung der jun-
gen Generation enthält. Genau darum geht es. Es geht
um die dynamische Ausbeutung, die dadurch entsteht,
dass unsere heutigen Politikprozesse so organisiert sind,
dass die Lasten auf die Zukunft verschoben werden.






(A) (C)



(B) (D)


Michael Kauch
Wenn die Linke mit ihrem von Karl Marx stammen-
den Ausbeutungsbegriff nicht im 19. Jahrhundert stehen
geblieben wäre, dann würde sie einen solchen Antrag
wie den heute vorliegenden nicht stellen. Der Altmarxis-
mus, den Sie über Ihren Antrag in den Deutschen Bun-
destag einzubringen versuchen, ist absolut peinlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie negieren die gesellschaftliche Realität, weil nicht
sein kann, was nicht sein darf. Sie stellen Verschwö-
rungstheorien bezüglich des Vordringens des Neolibera-
lismus in den Deutschen Bundestag auf. Das ist die Fik-
tion, von der Sie ausgehen. Damit wollen Sie die
Menschen aufwiegeln. Das hat aber nichts mit den Zu-
kunftsproblemen künftiger Generationen in diesem Land
zu tun.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611819300

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Dağdelen zulassen?


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1611819400

Die Kollegin hat gerade keine Zwischenfrage zuge-

lassen. Deshalb werden wir, denke ich, keine Zwischen-
frage dieser Kollegin zulassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611819500

Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin

Kipping zulassen?


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1611819600

Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfragen zulas-

sen.


(Lachen bei der LINKEN)


Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-
lung, den dieses Parlament nun in der zweiten Wahl-
periode eingesetzt hat, beschäftigt sich sehr ausführlich
mit den Veränderungen, die sich durch den demografi-
schen Wandel ergeben. Dabei geht es zum einen um die
Frage, wie wir unsere Infrastruktur an kommende Ent-
wicklungen anpassen müssen. Es geht aber auch um die
Frage, wie wir Transparenz schaffen, welche Leistungen
die alte und die junge Generation sowie künftige Gene-
rationen erbringen und welche Lasten sie tragen müssen.

Das, was mit dem vorliegenden Antrag verfolgt wird,
fügt sich sehr gut in die Nachhaltigkeitspolitik ein, die
ansonsten in diesem Parlament betrieben wird. Ich habe
mich sehr gefreut, dass im Parlamentarischen Beirat au-
ßer bei den Linken ein sehr großes Wohlwollen gegen-
über einer Grundgesetzänderung erkennbar war. Ich
würde mich freuen, wenn dies auch in der weiteren Be-
ratung in den zuständigen Fachausschüssen zum Tragen
käme.
Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611819700

Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention der Kol-

legin Katja Kipping.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611819800

Uns ist vorgeworfen worden, dass wir bei unserer

Analyse von Ausbeutung im 19. Jahrhundert, bei Karl
Marx, stehen geblieben sind. Ich finde, darauf muss man
reagieren. Ich persönlich bin der Meinung, dass man
eine Analyse mittels Marx um postmarxistische Ansätze
– etwa um den Ansatz von Judith Butler oder um radikal-
demokratische Ansätze wie den von Chantal Mouffe – er-
gänzen sollte.

Ich muss ehrlich sagen: Wenn hier Vertreter von der
FDP so knallhart und so trivial nur Wirtschaftsinteressen
vertreten, bleibt einem bei der Analyse Ihres Handelns
manchmal gar nichts anderes übrig,


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Hören Sie überhaupt manchmal zu?)


als zu sagen, dass Karl Marx damals tatsächlich recht
hatte.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611819900

Herr Kauch, bitte schön.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1611820000

Frau Kipping, während Sie hier auf die marxistische

Theorie und auf postmarxistische Theorien eingehen,
möchte ich auf den real existierenden Sozialismus einge-
hen, und zwar auf die Frage, was Ihre Vorgängerpartei,
die SED, in der DDR an Nachhaltigkeitspolitik geleistet
hat.


(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Das ist dieselbe Partei mit neuem Namen!)


Ich möchte darauf verweisen, was in Ihrem Antrag steht:
Es gebe nur die Klassenauseinandersetzung und die Aus-
einandersetzung zwischen Arm und Reich. Wenn wir
einmal konzedieren, dass es das in der DDR nicht gab,
weil Sie ja so eine gute sozialistische Politik gemacht
haben,


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Sie wissen sehr wohl, dass wir uns mit der SED auseinandersetzen!)


so möchte ich doch darauf hinweisen, dass die DDR und
ihre real existierende Politik dazu geführt haben, dass
die Umwelt in der DDR am Boden lag.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Michael Kauch
Wir haben dort eine Situation erlebt, in der das, was die
Vorsitzende des Parlamentarischen Beirats in der ver-
gangenen Wahlperiode gesagt hat – man müsse nicht
vom Kapital, sondern von den Zinsen leben –, nir-
gendwo so stark missachtet wurde wie in Ihrem sozialis-
tischen System. Deshalb sollten Sie aus meiner Sicht
ganz ruhig sein, wenn es um Nachhaltigkeit geht.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611820100

Es folgt noch eine Kurzintervention, und zwar des

Kollegen Heilmann, der darauf rekurriert, dass der Parla-
mentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung ange-
sprochen worden ist. – Bitte schön.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Schweigen Sie nachhaltig! Das wäre für alle Beteiligten das Beste!)



Lutz Heilmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611820200

Ich möchte deutlich machen, dass der angesprochene

Beirat keine Position zum hier vorliegenden Gesetzent-
wurf verabschiedet hat.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Hat auch keiner behauptet! Hören Sie eigentlich zu?)


Sie, Herr Kauch, haben einen gegenteiligen Eindruck er-
weckt; den Eindruck möchte ich als Obmann der Frak-
tion Die Linke von mir weisen.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst könnt ihr nicht hören, jetzt könnt ihr nicht lesen! Was könnt ihr eigentlich?)


Im Übrigen möchte ich Sie, Herr Kauch, darauf ver-
weisen, was nachhaltige Entwicklung bedeutet: der Aus-
gleich von Ökologischem, Sozialem und Ökonomi-
schem. Gerade Ihre Fraktion hier im Deutschen
Bundestag macht deutlich, dass sie zumindest zwei we-
sentliche Säulen ständig vernachlässigt, nämlich die so-
ziale und die ökologische Frage.

Ich danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611820300

Herr Kauch, möchten Sie nochmals erwidern?


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1611820400

Da ich als einziger Vertreter des Beirats gesprochen

habe und der Vorsitzende hier leider keine Redezeit be-
kommen hat, möchte ich mich lediglich darauf beschrän-
ken, darauf hinzuweisen, dass wir im Parlamentarischen
Beirat für nachhaltige Entwicklung darüber diskutiert
haben, dass es diesen Antrag gibt. Es wurde überlegt,
wie man ihn befördern kann. Es wurde in der Tat nicht
darüber abgestimmt, und es gibt daher keine formale
Position des Gremiums. Ich habe deswegen auch gesagt,
dass es mit Ausnahme Ihrer Fraktion große Sympathien
für die Annahme dieses Antrags gab.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Zuhören!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611820500

Jetzt hat das Wort der Kollege Grosse-Brömer für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1611820600

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist schon erstaunlich, wie man klassen-
kämpferische Töne in die Debatte über Generationenge-
rechtigkeit hineinbringen kann.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Es wäre in der Tat besser gewesen, Sie hätten zu diesem
Thema nachhaltig geschwiegen. Das wäre der richtige
Weg gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir debattieren über die Generationengerechtigkeit.
Da stellt sich die Frage, was das ist. Wir haben vorhin
sehr unterschiedliche Interpretationen gehört. Aber man
muss feststellen, dass diese Debatte die Diskussion über
Generationengerechtigkeit befördert. Deswegen ist es
gut, dass wir diese Debatte führen.

Politik macht – unabhängig davon, welche Partei sie
gestaltet – sehr häufig das, was kurzfristig populär ist,
und nicht das, was langfristig notwendig ist. Das liegt
vielleicht ein Stück weit im Wesen der Demokratie. Das
muss ich aber keinem erzählen; denn alle in diesem
Hause haben schon mehrere Wahlkämpfe hinter sich.

Richard von Weizsäcker hat aus meiner Sicht das Pro-
blem ganz zutreffend beschrieben. Er hat gesagt, dass
das Strukturproblem der Demokratie in der Verherrli-
chung der Gegenwart und in der Vernachlässigung der
Zukunft liegt. Insofern ist es gut, wenn wir darüber nach-
denken, was zukünftige Generationen von der aktuellen
Politik zu erwarten haben.


(Michael Kauch [FDP]: Notwendig!)


Auch ich finde diese Diskussion notwendig. Es ist gut,
wenn man sich in weiten Teilen fraktionsübergreifend
für dieses Thema einsetzt.

Ich will noch auf einen Punkt hinweisen, den der Kol-
lege Dr. Dressel vorhin angesprochen hat. Es stellt sich
die Frage, ob das, was in dem Gesetzentwurf vorgeschla-
gen wird, der richtige Weg ist, um zu erreichen, dass zu-
künftige Generationen von den aktuell handelnden Poli-
tikern gerecht behandelt werden. Wir müssen feststellen:
Wenn Generationengerechtigkeit wichtig ist – das ist un-
bestritten der Fall; deshalb ist es gut, dass die Debatte
stattfindet –, dann sind wir gehalten, sie politisch zu ge-
stalten.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das findet nicht statt!)


– Natürlich findet das nicht immer statt.






(A) (C)



(B) (D)


Michael Grosse-Brömer

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist das Problem!)


Aber wird das Problem dadurch gelöst, dass wir Genera-
tionengerechtigkeit als Staatsziel ins Grundgesetz auf-
nehmen? Das ist die spannende Frage. Wir müssen poli-
tisch gestalten und sollten nicht glauben, dass wir mit
der Aufnahme in das Grundgesetz die Probleme gelöst
hätten.

Wir müssen einmal fragen, worin das Interesse zu-
künftiger Generationen besteht. Zu diesem Punkt wird es
nach wie vor einen Meinungsstreit geben. Dieser Ge-
setzentwurf reiht sich ein in die Flut gutgemeinter Vor-
schläge, was denn alles als Staatsziel ins Grundgesetz
aufgenommen werden kann. Es ist gut, dass wir trotz un-
terschiedlicher Auffassungen fraktionsübergreifend da-
rüber diskutieren. Sie werden mir als Rechtspolitiker
nicht verübeln, wenn ich frage, ob es wirklich sinnvoll
ist, Kultur, Sport, Kinderschutz, Verschuldungsverbot
und Generationengerechtigkeit als Staatsziel in das
Grundgesetz aufzunehmen. Ich bitte jede und jeden von
Ihnen, durch Handzeichen anzuzeigen, wer gegen den
Sport ist, wer Kultur für überflüssig hält und wer der
Meinung ist, dass Kinderschutz und Generationenge-
rechtigkeit in unserer Gesellschaft nicht wichtig sind.


(Michael Kauch [FDP]: Und der Tierschutz?)


– Zu argumentieren, dass wir andere Ziele ins Grundge-
setz aufnehmen müssen, weil dies beim Tierschutz schon
der Fall ist, ist vergleichbar mit der Aussage: Bei jeman-
dem mit einer Grippe kommt es auf einen Herzinfarkt
auch nicht mehr an.


(Lachen des Abg. Michael Kauch [FDP])


Ich stimme Ihnen zu, dass es nicht gut ist, dass der
Tierschutz als Staatsziel in der Verfassung steht. Denn
dies ergibt keinen Sinn. Kein Tier ist besser geschützt im
Vergleich zu der Zeit, als der Tierschutz kein Staatsziel
war. Vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig
wurde 2006 in einem Urteil entschieden:

Die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel …
schließt es nicht aus, einem muslimischen Metzger
eine Ausnahmegenehmigung … zum betäubungslo-
sen Schlachten (Schächten) von Rindern und Scha-
fen zu erteilen …

So viel zur Wirksamkeit von Staatszielbestimmungen im
Grundgesetz.

Da sich von Ihnen gerade niemand gemeldet hat, weil
er Sport für völlig überflüssig und Kultur weiß Gott
nicht für unterstützenswert hält, darf ich feststellen: Wir
sind uns alle über die Notwendigkeit dieser wichtigen
politischen Ziele einig. Es liegt doch an uns, das poli-
tisch zu gestalten. Glauben Sie etwa, dass die Politik da-
durch, dass wir das ins Grundgesetz schreiben, besser
würde? Wir werden gleichwohl über den besten Weg,
diese Ziele in konkrete Politik umzusetzen, nachdenken
und streiten müssen. Ich weiß, das ist nicht populär, aber
man muss zwischendurch auch einmal das machen, wo-
rauf es ankommt, und nicht immer nur das, was an-
kommt. Das ist eine alte Geschichte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, diese Ziele sind wichtig; aber die prakti-
schen Notwendigkeiten sind gefragt. Verfassungsrecht-
lich gibt es nun einmal erhebliche Bedenken. Wenn Sie
etwas in die Verfassung schreiben, was sich letztlich
nicht realisieren lässt, enttäuschen Sie die Leute und
schwächen die Verfassung. Das ist doch logisch. Der
Glaube, wir könnten mit Gesetzen die Welt verbessern
– darüber kann man ja nachdenken; ein Stück weit muss
das vielleicht auch unser Ziel sein –, ist doch ein Grund
für die Politikverdrossenheit in Deutschland. In dem
Moment, wo wir ein Gesetz erlassen, mit dem das Be-
absichtigte nicht erreicht wird, oder wir Generationenge-
rechtigkeit in die Verfassung schreiben, das aber nicht
dazu führt, dass Generationengerechtigkeit hergestellt
wird, enttäuschen wir all diejenigen, die das für eine
kluge Sache gehalten und unterstützt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Verfassungsgeschichte zeigt, dass das ursprüng-
lich nicht gewollt war; denn ich glaube nicht, dass Na-
turschutz oder Tierschutz damals als völlig unwichtig er-
achtet wurden. Die Väter des Grundgesetzes – ich
glaube, es hat auch drei Mütter gegeben – haben sich da-
mals bewusst gegen Staatsziele entschieden. Sie haben
gesagt: Das Grundgesetz soll kein Warenhauskatalog,
kein Wunschkatalog sein, sondern es sollen nur die
Dinge aufgenommen werden, die sich auch tatsächlich
umsetzen lassen. Das ist zum Beispiel bei den Grund-
rechten der Fall, die ganz konkrete Abwehrrechte des
einzelnen Bürgers gegen den Staat darstellen. Im Gegen-
satz dazu sind und bleiben Staatsziele unverbindliche
Absichtserklärungen und begründen keine einklagbaren
Rechte.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Dann können wir „Sozialstaat“ ja streichen!)


Deswegen bin ich dafür, dass wir die Verfassung nicht
dadurch beeinträchtigen – aus meiner Sicht wäre das
eine Beeinträchtigung –, dass das Vertrauen der Men-
schen in diese rechtliche Grundlage unserer Gesellschaft
durch Aufnahme von immer mehr Staatszielen belastet
wird; denn eines ist ja klar: Sobald wir Staatsziele auf-
nehmen – Herr Kauch, das dokumentiert Ihr Einwand –,
gebiert dies den Wunsch nach weiteren. Jeder von uns
hat natürlich noch die eine oder andere hehre Absicht,
die ins Grundgesetz aufgenommen werden könnte.

Mein Fazit zum Schluss: Ich glaube, es ist richtig,
über Generationengerechtigkeit zu reden. Es ist wichtig,
dass wir darüber debattieren. Man sollte aber nicht glau-
ben, dass wir das Problem durch die Aufnahme von Ge-
nerationengerechtigkeit als Staatsziel ins Grundgesetz
lösen könnten. Kinder, Kultur und Sport sind wichtig,
der Schutz der Verfassung aber auch.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611820700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3399 und 16/6599 an die Aus-
schüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung fin-
den. Die Vorlage auf Drucksache 16/3399 soll federfüh-
rend an den Rechtsausschuss überwiesen werden. Sie
sind damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Volker
Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst,
Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Zwangsverrentung stoppen – Beschäfti-
gungsmöglichkeiten Älterer verbessern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zwangsverrentung von Langzeitarbeitslosen
ausschließen

– Drucksachen 16/5902, 16/5429, 16/6625 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Anton Schaaf

Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierüber eine
halbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wi-
derspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst das
Wort dem Kollegen Anton Schaaf für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1611820800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wie unterschiedlich, wie seriös und sachlich man sich
einem Thema nähern kann, können wir an diesen beiden
unterschiedlichen Anträgen erkennen.

In der Tat ist es so – da gibt es nichts zu diskutieren –,
dass sich mit dem Auslaufen der 58er-Regelung unter
Umständen eine Lücke auftun wird. Wir müssen darüber
nachdenken, wie wir sie vor dem Hintergrund des grund-
sätzlich richtigen Sozialstaatsprinzips der Nachrangig-
keit schließen können. Es geht um die Frage, ob Men-
schen, die in erster Linie Arbeitslosengeld II beziehen,
nicht vorrangig – vor der sozialstaatlichen Leistung – er-
worbene Rentenansprüche in Anspruch nehmen müssen.

Wir reden da über ein sachliches Problem. Die Grü-
nen haben es als solches erkannt. Über Ihren Antrag ist
durchaus auch so zu diskutieren, wobei, liebe Irmingard
Schewe-Gerigk, ich gleich noch darauf zurückkommen
werde, warum man ihn trotzdem ablehnen kann.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das verstehe ich nicht!)


Denn diese Regierung und die sie tragende Koalition
handeln an dieser Stelle. Das werde ich gleich erklären.

Zum anderen Antrag sage ich: Er ist typisch und
zeigt, was eine sachliche Diskussion mit der Linken
schwer macht. Ihr Antrag ist überschrieben mit
„Zwangsverrentung stoppen …“. Man unterstellt also,
dass es Zwangsverrentung gibt, dass Menschen massen-
haft aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug herausgedrängt
werden und ihre Rente zwangsweise in Anspruch neh-
men müssen.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Ja, natürlich ist das so!)


Genau diese Unseriosität passiert der Linken auf solch
wichtigen Politikfeldern immer; Sachverhalte werden
immer wieder falsch dargestellt. Das sind reiner Populis-
mus und der Versuch, den Menschen Angst zu machen.
Das ist überhaupt keine Frage. Das wird an solchen Un-
terschiedlichkeiten sehr deutlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Also: Problem erkannt. Über die Frage, welcher sinn-
vollen Lösung man es zuführen kann, wird zurzeit in der
Koalition, aber auch im Ministerium nachgedacht. In der
Tat kann es sein, dass der eine oder andere der Akteure
vor Ort das Instrument der Nachrangigkeit tatsächlich
nutzt. Das stimmt. Wobei ich sage: Für uns muss Prä-
misse sein, dass derjenige, der Arbeit haben will, der
sich bereit erklärt, auf Jobsuche zu gehen und sich dabei
unterstützen lässt, nicht zwangsverrentet wird. Diese
Frage stellt sich für uns überhaupt nicht. Man muss Me-
chanismen einführen, die dies verhindern.

Das Nachrangigkeitsprinzip an der Stelle infrage zu
stellen, und zwar in Gänze, halten wir für völlig falsch.
Das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Von daher
halten wir es für falsch, die Nachrangigkeit herauszu-
nehmen und schlichtweg Luft zu machen. Vielmehr
brauchen wir klare Mechanismen und Regeln, damit
Zwangsverrentung verhindert wird bei denen, die bereit
sind, zu arbeiten. Das ist für uns der entscheidende
Punkt. Wir werden bis zum Ende des Jahres mit Auslau-
fen der 58er-Regelung mit Sicherheit vernünftige Lösun-
gen gefunden haben und sie hier entsprechend zur Dis-
kussion und zur Abstimmung stellen. Dessen können Sie
alle durchaus versichert sein.

Einen Punkt aus dem Antrag der Linken will ich auf-
greifen. Denn ich glaube, man muss mit Missverständ-
nissen und Unklarheiten ein Stück weit aufräumen. Die
Linken haben gefordert, die gesetzlich geförderte Alters-
teilzeit über 2009 hinaus zu verlängern. Man sollte sich
die Altersteilzeit einmal genau anschauen – ich sehe hier
im Saal den geschätzten Kollegen Ernst; er ist Gewerk-
schafter –: Hierbei geht es um die gesetzlich geförderte
Altersteilzeit, in dessen Rahmen Zuschüsse der BA ge-
zahlt werden. Die Förderung soll man bitte schön fort-
setzen. Jetzt ist es allerdings in der Realität so, Herr
Ernst, dass es sich da, wo Altersteilzeit in Anspruch ge-






(A) (C)



(B) (D)


Anton Schaaf
nommen wird, in drei Viertel aller Fälle nicht um die ge-
setzlich geförderte Altersteilzeit handelt.

Das hat einen sachlichen Hintergrund. Denn mit der
gesetzlich geförderten Altersteilzeit haben wir eines ver-
bunden: Der Arbeitsplatz darf nicht wegfallen. Ein Teil
der Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben, ein Teil
der Gewerkschafter, aber natürlich auch ein Teil der Ar-
beitgeber – das muss man an dieser Stelle sagen – nutzt
das Instrument der Altersteilzeit nach wie vor, um Ar-
beitsplätze zu vernichten, und zwar in drei Viertel aller
Fälle. Das muss man schlichtweg so sagen.

Von daher halte ich es zumindest vor dem Hinter-
grund dieser Praxis für eine ziemlich gewagte Forde-
rung, jetzt einfach plakativ zu sagen, dass die Förderung
fortgesetzt werden soll. Man sollte sie zumindest auf
Stichhaltigkeit überprüfen. Ich bin der Meinung, dass
man Förderinstrumente beibehalten sollte. Das kann
man tun; aber man muss sie auf ihre Wirksamkeit über-
prüfen und darauf, ob sie in der Praxis tatsächlich ge-
nutzt werden. Bei der Altersteilzeit gibt es, wie ich finde,
ein eklatantes Missverhältnis.

Über die Frage der flexiblen Übergänge und der so-
zialen Absicherung von Menschen, die vor allen Dingen
auch im Alter in Notlagen geraten, ist permanent zu dis-
kutieren. Aber wir müssen natürlich auch die Anpas-
sungsmechanismen überprüfen. In der Tat ist es so, dass
die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in den letzten Jahren deutlich gestiegen
ist. Man kann auch nicht anders darüber diskutieren.
Heute Morgen in der Debatte zur Regierungserklärung
des Arbeitsministers sind die Zahlen eindeutig und klar
formuliert worden. Ältere haben in unserem Land am
Arbeitsmarkt deutlich bessere Chancen als noch vor ei-
nigen Jahren. Dies betrifft die Vorruhestandspraxis und
all das, was Frühverrentung ausmacht. Sie haben jetzt
deutlich bessere Chancen am Arbeitsmarkt.

In der Praxis haben wir die gut qualifizierten Älteren
aus den Betrieben gedrängt, weil sie teuer waren. Wir
haben immer gehofft, Herr Ernst, dass das über den Vor-
ruhestand läuft: Alte raus, Junge rein.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sieben zu eins!)


Wie war die Realität? Da müssen wir uns alle an die
eigene Nase fassen. Die Realität war: zehn Alte raus, ein
Junger rein. Eine richtige Bewegung auf dem Jugendar-
beitsmarkt haben wir damit überhaupt nicht bewirkt;
vielmehr haben wir auf Kosten der Steuerzahler und der
sozialen Sicherungssysteme den Unternehmen ermög-
licht, die teuren älteren Arbeitnehmer aus den Betrieben
herauszudrängen. Das war die Praxis, und eine solche
Praxis können und wollen wir uns nicht mehr leisten.


(Beifall bei der SPD)


Ältere haben in diesem Land eine Chance; wir sollten
ihnen die Chance bewahren. Das Problem ist erkannt.
Deswegen haben wir auch dem Antrag der Grünen nicht
zugestimmt. Im Ministerium und in den Regierungsfrak-
tionen wird daran gearbeitet; wir werden dieses Problem
einer sinnvollen Lösung zuführen. Dabei werden wir al-
lerdings auch immer die Nachrangigkeit als einen
Grundpfeiler unserer Sozialstaatlichkeit beachten – dies
sollten wir uns alle auf die Fahnen schreiben –: Wer
wirklich Hilfe braucht, soll Hilfe von der Allgemeinheit,
vom Sozialstaat, von uns allen bekommen. Diejenigen,
die sich selber helfen können, sollen es zunächst einmal
tun. Dass wir da auch besondere Risiken abdecken oder
verringern müssen, ist überhaupt keine Frage. Wie wir
dies in Bezug auf die auslaufende 58er-Regelung ma-
chen werden, werden wir in den nächsten Wochen noch
beantworten.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611820900

Dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb gebe ich jetzt das

Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1611821000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit Ende dieses Jahres läuft die sogenannte 58er-Rege-
lung aus. Mithilfe dieser Regelung konnten bisher für ar-
beitslose Versicherte Rentenabschläge vor dem Regel-
eintrittsalter regelmäßig vermieden werden. Mit dem
Wegfall der Regelung müssen grundsätzlich ab dem
1. Januar 2008 Arbeit suchende Frauen ab dem 60. Le-
bensjahr und langjährig Versicherte mit 35 Beitragsjah-
ren ab dem 63. Lebensjahr ihre Rentenanwartschaften
unter Hinnahme von Abschlägen einsetzen, bevor sie
Leistungen nach Arbeitslosengeld II bekommen können.
Es stellt sich die Frage, ob dies sinnvoll ist. Damit habe
ich durchaus Probleme. Ich werde darauf zurückkom-
men, will aber zuvor noch zwei Bemerkungen machen.

Erstens. Das, was hier durch die Antragsteller viel-
leicht etwas überzogen als Zwangsverrentung der Versi-
cherten bezeichnet wird, ist bei näherem Hinsehen die
Beachtung des Nachrangigkeitsgrundsatzes, also der Re-
gel, dass derjenige, der die Leistungen der Gemeinschaft
in Anspruch nehmen möchte, jenseits von Schongrenzen
vorrangig eigenes Vermögen und eigenes Einkommen
einsetzen muss.

Zweitens. Mit den vorliegenden Anträgen würde das
auftretende Problem in keiner sinnvollen Weise gelöst.
Die Linken fordern, die Altersteilzeit über das Jahr 2009
hinaus zu verlängern und die 58er-Regelung fortzufüh-
ren. Wir lehnen dies ab, weil diese Maßnahmen nach al-
len Erkenntnissen der Wissenschaft der Grund dafür
sind, dass ältere Menschen aus dem Arbeitsmarkt he-
rausgedrängt werden, was einen entsprechenden negati-
ven Einfluss auf die Beschäftigungsquote Älterer hat.
Diese Maßnahmen dürfen nicht verlängert, sondern
müssen so schnell wie möglich abgeschafft werden.


(Beifall bei der FDP)


Der Antrag der Grünen, Frau Schewe-Gerigk, greift
schlicht und ergreifend zu kurz.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ach!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Heinrich L. Kolb
Die Betroffenen vor Zwangsverrentung – ich bleibe jetzt
einmal bei diesem Begriff – zu schützen, genügt allein
nicht. Die Frage ist, wo die echte Perspektive für ältere
Arbeitslose ist, die eine neue Beschäftigung anstreben.

Ich bringe hier noch einmal in Erinnerung, dass die
FDP-Bundestagsfraktion, um echte Perspektiven zu er-
öffnen, schon im Frühjahr dieses Jahres das Modell ei-
nes flexiblen Renteneintritts unter Wegfall aller Zuver-
dienstgrenzen vorgelegt hat. Nach diesem Konzept
besteht unter Voraussetzung der Grundsicherungsfreiheit
ein Wahlrecht zur Rente ab dem 60. Lebensjahr bei Weg-
fall aller Zuverdienstgrenzen.

Dieses Konzept ist auch geeignet, für Arbeitsuchende
einen flexiblen Übergang in die Rente zu schaffen und
gleichzeitig Anreize zur Weiterarbeit zu setzen. Einen
Zwang, in Rente zu gehen, gibt es in unserem Konzept
nicht. Der systematisch richtige Grund dafür ist, dass die
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik darauf ausgerichtet sein
muss, Menschen auch im höheren Alter in den Arbeits-
markt zu integrieren. Wer sie darauf verweist oder gar
zwingt, Rente in Anspruch zu nehmen, der reduziert zu-
mal bei den derzeit engen Zuverdienstgrenzen den An-
reiz zum Arbeiten. Dann gilt: Wer einmal raus ist, ist
auch auf Dauer raus.

Ich habe, wie gesagt, Bedenken, was die konsequente
Anwendung des Nachrangigkeitsgrundsatzes angeht.
Das Recht, früher in Rente zu gehen, darf sich nicht ge-
gen die insofern Privilegierten wenden. Besonders be-
troffen von einer Zwangsverrentung wären Frauen ab 60,
die nicht mehr in Rente gehen könnten, sondern in Rente
gehen müssten, sowie langjährig Versicherte mit mehr
als 35 Beitragsjahren. Weder das eine, die Diskriminie-
rung von Frauen, noch das andere, die Benachteiligung
derjenigen, die mehr als andere vorgesorgt haben, ist
nach meiner Auffassung zu akzeptieren.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Herr Kollege Schaaf, ich will deutlich sagen: Nach
meinen Berechnungen entsteht der Gemeinschaft auch
bei einem Verzicht auf die Zwangsverrentung kein wirk-
licher Schaden. Zumindest was die Personen betrifft,
deren Rentenanspruch unterhalb des Niveaus der Grund-
sicherung im Alter liegt, gilt, dass bei einer Verrentung
mit 60 Jahren der fünfjährigen Ersparnis in Höhe von
82 Prozent der Rentenanwartschaft ein notwendiger zu-
sätzlicher Transfer in Höhe von 18 Prozent der Renten-
anwartschaft für die gesamte Rentenbezugsdauer nach
dem Regelrenteneintrittsalter gegenübersteht. Wenn Sie
das durchrechnen, stellen Sie fest, dass sich das in etwa
ausgleicht. Ein Vorteil für den Staat ergibt sich daraus
nicht.

Für Personen, deren gesamte Altersvorsorge oberhalb
des Niveaus der Grundsicherung im Alter liegt, dürfte
sich bei Abwägung aller Umstände, auch des Einsatzes
eigenen Vermögens, die vorzeitige Inanspruchnahme der
Rente ohnehin regelmäßig als günstiger erweisen, jeden-
falls dann, wenn die Zuverdienstgrenzen, wie im FDP-
Konzept vorgesehen, vollständig abgeschafft würden.


(Beifall des Abg. Jörg Rohde [FDP])

Klar muss sein, dass die Grenzen der Solidargemein-
schaft nicht überreizt werden dürfen. Wenn es keinen
Zwang zur Rente mit Abschlägen geben soll, dann muss
derjenige, der seine Rente ohne Abschlag in Anspruch
nehmen will, dies auch tun können. Das heißt, nach dem
heutigen Stand wird die Rente mit spätestens 65 Jahren
vorrangig vor der Transferleistung der Gemeinschaft
zum Tragen kommen.

Das ist der Lösungsansatz, den ich für möglich halte,
wenn man auf die konsequente Anwendung des Nach-
rangigkeitsgrundsatzes verzichten möchte. Das ist eine
sinnvolle und intelligente Lösung, die den Interessen der
Betroffenen gerecht wird und vor allen Dingen dazu bei-
trägt, dass ältere Menschen ein nachhaltiges Interesse
daran haben, so lange wie möglich am Arbeitsleben teil-
zuhaben und integriert zu sein.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611821100

Der Kollege Karl Schiewerling hat jetzt für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1611821200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Sie werden wahrscheinlich
nicht gerade überrascht sein, wenn ich Ihnen sage, dass
unsere Fraktion beide Anträge ablehnt. Wir lehnen sie
ab, weil sie in der Tat dem Grundsatz der Nachrangigkeit
widersprechen – nicht nur dem Grundsatz des Sozialgesetz-
buches II, sondern auch dem des Sozialgesetzbuches XII –
und weil wir einer Verlängerung der 58er-Regelung
nicht zustimmen wollen, da wir dies für ein falsches
Signal halten. Würden Ihre Anträge konsequent umge-
setzt, wäre letztlich nämlich genau das die Folge.

Lassen Sie mich eine Anmerkung machen: Seit zwei
Jahren habe ich die Ehre und das Vergnügen, in diesem
Haus insbesondere über das SGB II und Hartz IV zu dis-
kutieren. Mir ist bis auf eine Ausnahme nicht ein einzi-
ger Antrag der Fraktion der Linken bekannt, in dem
Ideen entwickelt wurden, wie im normalen wirtschaftli-
chen Leben Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Das, was Sie machen, ist Bewirtschaftung von Arbeitslo-
sigkeit. Ich sage Ihnen: Wir wollen keine Bewirtschaf-
tung von Arbeitslosigkeit, sondern wir wollen Leben in
der Wirtschaft, damit die vorhandenen Arbeitsplätze er-
halten und neue geschaffen werden können, insbeson-
dere für Ältere.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe großes Verständnis für die Menschen, die
30 Jahre und länger in die Rentenkasse eingezahlt haben
und nun aufgrund der wirtschaftlichen Lage erwerbslos
geworden sind. Diese Menschen müssen, wenn sie in
keine andere Stelle vermittelt werden können, mit Ab-
schlägen vorzeitig in Rente gehen. Ich gestehe zu: Das
ist im Einzelfall problematisch.






(A) (C)



(B) (D)


Karl Schiewerling

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, das ist generell problematisch!)


Aber ich kenne viele Menschen, die sehr froh sind, wenn
sie nicht mehr Hartz IV beziehen müssen, sondern in
Rente gehen bzw. Rente in Anspruch nehmen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auf das Prinzip der Nachrangigkeit hatten sich bei
der Umsetzung der sogenannten Hartz-Reformen, wie
Sie betonen, alle verständigt. Unser oberstes Ziel ist und
bleibt, Menschen nicht in der Grundsicherung zu belas-
sen, sondern sie aus dem Bezug von Leistungen des
Staates herauszuholen. Doch was hier gefordert wird, ist
de facto eine unbefristete Verlängerung der 58er-Rege-
lung. Diese Regelung wäre am 31. Dezember 2005 aus-
gelaufen. Wir haben sie noch einmal um zwei Jahre ver-
längert. Ende dieses Jahres, haben wir verbindlich
geregelt, ist damit Schluss. Denn wir wollen keine An-
reize für eine Frühverrentung. Diese Frühverrentung be-
lastet die sozialen Sicherungssysteme. Das bezahlen die
Beitragszahler, das bezahlen die kleinen und mittelstän-
dischen Betriebe. Vorteile davon haben allein die gro-
ßen, kapitalintensiven Konzerne.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr richtig!)


Wir wollen, dass die Menschen möglichst lange in
Beschäftigung bleiben. Mit Ihren Anträgen hebeln Sie
das Prinzip der Nachrangigkeit aus. Das wundert uns bei
den Linken offen gestanden nicht, aber bei den Grünen
schon; denn Sie haben dieses richtige Prinzip mit be-
schlossen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hebeln es auch nicht aus!)


Für unsere Fraktion gilt weiterhin der Grundsatz, dass
jeder Einzelne seinen Beitrag leisten muss, bevor er ei-
nen Anspruch auf Transferleistungen des Staates hat.
Schafft er es aus eigener Kraft nicht, hat er ein Recht auf
Unterstützung; das nennen wir Subsidiarität. Danach ist
die Hilfe des Staates nachrangig. Das bedeutet auch,
dass, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, aus dem
Bezug von Hilfe herauszukommen, als Ultima Ratio die
Rente mit Abschlägen hingenommen werden muss. Das
mag im Einzelfall hart sein – das ist klar –; aber die
Rente mit Abschlag bedeutet ja nicht, dass man insge-
samt weniger Rente bekommt. Man bekommt monatlich
weniger; aber man hat eine längere Rentenlaufzeit.


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Das heißt, dass das vom Einzelnen eingezahlte Geld
nicht verloren geht. Ich halte das in der Rentensystema-
tik für richtig und für zu bedenken.

Ich will auch auf einen anderen Punkt hinweisen: Es
gibt nicht wenige, die frühverrentet sind, mit 63 in Rente
gegangen sind, die die Möglichkeit, die der Gesetzgeber
ihnen eingeräumt hat, nämlich Geld hinzuzuverdienen,
nutzen, übrigens steuer- und abgabenfrei, und dabei
nicht schlechter fahren, als das vorher der Fall war. Ich
kenne das aus dem Kreise meiner Bekannten und weiß,
dass viele das in Anspruch nehmen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein älterer Arbeit-
nehmer freiwillig Arbeitslosengeld II bezieht, wenn
seine Rente trotz Abschlägen immer noch höher liegt als
das Arbeitslosengeld II und er die Möglichkeit hat, ei-
gene Schritte zu gehen und etwas hinzuzuverdienen.

Entscheidend ist allerdings, dass wir ältere Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer gar nicht erst arbeitslos
werden lassen. Unser Ziel muss es sein, Ältere in Arbeit
zu bringen. Genau daran arbeitet die Große Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dass das bereits gelingt, belegen die Zahlen: Die Be-
schäftigungsquote der über 55-Jährigen lag im zweiten
Quartal 2007 bei 52 Prozent. Damit hat sich diese Be-
schäftigungsquote seit dem Jahr 2000 um 10 Prozent-
punkte erhöht. Ich will daran erinnern: In Lissabon hat
sich die Europäische Union zum Ziel gesetzt, bis zum
Jahre 2010 50 Prozent zu erreichen. Ich freue mich und
wir können froh darüber sein, dass wir dieses Ziel nicht
nur schon erreicht, sondern sogar schon übertroffen ha-
ben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die Beschäftigungsquote der über 50-Jährigen lag so-
gar bei 61,7 Prozent. Im Vergleich zu anderen europäi-
schen Ländern liegen wir damit im oberen Mittelfeld.
Das ist ein erster beachtlicher Erfolg. Doch wir wollen
mehr: Wir wollen uns an Staaten wie Schweden messen,
bei denen die Quote bei etwa 70 Prozent liegt. Das kön-
nen wir und das wollen wir auch erreichen.

Die Situation Älterer auf dem Arbeitsmarkt entwi-
ckelt sich zunehmend günstiger. Im September 2007 wa-
ren 191 000 ältere Menschen weniger als noch vor ei-
nem Jahr arbeitslos gemeldet; das entspricht einem
Rückgang von etwa 17,6 Prozent. Natürlich belasten uns
die insgesamt 908 000 arbeitslos gemeldeten Menschen
über 50 Jahre. Doch wir sind auf einem guten Weg,
auch viele von ihnen in Arbeit zu vermitteln. Bei den
über 55-Jährigen konnten 110 000 Menschen vermittelt
werden. Das sind immerhin 20 Prozent Arbeitslose we-
niger als im Vorjahr. Vom aktuellen Wirtschaftsauf-
schwung profitieren auch die älteren Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer.

Auch die aktuellen Integrationserfolge im Rahmen
des Bundesprogramms „Perspektive 50 plus“ zeigen,
dass sich die Berufschancen Älterer verbessert haben.
Rund 81 Prozent sind in sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungsverhältnisse und mehr als 57 Prozent
davon in unbefristete Beschäftigungsverhältnisse über-
nommen worden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit der Fortführung des Bundesprogramms sollen die
Beschäftigungschancen der älteren Langzeitarbeitslosen
weiter verbessert werden. Es ist zu erwarten, dass mit-
hilfe dieses Bundesprogramms in den nächsten Jahren
50 000 ältere Langzeitarbeitslose in den allgemeinen Ar-
beitsmarkt integriert werden können.






(A) (C)



(B) (D)


Karl Schiewerling
Daneben haben wir weitere Initiativen ergriffen, näm-
lich die Initiative „50 plus“ und seit dem 1. Oktober
2007 die Jobperspektive für Menschen über 55 Jahre.
Niemand kann sagen, die Bundesregierung und die sie
tragenden Fraktionen würden nicht alles unternehmen,
um ältere Menschen im Arbeitsverhältnis zu halten oder
neu in Beschäftigung zu bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Angesichts des demografischen Wandels und des dro-
henden Fachkräftemangels werden die Betriebe das
Potenzial älterer Fachkräfte zunehmend nutzen. Davon
bin ich überzeugt. In meinem eigenen Wahlkreis im
Münsterland kenne ich Betriebe, die gerade diese Poten-
ziale der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
schätzen. Mit Motivation, Erfahrung, Engagement und
Disziplin punkten sie bei den Arbeitgebern zunehmend.


(Jörg Tauss [SPD]: Nicht nur dort!)


Voraussetzung ist allerdings – das gilt für alle –, dass die
Wirtschaft läuft.

Wir wollen, dass die Fallmanager vor Ort mit den Be-
troffenen entscheiden, was das Beste für sie ist. Diese
gezielte Einzelfallprüfung ist der Schlüssel zum Erfolg.
Dazu brauchen wir verbindliche Kriterien für die Träger
der Grundsicherung. Es geht darum, präzise festzulegen,
dass zunächst alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden,
um eine Beschäftigung im normalen Arbeitsmarkt zu si-
chern oder zu ermöglichen, bevor jemand, der Arbeitslo-
sengeld II bezieht, in die Rente geschickt wird. Es geht
nicht darum, jemanden aus der Statistik zu drängen. Es
geht darum, Leute in Beschäftigung zu bringen.

Noch eines, weil das immer wieder diskutiert wird:
Der Einstieg in die Rente mit 67 erfolgt erst 2013, und
sie wird sich erst 2029 voll entfalten. Bis dahin haben
wir alle Chancen, Ältere möglichst lange zu beschäfti-
gen und sie durch Prävention, Arbeitsschutz und Ge-
sundheitsvorsorge auf diesen Schritt und diese Entwick-
lung vorzubereiten. Der Blick auf heute sagt noch nichts
über die Wirklichkeit von morgen.

Ich sage Ihnen aber auch: Die Grundsicherung ist ein
lernendes System. Das haben wir in den letzten Jahren
festgestellt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611821300

Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1611821400

Ich komme jetzt zum Schluss. – Das heißt, dass die

Bereitschaft zu Korrekturen immer gegeben sein muss
und auch gegeben ist. Die Grundsätze, durch die dieses
System getragen wird, müssen aber klar sein.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611821500

Klaus Ernst hat jetzt das Wort für die Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611821600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Herr Schiewerling, eines müssen Sie mir jetzt er-
klären, weil ich die Logik einfach nicht verstehe.


(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Sie verstehen keine Logik!)


Sie stellen sich hier hin und sagen, Sie seien gegen die
Frühverrentung von Menschen. Gleichzeitig sind Sie
aber dafür, dass man Menschen mit 63 Jahren – Frauen
gegebenenfalls mit 60 Jahren – in die Rente zwingt. Was
ist das anderes als eine Frühverrentung? Es werden doch
Menschen in die Rente geschickt, ohne dass sie das wol-
len. Das hat keine Logik mehr.

Im Übrigen zu Ihrer Rechnung: Ich weiß nicht, wie
Sie rechnen, aber ich kann Ihnen sagen, wie wir rechnen,
und ich glaube, diese Rechnung ist nicht zu widerlegen.

Schauen Sie sich einmal an, was ein 63-jähriger Emp-
fänger von Arbeitslosengeld II erhält. Es sind 670 Euro.
Wenn er im Vergleich dazu Rente in Höhe von 1 000 Euro
erhält, hat er tatsächlich natürlich mehr. Selbst bei einem
Abschlag von 7,2 Prozent hätte er noch 928 Euro. Inso-
fern stimmt es natürlich, dass er mehr hätte. Er ist aber
länger Rentner; das hoffen wir zumindest. Herr
Schiewerling, wenn er zehn Jahre lang Rentner ist, dann
schaut die Rechnung anders aus. Dadurch, dass er Ab-
schläge hinnehmen muss, erhält er in zehn Jahren
8 640 Euro weniger. Demgegenüber stehen die 6 192 Euro,
die er vorher mehr hatte, wenn er früher in Rente geht.
Insgesamt hat er also weit über 2 000 Euro weniger.

Ich sage Ihnen: Genau das machen Sie mit den Bezie-
hern von Arbeitslosengeld II. Es wundert mich natürlich,
dass der vorliegende Gesetzentwurf ausgerechnet von
den Sozialdemokraten mit verursacht wurde.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Dieser Gesetzentwurf führt dazu, dass Empfänger von
Arbeitslosengeld II, die schon dadurch benachteiligt
sind, dass sie keinen Job haben und dass ihr Vermögen
angerechnet wird – Sie kennen das –, insbesondere dann,
wenn sie lange versichert waren – 35 Jahre –, in die
Rente gezwungen werden, ohne dass sie das wollen.
Kollege Schaaf, man kann jetzt natürlich über den Titel
streiten. Aber es ist faktisch Zwangsverrentung, wenn
Leute, ohne dass sie es wollen, in Rente geschickt wer-
den. Was ist das anderes als Zwangsverrentung? Freiwil-
lig ist das nicht, Kollege Schaaf.


(Beifall bei der LINKEN)


Eines möchte ich auch noch einmal deutlich machen.
Ich freue mich ja, dass die Sozialdemokratie zurzeit da-
rüber nachdenkt, was an ihrer Agenda falsch war. Ich
freue mich, dass sie über die Verlängerung der Bezugs-
dauer des Arbeitslosengeldes I nachdenkt. Ich freue
mich auch, dass sie über die Rente mit 67 nachdenkt. Ich
frage mich nur immer, wozu das Nachdenken bei euch
führt. Ihr denkt ja nicht allein nach; auch euer Minister






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Ernst
denkt nach, und er denkt leider immer in die andere
Richtung.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei der SPD)


Ich hoffe, dass ihr diesbezüglich eine Einigung in der so-
zialdemokratischen Partei findet –


(Rolf Stöckel [SPD]: Populismus!)


– ja, das, was wir sagen, ist immer Populismus, und ihr
seid die blühende Weisheit; das ist ja bekannt – und we-
nigstens diesen einen Punkt – da fällt euch ja kein Za-
cken aus der Krone – so regelt, dass ihr wieder ein wenig
Ansehen bei den Bürgern dieses Landes habt. Wenn ihr
euch eure Umfragen anschaut, dann seht ihr, dass sie im
Keller sind.


(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Schön, dass ihr euch Sorgen darüber macht!)


Ich habe Verständnis dafür und es ist richtig, dass ihr
jetzt darüber nachdenkt, was an der Agenda 2010 falsch
war; das ist in Ordnung. Aber dann nehmt doch, bitte
schön, die Punkte, die wirklich nicht so besonders teuer
sind, in Angriff. Weniger als 200 000 Leute zwischen 60
und 65 Jahren haben im Sommer 2007 Arbeitslosen-
geld II bezogen. Wenn ihr euch jetzt entschließt, diese
kleine Gruppe von Menschen, die von dieser Regelung
unmittelbar negativ betroffen ist, ohne Abschläge in
Rente gehen zu lassen, dann habt ihr innerhalb von zwei
Jahren wenigstens einmal etwas Vernünftiges gemacht.


(Beifall bei der LINKEN – Rolf Stöckel [SPD]: Unsinn!)


Ich gehe aber davon aus, dass dieses Denken nicht au-
tomatisch zum richtigen Ergebnis führt. Wir werden
euch daran messen. Nur wenn es eine starke Linke gibt,
wird die Sozialdemokratie wieder ansatzweise sozialde-
mokratisch werden.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611821700

Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard Schewe-

Gerigk, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir
kam es gerade so vor, als wären wir hier auf einem
Marktplatz.

Aber in der Tat war uns damals bei der Debatte über
die Rente mit 67 allen klar, dass die Frühverrentungspra-
xis in den Betrieben erheblich zur geringeren Erwerbs-
beteiligung von älteren Beschäftigten beigetragen hat.
Sie entwertet nicht nur das Erfahrungswissen älterer Be-
schäftigter, sondern ist auch volkswirtschaftlich nicht zu
vertreten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir schienen uns so weit einig zu sein, dass die Beschäf-
tigungsquote der Älteren deutlich erhöht werden muss.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es kommt aber immer darauf an, wie man es macht!)


Deshalb finde ich die Signale, die das Bundesministe-
rium für Arbeit und Soziales nun auf einmal aussendet,
wirklich irritierend. Sie bedeuten: Wer nicht mehr ge-
braucht wird, wird ausgesteuert. Dadurch wird die Ar-
beitslosenstatistik geschönt; ältere Langzeitarbeitslose
werden aus dem Leistungsbezug entfernt. Dafür verlan-
gen Sie von den älteren Langzeitarbeitslosen, dass sie
zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine Rente beantragen,
und zwar auch dann, wenn das mit Abschlägen verbun-
den ist. Massive Rentenkürzungen nehmen Sie dabei bil-
ligend in Kauf.

Herr Kollege Schaaf, wenn Sie sagen, das Ministe-
rium solle einmal überlegen,


(Anton Schaaf [SPD]: Das habe ich nicht gesagt!)


dann mache ich Ihnen einen Vorschlag – da brauchen Sie
das Ministerium gar nicht zu bemühen –: Sie müssen
einfach nur im SGB II den Satz einfügen, dass der Nach-
rangigkeitsgrundsatz dann nicht angewendet werden
darf, wenn Rentenabschläge die Folge sind. In allen an-
deren Fällen bleibt es so, wie es ist; nur wenn Abschläge
die Folge sind, ist das nicht der Fall. Das ist eine ganz
einfache Sache. Vielleicht kann das Ministerium das ja
auch übernehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Guter Vorschlag!)


Wenn die Bundesregierung es den Argen so einfach
macht, ältere Langzeitarbeitslose zwangsweise in Rente
zu schicken, dann ist doch auch nicht zu erwarten, dass
sie in Qualifizierung oder bessere Vermittlung investie-
ren. Glauben Sie wirklich, Herr Kollege Schaaf, dass die
Argen für einen 63-Jährigen große Anstrengungen unter-
nehmen, wenn sie beim Abschieben in die Rente auch
noch viel Geld einsparen können? Das glauben Sie doch
nicht wirklich!

Ihre aufgeregten Reaktionen in der gestrigen Aus-
schusssitzung haben gezeigt, dass Sie diese Pläne jetzt
durchziehen wollen, dabei aber Ihre Schwierigkeiten ha-
ben; das akzeptiere ich.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie werden sich bewegen, Frau Schewe-Gerigk!)


– Das glaube ich auch. – Sie wissen genau, dass Sie die
Glaubwürdigkeit der Rente mit 67 dadurch infrage stel-
len. Denn Ihr Rezept für die älteren Menschen, die von
Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind, heißt immer
noch: Sie werden gezwungen, mit 63 vorzeitig die Rente
zu beantragen, obwohl das Renteneintrittsalter – wenn
auch abgestuft – gerade auf 67 erhöht wurde.

Die Grünen stehen zu dieser Verantwortung. Das
heißt, Menschen müssen für diese vier Jahre einen Ab-
schlag von mehr als 14 Prozent in Kauf nehmen. Je-
mand, der bei einem Renteneintritt mit 67 Jahren
800 Euro Rente pro Monat bekäme, bekommt dann
684 Euro. Wenn man bedenkt, dass dieser Mensch dann






(A) (C)



(B) (D)


Irmingard Schewe-Gerigk
vielleicht noch 20 Jahre lebt – was nicht ungewöhnlich
ist –, dann können Sie das einmal hochrechnen. Das ist
eine massive Rentenkürzung für eine Gruppe, die größ-
tenteils nur kleine Rentenanwartschaften aufbauen kann.
Damit spielen Sie im Übrigen denjenigen in die Hände,
die die Rente mit 67 immer als massive Kürzung be-
zeichnen.

Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der
SPD, so diskreditiert man das notwendige Vorhaben
„Rente mit 67“. Trotz der positiven Entwicklung für äl-
tere Arbeitslose, die Arbeitslosengeld I beziehen, ist die
Situation von älteren Langzeitarbeitslosen nach wie vor
prekär und keineswegs geeignet, sich zurückzulehnen.
Betroffen sind davon vor allem Geringqualifizierte; denn
sie erreichen sehr viel seltener als andere Ältere das Ren-
tenalter aus einer Erwerbsarbeit heraus.

Doch Sie setzen auf Aussteuern statt auf Vermitteln
und Qualifizieren. Wir brauchen aber deutliche Verbes-
serungen bei der Vermittlung und Qualifizierung der äl-
teren Beschäftigten. Ihnen fehlen jedoch offensichtlich
der Mut und der Ehrgeiz für eine Korrektur der bisheri-
gen Politik. Sie gehen stattdessen lieber den einfachen
Weg, indem Sie die älteren Langzeitarbeitslosen gegen
ihren Willen – das ist der entscheidende Punkt; es wäre
etwas anderes, wenn man es ihnen freistellen würde –
und mit Abschlägen vorzeitig in Rente schicken.

Die Linke wendet sich in ihrem Antrag nicht nur ge-
gen die Zwangsverrentung – das unterstützen wir –, son-
dern sie möchte auch die Programme zur Altersteilzeit
und die 58er-Regelung wieder aufleben lassen. Diese
beiden Forderungen unterstützen wir nicht, weil sie we-
sentlich zur Frühverrentung beigetragen haben. Die
1,26 Milliarden Euro, die die BA 2006 zur Förderung
der Altersteilzeit aufwenden musste, wollen wir für ak-
tive Arbeitsmarktpolitik einsetzen. Deshalb können wir
dem Antrag der Linken insgesamt nicht zustimmen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Anton Schaaf [SPD]: Der Schluss war gut!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611821800

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/6625. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/6625 die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5902
mit dem Titel „Zwangsverrentung stoppen – Beschäfti-
gungsmöglichkeiten Älterer verbessern“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5429 mit
dem Titel „Zwangsverrentung von Langzeitarbeitslosen
ausschließen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, SPD und FDP bei Stimmenthaltung der Fraktion
Die Linke und gegen die Stimmen der Fraktion Die Grü-
nen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts

– Drucksache 16/3655 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/6634 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Christoph Strässer
Mechthild Dyckmans
Jörn Wunderlich
Jerzy Montag

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist
für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.

A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1611821900


Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Präsidium!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei der Re-
form des Rechtsberatungsrechts geht es nicht nur um die
allseits begrüßte Abschaffung des alten, historisch belas-
teten Rechtsberatungsgesetzes aus dem Jahre 1935 und
die längst überfällige Freigabe der unentgeltlichen kari-
tativen Rechtsberatung. Das ist übrigens ein sehr wichti-
ger und von vielen karitativen Einrichtungen lang erwar-
teter Teil der Reform. Vielmehr geht es zugleich darum,
ob man heutzutage überhaupt noch ein Gesetz zur Regu-
lierung außergerichtlicher Rechtsberatung braucht. An-
dere Länder in Europa zeigen uns, dass das nicht unbe-
dingt notwendig ist. Allerdings haben diese Länder – ich
nenne als Beispiel die nordischen Staaten oder die Nie-
derlande – eine ganz andere Rechtstradition und eine
Struktur des Rechtsberatungsmarktes, die mit der unse-
ren nicht vergleichbar ist.

Die Bundesregierung hat sich deshalb schon ganz
früh gegen eine radikale Liberalisierung des Rechtsbera-
tungsmarktes in Deutschland ausgesprochen. Qualifi-
zierte Rechtsdienstleistungen sollen und werden auch
künftig unter Geltung des neuen Rechtsdienstleistungs-
gesetzes grundsätzlich durch Rechtsanwältinnen und
Rechtsanwälte erbracht werden. Eine Freigabe oder auch
nur die Einführung eines Rechtsdienstleistungsberufes
unterhalb der Anwaltschaft ginge letztlich zulasten der
rechtsuchenden Bevölkerung, aber auch unseres gesam-
ten Rechtssystems, in dem Anwältinnen und Anwälte als
Organe der Rechtspflege eine besondere Stellung haben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
Das bedeutet aber nicht, dass Anwälte in Deutschland
vor jedem Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck – auch in
dem Grenzbereich zwischen rechtlicher und wirtschaftli-
cher Betätigung – geschützt werden müssten oder dürf-
ten. Das alte Rechtsberatungsgesetz ist jahrelang benutzt
worden, um einen solchen Schutzraum rund um die An-
waltschaft zu rechtfertigen. Das Bundesverfassungsge-
richt hat dies bereits seit einigen Jahren nicht mehr mit-
getragen und immer wieder Nichtanwälten die Befugnis
zugestanden, im Zusammenhang mit ihrer eigentlichen
beruflichen Tätigkeit rechtliche Angelegenheiten zu er-
ledigen. An diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben
orientiert sich das neue RDG, ohne allerdings, wie es
sich viele Nichtanwälte gewünscht haben, darüber hi-
nauszugehen. Der zentrale Erlaubnistatbestand des RDG,
die Regelung über die als Nebenleistung im Zusammen-
hang mit einer anderen Tätigkeit zulässigen Rechts-
dienstleistung, erlaubt allerdings die Entwicklung neuer
Berufsbilder und ist damit zukunftsfest ausgestaltet.

Zukunftsorientiert war auch der Vorschlag im Regie-
rungsentwurf, die Regelungen der Bundesrechtsanwalts-
ordnung über die berufliche Zusammenarbeit von An-
wältinnen und Anwälten mit Angehörigen anderer
Berufe zu erweitern und Anwälten die Sozietät etwa mit
Unternehmensberatern, Betriebswirten, Wirtschaftsjuris-
ten oder nichtanwaltlichen Mediatoren zu gestatten. Eine
solche Öffnung beruflicher Zusammenarbeitsformen
wäre nicht nur für die Absolventen juristischer Fach-
hochschulstudiengänge – ich nenne als Beispiel nur die
Diplomwirtschaftsjuristen – eine Alternative zur abhän-
gigen Beschäftigung in Wirtschaftsunternehmen gewe-
sen. Sie böte gerade auch jungen Rechtsanwältinnen und
Rechtsanwälten auf unserem übersättigten Anwalts-
markt neue Chancen und Ausrichtungsmöglichkeiten.
Aber die Anwaltschaft hat signalisiert, dass sie in diesem
Punkt noch Gesprächsbedarf sieht. Ich bin allerdings si-
cher, dass wir uns angesichts einer wachsenden anwaltli-
chen Zustimmung zu den Vorschlägen im Regierungs-
entwurf, die nach einer Studie zuletzt bei mehr als
44 Prozent der Anwaltschaft lag, schon sehr bald mit
diesen Vorschlägen befassen werden.

Das gilt erst recht, wenn deutsche Anwälte in Europa
konkurrenzfähig sein wollen. In England, also auf dem
wichtigsten europäischen Rechtsmarkt, steht eine grund-
legende Liberalisierung anwaltlicher Geschäftsstruktu-
ren unmittelbar bevor. Vor diesem Hintergrund ist die
Reform des Rechtsberatungsrechts, über die wir heute zu
entscheiden haben, nur ein neues, aber sicher tragfähiges
Gerüst für weitere Entwicklungen des Rechtsberatungs-
marktes, der sich auch in Deutschland rasant weiterent-
wickeln wird.

Ich darf mich abschließend bei Ihnen, den Mitglie-
dern des Rechtsausschusses, für die sehr guten, sehr in-
tensiven und zielführenden Beratungen sowie bei den
Mitarbeitern des Bundesministeriums der Justiz, die
manchmal sehr darunter gelitten haben, dass es nicht so
gehen konnte, wie sie wollten, für die gute Zusammenar-
beit herzlich bedanken. Ich wünsche, dass dieses Gesetz
ein voller Erfolg wird.


(Beifall bei der SPD)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611822000

Ich erteile das Wort Kollegin Mechthild Dyckmans,

FDP-Fraktion.


Mechthild Dyckmans (FDP):
Rede ID: ID1611822100

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Rechtsberatung ist heute eine Tätigkeit, die alle ge-
sellschaftlichen Gruppen und alle thematischen Bereiche
erfasst. Insgesamt ist der Beratungsbedarf in den vergan-
genen Jahren immer mehr angestiegen. Ursache dafür
ist, dass beinahe alle Lebensbereiche und Lebenssach-
verhalte rechtlich komplizierter werden und für den
Laien oft nur schwer zu durchdringen sind. Die Nach-
frage nach fachkundigem Rechtsrat ist daher heute grö-
ßer denn je.

Das geltende Rechtsberatungsgesetz bedurfte aus
mehrerlei Gründen einer Generalüberholung. Herr
Staatssekretär Hartenbach hat es schon angesprochen.
Wir haben es daher grundsätzlich begrüßt, dass die Bun-
desregierung diese Reform angestoßen hat. Dabei
musste sowohl auf die Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts – insbesondere zur unentgeltlichen Be-
ratung – als auch auf die Deregulierungsbestrebungen
der Europäischen Kommission im Bereich des freien
Dienstleistungsverkehrs reagiert werden.

Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung waren die Begriffe der Rechtsdienstleistung und
der Nebenleistung im Zusammenhang mit einer anderen
Tätigkeit derart schwammig formuliert, dass erhebliche
Auslegungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten in der
Praxis zu erwarten waren. Der Gesetzentwurf enthielt
zudem verschiedene Regelungen über die Zusammen-
arbeit mit anderen Personen oder Angehörigen vereinba-
rer Berufe. Diese Regelungen ließen mehr Fragen offen,
als sie abschließende Lösungswege aufzeigten. Insbe-
sondere im Bereich der Verschwiegenheitspflichten von
Rechtsanwälten sah der Entwurf erhebliche Regelungs-
lücken vor. Unbeantwortet blieb zum Beispiel die Frage,
wie zu verfahren ist, wenn Anwälte mit Angehörigen
von Berufsgruppen zusammenarbeiten, die keiner ge-
setzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen. Zu
Recht, wie ich meine, haben wir diese Regelungen erst
einmal aus dem Gesetzentwurf gestrichen. Sie waren un-
ausgereift und undurchdacht. Die Bundesregierung ist
jetzt aufgefordert, praktikable und sauber ausgearbeitete
Vorschläge zu diesem Thema vorzulegen. Ich gehe da-
von aus, dass die Anwaltschaft wie bisher auch bei die-
ser Aufgabe konstruktiv mitarbeiten wird.

Der Gesetzentwurf, so wie er heute zur Abstimmung
vorliegt, enthält an entscheidenden Stellen Änderungen
und Verbesserungen gegenüber dem Ursprungsentwurf.
Es ist aus Sicht der FDP sehr zu begrüßen, dass der Ent-
wurf sicherstellt, dass die qualifizierte und professio-
nelle Rechtsberatung erhalten bleibt. Es ist richtig, auch
künftig daran festzuhalten, dass die Vertretung von Man-
danten vor Gericht bis auf wenige Ausnahmen nur durch
Rechtsanwälte erfolgen darf. Der Gesetzentwurf schafft
auch Klarheit bei der unentgeltlichen Rechtsberatung. In
Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht
soll unentgeltliche Rechtsberatung, die außerhalb des






(A) (C)



(B) (D)


Mechthild Dyckmans
Familien- und Bekanntenkreises angeboten wird, nur
durch eine juristisch qualifizierte Person oder jedenfalls
unter deren Anleitung erbracht werden können. Es muss
sich dabei übrigens nicht um einen Rechtsanwalt han-
deln. Entscheidend ist, dass die Person die Befähigung
zum Richteramt besitzt, das heißt, dass sie Volljurist ist.
Im Hinblick auf den großen Bedarf nach sozialer und ka-
ritativer Rechtsberatung, die von vielen Vereinen und
Organisationen angeboten wird, halte ich die jetzt gefun-
dene Regelung für sachgerecht. Aber auch bei unentgelt-
lich erbrachter Beratung muss die Qualität stimmen.
Deshalb lehnt meine Fraktion den Antrag der Linken,
der sich hauptsächlich mit der unentgeltlichen Rechtsbe-
ratung befasst und diese vollständig freigeben will, ab.

Nicht unproblematisch sind aus Sicht der FDP die
fortschreitende Abkehr vom Anwaltszwang in der Beru-
fungsinstanz in der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie
die allgemeine Erweiterung der Vertretungsbefugnis von
Behörden. So sind künftig vor den Oberverwaltungs-
gerichten zum Beispiel Vertreter von Gewerkschaften in
allen Rechtsfragen und auf allen Rechtsgebieten vertre-
tungsbefugt, selbst wenn sie keine Juristen sind.


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Abenteuerlich!)


Bisher konnten diese nur in Verfahren tätig werden, die
einen Bezug zu einem Beschäftigungsverhältnis hatten.
Auch der nichtjuristische Vertreter einer berufsständi-
schen Vereinigung der Landwirtschaft kann demnächst
sein Mitglied zum Beispiel in einem Atomstreitverfah-
ren vor dem OVG vertreten. Hier hat man gerade nicht
die bisherigen Regelungen übernommen, sondern die
nichtjuristische Vertretung ausgeweitet.

Ich bin skeptisch, ob sich Behörden einen Gefallen
tun, wenn sie sich nicht anwaltlich vertreten lassen, und
ich bin noch skeptischer, ob es der Rechtsfindung dient,
wenn in Zukunft Nichtjuristen Anträge auf Berufungszu-
lassung vor den Oberverwaltungsgerichten stellen. Ich
halte hier eine Evaluierung in spätestens zwei Jahren für
absolut notwendig. Es sollte geprüft werden, welche
Auswirkungen die vorgeschlagenen Änderungen in den
Verfahrensordnungen in der Praxis tatsächlich haben.

Das Rechtsberatungsgesetz hat in der Vergangenheit
gute Dienste geleistet. Ich glaube, dass das Rechtsdienst-
leistungsgesetz genauso gute Dienste leisten wird. Ich
bin zuversichtlich, dass das heute zu verabschiedende
Gesetz zu einem nicht unerheblichen Teil zur Funktions-
fähigkeit unserer Justiz beitragen wird.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611822200

Ich erteile das Wort Kollegen Jürgen Gehb, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Stünker [SPD])


Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1611822300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zweimal

am Tag kann man die Ballade vom Schwängerer der
Frau L. nicht erzählen, und auch die Rechtsanwälte ha-
ben verdient, dass man das Thema mit dem gebotenen
Ernst angeht. Das habe ich heute Nachmittag gemacht,
und das tue ich auch heute Abend.

Wir bringen heute ein rechtspolitisch außergewöhn-
lich bedeutsames Gesetzgebungsverfahren zum parla-
mentarischen Abschluss. Das Gesetz zur Neuregelung
des Rechtsberatungsrechts ist notwendig geworden, weil
die Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht,
Bundesgerichtshof und Bundesverwaltungsgericht ver-
schiedene Lockerungen des grundsätzlichen Rechtsbera-
tungsverbots im Rechtsberatungsgesetz für Personen,
die nicht Volljuristen sind, bewirkt hat. Die Gerichte ha-
ben dabei das Rechtsberatungsverbot im Lichte der
Grundrechte ausgelegt und den Begriff der erlaubnis-
pflichtigen Rechtsberatung in diesem Lichte einschrän-
kend definiert.

Ich freue mich sehr, dass es im Laufe des Gesetzge-
bungsverfahrens gelungen ist, wesentliche rechtspoliti-
sche Anliegen der Union zur Geltung zu bringen. Ich be-
danke mich ausdrücklich bei unserem Koalitionspartner
und unserer Ministerin – lieber Staatssekretär Alfred
Hartenbach, ich bitte, den Dank weiterreichen zu wollen –,
dass Sie alle bereit waren, die von uns insoweit unter-
breiteten und auch von großen Teilen des Koalitionspart-
ners originär von Anfang an geteilten Vorschläge im We-
sentlichen mitzutragen.

Wir haben von Anfang an betont, dass die oberste
Maxime der Neuregelung der Verbraucherschutz sein
muss. Die hohe Qualität der Rechtsberatung in Deutsch-
land muss erhalten werden. Umfassende und vollwertige
Rechtsberatung soll deshalb auch weiterhin nur von
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten geleistet werden
können. Nur diese Berufsgruppe ist sowohl von ihrer
Ausbildung als auch von der berufsrechtlichen Anforde-
rung her in der Lage, den Belangen der Rechtsuchenden
in adäquater Weise gerecht zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nur Anwälte unterliegen einer Schweigepflicht. Sie
genießen im Hinblick auf ihre Mandatsverhältnisse zum
Schutz ihrer Mandanten umfassende Zeugnisverweige-
rungsrechte, sie haften für Fehler, durch die ihren Man-
danten ein Schaden entsteht, und sie müssen, um diese
Haftungsverpflichtung auch erfüllen zu können, eine
ausreichende Haftpflichtversicherung unterhalten.

Wie richtig dieses grundsätzliche Festhalten am an-
waltlichen Beratungsmonopol war, haben nicht zuletzt
die gestrigen Beratungen im Rechtsausschuss gezeigt.
Mein Blick bleibt bei Ihnen, Herr Wunderlich, hängen.
Es ist nicht verwunderlich, dass Sie gestern einen Ände-
rungsantrag gestellt haben. Da werden wir sicherlich
gleich noch einige Argumente von Ihnen hören. Ich will
Ihnen nur sagen: Die von den Linken geforderte völlige
Freigabe der unentgeltlichen Rechtsberatung lehnen wir
entschieden ab. Auch in anderen Bereichen sind aus gu-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Jürgen Gehb
ten Gründen berufsrechtliche Erfordernisse für die Aus-
übung einer Tätigkeit erforderlich.

Es käme doch niemand auf die Idee, eine notwendige
Operation von einem durchaus handwerklich geschick-
ten Metzger durchführen zu lassen. Da vertraut man
auch lieber auf den Chirurgen. Ebenso käme man nicht
auf die Idee, sich von jemandem, der einen Segelflieger
gut beherrscht, mit einem Jumbojet in den Urlaub flie-
gen zu lassen. Auch Ihr gestriges Beispiel, dass jemand,
der einen sozialrechtlichen Rat haben will, vielleicht bei
einem Fachanwalt für Strafrecht nicht so gut aufgehoben
ist wie bei jemand anderem, ist klar. Wenn jemand mit
einem Augenleiden zum Ohrenarzt kommt, sagt der
auch: Gehen Sie lieber zum Augenarzt! – Ebenso wird
der Strafverteidiger natürlich demjenigen, der ein sozial-
rechtliches Anliegen hat, sagen: Gehen Sie zu einem
Fachanwalt für Sozialrecht! – Das ist doch ganz klar.

Wir fangen hier an, die Scheibe nach dem Schuss zu
hängen.


(Heiterkeit – Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gutes Bild!)


Unsere Qualitäten werden immer niedriger. Wir haben
schon den Großen Befähigungsnachweis abgegeben. Ir-
gendwann kommt es so weit, dass, wie gesagt, der Metz-
ger die Operationen durchführt, der Schornsteinfeger die
Schweine schlachtet und die Friseuse anschließend den
Opfern Rechtsberatung erteilt. So weit darf und kann es
in diesem Land nicht kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb sind der Slogan des Deutschen Anwaltver-
eins „Vertrauen ist gut. Anwalt ist besser“ oder die Er-
klärung der Bundesrechtsanwaltskammer „Anwälte –
mit Recht am Markt“ nicht lediglich Werbung für einen
honorigen Beruf. Die Anwaltschaft sorgt mit einem An-
gebot an sachkundiger rechtlicher Beratung und Vertre-
tung dafür, dass unser im Grundgesetz postulierter
Rechtsstaat im alltäglichen Leben für die Bürger auch
erlebbar wird.

Kernpunkt des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
ist das neue Rechtsdienstleistungsgesetz, mit dem das
bisherige – mittlerweile in die Jahre gekommene –
Rechtsberatungsgesetz abgelöst wird. Das Gesetz behält
konsequenter- und richtigerweise die bisherige Systema-
tik eines Verbots mit Erlaubnisvorbehalt bei. Das heißt,
Rechtsberatung darf grundsätzlich nur mit einer entspre-
chenden Erlaubnis angeboten werden. Die Ausnahmen
sind eben fast erschöpfend genannt worden: karikative
Vereine, Mietervereine oder andere. Mit all dem gehe ich
d’accord. Das haben wir schön geregelt; darüber gibt es
gar keinen Streit.

Jetzt kommen ein paar Knackpunkte. Die in dem ur-
sprünglichen Gesetzentwurf vorgesehenen Öffnungen
des Rechtsberatungsrechts für andere Berufsgruppen
gingen uns ein bisschen zu weit. Im Hinblick auf die
Qualitätssicherung der Rechtsberatung waren Verbesse-
rungen notwendig, die wir auch erreicht haben. Zum
Beispiel ist die Begriffsdefinition der Rechtsdienstleis-
tung entscheidend präzisiert worden. Dadurch haben wir
erreicht, dass die relevanten Fälle der Besorgung frem-
der Rechtsangelegenheiten hinreichend erfasst werden.

Auch die ursprünglich vorgesehene komplette He-
rausnahme der Mediation aus dem Begriff der Rechts-
dienstleistung konnte deshalb so nicht stehen bleiben.
Hier ist klargestellt worden, dass eine Mediation, die
durch rechtliche Regelungsvorschläge in die Gespräche
der Beteiligten eingreift, durchaus als erlaubnispflichtige
Rechtsdienstleistung anzusehen ist.

Ein weiterer wesentlicher Punkt der Beratungen wa-
ren die Regelungen der Rechtsdienstleistung im Zusam-
menhang mit einer anderen Tätigkeit, die sogenannten
Nebenleistungen. Diese Tätigkeiten sollten nach dem ur-
sprünglichen Gesetzentwurf erlaubnisfrei sein. Hier ist
es gelungen, klarzustellen, dass die Nebenleistung im
Verhältnis zur nicht rechtsdienstleistenden Hauptleistung
immer nur dienende Funktion haben kann. Ein klassi-
sches Beispiel: Der Architekt kann selbstverständlich
prüfen, ob das Bauvorhaben im Außenbereich zulässig
ist. Dagegen soll der Kfz-Mechaniker zwar den Kotflü-
gel ausbeulen; er soll aber nicht noch die Schadenersatz-
ansprüche, den merkantilen Minderwert oder vielleicht
sogar die Schmerzensgeldansprüche geltend machen.
Das sollte man den Anwälten überlassen.

Schließlich sind die vorgesehenen Änderungen bei
den Regelungen zur Zusammenarbeit von Rechtsanwäl-
ten mit Vertretern anderer Berufe entfallen. Nach dem
Gesetzentwurf sollte jedermann die Erbringung von
Rechtsdienstleistungen erlaubt sein, wenn er sich hierfür
nur eines Anwalts bedient. Die Mandatsbeziehung wäre
in diesen Fällen lediglich durch die Vermittlung von
Dritten zustande gekommen. Diese Konstruktion war
schon vom Ansatz her problematisch, weil sich unwei-
gerlich der Eindruck aufgedrängt hätte, dass der Anwalt
hier als Diener zweier Herren auftritt. Also wäre der An-
walt im Hinterzimmer von Banken und Versicherungen,
der gegenüber dem Mandanten überhaupt nicht persön-
lich in Erscheinung tritt, die Folge gewesen. Das wollten
wir nicht.

In diesem Zusammenhang mussten auch die im Ge-
setzentwurf vorgesehenen Änderungen in Bezug auf So-
zietäten von Rechtsanwälten mit Vertretern anderer Be-
rufe entfallen. Lieber Alfred, ich weiß, das ist auch von
dir persönlich ein Lieblingskind. Wir haben das hier zu-
nächst einmal gestrichen. Wir prüfen, ob man das viel-
leicht an anderer gesetzlicher Stelle allozieren kann.

Ich will nur sagen: Schon jetzt ist es Rechtsanwälten
erlaubt, sich mit Steuerberatern, Steuerbevollmächtigten,
Wirtschaftsprüfern und vereidigten Buchprüfern zu einer
Sozietät zusammenzuschließen. Ob das in Zukunft auch
mit Taxifahrern oder sogar Zuhältern möglich sein muss,
sollte man wirklich trefflich überlegen, weil eine ge-
meinsame Berufsausübung von Rechtsanwälten und
Vertretern sogenannter vereinbarer Berufe sicherlich
nicht präzise genug ist. Sie hätte insbesondere unter dem
Aspekt des anwaltlichen Berufsgeheimnisses dem
Schutz des rechtsuchenden Bürgers nicht genügt. Außer-
dem hätte eine solche Regelung zu einer ufer- und
grundlosen Ausweitung von Zeugnisverweigerungsrech-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Jürgen Gehb
ten geführt, die aus gutem Grunde ausschließlich den
Rechtsanwälten zustehen sollen.

Letztlich ist noch darauf hinzuweisen, dass wir unter
dem Aspekt eines wirksamen Verbraucherschutzes im
Laufe der Gesetzgebungsberatungen die unerlaubte
Rechtsberatung wieder als Ordnungswidrigkeitentatbe-
stand ausgestaltet haben. Ich glaube, dass wir mit der jet-
zigen Fassung des Gesetzes insgesamt ein gelungenes,
zeitgemäßes und modernes Rechtsberatungsrecht vorle-
gen.

Das zeigt auch der Umstand, dass alle Fraktionen mit
Ausnahme der Linken dem Gesetzentwurf zustimmen
werden. Diesen Umstand, Herr Wunderlich, verstehe ich
allerdings immer noch mehr als Qualitätsmerkmal denn
als Makel.

Herzlichen Dank. Einen guten Abend!


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611822400

Das Wort hat nun Kollege Jörn Wunderlich, Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Jetzt wird es wunderlich!)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611822500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Linke begrüßt die Aufhebung des Rechtsberatungsgeset-
zes – das vorweggeschickt –, fordert in diesem Kontext
– Herr Gehb hat es schon gesagt – aber eine kostenfreie
Rechtsberatung – kostenfrei! Es geht um die kostenfreie
altruistische Rechtsberatung, welche nicht den Volljuris-
ten vorbehalten sein soll.

In der Problemschilderung des Gesetzentwurfs wird
angekündigt, das alte Gesetz durch eine zeitgemäße ge-
setzliche Regelung abzulösen, wobei insbesondere
– jetzt kommt es – der Verbraucherschutz und die Stär-
kung des bürgerschaftlichen Engagements im Vorder-
grund stehen sollen. Deregulierung soll auch erfolgen.

Das klingt gut und ist von der Idee her begrüßenswert,
wobei insbesondere zu beachten ist, dass – wie erwähnt –
im Rahmen der Stärkung des bürgerschaftlichen
Engagements – so wird es auch vom Ministerium ver-
breitet – der unentgeltliche Rechtsrat grundsätzlich von
jedermann erbracht werden kann. So wird es gesagt:
grundsätzlich von jedermann. Jedermann? Natürlich: so-
lange dieser Jedermann selbst Richter ist, die Befähi-
gung zum Richteramt hat oder eben ein solcher Jeder-
mann beteiligt ist. Also doch nicht jedermann, sondern
nur ein solcher.


(Joachim Stünker [SPD]: Oje!)


– Ja, das ist so. Da kann man nur stöhnen. – Im Rahmen
der Familie oder enger Nachbarschaft kann jedermann
Rechtsrat oder, wie es jetzt heißt, diese Rechtsdienstleis-
tung erbringen, aber alles darüber hinaus wird reglemen-
tiert, verbürokratisiert, sodass von Aufhebung und Ablö-
sung nicht die Rede sein kann.
Man hätte im Gesetz auch anders formulieren können.
Es hätte heißen können: Unentgeltliche Rechtsberatung
ist grundsätzlich verboten. Es gelten folgende Ausnah-
men: Die Beratung erfolgt innerhalb familiärer, nachbar-
schaftlicher oder ähnlich enger Beziehungen, oder sie er-
folgt durch eine Person mit Befähigung zum Richteramt
oder unter Anleitung und Aufsicht einer solchen Person.

Das ist natürlich eine Benachteiligung kleiner karita-
tiver Vereine und Selbsthilfegruppen, wobei es keinerlei
Erhebungen gibt, die zeigen, dass dort schlecht beraten
wird. Wieso, frage ich mich, soll der Diplomjurist – der
wird ausdrücklich ausgenommen –, welcher sich auf
Ausländer-, Asyl- und Verwaltungsrecht spezialisiert
hat, schlechter beraten als der Allround-Jurist mit Zwei-
tem Staatsexamen – das Thema hatten wir gestern schon –
oder die pensionierte Mitarbeiterin aus dem Sozial-
rechtsbereich in sozialrechtlichen Fragen?

Ihre Vergleiche, Herr Gehb, hinken. Wenn Sie zum
Fleischergeschäft gehen, zahlen Sie beim Meister den
Preis für die Wurst, und beim Gesellen, der nebenan die
Wurst verschenkt, kaufen Sie nicht.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sie haben den Vergleich nicht verstanden, Herr Wunderlich! Ich habe ihn so leicht gemacht!)


Wenn ein Asylsuchender zur Johanniter-Unfall-Hilfe
geht, wird die ihn nicht beraten, sondern ihn zu Pro Asyl
schicken. Ihre Vergleiche hinken also. Untersagungs-
gründe gibt es ebenfalls.

Was soll der Zweck sein? Schutz des Verbrauchers,
Schutz des Rechtsanwalts vor Konkurrenz, Sicherung
der Reibungslosigkeit der Rechtspflege?

Zum Verbraucherschutz wird in der Begründung des
Gesetzes ausgeführt – ich zitiere –:

Das im geltenden Recht angelegte Verbot unent-
geltlicher Rechtsberatung ist nicht zeitgemäß und
steht mit dem Gedanken von bürgerschaftlichem
Engagement nicht mehr im Einklang.


(Beifall bei der LINKEN)


Weiter heißt es:

Verbraucherschutzinteressen haben dieses umfas-
sende Verbot unentgeltlicher Rechtsberatung nie
gerechtfertigt …


(Christoph Strässer [SPD]: Richtig! Lesen Sie einmal die dazugehörigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb wird es jetzt geöffnet!)


Konkurrenzschutz dürfte wohl nicht mit Art. 12 Grund-
gesetz zu vereinbaren sein; das ist so auch nicht gemie-
den.

Sicherung der Reibungslosigkeit der Rechtspflege.
Das bedeutet – so muss man es leider sagen –: Natur-
schutzparkjustiz ohne störende Einwirkung von Nichtju-
risten. Anders lässt sich der Ausschluss von Personen
nicht erklären. Im Gesetzentwurf heißt es:






(A) (C)



(B) (D)


Jörn Wunderlich
Das Gericht weist Bevollmächtigte, die nicht nach
Maßgabe des Absatzes 2 vertretungsbefugt sind,
durch unanfechtbaren Beschluss zurück.

Es gibt noch nicht einmal eine Beschwerdemöglichkeit.
Weiter heißt es – jetzt kommt der Knackpunkt –:

Das Recht darf als höchstrangiges Gemeinschafts-
gut grundsätzlich nicht in die Hände unqualifizier-
ter Personen gelangen,

– Diplom-Juristen sind nicht unbedingt unqualifiziert –

da es als „gelebtes Recht“ maßgeblich durch die
Personen beeinflusst und fortentwickelt wird, die
Recht beruflich anwenden.


(Christoph Strässer [SPD]: Die es beruflich anwenden!)


Dies ist eine Verhinderung der Kommunikation und
des solidarischen Vorgehens zwischen Bürgern, die sich
nicht mit der von Juristen produzierten herrschenden
Meinung abfinden wollen, zumal die herrschende Mei-
nung in der Regel die Meinung der Herrschenden ist.


(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Nennen Sie mal den Urheber des Zitats!)


Es geht um den Schutz von Herrschaftswissen. Die die
Justiz dominierenden Juristen verzweifeln an ihrer Kom-
petenz. All dies soll zeitgemäß, verbraucherfreundlich
und das bürgerschaftliche Engagement stärkend sein?

Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu, auch
dem Teil zum Ausbau der Rechtsberatung!


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wirklich nicht! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Den spaßigen Teil der Debatte hatten wir heute Nachmittag schon! – Zuruf von der SPD: Jetzt erleben wir nichts als Klamauk!)


Dann bieten Sie auch den sozial Schwachen den ihnen
zustehenden Zugang zu Informationen mit Ausweich-
möglichkeiten. Halten Sie den Bürgern und Bürgerinnen
nicht vor, dass deren Recht in den Händen der unentgelt-
lichen Rechtsberatung nicht gut aufgehoben sei. So kön-
nen wir dem Gesetzentwurf jedenfalls nicht zustimmen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Dirk Manzewski [SPD]: Das hätte uns auch gewundert!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611822600

Ich erteile das Wort Kollegen Jerzy Montag, Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1611822700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Ju-
den in Deutschland, erzählt auch in öffentlichen Veran-
staltungen immer wieder, wie sie in der Nacht des
9. November 1938 als kleines Mädchen an der Hand ih-
res Vaters durch das nächtliche München irrte. Der Vater
war auf der Flucht und auf der Suche nach irgendeiner
Unterkunft. Er war jüdischer Rechtsanwalt. Er war zu
diesem Zeitpunkt entehrt, aller Mandanten beraubt, aus
seiner Kanzlei geworfen. All das geschah auf Grundlage
des nationalsozialistischen Rechtsberatungsgesetzes, das
heute zu Grabe getragen wird. Ich bin froh darum, dass
dies heute mit der großen Mehrheit dieses Hauses ge-
schieht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will an dieser Stelle auch an jemanden erinnern,
der mit seinem zivilen Engagement und auch mit seinem
zivilen Mut dazu beigetragen hat, dass das alte Rechts-
beratungsgesetz durch das neue Rechtsdienstleistungs-
gesetz heute ersetzt wird. Es handelt sich um den ehema-
ligen Richter am Oberlandesgericht Braunschweig
Helmut Kramer, der nach seiner Pensionierung Kriegs-
dienstverweigerer beraten hat. Er hat sogar am Amtsge-
richt Braunschweig mit Zulassung des Amtsgerichts
Braunschweig als Verteidiger gearbeitet. Das gleiche
Amtsgericht Braunschweig hat ihn später trotz dieser zu-
gelassenen Verteidigungstätigkeit wegen verbotener
Rechtsberatung bestraft, eine Entscheidung, die das
Bundesverfassungsgericht später aufhob.

In seiner Aufhebungsentscheidung sagt das Bundes-
verfassungsgericht, dass jedes Gesetz einem Alterungs-
prozess unterworfen ist. Ich fand diese Formulierung
äußerst interessant; wir sollten sie uns auch in anderen
Zusammenhängen noch einmal vergegenwärtigen. Der
Alterungsprozess des Rechtsberatungsgesetzes jeden-
falls hat dazu geführt, dass wir heute ein neues, ein fort-
schrittliches, ein auch von uns Grünen getragenes
Rechtsdienstleistungsgesetz beschließen werden. Das
halte ich für eine gute Sache.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will zum Schluss noch auf die Argumentation der
Linken eingehen. Ich meine, dass es ein Zeichen für ei-
nen gelebten Rechtsstaat ist, wenn qualifizierter Rechts-
rat grundsätzlich aus der Hand von Volljuristen und
Rechtsanwälten erteilt wird. Die Entscheidung darüber,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ob man
die Erteilung von unentgeltlichem Rechtsrat tatsächlich
jedermann erlaubt,


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Niemals!)


stellt den Lackmustest dafür dar, ob man das ganze
Rechtsdienstleistungsrecht als eine Pfründe für Anwälte
ansieht oder dieses mit richtigem, nach vorne gerichte-
tem Verbraucherschutz verbinden will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn Sie die unentgeltliche Rechtsberatung in jeder-
manns Hände geben wollen, dann bleiben Sie die Ant-
wort schuldig, warum Sie eigentlich die entgeltliche
Rechtsberatung nur in die Hände der Rechtsanwälte ge-
ben wollen.






(A) (C)



(B) (D)


Jerzy Montag

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Dafür gibt es dann nur noch ein Argument: Da, wo es
ums Geld geht, sollen die Rechtsanwälte verdienen.
Nein, wir sagen, es soll genau umgekehrt sein: Auch die
unentgeltliche Rechtsdienstleistung muss ein Mindest-
maß an Qualität haben. Dies wird durch das Anleitungs-
modell, das wir im Gesetz gewählt haben, erreicht; hier
ist alles richtig austariert.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Bravo!)


Deswegen finden wir diese Lösung richtig und Ihren
Antrag falsch. Wir werden dem Gesetz zustimmen und
Ihrem Entschließungsantrag nicht.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Herr Montag, Sie bessern sich!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611822800

Nun hat Kollege Christoph Strässer, SPD-Fraktion,

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1611822900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Auch ich glaube, dass am
heutigen Tag ein Durchbruch erzielt wird bei der lange
Jahre andauernden Diskussion über die Frage, in wel-
cher Form wir endlich dieses alte Rechtsberatungsgesetz
aufheben und welche Instrumente an seine Stelle treten
sollen. Viele haben dafür gekämpft, viele haben sich da-
mit beschäftigt. Ich bin sehr froh darüber, dass es nach
einer immerhin dreijährigen Diskussion nun gelungen
ist, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der beiden Interes-
sen gerecht wird: den Interessen der Rechtsuchenden,
aber auch den Interessen derjenigen, die juristische Be-
rufe ergriffen haben und – so sage ich es einmal – von
ihrer beruflichen Qualifikation her berufen sind, Rechts-
probleme zu lösen, Menschen zu beraten und diesen
auch eine gesicherte Stellung vor den Gerichten – wir ha-
ben ja auch viele Richterinnen und Richter hier sitzen – zu
verschaffen. Das ist eine der Quintessenzen dieses
Gesetzentwurfs. Der hier gewählte Ansatz ist überwie-
gend positiv. Wenn wir das Gesetz mit großer Mehrheit
verabschieden, bedeutet das einen wichtigen Schritt für
die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Rechtsschutz
suchen. Deshalb ist dies ein sehr gutes Gesetzesvorha-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich teile allerdings die Überzeugung des Parlamenta-
rischen Staatssekretärs – ich bitte die Bundesregierung,
dies auch zu tun –: Das kann nicht der letzte Schritt sein.
Es ist in Ordnung, dass wir § 59 a der Bundesrechtsan-
waltsordnung – er betrifft die Bildung von Sozietäten
mit Personen, die nicht volljuristisch ausgebildet sind –
zunächst einmal zurückgestellt haben. Ich habe Ver-
ständnis dafür, dass man gesagt hat: Man kann das nicht
nebenbei regeln; das ist in Ordnung.

Ich wünsche mir aber – und darum bitte ich das BMJ –,
dass so schnell wie möglich hierzu Entwürfe vorgelegt
werden; denn das, was uns vorliegt, ist zwar ein Fort-
schritt im Hinblick auf die deutsche Rechtslage, aber
noch kein Schritt in Richtung Europa und der Konkur-
renzsituation, in der sich Juristinnen und Juristen hier
befinden. Wir müssen sehr schnell handeln, damit wir
nicht deutlich ins Hintertreffen geraten. Deshalb werden
wir, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, das
Haus sehr unterstützen, wenn in absehbarer Zeit ein Ent-
wurf auf den Tisch kommt.

Ich möchte Ihnen unsere Auffassung zur karitativen
Rechtsberatung deutlich machen. Ich möchte nicht so
drastische Beispiele wie der Kollege Gehb nennen. Ich
möchte aber schon – auch im Hinblick auf die Diskus-
sion über familienrechtliche Fragen, die wir heute Nach-
mittag geführt haben – zum Ausdruck bringen: Es macht
keinen Sinn, im Bereich der karitativen Rechtsberatung
so etwas wie eine Rechtsberatung light einzuführen.

An dieser Stelle möchte ich zwei Hinweise geben:

Erstens. Ich darf darauf verweisen, dass das alte
Rechtsberatungsgesetz ein klares Verbot jeder privaten
Rechtsberatung jenseits der juristisch ausgebildeten Be-
rufe beinhaltete. Dieses Verbot wird mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf hinfällig. § 6 des neuen Gesetzes
spricht eine deutliche Sprache. Es ist völlig falsch, so zu
tun, als sei da gar nichts passiert. Wir müssen zur Kennt-
nis nehmen, dass es hier eine Änderung gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Zweitens. § 6 Abs. 1 des neuen Gesetzes beinhaltet
das auch von Ihnen angesprochene Recht der einschrän-
kungslosen Beratung in privaten Verhältnissen, in Nach-
barschaftsverhältnissen – und das ist auch gut so. Denn
jeder Rechtsuchende, der sich einen solchen Rat holt,
weiß, welches Risiko er eingeht. Aber gerade Sie müss-
ten doch eigentlich akzeptieren, dass die Menschen, die
zu Beratungsvereinen, zu Sozialvereinen oder zu Asyl-
beratungsstellen gehen, keinen Rechtsschutz zweiter
Klasse bekommen sollten. Vielmehr sollten sie dort eine
Rechtsberatung erhalten, die der Rechtsberatung desje-
nigen entspricht, der diese bezahlen kann. Deshalb finde
ich es richtig, dass wir entsprechende Anforderungen in
das Gesetz aufgenommen haben.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Mechthild Dyckmans [FDP])


Das kann und muss so bleiben.

Das, was wir hier beschließen, folgt einer langen Tra-
dition – ich bleibe dabei –: Diejenigen, die eine volle ju-
ristische Ausbildung haben, sollten weiterhin an erster
Stelle Rechtsberatung vornehmen. Als Tribut an die gute
Zusammenarbeit mit dem Kollegen Gehb nehme ich da-
von Abstand, Roy Black, den deutschen Volksphiloso-
phen, zu zitieren.






(A) (C)



(B) (D)


Christoph Strässer

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich hätte es gesungen!)


Ich gehe aber etwas in die Vergangenheit zurück, etwa in
das Jahr 370 vor Christus. Da gab es einen leider Gottes
nicht mehr sehr bekannten griechischen Maler namens
Apelles. Er hat ein Bild gemalt und es einem Schuhma-
cher gezeigt. Dieser Schuhmacher hat gesagt: Das, was
du am Fuß gemalt hast, ist kein Schuh. Der Maler hat es
dann korrigiert. Dann hat der Schuhmacher aber gesagt:
Pass mal auf; der Oberschenkel des Gemalten ist auch
nicht in Ordnung. Da sagte Apelles – ich zitiere jetzt
nach Plinius dem Älteren in der altphilologischen Spra-
che des Kollegen Gehb –:


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Aber Roy Black kenne ich auch!)


Sutor, ne ultra crepidam! – Allen anderen sage ich es auf
Deutsch: Schuster, bleib bei deinem Leisten!


(Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das wusste ich nicht!)


Ich glaube, das ist ein guter Rat an all diejenigen, die
nicht juristisch vorgebildet sind und gute Berufe haben;
sie sollten diese weiter ausüben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611823000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Neuregelung des Rechtsberatungsrechts. Der Rechtsaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/6634, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 16/3655 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Frak-
tion Die Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit gleicher Mehrheit wie zuvor angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6635.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rechte der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher beim Verkauf von Immobilienkrediten
stärken

– Drucksache 16/5595 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Gerhard Schick, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem
Thema, das wir jetzt beraten, haben sich die Fraktionen
aufgrund einer Reihe von Anfragen schon im Frühjahr
im Ausschuss und im Rahmen einer Anhörung befasst.
Die Schlussfolgerung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen ist, dass das Vertragsrecht, wie es sich heute dar-
stellt, nicht mehr zu der wirtschaftlichen Realität, die
sich deutlich verändert hat, passt. Wir glauben deswe-
gen, dass es an der Zeit ist, nach dem Sammeln von In-
formationen und entsprechenden Beratungen konkrete
gesetzgeberische Maßnahmen einzuleiten. Deswegen le-
gen wir einen Antrag dazu vor.

Um was geht es konkret? Die Beziehung zwischen
dem Kreditgebenden, häufig einer Bank, und dem Kre-
ditnehmer, Verbrauchern oder Unternehmern, zeichnet
sich dadurch aus, dass der Kredit selber zu einem Han-
delsgut geworden ist. Der Kredit kann also weiterver-
kauft und verbrieft und somit an den Kapitalmärkten ge-
handelt werden.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hat aber auch Vorteile!)


– Ich komme gleich noch darauf.

Es ergeben sich drei Probleme, die nach meiner An-
sicht in der Anhörung deutlich herausgearbeitet worden
sind. Das erste Problem behandelt die Frage, wie mit den
Daten umgegangen wird. Denn aufgrund der Beziehung
zwischen Kreditgeber und Kreditnehmer werden Daten
offengelegt, die man nicht jedem an die Hand geben
würde. Wenn der Kredit verkauft wird – es gibt sehr un-
terschiedliche Formen, dies zu tun –, dann können die
Daten weitergereicht werden. Das ist eine Sorge, die
nicht nur Privatpersonen, sondern auch Unternehmerin-
nen und Unternehmer betrifft. Ich denke, in diesem Be-
reich muss über das BGH-Urteil hinaus eine Klarstel-
lung erfolgen.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gerhard Schick

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das zweite Problem ist, dass es sich bei denjenigen,
die diese Kredite kaufen, nicht mehr notwendigerweise
um Banken handelt. Deswegen ist nicht immer die Mög-
lichkeit einer Anschlussfinanzierung gegeben. Auf diese
Situation muss sich aber der Kreditnehmer frühzeitig
einstellen können. Außerdem wird der Kredit aus dem
beaufsichtigten in den nichtbeaufsichtigten Bereich
übertragen. Da es sich hier um Transaktionen in einer
Milliardengrößenordnung handelt, ist dies durchaus pro-
blematisch.

Das dritte Problem ist – nach dem, was wir in den ge-
meinsamen Beratungen inzwischen herausgefunden ha-
ben, ist das der schwerwiegendste Punkt –, dass die Inte-
ressenlage des Kaufenden eine andere ist als die der
Bank, die den Kredit ursprünglich vereinbart hat. Insbe-
sondere kann es Unterschiede beim Umgang mit der Ab-
sicherung des Kredites und in der Behandlung der Frage
geben, wie das Kreditverhältnis weiterläuft. Wir müssen
dabei beachten, dass Menschen beispielsweise die Un-
terwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung ver-
einbaren, was sie nicht jedem gegenüber tun würden.
Dieses Recht darf also nicht einfach weiterverkauft wer-
den.

Wir müssen deswegen Konsequenzen ziehen. Es ist
wichtig, eine Linie zu finden, die es sowohl ermöglicht,
dass Kredite aus der Bilanz verkauft und verbrieft wer-
den können, als auch den Schutz der Kreditnehmer si-
cherstellt. Wir wollen die Verbriefung nicht unmöglich
machen; denn das würde bedeuten, dass die Kreditver-
gabe in Zukunft erschwert oder unmöglich gemacht
wird.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das wird auch ein Preisproblem sein!)


Wir müssen deswegen gesetzgeberisch tätig werden. In
unserem Antrag kommt sehr gut die Abschichtung zum
Ausdruck, was man in jedem Fall machen kann und wo
man genauer hinschauen muss.

Eine Forderung, die, wie ich glaube, allgemein geteilt
wird, ist ganz zentral – man sollte diesbezüglich zügig
vorgehen –: die Forderung nach mehr Transparenz. Vor
Vertragsschluss muss Transparenz darüber herrschen, ob
der Kredit verkauft werden kann oder nicht. Nach Über-
gang eines Kreditvertrags muss es mehr Transparenz ge-
ben, damit die Kunden wissen, ob der Kredit übergegan-
gen ist oder nicht, ob er verkauft worden ist oder nicht.
Und es muss eine klare Information darüber gegeben
werden, ob der Käufer zu einem Anschlussangebot be-
fugt und bereit ist. Ich glaube, diese drei Punkte sollten
unstrittig sein. Darauf sollten wir uns schnell verständi-
gen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Darüber hinaus geht es um die Frage, ob es nicht eine
Verpflichtung für einen Sanierungsversuch gibt. Wenn
Menschen in ihrem eigenen Haus wohnen und die Inte-
ressenlage dazu führen kann, dass die Sicherung mögli-
cherweise verwertet wird, obwohl der Kredit normal
bedient worden ist – in der Anhörung ist deutlich gewor-
den, dass es eben nicht nur um den Verkauf von notlei-
denden Krediten geht –, müssen wir die Verbraucherin-
nen und Verbraucher schützen.

Ich will an dieser Stelle eines ganz deutlich machen:
Wir sprechen in unserem Antrag insbesondere von Ver-
braucherinnen und Verbrauchern. Das zeigt, dass wir
hier ein besonderes Schutzbedürfnis sehen. Wir wollen
die Befassung mit der Materie aber nicht explizit auf die-
sen Bereich beschränken, sondern den Unternehmensbe-
reich einschließen. In der Anhörung ist sehr deutlich ge-
worden, dass auch diesbezüglich Handlungsbedarf
besteht.

Ich denke, es liegt im Interesse aller Beteiligten, dass
auf diesem Gebiet schnell Rechtsklarheit geschaffen
wird. Ich bitte, dass wir gemeinsam an die Arbeit gehen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, nach den Anhö-
rungen, die stattgefunden haben, einen Entwurf vorzule-
gen, damit für diesen Geschäftsbereich wieder Klarheit
und Sicherheit geschaffen werden können.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611823100

Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Ludwig Thiele,

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1611823200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! In dem Antrag der Grünen,
der am 13. Juni 2007 in den Bundestag eingereicht
wurde, wird auf umfassende Befragungen der Bundes-
regierung Bezug genommen. Diese Befragung der Bun-
desregierung wurde in einem Fall von der Fraktion der
Linken und in zwei anderen Fällen von der Fraktion der
FDP durchgeführt. Sie stammen aus dem Herbst des
letzten Jahres. Insofern kann man nur sagen: Hallo, ihr
Grünen, seid ihr auch endlich da, seid ihr auch endlich
aufgewacht, um euch mit diesem Thema zu beschäfti-
gen?

Der Antrag beginnt damit, dass der Bundestag fest-
stellen möge:

Seit mehreren Monaten häufen sich die Berichte
über Immobilienbesitzerinnen und -besitzer, die
nach dem Verkauf ihrer Kredite von ihrer Bank an
Finanzinvestoren in große finanzielle Probleme ge-
raten sind.

Es ist festzustellen, dass es diese Berichte nicht erst seit
einigen Monaten, sondern seit mehr als einem Jahr gege-
ben hat. Das Problem ist also schon erheblich länger be-
kannt.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zur Sache, Herr Thiele! – Gegenruf des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das muss der Wahrheit wegen gesagt werden!)


Ich freue mich, dass vor allem Vertreter meiner Frak-
tion sehr frühzeitig im Interesse vieler Eigenheimbesit-






(A) (C)



(B) (D)


Carl-Ludwig Thiele
zer tätig geworden sind – das gilt insbesondere für
Mechthild Dyckmans, die das Thema für uns im Rechts-
ausschuss bearbeitet –, um diesen Sachverhalt aufzuklä-
ren. Die öffentliche Sensibilität für diesen Sachverhalt
muss geschärft werden. Das ist erfolgt. Durch öffentli-
chen Druck ist bewirkt worden, dass einzelne Geschäfts-
praktiken, von denen sich die überwiegende Zahl der
Banken deutlich distanziert, die in sittenwidrigem Ver-
halten gipfelten, unterbunden wurden. Insofern haben
wir durch die Befassung mit diesem Thema bereits eine
Menge erreicht.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])


Die FDP hat immer darauf hingewiesen, dass zwi-
schen den Krediten, die ordnungsgemäß bedient wurden,
und den Krediten, die nicht ordnungsgemäß bedient
wurden, zu unterscheiden ist. Die Kredite, die ordnungs-
gemäß bedient wurden, genießen aus unserer Sicht einen
deutlich höheren Schutz als die Kredite, bei denen der
Schuldner seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht
nachgekommen ist.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])


Die ganze Diskussion führte dazu, dass wir im Fi-
nanzausschuss interfraktionell beschlossen haben, ein
Fachgespräch in Form einer nichtöffentlichen Anhörung
durchzuführen. Sie fand am 19. September statt. Das
Protokoll liegt leider noch nicht vor. Das ist kein Vor-
wurf; das gehört zum Verfahren. Wir werden uns mit
dem Protokoll beschäftigen, es auswerten und versu-
chen, die notwendigen Schlüsse zu ziehen.

Herr Schick, ich muss Ihnen sagen, dass mich der An-
trag der Grünen in einem Punkt überrascht hat, nämlich
dass zukünftig vor Einleitung einer Zwangsvollstre-
ckung in eine vom Schuldner bewohnte Immobilie ein
obligatorischer Sanierungsversuch durchzuführen ist.
Das würde doch erhebliche Änderungen von Rechtsnor-
men bedeuten, die juristisch fragwürdig sind. Aus mei-
ner Sicht sind sie allerdings auch wirtschaftlich fragwür-
dig, weil gegenüber denjenigen Schuldnern, die ihren
Pflichten nicht nachgekommen sind, nicht entsprechend
vorgegangen werden kann.


(Beifall bei der FDP)


Insofern ist zu fragen: Wie soll so ein obligatorischer Sa-
nierungsversuch aussehen? Er müsste im BGB verankert
sein. Dazu kann ich nur sagen: Viel Spaß mit den For-
mulierungen an dieser Stelle.

Vor einer abschließenden Bewertung der Anhörung
möchte ich für meine Person einige Punkte aufführen,
die ich für wichtig halte und die geändert werden sollten.
Darüber konnten wir in der Fraktion noch nicht diskutie-
ren. Deshalb trage ich sie hier als persönliche Meinung
vor.

Erstens. Wenn eine Forderung abgetreten wird, dann
sollte eine Transparenz bezüglich dieser Abtretung beim
Schuldner erfolgen.
Zweitens. Bei Auslaufen der Festzinsvereinbarung
halte ich es für nachdenkenswert, dass der Schuldner mit
einem gewissen Vorlauf vom Kreditinstitut im Sinne ei-
ner Warnfunktion auf das Auslaufen der Festzinsverein-
barung hingewiesen wird. Dies dient nicht nur dem
Schuldner.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der Kollege hat unsere Presseerklärung gelesen!)


– Ich habe das schon öffentlich erklärt. Wir sind jetzt
hier im Bundestag, und das ist noch eine ganz andere Öf-
fentlichkeit, Herr Kollege Dautzenberg.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr gut, Herr Kollege!)


Es ermöglicht aber auch dem Gläubiger, frühzeitig in
Gespräche und Verhandlungen über neue Kreditkondi-
tionen mit dem Schuldner einzutreten.

Drittens. Es ist darüber nachzudenken, ob die Befrei-
ung vom Bankgeheimnis durch allgemeine Geschäftsbe-
dingungen ausgeschlossen werden kann. Ich könnte mir
persönlich vorstellen, dass dies zukünftig nicht mehr
durch eine Reglung in den allgemeinen Geschäftsbedin-
gungen möglich ist, sondern ausdrücklich im Vertrag
enthalten sein muss.

Viertens. Aus meiner Sicht wäre es zu begrüßen,
wenn der Kunde die Möglichkeit bekommt, beim Ab-
schluss eines Kreditvertrages eine Abtretung vertraglich
auszuschließen. Es wäre sinnvoll, eine entsprechende
Formulierung in den Vertrag aufzunehmen, die eine
Warnmöglichkeit gegenüber dem Kunden darstellt. Kre-
ditinstitute können dies machen, aber sie müssen es
nicht. Ein Kunde kann dann abschließen oder er kann die
Passage streichen. Diese Vertragsfreiheit stellen wir uns
an dieser Stelle vor.


(Beifall bei der FDP)


Abschließend: Wir dürfen nicht vergessen, dass ins-
besondere für viele Eigenheimbesitzer der Kauf und die
Finanzierung einer Immobilie nur einmal im Leben statt-
finden. Ein Großteil des Vermögens und auch der Alters-
vorsorge steckt in dieser Immobilie. Dies sollte bei ent-
sprechenden Überlegungen berücksichtigt werden.

Wir müssen aber auch feststellen, dass die Funktions-
fähigkeit des Finanzplatzes sichergestellt sein muss. In-
sofern müssen Abtretungen von Forderungen von Kredit-
instituten grundsätzlich möglich sein.

So werden wir als FDP die Diskussion weiterführen.
Wir warnen an dieser Stelle ausdrücklich vor übereilten
Schnellschüssen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611823300

Das Wort hat nun Kollege Otto Bernhardt, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1611823400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Noch vor wenigen Jahren konnte man sicher
sein, dass man, wenn man sein Haus bei einer Bank
finanzierte oder wenn eine Firma einen Investitionskre-
dit bei einer Bank aufnahm, mit dieser Bank im Geschäft
blieb, bis der Kredit zurückgezahlt war. In den letzten
Jahren hat sich das stillschweigend grundlegend verän-
dert.

Wir haben zwar keine exakten Zahlen, aber die Deut-
sche Bank hat veröffentlicht, über wie viele Kreditver-
käufe man aus den Bilanzen informiert ist. Sie nennt
zwei Zahlen. Im Jahre 2003 waren Kreditverkäufe in
Höhe von 1,5 Milliarden aus den Bilanzen ersichtlich.
Im letzten Jahr waren es mehr als 7,5 Milliarden. Das
heißt, in vier Jahren hat sich dieses Geschäft verfünf-
facht.

Es ist nicht richtig, wie viele glauben, dass nur notlei-
dende Kredite verkauft werden. Sie sind zwar ein ein-
deutiger Schwerpunkt, und vor drei, vier Jahren ging es
nur um notleidende Kredite, aber inzwischen werden
durchaus auch voll bediente Kredite veräußert. Es ist
auch nicht mehr richtig, dass nur Kredite aus Immobi-
lienfinanzierungen verkauft werden. Sie spielen zwar
eine ganz besondere Rolle, aber es werden auch typische
mittelständische Kredite verkauft.

Wir müssen jetzt natürlich die Frage stellen: Warum
hat dieses Phänomen so an Bedeutung zugenommen?
Wir werden zunächst einmal erkennen, dass es für eine
Reihe von Kreditinstituten betriebswirtschaftliche
Gründe gibt, dies zu tun. Sie wissen: Jeder Kredit, den
ein Institut vergibt, bindet ein Stück Eigenkapital. Wenn
man Kredite verkauft, bekommt man wieder freies
Eigenkapital für neue Kredite.

Aber es gibt auch die Situation, dass einige Kredit-
institute Risiken in bestimmten Bereichen konzentriert
haben, etwa, weil sie nur örtlich tätig sind, wie es bei
Sparkassen und Genossenschaftsbanken in der Regel der
Fall ist. Sie wollen durch den Verkauf zur Risikostreu-
ung kommen. – Dies sind die entscheidenden Motive.

Schließlich gibt es noch ein weiteres Motiv, das sich
allerdings nur auf sogenannte notleidende Kredite be-
zieht. Es gehört ein ziemlich großes Know-how dazu,
diese Kredite einzuziehen und zu bearbeiten. Viele Kre-
ditinstitute scheuen diesen Teil und verkaufen deshalb
notleidende Kredite an jemanden, der ein Profi in der
Bearbeitung solcher Kredite ist.

Ich sage dies, um zunächst einmal darauf hinzuwei-
sen, dass es für den Kreditverkauf gute betriebswirt-
schaftliche Gründe und auch volkswirtschaftliche Über-
legungen im Hinblick auf Risiken gibt.

Meine Damen und Herren, auf der anderen Seite gibt
es den Verbraucher. Im Mittelpunkt der Überlegungen,
die jetzt von den Grünen und von der FDP vorgestellt
wurden und sicherlich auch in den anderen Fraktionen
angestellt werden, steht natürlich die Frage, wie hier der
Verbraucher zum Zuge kommt. Der Gedanke, sein Haus
über eine örtliche Bank zu finanzieren und den Kredit
immer planmäßig zu bedienen, dann aber plötzlich ein
Schreiben – vielleicht noch in englischer Sprache – zu
bekommen, dass jemand den Kredit gekauft hat, führt
schon zu ziemlich heftigen Verärgerungen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Mit Recht, ja!)


Mancher Mittelständler, der plötzlich feststellt, dass sein
Kredit von einer Bank verwaltet wird, die weit weg ist,
sagt natürlich: Meine Güte, mit meiner Bank vor Ort
kann ich in kritischen Situationen ins Gespräch kom-
men, aber mit einer anderen Bank, die ich gar nicht
kenne und die weit weg ist, weniger. Deshalb ist es rich-
tig, dass wir jetzt angesichts des Ausmaßes, das dieser
Handel angenommen hat, zumindest die Transparenz er-
höhen. Es war auch richtig, dass der Finanzausschuss
einmal ein Fachgespräch geführt hat. Ich habe inzwi-
schen mehrere Gespräche mit Vertretern der Banken und
insbesondere mit Gesellschaften geführt, die solche Kre-
dite kaufen. Ich sage ganz offen: Sie stellen sich darauf
ein, dass sich hier etwas ändert.

Ich bin ziemlich sicher, dass wir zu Veränderungen
kommen werden. Bei uns gibt es zwei Überlegungen.
Aber unsere Überlegungen sind ähnlich wie die bei der
FDP noch nicht abgeschlossen; wir brauchen noch wei-
tere Informationen. Die eine Überlegung läuft darauf
hinaus, dass man einem Kunden, wenn er einen Kredit
aufnimmt, nicht unter Punkt 36 bei den sonstigen Bedin-
gungen, sondern sehr deutlich sagen muss, dass dieser
Kredit verkauft werden kann und die Rechtslage diesbe-
züglich klar ist. Die meisten wissen dies nicht; deshalb
die Überraschung.

Ich gehe sogar so weit, zu sagen, dass die Banken den
Kunden relativ schnell einen Kredit anbieten werden,
den sie verkaufen dürfen, und daneben einen Kredit, den
sie nicht verkaufen dürfen. Ob wir dafür eine rechtliche
Regelung brauchen oder ob wir das dem Markt überlas-
sen können, müssen wir diskutieren. Vieles spricht na-
türlich dafür, dass der Kredit, den sie nicht verkaufen
dürfen, ein bisschen teurer werden dürfte. Aber ich kann
mir vorstellen, dass ein Mittelständler angesichts einer
Differenz von 0,2 oder 0,3 Prozent sagt, er nehme lieber
einen Kredit, den seine Sparkasse oder Volksbank nicht
verkaufen kann. Es ist nämlich ein Irrtum, zu glauben,
wie viele es tun, dass nur die Großbanken so etwas ma-
chen. Nein, alle drei Säulen haben das gemacht, um das
sehr deutlich zu sagen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Und machen es noch!)


Sparkassen haben verkauft.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Die Landesbanken!)


– Ja, vor allem über Landesbanken. Auch im genossen-
schaftlichen Bereich sind Kredite verkauft worden, und
natürlich auch von den anderen. Man kann also Klarheit
schaffen, wenn man gleich bei der Kreditvergabe damit
beginnt, dieses Problem zu lösen.

Einen zweiten Punkt halten wir für sehr wichtig: Wer
einen Kredit verkauft, muss den Kreditnehmer rechtzei-
tig informieren, damit er versuchen kann, wenn bei-






(A) (C)



(B) (D)


Otto Bernhardt
spielsweise die Sparkasse ihn verkauft, bei der Volks-
bank eine Anschlussfinanzierung zu finden.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Vernünftig!)


Ich sage dies sehr deutlich. Das wird mit Sicherheit dazu
kommen, und das ist gut so.

Es gibt eine Art des Verkaufs, bei der vielleicht nicht
informiert werden muss: Ich bin im Zuge meiner Be-
schäftigung mit diesem Thema darauf gestoßen, dass es
Kredite gibt, die verkauft werden, bei denen aber die
verkaufende Sparkasse voll in der Bearbeitung bleibt.
Dann merkt der Kunde das nicht, und dann ist ein Infor-
mationsrecht vielleicht auch nicht zwingend.

Wir müssen uns auch ein bisschen die europäische
Entwicklung angucken; das sage ich hier ebenfalls sehr
deutlich. Nach meinen Informationen ist eine EU-Richt-
linie in Vorbereitung, die in etwa in die Richtung der bei-
den Überlegungen geht, die ich eben vorgetragen habe.

Es gibt noch eine andere Überlegung, die auch in mei-
ner Fraktion einige anstellen. Sie sagen: Bei einem Ver-
kauf muss es ein außerordentliches Kündigungsrecht un-
ter Verzicht auf die Vorfälligkeitsentschädigung geben.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das geht!)


Das mag populär sein. Aber damit könnte der Markt für
den Verkauf tot sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn eines müssen wir berücksichtigen: Gott sei Dank
gibt es in Deutschland die Kultur, Immobilien mit lang-
fristiger Zinsbindung zu finanzieren.


(Frank Schäffler [FDP]: Ja! Das gibt es am Markt auch!)


Um es klar zu sagen: Das wird in anderen Ländern nicht
gemacht. Einer der Gründe für die Immobilienkrise in
den Vereinigten Staaten ist die Tatsache, dass Immobi-
lien dort nur mit kurzfristiger Zinsbindung finanziert
werden. Wir wollen bei unserer bewährten Finanzierung
bleiben.

Meine Damen und Herren, abschließend sage ich:
Hier besteht Handlungsbedarf. Die Frage, ob wir das im
Gesetz zur Risikobegrenzung regeln, ob wir eine Verän-
derung bzw. Ergänzung des Kreditwesengesetzes vorneh-
men oder ob wir das vielleicht sogar in das Bürgerliche
Gesetzbuch aufnehmen, müssen wir noch ausdiskutie-
ren.

Ich stimme der FDP zu: Schnellschüsse brauchen wir
nicht. Wir brauchen Lösungen, die einen Kompromiss
zwischen den betriebswirtschaftlichen bzw. volkswirt-
schaftlichen Notwendigkeiten und dem Schutz der Ver-
braucher darstellen. Ich habe den Eindruck, es gibt gute
Chancen, in diesem Hause kurzfristig zu einvernehmli-
chen Lösungen zu kommen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611823500

Das Wort hat nun Kollege Hans-Ulrich Krüger, SPD-

Fraktion.


Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD):
Rede ID: ID1611823600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Schick, erfreut nehme ich
den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
zur Kenntnis, die sich inzwischen ebenfalls des Themas
„Handel mit Kreditforderungen“ angenommen und es
auf die Agenda gesetzt hat. Ohne Ironie – ich bitte Sie,
mir das abzunehmen – sage ich Ihnen: Willkommen im
Klub!


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU])


Schwarz-Rot beschäftigt sich seit vielen Monaten
sehr intensiv mit den durch den Kredithandel aufgewor-
fenen Problemen. Seien Sie versichert: Dieses Thema ist
bei uns in den richtigen Händen. Wir sind darauf be-
dacht, die unerwünschten Auswirkungen des Kredithan-
dels sehr sorgfältig zu analysieren und Lösungen zu erar-
beiten, um die betroffenen Kreditnehmer, Verbraucher
wie Unternehmer, umfassend zu schützen.

Worum geht es? In den letzten Jahren – Kollege
Bernhardt hat das schon angeführt –


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr gut hat er das sogar gemacht!)


ist nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland ein ver-
stärkter Handel mit Immobilienkrediten und sonstigen
Krediten zu beobachten. Dieser Handel hat fast explo-
sionsartig zugenommen. Vor allen Dingen bei sogenann-
ten notleidenden Krediten, also dann, wenn der Kredit-
nehmer seine Rate nicht oder nur verzögert zahlt,
entledigen sich Banken gerne des Risikos und veräußern
ihre Forderungen, häufig an einen Finanzinvestor oder,
ebenso häufig, an eine Investmentbank.

Ein solcher Verkauf ist für die kreditgebende Bank
aus ökonomischer Sicht durchaus von Vorteil, da sie da-
durch neue finanzielle Mittel für weitere Kreditvergaben
erhält. Grundsätzlich ist festzustellen, dass auch zivil-
rechtlich nichts gegen den Verkauf von Immobilien-
oder Kreditforderungen einzuwenden ist, solange die
Rechte der Schuldner angemessen berücksichtigt wer-
den.

Das ist leider nicht mehr durchgängig der Fall. Viel-
mehr ist zu beobachten, dass in der jüngeren Praxis – ich
erwähne das erneut, allerdings nur Pars pro Toto – bei
Immobilienkrediten Konstellationen aufgetaucht sind,
bei denen von einer angemessenen Berücksichtigung der
Schuldnerinteressen keine Rede sein kann.

Es wird geschätzt, dass allein die deutschen Banken
und Kreditinstitute notleidende Kredite in einem Volu-
men von 10 bis 12 Milliarden Euro pro Jahr veräußern.
Es gibt keine fixen Zahlen, sie schwanken zwischen 7,5
und 10 bis 12 Milliarden Euro pro Jahr; auf jeden Fall
handelt es sich um eine nennenswerte Größenordnung.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans-Ulrich Krüger
Dass ein Verkauf notleidender Kredite für den Kredit-
nehmer in aller Regel nichts Gutes bedeutet, liegt auf der
Hand. Die Käufer solcher Forderungen, meistens auf
schnelle und größtmögliche Rendite zielende Finanzin-
vestoren, haben naturgemäß in erster Linie ein Interesse
daran, die Immobilie zu veräußern und unmittelbar die
Zwangsvollstreckung zu betreiben. An personalintensi-
ver Betreuung, an der Suche nach Wegen aus der Schul-
denfalle haben sie hingegen nur geringes Interesse. Für
die privaten Haus- und Wohnungsbesitzer kann dies den
Verlust ihres Eigentums bedeuten, ohne dass sie die
Chance haben, über alle vernünftigen und problemorien-
tierten Lösungen zu diskutieren.

Dass sich Banken in zunehmendem Maße der Verant-
wortung gegenüber ihren Kunden entziehen und an einer
Lösung mit den in Schwierigkeiten geratenen Kreditneh-
mern immer weniger Interesse haben, zeigt die Infobro-
schüre einer großen deutschen Bank mit dem Titel

„Notleidende Kredite“ – eine etablierte Assetklasse

vom 5. April dieses Jahres. Dort heißt es auf den
Seiten 7 und 8:

Während Banken im Allgemeinen und vorwiegend
regional tätige Institute im Besonderen Rücksicht
auf ihren Ruf nehmen und deshalb bei der Abwick-
lung von Krediten behutsamer vorgehen, können
Abwicklungsgesellschaften ihre bzw. die Interessen
ihrer Auftraggeber bei den Verhandlungen und – im
Falle des Scheiterns – bei der Zwangsvollstreckung
offener durchzusetzen versuchen.

Entkleidet man diese Sätze der bankenüblichen Vor-
nehmheit, weiß man, welches brutale Marktgeschehen
sich hinter ihnen verbirgt. Eine solche Entwicklung kann
von uns Sozialdemokraten nicht hingenommen werden.

Wird ein Immobilienkredit an einen Dritten verkauft,
sieht sich der Kreditnehmer mit einem neuen Gläubiger
konfrontiert, den er bei der Wahl seiner kreditgebenden
Bank gar nicht wollte. Er hat sich nämlich in der Regel
gezielt für ein bestimmtes Kreditinstitut entschieden und
vertraut darauf, dass dieses Institut sein Vertragspartner
bleibt. Er war unter Umständen sogar bereit, für eine
Vor-Ort-Betreuung einen höheren Darlehenszins zu ak-
zeptieren, als er bei einer ausschließlich im Internet täti-
gen Bank hätte akzeptieren müssen. Die meisten Kredit-
nehmer sind sich gar nicht bewusst, dass ihre Kredite
von ihrer Hausbank an Investoren veräußert werden kön-
nen. Sie werden von ihrem Kreditinstitut zweckmäßiger-
weise darüber gar nicht informiert; ich bitte, dies als Iro-
nie zu verstehen.

Ein weiteres Problem aus Verbrauchersicht ist für
mich die Wahrung von Datenschutz und Bankgeheimnis.
Es gibt zwar ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom Fe-
bruar dieses Jahres, in dem es heißt: Die Zession von
Kreditforderungen ist nicht deshalb unwirksam, weil sie
gegen das Bundesdatenschutzgesetz verstößt und das
Bankgeheimnis verletzt. Dies begründet allenfalls einen
Schadensersatzanspruch. Nur, das Schwert ist stumpf;
denn wo kein Schaden nachgewiesen werden kann, fällt
dieser Anspruch ins Bergfreie. Hier besteht meines Er-
achtens Regelungsbedarf. Ziel muss es sein, Verbrau-
cherinteressen, Unternehmerinteressen bei Kreditver-
käufen zu wahren. Hier ist die Politik gefragt.

Der Strauß der Möglichkeiten ist groß und muss sorg-
sam komponiert werden. Zum einen – da habe ich bei
meinem Vorredner schon ein großes Maß an Überein-
stimmung konstatieren können – sollen die Banken ver-
pflichtet werden, den Kreditnehmer vor jedweder Zes-
sion zu informieren, das heißt, die stille Zession soll
nicht mehr existieren. Ferner kann auch über ein Zes-
sionsverbot zu diskutieren sein: dass eine Abtretung zu-
mindest von Verbraucherkrediten an Nichtbanken – al-
lerdings unter Berücksichtigung der Vorschriften des
Handelsgesetzbuches – ausgeschlossen wird. Ich weiß
natürlich, dass § 354 a HGB insofern Schranken setzt;
das muss berücksichtigt werden.

Last, not least darf ich sagen, dass unsere Fraktion
über ein – möglicherweise befristetes – Sonderkündi-
gungsrecht nachdenkt, das, um den Verbraucher, den
Unternehmer nicht übermäßig zu belasten, mit Regelun-
gen bezüglich Vorfälligkeitsentschädigungen einherge-
hen muss bzw. einräumt, dass man bei der Wahl von Dis-
agiovarianten eine anteilige Rückzahlung des Disagios
vorziehen kann. Ob nun – um darauf zurückzukommen,
Herr Schick – im Bereich der privaten Immobilie Sanie-
rungsvorschläge zu machen sind und wie diese auszuse-
hen haben und ob man Beispiele aus der Insolvenzord-
nung heranzieht, das wird dem Verfahren zu überlassen
bleiben. Darüber müssen wir noch nachdenken und uns
abstimmen. Aber eines ist klar: Der Traum von den eige-
nen vier Wänden darf bei Kreditverkäufen nicht zum
Albtraum werden.

Seien Sie daher versichert: Wir als Koalition befassen
uns intensiv mit dem Problem des Kredithandels und
werden Standards setzen, wodurch wir Rechtssicherheit
für die forderungsveräußernden Banken, für die forde-
rungskaufenden Investoren und primär – obwohl ich es
als Drittes nenne – für die Verbraucherinnen und Ver-
braucher sowie mittelständischen Unternehmen schaffen
werden.

Ich freue mich schon auf die Vorschläge aus den be-
teiligten Häusern, dem Bundesjustizministerium und
dem Bundesministerium der Finanzen. Ich weiß, dass
die Thematik dort angekommen ist. Es wird fleißig und
intensiv darüber nachgedacht. Ich denke, aufgrund der
entsprechenden Qualität in beiden Häusern werden wir
hier zeitnah gemeinsam über Lösungsmöglichkeiten dis-
kutieren. Ich wünsche uns allen eine gute gemeinsame
Beratung im Interesse der betroffenen Kreise, sprich, der
Kreditnehmer und der betroffenen Unternehmer.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611823700

Das Wort hat nun Kollege Axel Troost, Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1611823800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-

reits vor über einem Jahr hieß es im Spiegel: Tausenden
Hausbesitzern droht auch in Deutschland der GAU. Tau-
sende Immobilienkredite sind von Banken an Finanz-
investoren weiterverkauft worden, und nun drohen bei
kleinsten Störungen die sofortige Zwangsvollstreckung
und horrende Zinssprünge. – Es ist völlig klar: Das
bringt natürlich kurzfristige Renditen für die Finanz-
investoren. Kollege Krüger hat darauf ja hingewiesen.

Insofern ist für uns, die Linke, völlig klar: Hier kön-
nen wir als Parlament nicht tatenlos zusehen. Wir müs-
sen die Verbraucherinnen und Verbraucher, aber eben
auch die Unternehmerinnen und Unternehmer wirksam
schützen. Dabei betone ich „wirksam schützen“. Ich
glaube, Bündnis 90/Die Grünen greift mit ihrem Ansatz
hier noch zu kurz. Aus meiner Sicht unterschätzen Sie
das Problem gleich doppelt.

Erstens unterschätzen Sie das Problem verbraucher-
politisch, weil Sie Ihre konkreten Forderungen aus-
schließlich auf mehr Transparenz und Information be-
schränken.

Nehmen wir Ihre erste Forderung. Sie wollen, dass
Kreditnehmer künftig vor Vertragsschluss ausdrücklich
darauf hingewiesen werden, dass der Kredit während der
Laufzeit verkauft oder nicht verkauft werden kann.
Glauben Sie denn im Ernst, dass die Verbraucherinnen
und Verbraucher so wirksam vor milliardenschweren
Finanzinvestoren geschützt werden können? Nein, ich
glaube, damit fallen wir insgesamt hinter das zurück,
was die Verbraucherzentralen und die kritischen Finanz-
juristinnen und -juristen in der Anhörung des Finanzaus-
schusses kürzlich gefordert haben. Ich glaube, wir fallen
damit sogar hinter das zurück, was die Bundesregierung
hinsichtlich des Risikobegrenzungsgesetzes insgesamt
möglicherweise prüft. Das ist hier in den Reden – auch
vom Kollegen Bernhardt – angedeutet worden.

Sie unterschätzen das Problem in Ihrem Antrag aus
unserer Sicht aber nicht nur verbraucherpolitisch, son-
dern zweitens auch finanzpolitisch. Sie ignorieren die
Bedeutung von Kreditverkäufen für die Finanzmarktsta-
bilität vollkommen. Auch das ist hier vom Kollegen
Bernhardt durchaus angesprochen worden.

Natürlich haben Sie den Antrag gestellt, bevor die
US-Hypothekenkrise nach Europa geschwappt ist. Wir
können heute aber nicht mehr so tun, als existierte die
Krise nicht. Heute wissen wir doch: Kreditverkäufe wa-
ren ein zentraler Mechanismus, über den sich die Krise
nach Europa ausgebreitet hat. Dadurch wurden die Poli-
tik und auch wir als Finanzausschuss – ich denke, das
kann man so sagen – sowie die Aufseher doch kalt er-
wischt. Ich glaube, mit diesen Ausmaßen haben wir alle
nicht gerechnet.

Allein in den USA beläuft sich der Bestand an ver-
brieften Krediten heute auf über 7 Billionen Dollar. Der
Handel mit Kreditverbriefungen und Kreditderivaten hat
zu einem riesigen, fast unüberschaubaren Spekulations-
markt geführt. Hier kann man aus unserer Sicht nicht
mehr nur mehr Transparenz fordern. Nein, stattdessen
gehört die Finanzpolitik der letzten Jahre grundlegend
auf den Prüfstand.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Da müssen Sie die Tobin-Steuer beachten!)


Kein Zweifel: Wir brauchen wirkungsvolle Maß-
nahme zum Thema Kreditverkauf. Die Linke wird dazu
Vorschläge vorlegen, nachdem die Diskussionen mit den
Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützern so-
wie den kritischen Finanzjuristinnen und Finanzjuristen
ausgewertet worden sind. Wir wollen diese Vorschläge
so rechtzeitig einbringen, dass sie in die Diskussionen
über das Risikobegrenzungsgesetz einfließen. Denn das
Thema der Kreditverkäufe ist auch aus unserer Sicht so
wichtig, dass man in der Tat nicht mit einem parlamenta-
rischen Schnellschuss reagieren darf.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611823900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5595 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Marcus
Weinberg, Ilse Aigner, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Nicolette Kressl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Bildungsberichterstattung fortführen und
weiterentwickeln

– zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Bildungsberichterstattung in Deutschland
und deren Weiterentwicklung

– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz

(Herborn), Kai Gehring, Krista Sager, weiterer

Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Bildungsforschung und Bildungsbericht-
erstattung stärken

– Drucksachen 16/5415, 16/5409, 16/5412, 16/6614 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Patrick Meinhardt
Cornelia Hirsch
Priska Hinz (Herborn)







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Ernst
Dieter Rossmann, Cornelia Pieper, Cornelia Hirsch,
Priska Hinz und des Parlamentarischen Staatssekretärs
Andreas Storm sind zu Protokoll gegeben worden.1)

Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung auf Drucksache 16/6614. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/6614 die Annahme des Antrags der Frak-
tion der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/5415
mit dem Titel „Bildungsberichterstattung fortführen und
weiterentwickeln“ Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen! – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD bei Stimmenthaltung der FDP gegen die
Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/5409 mit dem Titel „Bil-
dungsberichterstattung in Deutschland und deren Wei-
terentwicklung“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5412
mit dem Titel „Bildungsforschung und Bildungsbericht-
erstattung stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei
Stimmenthaltung der Linksfraktion angenommen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Abgelehnt! – Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Wir haben dagegen gestimmt!)


– Zuletzt hat die Linksfraktion auch abgelehnt, in Ord-
nung. Davor allerdings – da muss ich mich korrigieren –
haben Sie auch zugestimmt.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Da haben wir zugestimmt!)


– Jawohl.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph
Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP

Klare Konzepte für den Bau des Berliner
Schlosses

– Drucksachen 16/5961, 16/6595 –

1) Anlage 3
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)

Dr. Lukrezia Jochimsen
Katrin Göring-Eckardt

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als einziger Redner, da
alle anderen ihre Reden zu Protokoll gegeben haben,
spricht Kollege Otto für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Zu diesem Zeitpunkt eine völlig unnötige Debatte! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Muss das sein?)



Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1611824000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

zentralste Bauplatz dieser Republik sollte uns doch auch
um 20 Uhr noch fünf Minuten Plenarzeit wert sein.


(Beifall bei der FDP – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Aber auf einer anderen Grundlage!)


Es ist zwar schon spät am Tage, aber hoffentlich noch
nicht zu spät, um den Ausschreibungstext des Architek-
tenwettbewerbs für das Berliner Schloss, der in diesen
Tagen abgeschlossen wird, zu beeinflussen. Wir halten
es für wichtig und notwendig, dass der Deutsche Bun-
destag gerade in dieser entscheidenden Phase noch ein-
mal öffentlich über den Bau des Berliner Schlosses de-
battiert.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Er wird beteiligt über seine Ausschüsse!)


Was wir derzeit über den Entwurf des Ausschreibungs-
textes lesen und hören, erfüllt uns mit großer Sorge.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das hat Herr Tiefensee anders gesehen!)


Uns liegt der Ausschreibungstext zwar nicht im Original
vor, aber bereits ein kleiner Auszug, der kürzlich in ei-
nem Bericht des Bundesbauministeriums veröffentlicht
worden ist, zeigt deutlich, wohin die Reise geht.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Da müssen alle Unterlagen auf den Tisch! Dann lohnt sich die Debatte erst!)


Ich zitiere aus dem Entwurf des Bundesbauministe-
riums: Die Einbeziehung eines Raumes in der Größe des
Volkskammersaales sowie die Teilrekonstruktion seiner
Ausstattung ist möglich. – Das ist also möglich. An an-
derer Stelle heißt es dagegen: Eine Rekonstruktion von
Innenräumen nach historischem Vorbild, bis auf die
Kunstkammern, ist nicht vorgesehen.

Weder das eine noch das andere ist im Beschluss des
Bundestages enthalten. Es ist eine absolut freie Interpre-
tation der Verfasser der Auslobung und vollkommen
willkürlich. Warum steht in dem Auslobungstext nicht






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Joachim Otto (Frankfurt)

das Gegenteil? Zum Beispiel: Eine Rekonstruktion von
Innenräumen nach historischem Vorbild ist möglich.
Eine Rekonstruktion des Volkskammersaales ist nicht
vorgesehen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Alles ungelegte Eier!)


Diese Aussagen werden genauso wenig vom Bundes-
tagsbeschluss gedeckt wie die jetzt darin enthaltene For-
mulierung. Das macht die Tendenz und den Unterton
dieser Ausschreibung deutlich. Ich bin sicher, dass diese
Tendenz nicht dem Willen der Mehrheit des Bundestages
entspricht. Ich bin der Überzeugung, dass wir Parlamen-
tarier aller Fraktionen des Bundestags eine solche Umin-
terpretation nicht zulassen dürfen.

Ich sehe an dieser Stelle durchaus eine Verantwortung
der Bundeskanzlerin, nachzufragen, mit welcher Ten-
denz die Jury zusammengesetzt wird. Wenn sie den Vor-
schlägen entsprechend überwiegend mit Personen be-
setzt wird, die kaum über internationale Erfahrung und
Reputation verfügen, dafür aber bekannte Schlossgegner
sind, dann braucht man wenig Fantasie, um sich das
Wettbewerbsergebnis vorzustellen.

Wer glaubt, mit den Bundestagsbeschlüssen von 2002
und 2003 zur Wiedererrichtung der barocken Fassade –


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Die bleibt auch!)


– Wolfgang, bleib doch mal ruhig! Du bist ja heute rich-
tig nervös – sei das Bauvorhaben nun in trockenen Tü-
chern, der ignoriert, dass der Auslobungstext und die Zu-
sammensetzung der Jury von mindestens ebenso großen
Auswirkungen auf die spätere Gestalt des Gebäudes ist
wie der Beschluss selbst.

Wir fordern die Bundesregierung auf, sicherzustellen,
dass ein Beschluss, den der Bundestag nach langer und
reiflicher Überlegung wohlbedacht und von einer großen
fraktionsübergreifenden Mehrheit getragen gefasst hat,
nicht von einzelnen Ministerialbeamten konterkariert
wird.

Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zur Finanzie-
rung der Schlossfassade. Ich halte es für ein enormes
und beachtenswertes Angebot des Fördervereins Berli-
ner Schloss, 80 Millionen Euro für die Finanzierung der
Schlossfassade zu sammeln. Es steht in der besten Tradi-
tion zivilgesellschaftlichen Engagements und hat in der
Finanzierung der Dresdner Frauenkirche ein leuchtendes
Vorbild. Es ist übrigens auch ein Beleg dafür, dass die
Versprechungen des Fördervereins durchaus realisierbar
sind.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ich finde es in diesem Zusammenhang ungeheuerlich,
dass sich manche Personen – auch in den Ministerien –
die Argumentation der Linkspartei, die bekanntermaßen
den Schlossbau torpedieren will, zu eigen macht und die
Seriosität des Fördervereins in Zweifel zieht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das geht nicht!)

Wenn die Bundesregierung die private Initiative tatsäch-
lich desavouieren möchte, dann wird ihr das zwar gelin-
gen; ich erwarte aber von der Bundesregierung und dem
Deutschen Bundestag genau das Gegenteil, nämlich dass
sie dieses großartige zivilgesellschaftliche Engagement
anerkennt und nach Kräften fördert und ermutigt.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist ja geschehen!)


Die Tatsache, dass der Förderverein bisher bereits
knapp 14 Millionen Euro an Spenden bzw. Zusagen ge-
sammelt hat, ohne dass bisher das Geld des Bundes be-
willigt ist und die konkreten Bauplanungen begonnen
haben, sehe ich als ein durchaus beruhigendes Zeichen
dafür, dass die 80 Millionen Euro zu erbringen sein wer-
den. Schließlich sprudelten auch bei der Frauenkirche
die Spenden erst, als die ersten Steine aufeinandergesetzt
wurden.


(Beifall bei der FDP – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Das hat das ZDF erreicht!)


– Das mag sein. Das ZDF macht manchmal auch etwas
Gutes.

Vor diesem Hintergrund halte ich es für dringend er-
forderlich, dass der Förderverein, der ungefähr ein
Sechstel der Bausumme beisteuern wird, endlich in alle
wichtigen Entscheidungsprozesse einbezogen wird.

Wir, der Deutsche Bundestag, haben noch wenige
Tage – vielleicht auch wenige Wochen – Gelegenheit,
die Ausschreibung und den Bau des Schlosses so zu be-
einflussen, dass er ein großer Erfolg wird. Wir dürfen
diese Chance nicht verstreichen lassen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1611824100

Die Kollegen Renate Blank, Wolfgang Thierse, Petra

Weis, Gesine Lötzsch und Peter Hettlich haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben.1)


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der
FDP-Fraktion mit dem Titel „Klare Konzepte für den
Bau des Berliner Schlosses“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6595,
den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5961
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, SPD und Linksfraktion gegen die Stimmen der
FDP bei Enthaltung der Grünen angenommen.

1) Anlage 4






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b so-
wie Zusatzpunkt 8 auf:

17 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde-
rung der betrieblichen Altersversorgung

– Drucksache 16/6539 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Christian Ahrendt, Daniel
Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP

Abgabenfreie Entgeltumwandlung über 2008
hinaus fortführen und ausbauen

– Drucksache 16/6433 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Birgitt Bender, Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Beitragsfreie Entgeltumwandlung – Erst prü-
fen, dann entscheiden

– Drucksache 16/6606 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Peter Weiß, Gabriele Hiller-Ohm, Heinrich Kolb,
Volker Schneider, Irmingard Schewe-Gerigk und der
Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/6539, 16/6433 und 16/6606 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra

1) Anlage 5
Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Bleiberecht als Menschenrecht

– Drucksachen 16/3912, 16/4827 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler

Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Reinhard Grindel, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff,
Ulla Jelpke und Josef Philip Winkler.2)

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Bleiberecht als Men-
schenrecht“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/4827, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3912 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder-
nisierung des Rechts der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung (LSVMG)


– Drucksache 16/6520 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Beratung der Unterrichtung durch den Präsiden-
ten des Bundesrechnungshofes

Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsord-
nung über die Umsetzung und Weiterentwick-
lung der Organisationsreform in der landwirt-
schaftlichen Sozialversicherung

– Drucksache 16/6147 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss

Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Marlene Mortler, Waltraud Wolff, Edmund Peter
Geisen, Kirsten Tackmann, Cornelia Behm, Gitta
Connemann und der Parlamentarische Staatssekretär
Gerd Andres.3)

2) Anlage 6
3) Anlage 7






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/6520 und 16/6147 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 18:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Kooperation und Koordination im Europäi-
schen Forschungsraum verbessern

– Drucksache 16/6454 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Carsten Müller, René Röspel, Cornelia Pieper,
Petra Sitte und Krista Sager.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6454 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Tagesordnungspunkt 21:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes
zur Änderung des Versicherungsaufsichts-
gesetzes

– Drucksache 16/6518 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Die Kollegen Klaus-Peter Flosbach, Lothar Binding,
Frank Schäffler, Barbara Höll und Gerhard Schick haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/6518 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b sowie Zusatz-
punkt 9:

20 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke
Hoff, Dr. Werner Hoyer, Dr. Karl Addicks, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Deutschland muss rüstungskontrollpolitische
Glaubwürdigkeit beweisen – Angepassten

1) Anlage 8
2) Anlage 9
KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestag zur
Abstimmung vorlegen

– Drucksache 16/6431 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Alexander Bonde, Jürgen Trittin, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Angepassten Vertrag über Konventionelle
Streitkräfte in Europa ratifizieren

– Drucksache 16/6605 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl-
Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von
Klaeden, Anke Eymer (Lübeck), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, Gert
Weisskirchen (Wiesloch), Niels Annen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Die Krise des KSE-Vertrages durch neue
Impulse für konventionelle Abrüstung und
Rüstungskontrolle in Europa beenden

– Drucksache 16/6603 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kollegen
Freiherr zu Guttenberg, Rolf Mützenich, Elke Hoff, Paul
Schäfer und Winfried Nachtwei.3)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/6431, 16/6605 und 16/6603 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 23:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und
anderer Gesetze

– Drucksache 16/6540 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

3) Anlage 10






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

Die Kollegen Michael Hennrich, Anton Schaaf, Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der

Heinz-Peter Haustein, Katja Kipping, Markus Kurth und
der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/6540 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den
Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 22:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike Höfken,
Bärbel Höhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Dem Verlust an Agrobiodiversität entgegen-
wirken

– Drucksachen 16/5413, 16/5752 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Dr. Gerhard Botz
Dr. Christel Happach-Kasan
Cornelia Behm
Dr. Kirsten Tackmann

Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Johannes Röring, Gerhard Botz, Gabriele
Groneberg, Edmund Peter Geisen, Kirsten Tackmann
und Cornelia Behm.2)

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Dem Verlust an Agrobiodiversi-
tät entgegenwirken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5752, den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/5413 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 25:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Annette Faße, Brunhilde Irber, Renate

1) Anlage 11
2) Anlage 12
Fraktion der SPD

Messen und Geschäftsreisen als Chance für
den Tourismusstandort Deutschland
– Drucksache 16/5958 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Klaus
Brähmig, Anita Schäfer, Brunhilde Irber, Ernst
Burgbacher, Ilja Seifert und Bettina Herlitzius.3)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5958 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 24:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth),
Michael Kauch, Jan Mücke, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP

Oldtimer von Feinstaub-Fahrverboten aus-
nehmen
– Drucksachen 16/4060, 16/6327 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Rita Schwarzelühr-Sutter

Zu Protokoll gegeben wurden die Reden von den Kol-
legen Andreas Scheuer, Rita Schwarzelühr-Sutter,
Patrick Döring, Lutz Heilmann und Winfried Hermann.4)

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
FDP-Antrag mit dem Titel „Oldtimer von Feinstaub-
Fahrverboten ausnehmen“. Der Ausschuss empfiehlt un-
ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/6327, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/4060 abzulehnen.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ungeheuerlich!)


Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
FDP-Fraktion angenommen.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ihr habt keinen Sinn für Oldtimer! – Gegenruf des Abg. Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Wir können uns keine leisten!)


3) Anlage 13
4) Anlage 14






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/6327 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie
zuvor angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-
gelung des Wohngeldrechts und zur Änderung
anderer wohnungsrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/6543 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kollegen
Gero Storjohann, Sören Bartol, Joachim Günther,

Heidrun Bluhm, Markus Kurth und die Parlamentarische
Staatssekretärin Karin Roth.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/6543 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 12. Oktober 2007,
9 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen einen freundlichen Abend.

Die Sitzung ist geschlossen.