1) Anlage 15
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12277
(A) (C)
(B) (D)
rungspraxis auswirkt, wird zurzeit geprüft. Die Bundes-
regierung nimmt keine Fangschaltungen vor (vergleiche
Angelica
der Abrechnung kostenpflichtiger Internetangebote und/
oder für statistische Zwecke protokolliert. In welcher
Weise sich das Urteil des LG Berlin vom
6. September 2007 (Az. 23 S 3/07) auf diese Speiche-
Schauerte, Hartmut CDU/CSU 11.10.2007
Schily, Otto SPD 11.10.2007
Dr. Schwall-Düren, SPD 11.10.2007
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Beck (Bremen),
Marieluise
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
11.10.2007
Bellmann, Veronika CDU/CSU 11.10.2007
von Bismarck, Carl
Eduard
CDU/CSU 11.10.2007
Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
11.10.2007
Dr. Faust, Hans Georg CDU/CSU 11.10.2007
Dr. Happach-Kasan,
Christel
FDP 11.10.2007
Kasparick, Ulrich SPD 11.10.2007
Kramme, Anette SPD 11.10.2007
Lämmel, Andreas G. CDU/CSU 11.10.2007
Lafontaine, Oskar DIE LINKE 11.10.2007
Dr. Lippold, Klaus W. CDU/CSU 11.10.2007
Merten, Ulrike SPD 11.10.2007
Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 11.10.2007
Müller (Düsseldorf),
Michael
SPD 11.10.2007
Nitzsche, Henry fraktionslos 11.10.2007
Dr. Paech, Norman DIE LINKE 11.10.2007
Pflug, Johannes SPD 11.10.2007*
Riester, Walter SPD 11.10.2007
Roth (Esslingen), Karin SPD 11.10.2007
Rupprecht
(Tuchenbach),
Marlene
SPD 11.10.2007
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
* für die Teilnahme an der 117. Jahreskonferenz der Interparlamenta-
rischen Union
Anlage 2
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Peter Altmaier auf die Frage des
Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (117. Sitzung, Drucksache 16/6571,
Frage 11):
Welche Bundesministerien nebst nachgeordnetem Bereich
speichern von Besuchern ihrer Internetseiten deren IP-Adres-
sen, abgefragte Dateien oder Zugriffszeiten über die Dauer
des jeweiligen Besuchs hinaus, wie etwa das Bundeskriminal-
amt es bei 417 Interessenten für die „militante gruppe“ allein
binnen drei Wochen im März/April 2007 tat, und wird die
Bundesregierung derartige Fangschaltungen sowie etwaige si-
cherheitsbehördliche Nachermittlungen über die Besucher
– wie im genannten Fall des Bundeskriminalamts – nun kurz-
fristig und vollständig unterbinden, nachdem das Landgericht
Berlin mit Berufungsurteil vom 6. September 2007 (Az. 23
S 3/07) dem Bundesministerium der Justiz derlei rechtskräftig
verboten hat?
Die überwiegende Zahl der Ressorts und, soweit dies
in der Kürze der Zeit ermittelt werden konnte, deren
nachgeordnete Behörden speichern die IP-Adressen der
Besucher ihrer Internetseiten bzw. lassen diese durch be-
auftragte Unternehmen speichern. Dies geschieht grund-
sätzlich nur temporär und ausschließlich aus IT-sicher-
heitstechnischen und/oder statistischen Gründen. BMBF,
BMAS, der Bundesrechnungshof und das BKA nehmen
keine generelle Speicherung der IP-Adressen vor. Bei
dem Bundesministerium der Justiz werden weder die IP-
Adressen noch andere personenbezogene Daten der Per-
sonen protokolliert, die die Internetseite des Bundesmi-
nisteriums der Justiz aufrufen. Im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Justiz werden IP-Adressen bei
dem Bundesgerichtshof, dem Bundesfinanzhof, dem
Bundesverwaltungsgericht, dem Bundespatentgericht
und dem Deutschen Patent- und Markenamt für Zwecke
Strothmann, Lena CDU/CSU 11.10.2007
Toncar, Florian FDP 11.10.2007
Wanderwitz, Marko CDU/CSU 11.10.2007
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
12278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Antwortteil 1). Eine abschließende Bewertung des Ur-
teils und den daraus zu ziehenden Konsequenzen hat in
der Mehrzahl der Ressorts noch nicht stattgefunden.
BMBF und BMJ haben die Erhebung von IP-Adressen
infolge des Urteils gestoppt.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Bildungsberichterstattung fortführen und
weiterentwickeln
– Bildungsberichterstattung in Deutschland
und deren Weiterentwicklung
– Bildungsforschung und Bildungsbericht-
erstattung stärken
(Tagesordnungspunkt 15)
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Der erste natio-
nale Bildungsbericht und die Maßstäbe und Erwartungen
der Fraktionen an die Fortsetzung dieses neuen Instru-
ments der Bildungspolitik sind offensichtlich ein Gegen-
stand der „indirekten Rede“. So war es bereits bei der
ersten sogenannten Aussprache hierzu am 24. Mai 2007,
übrigens fast ein Jahr nach Vorlage dieses ersten nationa-
len Bildungsberichtes im Juni 2006. Das parlamentari-
sche Instrument, Reden zu Protokoll geben zu können,
sorgt aber immerhin dafür, dass man, bei allen Nuancen,
wechselseitig davon lesen konnte, dass diese Initiative
der damaligen SPD-geführten Bundesregierung und ih-
rer Bildungsministerin Edelgard Bulmahn in allen Frak-
tionen des Parlaments breit akzeptiert ist und für die Zu-
kunft weiter fruchtbar gemacht werden soll. Diese
„indirekte Rede“ über den ersten nationalen Bildungsbe-
richt setzen wir jetzt mit der abschließenden Beratung
der vorgelegten Anträge zur Bildungsberichterstattung
in der gleichen Weise fort: Wir geben zu Protokoll.
Auf nochmalige Auseinandersetzung mit den vorge-
legten Anträgen möchte ich hier deshalb verzichten.
Dieses kann nachgelesen werden in der zu Protokoll ge-
gebenen Debatte vom 24. Mai 2007. Wir haben uns
hierzu im Übrigen auch in der Ausschusssitzung ausge-
tauscht. Mit ihrem Antrag, „Bildungsberichterstattung
fortführen und weiterentwickeln“ legen die Koalitions-
fraktionen ein Konzept vor, das die mit dem ersten natio-
nalen Bildungsbericht gemachten Erfahrungen positiv
aufgreift und den Regierungen des Bundes und der Län-
der zusätzliche Forderungen mit auf den Weg gibt, die in
der Fortführung dieser Arbeit Berücksichtigung finden
müssen.
Zur abschließenden Beratung unserer Anträge über
die Bildungsberichterstattung möchte ich darüber hinaus
die folgenden Punkte zu Protokoll geben: Erstens. Es
war schon ein Dilemma, dass der gemeinsam von Bund
und Ländern herausgegebene nationale Bildungsbericht
erst ein Jahr nach seiner öffentlichen Vorstellung Gegen-
stand der Parlamentsdebatte im Deutschen Bundestag
gewesen ist und dass es nach meinem Wissen bisher gar
keine Debatte in Länderparlamenten gegeben hat. Dieses
muss mit dem 2008 vorzulegenden zweiten Bildungsbe-
richt grundlegend verändert werden. Wir erwarten, dass
sich die Bundesbildungsministerin mit diesem Bericht
der Diskussion im Parlament stellt, dass dieser nationale
Bildungsbericht eine seiner Bedeutung entsprechende
Position im Parlamentsbetrieb bekommt und über die
Einbringung und die Debatte in der Sache auf einen in
das Land hineinreichenden Impuls für eine kritische und
weiterführende Bestandsaufnahme gesetzt wird. Als
dringende Bitte an die Bundesbildungsministerin gilt,
ein solches Verfahren bereits mit der Erstellung des
zweiten Bildungsberichtes zu vereinbaren und die Bil-
dungsminister der Länder wie die Bundesregierung ins-
gesamt hierauf einzuschwören. Nationale Bildungsbe-
richte, die zu nachtschlafender Zeit im Parlament unter
„ferner liefen“ abgehandelt werden, entwerten sich
selbst, schädigen den gerade angestrebten notwendigen
Impuls und verschenken im Übrigen die große Chance,
die von allen eingeforderte nationale Bildungsoffensive
tatsächlich voranzubringen. Wo kommen wir eigentlich
hin, wenn die Nachricht von einem angestrebten Bil-
dungsgipfel mehr Aufmerksamkeit findet als die fun-
dierte wissenschaftliche Ausarbeitung und die Empfeh-
lungen einer unabhängigen Expertenkommission, die
dann noch einmal von den Ländern wie dem Bund auf
einen Konsens in der Sache gebracht worden sind? Und
das erstmals für alle Bereiche des Lernens im Sinne der
neuen Philosophie des lebenslangen Lernens!
Zweitens. Bildungsberichterstattung und Bildungsfor-
schung gehören in der Sache zusammen. Als Sozialde-
mokraten begrüßen wir es, dass die nationale Bildungs-
forschung ausgebaut werden soll. Trotz der gestiegenen
Anforderungen in der Forschung an Bildungszusammen-
hängen bestehen weiterhin deutliche Lücken. Die nach
der Föderalismusreform noch bestehenden Möglichkei-
ten des Bundes in diesem Bereich sollten dazu genutzt
werden, diese Lücken zu schließen. Die wissenschaftli-
che Beobachtung im Bereich der frühkindlichen Bildung
muss sich auch im Bildungsforschungsprogramm der
Bundesregierung niederschlagen. Wir stehen hier voll zu
den Vorschlägen, die die Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft in Bezug auf ein Gesamtkonzept zur Erfor-
schung der frühkindlichen Bildung erst kürzlich gemacht
hat. Zudem wird sich die SPD-Bundestagsfraktion dafür
einsetzen, die wissenschaftliche Begleitforschung zum
Ganztagsschulprogramm im Rahmen der Bildungsfor-
schung fortzusetzen, über das Ende des Investitionspro-
gramms im Jahr 2009 hinaus. Unseres Erachtens hat sich
hier eine Form von Handlungsforschung aufgebaut, die
wir – im engen Zusammenwirken von wissenschaftli-
cher Analyse und handlungsorientierter Beratung – für
das, was wir auch in anderen Bereichen der Erneuerung
unseres Bildungssystems leisten müssen, dringend brau-
chen. Einen Beitrag zur Handlungsorientierung verspre-
chen wir uns auch von dem Großprojekt des Bildungs-
panels. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine solche
Langzeitstudie nicht kurzfristig Erkenntnisse bringen
kann. Mittelfristig sollte sie dies aber schon; denn gerade
Verbesserungen an den Schnittstellen im Prozess des le-
benslangen Lernens dulden keinen Aufschub. Unsere
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12279
(A) (C)
(B) (D)
Bemühungen gehen deshalb dahin, nicht nur ein grund-
ständiges Bildungspanel, sondern zum Prozess des
lebenslangen Lernens auch Sonderpanels zu den konkre-
ten Umbruchphasen respektive Schnittstellen aufzule-
gen.
Drittens. Auch wenn wir im Parlament nicht in die
sachliche Aussprache zu den Ergebnissen des ersten vor-
gelegten Bildungsberichtes eingestiegen sind, sollen hier
dennoch ein paar grundsätzliche Erkenntnisse angespro-
chen werden. Für uns Sozialdemokraten ist von beson-
derem Interesse, dass Grundbildung für alle im Sinne
von Mindestbildung und Chancengleichheit stärker in
den Blick genommen wird. Wir haben in Deutschland
noch einen zu hohen Grad von funktionalem Analphabe-
tismus. Ein Anteil von über 10 Prozent der jungen Men-
schen ohne Schulabschluss ist für ein hochentwickeltes
Land nicht hinnehmbar. Die Zahl der jungen Menschen,
die ohne Berufsabschluss bleibt, ist erschreckend hoch.
40 Prozent an sogenannten Studienabbrechern werfen
die Frage nach der Leistungsfähigkeit unseres Hoch-
schulsystems bei der Vermittlung von wissenschaftlicher
Berufsqualifikation auf. Eine rückläufige Weiterbil-
dungsbeteiligung im Widerspruch zu den Tendenzen in
den erfolgreichen Bildungsnationen Europas wird schon
mittelfristig massive Auswirkungen auf die Leistungsfä-
higkeit der Wirtschaft und die Innovationsfähigkeit un-
serer Gesellschaft insgesamt haben. Auf diese Fragen
müssen sich Bildungsforschung, Bildungsberichterstat-
tung und vor allem Bildungsreform unseres Erachtens
konzentrieren.
Wir wollen gerne anerkennen, dass es durchaus hoff-
nungsvolle Entwicklungen gibt. Die Anerkennung des
Rechtsanspruchs jedes Kindes auf frühkindliche Bildung
ist von Renate Schmidt als Bundesfamilienministerin in
der rot-grünen Regierungszeit eingeleitet worden. Wir
können uns nur darüber freuen, dass die Nachfolge-
ministerin aus dem konservativen Bereich diese Ideen
aufgenommen hat und wir auch hier einen Konsens ge-
funden haben. Was vor einiger Zeit noch unvorstellbar
war, verdichtet sich auch im schulischen Bereich zu ei-
ner raumgreifenden Bildungsreform: Nicht mehr die
frühe Trennung in der weltweit fast einmaligen Mehr-
gliedrigkeit unseres Schulsystems, sondern das längere
gemeinsame Lernen werden zu Bildungsphilosophie und
Praxis in Deutschland. Nicht zuletzt das Ganztagsschul-
programm des Bundes, das von Gerhard Schröder und
Edelgard Bulmahn gegen härteste Widerstände der kon-
servativen Seite eingeführt worden ist, ist mittlerweile
breiter Konsens. Wenn selbst Hessens Extremföderalist
Koch sich, wie kürzlich auf dem Ganztagsschulkongress
des Bundes geschehen, zum Fürsprecher des Programms
zum Aufbau von Ganztagsschulen macht, ist schon vie-
les erreicht. Und mit dem ersten Integrationsgipfel, der
ein breites Handlungsprogramm speziell zur Förderung
von zugewanderten Kindern und Jugendlichen gebracht
hat, haben sich alle politischen und gesellschaftlichen
Kräfte vieles vorgenommen, was unter der Lebenslüge,
Deutschland sei kein Einwanderungsland, von konserva-
tiver Seite viel zu lange zugedeckt wurde. Auch hier sind
also offensichtlich Reformen im besten Sinne, nämlich
für mehr Chancengleichheit und Bildung für alle auf
dem Weg. Wir sind zuversichtlich, dass die nächsten
Ausgaben des nationalen Bildungsberichtes hierzu die
entsprechenden kritischen, aber wegweisenden weiteren
Zwischenschritte und Perspektiven dokumentieren kön-
nen.
Viertens. Als Sozialdemokraten treten wir sehr enga-
giert dafür ein, mit Blick auf den nationalen Bildungs-
bericht die internationale Perspektive nicht auszublen-
den. So wichtig es ist, eine umfassende, breit anerkannte
nationale Bestandsaufnahme zu machen, so wenig kön-
nen wir darauf verzichten, in den internationalen Ver-
gleich in Bezug auf die Leistungsfähigkeit unseres
Bildungssystems im Sinne des lebenslangen Lernens
einzutreten. Wir müssen nun einmal anerkennen, dass
die entscheidende Bewegung auch in der deutschen Bil-
dungsdebatte nicht durch den Vergleich der Bundeslän-
der, sondern durch den PISA-Vergleich der Kompe-
tenzentwicklung im Rahmen der OECD und speziell im
europäischen Vergleich entstanden ist. An dieser Stelle
treten wir als Sozialdemokraten sehr engagiert dafür ein,
nicht vor weiteren Vergleichen mit neuen Aufgabenfel-
dern zurückzuschrecken. Das gilt unseres Erachtens für
den Vergleich von Lehrerausbildung wie Lehrerqualifi-
kation und es gilt auch für das sogenannte Hochschul-
PISA. Der internationale Vergleich heißt gerade nicht,
von besonderen nationalen Bedingungen und Kulturen
abzusehen, aber sich diesen kritisch zu stellen und im
Vergleich Ansprüche, Konzepte und Handlungsmöglich-
keiten zu überprüfen. Auch deshalb haben wir von der
SPD-Seite nicht verstanden, mit welcher Mischung aus
Bigotterie und Hartnäckigkeit zum Beispiel konservative
Kräfte die Hinweise des UN-Bildungsberichterstatters
Muñoz abgewehrt haben. Es hätte uns doch in der Sache
und vom Prinzip her gut angestanden, sich offen, selbst-
kritisch, aber auch selbstbewusst mit einer solchen Sicht
von außen auseinanderzusetzen. Um es noch einmal
deutlich zu sagen: Nationale Bildungsberichterstattung
darf gerade den Blick nicht nur auf sich selbst richten,
sondern muss die gesamte Bestandsaufnahme der Ent-
wicklung in Deutschland so vornehmen, dass Stärken
und Schwächen im internationalen Vergleich, positive
und negative Entwicklungen, zukünftige Problemlagen
und Vorbilder zu deren Bewältigung im nationalen Rah-
men aus dem internationalen Kontext heraus besser ver-
standen, zielgerechter entwickelt und erfolgreicher um-
gesetzt werden können.
Wir sind zuversichtlich, dass die von Edelgard
Bulmahn und den damaligen Regierungskräften aus SPD
und Grünen angestoßene Entwicklung, hierzu auch
durch eine nationale Bildungsberichterstattung beizutra-
gen, nicht mehr angehalten werden kann, sondern im
Konsens wie im konstruktiven Streit in Deutschland für
die Zukunft zu fruchtbaren Ergebnissen führen wird.
Cornelia Pieper (FDP): Mit dem nationalen Bil-
dungsbericht „Bildung in Deutschland“ erfolgte im Jahr
2006 erstmalig eine eingehende Darstellung des Bil-
dungssystems Deutschlands. Diesem echten Meilen-
stein auf dem Weg zu mehr Transparenz gingen jedoch
mühsame und langwierige Verhandlungen voraus.
12280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Mit dem Antrag „Vorlage eines nationalen Bildungs-
berichts“ (Drucksache 14/7078) forderte die FDP-Frak-
tion schon im Jahr 2001 die damalige rot-grüne Bundes-
regierung dazu auf, das deutsche Bildungswesen unter
die Lupe zu nehmen. Dem liberalen Antrag folgten ähn-
lich lautende Initiativen der CDU und der Koalition von
SPD und Grünen.
Offensichtlich wurde, nachdem jahrelang die Augen
vor der bittereren Realität verschlossen wurden, die drin-
gende Notwendigkeit einer umfassenden empirischen
Bestandsaufnahme von allen Seiten erkannt und dies
auch per Antrag dokumentiert.
Tatsächlich ist der Bericht „Bildung in Deutschland“
den hohen Erwartungen gerecht geworden. Er informiert
über die Wirklichkeit in deutschen Kindertagesstätten,
Klassenzimmern und Hörsälen. Mit dem ihm zugrunde
liegenden problemorientierten Ansatz und der Möglich-
keit, verlaufsbezogene Fragestellungen zu erörtern, ist
der Bildungsbericht ein wertvolles Instrument zur Quali-
tätsverbesserung von Bildung.
Vor allem in einem föderalen Bildungsraum, wie wir
ihn in Deutschland haben, bedarf es einer kontinuierli-
chen Beleuchtung der Prozesse und Entwicklungen – be-
sonders auf Ebene der Länder. Wir können und dürfen es
nicht zulassen, dass das Licht, welches seitens der ver-
gleichenden Bildungsstudien (hier wäre beispielsweise
PISA-E zu nennen) die haarsträubenden Differenzen und
das Bildungsgefälle zwischen Nord und Süd, Ost und
West beleuchtet, einfach wieder ausgeknipst wird. Insbe-
sondere der Bildungsföderalismus nötigt uns dazu, Ver-
gleiche zur Orientierung und Beförderung des Wettbe-
werbs anzustrengen. Ohne die öffentlichkeitswirksame
Dokumentation der länderspezifischen Leistungsniveaus
würde das deutsche Bildungswesen wieder im Dunkel
der Vor-PISA-Ära versinken. Wer Wettbewerb zwischen
den Bildungseinrichtungen will, muss auch für Transpa-
renz der Leistungsergebnisse sorgen. Vor allem sollte die
KMK ihrem neuen Auftrag nach der Föderalismusre-
form als gesamtstaatlicher Koordinator von Bildung ge-
recht werden und für bundesweit vergleichbare Schulab-
schlüsse und eine bundeseinheitliche Lehrerausbildung
sorgen. Der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR)
wird genau das von uns abverlangen.
Betrachtet man die Anträge der Koalition und von
Bündnis 90/DIE GRÜNEN, so kommt man zu dem
Schluss, dass die Bedeutung der Bildungsforschung und
Bildungsberichterstattung erkannt worden ist.
Dem Antrag der Koalition und den darin enthaltenen
Aussagen und Forderungen könnte man sich in wesentli-
chen Teilen anschließen. Insbesondere die Betonung der
Notwendigkeit einer politischen Unabhängigkeit bei der
Bildungsberichterstattung erscheint mir sehr wichtig.
Wenn wir tatsächlich mit dem Bildungsbericht ein In-
strument der bildungspolitischen Steuerung, auch als
Orientierungsrahmen für die Länder, entwickeln, dann
dürfen hier ideologiegestützte und unfundierte Forderun-
gen keinen Raum finden. Andernfalls wäre der Bericht
nicht das Papier wert, auf dem er gedruckt ist. Leider
thematisiert der Antrag von CDU/CSU und SPD die Er-
gebnisse der Anhörung des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technologiefolgenabschätzung nicht.
Dadurch wird die Chance vertan, wichtige Hinweise der
Sachverständigen für die künftige Ausgestaltung des Be-
richts aufzunehmen. Das ist unser hauptsächlicher Kri-
tikpunkt.
Der Antrag der Grünen geht auf die Auswirkung und
Bedeutung des Ausbaus der Bildungsforschung und die
Umsetzung der Ergebnisse in bildungspolitischen Ent-
scheidungen von Bund und Ländern im Rahmen des
Artikels 91 b GG ein. Im Großen und Ganzen teilen wir
die ausführliche Darstellung der veränderten Rahmenbe-
dingungen und der sich hieraus ergebenden Notwendig-
keiten. Allerdings belassen es die Grünen nicht hierbei,
sondern ziehen mit der Forderung, den Autoren des Bil-
dungsberichtes Handlungsempfehlungen abzuverlan-
gen, die falschen Konsequenzen. Denn die Berichterstat-
tung lebt gerade von der politischen Neutralität – sie soll
die Bildungsrealität transparent machen. Man kann den
verantwortlichen Wissenschaftlern nicht zumuten, die
politischen Entscheidungen vorwegzunehmen. Die Poli-
tik ist gefordert, die richtigen Entscheidungen auf der
Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu tref-
fen.
Im Unterschied zum Antrag der Koalition geht unser
Antrag auf die Folgerungen und Empfehlungen der An-
hörung im Ausschuss ein. Wir wollen die, insbesondere
von den Sachverständigen, als extrem wichtig erachteten
Themen mit aufnehmen. Dementsprechend hält die
FDP-Fraktion die Erörterung von Fragen der Lehreraus-
und Weiterbildung, des Lernumfeldes und Lernverhal-
tens, Pro-Kopf-Ausgaben für Bildung für sehr brisant.
Auch die Entwicklung der Angebote im Rahmen des le-
benslangen Lernens sollten stärker fokussiert werden, da
wir hierbei durch große Defizite im internationalen Be-
reich auffällig geworden sind. Nicht vergessen werden
sollte die Analyse übergreifender Entwicklungen, wie
zum Beispiel die Untersuchung der Bedeutung und Ent-
wicklung der Eigenverantwortlichkeit und Autonomie
oder die enorme Resonanz von Schulen in freier Träger-
schaft im deutschen Bildungsraum.
Gerade in der vor kurzem eingegangenen Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
FDP über „Entwicklung der Schulen in Freier Träger-
schaft in Deutschland“ (Drucksache 16/6480) wurde die
mangelhafte Kenntnis der Verantwortlichen über die Si-
tuation freier Schulen deutlich. Dementsprechend leitete
die Bundesregierung die erste Frage mit dem Satz ein:
„In der deutschen Schulforschung wird den Privatschu-
len bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt; insbeson-
dere fehlen aussagekräftige Schulleistungsvergleiche
zwischen staatlichen und privaten Schulen.“ Zu Bezu-
schussung, Förderung, Schulgeld, rechtlichen Rahmen-
bedingungen konnte die Bundesregierung auch keine
Aussage treffen. Ein Indiz dafür, wie wichtig es ist, dass
wir uns diesem Thema widmen.
Wir begrüßen die Absicht, die Bildungsberichterstat-
tung fortzuführen und weiterzuentwickeln. Dabei müs-
sen wir jedoch darauf drängen, dass wesentliche Fragen
im Rahmen der Erstellung des Berichts mit aufgenom-
men werden. Andererseits warnen wir vor einer Politi-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12281
(A) (C)
(B) (D)
sierung der Dokumentation. Mit dem FDP-Antrag wer-
den die wesentlichen Probleme fokussiert, ohne dabei
der Berichterstattung den politischen Stempel aufzudrü-
cken. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu unserer
Initiative.
Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Vor über einem Jahr
wurde die Föderalismusreform verabschiedet. Die dort
beschlossene Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsbericht-
erstattung“ steckt aber immer noch in den Kinderschu-
hen. Die Veröffentlichung des ersten Bildungsberichtes
konnte keine wesentlichen Impulse zur Weiterentwick-
lung des Bildungssystems erbringen. Die Vorbereitung
des zweiten Bildungsberichtes wird nicht zu einer öf-
fentlichen Debatte über Probleme und Herausforderun-
gen des Bildungssystems genutzt. So darf das nicht wei-
tergehen. Die Misere unseres Bildungssystems ist viel zu
groß. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass – wie es der
UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung,
Vernor Muñoz, festgestellt hat – das Recht auf Bildung
missachtet und zum Teil mit den Füßen getreten wird.
Wenn die Bildungsberichterstattung dazu beitragen soll,
Missstände im deutschen Bildungssystem zu beseitigen,
dann muss sie grundlegend anders ausgerichtet werden.
Im Zentrum der Bildungsberichterstattung muss die
öffentliche Debatte stehen. Mit der Erarbeitung und Ver-
öffentlichung der Bildungsberichte muss diese befördert
werden. Gemeinsam mit den Betroffenen aus Kitas,
Schulen und Hochschulen müssen sich Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler sowie Politikerinnen und Po-
litiker darüber verständigen, welche Ziele sie sich im
Bildungssystem setzen und wie sie die vor ihnen liegen-
den Herausforderungen angehen wollen. Dazu ist es un-
erlässlich, dass zukünftige Bildungsberichte klare und
konkrete Empfehlungen an die Politik beinhalten.
Der erste Bildungsbericht machte deutlich, dass eine
reine Darstellung der Fakten zu so gut wie keinen politi-
schen Handlungen führt. Damals verweigerte die Bun-
desregierung den Autorinnen und Autoren, konkrete
Handlungsoptionen aus den Analysen zum Bildungssys-
tem abzuleiten.
Daneben muss der zweite Bildungsbericht einige we-
sentliche inhaltliche Lücken schließen, die im ersten Be-
richt noch zu konstatieren waren. Zum einen fehlt eine
Darstellung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Außer-
dem muss die Situation chronisch kranker und behinder-
ter junger Menschen durchgängig und im Gesamten be-
leuchtet werden.
Hinzu kommt das Thema „Privatisierung der Bil-
dung“. In den vergangenen Tagen und Wochen wurden
vermehrt Zahlen zu den Entwicklungen an Privatschulen
veröffentlicht. Aber nicht nur institutionell ist eine mas-
sive Zunahme privatwirtschaftlich organisierter Bildung
festzustellen. Neben verstärkter Werbung an Schulen,
dem sogenannten Schulsponsoring, gewinnt auch die
private Nachhilfe an Bedeutung. Die Bundesregierung
darf sich dieser Entwicklung nicht versperren und muss
die Gefahr der zunehmenden sozialen Ungleichheit er-
forschen lassen.
Doch selbst mit solchen punktuellen Verbesserungen
könnte das Instrument der Bildungsberichterstattung
nicht über seine Begrenztheit hinwegtäuschen. Die
Linke hält weiterhin daran fest, dass die Föderalismus-
reform I insbesondere aus bildungspolitischer Perspek-
tive ein fataler Schritt war. Wir begrüßen, dass das mitt-
lerweile bis ins Bundesministerium für Bildung und For-
schung hinein erkannt wird und auf mehr Einheitlichkeit
im Bildungssystem gedrungen wird.
Umso wichtiger ist deshalb, dass die Föderalismus-
reform II das Bildungssystem erneut in den Blick nimmt.
Grundlegende Fehler müssen hier korrigiert und darüber
hinaus müssen auch neue Vorschläge diskutiert werden.
Die Linke fordert, dass bei der Föderalismusreform II
zum Ziel gesetzt wird, eine bessere finanzielle Ausstat-
tung für alle Bildungsphasen zu erreichen. Notwendig
hierfür ist, dass eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Bil-
dungsfinanzierung“ geschaffen wird. Nur wenn Bund
und Länder zukünftig gemeinsam die Möglichkeit ha-
ben, bildungspolitische Maßnahmen zu finanzieren, kön-
nen durch die Bildungsberichte aufgezeigte Probleme
auch gelöst werden. Ansonsten läuft die Bildungsbe-
richterstattung ins Leere. Denn nur, wenn sich Vorhaben
und Programme auch finanziell untersetzen lassen, wer-
den sie mehr als nur unverbindliche Ankündigungen.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen greift all diese
Fragen und Probleme nicht auf. Er schlägt ein reines
„Weiter so!“ vor. Auf diese Weise lässt sich die Misere
des Bildungssystems nicht verbessern. Die Linke lehnt
den Antrag aus diesem Grund ab.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Meine heutige Rede zur Bildungsberichterstat-
tung erscheint mir wie ein Déjà-vu: Alle Kritikpunkte,
die ich bei der ersten Lesung äußerte, sind bis jetzt nicht
ausgeräumt. Der Koalitionsantrag zur Bildungsbericht-
erstattung stellt uns nicht zufrieden. Wir freuen uns
zwar, dass auch die Große Koalition eingesehen hat,
dass sie den nationalen Bildungsbericht nicht erst auf
Antrag der Opposition behandeln kann, sondern ihn dem
Bundestag vorlegen muss. Bei regelmäßiger Befassung
mit diesem Thema würde die Koalition dann ja vielleicht
auch erkennen, dass einige ihrer Behauptungen nach den
empirischen Ergebnissen nicht haltbar sind. So heißt es
im Koalitionsantrag, der Bildungsstand in der Bevölke-
rung sei kontinuierlich gestiegen. Leider stimmt dies für
Deutschland nicht mehr, wie die jüngste OECD-Studie
„Bildung auf einen Blick“ zeigt: Zum einen stagniert im
Vergleich mit anderen OECD-Staaten der Anteil der
Akademiker insgesamt, so dass wir hier von Rang 10 auf
Rang 22 zurückgefallen sind. Zum anderen hat in der
jüngeren Generation ein kleinerer Anteil der Menschen
einen tertiären Bildungsabschluss als in der älteren Ge-
neration.
Geradezu lächerlich ist die Forderung der Koalitions-
fraktionen, die neue Gemeinschaftsaufgabe weiterzuent-
wickeln. Erst sorgen Sie mit Ihrer völlig verfehlten Fö-
deralismusreform dafür, dass dem Bund nahezu
sämtliche Bildungskompetenzen entzogen wurden, dann
12282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
wollen Sie im Nachhinein wieder mehr Einwirkungs-
möglichkeiten. Das ist unglaubwürdig.
Wir Grünen meinen, dass nach wie vor ein Konstruk-
tionsfehler des nationalen Bildungsberichts nicht beho-
ben ist. Er besteht darin, dass Empfehlungen nicht er-
wünscht sind und Ergebnisse des Berichts nicht
debattiert werden. Geht es nach dem Willen der Großen
Koalition ist dies auch in Zukunft nicht vorgesehen.
Dem können wir nicht zustimmen. Wer wie die Bil-
dungsministerin immer gerne das Wort der wissensba-
sierten Steuerung vor sich her trägt, sollte sich anstren-
gen, den nationalen Bildungsbericht zu einem echten
Instrument der Steuerung zu machen. Dann darf man
aber den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
nicht den Mund verbieten.
Auch setzen wir uns dafür ein, dass die Schwerpunkt-
setzung des jeweiligen Bildungsberichts nicht im stillen
Kämmerlein festgelegt wird, sondern aus der Debatte
mit den Akteurinnen und Akteuren im Bildungsbereich
– also aus Wissenschaft, Parlamenten, Bildungsverwal-
tung und -einrichtungen etc. – entsteht. Der nationale
Bildungsbericht muss außerdem dem Deutschen Bun-
destag zeitnah zur Auswertung vorgelegt werden. Die
Länder sollten dieses Verfahren gegenüber den Landta-
gen ebenfalls anwenden; aber das können wir hier nicht
beschließen. Bund und Länder sollten dann gemeinsam
Umsetzungsstrategien zu den im Bericht gemachten bil-
dungspolitischen Empfehlungen erarbeiten.
Über den Bildungsbericht hinaus ist noch einiges zur
Bildungsforschung insgesamt zu sagen. Seit der missra-
tenen Föderalismusreform lobt die Bundesbildungsmi-
nisterin die Bundes(rest)kompetenz der Bildungsfor-
schung in den Himmel. Dann erwarten wir aber auch,
dass endlich das für den Herbst angekündigte Rahmen-
programm zur Bildungsforschung vorgelegt wird. Ich
bin gespannt, ob es der Herbst 2007 sein wird.
Wir Grüne wollen die Bildungsforschung stärken und
hierbei folgende Schwerpunkte setzen: Unterrichtsquali-
tät an Schulen und pädagogische Konzepte bei der Ent-
wicklung von Halbtags- zu Ganztagsschulen; Lehreraus-
und -fortbildung sowie der Umgang mit heterogenen
Lerngruppen. Mehr Forschung brauchen wir auch in den
Bereichen informelles Lernen, Weiterbildung, Umset-
zung des Bologna-Prozesses sowie Bildungszugang und
Bildungserfolg von Menschen mit Migrationshinter-
grund und aus sozial benachteiligten Familien. Aus grü-
ner Sicht sollte sich Deutschland auch auf jeden Fall am
sogenannten Lehrer-PISA der OECD beteiligen. Wir
halten es außerdem für notwendig, zu evaluieren, wie die
noch nicht abgeschlossenen Projekte der Bund-Länder-
Kommission, BLK, in den Bundesländern weitergeführt
wurden. Auch würden wir gerne wissen, welche neuen
Modellversuche aus den Kompensationsmitteln für die
Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsplanung“ auf Länder-
ebene finanziert werden.
Bildungsforschung und Bildungsberichterstattung sind
wichtig, sowohl als Grundlage für bildungspolitische
Entscheidungen als auch für die Weiterentwicklung der
Praxis in den Bildungseinrichtungen. Bildungsforschung
und Bildungsberichterstattung können aber nur im ge-
nannten Sinne wirken, wenn in ihrem Rahmen Hand-
lungsoptionen aufgezeigt werden, eine öffentliche De-
batte stattfindet und die Aufarbeitung sowie der Transfer
der Forschungsergebnisse sichergestellt werden. Folg-
lich: Wer Bildungsberichterstattung will, darf weder vor
Handlungsempfehlungen noch vor Reformen Angst ha-
ben.
Dr. Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Bildung und Forschung: Die Bun-
desregierung setzt auf die Potenziale der Menschen in
Deutschland. Kluge Köpfe und hervorragend qualifi-
zierte Fachkräfte sind die Grundlage für Wohlstand und
wirtschaftliche Stärke. Dynamische Aufholprozesse bei
der Bildungsbeteiligung etwa in den asiatischen Schwel-
lenländern, der demografische Wandel in Deutschland
und ein sich abzeichnender Fachkräftemangel insbeson-
dere in den sogenannten MINT-Berufen machen deut-
lich: Alle Begabungen und Talente in unserem Land
werden gebraucht. Niemand darf zurückgelassen wer-
den, jeder braucht eine Chance auf Einstieg in Bildung
und Aufstieg durch Bildung. Dies gilt in besonderer
Weise für diejenigen, die aus den unterschiedlichsten
Gründen Schwierigkeiten haben und Defizite abbauen
müssen. Wir können es uns nicht leisten, vorhandene Po-
tenziale für Bildung und Qualifizierung nicht zu nutzen.
Deshalb hat die Bundesregierung auf ihrer Klausurta-
gung in Meseberg wichtige Impulse für eine bessere
Ausschöpfung aller Begabungsreserven beschlossen. Sie
werden in einer Nationalen Qualifizierungsinitiative ge-
bündelt, die das gesamte Spektrum unseres Bildungswe-
sens umfasst: angefangen von der frühkindlichen Bil-
dung über die Schule, die berufliche Bildung und das
Studium bis hin zur kontinuierlichen Weiterbildung
während des gesamten Berufslebens.
Alle Beteiligten – Länder, Unternehmen, Sozialpart-
ner, Verbände – sind aufgefordert, sich an diesem Pro-
zess zu beteiligen. Auf der Grundlage des Kabinettsbe-
schlusses zur Nationalen Qualifizierungsinitiative
streben wir eine gemeinsame Strategie von Bund und
Ländern an, die auf einem Qualifizierungsgipfel der Re-
gierungschefs im Herbst 2008 auf den Weg gebracht
werden soll.
Um gemeinsame Zielsetzungen für die Weiterent-
wicklung unseres Bildungswesens zu formulieren, müs-
sen wir uns zunächst vergewissern, wo wir stehen. Der
erste nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutsch-
land“, der im Juni 2006 im Auftrag des Bundesbildungs-
ministeriums und der Kultusministerkonferenz durch un-
abhängige Experten vorgelegt wurde, liefert hierfür eine
unverzichtbare Grundlage. Zwei Merkmale des Berichts
sind in diesem Zusammenhang besonders zu erwähnen:
Zum einen erfolgt mit dem nationalen Bildungsbe-
richt erstmals ein systematischer indikatorengestützter
Überblick über alle Bereiche des deutschen Bildungswe-
sens, von der frühkindlichen Bildung bis hin zur Weiter-
bildung. Diese Betrachtung des Lernens im Lebenslauf,
entlang der gesamten Bildungsbiografie, kennzeichnet
auch die Nationale Qualifizierungsinitiative.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12283
(A) (C)
(B) (D)
Zum anderen ist der nationale Bildungsbericht
– ebenso wie internationale Leistungsvergleiche – ein
zentrales Element der neuen Gemeinschaftsaufgabe von
Bund und Ländern. Eine gute Bildungsberichterstattung
bietet den Verantwortlichen in Bund und Ländern eine
verbesserte Grundlage für bildungspolitische Entschei-
dungen und für die Überprüfung ihrer tatsächlichen Aus-
wirkungen. Bildungsmonitoring muss letztlich auch in
bildungspolitisches Handeln münden.
Genau dies ist nach der Vorlage des nationalen Bil-
dungsberichts auch geschehen. Bund und Länder haben
noch im Jahr des Erscheinens des ersten nationalen Bil-
dungsberichts gemeinsame Schlussfolgerungen aus der
Analyse gezogen, die Maßnahmen in ihren jeweiligen
Zuständigkeiten umfassten. Die Bundesregierung hat in
ihrer Stellungnahme zum Bildungsbericht dem Schwer-
punktthema „Migration“ besondere Aufmerksamkeit ge-
schenkt. Besonders hervorzuheben sind darin Maßnah-
men innerhalb des Ausbildungspakts, in Programmen
der beruflichen Bildung und Nachqualifizierung sowie
die Unterstützung der Länder bei der individuellen
Sprachförderung durch Bildungsforschung. Darüber hi-
naus haben wir konkrete Aktivitäten im Hochschul- und
Weiterbildungsbereich in Angriff genommen. Beispiele
dafür sind der Hochschulpakt zur Sicherung der Ausbil-
dungschancen der jungen Generation und die Entwick-
lung einer Gesamtstrategie „Lernen im Lebenslauf“ mit
Unterstützung des Innovationskreises Weiterbildung, die
durch das neue Finanzierungsinstrument des Weiterbil-
dungssparens flankiert wird.
Ein falscher Weg wäre es hingegen, wenn die Verfas-
ser des Bildungsberichtes gleichzeitig Handlungsemp-
fehlungen aussprechen sollten. Hier bin ich ebenso wie
die Autoren des Berichtes der Auffassung, dass es guter
wissenschaftlicher Praxis entspricht, Beobachtung und
Berichterstattung von Schlussfolgerungen und Empfeh-
lungen zu trennen. Der Sprecher des Konsortiums hat in
der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung nachdrück-
lich für eine Unterscheidung beider Aufgaben, also für
eine Trennung zwischen Monitoring und Handlungsvor-
schlägen, plädiert.
Bei der Erstellung des Berichts wurde in vielerlei
Hinsicht – etwa bei der disziplinübergreifenden Koope-
ration und im methodischen Bereich – Neuland beschrit-
ten. Im Schwerpunktkapitel des Berichtes erlaubt das
neue Erfassungskonzept zum Migrationshintergrund
eine erheblich aussagekräftigere Darstellung der Situa-
tion von Migrantinnen und Migranten. Der Bericht 2006
zeigt, dass Bildungsbeteiligung und Bildungsstand der
Bevölkerung insgesamt zugenommen haben; er belegt
aber auch, dass andere Länder bei der Verbesserung ih-
res Bildungssystems weiter sind. Ein Hauptproblem in
Deutschland ist nach wie vor der enge Zusammenhang
zwischen sozialer Herkunft bzw. Migrationshintergrund
und Bildungserfolg.
Beim nächsten Bildungsbericht, der 2008 erscheint,
können Auftraggeber und Autoren nun schon auf einigen
Erfahrungen aufbauen. Die Orientierung am Konzept
des „Lernens im Lebenslauf“ hat sich bewährt und wird
beibehalten. Die umfassende Darstellung des Bildungs-
wesens über die jeweiligen Institutionen und Verant-
wortlichkeiten hinweg verdeutlicht, dass die Nahtstellen
und Übergänge im Bildungssystem besondere Aufmerk-
samkeit verdienen. BMBF und KMK haben sich deshalb
darauf verständigt, den Schwerpunkt des nächsten Bil-
dungsberichts dem Thema „Übergänge Schule – Berufs-
bildung/Hochschulbildung – Arbeitsmarkt“ zu widmen.
In anderen Bereichen wollen wir die Bildungsbericht-
erstattung weiterentwickeln: Die Autoren streben für den
kommenden Bericht eine stärkere Problemorientierung
und die verstärkte Berücksichtigung aktueller Bezüge
an. Sie greifen damit Ergebnisse der Anhörung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung Anfang dieses Jahres auf. Die Weiterent-
wicklung der Indikatoren wird außerdem durch ein
flankierendes Forschungsprojekt des BMBF gefördert,
das insbesondere die Indikatorisierung von Bildungsver-
läufen und die Darstellung der Übergänge im Bildungs-
wesen verbessern soll.
Die Bildungsberichterstattung markiert als Teil eines
umfassenden Monitoringsystems die Hinwendung zu ei-
ner neuen bildungspolitischen Steuerungsphilosophie.
Über die Kernelemente dieses Paradigmenwechsels be-
steht weitgehend Einigkeit: Im Wesentlichen handelt es
sich um ein sinnvoll aufeinander abgestimmtes System
von regelmäßigen Schulevaluationen, von nationalen
und internationalen Leistungsuntersuchungen, einer un-
abhängigen und wissenschaftlichen Bildungsbericht-
erstattung. All dies setzt eine hoch leistungsfähige empi-
rische Bildungsforschung voraus. Das BMBF wird
deshalb die empirische Bildungsforschung durch ein
Rahmenprogramm strukturell stärken und die verschie-
denen Handlungsoptionen des BMBF im Bereich der in-
stitutionellen Förderung, der Ressortforschung, der Pro-
jekt- und Programmförderung – auch mit den Ländern –
so bündeln, dass ein kontinuierlich wachsendes Potential
entsteht.
Zur strukturellen Stärkung der empirischen Bildungs-
forschung werden Schwerpunkte gesetzt bei der Quali-
tätsentwicklung und -sicherung der vom BMBF – bzw.
gemeinsam vom BMBF und von den Ländern – geför-
derten Bildungsforschung. Gezielte Maßnahmen zur
Nachwuchsförderung sind sowohl im Kontext Bund-
Länder-geförderter Projekte als auch – in Abstimmung
mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft – durch spe-
zielle Stipendienprogramme vorgesehen. Ein besonderes
Augenmerk werden wir zudem der Förderung des inter-
nationalen Austausches sowie der Verbesserung der Da-
tengrundlagen und der Datenverfügbarkeit für die For-
schung widmen.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
wird ebenfalls in weiterhin enger Abstimmung mit den
Ländern und der DFG die Voraussetzungen für die Eta-
blierung eines wissenschaftsgetragenen, nationalen Bil-
dungspanels schaffen, das uns erlaubt, empirisch tragfä-
hige Erkenntnisse über Bildungsverläufe unter je
spezifischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen
zu generieren.
12284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
All diese Maßnahmen werden letztlich auch die Da-
tenbasis für die Berichterstattung über „Bildung im
Lebenslauf“ deutlich verbessern. Mit den Kooperations-
möglichkeiten im Rahmen der neuen Gemeinschaftsauf-
gabe und mit den bereits erreichten Fortschritten beim
Monitoring unseres Bildungssystems sind wir auf einem
guten Weg, den wir mit der Nationalen Qualifizierungs-
initiative konsequent weiter beschreiten werden.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Klare Konzepte für
den Bau des Berliner Schlosses (Tagesord-
nungspunkt 14)
Renate Blank (CDU/CSU): Als Berichterstatterin
meiner Fraktion zum Thema „Wiederaufbau des Ber-
liner Schlosses“ erachte ich eine Befassung des Plenums
mit dem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion erst
dann für sinnvoll, wenn der Ausschuss für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung diesen Antrag beraten hat.
Zudem ist eine sachgerechte Befassung aus kollegia-
lem Respekt vor dem Haushaltsausschuss erst dann an-
gezeigt, wenn sich auch dieser Ende Oktober damit be-
schäftigt haben wird.
Die eindeutigen Beschlüsse des Deutschen Bundesta-
ges aus den Jahren 2002 und 2003 haben Gültigkeit und
sind Grundlage des weiteren Verfahrens.
Der für die städtebaulichen Aspekte des Projekts fe-
derführend zuständige Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung wird sich in Kürze auch mit den Mo-
dalitäten des Wettbewerbs beschäftigen. Insofern ist eine
vorzeitige Debatte des FDP-Antrages sachlich nicht ge-
rechtfertigt.
Der FDP-Antrag wird daher von meiner Fraktion ab-
gelehnt.
Petra Weis (SPD): Als Berichterstatterin meiner
Fraktion zum Thema „Wiederaufbau des Berliner
Schlosses“ erachte ich eine Befassung des Plenums mit
dem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion erst dann für
sinnvoll, wenn der Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung diesen Antrag beraten hat.
Zudem ist eine sachgerechte Befassung aus kollegia-
lem Respekt vor dem Haushaltsausschuss erst dann an-
gezeigt, wenn sich auch dieser Ende Oktober damit be-
schäftigt haben wird.
Die eindeutigen Beschlüsse des Deutschen Bundesta-
ges aus den Jahren 2002 und 2003 haben Gültigkeit und
sind Grundlage des weiteren Verfahrens.
Der für die städtebaulichen Aspekte des Projekts fe-
derführend zuständige Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung wird sich in Kürze auch mit den Mo-
dalitäten des Wettbewerbs beschäftigen. Insofern ist eine
vorzeitige Debatte des FDP-Antrages sachlich nicht ge-
rechtfertigt.
Der FDP-Antrag wird daher von meiner Fraktion ab-
gelehnt.
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Worüber reden
wir eigentlich? Und ist diese Debatte überhaupt notwen-
dig?
Der Bundestag hat 2002 und 2003 zwei Beschlüsse
gefasst, und zwar mit großer Mehrheit. Diese Beschlüsse
sind eindeutig und sie bleiben verbindlich für alle Betei-
ligten und für den auszuschreibenden Wettbewerb.
Diese Beschlüsse haben zwei wesentliche Inhalte:
Erstens. Das Projekt „Humboldt-Forum“: Es ist eine
faszinierende Idee, die außereuropäischen Kulturen in
die Mitte der deutschen Hauptstadt zu holen und in eine
Beziehung des Dialogs zur europäischen Kultur auf der
Museumsinsel zu bringen. Dieses Projekt ist von exzep-
tionellem Rang, es dürfte einzigartig in der Welt werden.
Deswegen ist es gut und konsequent, dass Minister
Wolfgang Tiefensee einen Realisierungsvorschlag vor-
gelegt hat, der die allein öffentliche Finanzierung des
Projektes vorsieht. Diese Finanzierung, dieser Vorschlag
sind dem außerordentlichen Projekt angemessen, ich be-
grüße sie sehr.
Zweitens. Das zu errichtende Gebäude soll Ge-
schichte vergegenwärtigen: Der Bundestag hat beschlos-
sen, dass die drei Barockfassaden des Schlosses an der
Nord-, West-, Südseite und ebenso der Schlüterhof wie-
dererrichtet werden, das ganze Gebäude soll in der Ku-
batur des Schlosses erbaut werden.
Das sind die beiden wesentlichen Punkte unserer
Bundestagsbeschlüsse.
Und nun zitiere ich aus dem Entwurf des Auslobungs-
textes zum Realisierungswettbewerb für das Projekt:
Aufgabe des Wettbewerbs ist es, eine überzeugende
städtebauliche und architektonische Gesamtkonzeption
zur Unterbringung des Nutzungskonzepts Humboldt-
Forum in einem Gebäude zu schaffen. Das Humboldt-
Forum Berlin/Stadtschloss ist Ort für die Bildung im
Sinne der Vermittlung und Auseinandersetzung von und
mit der außereuropäischen Kunst und Kultur. Der Bau
hat sich am Grundriss und den Höhenmaßen des ehema-
ligen Berliner Schlosses unmittelbar vor dessen Zerstö-
rung, 1950, zu orientieren. Dabei ist die Wiedererrich-
tung der barocken Fassaden auf der Nord-, West- und
Südseite sowie innerhalb des Schlüterhofes vorzusehen.
Die Stereometrie des ehemaligen Schlosses ist mit Aus-
nahme der Ostseite und des ehemaligen Eosanderhofes
einzuhalten. Der Bereich des ehemaligen Apothekerflü-
gels ist hiervon ausgenommen und bleibt, wie der nach
Osten zur Spree gelegene Bereich, frei gestaltbar. Die ar-
chitektonische Gestaltung des auf dem Schlossareal ge-
planten Gebäudes, insbesondere das Verhältnis von Nut-
zung und Innengestaltung, muss der kulturellen Nutzung
des Humboldt-Forums ebenso wie der historischen Be-
deutung des Ortes gerecht werden. Der Entwurf soll die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12285
(A) (C)
(B) (D)
geschichtlichen Brüche und Zeitschichten des Ortes
Schlossareal erfahrbar machen.
Des Weiteren wird mehrfach betont, dass die Wie-
dererrichtung der barocken Fassaden verbindliche Vor-
gabe der Auslobung sei, dass es darum gehe, die Rekon-
struktion barocker Schlossfassaden mit einem Gebäude
kultureller Nutzung zu verbinden, ja, dass auch eine
Kuppel im Bereich des ehemaligen Hauptportals berück-
sichtigt werden solle.
Was ist daran zu kritisieren? Was ist daran unklar?
Wozu also die Aufregung, werte Kollegen von der FDP?
Sie sehen doch, dass im Auslobungstext der Auftrag un-
serer Bundestagsbeschlüsse sich auf eindeutige Weise
wiederfindet.
Wir haben ein gemeinsames, jedenfalls mehrheitli-
ches Interesse daran, dass dieser eindeutige Auftrag auf
architektonisch, auf ästhetisch überzeugende Weise re-
alisiert wird. In diesem Sinne hoffen wir, dass der Wett-
bewerb baldmöglichst ausgeschrieben werden kann,
dass auch manch skeptischer Haushaltspolitiker von der
Faszination dieses Projektes ergriffen wird. Bleibt die
Frage nach der Besetzung der Fachjury. Ich höre: Es ist
nicht ganz leicht, diese Fachjury zu besetzen. Einerseits
gibt es Ablehnung oder Skepsis gegenüber der Aufgabe,
Historisches zu rekonstruieren und mit Modernem zu
verbinden. Andererseits gibt es Respekt, ja vielleicht so-
gar Angst vor der Größe und Schwierigkeit dieser Auf-
gabe. Das ist ja durchaus verständlich. Ich höre aber
auch: Manche prominente Architekten wollen nicht in
die Jury, weil sie sich am Wettbewerb beteiligen wollen.
Das ist doch ein wahrlich erfreulicher Ablehnungsgrund.
Trotz dieser Besetzungsschwierigkeiten gilt: Die Jurybe-
setzung darf nicht von Schlossgegnern dominiert wer-
den. Das halte ich für schlicht selbstverständlich.
Wenn immer wieder Zweifel an der Spendenbereit-
schaft für die Schlossfassaden geäußert werden, Zweifel
daran, dass die angekündigten 80 Millionen Euro auch
tatsächlich erreicht werden, sage ich: Erst wenn das fas-
zinierende Projekt wirklich in Gang gekommen ist, kann
und wird seine Faszination auch ansteckende Wirkung
entfalten können! Blicken wir nach Dresden: Beim Be-
ginn des Wiederaufbaus der Frauenkirche waren längst
nicht alle notwendigen Spendengelder gesammelt. Im
Gegenteil: Erst nach Baubeginn nahm die Spenden-
freude zu. Warum sollte das in Berlin ganz anders sein?
Wir haben also keinen Grund zur Miesepetrigkeit, zu
übertriebenem Misstrauen, zu hysterischer Aufregung.
Deswegen ist der FDP-Antrag überflüssig.
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Als Haushälterin
will ich mich nur auf einen Punkt des Antrages konzen-
trieren, um deutlich zu machen, wie die FDP gedenkt,
mit Steuergeldern umzugehen. Dieser Punkt ist deshalb
so bemerkenswert, weil die FDP in den Haushaltsbera-
tungen sonst immer sehr akribisch darauf achtet, dass
kein Cent zu viel für soziale Aufgaben des Staates aus-
gegeben wird. Jedoch geht die FDP in der Schlossfrage
ausgesprochen spendabel – besser gesagt: verschwende-
risch – mit dem Geld der Steuerzahler um. Für das
Schloss gibt es noch nicht einmal eine seriöse Planung,
da explodieren schon die Kosten. Herr Tiefensee will
plötzlich 72 Millionen Euro für die Erstausstattung des
Gebäudes haben. Davon war bisher nie die Rede.
Der Haushaltsausschuss hat die Finanzplanung für
das Schloss als mangelhaft zurückgewiesen. Das Schloss
soll – nach Aussagen der Bundesregierung –
480 Millionen Euro kosten. Das ist eine Luftbuchung für
ein Luftschloss. Die Bundesregierung und die FDP ge-
hen zum Beispiel davon aus, dass 80 Millionen Euro
Spenden gesammelt werden.
Ich zitiere Ihren Antrag:
Diese Summe wird vom Förderverein Berliner
Schloss e.V. erbracht werden, der bereits knapp
14 Mio. Euro Spenden bzw. verbindliche Spenden-
zusagen gesammelt hat. Die Baukosten der
Schlossfassade werden erforderlicherweise vom
Bund vorfinanziert.
Ich frage, woher wissen Sie, dass der Verein bereits
14 Millionen Euro Spenden gesammelt hat? Haben Sie
Einsicht in die Bücher des Vereins bekommen? Ich habe
die Bundesregierung gefragt, ob sie Einsicht in das
Spendenkonto des Fördervereins Berliner Schloss e. V.
genommen hat. Die Antwort war: Nein. Ich kenne kei-
nen Menschen, der seriöse Belege über die bereits ge-
sammelten Spenden des Vereins vorweisen könnte.
Wenn Sie ein Haus bauen wollen und gehen zur Bank
und können keinen Nachweis erbringen, dass Sie Ihren
Eigenanteil erbringen können, dann schickt Sie der
Bankangestellte wieder nach Hause. So ist das in der
freien Marktwirtschaft. Die Bundesregierung legt dem
Bundestag ein Finanzierungskonzept vor, in dem 80 Mil-
lionen Euro Spenden fest eingeplant sind, ohne je Ein-
sicht in die Unterlagen des Vereins genommen zu haben,
der diese Spenden akquirieren soll. Das ist doch ein
schöner Fall für den Bund der Steuerzahler. Bemerkens-
wert ist auch die Vorstellung der FDP, dass, wenn die
Spendengelder nicht kommen, der Staat einspringen soll.
Die Linke lehnt den FDP-Antrag aus vielen Gründen
ab, ich lehne ihn ab, weil wir jetzt nicht über die Anbrin-
gung von Gardinen im Schlafzimmer des Königs nach-
denken müssen, bevor wir nicht ein sauberes Finanzkon-
zept haben.
Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als
Berichterstatter meiner Fraktion zum Thema „Wieder-
aufbau des Berliner Schlosses“ erachte ich eine Befas-
sung des Plenums mit dem vorliegenden Antrag der
FDP-Fraktion vom 4. Juli 2007 ebenfalls erst dann für
sinnvoll, wenn auch der Ausschuss für Verkehr, Bau-
und Stadtentwicklung dazu beraten hat.
Zudem liegt ein Antrag der Fraktion Die Linke vom
4. Juli 2007 mit dem Titel „Humboldtforum statt Fassa-
denschloss – Schlossplatz mit Zukunftsorientierung“
vor, der bislang ebenfalls noch nicht im Ausschuss für
Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung beraten werden
konnte.
12286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Ich halte es für darüber hinaus für angeraten, darauf
zu warten, bis die Kolleginnen und Kollegen des Haus-
haltsausschusses dieses wichtige Thema Ende Oktober
ebenfalls beraten haben.
Auch wenn meine Fraktion die Beschlüsse aus den
Jahren 2002 und 2003 durchaus kritisch bewertet, so
verbietet uns der Respekt vor parlamentarischen Be-
schlüssen, diese immer wieder infrage zu stellen.
Inhaltlich gäbe es dagegen viel zu der irritierenden
und unvollständigen Informationspolitik des Bundes-
ministeriums für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung,
zu den drohenden Mehrkosten und zu den Anträgen der
FDP und der Linken zu sagen. Dazu sollten wir uns je-
doch mehr Zeit nehmen und uns diese vorzeitige Debatte
ersparen.
Meine Fraktion wird sich bei der Abstimmung über
den Antrag der FDP-Fraktion der Stimme enthalten.
Anlage 5
Zu Protokoll gegeben Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der
betrieblichen Altersversorgung
– Antrag: Abgabenfreie Entgeltumwandlung
über 2008 hinaus fortführen und ausbauen
– Antrag: Beitragsfreie Entgeltumwandlung –
Erst prüfen, dann entscheiden
Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord-
nungspunk 8)
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Seit 2002
haben alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer grund-
sätzlich einen Rechtsanspruch darauf, Teile ihres Ge-
halts im Zuge der sogenannten Bruttoentgeltumwand-
lung in die Altersvorsorge zu investieren. Außer Teilen
des laufenden Gehalts können sie dafür auch Sonderzah-
lungen wie das Urlaubs- oder Weihnachtsgeld und Ge-
haltserhöhungen verwenden, die sie dann in Anwart-
schaften auf Betriebsrenten umwandeln. Diese für die
Altersvorsorge umgewandelten Entgelte sind Steuer-
und sozialabgabenfrei. In kürzester Zeit hat diese für Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch für die Ar-
beitgeber finanziell attraktive Regelung zu einem deutli-
chen Anstieg bei der Nutzung der betrieblichen
Altersvorsorge geführt.
Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern muss
durch ihren Betrieb die Möglichkeit gegeben werden, bis
zu 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der ge-
setzlichen Rentenversicherung umzuwandeln. Dem Ar-
beitgeber bleibt überlassen, in welchem Durchführungs-
weg die Entgeltumwandlung stattfindet. Möglich ist dies
in einer Pensionskasse oder einem Pensionsfonds, wie
sie häufig bereits in den Betrieben bestehen. Der Arbeit-
geber hat aber auch die Möglichkeit, die Entgeltum-
wandlung als Betriebsrente in Form einer Direktversi-
cherung anzubieten, was besonders für kleinere
Unternehmen von Interesse ist.
Der Gesetzgeber hat die Sozialabgabenfreiheit der
Entgeltumwandlung ursprünglich bis Ende 2008 befris-
tet, weil man nur einen Anstoß für den Aufbau betriebli-
cher Altersvorsorgesysteme geben wollte. Im Koali-
tionsvertrag hatten CDU/CSU und SPD vereinbart: „Im
Jahr 2007 wird geprüft, welchen Verbreitungsgrad die
betriebliche und private Altersvorsorge erreicht hat und
wie die weitere Entwicklung des Ausbaus einzuschätzen
ist. Wenn sich zeigt, dass durch die Förderung mit den
bisherigen Instrumenten eine ausreichende Verbreitung
der zusätzlichen Altersvorsorge nicht erreicht werden
kann, ist über geeignete weitere Maßnahmen zu ent-
scheiden.“ Grundlegende Zielsetzung der Regierungs-
fraktionen ist, die Altersvorsorge der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer auf mehrere Säulen zu stellen und so-
mit sicherer zu gestalten. Um die positive Entwicklung
bei der betrieblichen Altersvorsorge zu unterstützen, ha-
ben sich mittlerweile sowohl der Deutsche Gewerk-
schaftsbund als auch die Bundesvereinigung der Deut-
schen Arbeitgeberverbände für eine Fortführung der
Sozialversicherungsfreiheit ausgesprochen. Heute schlägt
die Koalition mit ihrem Gesetzentwurf zur Förderung
der betrieblichen Altersversorgung vor, dass die steuer-
und beitragsfreie Entgeltumwandlung über das Jahr
2008 hinaus unbefristet erhalten bleibt und dass zudem
die Unverfallbarkeit für arbeitgeberfinanzierte Betriebs-
rentenanwartschaften von 30 auf ein Alter von 25 Jahren
abgesenkt wird.
Die Ansprüche an die Sicherheit der betrieblichen Al-
tersvorsorge im Zuge der Entgeltumwandlung sind zum
Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer be-
wusst hoch angesetzt worden. Eine vom Arbeitnehmer
durch Entgeltumwandlung finanzierte Direktversiche-
rung darf nicht durch den Arbeitgeber verpfändet, abge-
treten oder beliehen werden. Die Alterssicherung muss
durch den Arbeitnehmer auch dann fortgeführt werden
können, wenn er das Unternehmen verlässt. Die Anwart-
schaften können mit direkter Wirkung nach der Einzah-
lung nicht verfallen und bleiben auch bei Kündigung er-
halten. Damit unterscheidet sich die Entgeltumwandlung
deutlich von Modellen, in denen der Arbeitgeber die Be-
triebsrente finanziert (sogenannter interner Durchfüh-
rungsweg). Dort erlangt der Arbeitnehmer die Unverfall-
barkeit seiner Anwartschaften erst, wenn er mindestens
fünf Jahre in dem Unternehmen beschäftigt und mindes-
tens 30 Jahre alt ist.
In kurzer Zeit ist die Entgeltumwandlung zu einem
Renner bei der betrieblichen Altersvorsorge, der dritten
Säule der Rente neben gesetzlicher und privater Renten-
versicherung, geworden. 2002 haben nur 38 Prozent der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Privatwirt-
schaft in einem System betrieblicher Altersversorgung
vorgesorgt, 2004 waren es bereits 46 Prozent, mittler-
weile sind es über 50 Prozent. Rechnet man die Zusatz-
versorgungssysteme im öffentlichen Dienst hinzu, haben
über 65 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer eine Betriebsrentenanwartschaft. Dieser Anstieg be-
ruht zum Großteil auf der Teilnahme an der Bruttoentgelt-
umwandlung. Die Beteiligung an der Entgeltumwandlung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12287
(A) (C)
(B) (D)
zeigt zudem, dass Geringverdiener und Frauen hierdurch
in hohem Maße angesprochen werden, eine betriebliche
Altersvorsorge aufzubauen.
Würde – gemäß der derzeit noch gültigen Gesetzes-
lage – die Sozialabgabenpflicht der Entgeltumwandlung
ab 2009 wieder eingeführt werden, wäre zu befürchten,
dass die positive Entwicklung der betrieblichen Alters-
versorgung wieder ins Stocken gerät. Zudem gibt es erste
Anzeichen aus den Betrieben, dass es dann zu einer Stor-
nierungswelle von Entgeltumwandlungsverträgen kom-
men könnte. Eine solche Entwicklung liefe völlig konträr
zu der politischen Zielsetzung, zusätzlich zur gesetzli-
chen Rente die zweite und dritte Säule der Alterssiche-
rung in Deutschland kontinuierlich aufzubauen. Ein
Rückschritt wäre politisch unverantwortlich.
Der für die Einführung der Sozialabgabenpflicht der
Entgeltumwandlung ins Feld geführt Einwand, dass die
Sozialversicherungen die Einnahmeausfälle nicht ver-
kraften könnten, ist in dieser pauschalen Form nicht
stichhaltig: Für die Rentenversicherung gilt, dass den
Einnahmeausfällen keine Rentenansprüche gegenüber
stehen, das heißt, hier ergeben sich keine zusätzlichen fi-
nanziellen Probleme. Allerdings führt die sozialabga-
benfreie Entgeltumwandlung dazu, dass aus dem für die
zusätzliche Altersvorsorge abgezweigten Einkommen
keine Ansprüche in der gesetzlichen Rente erwachsen.
Für die Kranken- und Pflegeversicherung bestehen Bei-
tragsausfälle nur für eine Übergangszeit, da die Leistun-
gen aus der betrieblichen Altersversorgung dann in vol-
lem Umfang beitragspflichtig sein werden. Die
Einnahmeausfälle in Kranken- und Pflegeversicherung
betrugen übrigens im Jahr 2005 nur circa 2 Promille der
Gesamtbeitragseinnahmen. Aktuell würden die Kran-
ken- und die Pflegeversicherung etwas geringere Ein-
nahmen haben. Die Entgeltumwandlung bietet Potenzial
für den Auf- und Ausbau kapitalgedeckter Altersversor-
gung und führt langfristig zu einem höheren Gesamtver-
sorgungsniveau, aus welchem dann auch höhere Sozial-
versicherungsbeiträge gezahlt werden, sodass Kranken-
und Pflegeversicherung mit steigenden Einnahmen aus
den Zahlungen der Rentnerinnen und Rentner rechnen
können.
Die Abschaffung der Sozialversicherungsfreiheit der
Entgeltumwandlung würde nicht nur zu Vertragskündi-
gungen seitens der Arbeitnehmer führen, sondern auch
zu Ausweichreaktionen der Arbeitgeber. Diese werden
verstärkt von der Entgeltumwandlung auf eine zulasten
der Lohnentwicklung gehende rein arbeitgeberfinan-
zierte Altersversorgung umsteigen, die dann weiterhin
sozialversicherungsfrei bleibt. Würde diese Option ver-
stärkt genutzt, dürften sich die erwarteten Zusatzeinnah-
men für die Sozialversicherungen, die bei der Abschaffung
der Sozialversicherungsfreiheit der Entgeltumwandlung
erwartet werden, ohnehin nicht einstellen.
Der Einwand, dass sich jeder auf das Auslaufen der
Sozialversicherungsfreiheit 2008 einstellen konnte,
übersieht, was sich in der Gesetzgebung in der Zwi-
schenzeit geändert hat. Die Situation ist grundlegend da-
durch verändert worden, dass mittlerweile auf eine Be-
triebsrente volle Krankenkassen- und Pflegebeiträge
erhoben werden. Würde künftig doppelt verbeitragt wer-
den, ist die Entgeltumwandlung für den Aufbau einer
Altersvorsorge finanziell völlig uninteressant. Die Perso-
nalchefs der Betriebe wären sogar verpflichtet, dann ihre
Beschäftigten ausdrücklich auf diesen Umstand hinzu-
weisen.
Mein Fazit ist: Die von der Sozialabgabenfreiheit der
Entgeltumwandlung ausgehende Dynamik für den not-
wendigen weiteren Aufbau einer zusätzlichen Altersver-
sorgung ist evident. Die finanziellen Risiken für die So-
zialversicherungen sind beherrschbar. Daher handelt die
Große Koalition konsequent und richtig, indem die Bei-
tragsfreiheit über 2008 hinaus verlängert wird.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): In Deutschland haben
zur Zeit über 17 Millionen Beschäftigte Ansprüche auf
eine Betriebsrente. Von diesen 17 Millionen sind rund
9 Millionen Menschen aktive „Entgeltumwandler“ und
damit direkt von dem vorliegenden Gesetzentwurf be-
troffen. Sie können schon bald erleichtert aufatmen;
denn mit der unbefristeten Verlängerung der Beitrags-
freiheit der Entgeltumwandlung bleibt diese Form der
zusätzlichen Altersvorsorge vor allem für Beschäftigte
mit kleinen und mittleren Einkommen attraktiv.
Ich bin sicher, dass sich die Gesetzesinitiative auf den
Verbreitungsgrad betrieblicher Rentenanwartschaften
unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten po-
sitiv auswirken wird. Er ist unter der rot-grünen Koali-
tion von 2001 bis Ende 2006 bereits von 52 auf 65 Pro-
zent gestiegen. Der heute in den Bundestag eingebrachte
Gesetzentwurf stellt sicher, dass die „Erfolgsgeschichte
betriebliche Altersvorsorge“ weitergeht.
Unter Rot-Grün haben wir mit der Stärkung der be-
trieblichen Altersvorsorge als zusätzlichem Standbein
neben der gesetzlichen Rente begonnen, in der Großen
Koalition führen wir dies fort. Unter Rot-Grün haben wir
ein Recht auf Entgeltumwandlung eingeführt und die
Mitnahmemöglichkeiten für Betriebsrentenanwartschaf-
ten von einem Arbeitgeber zum nächsten deutlich erwei-
tert. In der Großen Koalition haben wir den Insolvenz-
schutz der Betriebsrentenanwartschaften entscheidend
verbessert und wollen mit dem heutigen Gesetzentwurf
zwei weitere Pflöcke einschlagen: Wir verlängern ers-
tens die Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwandlung
in eine betriebliche Kasse und bestimmen zweitens, dass
zukünftig schon ab einer Altersgrenze von 25 Jahren Be-
triebsrentenansprüche unverfallbar sind, statt bisher erst
ab 30 Jahren.
Dies ist vor allem für junge Eltern wichtig. Mit dem
Vorziehen der Altersgrenze wird eine Kinderpause in
Zukunft seltener negative Auswirkungen auf den Erwerb
eines Betriebsrentenanspruches haben. Damit setzen wir
in Deutschland um, was auf EU-Ebene bisher leider
nicht möglich war. Eine entsprechende Richtlinie fand
nicht die ausreichende Zustimmung der Mitgliedstaaten.
Deutschland kann hier jetzt Vorreiter sein, genau zur
rechten Zeit, da seit dieser Woche ein überarbeiteter Vor-
schlag der EU-Kommission vorliegt.
12288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Kommen wir zurück zu Beitragsbefreiung. Wie er-
wähnt gibt es in Deutschland nach Schätzungen rund
9 Millionen aktive „Entgeltumwandler“. Sie können bis
zu 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der ge-
setzlichen Rentenversicherung, also bis zu 2 520 Euro
im Jahr, steuer- und sozialabgabenfrei in eine betriebli-
che Rentenkasse einzahlen. Rund ein Drittel von ihnen
ist seit der Einführung des Rechtes auf Entgeltumwand-
lung 2001 neu dazugekommen.
Die aktuelle Studie von TNS-Infratest aus dem Juni
dieses Jahres spricht eine deutliche Sprache: Die Attrak-
tivität der betrieblichen Altersvorsorge und ihr in den
letzten Jahren wachsender Verbreitungsgrad lag sehr
stark in der Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwand-
lung begründet. Der Bericht des Institutes verweist in
diesem Zusammenhang darauf, dass diese Dynamik sich
2006 – wohl im Hinblick auf das nahende Ende der Bei-
tragsfreiheit – stark abgeschwächt habe. So nahm die
Zahl der Anwartschaften bei den Pensionskassen von
2004 auf 2005 um rund 830 000 zu, von 2005 auf 2006
waren es hingegen nur noch rund 170 000.
Um die weitere Ausbreitung der betrieblichen Alters-
vorsorge nicht zu gefährden oder gar einen Rückgang
einzuleiten, ist es deshalb richtig, dass wir jetzt die Wei-
chen für eine unbefristete Sozialabgabenfreiheit stellen.
Und aus eben diesem Grund ist es auch nicht vertretbar,
weiter mit der Verlängerung der Sozialabgabenfreiheit
zu warten, wie es etwa die Grünen in ihrem Antrag zur
heutigen Debatte fordern. Die Beschäftigten brauchen
Planungssicherheit, und zwar so schnell wie möglich.
Neben der Steuer- und Beitragsfreiheit sprechen wei-
tere Vorteile für eine starke Förderung der betrieblichen
Altersvorsorge: Sie ist eine einfache Form der zusätzli-
chen Vorsorge, da die Arbeitgeber alle Formalitäten ab-
nehmen. Sie ist finanziell attraktiv, da durch Gruppen-
verträge eine Senkung der Verwaltungskosten erreicht
wird und sich Arbeitgeber oft mit zusätzlichen Beiträgen
beteiligen.
Es gibt also viele gute Gründe, diese Förderung der
betrieblichen Altersvorsorge über 2008 hinaus aufrecht-
zuerhalten. Trotzdem wurde auch Kritik laut. Sie wird
zum Beispiel vom Sozialverband Deutschland daran
festgemacht, dass eine Befreiung von den Sozialabgaben
die gesetzlichen Sozialkassen rund 2 Milliarden Euro
pro Jahr kosten würde.
Dies ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Außerdem
sind die Vorteile, die aus einer weiteren Förderung der
betrieblichen Altersvorsorge entstehen, größer als die
von den Kritikern aufgeführten Nachteile. Es ist nur die
halbe Wahrheit, weil bereits heute Sozialabgaben gezahlt
werden. Nicht in der Einzahlungsphase, aber in dem Au-
genblick, in dem die Betriebsrente ausgezahlt wird. Seit
2004 bzw. 2005 werden hier die vollen Beitragssätze in
die Kranken- und Pflegeversicherung fällig.
Anders sieht es bei den Beiträge in Arbeitslosen- und
Rentenkasse aus. Hier gibt es tatsächlich Ausfälle. Dabei
ist jedoch zu berücksichtigen: Weniger Beiträge ziehen
weniger Ansprüche nach sich. In Bezug auf die Renten-
versicherung bedeutet dies, dass derjenige, der seine
Beiträge statt in die gesetzliche in eine betriebliche Al-
tersvorsorge investiert, natürlich auch entsprechend we-
niger Ansprüche an die gesetzliche Rente im Alter er-
wirbt. Das bedeutet, dass die gesetzliche Kasse zu einem
späteren Zeitpunkt entlastet wird. Genau genommen
müssten also die heute fehlenden Einnahmen der Ren-
tenkasse gegengerechnet werden mit den nicht in An-
spruch genommenen Rentenansprüchen in der Auszah-
lungsphase.
Abgesehen von diesen Fakten sind die vom Sozial-
verband befürchteten Fehlbeträge für die gesetzlichen
Sozialkassen strittig. Denn niemand weiß, wie sich die
Beschäftigten, die heute Entgeltumwandlung betreiben,
bei einem Wegfall der Beitragsfreiheit verhalten würden.
Eines ist sicher: Bei einer Verteuerung dieser Anlage-
form um 21 Prozent werden sich sehr viele der Betroffe-
nen um Alternativen bemühen. Möglicherweise stellen
sie ihre Verträge auf rein arbeitgeberfinanzierte Betriebs-
renten um, die ja weiterhin abgabenfrei bleiben, oder sie
wechseln in eine private Altersvorsorge. Schlimmsten-
falls verzichten sie ganz und gar auf eine zusätzliche
Vorsorge. Die von Kritikern genannten jährlichen 2 Mil-
liarden Euro Ausfälle für die Sozialkassen sind also mit
großer Skepsis zu betrachten.
Problematisch bleibt allerdings, dass das Gesamtrenten-
niveau durch die Beitragsausfälle sinkt. Bei denjenigen,
die in Form einer betrieblichen Altersvorsorge sparen,
wird dieser Verlust allerdings mehr als ausgeglichen. Für
diejenigen, die keine betriebliche Altersvorsorge anspa-
ren können, müssen zum einen andere ergänzende Ange-
bote, wie zum Beispiel der „Grund-Riester“, weiter aus-
gebaut werden. Dies gilt insbesondere für niedrig
verdienende Selbstständige. Auch der Ausbau der Bei-
tragsgrundlage der gesetzlichen Rentenkasse ist zu dis-
kutieren. Hier – und da gebe ich den Grünen recht –
müssen weitere Maßnahmen folgen, die unsere Gesell-
schaft nachhaltig vor Altersarmut schützen.
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
spielt bei der Befürwortung der Beitragsfreiheit ein Fak-
tor eine ganz entscheidende Rolle: Von der Sozialabga-
benfreiheit profitieren besonders Beschäftigte mit klei-
nen und mittleren Einkommen. Ihnen nützt eine
Befreiung von der Steuer in der Regel wenig, da sie ja
keine oder aber nur sehr geringe Steuern zahlen. Die So-
zialabgabenfreiheit bringt ihnen hingegen einen Vorteil
von 21 Prozent.
Auch die Gewerkschaften begrüßen deshalb in selte-
ner Einigkeit mit den Arbeitgeberverbänden den vorlie-
genden Gesetzentwurf. Der Deutsche Gewerkschafts-
bund betont, dass durch das von Rot-Grün eingeführte
Recht auf Entgeltumwandlung eine immer stärkere Co-
Finanzierung von Betriebsrentenansprüchen durch
Arbeitgeber stattfindet. In einem Arbeitspapier des
DGB-Bundesvorstandes heißt es: „So konnten in Berei-
chen wie zum Beispiel dem Einzelhandel, wo bislang
betriebliche Altersversorgung bestenfalls für wenige
Führungskräfte vorgesehen war, inzwischen auch die
‚Normalarbeitnehmer‘ Anspruch auf vom Arbeitgeber
mitfinanzierte betriebliche Altersversorgung haben.“
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12289
(A) (C)
(B) (D)
In einem gemeinsamen Statement der Gewerkschaft
Nahrung-Genuss-Gaststätten und der Arbeitgeberverei-
nigung Nahrung und Genuss e. V. wird die beitragsfreie
Entgeltumwandlung als „wesentlicher Bestandteil für
die Attraktivität der betrieblichen Altersvorsorge vor al-
len Dingen für Arbeitnehmer mit kleineren Einkommen“
gewürdigt. Rund 60 Prozent der Beschäftigten im Ernäh-
rungsgewerbe hätten deshalb heute eine betriebliche Al-
tersvorsorge.
Ich fasse zusammen: Mit dem Recht auf Entgeltum-
wandlung hat die rot-grüne Bundesregierung die betrieb-
liche Altersvorsorge aus der Nische geholt und für die
breite Arbeitnehmerschaft attraktiv gemacht. Heute sind
bereits zwei Drittel aller sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten Anwärter auf eine betriebliche Altersvor-
sorge. Wir wollen, dass es noch mehr werden. Deshalb
verlängern wir die Sozialabgabenfreiheit und sorgen da-
für, dass die Einzahlung in eine Betriebsrente auch nach
2008 attraktiv bleibt.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Erstens. „Besser spät
als nie!“ Die Fähigkeit, Falsches zu korrigieren, ist der
Großen Koalition anscheinend noch nicht vollkommen
abhanden gekommen. Dazu gratuliere ich den Koali-
tionsparteien! Noch im Frühjahr beharrte die Regierung
darauf, die Betriebsrentenförderung auslaufen zu lassen.
Nun, nach nicht einmal einem halben Jahr, hat sie die
180-Grad-Wendung vollzogen.
Weil die Regierung damit auf eine seit langem von
der FDP erhobene Forderung eingegangen ist, freue ich
mich, für die FDP-Bundestagsfraktion sagen zu können:
Wir unterstützen den hier in erster Lesung vorliegenden
Gesetzentwurf nachdrücklich.
Die betriebliche Altersvorsorge muss weiter ausge-
baut werden, weil sie bei sinkendem Leistungsniveau
der gesetzlichen Rente in unserer alternden Gesellschaft
eine zentrale Rolle für die Lebensstandardsicherung im
Alter hat. Die abgabenfreie Entgeltumwandlung ist das
erfolgreichste und am besten angenommene Instrument
der betrieblichen Altersvorsorge. Dies wurde seinerzeit
auch vom Sozialbeirat so gesehen, der daher in seinem
Gutachten zu Recht explizit gefordert hatte, dass die ab-
gabenfreie Entgeltumwandlung nicht 2008 auslaufen
darf.
Auch der zweite Kernpunkt des Gesetzentwurfes, das
Unverfallbarkeitsalter von 30 Jahren auf 25 Jahre abzu-
senken, wird von uns unterstützt, weil diese Änderung
gerade jungen Frauen und jungen Familien zugute-
kommt. Viele arbeitgeberfinanzierte Rentenanwartschaf-
ten gehen derzeit noch verloren, weil junge Frauen we-
gen der Kindererziehung vor dem 30. Lebensjahr aus
dem Unternehmen ausscheiden und damit ihre Anwart-
schaften verlieren.
Zweitens. Was muss darüber hinaus geschehen? Wir
müssen den Menschen, insbesondere der doppelt belas-
teten Sandwichgeneration, den Spielraum verschaffen,
zusätzlich eine private und betriebliche Vorsorge aufzu-
bauen. Und die betriebliche Altersvorsorge sollte über
die Opting-out-Klausel zur Regel werden. Wir fordern
darüber hinaus, dass die staatliche Förderung der Alters-
vorsorge für alle Bürger – und nicht nur für Beamte und
Pflichtversicherte – gewährt wird.
Die bisherige Obergrenze der abgabefreien Entgelt-
umwandlung in Höhe von 4 Prozent wird von der FDP
als grundsätzlich ausreichend erachtet. Wünschenswert
wäre darüber hinaus aber eine flexiblere Lösung für die
abgabefreie Umwandlung auch von Gewinnbeteiligun-
gen von Arbeitnehmern. Gerade weil Gewinnbeteiligun-
gen unregelmäßiges Einkommen sind, sind sie – anders
als das laufende Einkommen – nicht für laufende Kosten
verplant, sondern bieten echten Spielraum für zusätzli-
che Altersvorsorge. Allerdings müsste für diesen Fall die
bislang geltende Obergrenze von 4 Prozent des Brutto-
lohns aufgehoben werden, da Gewinnbeteiligungen we-
gen des unregelmäßigen Anfalls mit einer konstanten
Obergrenze nur schwer vereinbar sind. Deshalb möchten
wir die Möglichkeit einräumen, in Jahren, in denen Ge-
winnbeteiligungen zusätzlich genutzt werden sollen, von
der 4-Prozent-Grenze abzuweichen.
Drittens. Die FDP lehnt den Antrag der Grünen ab,
und zwar aus folgenden Gründen:
Erstens. Der Gesetzgeber muss jetzt deutlich machen,
dass er die abgabenfreie Entgeltumwandlung auf Dauer
fortführen will. Eine erneute zeitliche Begrenzung bringt
neue Unsicherheiten mit sich, und diese Unsicherheiten
machen das Instrument der Entgeltumwandlung un-
attraktiv und verhindern eine weitere Ausbreitung der
betrieblichen Altersvorsorge. Denn wenn in Zukunft
– nach Ablauf einer neuen Befristung – die Beiträge der
Entgeltumwandlung doch wieder aus verbeitragtem Ein-
kommen gezahlt werden müssten, dann zahlen die Ent-
geltumwandler wieder doppelte Krankenversicherungs-
beiträge, und zwar zunächst in der Beitragsphase und
danach in der Auszahlungsphase.
Zweitens. Natürlich gibt es keinen vernünftigen
Grund, warum nicht die Verbreitung der betrieblichen
Altersvorsorge untersucht und auch nach Möglichkeiten
gesucht werden soll, sie für Geringverdiener attraktiv zu
gestalten. Aus unserer Sicht ist es besonders wichtig, die
großen Vorteile, die die betriebliche Vorsorge den Versi-
cherten durch die Abgabenfreiheit bietet, noch besser als
bisher deutlich zu machen.
Die FDP-Bundestagfraktion beobachtet im Übrigen
sehr genau, ob die bestehenden Instrumente zur Förde-
rung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge für
Geringverdiener ausreichend attraktiv sind. Wir haben
dazu gerade erst eine Kleine Anfrage an die Bundesre-
gierung gestellt.
Drittens. Was die Wirkungen der Abgabenfreiheit auf
die gesetzliche Rentenversicherung angeht, gilt, dass
durch die Inanspruchnahme der Entgeltumwandlung in
den nächsten Jahren weniger gesetzliche Rentenanwart-
schaften aufgebaut werden. Wenn die gesetzliche Ren-
tenversicherung dann um das Jahr 2030 in der stärksten
demografischen Belastungsphase ist, wirken sich die re-
duzierten Anwartschaften der Versicherten, die Entgelt-
umwandlung betrieben haben, grundsätzlich entlastend
auf die Rentenversicherung aus.
12290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Umgekehrt gilt: Wer keine abgabenfreie Entgeltum-
wandlung betreibt, der baut auch weiterhin seine vollen
gesetzlichen Anwartschaften auf. Daher stimmt das Ar-
gument so pauschal nicht, dass unter der abgabenfreien
Entgeltumwandlung sich die Anwartschaften aller Ver-
sicherten gleichermaßen reduzieren. Zwar wird die Ent-
wicklung des Rentenwerts in bestimmtem Umfang ge-
bremst. Dies aber führt zu einer Entlastung der
Beitragszahler, die gerade in den Jahren ab 2030 sehr
wichtig sein wird, wenn eine Beitragshöhe von 22 Pro-
zent Realität werden könnte.
Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): In
dem im März 2006 von der Bundesregierung vorgeleg-
ten Alterssicherungsbericht habe ich zur Frage der wei-
teren Förderung der Sozialabgabenfreiheit der Entgelt-
umwandlung auf Seite 208 eine interessante Passage
gefunden. Darin stellt die Bundesregierung zur sozialab-
gabenfreien Entgeltumwandlung Folgendes fest:
Bei gleich bleibender Dynamik wie in den letzten
Jahren dürfte die Zahl der „Entgeltumwandler“ bis
2008 noch erheblich anwachsen. Bei einer unbefris-
teten Beitragsfreistellung käme es folglich zu einer
deutlichen Erosion auf der Einnahmeseite der So-
zialversicherung mit Druck auf die Beitragssätze.
Es ist aber ausdrückliches Ziel der Bundesregie-
rung, die Lohnnebenkosten möglichst zu senken.
Außerdem ist zu bedenken, dass eine dauerhafte
Förderung in der Sozialversicherung zu ungerech-
ten Verteilungseffekten führt: Die aufgrund der Ent-
geltumwandlung in der Rentenversicherung fehlen-
den Beiträge führen dazu, dass die Renten auch
derjenigen Versicherten niedriger ausfallen, die
während ihres Erwerbslebens keine Entgeltum-
wandlung betrieben haben (z. B. Geringverdiener)
bzw. keine Entgeltumwandlung betreiben konnten
(Rentner).
Dem wäre fast nichts mehr hinzuzufügen, zumal auch
der Bundesarbeitsminister noch am 20. März dieses Jah-
res gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
großspurig erklärte:
Wir verhalten uns gesetzestreu, denn wir haben bei
der Rentenreform 2001 angekündigt, dass im De-
zember 2008 die Sozialabgabenfreiheit für die Ein-
zahlung per Entgeltumwandlung enden wird.
Und weiter:
Voraussetzung dafür sei, dass die neue Regelung
nicht zu Lasten der Sozialkassen gehe.
Nun ist Herr Müntefering für plötzliche Sinneswandel
leider nicht gerade unbekannt. Insbesondere an Monta-
gen – ich erinnere mich da an die Vorziehung der Rente
mit 67 um sechs Jahre – überrascht er auch schon mal
die eigenen Fachpolitiker mit neuen und nicht abgespro-
chenen Einfällen. Da frage ich mich, ob ihm solche
Ideen bevorzugt sonntags in der Badewanne einfallen.
Jedenfalls diktierte er nur drei Monate später, am
25. Juni, einem Journalisten des Handelsblatts in den
Notizblock:
Ich habe die Bedingungen für die Förderung gründ-
lich geprüft. Ich meine, wir sollten uns für sie ent-
scheiden.
Gründlich geprüft? Wirklich? Da muss man gar nicht
Mathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland, um
zu wissen: Kann nicht hinhauen; um Herrn Münteferings
eigene Worte mal aufzugreifen. Die unbefristete Förde-
rung der betrieblichen Altersvorsorge kann nun wirklich
nicht hinhauen, nicht für die Rentenversicherung, nicht
für die Arbeitslosenversicherung, nicht für die Pflege-
versicherung, nicht für die Krankenversicherung und
schon gar nicht für die Versicherten und Rentnerinnen
und Rentner in unserem Land.
Da wundert es auch nicht, dass im Alterssicherungs-
bericht ebenfalls zu lesen ist, dass rund 53 Prozent der
Befragten auf die Frage, warum sie noch keine betriebli-
che Altersvorsorge abgeschlossen haben, angeben, dass
sie dem Staat oder der Regierung nicht trauen, weil sich
die Gesetze so oft ändern. Und ich kann nur sagen: Zu
Recht. Zwar wird gerade die Entfristung, also die Ände-
rung der Gesetzesgrundlage, gelobt, weil hierdurch nun
Verlässlichkeit geschaffen werde, doch in Hinblick auf
die gesetzliche Rentenversicherung sind derartige Forde-
rungen nach Verlässlichkeit nicht zu hören. Dort werden
tiefgreifende Änderungen beschlossen, die nun das Ar-
gument für sogenannte kompensierende Maßnahmen lie-
fern.
Aber gerade das Argument der kompensierenden
Maßnahmen ist bei der sozialabgabenfreien Entgeltum-
wandlung nicht aufrechtzuerhalten; denn die sozialabga-
benfreie Entgeltumwandlung führt bei allen Versicherten
zu einer zusätzlichen Versorgungslücke im Alter, also
auch bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
die Entgeltumwandlung im Rahmen der betrieblichen
Altersvorsorge betreiben. In ihrer Studie zur Ver-
teilungswirkung der Entgeltumwandlung stellt die Ren-
tenversicherung zu Recht fest, dass gerade bei Frauen
die Beitragsfreiheit schon bei Verträgen ab dem 30. Le-
bensjahr zu niedrigeren Alterseinkünften führen. Und:
Wer älter als 40 Jahre ist, muss sich ebenfalls auf gerin-
gere Einkünfte im Alter einstellen. Von einem sogenann-
ten Nullsummenspiel, wie von der Bundesregierung
gerne behauptet wird, kann also keine Rede sein.
Gleichzeitig schmälert die Entgeltumwandlung nicht
nur die ohnehin kläglichen Rentenanpassungen der heu-
tigen Rentnerinnen und Rentner, sondern auch die der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich auf den
Betriebsrentenkuhhandel einlassen. Niedrigere Ren-
tenanpassungen und ein geringeres Rentenenniveau,
treffen aber vor allem, Erwerbslose, Selbstständige oder
Geringverdiener, die ohnehin rechtlich und faktisch von
der sozialabgabenfreien Entgeltumwandlung keinen Ge-
brauch machen können bzw. dürfen. Damit verschärfen
sie nicht nur die Einkommensungleichheit im Alter, weil
gerade diejenigen mit vergleichsweise hohen Ansprü-
chen aus der GVR aufgrund ihres höheren Einkommens
auch die Entgeltumwandlung stärker nutzen, sie beför-
dern auch noch zugunsten eines kleinen Teils von Privi-
legierten bewusst das Risiko steigender Altersarmut von
Millionen von Menschen. Selbst der Kollege Brauksiepe
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12291
(A) (C)
(B) (D)
von der CDU hat bei der Sozialabgabenfreiheit seine Be-
denken angemeldet. So war im Tagesspiegel vom 2. Juli
2007 zu lesen:
Die Tatsache, dass eine Förderung zugleich das all-
gemeine Rentenniveau der kommenden Jahre senkt,
ist ein gewichtiges Gegenargument
Und weiter:
Je stärker wir die betriebliche Vorsorge fördern,
desto geringer wird auf der anderen Seite das ge-
setzliche Rentenniveau ausfallen, und umgekehrt.
Da liegt der Kollege Brauksiepe ausnahmsweise voll-
kommen richtig. Wenn Sie hier also der Attraktivität der
betrieblichen Altersvorsorge das Wort reden, können Sie
eigentlich nur die Attraktivität für die Versicherungs-
wirtschaft meinen, die mit Vertragsabschlüssen für Be-
triebsrenten gutes Geld verdient, oder Sie können für die
Arbeitgeber sprechen, denen Sie auf Kosten der Solidar-
gemeinschaft den Beitrag zur Rentenversicherung nied-
rig halten. Damit aber nicht genug. Viel perfider ist die
eigentliche Strategie, die hinter der Verlängerung der so-
zialabgabenfreien Entgeltumwandlung steckt: Die Höhe
der Beitragsausfälle führt nicht nur in der Rentenversi-
cherung zu Beitragsausfällen, sondern auch, wie Sie im
Alterssicherungsbericht richtig festgestellt haben, in al-
len anderen sozialen Sicherungssystemen zu weiteren
Belastungen und somit zu höheren Beitragssätzen.
Die Bundesregierung selbst spricht in ihrem Ge-
setzesentwurf von Beitragsausfällen von bisher 2,2 bis
2,4 Milliarden Euro für die Sozialkassen. Allein hiervon
entfallen 1,2 Milliarden Euro auf die gesetzliche Renten-
versicherung, welche die Sozialabgabenfreiheit bei der
betrieblichen Altersvorsorge in den letzten Jahren verur-
sacht hat. Zudem gehen Sie, ohne dabei rot zu werden,
von einem jährlichen Zuwachs der Beitragsausfälle in
Höhe von 200 Millionen Euro aus. Sind Sie nicht mit
dem Ziel angetreten, die sogenannten Lohnnebenkosten
zu senken? Ein Blick in ihren Koalitionsvertrag sollte da
genügen.
Die für die Kranken- und Pflegeversicherung verant-
wortliche Ministerin, Kollegin Ulla Schmidt, hat ja be-
reits zusätzliche Steuermittel als Kompensation für die
Beitragsausfälle eingefordert. Die Haushälter der Koali-
tion werden es mit Schrecken vernommen haben.
Der Bremer Ökonom und ehemalige Vorsitzende des
Sozialbeirats der Bundesregierung, Winfried Schmähl,
kommt in seiner Studie deshalb zum Ergebnis, dass die
Entgeltumwandlung zu beitragssatzsteigernden Effek-
ten von 0,4 bis 0,8 Prozentpunkten führt. Damit verju-
beln Sie eben mal so die 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte Ein-
sparung, die Ihnen gereicht haben, um gegen alle
Widerstände aus der Bevölkerung die Rente mit 67
durchzusetzen.
Das Fazit Ihres Gesetzentwurfs ist aus unserer Sicht,
dass die Weiterführung der beitragsfreien Entgeltum-
wandlung über das Jahr 2008 hinaus aus sozialpoliti-
schen und systematischen Gründen falsch und in keiner
Weise zu rechtfertigen ist. Die sozialabgabenfreie Ent-
geltumwandlung führt zu steigenden Beitragssätzen in
der gesetzlichen Rentenversicherung, zu finanziellen
Mehrbelastungen in der Arbeitslosen-, Kranken- und
Pflegeversicherung, zu geringeren Rentenleistungen für
alle Versicherten, benachteiligt Geringverdiener – und
hier insbesondere Frauen und Erwerbslose. Gerade die
Fachpolitiker der Großen Koalition wissen dies natürlich
allzu gut. Beweisen Sie deshalb einmal Rückrat und fol-
gen Sie Ihrem Fachwissen, statt zähneknirschend von
oben nach unten durchgestellte Konzepte abzusegnen.
Die Legislative sitzt in diesem Haus. Nehmen Sie die
Gewaltenteilung einmal ernst.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜ-
NEN): 2002 wurde, zeitlich befristet bis 2008, die Möglich-
keit einer sozialabgabenfreien Gehaltsumwandlung einge-
führt. Damit sollten vorübergehende Anreize für eine
Ausweitung der betrieblichen Altersvorsorge geschaffen
werden. Versicherte und Betriebe sollten sich in dieser Zeit
darauf einstellen könnten, dass mehr Eigenverantwortung
zur Erreichung eines auskömmlichen Alterseinkommens
erforderlich ist. Am 20. März wurde Bundesminister Franz
Müntefering im Handelsblatt mit der Bemerkung zitiert:
Um die Entgeltumwandlung zur betrieblichen Al-
tersvorsorge auch nach dem Auslaufen der Abga-
benfreiheit attraktiv zu halten, könne man über ein
„Äquivalent“ reden, das aber nicht zulasten der So-
zialversicherungen gehen dürfe.
Weitere Überlegungen, wie bestimmte Versicherten-
gruppen wie Familien mit Kindern gezielter gefördert
werden könnten, fanden auch unsere Unterstützung. Nur
ein Vierteljahr später war das alles Schnee von gestern.
Ohne eine wirklich substanzielle Begründung verkün-
dete Minister Müntefering, dass die beitragsfreie Ent-
geltumwandlung unbefristet fortgesetzt werden soll frei
nach dem Motto „Was kümmert mich mein dummes Ge-
schwätz von gestern.“
Was war geschehen? Einfach ausgedrückt: Die Koali-
tion und das Arbeitsministerium sind vor der geballten
Macht der Lobbyisten aus Arbeitgeberverbänden, der
Mehrheit des DGB und der Versicherungswirtschaft ein-
geknickt.
Die Ausweitung der Betriebsrenten wurde öffentlich
als Erfolgsmodell verkauft. Tatsächlich sind die Erfolge
der beitragsfreien Gehaltsumwandlung mit zusätzlich
rund 2,5 Millionen Verträgen seit Anfang 2002 eher mä-
ßig. Denn schließlich haben sowohl Arbeitgeber als auch
Beschäftigte Vorteile, wenn sie einen Teil ihres Gehaltes
sozialabgabenfrei umwandeln und damit eine betriebli-
che Altersvorsorge aufbauen können. Die Kehrseite der
Medaille sind regelmäßige Einnahmeverluste der Sozial-
kassen. 2006 wurden dadurch den Sozialversicherungen
Einnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro entzogen.
Experten gehen von Beitragsausfällen in 2030 von 5 bis
20 Milliarden Euro jährlich aus. Die Bundesregierung
macht Geschenke an Kernbelegschaften, die sie aber
nicht aus ihrer eigenen Tasche bezahlt, sondern zulasten
der Sozialversicherten.
Die Senkung des Rentenniveaus infolge der unbefris-
teten Entgeltumwandlung hat die Bundesregierung ge-
12292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
flissentlich ignoriert. Es wird interessant sein, wie sie die
dauerhafte Senkung des gesetzlich vorgeschriebenen Ni-
veausicherungsziels im nächsten Rentenversicherungs-
bericht mit Maßnahmevorschlägen ausgleichen wird.
Bevor Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundes-
regierung zustimmen, frage ich die Abgeordneten aus
den Koalitionsfraktionen: Mit welchen Maßnahmen
wird diese Regierung das sinkende Rentenniveau von
Geringverdienenden und Menschen mit unsteten Er-
werbsverläufen ausgleichen? Diese Gruppen sind die
Verlierer Ihrer Geschenke an Kernbelegschaften. Zu den
Verliererinnen zählen explizit auch Frauen.
Ich fasse zusammen: Der Sinneswandel der Bundes-
regierung ist weder nachvollziehbar noch durch detail-
lierte Analyse zur Alterssicherung für die verschiedenen
Einkommensgruppen begründet. Sie ignoriert nach wie
vor die Gefahr von Altersarmut einzelner Bevölkerungs-
gruppen. Das steigende Altersarmutsrisiko von Gering-
verdienenden und von Menschen mit Lücken in der Er-
werbsbiografie wird vernachlässigt, trotz qualifizierter
Hinweise der OECD und des Instituts für Arbeitsmarkt
und Beschäftigungspolitik. Die steigenden Steuereinnah-
men werden nicht dazu genutzt, um hier gezielt Korrek-
turen vorzunehmen.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Koali-
tion, Verbesserungen für die betriebliche Altersvorsorge
erreichen wollen, müssen Sie zuerst die Rahmenbedin-
gungen verbessern.
Bündnis 90/Die Grünen wird dieser sozial unausge-
wogenen Maßnahme nicht zustimmen, die Frauen,
Langzeitarbeitslose und Geringverdienende belastet und
Gutverdienende, dauerhaft Beschäftigte belohnt.
Gerd Andres (Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Arbeit und Soziales): Mit dem Gesetzentwurf
zur Förderung der betrieblichen Altersversorgung
schreiben wir die Sozialabgabenfreiheit bei der Entgelt-
umwandlung über das Jahr 2008 fort, und zwar unbefris-
tet und dauerhaft. Das ist das Ergebnis einer intensiven
Prüfung. Dabei hat die Bundesregierung auch die Wech-
sel- und Folgewirkungen sorgsam abgewogen.
Neue Untersuchungen zeigen: Ende des vergangenen
Jahres verfügten 17,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer über eine Betriebsrentenanwartschaft. Das
entspricht einem Verbreitungsgrad von rund 65 Prozent
bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
Dazu kommt: Auch die dritte Säule der Altersvorsorge
wird immer stabiler. Es gibt heute schon über neun Mil-
lionen private Riester-Verträge. Das ist eine Erfolgsge-
schichte, an die vor drei, vier Jahren noch niemand ge-
glaubt hätte.
Die von uns angestrebte Flächendeckung der Zusatz-
rente ist aber – trotz der sehr positiven Zahlen – noch
nicht erreicht. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir
sichere und langfristig geltende Rahmenbedingungen.
Diese Planungssicherheit brauchen vor allem auch die
Tarifvertragsparteien. Schon in über 400 Tarifverträgen
finden sich Regelungen zur Entgeltumwandlung.
Wir haben die Argumente sorgsam abgewogen. Rich-
tig ist, dass die Beitragsfreiheit zu Einnahmeausfällen in
der Sozialversicherung führt. Richtig ist aber auch, dass
ein Ende der Beitragsfreiheit in keinem Fall zu entspre-
chenden Mehreinnahmen bei den Sozialversicherungen
führen würde. Vielmehr ist es realistisch, dass die Bei-
tragsausfälle wegen der bestehenden Ausweichmöglich-
keiten dauerhaft bestehen bleiben würden. Und wichtig
ist: Weder in der gesetzlichen Renten- noch in der Ar-
beitslosenversicherung kommt es infolge der Beitrags-
ausfälle zu einem Anstieg des Beitragssatzes. Bei der ge-
setzlichen Kranken- und Pflegeversicherung muss
berücksichtigt werden, dass die Betriebsrenten bei Aus-
zahlung der vollen Beitragspflicht unterliegen und damit
die Systeme langfristig stützen.
Bei der Abwägung haben wir selbstverständlich auch
berücksichtigt, dass die Beitragsfreiheit die Rentenan-
passung dämpft. Dieser Effekt ist aber vergleichsweise
gering. Im Verhältnis zu den mit der Entgeltumwandlung
verbundenen Vorteilen kann und muss er in Kauf ge-
nommen werden.
Noch ein zweiter Regelungsbereich des Gesetzes ist
wichtig: Die Absenkung des Unverfallbarkeitsalters bei
den Betriebsrenten von 30 auf 25 Jahre. Mit dieser Rege-
lung unterstützen wir nicht nur den frühzeitigen Aufbau
einer Zusatzrente, sondern wir geben auch ein gleichstel-
lungspolitisches Signal: Denn heute gehen viele arbeit-
geberfinanzierte Betriebsrentenanwartschaften verloren,
weil junge Frauen wegen der Kindererziehung vor dem
30. Lebensjahr aus den Unternehmen ausscheiden. Das
wollen wir künftig verhindern.
Die Altersvorsorge in Deutschland ruht auf den stabi-
len Säulen – gesetzlich, betrieblich, privat. Zur Stärkung
der betrieblichen Altersvorsorge stellt das vorliegende
Gesetz die Weichen richtig.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Bleiberecht als Menschenrecht (Ta-
gesordnungspunkt 16)
Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ich habe bei unserer
letzten Debatte im Bundestag über das Thema „Bleibe-
recht“ betont, dass die Große Koalition eine Regelung
finden wird, die Humanität und Rechtsstaatlichkeit mit-
einander verbindet, die eine Zuwanderung in die Sozial-
systeme vermeidet und die für mehr und nicht weniger
Integration sorgt.
Dies alles haben wir erreicht: Mit dem neuen Aufent-
haltsgesetz und § 104 a haben wir ein gesetzliches Blei-
berecht beschlossen, das vielen Ausländern in unserem
Land eine faire Zukunftsperspektive anbietet und das
insbesondere dafür sorgt, dass Kinder und Jugendliche,
für die Deutschland längst Heimat geworden ist, Bil-
dungschancen nutzen können.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12293
(A) (C)
(B) (D)
Dieses gesetzliche Bleiberecht ist eine richtige Fort-
entwicklung der vorläufigen Altfallregelung, die die In-
nenministerkonferenz im November 2006 getroffen hat.
Dieses gesetzliche Bleiberecht verlangt Integrations-
leistungen von den Ausländern, die sich darauf berufen
wollen, und es verlangt Achtung vor geltendem Recht.
Kurzum: Unsere Bleiberechtsregelung stellt eine ge-
rechte Abwägung zwischen den Interessen unserer aus-
ländischen Mitbürger und den Interessen unseres frei-
heitlichen Rechtsstaats dar, und wir werden als Große
Koalition uns diese Bleiberechtsregelung von der Op-
position nicht schlechtreden lassen.
Weil Grundlage dieser Debatte ein Antrag der Linken
ist, können wir auch einmal schauen, wie das Bleibe-
recht in der Praxis angewandt wird.
In Bayern sind zum Stichtag 30. Juni 2007 – wir ha-
ben bisher nur Zahlen für den IMK-Bleiberechtsbe-
schluss – von 3 000 Anträgen 1 123 positiv beschieden
worden – da gab es gleich eine Aufenthaltserlaubnis –,
und in 1 197 Fällen ist die Duldung erstmal verlängert
worden. Nur 337 Anträge – 13 Prozent – wurden abge-
lehnt. In Baden-Württemberg, in Hessen und Nieder-
sachsen ist das Bild ganz ähnlich.
In Berlin, wo die Linkspartei mitregiert, sind auch
3 000 Anträge gestellt worden. Nur in 404 Fällen gab es
eine Aufenthaltserlaubnis, aber in 420 Fällen – das sind
über 50 Prozent der bisher entschiedenen Anträge – ist
das Bleiberecht abgelehnt worden. Die anderen Anträge
sind möglicherweise mit Blick auf die gesetzliche Rege-
lung noch gar nicht bearbeitet worden.
Insgesamt haben bereits 43 000 Ausländer entweder
eine Aufenthaltserlaubnis oder zumindest eine Duldung
zur Arbeitsplatzsuche erhalten. Über die Anträge von
weiteren 25 000 Geduldeten ist bisher noch nicht ent-
schieden worden.
Die Linkspartei hat keinen Grund, irgendjemandem
außerhalb Berlins Hartherzigkeit vorzuwerfen, übrigens
schon gar nicht Bayern.
Wahr ist auch, dass die Überschrift im Antrag der
Linksfraktion falsch ist. Das Bleiberecht ist kein Men-
schenrecht. Weder in UNO-Konventionen oder der Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention werden sie ein
Recht darauf finden, dass ein Ausländer von sich aus
entscheiden dürfte, in welchem Staat er gerade leben
möchte.
Ein Bleibrecht – so haben wir es geregelt – ist nur
dann vertretbar, wenn einem Ausländer und insbeson-
dere seinen Kindern aus Gründen, die er selbst nicht zu
vertreten hat, eine Rückkehr in sein ursprüngliches Her-
kunftsland aus humanitären Gründen nicht zuzumuten
ist. Das muss der Maßstab für das Bleiberecht sein.
Genau gegen diese Grundsätze verstößt der Antrag
der Linksfraktion. Sie schreibt sogar ganz offen in ihrem
Antrag, dass ein Bleiberecht auch bei Täuschungen nicht
ausgeschlossen sein soll. Da sagen ich: dass ein Auslän-
der, der jahrelang getrickst und die Behörden getäuscht
hat, der gegen seine Mitwirkungspflichten verstoßen und
etwa die Beschaffung von Passersatzpapieren vereitelt
hat, der dadurch hohe Sozialleistungen kassiert hat, dass
solch ein Ausländer obendrein auch noch mit einem
Bleiberecht für seine Gesetzesverstöße prämiert werden
soll, das ist mit uns nicht zu machen.
Gerade bei der Bleiberechtsregelung kam es darauf
an, dass sie auch auf Akzeptanz in unserer heimischen
Bevölkerung stößt, dass sie Integrationsbereitschaft
nicht gefährdet. Deshalb war es richtig, dass wir in § 104 a
Aufenthaltsgesetz vorsehen, dass derjenige kein Bleibe-
recht erhält, der die Ausländerbehörde vorsätzlich über
aufenthaltsrelevante Umstände getäuscht oder die Auf-
enthaltsbeendigung vorsätzlich behindert hat.
Ich finde auch, dass wir die Mitarbeiter der Auslän-
derbehörden nicht demotivieren dürfen. Sie versuchen
unter schwierigen Bedingungen, im Interesse unseres
freiheitlichen Rechtsstaats Abschiebungen durchzuset-
zen. Ihnen würden wir als Gesetzgeber in den Rücken
fallen, wenn wir denjenigen ein Bleiberecht geben wür-
den, die diese Beamten der Ausländerbehörden manch-
mal jahrelang zum Narren gehalten haben. Was die
Linksfraktion da will, ist völlig unvertretbar.
Das gilt auch noch für einen anderen Punkt: Sie will
das Bleiberecht, das ihr vorschwebt, auch nicht von Inte-
grationsleistungen abhängig machen. Sie verzichtet auf
Deutschkenntnisse, sie verzichtet auf den Nachweis ei-
nes Arbeitsplatzes und sie verzichtet darauf, dass Aus-
länder ihre Kinder auf eine Schule schicken. Damit ze-
mentiert sie Parallelgesellschaften. Damit verhindert sie
ein Miteinander von Deutschen und Ausländern. Damit
vereitelt sie Integration. Damit dient sie niemandem: we-
der den Deutschen noch den Ausländern.
Aber es geht ihr in Wahrheit auch nicht um Bleibe-
recht und Integration. Das zeigt sich daran, dass sie
keine Altfallregelung mit einem festen Stichtag will,
sondern eine permanente, ungesteuerte Zuwanderung
durch Täuschen und Tricksen. Darauf läuft das hinaus,
was sie hier vorschlägt: Sie weiß ganz genau, dass
Schlepper und Schleuser darauf sofort reagieren, dass
diese jede gesetzliche Neuregelung ausnutzen, die eine
ungesteuerte Zuwanderung ermöglicht. Das ist doch die
Erfahrung, die in Spanien und Italien nach den Legali-
sierungskampagnen gemacht wurde. Ihr Antrag ist eine
Einladung, eine Begünstigung für Schlepper und Schleu-
ser. Ihr geht es nicht um Bleiberecht, ihr geht es um un-
gesteuerte Zuwanderung. Das lehnen wir nicht nur ab,
sondern die Intentionen, die hinter ihrem Antrag stehen,
verurteilen wir.
Rüdiger Veit (SPD): Der Antrag der Fraktion Die
Linke stammt vom 18. Dezember des letzten Jahres und
damit aus einer Zeit, als die Koalitionsfraktionen inten-
siv über die Frage einer gesetzlichen Bleiberechtsrege-
lung verhandelt haben. Diese haben wir dann in Gestalt
der § 104 a und 104 b des Aufenthaltsgesetzes in der
Bundestagssitzung am 26. April 2007 verabschiedet. Ich
kann mich zur Bewertung weitgehend auf meinen dama-
ligen Redebeitrag beziehen, den ich wie folgt noch ein-
mal zusammenfasse:
12294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dass es überhaupt zu einer gesetzlichen Bleiberechts-
regelung gekommen ist, ist meines Erachtens schon für
sich betrachtet ein großer Fortschritt. Denn wir sind da-
mit nicht mehr allein abhängig vom Einvernehmen sämt-
licher Innenminister der Länder, die in der Vergangen-
heit mit ihren Konferenzen mehr oder eher weniger
wirksame Bleiberechtsregelungen beschlossen haben –
zuletzt in der Sitzung am 17. November 2006, auf die ja
auch der Antrag der Fraktion Die Linke Bezug nimmt.
Mit dieser gesetzlichen Regelung haben wir vor allem
auch den bisherigen Teufelskreis für Geduldete durch-
brochen. Denn früher hieß es: „Hast du keine Arbeit, be-
kommst du keine Aufenthaltserlaubnis, hast du keine
Aufenthaltserlaubnis, darfst du gar nicht erst arbeiten.“
Nach diesen Vorschriften kann bisher lediglich gedulde-
ten ausländischen Mitbürgern eine Aufenthaltserlaubnis
auch dann erteilt werden, wenn sie in der Zeit bis zum
31. Dezember des Jahres 2009 ihren Lebensunterhalt
– jedenfalls überwiegend – durch eigene Erwerbstätig-
keit sicherstellen können. Vor allem in diesem Punkt
geht die beschlossene gesetzliche Regelung deutlich
weiter als die bisherigen Beschlüsse der Innenminister-
konferenzen.
Ich will aber auch bei dieser Gelegenheit nicht ver-
hehlen, dass ich mir durchaus eine noch großzügigere
Bleiberechtsregelung hätte vorstellen können. Dies gilt
vor allem für die meines Erachtens zu langen Mindest-
aufenthaltszeiten von acht für Einzelpersonen bzw. sechs
Jahren bei Familien, dies gilt für die zu niedrig gewählte
Grenze beim Ausschlusskriterium der Strafbarkeit (50
bzw. 90 Tagessätze), dies gilt für den Regelausschluss
aller Familienmitglieder, wenn nur ein Familienmitglied
solche Straftaten begangen hat. Dies gilt vor allem auch
für die viel zu lange Mindestaufenthaltsdauer von sechs
Jahren für Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern min-
derjährig nach Deutschland eingereist sind.
Was uns mit diesem Gesetz leider auch nicht gelungen
ist, ist die generelle Abschaffung der sogenannten Ketten-
duldungen beispielsweise durch eine entsprechende
Neufassung des § 25 Abs. 4 und Abs. 5 AufenthG.
Sie sehen also – dies gilt auch und gerade für die
Fraktion der Antragsteller –, bei den von Ihnen ange-
sprochenen Problemen sind wir als Sozialdemokraten
durchaus sensibel und hätten selbst gerne mehr erreicht.
Mehr war nun allerdings mit unserem derzeitigen Ko-
alitionspartner – leider – nicht möglich.
Aber ich will selbstkritisch auch einmal daran erin-
nern, dass wir das, was uns jetzt mit den Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU und mit Innenminister
Schäuble gelungen ist, in der früheren rot-grünen Koali-
tion nicht zustande gebracht haben.
Nunmehr gilt es abzuwarten, wie sich dieses Gesetz,
das ja erst seit dem 27. August dieses Jahres in Kraft ist,
in der Praxis bewährt. Die dazugehörigen vorläufigen
Anwendungshinweise des Bundesministeriums des In-
neren liegen gerade erst vor.
Nach den letzten mir zugänglichen Zahlen per
30. Juni 2007 haben durch die Bleiberechtsregelung der
Innenministerkonferenz vom 17. November 2006 knapp
15 000 Menschen eine Aufenthaltserlaubnis und rund
28 000 eine Duldung zum Zwecke der Arbeitsaufnahme
erhalten.
Ich hoffe sehr, dass es gelingt, mit der weitergehenden
gesetzlichen Regelung noch wesentlich mehr von unse-
ren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern – und
vor allem den Kindern und Jugendlichen – eine dauer-
hafte Perspektive durch einen gesicherten Aufenthalt in
Deutschland zu bieten.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Umsetzung
aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäi-
schen Union durch die Bundesregierung und der Kom-
promiss der Innenministerkonferenz zum Bleiberecht ist
in vielerlei Hinsicht problematisch. Die Zuwanderung
insgesamt bedarf der Erörterung. Ein umfassendes Kon-
zept zur Zuwanderungssteuerung fehlt nach wie vor.
Allerdings hilft es nicht weiter, wenn die Fraktion Die
Linke nun fordert, auf jegliche Zuwanderungssteuerung
zu verzichten. Die Linke lehnt in ihrem vorliegenden
Antrag Sprachkenntnisse als Einreisebedingung ab. Sie
verlangt, dass die Täuschung deutscher Behörden über
die persönliche Identität den Betreffenden nicht vorge-
worfen werden darf. Die Linke spricht sich dafür aus,
dass durch Migration und Integration entstehende Kos-
ten für die Gesellschaft nicht mehr thematisiert werden
sollen. Ein Arbeitsplatz soll keine Voraussetzung für die
Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung sein. Die Linke
möchte, dass über „Zuwanderung in Sozialsysteme“
nicht einmal mehr gesprochen werden darf.
Die Linke erweist damit den Bemühungen um Aus-
länderintegration einen Bärendienst. Nachdrücklicher
als durch diesen Antrag können ausländerfeindliche Vor-
urteile kaum bekräftigt werden. Der Antrag würde an je-
dem Stammtisch zu der Parole führen: Das haben wir ja
schon immer gewusst. Wer im Kontext mit dem deut-
schen Ausländerrecht wiederholt von „Entrechtung“
spricht, muss sich vorwerfen lassen, die deutsche
Rechtsordnung systematisch zu diffamieren. Das passt
sehr gut zur Alt-Stasi-Partei „Linke“.
Die Linke tut so, als müsse nur der Zugang zu den
Geldquellen des deutschen Sozialsystems geöffnet wer-
den, dann wären alle Probleme gelöst. Ein solches Men-
schenbild ist nicht einmal im 19. Jahrhundert aktuell ge-
wesen.
Aus Sicht der FDP ist Arbeit viel mehr als nur die
Notwendigkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu verdie-
nen. Arbeit ist ein entscheidender Integrationsfaktor. Sie
ermöglicht den Zuwanderern, finanziell auf eigenen Bei-
nen zu stehen, fördert so das Selbstwertgefühl nicht nur
des Berufstätigen, sondern auch der Familienangehöri-
gen. Sie ermöglicht soziale Kontakte und schafft Akzep-
tanz in der Bevölkerung. Dies ist auch im Interesse der
Gesellschaft als Ganzes. Allerdings muss die Arbeitser-
laubnis ohne Restriktion mit dem Bleiberecht gekoppelt
erteilt werden bzw. müssen im Vorfeld die Hürden für
den Arbeitsmarktzugang beseitigt werden. Ansonsten ist
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12295
(A) (C)
(B) (D)
das Erfordernis, selbst für den Lebensunterhalt sorgen zu
können, nicht praktikabel.
Der sofortige Zugang zum Arbeitsmarkt muss ge-
währleistet sein und darf nicht durch Überbürokratisie-
rung verhindert werden. Hier bleibt die Bundesregierung
weit hinter dem Nötigen und Möglichen zurück. Die
Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigenständi-
gen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist deshalb sehr wohl
ein wichtiges Kriterium der Bleiberechtsregelung. Dies
dient der Sicherstellung, dass keine Überinanspruch-
nahme der Sozialleistungen oder Missbrauch erfolgt; es
dient aber auch der Integration.
Unseres Erachtens ist es zudem sehr wohl relevant,
dass geduldete Ausländer die Behörden nicht täuschen
oder behindern, was ihren aufenthaltsrechtlichen Status
anbelangt. Rechtstreue und die erfolgreiche Integration
müssen die entscheidenden Kriterien für die Erteilung
eines Bleiberechts sein, nachgewiesen unter anderem
durch eigenständig gesicherten Lebensunterhalt, deut-
sche Sprachkompetenz und Akzeptanz im persönlichen,
sozialen Umfeld. Ebenso wie für die Frage der Rechts-
treue und die der Integration in den Arbeitsmarkt gilt das
Mitwirkungserfordernis auch für die deutsche Sprach-
kompetenz.
Die Linke tut so, als wäre es für Menschen, die in
Deutschland bleiben wollen, eine Zumutung, die deut-
sche Sprache zu lernen. Tatsächlich ist es umgekehrt.
Wer wirklich hier bleiben will, wird selbstverständlich
auch die deutsche Sprache lernen wollen, müssen und
können. Dabei ist immer auch darauf hinzuweisen, dass
das auch ohne Betreuung in staatlichen Kursen möglich
ist – und dafür gibt es viele gute Beispiele.
Generell denke ich, dass wir Integration nicht zu-
nächst als eine Bringschuld des Staates ansehen sollten,
sondern die aktive Mitwirkung der Zuwanderer einfor-
dern. Fördern und Fordern, klare Vorgaben und Perspek-
tiven sind wesentlicher Bestandteil einer abgewogenen
Ausländerpolitik. Die Linken erwecken mit ihrem An-
trag den Eindruck, Geduldete könnten sich allein da-
durch, dass sie sich fünf oder gar nur drei Jahre hierzu-
lande aufgehalten haben, ohne aktiv etwas für ihre
Integration zu tun, einen Anspruch auf ein Bleiberecht
erwirken. Das weckt falsche Hoffnungen.
Bundespräsident Köhler hat sich im Sommer aus-
drücklich für eine Öffnung des deutschen Ausländer-
rechts ausgesprochen – zu Recht. Die FDP teilt die Auf-
fassung des Bundespräsidenten, dass unser Land mit
Weltoffenheit besser fährt. Deutschland ist darauf ange-
wiesen, als Standort für ausländische Mitarbeiter, For-
scher und Entwickler sowie Unternehmer attraktiv zu
bleiben. Die Einstellung von ausländischen Hochqualifi-
zierten sorgt für weitere Investitionen in Arbeitsplätze
und ist für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unterneh-
men essentiell. Um die Arbeitsmigration sinnvoll zu
steuern, hat die FDP hier konkrete Vorschläge gemacht,
die auch von den Gewerkschaften und den Unternehmen
dringend angemahnt werden. Wir brauchen eine Zuwan-
derungssteuerung mit nachvollziehbaren Kriterien.
Integrationspolitik muss werteorientiert sein. Zuwan-
derer sind zu fördern, aber selbst auch klar gefordert. Die
deutsche Sprache, Demokratie und Rechtsstaat, die
Grund- und Menschenrechte sind das für alle geltende
Fundament unserer Gesellschaft. Sie sind aber auch eine
attraktive Zielsetzung für Integration. Hier bedarf es so-
wohl deutlich ausgeweiteter Angebote und Anreize sei-
tens des Staates als auch verständlicher Richtsätze, um
ein klares Erwartungsbild an die Migranten aufzuzeigen.
Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanz
von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozial-
systeme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und
die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie fal-
sche Erwartungen weckt und statt Engagement nur An-
spruchsdenken fördert.
Wir Liberalen wollen dagegen Chancen eröffnen: Wir
wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht fal-
sche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht,
sondern Chancen und Perspektiven eröffnet. Wir wollen,
dass die Menschen, die zu uns kommen, sich ihre Zu-
kunft selbst erarbeiten können. Wir wollen, dass sie hier
willkommen sind.
Der Antrag der Linken würde genau das Gegenteil
bewirken. Wir lehnen ihn klar und nachdrücklich ab.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Den vorliegenden Antrag
haben wir im Frühjahr eingebracht, um für eine humane
Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz zu sorgen.
Die Koalitionsfraktionen haben unterdessen beides
verhindert: Die nun geltende Regelung im § 104 Aufent-
haltsgesetz ist nicht human, und sie ist keine Bleibe-
rechtsregelung. Sie konnten sich nur zu einer inhumanen
Altfallregelung durchringen.
Sie ist inhuman, weil sie nur solchen Geduldeten ein
Aufenthaltsrecht gewähren will, die ökonomisch nütz-
lich sind und den repressiven Integrationsvorstellungen
der Bundesregierung entsprechen. Deshalb wurden Be-
dingungen gestellt, ohne die es kein Bleiberecht gibt:
Erstens. Der bisher geduldete Aufenthalt muss mindes-
tens sechs bzw. acht Jahre lang gewesen sein. Dadurch
sind 100 000 Geduldete von vornherein ausgeschlossen.
Zweitens. Nach jahrelangem Arbeitsverbot müssen die
Betroffenen auf einmal ein Haushaltseinkommen erzie-
len, das über den Sätzen für Hartz IV liegt. Drittens müs-
sen die Antragsteller die Mitwirkungspflichten bei Iden-
titätsfeststellung und Passbeschaffung erfüllt haben.
Damit haben Sie einen Gummiparagrafen geschaffen,
denn nirgendwo ist eindeutig definiert, wann Verstöße
gegen die Mitwirkung nun definitiv ein Ausschlussgrund
sind und wann nicht. Viertens haben Sie all jene vom
Bleiberecht ausgeschlossen, die sich geringfügige Straf-
taten haben zuschulden kommen lassen oder unter Gene-
ralverdacht stehen, Bezüge zu extremistischen oder ter-
roristischen Gruppen zu haben. Per Sippenhaft sind die
Familien der Betroffenen ebenfalls ausgeschlossen.
Dennoch haben Sie sich in der Öffentlichkeit als Sa-
mariter gegeben. Doch um die Geduldeten und ihre Be-
dürfnisse und Interessen geht es Ihnen gar nicht. Die
Union hat ohne jeden nachvollziehbaren Sachzusam-
12296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
menhang die Altfallregelung mit Verschärfungen im
Asyl- und Aufenthaltsrecht verknüpft. Ein Beispiel: Der
Bezug um 40 Prozent verminderter Sozialleistungen ist
von drei auf vier Jahre verlängert worden. Wie diese
Menschen leben müssen, ist unzumutbar!
Beschämend in diesem Zusammenhang ist aber auch
das Verhalten der SPD-Fraktion und ihres Verhandlungs-
führers Rüdiger Veit. Sie haben eine völlig unzurei-
chende Altfallregelung mit Zugeständnissen erkauft, die
die Lebenslage vieler Zehntausend Menschen extrem
verschlechtert. Damit meine ich nicht nur die Änderung
am Asylbewerberleistungsgesetz, sondern auch die Neu-
regelung des Familiennachzugs. Dem Bundestag lagen
qualifizierte Vorschläge für eine wirkliche Bleiberechts-
regelung vor, die von Flüchtlingsorganisationen unter-
stützt werden und an denen Sie sich hätten orientieren
können. Aber stattdessen haben wir nun eine Altfallrege-
lung, die wieder nur einem kleinen Teil der langjährig
Geduldeten hilft.
Die Skepsis der Linksfraktion ist wohl begründet. Die
letzten Zahlen zur Umsetzung der IMK-Altfallregelung
sprechen eine deutliche Sprache. Zum 30. Juni haben
über 71 000 Personen einen Antrag auf Aufenthaltser-
laubnis gestellt, von 170 000 Geduldeten insgesamt. We-
niger als 15 000 haben eine Aufenthaltserlaubnis erhal-
ten. Das freut mich für diese 15 000, aber das ist deutlich
zu wenig! Weitere 30 000 haben eine Duldung erhalten,
um sich einen Arbeitsplatz suchen zu können.
Sie werden nun eine sogenannte „Aufenthaltserlaub-
nis auf Probe“ erhalten. Damit verbessert sich ihr Status
nur unwesentlich. Wohnsitzbeschränkende Auflagen
gelten weiter, solange sie keinen Arbeitsplatz haben. Der
Druck auf die Betroffenen ist also weiter enorm hoch.
Gleichzeitig sind die Aussichten auf einen niedrigquali-
fizierten Job, mit dem sich eine Familie ohne ergänzende
Sozialhilfe ernähren lässt, enorm schlecht. Falls sie eine
solche Arbeit bekommen, haben die Arbeitgeber ein
dauerndes Druckmittel in der Hand – den drohenden
Verlust der Aufenthaltserlaubnis bei Kündigung.
Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Von
den beiden bestehenden Altfallregelungen werden viel
zu wenig Betroffene begünstigt. Die Hürden sind zu
hoch, für alte und kranke Menschen unerreichbar. Und
vor allem: Das Versprechen, das Problem der Kettendul-
dungen aus der Welt zu schaffen, haben Sie damit nicht
eingelöst. Dafür hätte es weitreichender und mutiger
Schritte bei der Reform des humanitären Aufenthalts-
rechts gebraucht. Zu diesen Schritten waren Sie politisch
nicht willens. Eine Lösung im Sinne der Betroffenen
steht weiterhin aus.
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Auch bei einer erneuten Beratung des Themas
bleibe ich dabei: Die von der Koalition im Rahmen des
EU-Richtlinienumsetzungsgesetzes beschlossene Alt-
fallregelung ist deutlich zu restriktiv. Denn sie hat im
Wesentlichen die einschränkenden Bedingungen des Be-
schlusses der Innenministerkonferenz übernommen. Da-
mit wurde das Problem der Kettenduldungen nicht gelöst
und Integrationschancen vertan.
Eine Reihe von Voraussetzungen für die Erlangung
eines Aufenthaltstitels nach der Altfallregelung sind
überdies so unpräzise – und damit auch rechtsstaatlich
bedenklich formuliert – dass kaum prognostiziert wer-
den kann, wann es zu positiven Entscheidungen kom-
men wird und wann nicht. Überdies wird das Problem
dadurch verschärft, dass die vorgeschlagenen Regelun-
gen extrem unübersichtlich sind. Schließlich ist es ganz
besonders bedenklich, dass im geänderten Zuwande-
rungsgesetz das Bestehen einer nach Art. 6 Grundgesetz
schützenswerten Familie nicht primär zum Anlass für
positive Regelungen genommen wurde, sondern Fami-
lienmitglieder in völlig unangemessener Weise in eine
Form der Sippenhaft genommen werden. Hier möchte
ich insbesondere auf die Regelung in § 104 b Aufent-
haltsgesetz hinweisen, nach der der Jugendliche bleiben
kann, die Eltern aber ausreisen müssen. Eine wirklich
humanitäre Lösung und eine Beendigung des Zustandes
der Kettenduldung lassen sich damit mit dem Regie-
rungsvorschlag nicht erreichen. Daher lehnen wir ihn ab.
Angesichts der Erfahrungen mit der Anwendung der
den Bleiberechtsbeschluss umsetzenden Länderanord-
nungen besteht die ernsthafte Gefahr, dass das Ziel des
Entwurfs, langjährig im Bundesgebiet geduldeten und
integrierten Ausländern eine dauerhafte Perspektive im
Bundesgebiet zu eröffnen, durch intensive Anwendung
der Ausschlussgründe in sein Gegenteil verkehrt wird.
Ein Beleg für diese Befürchtung ist der Bericht des Bun-
desinnenministeriums zur Umsetzung des Bleiberechts-
beschlusses vom 7. Mai 2007, wonach von den 58 259
gestellten Anträgen 5 004 positiv entschieden, jedoch
3 402 überwiegend aufgrund von Ausschlussgründen
zurückgewiesen wurden. Es sollte der Koalition zu den-
ken geben, dass die Zahl der zurückgewiesenen Anträge
nicht deutlich unterhalb der der positiven Entscheidun-
gen liegt, obwohl es sich in beiden Fällen um faktisch in-
tegrierte Personen handelt, deren rechtliche Integration
Ziel des Bleiberechtsbeschlusses ist.
Unsere Kritikpunkte an den Bedingungen der gesetz-
lichen Bleiberechtsregelung nochmals zusammenge-
fasst:
Die geforderte Mindestaufenthaltszeit – acht Jahre
bzw. sechs Jahre bei Familien mit Kindern – ist zu lang
und wird von fast der Hälfte der Geduldeten nicht erfüllt.
Darüber hinaus gibt es einen langen Katalog von Be-
dingungen: von Deutschkenntnissen über den Grundsatz
der Erwerbstätigkeit bis zur Straflosigkeit. Beim letzten
Punkt sieht die Bundesregierung sogar eine Art Sippen-
haft vor: Hat ein Familienmitglied Straftaten begangen,
werden auch alle anderen vom Bleiberecht ausgeschlos-
sen.
Besonders problematisch: Die Ausländerbehörde darf
nicht „getäuscht“ worden sein und Mitwirkungspflichten
bei der eigenen Aufenthaltsbeendigung dürfen nicht ver-
letzt worden sein. Beides unterstellen viele Ausländerbe-
hörden bei fast allen langjährig Geduldeten und sie ver-
stehen unter „vorsätzlicher Verzögerung“ nicht selten
bereits die Beschreitung des Rechtsweges. Ausländerbe-
hörden erhalten mit der vorgesehenen Regelung also die
Möglichkeit, nahezu jeden Antrag abzulehnen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12297
(A) (C)
(B) (D)
Erwerbsunfähige – Kranke, Behinderte – und Alte
werden faktisch vom Bleiberecht ausgeschlossen, denn
für sie müssen Lebensunterhalt, Betreuung und Pflege
ohne staatliche Hilfe sichergestellt sein. Das ist praktisch
unerfüllbar, weil sich kaum eine Krankenkasse finden
wird, die bereit ist, sie aufzunehmen.
Gut integrierten Schülerinnen und Schülern im Alter
von 14 bis 18 Jahren bietet die Bundesregierung ein ei-
genständiges Aufenthaltsrecht an – unter der Bedingung,
dass die Eltern ausreisen. Das ist zynisch, familienfeind-
lich und zudem unrealistisch.
Die Länder können entscheiden, dass diejenigen, die
eine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitssuche erhalten ha-
ben, weiterhin nur Lebensmittelpakete nach dem Asyl-
bewerberleistungsgesetz erhalten.
Aus unserer Sicht ist zweierlei erforderlich, um dem
Problem der Kettenduldung zu begegnen. Zum einen
brauchen wir eine großzügige Altfallregelung mit Bedin-
gungen, die der Großteil der Geduldeten tatsächlich er-
füllen kann. Zum anderen brauchen wir grundsätzliche
Verbesserungen bei der Ermöglichung des Aufenthalts
aus humanitären Gründen, damit auch in Zukunft – jen-
seits von Stichtagen – der Übergang von der Duldung
zur Aufenthaltserlaubnis erreicht werden kann. Zu bei-
den Ansätzen hat die grüne Bundestagsfraktion frühzei-
tig Anträge eingebracht, die aber – entgegen mancher
Äußerungen in der Presse – dann bei den entscheidenden
Abstimmungen von den Koalitionsabgeordneten abge-
lehnt wurden.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung
des Rechts der landwirtschaftlichen Sozial-
versicherung (LSVMG)
– Unterrichtung: Bericht nach § 99 der Bun-
deshaushaltsordnung über die Umsetzung
und Weiterentwicklung der Organisations-
reform in der landwirtschaftlichen Sozial-
versicherung
(Tagesordnungspunkt 19 a und b)
Gitta Connemann (CDU/CSU): Soziale Sicherheit
für die Menschen im ländlichen Raum – dafür steht die
landwirtschaftliche Sozialversicherung, über die wir
heute debattieren. Sie ist das berufsständische Siche-
rungssystem, das unsere Land- und Forstwirte, unsere
Gärtner und ihre Familien gegen Unfall, Krankheit, Ge-
brechen und Alter absichert. Die landwirtschaftliche
Sozialversicherung hat sich in der Vergangenheit hervor-
ragend bewährt. Zugleich konnte ein rasanter Struktur-
wandel bislang sozial abgefedert werden.
Die Herausforderungen werden aber größer. Mit Aus-
nahme des Gartenbaus nimmt die Zahl der landwirt-
schaftlichen Betriebe von Jahr zu Jahr ab. Die Zahl der
versicherten Beitragszahler wird geringer und die Zahl
der Empfänger steigt überproportional. Damit wächst
die Kostenbelastung der aktiv wirtschaftenden Land-
wirte und ihre Sorge. Denn gerade die die Sicherheit der
Versorgung im Alter ist für unsere Bäuerinnen und Bau-
ern, die Altenteiler, ein hochsensibles Thema, das mit
Ängsten verbunden ist.
Es besteht Handlungsbedarf. Für diese Feststellung
brauchte es nicht des aktuellen Berichts des Bundesrech-
nungshofes. Ich bin dankbar, dass sich die Bundesregie-
rung unter Führung von Herrn Minister Seehofer der
Aufgabe gestellt hat, die landwirtschaftliche Sozialversi-
cherung zukunftsfest zu machen.
Nach vielen Jahren, in denen einerseits die Bundes-
mittel, etwa für die landwirtschaftliche Unfallversiche-
rung, gekürzt worden sind und andererseits systemsi-
chernde Vorschläge des Berufsstandes außer Acht
gelassen worden sind, kann dieser Kraftakt nicht hoch
genug bewertet werden. Es besteht Einigkeit: Das Ge-
setz zur Modernisierung des Rechts der landwirtschaftli-
chen Sozialversicherung muss 2008 in Kraft treten.
Mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf wollen wir
erreichen, dass die agrarsozialen Sicherungssysteme sta-
bilisiert und an den nach wie vor anhaltenden Struktur-
wandel angepasst werden. Nur so lassen sich stabile Bei-
träge erreichen. Der Gesetzentwurf sieht zahlreiche
Maßnahmen vor, die organisatorische Änderungen in der
landwirtschaftlichen Sozialversicherung beinhalten. Auch
im Leistungs- und Beitragsbereich der landwirtschaftli-
chen Unfallversicherung wird es zu Änderungen kom-
men.
Letztere Änderungen werden vom landwirtschaftli-
chen Berufsstand mitgetragen, dem ich an dieser Stelle
höchstes Lob zollen und Dank sagen möchte. Ich kenne
keine andere Branche, die schon so frühzeitig betrieblich
durchaus schmerzhafte Änderungen des Leistungsrechts
angemahnt hat, um mittelfristig spürbare finanzielle Ein-
sparungen im Bereich der landwirtschaftlichen Unfall-
versicherung zu erreichen. Bereits im Februar 2004 ha-
ben Deutscher Bauernverband und Gesamtverband der
Deutschen Land- und Forstwirtschaftlichen Arbeitgeber-
verbände Maßnahmen gefordert, die jetzt zum überwie-
genden Teil in dieses Gesetz mit eingeflossen sind. Über
weitere Vorschläge – etwa über den Vorschlag einer ren-
tenentschädigungspflichtigen Minderung der Erwerbsfä-
higkeit erst ab 30 Prozent anstelle von bisher 20 Prozent
und den Wegfall des Rentenbezuges ab Erreichen der
Regelaltersrente – wird im Lauf des Gesetzgebungsver-
fahrens zu sprechen sein. Der Berufsstand hat damit frü-
her als alle anderen seine Hausaufgaben gemacht.
Die Landwirtschaft, die sich so vorbildlich einge-
bracht hat, hat verdient, dass sich der Bund seiner Ver-
antwortung ihr gegenüber bekennt. Und das hat er mit
seinen Haushaltsplanungen für 2008 getan.
Denn im Entwurf für den Haushalt des Bundesminis-
teriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz für das Jahr 2008 sind einerseits 100 Millionen
Euro als Beitragszuschuss für die landwirtschaftliche
Unfallversicherung vorgesehen. Gleichzeitig sollen ins-
gesamt 400 Millionen Euro zusätzlich aus Vermögens-
verkäufen zur Verfügung gestellt werden, um die Emp-
12298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
fänger von kleineren Unfallrenten im Rahmen einer
zeitlich begrenzten Aktion abzufinden. Weitere 250 Mil-
lionen Euro sind von den landwirtschaftlichen Berufsge-
nossenschaften aus dem Vermögen aufzubringen. Ziel ist
es, den Rentenaufwand dauerhaft um 100 Millionen Euro
zu senken.
Das Interesse an dieser Abfindung ist zu Recht hoch.
Denn bei vielen wird sich, quer durch alle Altersgrup-
pen, die Abfindungsregelung rechnen. Allerdings ist die
Feststellung immer für den Einzelfall unter entsprechen-
der Flankierung von landwirtschaftlichen Berufsverbän-
den und Berufsgenossenschaften zu treffen. Damit es
nicht zu Schlechterstellungen kommt, ist im Verlauf des
Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob die parallele
Weitergeltung der Abfindungsregelungen des SGB VII
dazu führen kann, dass die Abfindungssumme insbeson-
dere in den ersten 15 Jahren nach dem Unfall nach den
Regeln der Sonderaktion niedriger ausfällt als nach Nor-
malrecht. Zum anderen beziehen sich die Werte der Ab-
findungstabellen auf Sterbetafeln der 60er-Jahre. Für den
Fall, dass im Rahmen einer Reform des Rechts der ge-
setzlichen Unfallversicherung dann aktuelle Sterbetafeln
und damit zwangsläufig bessere Kapitalisierungsfakto-
ren zur Anwendung kämen, müsste gegebenenfalls auch
über die Aufnahme einer einschlägigen Vorbehaltsklau-
sel nachgedacht werden.
Aus meiner Sicht ist es absolut begrüßenswert, dass
die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften ver-
pflichtet werden sollen, ihre Beitragsmaßstäbe, wohlge-
merkt bei regionaler Festsetzung, flächendeckend am
Unfallrisiko zu orientieren. Die Landwirtschaftlichen
Berufsgenossenschaften Niedersachsen-Bremen und Nord-
rhein-Westfalen haben diesen Schritt schon vollzogen.
Andere, zum Beispiel die Landwirtschaftlichen Berufs-
genossenschaften Schleswig/Holstein und Hamburg,
Hessen-Rheinland-Pfalz und Saarland, Niederbayern/
Oberpfalz und Schwaben sowie Baden-Württemberg
werden in absehbarer Zeit folgen.
Diese Anwendung risikoorientierter Beitragsmaß-
stäbe in ganz Deutschland ist aus meiner Sicht eine we-
sentliche Gerechtigkeitsvoraussetzung für den geplanten
partiellen Lastenausgleich zwischen den landwirtschaft-
lichen Berufsgenossenschaften. Strukturell benachtei-
ligte landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften, die
hohe Kosten für Altrenten tragen müssen, sollen entlas-
tet werden.
Grundsätzlich ist es richtig, mithilfe einer Lastenver-
teilung unter den landwirtschaftlichen Berufsgenossen-
schaften bundesweite Solidarität herzustellen. Solidarität
bedeutet aber immer auch, Lastenverschiebungen inner-
halb des Systems vorzunehmen. Innerhalb des Systems
würde dies zu Lastenverschiebungen beispielsweise vom
Norden und vom Osten in den Süden. Die Selbstverwal-
tung hat hier sicherlich einen hohen Grad an solidari-
scher Verantwortung. Auch die landwirtschaftlichen Be-
rufsgenossenschaften im Norden sind aufgrund der
bundespolitischen Forderung nach mehr innerlandwirt-
schaftlicher Solidarität nicht grundsätzlich abgeneigt.
Über die inhaltliche Ausgestaltung muss jedoch schon
allein deswegen noch beraten werden, weil verlässliche
Berechnungen nicht bekannt sind. Modellberechnungen
durch das BMELV, aus dem sich die Auswirkungen des
mit den derzeitigen Parametern vorgesehenen Aus-
gleichsverfahrens ergeben – es geht um die Frage, ob die
Zielsetzung des Gesetzgebers damit erreicht wird –,
wurden bisher nicht vorgelegt.
Es fehlt die nachvollziehbare Definition des Eigenan-
teils einer jeden landwirtschaftlichen Berufsgenossen-
schaft sowie auch die Parameter der Altlastverteilung,
eines Ausgleichsverfahrens im engeren Sinne. Analog
der Bestrebungen im Bereich der gewerblichen Berufs-
genossenschaften sollte dies der Selbstverwaltung des
LSV-Spitzenverbandes unter Setzung einer angemesse-
nen Frist überlassen werden. Das wäre nun wirklich eine
wichtige und zentrale Aufgabe eines bundesweit zustän-
digen Gremiums.
Es darf nicht dabei bleiben, dass die Verteilung der
Altlast nach beitragsbelastbaren Flächenwerten erfolgt,
die auf die Lage jeder einzelnen Parzelle abstellt. Dies
ist nämlich mit den derzeit vorhandenen Daten der LSV-
Verwaltungsgemeinschaften nicht möglich. Hierzu wäre
die aus wirtschaftlichen Gründen bisher stets zurückge-
wiesene Einführung eines Flurstückkatasters erforder-
lich.
Vor allem scheint mir die Festlegung der von den ein-
zelnen LBGen zu tragenden Neulast mit dem zweifachen
der Jahresrenten der letzten 5 Jahre eher willkürlich zu
sein; sie überstrapaziert den solidarischen Altlastenaus-
gleich.
Ich möchte dies am Beispiel des Gartenbaus beispiel-
haft deutlich machen. Die Situation dort unterscheidet
sich erheblich von der in der übrigen Land- und Forst-
wirtschaft. Dies gilt nicht nur für den Kreis der Versi-
cherten, sondern auch für die Zahl der versicherten
Unternehmen. So ist die Zahl der versicherten Unterneh-
men in den letzten zehn Jahren entgegen der sonstigen
Entwicklung erheblich gestiegen. Im Übrigen sind bei
den Sozialversicherungsträgern für den Gartenbau er-
heblich mehr Arbeitnehmer als Unternehmer versichert.
Viele der jetzt debattierten Änderungen sind bereits um-
gesetzt. Es gibt einen bundeseinheitlichen Träger sowie
einen bundesweit einheitlichen Beitragsmaßstab. Der
Gartenbau soll nun nach dem vorliegenden Entwurf wie
ein regionaler Träger in den innerlandwirtschaftlichen
Solidaritätsausgleich einbezogen werden. Angesichts
der zu erwartenden erheblichen finanziellen Zusatzlast,
die sich zwingend auf die Beiträge niedergeschlagen
muss, wird diese Einbeziehung abgelehnt. Ich kann dies
persönlich nachvollziehen. Denn hier kann der Eindruck
entstehen, dass die Gartenbaubetriebe nach Vorleistung
erneut zur Kasse gebeten werden sollen.
Es gibt also durchaus noch Klärungs- und Abstim-
mungsbedarf. Die Betroffenen müssen die Möglichkeit
haben, sich zu äußern. Deshalb ist es auch gut und ver-
nünftig, wie geplant eine Anhörung durchzuführen.
Denn so können offene Fragen, auch strittige Punkte er-
örtert werden. Die Große Koalition zeigt damit mehr
Weisheit und auch Demokratieverständnis als die dama-
lige Bundesministerin Renate Künast. Unter ihrer Ägide
wurde 2001 eine Organisationsreform in der landwirt-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12299
(A) (C)
(B) (D)
schaftlichen Sozialversicherung beschlossen – hemdsär-
melig, ohne vorherige Anhörung. Das ist nicht unser
Stil. Wir setzen auf den konstruktiven Dialog mit unse-
rem Berufsstand, seinen Verbänden, den Sozialversiche-
rungsträgern und ihren Mitarbeitern. Denn wie schon
Joseph Joubert wusste: Nicht Sieg sollte der Sinn der
Diskussion sein, sondern Gewinn.
Marlene Mortler (CDU/CSU): Die landwirtschaftli-
che Unfallversicherung muss dringend reformiert wer-
den. Das war unsere langjährige Forderung als Union in
der Opposition. Nun ist es soweit. Heute haben wir die
erste Lesung. Aber bis hierhin war es ein langer Weg.
Die ersten Eckpunkte wurden in der Koalitionsvereinba-
rung von Schwarz-Rot gelegt. Die wichtigsten Ziele sind
eine angemessene Beitragsbelastung der landwirtschaft-
lichen Betriebe und innerlandwirtschaftliche Solidarität.
Uns ist klar, dass diese beiden Punkte am besten durch
die Schaffung eines Bundesträgers erfüllt werden könn-
ten. Schon im Koalitionsvertrag haben wir darauf hinge-
wiesen: Sollte die Schaffung eines Bundesträgers nicht
möglich sein, ist ein anderer Mechanismus zur Stärkung
der innerlandwirtschaftlichen Solidarität erforderlich.
Ich danke an dieser Stelle Horst Seehofer. Er hat mit
beispielhaftem Geschick dieses Gesetz auf den Weg ge-
bracht. Und ich sage ausdrücklich: Diese Reform hat ih-
ren Namen auch wirklich verdient. Trotzdem wird bis
zum heutigen Tag über Vorteile, über Nachteile, über
mehr Einfluss, über mehr Gerechtigkeit, über mehr
Geld, über mehr Kontrollen diskutiert. Wir haben uns
nicht beirren lassen und immer wieder das große Ganze
im Blick behalten. Zunächst mussten viele grundsätzli-
che Fragen geklärt werden, zum Beispiel: Kann das Sys-
tem nicht auf eine private Versicherungsbasis gestellt
werden? Die Antwort der privaten Versicherungswirt-
schaft lautet: Mit der alten Last können wir es nicht billi-
ger machen und ohne alte Last nicht besser.
Die zweite Frage: Welche finanziellen Auswirkungen
hätte die Umstellung des LUV-Systems auf ein kapital-
gedecktes Sicherungssystem? Das Ergebnis eines aus-
führlichen wissenschaftlichen Gutachtens war: Es wird
für beide, für den Bund, aber insbesondere auch für die
Versicherten sehr teuer. Ein kostenentlastender Effekt
stellt sich zudem nur äußerst mittel- bis eher langfristig
ein. Also schied auch diese Möglichkeit aus.
Dritte Frage – und damit waren wir wieder am Aus-
gangspunkt –: Wie können wir unser umlagenfinanzier-
tes Versicherungssystem zukunftsfest machen? Wie kön-
nen wir es sinnvoll reformieren? Sinnvoll heißt für mich:
Wie können die landwirtschaftlichen Betriebe beitrags-
mäßig entlastet werden? Denn Jahr für Jahr gibt es im-
mer weniger Beitragszahler auf der einen und immer
mehr Leistungsempfänger auf der anderen Seite.
Der entscheidende Kern unserer Reform ist eine Ab-
findungsaktion von Unfallrenten. Das heißt, jeder Bezie-
her einer Unfallrente, auch Arbeitnehmer deren MDE
unter 50 Prozent liegt, kann einen Antrag auf einmalige
Abfindung stellen. Durch das Herauskaufen der Unfall-
renten soll der Rentenbestand – also die sogenannte alte
Last – um 100 Millionen von 400 auf 300 Millionen
Euro reduziert werden.
Damit diese Aktion voll und schnell greifen kann, ist
es wichtig, dass das Gesetz zum 1. Januar 2008 pünkt-
lich in Kraft tritt. Denn die Abfindungsaktion ist auf die
Jahre 2008 und 2009 begrenzt. Nur für diesen Zeitraum
und nur in diesen beiden Jahren gibt es mehr Geld vom
Bund, in Höhe von jeweils 200 Millionen Euro.
Das ist nicht selbstverständlich. Ich danke an dieser
Stelle Horst Seehofer ein zweites Mal. Er ist der Bundes-
minister, der die Bundesmittel für die landwirtschaftli-
che Unfallversicherung in seiner Amtszeit nicht gekürzt
hat. Im Gegenteil: Er nimmt zusätzliches Geld in die
Hand für eine tragfähige Reform. Aber nicht nur der
Bund nimmt zusätzliches Geld in die Hand, sondern
auch die regionalen Berufsgenossenschaften sind gefor-
dert.
Wird zum Beispiel eine Unfallrente mit 16 250 Euro
abgefunden, dann stammen 10 000 Euro vom Bund und
62,5 Prozent – in diesem Fall 6 250 Euro – muss die je-
weilige Unfallversicherung drauflegen. Uns ist bewusst,
dass es der einen Berufsgenossenschaft sehr leicht fallen
wird und der anderen Berufsgenossenschaft sehr, sehr
schwer fallen wird weiteres, eigenes „freies“ Geld auf-
zubringen.
Deshalb ist die nächste entscheidende Frage: Was
müssen wir tun, damit die neue alte Last nicht wieder an-
wächst und der positive Effekt der Abfindungsaktion
schon nach ein paar Jahren verpufft ist? Das heißt, wir
brauchen weitere Stellschrauben, um Einsparungen in
der Unfallversicherung zu erzielen. Hier gibt es zwei
Möglichkeiten. Zum einen im Leistungsbereich und zum
anderen bei den Verwaltungskosten. Aus meiner Sicht
reichen die Stellschrauben im Leistungsbereich längst
nicht aus. Wir werden zwar die Selbstbeteiligung bei der
Betriebs- und Haushaltshilfe einführen. Wir werden au-
ßerdem die Wartezeit bei Unfallrenten von derzeit 13 auf
26 Wochen erweitern. Aber zu einer ehrlichen Diskus-
sion gehört es, aufzuzeigen, dass zum Beispiel über ein
Drittel des jährlich entstehenden Neurentenvolumens auf
Altenteilerrenten entfallen.
Wollen wir also auf Dauer zu einer echten Kostenent-
lastung kommen, müssen wir den Vorschlag intensiv auf
den Ausgabenblock mit dem größten Einsparpotential
schauen. Was spricht also dagegen, dass man Altentei-
lern, die bereits über Altersrenten und Austragsleistun-
gen abgesichert sind, bei einem neu eintretenden Berufs-
unfall keine Rente mehr gewährt? Ich will aber
klarstellen: In bestehende Rentenverhältnisse soll kei-
nesfalls eingegriffen werden. Andererseits erhalten Al-
tenteiler schon nach geltendem Recht eine deutlich redu-
zierte Unfallrente. Damit wird auch nur noch der
abstrakte Gesundheitsschaden ausgeglichen.
Zum Lastenausgleich. Bei diesem Punkt gibt es nach
meiner Meinung die größten Missverständnisse. Fakt ist:
Seit 1963 erhalten landwirtschaftliche Berufsgenossen-
schaften jährlich Bundesmittel zur Beitragssenkung.
1980 hat man mit Zustimmung aller Berufsgenossen-
schaften den sogenannten 79er-Schlüssel eingeführt. Auf
12300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Heute übertragen heißt das: Von den zurzeit gewährten
Bundesmitteln in Höhe von 200 Millionen Euro werden
14 Millionen umverteilt. Sie werden deshalb umverteilt,
weil es regional unterschiedliche Strukturen gibt. Ob
kleinere Betriebe, größere Betriebe, mehr Strukturwan-
del, weniger Strukturwandel: Unterbelastete LBGen
werden also belastet und überbelastete LBGen werden
entlastet. Das ist bis heute so gewollt und akzeptiert.
Spätestens ab 2010, wenn es nur noch 100 Millionen
Bundesmittel gibt, kann dieser Mechanismus nicht mehr
voll greifen. Das heißt, wir brauchen eine Anschlussre-
gelung für den sogenannten 79er-Schlüssel. Denn statt
14 Millionen hätten wir nur noch 7 Millionen Euro Um-
verteilungsmasse. Das LSVMG sieht deshalb rund
3,2 Prozent des gesamten Umlagevolumens für die soli-
darische Umverteilung vor.
Noch eines muss ich klarstellen: Die Einführung des
Lastenausgleichs hat mit der Umstellung der Beitrags-
maßstäbe überhaupt nichts zu tun. Das ist alleine Sache
der regionalen Träger. Ein Bundesträger hätte viel gra-
vierendere Auswirkungen. Allerdings begrüße ich es,
dass der Gesetzentwurf vorsieht, dass die einzelnen
LBGen ihre Beitragsmaßstäbe verändern. Es soll zwar
kein bundeseinheitlicher Beitragsmaßstab geschaffen
werden, aber die Berufsgenossenschaften müssen zwin-
gend dafür sorgen, dass sie ihre Maßstäbe wesentlich ri-
sikogerechter ausgestalten. Ich fordere alle Berufsgenos-
senschaften auf, ihre Hausaufgaben bis spätestens Ende
des Jahres 2008 zu machen.
Ein Bundesträger muss nicht automatisch besser und
wirtschaftlicher arbeiten. Aber im Bericht des Bundes-
rechnungshofs zur Organisationsreform in der LSV vom
17. Juli 2001 wird klar: Keiner der verbliebenen Träger
hat seine Aufgaben so gut gemacht, dass wir zufrieden
sein könnten. Deshalb ist unsere Antwort: Wenn kein
Bundesträger durchzusetzen ist, brauchen wir einen ge-
meinsamen Spitzenverband, auf den weitere Aufgaben
konzentriert werden müssen. Das sind vor allem Zentral-
und Querschnittsaufgaben. Und der Nutzen der ange-
strebten Synergieeffekte muss am Ende den landwirt-
schaftlichen Betrieben zugute kommen.
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Der Bundes-
rechnungshofbericht über die Umsetzung der Organisa-
tionsreform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung
zeigt einen deutlichen Handlungsbedarf auf. Mit dem
Gesetz zur Modernisierung des Rechts der landwirt-
schaftlichen Sozialversicherung ziehen wir die Konse-
quenzen daraus, soweit es uns möglich ist. Ich betone:
soweit es uns als Bund möglich ist.
Notwendig wäre eine weitreichende Reform. Es ist ja
kein Geheimnis, dass ich weiterhin einen Bundesträger
als die beste Lösung ansehe. Es gab dazu sowohl von
den Ministerien als auch von uns Abgeordneten etliche
Gespräche. So gut es ist, dass wir hier auf Bundesebene
alle an einem Strang ziehen, so bedauerlich ist es, dass
die Länder sich einfach querstellen und sogar Vorschläge
im Bundesrat auf den Tisch legten, die hinter die Reform
von 2001 zurückfallen.
Wir wollen die landwirtschaftliche Sozialversiche-
rung für die Zukunft erhalten. Das geht aber nur, wenn
alle ihre Hausaufgaben machen. Der Bund hat seine Ver-
antwortung immer wahrgenommen. Sie wissen, dass wir
in der Vergangenheit erhebliche Anstrengungen dazu ge-
leistet haben. Ich will nur darauf verweisen, dass wir
zweimal Bundesvermögen veräußert haben, um die Bei-
träge stabil zu halten. Und wir stehen dazu, dass der
Bund seine finanzielle Unterstützung fortsetzen wird, al-
lerdings nur, wenn diese Mittel sparsam und wirtschaft-
lich verwendet werden. Eine Blockade von Trägern oder
von den Ländern gefährdet den Bundeszuschuss.
Ich weiß, dass manche Länder die Position vertreten,
eigentlich passe ja alles, nur der Bundeszuschuss sei zu
niedrig. Es gibt auch immer noch Menschen, die glau-
ben, die Welt sei eine Scheibe. Es ist endlich einmal an
der Zeit, dass die Länder anerkennen, dass sie in der
Pflicht sind.
Wir müssen nicht nur unserem Haushaltsausschuss
begründen können, warum wir in den nächsten zwei Jah-
ren 400 Millionen Euro zusätzlich für die Abfindungsak-
tion ausgeben wollen, sondern besonders allen Steuer-
zahlern. Schauen Sie in den Bundesrechnungshofbericht,
er lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Bundesmittel wird
es in Zukunft nur geben, wenn wir eine effektive Organi-
sation hinkriegen.
Wir brauchen einen deutlichen Schritt nach vorne.
Das, was dem Bundesrat an Empfehlungen vor seiner
Sitzung morgen vorliegt, ist ein Schritt zurück. Die Län-
der, die eine effektive Organisation verhindern, müssen
sich über eines klar sein: Sie müssen dann aber auch die
Scherben zusammenkehren.
Wir haben mit dem LSV-Modernisierungsgesetz ei-
nen Vorschlag auf dem Tisch liegen, der gerade für die
Unfallversicherung eine deutliche Stabilisierung für die
Zukunft bringen kann. Die Abfindungsaktion wird die
Kosten für die Zukunft nachhaltig reduzieren. Dasselbe
gilt für die Veränderungen im Leistungsbereich, die aus
meiner Sicht tragbar sind.
Weitere Vorschläge zum Leistungsrecht sind an uns
herangetragen worden. Wir werden dies in der Anhörung
und in den Ausschussberatungen prüfen. Aber auch hier
liegen Vorschläge auf dem Tisch, die eine Kostenverla-
gerung auf den Bund bedeuten. Ich bin für vieles offen,
aber solchen Vorschlägen werden wir nicht zustimmen.
Handlungsbedarf besteht auch wegen der eklatanten
Beitragsunterschiede zwischen den verschiedenen Trä-
gern für vergleichbare Betriebe. Auch dazu enthält unser
Gesetzentwurf Vorschläge, die wir sicher noch ausführ-
lich diskutieren werden. Es gibt also die Notwendigkeit
und den Spielraum für mehr Solidarität innerhalb der
Landwirtschaft – die Notwendigkeit vor allem deshalb,
weil erst dann, wenn diese Spielräume genutzt sind, die
Solidarität der Steuerzahler eingefordert werden kann.
Wir werden auch über die Organisation weiter disku-
tieren müssen. Wir wollen die Interessen des Bundes,
der betroffenen Landwirte und Gärtner sowie des Perso-
nals wahren. Dazu sind Änderungen möglich. Aber eines
wird sich nicht ändern: Wir haben ein Paket vorliegen,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12301
(A) (C)
(B) (D)
das nicht aufgeschnürt wird. Die Abfindungsaktion und
den Lastenausgleich gibt es nur mit der Organisationsre-
form.
Wir wollten eigentlich eine weitergehende Reform
machen. Das ist leider nicht möglich. Politik ist die
Kunst des Möglichen. Das Mögliche machen wir.
Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Gerne hätte ich
mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regie-
rungskoalition, heute hier zur normalen Tageszeit über
den Gesetzentwurf zur Modernisierung der landwirt-
schaftlichen Sozialversicherung, LSV, diskutiert. Ich
nehme an, es war Absicht, die Tagesordnung so zu ge-
stalten, dass keine direkte Aussprache stattfindet. Denn:
Betrachtet man das Meinungsbild innerhalb der Koali-
tionsfraktionen oder zwischen Bund und Ländern zum
Thema LSV, so könnte es dissonanter nicht sein. Nur
eins ist allen gemeinsam: die Unzufriedenheit mit dem
vorliegenden Entwurf.
Die versprochene grundlegende Reform wird zur
Scheinreform, ausgekungelt und möglichst hinter ver-
schlossenen Türen auf den Weg gebracht, damit der Ko-
alitionsfrieden nicht leiden möge. Selbst die verfas-
sungsrechtliche Frage der „Zustimmungspflichtigkeit“
wird zum politischen Spielball. Und am Ende will keiner
für diesen Murks verantwortlich gewesen sein. So sieht
schwarz-rote Agrarsozialpolitik unter dem „Obersozial-
politiker“, Zitat Bild-Zeitung, Horst Seehofer aus.
Zwei Jahre sind vorbei. Es ist ein Trauerspiel, mit an-
sehen zu müssen, wie diese schwarz-rote Koalition mit
groß angekündigten Reformvorhaben umgeht. Verläss-
lichkeit und Planungssicherheit sind Fremdworte. Ge-
genseitige Blockade und Handlungsunfähigkeit prägen
das Bild.
Die FDP-Fraktion plädiert seit Anbeginn der Legisla-
turperiode für ein echtes Reformkonzept: die Umstel-
lung der landwirtschaftlichen Unfallversicherung auf ein
kapitalgedecktes Finanzierungssystem. Sie hat dafür
zwar Kritik seitens aller anderen Fraktionen einstecken
müssen, gleichzeitig aber von den Betroffenen und deren
Verbänden viel Unterstützung erfahren.
Man muss sich in dieser Debatte einmal die Frage
stellen, um was es eigentlich bei diesem Gesetz geht. Es
geht eben nicht in erster Linie darum, ob der Bund oder
die Länder mehr Einfluss erhalten, ob Bundesträger oder
Spitzenkörperschaft, ob Lastenausgleich 2010 oder
2011. Das sind doch reine Ablenkungsmanöver einer
Koalition, die handlungsunfähig ist.
Es geht ganz einfach darum, die landwirtschaftliche
Sozialversicherung zukunftsfest zu machen. Und das er-
reichen Sie angesichts des dramatischen Strukturwan-
dels in der Landwirtschaft weder mit einer 20-prozenti-
gen Reduzierung der Verwaltungsausgaben noch mit
einer teuren ineffektiven Abfindungsaktion und schon
gar nicht mit einer Minireform im Leistungskatalog. Das
erreichen Sie nur, wenn Sie wirklich reformieren und
konsequent das gesamte System umstellen.
Selbstverständlich ist die FDP gerne bereit, konstruk-
tiv an notwendigen Anpassungen bei der Organisation,
der Beitragsbemessung oder dem Leistungskatalog mit-
zuarbeiten. Nur, den Landwirten Sand in die Augen zu
streuen und dies als Lösung für die strukturbedingten
Probleme zu präsentieren, das geht nicht. Da macht die
FDP nicht mit.
Die Reformschwäche von Minister Seehofer geht so-
wohl zulasten der Landwirte als auch zulasten des Haus-
halts – und damit aller Steuerzahler. Die Abfindungsak-
tion für Kleinstrenten ist aus meiner Sicht reine
Geldverschwendung. In den nächsten beiden Jahren sol-
len 800 Millionen Euro in ein längst nicht mehr finan-
zierbares System gesteckt werden, und danach wundern
sich alle, wenn sie 2010 erneut vor leeren Kassen stehen.
Selbst der agrarpolitische Sprecher der CDU/CSU-Ko-
alition schließt ein Scheitern nicht mehr aus. Die FDP
setzt sich stattdessen mit ihrem Vorschlag für einen
nachhaltigen, zukunftsfesten Umgang mit Steuermitteln
ein.
Wie brisant das Thema inzwischen ist, zeigt nicht zu-
letzt der umfangreiche Empfehlungskatalog der Bundes-
ratsausschüsse, der 48 Änderungsvorschläge bzw. Emp-
fehlungen umfasst. Drei konkrete Punkte möchte ich
aufgreifen:
Erstens: fehlende Planungssicherheit. Die Länder for-
dern die gesetzliche Verankerung der zugesagten jährli-
chen Bundesmittel für die landwirtschaftliche Unfallver-
sicherung.
Zweitens: fehlender Vertrauensschutz. Die Länder for-
dern, die Diskriminierung der landwirtschaftlichen Kran-
kenkassen bei der Teilhabe an Bundesmitteln für versiche-
rungsfremde Leistungen aufzuheben.
Drittens: fehlende Verfassungsmäßigkeit. Die Länder
fordern, ihre Belange und Interessen ausreichend zu be-
rücksichtigen und einzuarbeiten. Andernfalls sei die An-
rufung des Vermittlungsausschusses unausweichlich.
Auf Anregung der FDP-Fraktion wird eine Anhörung
zu diesem Gesetzentwurf stattfinden. Wir sind es leid,
dass die Landwirte unter Schwarz-Rot immer wieder mit
faulen Kompromissen leben müssen. An diesem ver-
gleichbar kleinen Reformvorhaben zeigt sich die ganze
Schwäche der sogenannten Großen Koalition. Noch ist
dieses Gesetz nicht verabschiedet. Am besten wäre, es
ganz einzustampfen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Für die Frak-
tion Die Linke sind auch im Zusammenhang mit der
landwirtschaftlichen Sozialversicherung zwei Fragen
entscheidend:
Erstens. Leistet sie die Absicherung, die gebraucht
wird? Zweitens. Sind die Beiträge auch für die bezahl-
bar, die auf diese Leistung angewiesen sind?
Im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung
geht es aber zunächst leider eben nicht darum, wie diese
wichtigen Fragen geregelt werden, sondern wie so oft
werden zunächst „nur“ Strukturfragen geregelt. Aber
über solche Strukturentscheidungen werden natürlich
12302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Züge auf die Schiene gestellt. Deshalb lohnt es sich
schon zu prüfen, wo die Reise hingehen soll.
Zunächst wird die Errichtung eines gemeinsamen
Spitzenverbandes für die gesamte landwirtschaftliche
Sozialversicherung als Körperschaft des öffentlichen
Rechts vorgeschlagen, weil das eigentliche Ziel eines
bundeseinheitlichen Trägers nicht erreicht wurde. Da-
für gibt es durchaus auch triftige Gründe. Die bisherige
Anzahl der Träger der LSV von neun bleibt erhalten.
Die bisherigen Erfahrungen mit der Umorganisation
der landwirtschaftlichen Sozialversicherung sind er-
nüchternd. Bundesrechnungshof und Bundesregierung
stimmen in der Bewertung des ersten Gesetzes zur Or-
ganisationsreform in der landwirtschaftlichen Sozial-
versicherung vom 17. Juli 2001 überein: Diese Reform
ist gescheitert. Der Bundesrechnungshof hatte übrigens
daraus schlussfolgernd eine radikale Verminderung der
Träger auf nur noch vier bundesweit zentral organi-
sierte vorgeschlagen. Die Bundesregierung schafft da-
gegen eine zusätzliche Struktur, den Spitzenverband.
Wie damit die Wirtschaftlichkeit und Effektivität des
Systems verbessert werden kann, muss zumindest hin-
terfragt werden! Ich gehe davon aus, dass wir in eini-
gen Jahren erneut ein Gesetz zur Organisationsreform
diskutieren, weil dieses Zwischengesetz nicht zum Ziel
führt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Zentralisie-
rungsidee des Bundesrechnungshofes ist nicht wirklich
innovativ und ob sie der Komplexität der Probleme ge-
recht wird, darf ebenso bezweifelt werden. Solange wir
Strukturfragen als Alibidebatte diskutieren, weil wir an
die eigentlichen Probleme wie Beitragsgerechtigkeit
nicht konsequent genug herangehen, werden wir keine
tragfähige Lösung finden.
Dabei gibt es gute Beispiele dafür, wie es gehen
könnte. Eine bundesweite vergleichsweise effiziente und
funktionierende Unfallversicherung im Agrarsektor
existiert zum Beispiel mit der Gartenbau-Berufsgenos-
senschaft. Ihre Bezuschussung durch den Bund ist sogar
vergleichsweise gering! Lösungen, die vom Bundesrech-
nungshof angemahnt wurden, sind dort schon umgesetzt.
Die Gartenbau-Berufsgenossenschaft hat sich in jünge-
rer Zeit mit eigenen Vorschlägen in die Debatte um die
Reform der Sozialversicherung eingebracht. Sicher hat
auch sie nicht den Königsweg zur Reform zu bieten,
aber es finden sich einige Aspekte in der Organisation
und Arbeit der Gartenbau-BG, die es wert sind, in die
Debatte um die LSV insgesamt Eingang zu finden.
Meine Fraktion ist jedenfalls für eine sorgfältige Prüfung
dieser Erfahrungen. Vor allem die Fragen zur Zentrali-
sierung von Teilaufgaben, zur Beitragsgerechtigkeit für
die Mitglieder und zur Risikoorientierung sind aus unse-
rer Sicht von Bedeutung. In der Unfallprävention sind
dabei ebenfalls Fortschritte zu erreichen, die weiter ge-
hen als wir sie aus der Landwirtschaft kennen. Und Prä-
vention ist meistens allemal billiger als Schadensregula-
tion. Eine umfassende Evaluierung der existierenden
Berufsgenossenschaften wäre dringend erforderlich,
denn der Bundesrechnungshof hat vorwiegend aus be-
triebswirtschaftlichem Blickwinkel evaluiert – wir brau-
chen aber den volkswirtschaftlichen Blickwinkel.
Das heißt aus meiner Sicht, dass die angepeilte 100-Mil-
lionen-Euro-Senkung des Bundeszuschusses eben nicht
zum alleinigen politischen Mantra werden darf. Der
Strukturwandel, die sehr unterschiedlichen Betriebsfor-
men und -größen und die Spezialisierungen der Land-
wirtschaftsbetriebe machten es nicht einfacher. Die da-
mit verbundenen sehr unterschiedlichen Risiken müssen
besser berücksichtigt werden, ohne die Solidarität mit
denen aufzukündigen, die auf diese soziale Absicherung
angewiesen sind. Das ist jedenfalls für Die Linke ein we-
sentliches Kriterium in der Debatte.
Das trifft übrigens auch auf die Personalvertretungs-
rechte der Beschäftigten der Versicherungsträger zu. Sie
müssen in alle ihre Belange betreffenden Entscheidun-
gen frühzeitig und selbstverständlich wirkungsvoll ein-
bezogen werden. Dazu haben sie Vorschläge gemacht,
die ernsthaft diskutiert werden müssen.
Und um es zum Schluss noch einmal klar zu sagen:
Eine Strukturreform, die sich am Ende auf ein Arbeits-
platzabbauprogramm bei den Trägern reduziert, wie zum
Beispiel auch in der Agrarressortforschung, werden wir
auf keinen Fall mitmachen. Solche Reformen lösen
keine Probleme, sondern schaffen nur neue, wenn auch
vielleicht an anderer Stelle. Der Politik dürfen sie nir-
gendwo gleichgültig sein.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
ist ein richtiges Trauerspiel, dass Minister Seehofer und
die schwarz-rote Koalition entgegen ursprünglichen An-
kündigungen auf die Einführung eines Bundesträgers für
die acht regionalen Träger der drei LSV-Zweige verzich-
ten. Denn der Bundesträger ist angesichts des fortgesetz-
ten Strukturwandels in der Landwirtschaft und der steti-
gen Abnahme an Versicherten unbedingt notwendig, um
eine effiziente Sozialversicherung gewährleisten zu kön-
nen.
Aus demselben Grund macht die Errichtung des ge-
meinsamen Spitzenverbandes sicher Sinn. Aber dies
kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies nur eine
Minimallösung ist, die den Bundesträger nicht ersetzen
kann! Außerdem kommt bei dieser Lösung der Garten-
bau unzumutbar schlecht weg. Denn die in der Garten-
bau-BG versicherten Betriebe, die etwa ein Drittel der
Versicherten in der LUV stellen, sind in den Gremien
deutlich unterrepräsentiert! Das kann nicht so bleiben.
Außerdem muss der Gartenbau zukünftig im Namen des
Spitzenverbandes auftauchen, damit wahrgenommen
wird, dass auch der Gartenbau Teil der LSV ist. Eine
Möglichkeit wäre die Bezeichnung „Spitzenverband der
Sozialversicherung für Landwirtschaft und Gartenbau“.
Das Angebot zur Abfindung von Bestandsrenten
tragen wir im Grundsatz mit. Was in diesem Zusammen-
hang aber sehr zu kritisieren ist, ist die Art der Finan-
zierung. Es ist eine grobe Missachtung der Haushalt-
wahrheit und -klarheit, dass die vorgesehenen Zuschüsse
von 400 Millionen Euro im Bundeshaushalt nur als Fuß-
note vermerkt werden, aber nicht bei den Ausgaben mit
einberechnet werden. Außerdem ist es nicht in Ordnung,
dass sich die LUVen zwar mit 250 Millionen Euro an der
Finanzierung beteiligen sollen, der Bund die erhofften
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12303
(A) (C)
(B) (D)
Einsparungen aber ab 2010 komplett selber einstreichen
will. Hier sollten die LUVen entsprechend ihrem Finan-
zierungsanteil beteiligt werden!
Was die Weiterentwicklung der Beitragsmaßstäbe be-
trifft, so ist es sinnvoll, das Unfallrisiko im Beitragsmaß-
stab zu berücksichtigen. Darüber hinaus wäre es aber nö-
tig, eine einheitliche Beitragsbemessung auf Grundlage
des kalkulatorischen Arbeitskräftebedarfs einzuführen.
Damit würde eine Voraussetzung zur Schaffung eines
Bundesträgers in der LUV geschaffen!
Auch die Einführung eines Lastenausgleichs zwi-
schen den LUVen ab 2010 ist grundsätzlich sinnvoll. Al-
lerdings gilt auch hier: Es wäre erheblich wirksamer und
einfacher, die regionalen Träger zu einem Bundesträger
zu fusionieren, um das Ziel des Lastenausgleichs zu er-
reichen.
Außerdem ist es nicht in Ordnung, die Gartenbau-BG
an diesem Lastenausgleich zu beteiligen, da es sich hier
nur zu einem geringen Teil um landwirtschaftliche Be-
triebe handelt. In der Gartenbau-BG ist der Lastenaus-
gleich bereits hergestellt.
Noch ein paar Worte zur Forderung des DBV nach
gesetzlicher Absicherung der Zuschüsse an die LUV:
Diese Forderung ist im Grunde berechtigt. Warum sollen
die Zuschüsse zur LUV nicht wie die zur LKV und zur
AdL auf Basis gesetzlicher Regelungen gezahlt werden?
Allerdings müssen wir nüchtern feststellen, dass bisher
die kalkulatorischen Grundlagen fehlen, um beziffern zu
können, wie hoch dieser Zuschuss zur Finanzierung des
überdurchschnittlichen Rentenbestandes denn sein
müsste. Deswegen ist eine gesetzliche Absicherung bis-
her nicht möglich. Es wäre Aufgabe der Bundesregie-
rung, diese Grundlagen zu schaffen. Auch das hat Minis-
ter Seehofer bisher nicht geleistet! Seine Bilanz in
Sachen Agrarsozialversicherung ist bisher äußerst be-
scheiden!
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister für Arbeit und Soziales: Die landwirtschaftliche
Sozialversicherung ist ein wichtiger Bestandteil der So-
zialversicherung in Deutschland und von grundlegender
Bedeutung für die betroffenen Versicherten. Wir wollen
das eigenständige System erhalten. Darauf haben wir
uns im Koalitionsvertrag verständigt.
Klar war aber auch: Aufgrund des Strukturwandels in
der Landwirtschaft stehen wir vor der Aufgabe, das Sys-
tem zu stabilisieren. Der Bund hat zurzeit auch zu ge-
ringe Einwirkungsmöglichkeiten auf die Träger der
landwirtschaftlichen Sozialversicherung, obwohl er er-
hebliche finanzielle Mittel an die landwirtschaftliche So-
zialversicherung gibt.
Bereits im Jahr 2001 haben wir die Organisation der
landwirtschaftlichen Sozialversicherung reformiert. Jetzt
hat sich gezeigt: Der Lösungsansatz war richtig, aber
nicht ausreichend. Das hat auch der Bundesrechnungs-
hof bestätigt. Dem Vorschlag des Bundesrechnungshofes
– Schaffung eines Bundesträgers – wollen wir aber nicht
folgen. Die Ziele können wir weitgehend auch mit der
Weiterentwicklung des Instrumentariums aus dem Ge-
setz zur Organisationsreform in der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung aus 2001 erreichen:
Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Rechts der
landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG)
übertragen wir einem neuen gemeinsamen Spitzenver-
band die Befugnis, verbindliche Entscheidungen für die
Träger zu treffen. Daneben erledigt der neue Spitzenver-
band originäre Verbandsaufgaben. Dadurch können wir
die Wirtschaftlichkeit des Systems deutlich steigern. Das
Ergebnis soll messbar sein: Die LSV-Träger sollen bis
zum Jahr 2014 20 Prozent der Verwaltungskosten ein-
sparen.
Doch eine Stabilisierung des Systems kann nicht nur
durch effektive und moderne Organisationsstrukturen er-
folgen. Deshalb setzen wir auch im Leistungsrecht den
Hebel an, indem wir die Ausgabenstruktur der landwirt-
schaftlichen Berufsgenossenschaften neu ausrichten.
Nur so schaffen wir die notwendigen Spielräume auf der
Einnahmeseite und vermeiden Beitragserhöhungen für
die Landwirte.
Den Kernpunkt der Maßnahmen bildet die Abfin-
dungsaktion für die Altrenten. Ziel ist die dauerhafte Ab-
findung von Kleinrenten. Hierfür sollen zusätzliche
Bundesmittel in einem Umfang von 2 mal 200 Millionen
Euro – verteilt auf zwei Jahre – zur Verfügung gestellt
werden. Wichtig ist: Wir reden dabei nicht von einer
Zwangsabfindung, sondern von einem Angebot, das für
alle Beteiligten von Vorteil ist. Vorteilhaft für die Versi-
cherten: Denn ihnen bietet sich die Möglichkeit, mit dem
Abfindungsbetrag betriebliche Investitionen zu tätigen
oder sonstige Entscheidungen zur Stärkung ihrer wirt-
schaftlichen Existenz zu treffen. Vorteilhaft ist es für die
Landwirte als Beitragszahler: Denn über 60 Prozent der
Ausgaben für Renten entfallen auf Kleinrenten. Mit der
Abfindungsaktion können wir die Ausgabenstruktur
nachhaltig verändern. Dies wirkt sich günstig auf die
Beitragsbelastung aus. Und vorteilhaft ist es auch für die
Versicherungsträger: Denn sie werden von der jahrzehn-
telangen Verwaltung der Renten entlastet.
Zugleich wollen wir mit dem Gesetzentwurf die Soli-
darität innerhalb der landwirtschaftlichen Unfallversi-
cherungsträger stärken. In der Landwirtschaft bestehen
regional unterschiedliche strukturelle Gegebenheiten,
und auch der Strukturwandel verläuft nicht einheitlich.
Dem wurde bisher bei der Verteilung des Bundeszu-
schusses Rechnung getragen. Dies reicht nicht mehr aus.
Wir wollen daher ein partielles Lastenausgleichsver-
fahren einführen. Das bedeutet: Wer deutlich stärker als
andere belastet ist, erhält für einen Teil dieser Last die
Unterstützung der Solidargemeinschaft aller landwirt-
schaftlichen Träger. Auch damit leisten die Unfallversi-
cherungsträger einen eigenen Beitrag zur Stabilisierung
der landwirtschaftlichen Unfallversicherung.
Eines will ich noch feststellen: Ein solidarischer Las-
tenausgleich innerhalb der landwirtschaftlichen Unfall-
versicherungsträger ist für mich das Pendant zur solida-
rischen Unterstützung von außen durch Bundeszuschuss.
Das LSVMG steht im Gesamtkontext der Reform der
sozialen Sicherungssysteme. Wir machen damit die
landwirtschaftliche Sozialversicherung zuverlässig und
zukunftsfest.
12304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Kooperation und
Koordination im Europäischen Forschungs-
raum verbessern (Tagesordnungspunkt 18)
Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): Das
mit der Überschrift des vorliegenden Antrages formu-
lierte Ziel begrüße ich ausdrücklich. Die Bereiche Wis-
senschaft, Forschung und Innovation bilden das Funda-
ment für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit im
globalen Umfeld. Allerdings muss ich den Antragstel-
lern mitteilen, dass der Antrag selbst nichts wirklich
Neues oder Revolutionäres enthält. Das hatte ich ehrlich
gesagt auch nicht erwartet.
Insbesondere bleibt völlig unklar, was Bündnis 90/
Die Grünen während ihrer Zeit in der Regierungsverant-
wortung gemacht haben. In den Bereichen Wissenschaft,
Forschung und Entwicklung, offensichtlich nicht allzu
viel. Denn anders ist kaum erklärlich, wie zum Beispiel
der Abschnitt über das Erreichen der Lissabon-Ziele hin-
sichtlich privater Investitionen für Forschung in den An-
trag kommt. Es wird dargestellt, dass die privaten Aus-
gaben, die immerhin zwei Drittel des 3-Prozent-Ziels
ausmachen sollen, seit dem Jahr 2000 stagnieren. Die
Zahlen sprechen für sich und gegen die Leistungen von
Rot-Grün.
Zur Frage nach der Verantwortung muss nichts weiter
ausgeführt werden. Es reicht eben einfach nicht aus,
wortreiche Programme und Initiativen zu entwerfen, die
für die Realität jedoch nicht geeignet sind bzw. keinerlei
Nutzen für private Geldgeber und die Wirtschaft haben.
Nur mit dieser realitätsfernen Wahrnehmung lässt sich
eine ganz besonders erwähnenswerte Forderung des An-
trages erklären. Ich zitiere:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung auf, Strategien zu entwickeln, wie private
Finanzierungsbeteiligungen oder Nutzungsentgelte
für große europäische Forschungsinfrastrukturpro-
jekte erschlossen werden können, ohne dass die
Unternehmen wesentlichen Einfluss auf die Aus-
richtung der Forschungseinrichtung gewinnen.
Zu dieser Forderung muss eigentlich nichts gesagt
werden, außer dass sie eben nicht umsetzbar und fast
schon unanständig ist. Auf diese Art funktioniert eine
fruchtbare Zusammenarbeit von Wissenschaft und For-
schung mit privaten Geldgebern auf jeden Fall nicht. Ich
lasse mich aber natürlich vom Gegenteil überzeugen und
würde mir gerne denjenigen zeigen lassen, der große
Summen so selbstlos, ohne Einfluss auf die Verwendung
zu haben, zur Verfügung stellt.
Nicht nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang
zudem folgende im Antrag getroffene Aussage. Ich zi-
tiere:
Besonders bedenklich ist es, dass sich die Industrie
bisher selbst dann nicht engagiert, wenn die ent-
sprechenden Einrichtungen für sie von unmittelba-
rem Nutzen sind.
Hierzu würde ich sehr gerne einmal ein entsprechen-
des und fundiertes Beispiel kennenlernen. Oder wird der
vermeintliche Nutzen für die Industrie direkt von den
Grünen mit der ihnen eigenen marktwirtschaftlichen Be-
trachtungsweise definiert?
Die Erreichung der Lissabon-Ziele macht, auch wenn
es noch nicht alle begriffen haben, enorme Anstrengun-
gen auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene not-
wendig. Besonders wichtig sind hierbei die Stärkung des
Erkenntnis- und Technologietransfers und der Übergang
von Forschungsergebnissen in die anwendungsorien-
tierte Wertschöpfungskette. Unmittelbar nach der Regie-
rungsübernahme ist die unionsgeführte Bundesregierung
diese Herausforderung offensiv angegangen. Darüber hi-
naus müssen zusätzlich die Versäumnisse der Vorgänger-
regierung aufgeholt werden.
Wie im Antrag ausgeführt, hat sich die EU schon im
Jahr 2000 auf die Schaffung des Europäischen For-
schungsraumes zur besseren Kooperation und Koordina-
tion der nationalen Forschungspolitiken verständigt. Es
geht hierbei jedoch nicht nur um verbesserte Koopera-
tion und Koordination, sondern ebenfalls um die Erhö-
hung der finanziellen Aufwendungen für Forschung und
Entwicklung in Europa. Diese sollen gemäß der Lissa-
bon-Strategie bis zum Jahr 2010 auf 3 Prozent des BIP
steigen.
Zugegebenermaßen ist dies ein sehr ehrgeiziges, aber
durchaus erreichbares Ziel. Insbesondere vor dem Hin-
tergrund der Ausgaben anderer großer Wirtschaftsnatio-
nen für Forschung und Entwicklung ist es notwendig, in
Europa Schritt zu halten. Die unionsgeführte Bundesre-
gierung hat sich diesem Ziel ebenfalls verschrieben.
Dies wird auch deutlich, wenn man sich die von der
Regierungskoalition auf den Weg gebrachten, finanziell
hervorragend ausgestatteten, sinnvoll ausgestalteten und
vor allem am Bedarf orientierten nationalen Programme
im Rahmen der Hightechstrategie ansieht. Alles in allem
sind dies wichtige Impulse für den Standort
Deutschland, aber auch für den Europäischen For-
schungsraum.
Zudem hat sich Deutschland während der Ratspräsi-
dentschaft als auch davor, im Rahmen des 7. For-
schungsrahmenprogramms – 7. FRP –, besonders stark
in die Themenbereiche Wissenschaft, Forschung und
Entwicklung eingebracht. Dies zeigt sich zum einen an
der finanziellen Ausstattung des 7. FRP und an der Aus-
wahl der diesbezüglichen Themen. Die Schwerpunkte in
den Bereichen Wissenschaft und Forschung stehen also
bereits fest und müssen nicht noch, wie im außerge-
wöhnlich ausführlichen Vorspann des Antrages ausge-
führt, in ausufernden Diskussionen festgelegt werden.
Die erstmalige Etablierung des Europäischen For-
schungsrates nimmt hierbei eine besonders herausra-
gende Stellung ein. Zum anderen erkennt man das En-
gagement der unionsgeführten Bundesregierung an den
großen Fortschritten, was die Planungen bezüglich der
Einrichtung eines Europäischen Technologieinstitutes
– ETI – angeht. Gerade in diesem Bereich konnte die
Bundesregierung während der deutschen Ratspräsident-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12305
(A) (C)
(B) (D)
schaft, unterstützt vom Deutschen Bundestag, wichtige
Weichenstellungen vornehmen.
Entgegen der Annahme in diesem Antrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen, zielt gerade die von der Bundesregie-
rung gewünschte Ausgestaltung des ETI auf eine verbes-
serte Kooperation und Koordination im Europäischen
Forschungsraum. Das die Innovationsfähigkeit des EFR
durch die vorgesehenen exzellenten Forschungs- und In-
novationsnetzwerke verbessert wird, ist zu begrüßen. Es
ist mir deshalb unverständlich und vor allem ist es wi-
dersprüchlich, im Antrag auf der einen Seite verbesserte
Kooperation und Koordination zur fordern und auf der
anderen Seite das ETI, welches genau dies befördern
soll, kategorisch abzulehnen. Eine langfristige und sinn-
volle Strategie für den Europäischen Forschungsraum
sieht meiner Ansicht nach anders aus.
Ich würde deshalb den Antragstellern empfehlen, sich
einmal das von der Bundesregierung vorgelegte Kom-
promisspapier sowie den entsprechenden Antrag von
CDU/CSU und SPD anzusehen. Von einer Parallelstruk-
tur kann in diesem Fall keine Rede sein. Vielmehr soll
die Einrichtung des ETI gerade die derzeit bestehenden
Kooperationsstrukturen ergänzen. Damit kommen wir
auch dem maßgeblichen Anliegen des Europäischen
Forschungsraumes nach, der Schaffung europäischer
Forschungsinfrastrukturen sowie der Vernetzung beste-
hender Einrichtungen. Dadurch werden auch grenzüber-
schreitende Netzwerke und Forschungsverbünde ge-
stärkt werden.
Wie die Antragsteller in diesem Zusammenhang da-
rauf kommen, dass bestehende Initiativen und Pro-
gramme geschwächt werden würden, kann ich nicht
nachvollziehen. Wie schon erwähnt, das Lesen des Re-
gierungsvorschlages sowie ein Studium des Koalitions-
antrages könnten hier für die nötige Klarheit sorgen. Zu-
mindest wird daraus deutlich, dass die jetzige
Bundesregierung, im Vergleich zur Vorgängerregierung
beispielsweise mit der Antidiskriminierungsrichtlinie
oder der Feinstaubrichtlinie, eine fachlich durchdachte
und praxisnahe Initiative auf europäischer Ebene startet.
Einige Anmerkungen möchte ich noch zu dem eben-
falls umschweifend angesprochenen Themenbereich des
Wissenschaftlernachwuchses machen:
Fakt ist, dass in Europa in den kommenden Jahren
rund 700 000 Forscherinnen und Forscher fehlen wer-
den. Um jedoch unseren Forschungsstandort zu sichern,
muss dieser dringend notwendige Bedarf an Nachwuchs-
kräften, insbesondere in den Technik- und Naturwissen-
schaften, offensiv gewonnen werden. Dazu muss bereits
frühzeitig in der Schule angesetzt werden. Nur dann ist
die Begeisterung des Nachwuchses für Technik und die
Naturwissenschaften und somit auch für eine berufliche
Karriere in diesen Bereichen zu wecken. Ein Beginn erst
während des Studiums, wie von Bündnis 90/Die Grünen
gefordert, ist bei Weitem zu spät.
Die Maßnahmen der unionsgeführten Bundesregie-
rung waren bisher erfolgreich. Bei den naturwissen-
schaftlichen Abschlüssen gab es im Jahr 2006 ein Plus
von 9 Prozent, im Bereich Informatik sogar von 13 Pro-
zent und bei den Ingenieurwissenschaften ein Plus von
4 Prozent. Mit ihren Initiativen, beispielsweise in der
Begabten- und Talentförderung, dem Hochschulpakt, der
Exzellenzförderung oder auch der bundesweiten Initia-
tive „Tectoyou“ hat die Bundesregierung daran großen
Anteil.
Hinsichtlich der Anzahl weiblicher Absolventen sind
jedoch noch weitere Verbesserungen notwendig, um
auch hier, trotz bereits steigender Zahlen, höhere Absol-
ventinnenzahlen zu erreichen. Eine richtige, weil bereits
früh ansetzende Maßnahme ist der jährlich stattfindende
„Girls´ Day“, der speziell Mädchen und junge Frauen für
technische und naturwissenschaftliche Berufe motivie-
ren soll. Vor allem technische Unternehmen, Betriebe
mit technischen Abteilungen und Ausbildungen, Hoch-
schulen und Forschungszentren öffnen am „Girls´ Day“
ihre Türen für Schülerinnen der Klassen 5 bis 10. Die
stetig steigenden Veranstaltungs- und Teilnehmerinnen-
zahlen machen dessen Erfolg sichtbar. Im Jahr 2007 ha-
ben bereits 8 113 Unternehmen und Organisationen und
137 489 Teilnehmerinnen daran teilgenommen.
Die Antragsteller fordern ebenfalls eine Öffnung des
Arbeitsmarktes für Wissenschaftler aus den mittel- und
osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, ohne dass es aller-
dings zum Ausbluten des dortigen Wissenschaftsberei-
ches kommt. Wie das funktionieren soll, erschließt sich
nicht ohne Weiteres. Zum einen haben die entsprechen-
den Staaten wie auch wir großen Bedarf an Wissen-
schaftlern, zum anderen ist der Unterschied der Lebens-
verhältnisse in vielen Fällen noch zu groß, sodass es
automatisch zu einer Wanderungsbewegung kommen
würde.
Selbstverständlich müssen wir auch darüber sprechen,
wie wir die verhältnismäßig hohen Abbrecherquoten an
unseren Universitäten und Fachhochschulen in den Griff
bekommen. Allerdings darf dies auf keinen Fall, wie oft
aus gewissen Richtungen mehr oder weniger offen ge-
fordert, zu Gleichmacherei und zur Vernachlässigung
des Leistungsprinzips führen. Auch während der Quali-
fikation existiert bereits das Exzellenzprinzip.
Alles in allem muss ich festhalten, dass sich
Bündnis 90/Die Grünen diesen ausschweifenden Antrag
aufgrund der weitgehenden Inhaltsleere durchaus hätte
sparen können. Zu begrüßen wäre es gewesen, wenn die-
ser Antrag zum Beispiel im Jahr 1999 oder 2000 einge-
bracht worden wäre. Damals hätte man ihm mit Sicher-
heit eine gewisse Innovationsfreudigkeit nicht
absprechen können. Heute jedoch kann die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion diesem überholten Antrag nicht zu-
stimmen.
René Röspel (SPD): Vor der diesjährigen Sommer-
pause haben wir im Ausschuss für Bildung und For-
schung das Grünbuch der Europäischen Kommission
„Der Europäische Forschungsraum: Neue Perspektiven“
diskutiert. Dabei ging es um die Frage, wie man den Eu-
ropäischen Forschungsraum, der Teil der Lissabon-Stra-
tegie von 2000 ist, vertiefen und erweitern kann. Die
Hauptaussagen des Grünbuchs werden nicht nur von uns
Politikern, sondern auch in der Wissenschaft debattiert.
12306 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Denn die Anmerkungen sollen später in ein Weißbuch
münden, welches in der ersten Hälfte 2008 in Brüssel
verabschiedet werden soll. Das Weißbuch wird die
Grundlage für das 8. Forschungsrahmenprogramm dar-
stellen. Im Grünbuch werden die Mitgliedstaaten aufge-
fordert „[…] breit angelegte Erörterungen auf nationaler
und regionaler Ebene [zur Stärkung des Europäischen
Forschungsraumes] einzuleiten“. (Seite 27) Den Antrag
der Grünen können wir als weitere Gelegenheit wahr-
nehmen, dieser Aufforderung nachzukommen.
Die europäische Forschungslandschaft ist komplex.
Auf zehn Seiten versucht der Grünen-Antrag alle we-
sentlichen Aspekte und Strukturen der Europäischen
Forschungslandschaft anzureißen. Viele Punkte des An-
trages kann man begrüßen, sind schon Regierungshan-
deln oder sicher in diesem Haus unstrittig. Andere
Punkte müssten aber noch einmal diskutiert werden. Auf
diese werde ich jetzt kurz eingehen. In dem uns vorlie-
genden Antrag wird das Europäische Technologieinstitut
(EIT) abgelehnt. Über diese Institution haben wir bereits
öfters im Ausschuss und Plenum gesprochen, zuletzt vor
der Sommerpause. Grundsätzlich teile ich viele der Be-
denken gegen das EIT. Doch wie ich bereits bei meiner
letzten Rede zum EIT am 21. Juni dargelegt habe, war
dieses europäische Projekt nicht mehr aufzuhalten. Die
Bundesregierung hat in der Zeit Ihres EU-Vorsitzes mit
ihrem damaligen Kompromissvorschlag eine für alle
Mitgliedstaaten akzeptable Lösung gefunden. Das Euro-
päische Parlament hat mittlerweile am 26. September
den Kommissionsvorschlag für die Schaffung des EIT
ebenfalls gebilligt. Insofern stimmt Ihre Aussage, das
Europäische Parlament würde das Projekt ablehnen,
nicht. Auch wenn die Finanzierung immer noch auf tö-
nernen Füßen steht und die Sinnhaftigkeit der Institution
sich erst noch zeigen muss, so ist die Entscheidung für
ein EIT endgültig gefallen. Das entbindet uns nationale
Parlamentarier aber nicht von der weiteren kritischen
Begleitung. Spätestens die Evaluierung bis 2012 wird
zeigen, ob das EIT die Erwartungen des signifikanten
Mehrwerts erfüllen kann. Der Forderung der Grünen
aber kann die Bundesregierung nicht entsprechen.
Ein weiterer Abschnitt in Ihrem Antrag beschäftigt
sich mit Ethik und Forschung auf europäischer Ebene.
Sie schreiben auf Seite zwei des Antrages „Eine ethisch
verantwortliche europäische Forschung braucht die of-
fene gesellschaftliche Debatte über die Grenzen der Na-
tionalstaaten hinweg.“ Prinzipiell ist eine gesellschaftli-
che Debatte über Grenzen hinweg, ob nun national oder
anderer Art, immer zu begrüßen. Die Darstellung und
Konfrontation verschiedener Positionen und der Ver-
such, zu mehrheitsfähigen Problemlösungen zu gelan-
gen, ist immer bereichernd. Debatten werden aber nor-
malerweise nicht nur der Debatte wegen geführt – sie
sollen Konsequenzen haben. Bleiben sie hingegen fol-
genlos, stellen sich Politikverdrossenheit und Enttäu-
schung ein. Für den Bereich der ethischen Fragen bedeu-
ten Konsequenzen dann aber, dass Kompromisse auf
europäischer Ebene für alle Mitgliedstaaten bindend sein
müssten.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass beispielsweise ein
europäisches Gremium darüber entscheidet, in welchem
Umfang und mit welchen Grenzen in Deutschland
ethisch problematische Forschung möglich sein sollte.
Mal davon abgesehen, dass bereits die Auswahl der Ver-
treter der deutschen Position sehr kompliziert werden
würde. Welche Aufgabe hätte denn der Bundestag in
ethischen Grundsatzdebatten noch? Beim Deutschen
Ethikrat haben die Grünen noch vor einer Entparlamen-
tarisierung gewarnt, nun kann man den Eindruck bekom-
men, sie forderten selbst eine Verschiebung der Debatte
auf die EU-Ebene. Beim Thema Ethik ist es bereits auf
nationaler Ebene schwierig, einen Kompromiss zu fin-
den. Eine klare ethische Positionierung aller EU-Staaten
und nationaler Öffentlichkeiten kann ich mir deshalb
derzeit beim besten Willen nicht vorstellen. Wir haben
und werden uns bei ethischen Fragen in der Forschung
noch lange nicht auf eine gemeinsame europäische Posi-
tion verständigen können.
Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft
die stärkere europäische Koordinierung von nationalen
Forschungsprogrammen. Als Ziel wird dazu im Antrag
genannt „[…] dass es dabei aus europäischer Perspektive
weder zu unsinnigen Doppelungen noch zu Lücken in den
jeweiligen Forschungsbemühungen kommt“. Gegen Dop-
pelungen anzugehen macht sicherlich Sinn. Aber was ge-
nau sind „unsinnige“ Doppelungen? Es kann durchaus
sinnvoll sein, parallel Forschungen durchzuführen. Die
diesjährige Vergabe des Nobelpreises für Physik an den
Deutschen Peter Grünberg und den Franzosen Albert Fert
ist sicherlich das beste Beispiel für positive Doppelung
von Forschung! Beide haben unabhängig voneinander, der
eine in Jülich, der andere in Paris, am Magnetoeffekt ge-
forscht. Das Ergebnis dieses Wettstreits findet sich mitt-
lerweile in Form von Festplatten in jedem Computer wie-
der. „Doppelungen“ können also Ansporn sein im Sinne
von belebender Konkurrenz oder auch der Versuch, das
gleiche Ziel auf anderem Wege zu erreichen.
Lassen Sie mich noch ein paar weitere Worte zum Be-
reich der europäischen Koordinierung von nationalen
Forschungsprogramme sagen. Es macht natürlich Sinn
zu wissen, wo die Schwerpunkte der anderen nationalen
Forschungsprogramme liegen, in welchen Bereichen
eine Kooperation möglich ist und welche Bereiche viel-
leicht europaweit vernachlässigt werden.
Eine prinzipielle Öffnung der einzelnen nationalen
Forschungsprogramme für alle Mitglied Staaten er-
scheint mir dabei aber problematisch. Nicht nur die Ko-
ordination könnte dadurch, wie im Antrag erwähnt,
schwieriger werden. Ich sehe viel mehr – und mit dieser
Meinung stehe ich nicht allein – die Gefahr von „Tritt-
brettfahrern“. Denn es existieren leider große Unter-
schiede zwischen den staatlichen Ausgaben für For-
schung und Entwicklung in den einzelnen europäischen
Mitgliedsstaaten. Dass sich einzelne Länder ihre For-
schungsanstrengungen durch deutsche Programme be-
zahlen lassen, kann nicht das Ziel eines vereinigten Eu-
ropäischen Forschungsraumes sein. Vielmehr müssen
die einzelnen Mitgliedsstaaten eigene Anstrengungen
unternehmen, mehr in Forschung und Entwicklung zu
investieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12307
(A) (C)
(B) (D)
Eine weitere Forderung der Grünen sind die verstärkte
Bereitstellung von Mitteln für wissenschaftliche Infra-
struktur in den neuen EU-Mitgliedsländern. Die östlichen
EU-Neumitglieder mögen aufgrund ihrer Historie eine
schlechter ausgebaute Forschungsinfrastruktur haben.
Langfristig muss es deshalb das Ziel sein, dass exzellenten
Köpfen, egal aus welchem EU-Land, die passende Infra-
struktur zur Verfügung steht. Entscheidend für die Überle-
gungen zur Ansiedlung neuer Forschungsinfrastruktur
darf dabei aber nicht die Geografie, sondern der wissen-
schaftliche Nutzen des Standortes sein. Und dieser muss
nicht zwangsläufig in den neuen Mitgliedstaaten liegen.
Das muss aber nicht automatisch bedeuten, dass man nur
in Bestehendes investiert, sondern auch offen ist für die
Entwicklung von Potenzialen.
Soweit einige Anmerkungen zum Antrag. Lassen Sie
mich als Fazit aber noch sagen: Es ist eindeutig, dass wir
auf die forschungspolitischen Fragen des 21. Jahrhun-
derts nicht mehr allein nationalstaatlich antworten kön-
nen. Großprojekte wie der X-FEL bei Hamburg oder
Forschungsbereiche wie die Klimaforschung können nur
gemeinsam erfolgreich angegangen werden. Als logi-
sche europäische Konsequenz daraus führt an einem ge-
meinsamen europäischen Forschungsraum kein Weg
vorbei! Bis zur Vollendung haben wir aber noch viele
Schritte vor uns! Im Forschungsland Deutschland – ich
denke, bei zwei von drei diesjährigen Nobelpreisträgern
in naturwissenschaftlichen Kategorien darf man dies
wohl voller Überzeugung sagen – tun wir gut daran, uns
auch weiterhin an diesen Diskussionen und der Gestal-
tung aktiv zu beteiligen. Der uns jetzt vorliegende An-
trag der Grünen bietet uns dafür, bei all seinen Defiziten,
eine gute Diskussionsgrundlage.
Cornelia Pieper (FDP): Ich teile die Auffassung
meiner Kollegen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen, die eine Verbesserung der Kooperation und Koordi-
nation im europäischen Forschungsraum fordern. Seit-
dem in der sogenannten Lissabon-Strategie das Ziel
formuliert wurde, Europa bis zum Jahr 2010 zur dyna-
mischsten wissensbasierten Wirtschaftsregion der Welt
zu entwickeln, sind nunmehr sieben Jahre vergangen.
Heute, im Landeanflug sozusagen, ist es durchaus rich-
tig, danach zu fragen, ob uns eine Punktlandung in drei
Jahren gelingen wird. Ich gebe zu, damals wie heute ver-
folgen wir ein ambitioniertes Ziel, das aber die Zustim-
mung aller im Bundestag vertretenen Parteien fand. Ich
stellte gestern im Ausschuss Frau Dr. Schavan die zen-
trale Frage, ob sie glaubt, dass wir bei weiter steigendem
Wirtschaftswachstum das 3-Prozent-Ziel erreichen wer-
den. Die Kollegen im Ausschuss haben es gehört. Frau
Schavan ist der Auffassung, dass die Bundesregierung in
ihren einzelnen Forschungshaushalten dieses Ziel bis
2010 realisieren wird.
Heute, nach sieben Jahren, müssen wir feststellen:
Europa hat mit anderen Wirtschaftsräumen der Welt
nicht Schritt halten können. Die FuE-Wachstumsraten
bleiben hinter denen Asiens oder der USA zurück, die
Beschäftigungsziele werden nicht erreicht, und dem
Ziel, 3 Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung
zu investieren, sind wir immer noch nicht näher gekom-
men. Das ist außerordentlich bedauerlich, zumal der Zu-
wachs nicht einmal reicht, um den Status quo herzustel-
len. Ich habe schon sehr oft gesagt, dass wir auch auf
Regierungsseite unsere Schlagkraft stärken müssen. Und
das geht eben doch besser, wenn die Verantwortung in
einem Innovationsministerium liegt.
Die Schlüsselzahlen 2007 zu Wissenschaft, Technolo-
gie und Innovation in der EU zeigen, dass die FuE-Inten-
sität – Ausgaben für Forschung und Entwicklung als
Prozentanteil des BIP – in Europa, trotz des Lissabon-
Prozesses, seit Mitte der 90er-Jahre unverändert bei
1,84 Prozent des BIP geblieben ist. Und das, obwohl
Frankreich – plus 1,02Prozent–, Deutschland – plus
0,76 Prozent – und Großbritannien – plus 0,7 Prozent –
ihre FuE-Ausgaben steigern konnten. Dagegen haben al-
lein die USA – plus 1,08 – ihr Engagement im Bereich
FuE deutlich verstärkt und damit zur Entstehung einer
Welt beigetragen, in der das Wissen gleichmäßiger ver-
teilt ist als jemals zuvor. Europa konnte auch das Investi-
tionsdefizit im Bereich FuE gegenüber den Vereinigten
Staaten in den vergangenen Jahren nicht abbauen.
Sie können das auch im FuE-Bericht der Europäi-
schen Kommission nachlesen. Europäische Unterneh-
men geben nicht einmal halb soviel Geld für Forschung
aus wie ihre Konkurrenten in anderen Teilen der Welt.
Die 1 000 größten europäischen Investoren gaben im
vergangenen Jahr 121,1 Milliarden Euro für Forschung
und Entwicklung aus. Bei den 1 000 größten außerhalb
der EU waren es 250,5 Milliarden Euro. Der Bericht
kommt zu dem Schluss, dass sich die Kluft zwischen der
EU und anderen Weltregionen weiter vergrößert. Immer-
hin, wenn auch um einen Platz abgeschlagen, gehört
Daimler auf Platz fünf zu den größten in FuE investie-
renden Unternehmen. Innerhalb Europas nimmt Daimler
Platz eins ein. Deutsche Unternehmen belegen Platz drei
– Siemens –, Platz fünf – VW –, Platz sieben – Bosch –
und Platz acht – BMW.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf das
Grünbuch zum Europäischen Forschungsraum, EFR,
verweisen. Es hat eine breite Debatte über die künftigen
Orientierungen für den EFR in Gang gesetzt. Die Ent-
wicklung macht deutlich, dass aus mindestens fünf
Gründen dringender Handlungsbedarf besteht:
Die EU ist Teil einer globalisierten Welt, in der das
Wissen gleichmäßiger verteilt ist als jemals zuvor. Der
starke Wettbewerb auf dieser Ebene verlangt von der
EU, dass sie sich anpasst und dass sie den EFR für den
Rest der Welt attraktiver macht.
Im Jahr 2005 wurden in der EU der 27 lediglich
1,84 Prozent des BIP für FuE aufgewendet, womit das
Ausgabenniveau nach wie vor unter dem in den USA, in
Japan oder in Südkorea liegt. Die neuen, aufstrebenden
Volkswirtschaften wie China holen rasch auf. Sollten
sich die derzeitigen Trends fortsetzen, wird China – was
die FuE-Intensität anbelangt – bis 2009 zur EU aufge-
schlossen haben. Auch Deutschland ist dem 3-Prozent-
Ziel immer noch nicht näher gekommen.
Mehr als 85 Prozent der Differenz zwischen der FuE-
Intensität in der EU und der FuE-Intensität bei ihren
12308 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
wichtigsten Wettbewerbern hat ihren Grund in den Un-
terschieden in der FuE-Finanzierung durch die Unter-
nehmen. Die im Vergleich zu den USA geringe Höhe der
FuE-Ausgaben des privaten Sektors in Europa ist in ers-
ter Linie auf Unterschiede in der Industriestruktur und
auf die geringere Größe der Hightechindustrie in der EU
zurückzuführen.
Was die Forschungsexzellenz anbelangt, ist festzu-
stellen, dass obwohl die EU weltweit der größte Produ-
zent von wissenschaftlichem Wissen ist, die Wirkung der
europäischen Wissenschaft geringer ist, als die der Wis-
senschaft der USA. In allen wissenschaftlichen Diszipli-
nen hinkt Europa hinter den Vereinigten Staaten her, so-
wohl was die Zitationshäufigkeit, als auch was die Zahl
der häufig zitierten Publikationen anbelangt. Auch sind
die Universitäten der EU stark unterrepräsentiert in der
Spitzengruppe eines Rankings, das auf der Grundlage bi-
bliometrischer Indikatoren der weltweit größten Univer-
sitäten erstellt wurde. Ferner ist die Verknüpfung zwi-
schen Technologie – patentierten Erfindungen – und der
Wissenschaftsbasis in der EU wesentlich schwächer als
in den USA. Europa tut sich schwer damit, sich in den
neuen Hightechindustrien gut zu positionieren.
Wenngleich Investitionen des privaten Sektors für
Forschung und Entwicklung von zentraler Bedeutung
sind, sollte dem öffentlichen Sektor künftig eine wich-
tige Rolle zufallen. Die öffentliche Hand muss in der EU
weiter in FuE investieren, damit sich die FuE-Aktivitä-
ten der Privatwirtschaft weiterentwickeln. Andererseits
müssen wir das enge Zusammenwirken von Wissen-
schaft und Forschung durch Public-Private-Partnership
deutlich besser im Auge behalten Hier gibt es noch
große Spielräume.
Die Konkurrenzfähigkeit unserer Forschungs- und
Entwicklungskompetenzen können wir nur durch eine
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des gesamten FuE-
Systems erhöhen. Das setzt voraus, dass wir den Mut zu
einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz haben. Das könnte
die Voraussetzungen für eine enge FuE-Zusammenarbeit
zwischen Wirtschaft und Hochschulen, der Schaffung
von Wissenschaftsclustern und letztendlich auch für ei-
nen Wissenschaftstarifvertrag schaffen.
Im Rahmen der erneuerten Lissabon-Strategie sind
die Mitgliedstaaten neue, weit reichende Verpflichtun-
gen eingegangen, indem sie Zielvorgaben für die künf-
tige FuE-Intensität gemacht haben.
Der für Unternehmens- und Industriepolitik zustän-
dige Vizepräsident der Kommission Günter Verheugen
betonte in diesem Zusammenhang, es sei wichtig, den
strukturellen Wandel nicht als Bedrohung, sondern als
Möglichkeit zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu
sehen: In Europa muss sich eine wirklich wissensba-
sierte und innovationsfreundliche Gesellschaft heraus-
bilden, die die Innovation nicht fürchtet, sondern will-
kommen heißt, sie nicht behindert, sondern fördert.
Verheugen rief dazu auf, Innovation als gesellschaftli-
chen Grundwert zu etablieren.
Die Realität bei uns zu Lande zeigt jedoch: Das Gen-
technikgesetz behindert nach wie vor die Entwicklung
der Grünen Gentechnik; es gibt keinen Durchbruch bei
der Stammzellenforschung durch den Abbau gesetzli-
cher Hemmschwellen. Jeder zweite Student in höheren
Semestern sieht seine Zukunft heute im Ausland. So-
lange das im EU-Ausland ist, mag es ja noch in die
Lissabon-Strategie passen, aber immer mehr sehen ihre
Chancen in den USA, in den Staaten Osteuropas und in
Asien.
Wie sehen wichtige Leitlinien überhaupt aus? Es geht
um die Einrichtung innovationsfreundlicher Bildungs-
systeme. Davon sind wir noch weit entfernt. Es geht um
die Gründung eines Europäischen Technologieinstituts,
das europaweit Forschungsnetzwerke bildet, und es wird
ja jetzt auch kommen.
Der Antrag der Grünen will aber genau das verhin-
dern.
Es soll ein gemeinsamer Arbeitsmarkt für Forscher
aufgebaut werden. Gerade hier war die Gesetzgebung
dieser Bundesregierung – ich denke da in erster Linie an
die Zuwanderung – nicht gerade förderlich. Die Verbin-
dungen zwischen Forschung und Wirtschaft sollen inten-
siviert werden. Hier wurde der zaghafte Versuch einer
kleinen Lösung für die Forschungsprämie unternommen
und nach Anmahnung durch die FDP noch um die Kom-
ponente „gemeinnützige Forschungseinrichtungen“ er-
weitert. Wir brauchen aber den großen Wurf für alle for-
schenden Unternehmen in Deutschland. Überarbeitete
Regeln zu staatlichen EU-Beihilfen für Forschung und
Entwicklung sowie für Innovationen bessere FuE-Steu-
eranreize müssen Realität werden. Hier scheint ja Bewe-
gung in die Diskussion gekommen zu sein, zumal einige
europäische Länder diesen Weg schon erfolgreich be-
schreiten.
Die Zukunft ist nur mit und nicht gegen Europa zu ge-
stalten.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Seit dem sogenannten
Millenniumsgipfel im März des Jahres 2000 in Lissabon
werden in der Europäischen Union Wissenschaft, For-
schung und Entwicklung sowie Wissenstransfer über ei-
nen gemeinsamen Nenner definiert und strukturiert. Bis
2010 soll der „wettbewerbsfähigste und dynamischste
wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt“ entstehen.
Alles, was nicht dieser Zielstellung dient, ist nachrangig
und wird auch so behandelt. Die Linke hat diesen kon-
zeptionellen Ansatz bereits mehrfach als einseitig kriti-
siert.
Im Mittelpunkt dieses maßgeblich aus öffentlichen
Mitteln gespeisten Forschungsförderrahmens, dessen
Bestandteile das rund 50 Milliarden Euro schwere
7. Forschungsrahmenprogramm (FP7) und die Schaf-
fung eines Europäischen Forschungsraums sind, steht
nahezu ausschließlich wirtschaftliches Verwertungsinte-
resse. Welche Forschung eine Gesellschaft braucht, um
Menschen bessere Lebens- und Beschäftigungsbedin-
gungen zu sichern und damit auch als Gesellschaft zivili-
satorischen und kulturellen Fortschritt zu erhalten,
taucht immer nur dann auf, wenn es Schnittmengen mit
wirtschaftlichen Interessen gibt. Dabei muss gerade For-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12309
(A) (C)
(B) (D)
schung wesentliche Beiträge leisten, wie man langfristig
den großen globalen Konflikten und Herausforderungen
sowie gesellschaftlichen Widersprüchen begegnen
könnte.
Eine entsprechende öffentliche Forschungsförderung
sollte sich diesem Anspruch selbstbewusst stellen. Die
„Freiheit von Forschung und Lehre“ muss im Mittel-
punkt stehen und nicht die Ausrichtung auf Themen, die
sich ökonomisch verwerten lassen. So melden sich
gegenwärtig mehr und mehr Wissenschaftler und Wis-
senschaftlerinnen zu Wort; die diese Entwicklung kriti-
sieren. Sie wenden sich ausdrücklich gegen eine Ökono-
misierung der Wissenschaftslandschaft und gegen das
Konzept, sich bei der Hochschulsteuerung an Unterneh-
men zu orientieren.
Das Grünbuch „Der Europäische Forschungsraum:
Neue Perspektiven“ und der zuständige EU-Kommissar
für Wissenschaft und Forschung, Jan Potocnik, stehen
allerdings ganz klar für die in Lissabon definierte
Grundausrichtung, einen europäischen Binnenmarkt für
die Forschung zu schaffen. Die Linke hält diese strategi-
sche Ausrichtung für einen gravierenden Fehler.
Daraus leitet sich ab, und das kritisieren wir Linke
gleichermaßen, dass sich europäische Forschungs- und
Technologieförderung vor allem aus einem Block- und
Konkurrenzdenken gegen andere Wissenschafts- und
Technologieregionen und -mächte definiert. Häufig ge-
nannt werden in diesem Zusammenhang die USA oder
die aufholenden Asiaten wie China oder Indien. Ein ko-
operativer globaler Ansatz wird ausdrücklich nicht ver-
folgt. Es geht in jedem Falle um einen maximalen Mehr-
wert für die europäische Wirtschaft.
So ist es wenig verwunderlich, wenn die Optimierung
der Forschungsprioritäten – beispielsweise bei den im
7. Forschungsrahmenprogramm geförderten gemeinsa-
men Technologieplattformen – den Schwerpunkt auf
Themen legt, die sich aus den Interessen der Industrie er-
geben. Dazu gehören unter anderem die „Technologie-
initiative Clean Sky“ oder auch ARTEMIS – die „Tech-
nologieinitiative für eingebettete IKT-Systeme“. Die EU
lässt sich mit „Clean Sky“ die Luft- und Raumfahrtfor-
schung in den nächsten Jahren rund 800 Millionen Euro
kosten; die eingebetteten Computersysteme werden von
der öffentlichen Hand mit rund 420 Millionen Euro sub-
ventioniert. Alle Technologieinitiativen werden aber von
Unternehmen geleitet.
Auch die Entwicklung und Stärkung von Forschungs-
einrichtungen richtet sich vorrangig nach ihrer themati-
schen, materiellen, personellen und finanziellen Dienst-
leistungsfunktion gegenüber der Industrie und dem
daraus abgeleiteten spezifischen Bedarf an Wissens-
transfer. Ein Beispiel dazu: Zum Fahrplan des Europäi-
schen Strategieforums zu Forschungsinfrastrukturen,
ESFRI, gehört das Projekt IFMIF, International Fusion
Material Irradiation Facility. Es soll Materialforschung
für zukünftige Fusionsreaktoren, sprich nukleare Ener-
gieforschung, betreiben. Erwartete Kosten: Rund 850 Mil-
lionen Euro.
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass es zwangsläufig
zu einer dramatischen Ausblendung von Themen aus
dem geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Be-
reich kommen muss. Diese Wissenschaftsdisziplinen
werden häufig auf Akzeptanzforschung zur Einführung
und Umsetzung von umstrittenen Technologien redu-
ziert. So stellt das Sicherheitsforschungsprogramm die
Entwicklung von Detektionstechnologien zur Bekämp-
fung von Terrorangriffen in den Vordergrund. Ängste
vor einem aufgeweichten Datenschutz oder einge-
schränkten Bürgerrechten werden hier als zu überwin-
dende Hürden definiert, für die Konzepte zum „Dialog
mit den Bürgern“ präsentiert werden sollen.
Dass Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften in
der europäischen Forschungsförderung ins Hintertreffen
geraten ist zumindest insoweit widersprüchlich, als die
Kommission zwischen April und August 2007 ausge-
sprochen interessante Handlungsrichtlinien veröffent-
licht hat, die auf ethische Spannungsfelder in verschie-
denen Forschungsfeldern Bezug nehmen. Vor diesem
Hintergrund hält es die Linke für notwendig, eine eigen-
ständige und unabhängige Forschungskritik zu entwi-
ckeln und diese Risikobegleitforschung auch angemes-
sen zu finanzieren.
Die Linke kann die Europäische Kommission daher
nur nachdrücklich auffordern, die eigene Position umzu-
setzen und sowohl in der Spitze als auch der Breite der
Systeme zu fördern. Auch die Einbindung von gesell-
schaftlichen Akteuren bei der Auswahl forschungspoliti-
scher Schwerpunkte muss offensiver verfolgt werden.
Bisher werden in der Europäischen Gemeinschaft parti-
zipative Verfahren nur am Rande aufgeworfen.
Sieht man einmal von der Grundkritik an der Ausrich-
tung des europäischen Forschungsraumes ab, wirft das
Grünbuch aber auch wichtige und richtige Probleme auf.
Dazu gehören unzureichende Forschungsinvestitionen,
die Fragmentierung der Forschung, die Kritik an den
Mobilitätshindernissen für Forscher und Forscherinnen,
ihre schlechten Arbeitsbedingungen und sehr begrenzten
Laufbahnaussichten sowie nicht zuletzt die Unterreprä-
sentanz von Frauen in der Wissenschaft.
Vergleicht man nun diese Überlegungen aus dem
Grünbuch mit der nationalen Forschungsförderung in
Deutschland, dann zeigt sich eine ganze Reihe von Wi-
dersprüchen.
Offensichtlich versuchen punktuell nicht nur 16 Bun-
desländer Alleinstellungsmerkmale gegen das EU-Kon-
zept zu realisieren, sondern auch die Forschungspolitik
der Bundesregierung erschwert unnötig eine Harmoni-
sierung der Forschungsbedingungen in Europa. Das zei-
gen zum Beispiel die Föderalismusreform, die angekün-
digte Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes, das
Wissenschaftszeitvertragsgesetz und das jüngst von der
Kanzlerin gelobte Wissenschaftsfreiheitsgesetz, das im
kommenden Frühjahr das Licht der Welt erblicken soll.
Doch eine leistungsfähige Forschung wird in Deutsch-
land und Europa auf lange Sicht nur zu sichern sein,
wenn den Beschäftigten nicht nur Mitsprache in betrieb-
lichen, sondern auch in wissenschaftlichen Fragen ein-
12310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
geräumt wird. Rechtliche Mindeststandards sollten im
Rahmen eines sektoralen sozialen Dialogs europaweit fi-
xiert werden. Die Linke unterstützt daher alle Forderun-
gen, die die „Empfehlungen der Europäischen Kommis-
sion zur Charta für Forscher und einen Verhaltenscodex
für die Einstellung von Forschern“ aus dem Jahre 2005
als verbindliche Grundlage bestimmen wollen.
Die Bundesregierung sollte mit den Bundesländern
vereinbaren, das attraktivere Nachwuchsmodell der EU
umzusetzen und damit die Promotion durchgängig als
erste Phase wissenschaftlichen Arbeitens anzuerkennen.
Deutsche Sonderwege auf nationaler, bundesstaatlicher
und hochschul- bzw. wissenschaftseinrichtungsbezoge-
ner Ebene erschweren zusätzlich die Begründung trans-
parenter und attraktiver Beschäftigungsbedingungen für
alle beteiligten Beschäftigungsgruppen – nicht nur für
Spitzenwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen. Diese
sind ohne Engagement ihrer Mitarbeiter gar nicht in der
Lage, Spitzenforschung zu realisieren.
Die Linke betrachtet es zudem als entscheidenden
Rückschritt, dass innerhalb des 7. Forschungsrahmen-
programms kein Gender-Action-Plan integriert wurde.
Diesbezüglich ist einiges in Deutschland im letzten Jahr
positiv in Bewegung gekommen, gerade bei den großen
Forschungsorganisationen. Die Bundesregierung sollte
daher die verbindliche Erfüllung von Gleichstellungskri-
terien an die Vergabe von Forschungsmitteln knüpfen.
Abschließend sei betont: Die Linke hält das Grün-
buch für eine wichtige Chance, europäische Forschungs-
förderung kritisch zu überprüfen. Lassen Sie uns nun
endlich die Weichen für eine verbesserte Forschungspo-
litik und damit für künftige Rahmenprogramme der EU
stellen.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
grüne Fraktion ist der Ansicht, dass wir uns in der For-
schungspolitik in stärkerem Maße, als dies bisher der
Fall ist, mit der europäischen Ebene beschäftigen müs-
sen und die europäische Koordinierung und Kooperation
zu stärken haben.
Deshalb debattieren wir heute unseren Antrag, mit
dem wir in die Debatte um die Weiterentwicklung des
europäischen Forschungsraumes einsteigen wollen. Die
Europäische Kommission hat zu diesem Thema ein
Grünbuch vorgelegt, das vielfältige Anforderungen und
Handlungsbedarfe identifiziert. Ich möchte hier nur auf
wenige zentrale Aspekte eingehen – wir werden das
Thema in der Folge im Ausschuss dann noch erschöp-
fend behandeln.
Am offensichtlichsten zeigt sich der Mehrwert einer
europäischen Dimension wahrscheinlich bei der Schaf-
fung einer leistungsfähigen Forschungsinfrastruktur im
Bereich von Großanlagen. Gerade bei deren Einrichtung
hat die Planung auf europäischer Ebene den Vorteil, dass
mehrere Länder ihre Mittel bündeln können und so ein
effizienterer Einsatz der Mittel und letztlich bessere und
vielfältigere Möglichkeiten für die Forscherinnen und
Forscher eröffnet werden. Eine gesamteuropäische Pla-
nung bietet den Vorteil, dass einzelstaatliche Versuche,
sich mit der Errichtung von Großprojekten zu profilie-
ren, in europäisch koordinierte Bahnen gelenkt werden
und so ineffiziente Doppelungen und Lücken der Infra-
struktur vermieden werden. Hinzu kommt, dass vorbild-
hafte paneuropäische Infrastrukturen auch die Öffnung
des europäischen Forschungsraumes zur Welt befördern,
weil sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus
anderen Teilen der Welt anziehen. Allerdings ist bisher
bei vielen Vorhaben der neuen „ESFRI-Roadmap“ noch
nicht klar, wie sie finanziert werden können. Besonders
bedenklich ist es, dass sich die Wirtschaft bisher selbst
dann nicht engagiert, wenn die entsprechenden Einrich-
tungen für sie von unmittelbarem Nutzen sind.
Zweitens sind die Forschungsrahmenprogramme ein
zentrales Element zur Verwirklichung eines europäi-
schen Forschungsraumes. Mit dem inzwischen gestarte-
ten 7. Forschungsrahmenprogramm sind die finanziellen
Mittel erhöht worden, wenn auch nicht so deutlich, wie
es wünschenswert gewesen wäre. Außerdem sind wei-
tere innovative Maßnahmen eingeführt worden, zum
Beispiel der Europäische Forschungsrat, mit dem exzel-
lente Grundlagenforschung eine echte gesamteuropäi-
sche Ausrichtung erhält.
Es geht in der Zukunft darum, sicher stellen, dass wir
für eine kontinuierliche Verbesserung und den Ausbau
der Forschungsrahmenprogramme Sorge tragen. Außer-
dem muss es gelingen, den bürokratischen Aufwand bei
der Beantragung von Mitteln weiter zu reduzieren, so
dass auch kleine Hochschulen, kleinere Forschungsein-
richtungen und kleine und mittelständische Unterneh-
men bessere Chancen auf eine erfolgreiche Beteiligung
haben.
Drittens muss sich der europäische Forschungsraum
durch die Mobilität der Forscherinnen und Forscher aus-
zeichnen. Ein besonders schwerwiegendes Hindernis für
die Mobilität von Forscherinnen und Forschern ist die
Tatsache, dass häufig die Portabilität von Sozialversi-
cherungsansprüchen nicht gegeben oder sehr unüber-
sichtlich und schwierig ausgestaltet ist. Ziel muss es
sein, hier zu vernünftigen europäischen Regelungen zu
gelangen, um der besonderen Bedeutung des Wissen-
schaftssektors und den erhöhten Mobilitätsanforderun-
gen an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ge-
recht zu werden. Wie dies gelingen kann, ist derzeit noch
nicht klar, und hier wird sicherlich noch einiges an Ar-
beit und Beratungsbedarf auf uns zukommen.
Es ist uns aber auch wichtig, zu betonen, dass der eu-
ropäische Forschungsraum keineswegs eine Angelegen-
heit sein soll, die alleine von der Kommission betrieben
wird. An einigen Stellen des Grünbuches hat man aber
den Eindruck, dass die Kommission zu stark auf einen
„top down“-Ansatz setzt. Nach unserer Überzeugung
wäre es zum Beispiel kontraproduktiv, wenn man natio-
nale Forschungsförderungsprogramme grundsätzlich für
Bewerber aus anderen europäischen Staaten öffnen
würde. Stattdessen sollte man hier lieber auf dezentrale
Koordinierung und freiwillige Kooperation der Mit-
gliedstaaten und der Forschungsinstitute setzen, wie dies
ja auch von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissen-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12311
(A) (C)
(B) (D)
schaftlern in ihren Reaktionen auf das Grünbuch geäu-
ßert wird.
Im Übrigen sollte nach Auffassung der grünen Frak-
tion ein Markenzeichen des europäischen Forschungs-
raumes in einer starken Präsenz von Forschung und For-
schungspolitik in der europäischen Gesellschaft liegen.
Ein wirklicher europäischer Forschungsraum kann nur
gelingen, wenn sich eine demokratische europäische Öf-
fentlichkeit mit den Richtungen, Zielen und Bedingun-
gen von Forschung auseinandersetzt. Zentral sind dabei
offene Debatten über die wissenschaftlichen Schwer-
punkte, über Chancen aber auch Normen und Grenzen
für die Forschung. Eine erfolgreiche und verantwor-
tungsvolle europäische Forschung braucht die offene ge-
sellschaftliche Debatte über die Grenzen der National-
staaten hinweg.
Wir treten dafür ein, dass das nationale Parlament
sich sehr entschieden in den weiteren Entscheidungspro-
zess einbringt und die Weiterentwicklung des europäi-
schen Forschungsraumes konstruktiv und kritisch be-
gleitet. Ich freue mich deshalb auf unsere weiteren
Beratungen auf der Grundlage des Grünbuches und un-
seres Antrages.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Neunten Ge-
setzes zur Änderung des Versicherungsauf-
sichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 21)
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Das Bun-
desverfassungsgericht erklärte im Juli 2005 Teile des
bestehenden Versicherungsaufsichtsgesetzes für ver-
fassungswidrig. Neu geregelt werden sollte die Be-
standsübertragung durch Versicherungsvereine auf Ge-
genseitigkeit und die Überschussbeteiligungen in der
Lebensversicherung. Unabhängig von diesem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts war es notwendig, die Versi-
cherungsaufsicht an internationale Standards anzupas-
sen. Als Ergebnis liegt nun der Gesetzesentwurf der
Neunten Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz vor.
Wir als Unionsfraktion bewerten den Gesetzesent-
wurf grundsätzlich positiv. Das Versicherungsaufsichts-
gesetz wird im Sinne des Bundesverfassungsgerichts ge-
ändert. Des Weiteren wird die Versicherungswirtschaft
auf die kommenden Aufsichtsstandards im Rahmen der
europäischen Solvency-II-Regelungen vorbereitet. Da-
bei werden erhöhte Anforderungen an Entscheidungs-
prozesse und das Risikomanagement in Versicherungs-
unternehmen gestellt. Der Übergang von bisher zu
starren Regelungen zu einer prinzipienbasierten Aufsicht
gibt den Unternehmen jetzt größeren Handlungsspiel-
raum und steigert die Wettbewerbsfähigkeit. Das stärkt
den Versicherungsstandort Deutschland nachhaltig!
Einen Punkt in der Novelle sehen wir in der Union al-
lerdings kritisch. Die Regelungen für deutsche Pensions-
fonds sind nach wie vor zu eng. Schon in der Siebten
Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz wurde dieser
Punkt verhandelt, allerdings dann doch zurückgestellt.
Nun steht er wieder auf der Tagesordnung. Die größten
deutschen Unternehmen, also alle DAX-30-Unterneh-
men und ein bedeutender Teil der größten mittelständi-
schen Unternehmen, planen Folgendes: Sie wollen die
betriebliche Altersvorsorge ihrer Mitarbeiter in eigen-
ständige Pensionsfonds auslagern und absichern. Die
Basis war das von der rot-grünen Regierung im Jahr
2001 verabschiedete Altersvermögensgesetz. Allerdings
haben nur vier Betriebe bisher überhaupt Pensionsfonds
gegründet. Das spricht nicht unbedingt für die aktuellen
Regelungen. In der Tat beurteilen die Unternehmen das
geltende Recht als zu einschränkend. Daher weicht ein
Großteil von ihnen momentan auf Treuhandgesellschaf-
ten aus, die sogenannten CTAs, Contractual Trust Arran-
gements. Das Problem hierbei ist aber, dass diese Gesell-
schaften weder einer Aufsicht noch einer Absicherung
unterliegen.
Pensionsfonds hingegen sichern Betriebsrentenan-
sprüche dreifach ab:
Erstens. Sie sind zu 100 Prozent durch Fondskapital
gedeckt.
Zweitens. Eine zeitweilige Unterdeckung, beispiels-
weise bei großen Schwankungen am Aktienmarkt, ist
über den Pensionssicherungsverein, PSV, abgesichert.
Drittens. Für alle Fälle müssen die Trägerunterneh-
men haften. Dies wurde mit der Siebten VAG-Novelle
eingeführt.
Es gibt hier nur einen strittigen Punkt: Die Deckungs-
regeln sind zu rigide. Das benachteiligt eindeutig die
Unternehmen, die in Deutschland einen Pensionsfonds
gründen möchten. Aktuell kann die Unterdeckung dieser
Fonds bei nur maximal 5 Prozent liegen, Das bedeutet,
wenn die Differenz zwischen Pensionsansprüchen und
Fondsvermögen die Grenze von 5 Prozent überschreitet,
so muss die Trägergesellschaft sofort einspringen und
ausgleichen. Besonders diese Ausgleichspflicht erfordert
von den Trägerunternehmen kurzfristig eine sehr hohe
Liquidität. Mehr noch, sie sind sogar gezwungen, per-
manent Liquidität bereitzustellen. Findet sich kein Kom-
promiss, so besteht die Gefahr, dass die hier gewünsch-
ten Pensionsfonds nicht hier, sondern im Ausland
aufgelegt werden. Unsere europäischen Nachbarländer
stehen auch schon in den Startlöchern und bieten sich
ganz offen als künftige Standorte für Pensionsfonds an.
Wollten wir nicht gerade die großen, international täti-
gen Unternehmen bewegen, ihre gesamten Betriebsren-
tenansprüche über deutsche Pensionsfonds zu decken,
um damit den Standort Deutschland zu stärken?
Ich bin der Meinung, dass die Unterdeckungsgrenze
in Pensionskassen auf 10 Prozent angehoben werden
sollte. Auch ein sofortiger Ausgleich wird von den Ex-
perten, auch der Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
tungsaufsicht, als nicht unbedingt zwingend erachtet.
Ein Korridor von 10 Prozent der Rückstellungen ent-
spricht internationalen Regelungen. Im Falle einer Un-
terdeckung und einer Gefährdung der Erfüllbarkeit des
Pensionsplans müsste mit der Bundesanstalt für Finanz-
dienstleistungsaufsicht ein konkreter und realisierbarer
12312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Sanierungsplan erstellt und durchgeführt werden. Dies
würde auch der EU-Pensionsfondsrichtlinie entsprechen,
die bereits im Rahmen der Siebten VAG-Novelle umge-
setzt wurde.
Das Bundesministerium für Finanzen bringt im Zu-
sammenhang mit einer Lockerung der Bedeckungsre-
geln immer wieder das Argument von möglichen Steuer-
ausfällen. Ich kann dem aber nicht zustimmen: Warum?
Jede Zuführung zu Rückstellungen für die betriebliche
Altersvorsorge ist eine Verbindlichkeit des Trägerunter-
nehmens. Sie mindert somit den Gewinn und folglich
auch die Steuern, genau wie die Bewertungsdifferenz,
die durch Übertragung von Pensionsansprüchen auf Pen-
sionsfonds entsteht und über zehn Jahre abgeschrieben
werden muss. Auch die rigide Nachschusspflicht wird
natürlich nur durch steuerabzugsfähige Nachschüsse er-
füllt. Die Steuerfrage kann hier also keine Rolle spielen.
Insgesamt muss deutlich werden: Wir wollen flexib-
lere Deckungsregeln im Aufsichtssystem. Wir wollen
aber keine Änderungen oder besondere Vorteile im Steu-
errecht.
Lassen sie mich abschließend noch kurz einen Punkt
vorbringen: Es geht um die sogenannten Rückstellungen
für Beitragsrückerstattungen. Die Bildung dieser Rück-
stellungen ist nur zulässig, wenn sie ausschließlich für
die Beitragsrückerstattung verwendet wird. Das Han-
dels- und das Steuerrecht verlangen dies. Ich kann mir
vorstellen, dass in bestimmten Fällen jedoch eine Ent-
nahme aus diesen Rückstellungen gerechtfertigt er-
scheint. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn der Ver-
sicherer zu erhöhten garantierten Leistungen verpflichtet
wird, die er an die Versicherten zu zahlen hätte. So kann
eine Verlustabdeckung abgesichert werden. Die aus-
schließliche Verwendung dieser Rückstellungen für
Leistungen an Versicherte bleibt schließlich gewahrt.
Darüber hinaus muss auch immer die Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht zustimmen. Ich halte das
für eine sinnvolle Ergänzung zur Novelle des Versiche-
rungsaufsichtsgesetzes.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Das Bundes-
verfassungsgericht hat in einem Urteil vom 26. Juli 2005
§ 14 des Versicherungsaufsichtsgesetzes, VAG, für ver-
fassungswidrig erklärt. Mit der vorliegenden Novellie-
rung des Versicherungsaufsichtsgesetzes kommen wir
dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach, bis
zum 31. Dezember 2007 eine verfassungsmäßige Neure-
gelung der Übertragung von Versicherungsbeständen zu
erarbeiten.
Im Zuge der vorgelegten Novellierung der Versiche-
rungsaufsicht unterziehen wir das Verhältnis der Auf-
sichtsbehörde zu den Versicherungsunternehmen einer
kritischen Revision und weiteren Verbesserungen. Dabei
passen wir es an Veränderungen internationaler Stan-
dards für die Finanzaufsicht an, insbesondere hinsicht-
lich des internen Risikomanagements der Unternehmen.
Unsere Neuregelung sieht darüber hinaus vor, das Ver-
fahren der Mindestüberschussbeteiligung der Versicher-
ten in der Lebensversicherung im Interesse des Verbrau-
cherschutzes zu vereinfachen.
Diese Klarstellungen liegen im Interesse der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher, die auf klare Vorschriften
für die Produkte der Versicherungswirtschaft, deren
Vertrieb und Übertragung sehr großen Wert legen, um
ihre privaten Vermögensverhältnisse eigenverantwort-
lich und mit hoher Rendite gestalten zu können.
Auch die Versicherungswirtschaft, die nach der Kre-
ditwirtschaft das zweitgrößte Kapitalsammelbecken un-
serer Volkswirtschaft darstellt, braucht Klarheit hinsicht-
lich der aufsichtsrechtlichen Anforderungen an ihre
Produkte. Klarheit und Kalkulierbarkeit in den Detailre-
gelungen des Versicherungsvertrages können dazu bei-
tragen, attraktive Produkte anzubieten und die starke
Stellung der deutschen Versicherungswirtschaft im euro-
päischen Wettbewerb zu verteidigen und auszubauen.
Denn es kann im Wettbewerb mit anderen Unternehmen
einen großen Vorteil darstellen, wenn man potenziellen
Kunden klare Informationen über wichtige Rahmenda-
ten eines Versicherungsvertragsverhältnisses geben
kann, beispielsweise über Bestandsübertragungen, Prä-
mienberechnung oder Überschussermittlungsverfahren.
Die vorliegende Novelle trägt mit den Neuregelungen
zu Bestandsübertragungen und Überschussermittlungen
zur Etablierung eines voll entwickelten Finanzdienstleis-
tungsmarktes im europäischen Rechtsraum mit einem
funktionierenden Aufsichtsregime und einem Höchst-
maß an Rechtssicherheit für die Kundinnen und Kunden
der Versicherungsunternehmen bei. Sie schließt dabei
noch bestehende Regelungslücken in diesen Bereichen,
wie wir dies schon im Bereich der Rückversicherung,
beim Schutz der Versicherten im Falle von Unterneh-
menskrisen und für die Aufsicht über Versicherungshol-
dinggesellschaften getan haben.
Folgende Maßnahmen haben wir im Einzelnen vorge-
sehen, um unser Ziel der Wahrung der Belange der Ver-
sicherten und der Erfüllbarkeit der Verträge sicherzustel-
len:
Das Bundesverfassungsgericht hat strenge Vorschrif-
ten vorgegeben, nach denen ein Versicherungsunterneh-
men alle oder einen Teil seiner Versicherungsverträge
auf ein anderes Versicherungsunternehmen übertragen
kann. Solche Bestandsübertragungen müssen durch die
zuständige Aufsichtsbehörde BaFin genehmigt werden.
Allein ausschlaggebendes Kriterium für eine Genehmi-
gung war bislang die Frage, ob die finanzielle Sicherheit
der Versicherungsverträge gewahrt blieb.
Dieses Kriterium entwickeln wir mit dem vorliegen-
den Entwurf weiter, indem wir die aufsichtsrechtliche
Genehmigung der Bestandsübertragung nur dann erlau-
ben, wenn die Belange der Versicherten in vollem Um-
fang gewahrt bleiben – ein wichtiger Beitrag zur Kon-
kretisierung unseres Ziels des Verbraucherschutzes. Bei
Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit sichern wir
beispielsweise im Falle einer Bestandsübertragung den
Anspruch der Mitglieder auf Zahlung eines angemesse-
nen Entgelts.
Soweit erforderlich, übertragen wir diese Maßstäbe
auch auf andere Versicherungsverträge mit Überschuss-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12313
(A) (C)
(B) (D)
beteiligung, beispielsweise die Altersrückstellung in der
Krankenversicherung.
Die Vermögenswerte, die durch die Prämienzahlun-
gen der Versicherten entstanden sind und der Erwirt-
schaftung von Überschüssen dienen, müssen auch bei ei-
nem Übergang eines Versicherungsvertrages auf ein
anderes Versicherungsunternehmen in gleichem Umfang
erhalten bleiben. Diese gesetzliche Regelung der Über-
schussbeteiligung in der Lebensversicherung wird be-
gleitet durch das Gesetz zur Reform des Versicherungs-
vertragsrechts, das wir am 5. Juli 2007 beschlossen
haben.
Der Schutz der Verbraucher stand auch bei einem As-
pekt im Vordergrund, den wir im Versicherungsvertrags-
gesetz im Sinne der Versicherten geregelt haben. Viele
Versicherungsunternehmen hatten Prämienzahlung und
Vertragsabschlusskosten – die sogenannte Zillmerung –
sowie negative Erträge und Überschüsse verrechnet,
zum Nachteil der Versicherungskunden, deren Prämien-
zahlungen sich dadurch reduzierten.
Die Vorschriften zur Ermittlung der Mindestüber-
schussbeteiligung regeln wir hingegen mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf neu. Im Laufe der Zeit ergaben
sich Unterschiede in der Berechnung der Mindestüber-
schussbeteiligung für „regulierte“ Verträge, denen ein
genehmigter sogenannter Technischer Geschäftsplan zu-
grunde liegt, und „deregulierte“ Verträge. Dies führte
dazu, dass einzelne Verträge zulasten anderer systema-
tisch und einseitig mit Risiken anderer Verträge belastet
werden. Diese unterschiedlichen Verfahren wollen wir
vereinheitlichen.
Künftig können Verluste nur noch begrenzt mit Ge-
winnen verrechnet werden. Die Bundesanstalt für Fi-
nanzdienstleistungsaufsicht verfügt mit den von den Ver-
sicherungsunternehmen vorzulegenden Berichten über
das geeignete Kontrollinstrument, um die Einhaltung
dieser „Saldierungsbegrenzung“ seitens der Unterneh-
men zu überwachen. Wir versprechen uns davon eine
deutliche Vereinfachung der bislang geltenden Regelun-
gen der Berechnung der Mindestüberschussbeteiligung
der Versicherten.
Auch die international zu beobachtende Entwicklung
von der regelbasierten hin zu einer stärker prinzipienba-
sierten Finanzaufsicht bilden wir mit der Novellierung
des Versicherungsaufsichtsrechts ab. Dieser Übergang
weg von einem regelgebundenen Aufsichtsregime er-
höht auch in der Versicherungswirtschaft die Anforde-
rungen an die Entscheidungsprozesse innerhalb der
Unternehmen. Um eine ordnungsgemäße Geschäftsorga-
nisation innerhalb der Unternehmen der Versicherungs-
wirtschaft zu gewährleisten, sieht die Neuregelung die
Entwicklung einer Risikostrategie sowie interne Steue-
rungs- und Kontrollsysteme einschließlich einer internen
Revision vor. Dies gilt natürlich auch für Unternehmens-
gruppen, deren Risikomanagement Aufschluss darüber
geben muss, wie sich die Verteilung der Risiken auf
Gruppenebene darstellt.
Die interne Berichterstattung erlaubt eine Einschät-
zung des Risikos der Unternehmen, der Sensibilität des
Unternehmens gegenüber Änderungen des Umfeldes so-
wie eine realistische Beurteilung der aus derartigen Än-
derungen erwachsenden neuen Risikosituation und er-
möglicht so der Geschäftsleitung, gegebenenfalls eine
Änderung der Geschäftspolitik oder andere geeignete
Korrekturmaßnahmen, zum Beispiel zur Risikominde-
rung, einzuleiten.
Um eine praktikable Umsetzung zu ermöglichen und
insbesondere kleinere Versicherungsunternehmen von
bürokratischen Pflichten zu entlasten, gelten für Pen-
sionskassen und kleinere Versicherungsvereine verein-
fachte Kontrollanforderungen. Zudem eröffnen wir die
Möglichkeit, sich von bestimmten Anforderungen, wie
der Ausfertigung eines Risikoberichts, freistellen zu las-
sen, wenn der Aufwand für die betroffenen Unterneh-
men unverhältnismäßig groß wäre.
Vorteil einer Regelung zu diesem frühen Zeitpunkt ist
es, dass damit die Versicherungswirtschaft Zeit erhält,
sich auf die kommenden Aufsichtsstandards des euro-
päischen Solvency-II-Regimes vorzubereiten. Damit
machen wir einen weiteren Schritt zur Entwicklung und
Vollendung eines europäischen Binnenmarktes für Fi-
nanzdienstleistungen.
Wir hoffen, dass wir mit den vorgesehenen Neuerun-
gen unsere Ziele der Neuregelung der Übertragung von
Versicherungsbeständen, des internen Risikomanage-
ments der Versicherungsunternehmen sowie der Min-
destüberschussbeteiligung erreichen. Damit nutzen wir
unsere aufsichtsrechtlichen Gestaltungsspielräume, um
wirksame Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, die die
Kunden der Versicherungsunternehmen schützen. In Ge-
sprächen mit Bürgerinnen und Bürgern mache ich aller-
dings auch immer deutlich, dass staatliche Aufsichtsre-
gelungen persönliche Verantwortlichkeit nur ergänzen,
nicht aber ersetzen können.
Denn unsere Regelungen entheben sie nicht der
Pflicht, im eigenen Interesse die Risikowahrscheinlich-
keiten zu kalkulieren und zur Ordnung ihrer Vermögens-
verhältnisse die richtigen Versicherungsprodukte zu
wählen. Wachsame Aufsichtsbehörden und kluges Risi-
komanagement seitens der Unternehmen bedeuten nicht,
dass sich Risiken komplett ausschalten oder versiche-
rungsrechtlich auffangen lassen. Ihnen und allen Bürge-
rinnen und Bürgern wünsche ich gute Entscheidungen,
um das Verhältnis von Risiko und Chancen auch in Zu-
kunft zu optimieren.
Frank Schäffler (FDP): Die Große Koalition ist in
der Finanzmarktgesetzgebung eine Koalition der ver-
passten Chancen. Dies sieht man in allen abgeschlosse-
nen bzw. laufenden Gesetzgebungsverfahren. Ob REITS,
ob Private Equity oder Investmentgesetz, um nur einige
zu nennen: Immer machen Sie nur einen halben Schritt,
nie geben Sie dem Finanzplatz Deutschland die Chance,
im internationalen Wettbewerb den Platz einzunehmen,
der ihm gebührt. Stattdessen misstrauen Sie dem Markt,
beschließen staatliche Eingriffe und werfen der Finanz-
branche Steine in den Weg.
12314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Das vorliegende Gesetzgebungsverfahren bildet da
keine Ausnahme. Natürlich setzt der Gesetzentwurf die
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu Bestands-
übertragungen und zur Überschussbeteiligung in der Le-
bensversicherung um; dagegen ist nichts zu sagen. Ent-
scheidend ist jedoch, was wiederum nicht im Gesetz
steht. Sie haben seitens der Koalition – auch wenn der
Gesetzentwurf im Bundesfinanzministerium erarbeitet
wurde, so ist er ja doch vom Kabinett insgesamt abge-
segnet worden – das Thema „Flexibilisierung der Bede-
ckungsvorschriften für Pensionsfonds“ erneut nicht auf-
gegriffen. Dies ist umso bedauerlicher, als wir in den
Ausschussberatungen zur achten VAG-Novelle festge-
halten hatten, dass das Thema bei der neunten Novelle
aufgegriffen werden sollte.
Da der Regierungsentwurf eine Flexibilisierung nun
nicht vorsieht, ist es unsere Aufgabe im parlamentari-
schen Verfahren, diese Regelung noch ins Gesetz einzu-
fügen. Ich bin zuversichtlich, dass der in der Anhörung
zur Verfügung stehende Sachverstand uns erneut über-
deutlich machen wird, dass wir hier im Interesse der in-
ternationalen Wettbewerbsfähigkeit der inländischen
Pensionsfonds handeln müssen. Die Union hat hier ent-
sprechende Bereitschaft signalisiert; es wäre nun an der
Zeit, dass sie auch die SPD davon überzeugt. Lassen Sie
seitens der Union den Finanzplatz Deutschland nicht
länger „links“ bei der SPD liegen, sondern geben Sie das
Tempo vor.
Die zuständigen Bundesratsausschüsse haben sich in
ihren Empfehlungen übrigens ebenfalls für eine entspre-
chende Änderung des Gesetzentwurfs ausgesprochen,
um Wettbewerbsnachteile für inländische Pensions-
fonds zu beseitigen.
Beim Thema Solvency II gibt es einen Punkt, bei dem
sich alle Fraktionen einig sind. Soweit wir uns mit den
Auswirkungen von Solvency II beschäftigen, darf es
nicht dazu kommen, dass kleinere Unternehmen einem
unverhältnismäßigen Aufwand ausgesetzt werden. Da-
rauf sollten wir gemeinsam achten. Darüber hinaus soll-
ten wir bei der Rückstellung für Beitragsrückerstattung
eine Konkretisierung vornehmen, wann Mittel entnom-
men werden können, um die gegenüber den Versiche-
rungsnehmern ausgesprochenen Garantien sicherzustel-
len. Dies ist deshalb so wichtig, weil die Rückstellungen
für Beitragsrückerstattung mit 42 Milliarden Euro mehr
als 80 Prozent der Eigenmittel der deutschen Lebensver-
sicherungsunternehmen umfassen. Die Branche und die
Bundesratsausschüsse haben hierzu im Einklang mit
dem Solvency-II-Richtlinienentwurf entsprechende Vor-
schläge gemacht, die wir aufgreifen sollten.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der vorliegende Ge-
setzentwurf der Bundesregierung zur Neunten Novelle
des Versicherungsaufsichtsgesetzes findet im Grundsatz
die Unterstützung meiner Fraktion.
So sehen wir in der Neuregelung des § 14 einen
Schritt, der die Rechte der Versicherten stärkt. Aller-
dings bedurfte es erst eines Urteils des Bundesverfas-
sungsgerichtes, das die Bundesregierung zwang hier tä-
tig zu werden. Zu kritisieren ist auch, dass die
Bundesregierung erst auf den letzten Drücker tätig
wurde. Denn immerhin wurde dieser Passus bereits
Mitte 2005 für verfassungswidrig erklärt. Spätestens mit
der Achten Novelle des VAG hätte bereits die Möglich-
keit bestanden diese Rechtsunsicherheit für die Versi-
cherten zu beenden.
Desgleichen unterstützen wir die Festlegung der An-
forderungen an das Risikomanagement der Versiche-
rungsunternehmen, womit die zu erwartenden Solven-
cy-II-Regeln vorweg in nationales Recht umgesetzt wer-
den sollen. Maßnahmen, wie die Pflicht zur Vorlage des
internen Risikoberichts und die Ausdehnung anderer Be-
richtspflichten gegenüber der staatlichen Aufsicht oder
die Sicherstellung der bevorzugten Behandlung von An-
sprüchen der Versicherten im Insolvenzfall finden ohne
Zweifel unsere Unterstützung.
Wenn Ihre Politik des Rentenklaus in der gesetzlichen
Rentenversicherung schon diejenigen, die es sich leisten
können (!) in die Arme der Versicherungskonzerne
treibt, dann muss wenigstens ausreichend dafür Sorge
getragen werden, dass der Umgang mit den Geldern der
Versicherten nicht völlig den kurzfristigen Renditeinte-
ressen der Versicherer überlassen wird.
Allerdings gilt es, in Anbetracht der Komplexität, die
das gesamte Solvency-II-Regelwerk mit sich bringen
wird, auch darauf zu achten, dass damit kleine Versiche-
rungsunternehmen, wie etwa regionale Haftpflichtversi-
cherer, nicht überfordert werden. Solvency II darf kein
Beitrag zur weiteren Monopolisierung des Versiche-
rungsmarktes sein! Daher begrüßen wir es, dass Versi-
cherungsunternehmen, die nur in Teilbereichen des Ver-
sicherungsmarktes tätig sind, nicht die ganze Bürde der
Anforderungen aufgezwungen wird.
Gebetsmühlenartig bemühen die Finanzpolitiker von
CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im-
mer wieder die Floskel von der Sicherung und dem Aus-
bau des Finanzplatzes Deutschland, um neue Finanz-
instrumente und Anlageformen hier zu Lande zu
etablieren. Deren volkswirtschaftlicher Nutzen ist oft
mehr als fragwürdig und die Staatseinnahmen werden
dadurch in Milliardenhöhe belastet (Zulassung von
Hedge-Fonds, REITs, Steuergeschenke für Private
Equity Fonds etc.). Geht es hingegen um das Setzen von
aufsichtsrechtlichen Standards, die tatsächlich das Ver-
trauen von Anlegern, vor allem aber von Versicherten
stärken, dann tut sich manch einer von Ihnen doch recht
schwer damit. So habe ich während der gestrigen Sit-
zung des Finanzausschusses doch mit einiger Verwunde-
rung vernommen, dass aus den Reihen von CDU/CSU
und FDP Stimmen laut wurden, Pensionsfonds eine
deutlich größere Unterdeckung ihrer Verpflichtungen zu
ermöglichen. Da müssen Sie sich schon die Frage gefal-
len lassen, weshalb sich die Attraktivität deutscher Pen-
sionsfonds für Versicherte erhöhen soll, wenn zugleich
das Risiko für die Fondseinlagen erhöht wird? Welche
Lehren ziehen Sie eigentlich aus den seit Monaten an-
haftenden Turbulenzen auf dem Finanzmarkt und dem
Beinahe-Kollaps des britischen Versicherers „Equitable
Life“?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12315
(A) (C)
(B) (D)
Die Linke wird sich jedenfalls für eine wirksame Ver-
sicherungsaufsicht und gegen jegliche Ausweitung spe-
kulativen Agierens auf den Versicherungs- und Finanz-
märkten aussprechen. Nur so kann das Vertrauen der
Versicherten gewahrt, die Finanzmarktstabilität gewähr-
leistet und – wenn Sie so wollen – dem Finanzplatz
Deutschland auf mittlere und lange Sicht Vertrauen ver-
schafft werden. Wir fordern die Bundesregierung auf,
sich auf EU-Ebene bei der Umsetzung von Solvency II
an den Interessen der Versicherten zu orientieren und da-
für Sorge zu tragen, dass Versicherungsunternehmen die
Anlage der ihnen anvertrauten Gelder in Hedge-Fonds
und anderen hochspekulativen Anlagegeschäften ver-
wehrt bleibt.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Versicherungsaufsichtsgesetz beschäftigt uns kurz
nach der Achten Novelle erneut. Hauptinhalt der Neun-
ten Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz ist eine
Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom
26. Juli 2005. In diesem Urteil wurden die Übertragun-
gen von Versicherungsbeständen, wie sie bislang im Ver-
sicherungsaufsichtsgesetz geregelt wurden, für verfas-
sungswidrig erklärt.
Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass die Be-
lange der Versicherten von der Aufsichtsbehörde umfas-
send festzustellen und ungeschmälert in die Entschei-
dung über die Genehmigung und die dabei
vorzunehmende Abwägung einzubringen sind. Bei Le-
bensversicherungen muss gesichert sein, dass die durch
Prämienzahlungen der Versicherungsnehmer beim Versi-
cherer geschaffenen Vermögenswerte im Fall von Be-
standsübertragungen als Quellen für die Erwirtschaftung
von Überschüssen erhalten bleiben und den Versicherten
in gleichem Umfang zugute kommen wie ohne Aus-
tausch des Schuldners. Bei Versicherungsvereinen auf
Gegenseitigkeit muss auch der Anspruch der Mitglieder
auf Zahlung eines angemessenen Entgelts gewahrt blei-
ben.
Grundsätzlich befürworten wir die vorgeschlagenen
Änderungen in dem Regierungsentwurf. Wichtig ist aber
nun, bei der Bestandsübertragung zu überprüfen, wie der
Übergang der Rechte und Pflichten des übertragenden
Unternehmens auf das übernehmende Unternehmen
vollzogen wird. Besonders vor dem Hintergrund der
Diskussion über den Verkauf von Immobilienkrediten ist
eine sehr genaue Überprüfung der gesetzlichen Regelun-
gen zur Wahrung der Verbraucherinteressen notwendig.
Wenn nun ein Versicherungsnehmer ein Produkt ab-
geschlossen hat, das besondere Anlagestrategien ver-
folgt, wie beispielsweise besonders ethische, ökologisch
oder soziale Kapitalanlagen und das zu übernehmende
Unternehmen diese nicht anbietet; dann sollte nach einer
Lösung gesucht werden, die auch gegebenenfalls ein
Sonderkündigungsrecht für die Versicherungsnehmer
vorsieht.
Das Urteil der verfassungsrechtlichen Anforderun-
gen an die Lebensversicherer ist zum Großteil schon in
dem Versicherungsvertragsgesetz umgesetzt worden.
Die Berechnung, die Saldierung von Verlusten und Ge-
winnen für die Überschussberechnung obliegt aber der
Aufsichtsbehörde und unterliegt daher dem Versiche-
rungsaufsichtsänderungsgesetz. Einer geäußerten Kri-
tik, die die Bestandsübertragung bei Verträgen mit Über-
schussbeteiligung betrifft, ist unseres Erachtens
Rechnung zu tragen. Bei Versicherungsverträgen mit
Überschussbeteiligung ist bei Übertragung sicherzustel-
len, dass der Wert der Überschussbeteiligung des auf-
nehmenden und des abgebenden Versicherungsunterneh-
mens jeweils gleich bleibt. Dabei sollen auch die den
Verträgen bereits zugewiesenen Bewertungsreserven
nach dem Zeitwert einbezogen werden.
Interessant bei der Neunten Novelle ist auch der
Übergang zu einer mehr prinzipienbasierten Aufsicht
über die Versicherungswirtschaft, gerade im Hinblick
auf die geplanten europäischen Aufsichtsstandards für
die Versicherungswirtschaft Solvency II. Da wird die
Entwicklung, wie sie mit Basel II bei den Banken statt-
gefunden hat, auf den Versicherungssektor übertragen.
Hierbei möchten wir die Zusammenhänge von der durch
das Versicherungsaufsichtsänderungsgesetz veranlass-
ten Änderungen in Betracht auf Solvency II näher disku-
tieren. Die weiteren Verhandlungen zu Solvency II fin-
den auch erst nach Abschluss der Neunten VAG-Novelle
statt, so dass wir die Debatte zu dem Versicherungsauf-
sichtsgesetz auch vor dem Hintergrund der europäischen
Harmonisierungsbestrebungen führen können.
Ein wichtiger Punkt bei der prinzipienbasierten Auf-
sicht ist, wie die Aufsichtsbehörde durch die neu formu-
lierten Anforderungen an das Risikomanagement der
Versicherungsunternehmen das Risikoergebnis kontrol-
lieren kann. In dem jetzt vorliegenden Regierungsent-
wurf wird die Implementierung eines angemessenen
Risikomanagementsystems bzw. einer angemessenen
Risikosteuerung verlangt. Allerdings stellt der Entwurf
der Bundesregierung nur auf die Implementierung der
Risikosysteme und ihrer Funktionsfähigkeit ab, verlangt
aber keine explizite Nennung des Risikoergebnisses.
Hier stellt sich die Frage, ob dies genügt, um den beauf-
sichtigenden Institutionen einen effektiven Überblick zu
verschaffen.
Im Rahmen der Diskussion um die Achten Novelle
des Versicherungsaufsichtsgesetzes wurde bereits über
die Frage der Unterdeckung bei Pensionsfonds gespro-
chen. Damals wurde zugesichert, dass dies im Rahmen
der Neunten Novelle überprüft werden soll. Neben den
bereits im Gesetz enthaltenen Punkten werden wir uns
also mit dieser Thematik befassen. Das ist auch richtig
so. Als eine wichtige Säule der Altersvorsorge sollte die
betriebliche Altersvorsorge durch Pensionsfonds erleich-
tert werden, und zwar auch mit Standort in Deutschland.
Das entsprechende Altersvermögensgesetz trat am 1. Ja-
nuar 2002 in Kraft. Pensionsfonds sind in Deutschland
aber noch nicht verbreitet. Wichtig wird es für diese Dis-
kussion sein, dass wir klären, ob und wenn ja, in welcher
Höhe eine Neuregelung Steuerausfälle verursachen
würde, und wie die Interessen der Verbraucherinnen und
Verbraucher an Sicherheit bei ihrer Altersversorgung ge-
währleistet werden können.
12316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Deutschland muss rüstungskontrollpoliti-
sche Glaubwürdigkeit beweisen – Angepass-
ten KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestag
zur Abstimmung vorlegen
– Angepassten Vertrag über Konventionelle
Streitkräfte in Europa ratifizieren
– Die Krise des KSE-Vertrages durch neue
Impulse für konventionelle Abrüstung und
Rüstungskontrolle in Europa beenden
(Tagesordnungspunkt 20 a und b, Zusatztages-
ordnungspunkt 9)
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/
CSU): Zweifelsohne hat sich der unmittelbar nach dem
Ende des Kalten Krieges allgemein herrschende abrüs-
tungspolitische Enthusiasmus in den letzten Jahren in
gewissem Maße erschöpft. Dachte man in den Jahren
nach dem Fall der Berliner Mauer, nun sei entsprechen-
der Raum gegeben für umfassende und globale abrüs-
tungspolitische Initiativen, so mussten wir in den folgen-
den Jahren feststellen, dass die Welt durch den
Untergang des Kommunismus zwar ein bedeutendes
Stück freier, aber nicht in jeder Hinsicht stabiler gewor-
den ist.
Nun finden wir uns wieder auf dem knarzenden Bo-
den der Tatsachen. Neue Bedrohungen und ein damit
verbundenes anhaltendes Gefühl von asymmetrischer
Gefahr und Unsicherheit in den internationalen Bezie-
hungen haben unter anderem dazu geführt, dass die Staa-
ten in ihrer Gesamtheit, aber vor allem die alten und
neuen aufstrebenden Großmächte nicht bereit sind, in
dem Sinne auf den Erhalt und Aufbau ihrer Waffenarse-
nale in dem Maße zu verzichten, wie wir es uns in die-
sem hohen Hause vielleicht wünschten.
Der Staatengemeinschaft sind zudem neue abrüs-
tungspolitische Herausforderungen entstanden: Die Pro-
liferation waffentauglicher Nukleartechnologie an Staa-
ten wie an nichtstaatliche terroristische Akteure ist in
diesem Zusammenhang hervorzuheben. Die Ambitionen
Irans, den gesamten Brennstoffkreislauf zu beherrschen
und die damit verbundenen Möglichkeit, atomare Waf-
fensysteme zu entwickeln, stellen in diesem Zusammen-
hang mit Sicherheit die dringendste Herausforderung für
die Weltgemeinschaft dar.
Lediglich angesichts der Diskussionen um die von
Russland angedrohte Aussetzung des KSE-Vertrages von
einer erschütternden Krise der internationalen Abrüs-
tungs- und Rüstungskontrollregime zu reden, wäre – bei
aller berechtigten Sorge – doch etwas pathetisch. Interna-
tionale Kooperation mit Russland ist teilweise schwieri-
ger geworden, doch sie besteht im Interesse aller Betei-
ligten fort. Eher führt das rüstungskontrollpolitische
Gesamtbild zum Krisenszenario.
Auch um die abrüstungspolitischen Kooperation zwi-
schen der NATO und Russland ist es tatsächlich äußerst
schwierig, aber weniger desaströs bestellt, wie dies teil-
weise suggeriert wird. Dies gilt übrigens auch für die ab-
rüstungspolitischen Bemühungen zwischen Russland
und den USA. Die weitgehend unbeachtet gebliebene
Tatsache, dass Russland und die USA beim bilateralen
Gipfel von Kennebunkport die baldige Aufnahme von
Gesprächen über eine Nachfolgeregelung des Ende 2009
auslaufenden START-I-Vertrages vereinbart haben, darf
in diesem Kontext genannt werden. Ziel dieser Gesprä-
che soll es sein, die Anzahl der strategischen Atomwaf-
fen auf das tiefstmögliche Maß zu verringern. Auch in
Fragen der Nichtverbreitung findet nach wie vor umfas-
sende Kooperation statt. Anzeichen für eine unüber-
windbare Krise sind demnach trotz des russischen Thea-
terdonners faktisch noch nicht festzustellen. Soviel
Nüchternheit sollten wir uns trotz aller Sorge um die hier
zu behandelnde Thematik gönnen.
Präsident Putins Ankündigung, die Verpflichtungen
des bisherigen KSE-Vertrages ab dem 12. Dezember
auszusetzen, verändert nicht die Sicherheitslage in Eu-
ropa, sie verändert nicht die strategische Lage, aber sie
berührt doch in gewisser Weise das besondere fragile
Vertrauensverhältnis zwischen Russland und der NATO,
welches durch den KSE-Vertrag und die Nachfolgever-
handlungen über den angepassten KSE-Vertrag geschaf-
fen wurde.
Es ist aber in diesem Zusammenhang äußerst bedenk-
lich, dass das grundlegende Vertragswerk über konven-
tionelle Abrüstung, Sicherheit und Rüstungskontrolle in
Europa von russischer Seite zur Disposition gestellt
wird. Trotz aller Mängel und Unzulänglichkeiten kommt
dem bisherigen KSE-Vertrag doch eine hohe Symbol-
kraft zu und es muss in unserem Interesse liegen, dass er
in Kraft bleibt und weiterentwickelt wird.
Putin muss sich allerdings an der Erwartbarkeit der
eigenen russischen Schritte messen lassen. Nicht erst seit
der Münchner Sicherheitskonferenz sendet der Kreml
unmissverständlich missverständliche Signale aus, die in
unterschiedlichen, nicht immer homöopathischen Dosen
auf die wohlberechneten Befindlichkeiten der unter-
schiedlichen NATO-Staaten einwirken. Die von Moskau
verfolgte Politik der rhetorischen Eskalation legt zudem
den Verdacht nahe, dass Russland den hohen Eigenwert
des KSE-Prozesses unterschätzt und stattdessen den Ver-
trag ganz offensichtlich als taktische Masse benutzt, um
europäische Friktionspotenziale zu wecken und weiter-
gehende, sachfremde Interessen zu verfolgen.
Unterschwellig vorhandene, diffuse Bedrohungs-
ängste – dies gilt wiederum im besonderen Maße für
Deutschland – sollen durch wolkige Einlassungen und
Drohungen unterfüttert werden. In diesem Sinne ent-
spricht auch das von mir eingangs kritisierte allzu leicht-
fertige Reden über sicherheitspolitische Krisen und ein
neues Wettrüsten mutmaßlich durchaus dem Kalkül der-
jenigen, die den KSE-Vertrag zur Disposition stellen.
Dieses Verhalten sehe ich nach wie vor als durchsichtig
und als nicht akzeptabel an.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12317
(A) (C)
(B) (D)
Gleichwohl und erneut: Der KSE-Prozess befindet
sich in einer kritischen Phase. In dieser Situation ist
Deutschland als wichtiger Förderer und Impulsgeber des
KSE-Prozesses besonders gefordert, den Ratifizierungs-
prozess nach Kräften zu unterstützen und zu befördern.
Wir begrüßen die bisher erfolgten Anstrengungen der
Bundesregierung, den Dialog innerhalb der KSE-Unter-
zeichnerstaaten voranzutreiben. Deutschland kann und
muss den KSE-Prozess mit kreativen Ansätzen und ho-
hem Engagement befördern. Um dieses Ziel zu verfol-
gen gilt es nun, insbesondere den offenen und zielfüh-
renden Dialog mit Russland weiterzuverfolgen. Hierin
liegt eines der Kernanliegen dieses Antrages, aufwei-
chen ich hier eingehen will.
Mit dem vorliegenden Antrag wollen die Fraktionen
von CDU/CSU und SPD ein deutliches Bekenntnis zum
KSE-Vertrag und dessen Nachfolgeregelungen ablegen.
Dieses Bekenntnis schließt allerdings das in Istanbul
vereinbarte Junktim über den russischen Abzug aus Mol-
dawien und Georgien ein. Ein Abrücken von eingegan-
genen internationalen Verpflichtungen oder eine weitere
Instrumentalisierung des Vertragswerkes für das Errei-
chen anderer Ziele durch einzelne Vertragsstaaten muss
hingegen ausgeschlossen werden. Die Bundesregierung
muss verdeutlichen, dass sich der wichtige KSE-Vertrag
nicht als Verhandlungsmasse eignet. Je deutlicher und
einmütiger dies insbesondere gegenüber der russischen
Führung kommuniziert wird, desto besser und zielfüh-
render.
In diesem Sinne muss auch die angedachte Möglich-
keit eines schrittweisen parallelen Ratifizierungsprozes-
ses des A-KSE, den wir begrüßen würden, an die konse-
quente Erfüllung der genannten Bedingungen gebunden
sein. Russland hat auch diesen Vorschlag reserviert aufge-
nommen, obwohl dieser ein wesentliches Entgegenkom-
men bedeutet. Moskau wäre gut beraten, die Initiative
aufzugreifen und seinerseits Zeichen der Konstruktivität
zu setzen. Um den Lösungsansatz zu ermöglichen ist die
russische Seite zudem aufgefordert, umgehend von ihrer
angekündigten Aussetzung der Anwendung des gültigen
KSE-Vertrages Abstand zu nehmen. Der konstruktive
und von den USA mitgetragene Vorschlag eines schritt-
weisen Prozesses darf nicht als Carte blanche für Russ-
land missverstanden werden.
Wir würdigen die hohe Symbolkraft des KSE-Vertra-
ges und sehen ihn auch weiterhin und ungeachtet aller
Schwierigkeiten als zentrales Instrument an, um die rüs-
tungspolitische Vertrauensbildung in Europa zu befesti-
gen und weiterzuentwickeln. Die Bundesregierung
bleibt aufgefordert, auf alle Mitgliedstaaten des KSE-
Vertrages einzuwirken, ein Scheitern des KSE-Prozesses
zu vermeiden. Als Förderer des KSE-Prozesses und
wichtiger NATO-Staat muss Deutschland ein hohes Inte-
resse daran haben, langfristig auch die NATO-Mitglieder
in das Vertragswerk miteinzubeziehen, die bisher noch
nicht zu den Unterzeichnerstaaten gehören.
Letztlich gilt es jedoch in erster Linie auf die russi-
sche Seite einzuwirken, ihren eingegangenen internatio-
nalen Verpflichtungen nachzukommen. Dies betrifft
ebenso die Wahrnehmung der Vertragspflichten des bis-
herigen KSE-Vertrages wie auch die Erfüllung der Istan-
bul-Commitments. Der Bundesregierung kommt daher
auch die Aufgabe zu, Moskau auch im Rahmen des in-
tensiven deutsch-russischen Dialoges von der langfristi-
gen und allseitigen Bedeutung des A-KSE-Prozesses für
das bilaterale Verhältnis der beiden Länder zu überzeu-
gen.
Dr. Rolf Mützenich (SPD): Das KSE-Regime befin-
det sich in einer tiefen Krise, nachdem der russische Prä-
sident Wladimir Putin am 14. Juli 2007 die Aussetzung
des Vertrags ab dem 12. Dezember 2007 angekündigt
hat. Zuvor blieben sowohl die Dritte Überprüfungskon-
ferenz vom 30. Mai bis 2. Juni 2006 wie eine auf Antrag
Russlands einberufene außerordentliche Konferenz aller
KSE-Vertragsstaaten vom 12. bis 15. Juni 2007 in Wien
ohne Ergebnis.
Mit seiner Drohung, das KSE-Vertragssystem notfalls
gänzlich infrage zu stellen, bringt Wladimir Putin die
westlichen Staaten in Zugzwang. Sie müssen nun ent-
scheiden, was ihnen dieser „Eckpfeiler der europäischen
Sicherheit“ und die vertraglich vereinbarte Rüstungs-
kontrolle insgesamt künftig wert sind. Der russische
Vorstoß kam dabei nicht überraschend, sondern kündigte
sich schon seit längerem an. Schon seit Jahren kritisiert
Russland die westliche KSE-Politik. Dennoch: Rüs-
tungskontrollpolitik darf nicht zum Spielball national-
staatlicher Interessen gemacht werden.
Worum geht es? Der KSE-Vertrag legt Obergrenzen
für die Zahl der Waffensysteme vom Ural bis zum Atlan-
tik fest. Ziel war es zunächst, das Ungleichgewicht kon-
ventioneller Streitkräfte der Vertragspartner abzubauen
und Überraschungsangriffe unmöglich zu machen. In
dem am 19. November 1990 unterzeichneten KSE-Ver-
trag einigten sich die Staaten des damaligen Warschauer
Paktes und der NATO auf Grenzen für Waffenpotenziale
wie Kampfpanzer, Artilleriesysteme oder Kampfhub-
schrauber. Über 60 000 schwere Waffen wurden unter
internationaler Aufsicht zerstört.
Die veränderte Sicherheitslage nach Ende des War-
schauer Pakts und der NATO-Erweiterung führte dann
1999 in Istanbul zu einem „angepassten KSE-Vertrag“,
A-KSE, mit insgesamt 30 Vertragsstaaten. Kern der An-
passung waren nationale und territoriale Truppenober-
grenzen, die nur nach Konsultationen mit den Partnern
geändert werden können. Alle KSE-Mitglieder unter-
zeichneten zwar den A-KSE-Vertrag 1999, doch in Kraft
getreten ist er bis heute nicht. Nur vier der 30 KSE-Staa-
ten – Russland, Weißrussland, Kasachstan und die Uk-
raine – haben ihn ratifiziert.
Die NATO-Staaten binden ihre Ratifizierung an die
Einhaltung der sogenannten „Istanbuler Verpflichtun-
gen“, die besagen, dass Russland seine Truppen aus Ge-
orgien und dem Gebiet Transnistrien in Moldawien voll-
ständig abziehen müsse. Russland hingegen akzeptiert
diese Argumentation nicht. Dem zeitlichen Junktim hat
Russland nie zugestimmt. Zudem hat Moskau den Ab-
zug zwar politisch, aber nicht rechtlich verbindlich zu ei-
nem bestimmten Termin zugesagt. Darüber hinaus hat es
seine Abzugsverpflichtungen mittlerweile zum größten
12318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Teil erfüllt. So hat sich die russische Seite mit Georgien
auf einen Stationierungsvertrag und den Abzug seiner
Truppen bis Ende 2008 geeinigt und diesen bereits groß-
teils umgesetzt. In Moldawien gebe es nur noch wenige
Hundert Soldaten, die ein Munitions- und Waffendepot
bewachen, das keinesfalls unbeaufsichtigt bleiben
könne.
Diese Argumentation lässt sich nicht vollständig von
der Hand weisen. Ich finde, dass man die Bemühungen
Russlands um die Umsetzung der in Istanbul eingegan-
genen Verpflichtungen und die bislang erzielten Ergeb-
nisse durchaus würdigen sollte. Man sollte auch andere
Befürchtungen Moskaus ernst nehmen. Die Debatte um
einen NATO-Beitritt von Georgien und der Ukraine trägt
ebenso dazu bei wie das geplante US-Raketenabwehr-
system in Polen und Tschechien. Dabei ist klar: Der Vor-
stoß Putins stellt eine unzulässige Vermengung zwischen
der Raketenabwehr und dem KSE-Vertrag dar. Das eine
hat mit dem anderen nichts zu tun und sollte getrennt
voneinander behandelt werden.
Ich bin der festen Überzeugung, dass es gelingen
kann, den A-KSE zu ratifizieren und das KSE-Regime
zu retten. Dies erfordert allerdings Bewegung auf beiden
Seiten. Ich appelliere deshalb an die russische Regie-
rung, dass sie den diplomatischen Bemühungen den not-
wendigen Raum gibt und die angekündigte Suspendie-
rung des KSE-Vertrages überdenkt. Ich fordere aber
auch von den USA und den NATO-Partnern, auf die rus-
sische Regierung einzuwirken und miteinander in einen
konstruktiven Dialog für ein rasches Inkrafttreten des
A-KSE einzutreten. Dabei muss im NATO-Russland-Rat
auch über die rüstungskontrollpolitischen Folgen des
US-Raketenschirms diskutiert werden.
Ein Ausweg aus der festgefahrenen Situation könnte
darin liegen, dass auf westlicher Seite bereits jetzt eine
Gruppe von Staaten den A-KSE-Vertrag auf Vorrat rati-
fiziert, um die Hinterlegung der Ratifikationsurkunden
bei weiteren Fortschritten schnell vornehmen zu können.
Gleichzeitig müsste die russische Seite die noch offenen
Istanbuler Verpflichtungen zügig umsetzen und das an-
gekündigte Moratorium aussetzen. Darüber muss drin-
gend diskutiert und verhandelt werden.
Ich bin deshalb Außenminister Frank-Walter
Steinmeier sehr dankbar, dass er vor wenigen Tagen in
Bad Saarow alle KSE-Vertragsstaaten sowie die balti-
schen Staaten und Slowenien zu einem informellen Tref-
fen zum Erhalt und Fortbestand des KSE-Regimes ein-
geladen hat, um über diese Fragen zu diskutieren. Dabei
konnten ein erster Überblick gewonnen, bestehende Dif-
ferenzen benannt und mögliche Lösungsansätze disku-
tiert werden.
Konventionelle Rüstungskontrolle hat sicherlich in
Europa nicht mehr die Bedeutung, die ihr während des
Ost-West-Konflikts zukam. Gleichwohl wäre ein Schei-
tern des KSE-Regimes verhängnisvoll und ein schwerer
Rückschlag für die Vertrauensbildung in Europa. Es gibt
aus deutscher und europäischer Sicht viele gute Gründe,
am KSE-Regime festzuhalten. Es beschränkt effektiv die
Militärpotenziale, es ist Grundlage für den Vertrag über
den „Offenen Himmel“, der gegenseitige Inspektions-
flüge erlaubt, und für die Wiener Vereinbarungen zum
jährlichen Austausch militärischer Daten unter den
OSZE-Staaten.
Es liegt deshalb im Interesse Deutschlands und Euro-
pas, dass Russland auch weiterhin in das KSE-System
eingebunden und der KSE-Vertrag als Eckpfeiler euro-
päischer Sicherheit erhalten bleibt. Die Verhandlungen
sollten darüber hinaus durch weitere abrüstungspoliti-
sche Initiativen ergänzt werden. Angesichts der weitge-
henden inhaltlichen Deckungsgleichheit der Anträge
zum KSE-Regime möchte ich zum Schluss zu überlegen
geben, die Anträge zu einem gemeinsamen interfraktio-
nellen Antrag zusammenzufassen.
Elke Hoff (FDP): Am 12. Dezember 2007 soll die
russische Suspendierung des Vertrages über Konventio-
nelle Streitkräfte in Europa in Kraft treten. Sollte diese
Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin
nicht doch noch abgewendet werden können, steht die
konventionelle Rüstungskontrolle in Europa vor dem
Aus. Denn eine russische Suspendierung wäre de facto
auch das Ende des KSE-Vertrages.
Ein Wegfall dieses tragenden Pfeilers der Stabilität
und Sicherheit in Europa steht im vollkommenen Wider-
spruch zu den sicherheitspolitischen Interessen der Bun-
desrepublik und aller anderen Mitgliedstaaten. Deshalb
ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Vertrags-
staaten gemeinsam einen Kompromiss finden, der den
Ausstieg Moskaus aus der konventionellen Rüstungs-
kontrolle noch abwenden kann.
Doch ich habe wenig Hoffnung, dass dies ohne ein
glaubwürdiges und belastbares Signal vonseiten der
NATO-Mitgliedstaaten gelingen kann. Denn selbst nach
der von Bundesaußenminister Steinmeier erst vor zwei
Wochen so eifrig wie informell in Bad Saarow einberu-
fenen Konferenz mit Vertretern aus 33 KSE-Mitglied-
staaten, tritt die Vertragsgemeinschaft weiter auf der
Stelle. Nichts war zu hören von substanziellen Fort-
schritten oder gar einem Durchbruch in Sachen KSE-
Vertrag. Die Zeit für die Rettung der konventionellen
Rüstungskontrolle in Europa läuft damit langsam, aber
sicher ab. Wir dürfen hier nicht länger zusehen. Deutsch-
land muss als wichtiger NATO-Staat in dieser Krise end-
lich Vorreiter und Brückenbauer sein.
Wladimir Putin hat seine Entscheidung zur Suspen-
dierung des KSE-Vertrages immer wieder mit Verweis
auf die Stationierung einer US-Raketenabwehr auf euro-
päischem Boden begründet. Aber in Wirklichkeit hat die
Debatte um den US-Raketenabwehrschirm dem russi-
schen Präsidenten nur ein zweites Mal – nach der Dro-
hung, den INF-Vertrag zu kündigen – als Vorwand ge-
dient, um der russischen Unzufriedenheit mit
internationalen Abrüstungsvereinbarungen nachhaltig
wie eindrucksvoll Ausdruck zu verleihen. Denn tatsäch-
lich schwelt der Konflikt um die ausstehende Ratifizie-
rung des angepassten KSE-Vertrages schon seit dem Jahr
2000: Die NATO-Mitgliedstaaten machten vor dem Hin-
tergrund des Tschetschenienkrieges die von Moskau
1999 parallel zum A-KSE-Vertrag unterzeichneten soge-
nannten Istanbuler Verpflichtungen – besonders den rus-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12319
(A) (C)
(B) (D)
sischen Truppenabzug aus Georgien und Moldau – zur
Vorbedingung für ihre Ratifizierung des A-KSE-Vertra-
ges. Russland hat diese Vorbedingung nie anerkannt.
Seitdem steht der Ratifizierungsprozess still.
Die Entscheidung von Präsident Putin zum De-facto-
Ausstieg aus dem KSE-Vertrag hat nun die konventio-
nelle Rüstungskontrolle in eine existenzielle Krise ge-
stürzt und die NATO-Mitgliedstaaten unter Zeitdruck
gesetzt. Eine Rettung des Vertragswerks kann nur er-
reicht werden, wenn die NATO-Staaten mit Russland zu
einem konstruktiven, lösungsorientierten Dialog zurück-
finden. Hierfür bedarf es eines glaubwürdigen Signals,
dass die NATO-Staaten auch weiterhin am A-KSE-Ver-
trag festhalten und dass ihre harte Haltung bei den Istan-
buler Verpflichtungen keine Verzögerungstaktik gegen-
über einem unliebsamen Rüstungskontrollinstrument ist.
Besonders die Vereinigten Staaten müssen hier von der
Bundesregierung an ihre Verantwortung und Leitbild-
funktion erinnert werden. Dies muss aber geschehen,
ohne den russischen Muskelspielen – die hier zweifellos
eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen – zu sehr entge-
genzukommen.
Auch wenn Russland die Istanbuler Verpflichtungen
bislang nicht erfüllt hat, ist mit dem russisch-georgi-
schen Abkommen vom 31. März 2006 über den Abzug
der russischen Streitkräfte aus Georgien ein wichtiger
Schritt zur Erfüllung der Istanbuler Verpflichtungen ge-
tan worden. Denn in Moldau wird lediglich nur noch
über den Abtransport alter russischer Munition gestrit-
ten. Daher sollten die NATO-Mitgliedstaaten ihrerseits
vor dem Hintergrund des drohenden russischen Aus-
stiegs aus dem KSE-Regime Beweglichkeit und Kom-
promissbereitschaft demonstrieren.
Die FDP-Bundestagsfraktion fordert deshalb mit dem
vorliegenden Antrag die Bundesregierung auf, den A-
KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestag zur Abstim-
mung vorzulegen und damit ein starkes glaubwürdiges
Signal setzen, dass Deutschland weiterhin – trotz dieser
Krisensituation – am A-KSE-Vertrag festhält. Eine Zu-
stimmung des Deutschen Bundestages ermöglicht es,
dass die Ratifizierungsurkunde für den A-KSE-Vertrag
bereits ausgestellt und die Ratifizierung damit weitestge-
hend vorbereitet werden kann. So kann die deutsche Ra-
tifizierung umgehend durch die Hinterlegung der Ratifi-
zierungsurkunde wirksam werden, wenn Russland die
letzten Truppen aus Georgien abzieht. Ein solches Vor-
gehen von Deutschland, als Vorreiter unter den NATO-
Mitgliedstaaten, kann den Spagat schaffen, der wieder
Bewegung in den Ratifizierungsprozess des A-KSE-Ver-
trages bringt:
Dieser Spagat bedeutet, ein glaubwürdiges Signal zu
senden, dass am A-KSE-Vertrag festgehalten wird, und
darüber hinaus den Konsens der NATO-Staaten zu wah-
ren, nicht vor Erfüllung der Istanbuler Verpflichtungen
den A-KSE-Vertrag zu ratifizieren. Sollten die anderen
NATO-Mitgliedstaaten dem Beispiel der Bundesregie-
rung folgen, könnte dies der Schritt zur Rettung des
KSE-Regimes sein.
Mit dem von der FDP-Fraktion vorgeschlagenen Vor-
gehen ist es möglich, unverzüglich nach einem endgülti-
gen russischen Truppenabzug aus Georgien die Ratifika-
tionsurkunden zu hinterlegen und den A-KSE-Vertrag
umgehend in Kraft treten zu lassen. Eine solche „wei-
testgehende Vorbereitung“ der Ratifizierung des A-KSE-
Vertrages schafft eine konkrete Zukunftsperspektive für
das KSE-Regime. Deshalb fordere ich die Bundesregie-
rung auf, unserem Antrag zu folgen und dem Deutschen
Bundestag den A-KSE-Vertrag endlich zur Abstimmung
vorzulegen und bei den NATO-Partnern für einen eben-
solchen Schritt zu werben.
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Die Deregulie-
rung der internationalen Beziehungen schreitet voran.
Am sichtbarsten wird dies sicherlich am Krieg gegen
den Terrorismus der USA, der fast vorbehaltlos von den
NATO-Staaten und auch der Bundesregierung unter-
stützt wird. Allenthalben werden völkerrechtliche
Schranken abgebaut, werden internationale Verträge auf-
gekündigt oder nach Gutdünken der Mächtigen umdefi-
niert. Vertrauensbildende Maßnahmen, einst Grundpfei-
ler friedlicher Diplomatie, werden durch das Recht des
Stärkeren abgelöst.
Statt Rüstungskontrolle und Abrüstung bestimmen
heutzutage Rüstungsmodernisierung und Aufrüstung die
Agenda. Das NATO-Bündnis, allen voran die USA, ist
für mehr als zwei Drittel der weltweiten Rüstungsausga-
ben verantwortlich. Die NATO-Mitgliedstaaten exportie-
ren modernstes Kriegsgerät im Wert mehrerer Milliarden
an andere Staaten und treiben die Aufrüstungsspirale
weiter an. Führende Mitgliedstaaten betreiben nach wie
vor eher eine Konfrontationspolitik und nehmen dafür
die Aushöhlung und Schwächung bestehender Kontroll-
regime in Kauf. So ist die NATO in keiner Weise bereit,
die Vorgaben des Nichtverbreitungsvertrags zu befolgen.
Die USA, aber auch die NATO wollen nach einer sym-
bolischen Ruhepause nach der Aufkündigung des ABM-
Vertrags nun den Raketenabwehrschirm aufbauen, um
sich vor den negativen Konsequenzen ihrer Aufrüstungs-
politik zu schützen. Hier muss die Reißleine gezogen
werden. Wir brauchen einen neuen tragfähigen Ansatz in
der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik. Es muss
um den Abbau der Rüstungspotenziale gehen. Den ver-
trauensbildenden Maßnahmen muss wieder mehr Raum
gegeben werden; sie müssen wieder verstärkt gefördert
werden.
Vor diesem Hintergrund ist die Sorge der Bundesre-
gierung um den Fortbestand des KSE-Vertrags und ihre
Empörung über die Ankündigung der russischen Regie-
rung im Juli, den KSE-Vertrag zum 12. Dezember auszu-
setzen, geradezu verlogen. Wo war die Bundesregierung,
als es acht Jahre lang darum ging, im Westen für eine
Unterzeichnung des Anpassungsvertrags zum KSE-Ver-
trag zu werben? Es ist ein Zeichen mangelnder Weitsicht
der Bundesregierung, dass nicht bereits nach der Unter-
zeichnung des Anpassungsvertrages wenigstens dem
Deutschen Bundestag ein Ratifikationsgesetz vorgelegt
wurde.
Die Liste der Versäumnisse der Bundesregierung
ließe sich für andere Rüstungskontroll- und Abrüstungs-
bereiche durchdeklinieren: das Verhalten in der Nuclear
12320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Suppliers Group angesichts des Nukleardeals zwischen
den USA und Indien, das Festhalten an der nuklearen
Teilhabe oder die Duldung einer Modernisierung der
amerikanischen Atomsprengköpfe. Wo war die Bundes-
regierung 2003, als es darum ging, die Pläne für eine
Ausweitung des US-amerikanischen Raketenabwehrsys-
tems nach Europa zu unterbinden?
„Zu spät, zu wenig“, so kann man die Rüstungskon-
trollpolitik der Bundesregierung beschreiben. Außenmi-
nister Steinmeier betont zwar bei jeder sich ihm bieten-
den Gelegenheit, wie zuletzt auch im Bundestag, wie
wichtig ihm Abrüstung und Rüstungskontrolle sind – al-
lerdings vor allem der anderen Staaten.
Natürlich darf das Verhalten der russischen Regierung
nicht beschönigt werden. Der grundfalsche Kurs der
NATO-Staaten, Russland bei den strategischen militäri-
schen rüstungskontrollpolitischen Entscheidungen für
Europa nicht auf Augenhöhe in die Diskussion einzubin-
den und Rücksicht auf russische Bedenken zu nehmen,
hat zu ebenso falschen Entscheidungen der russischen
Seite geführt. Fakt ist, die Auseinandersetzung um den
KSE-Vertrag ist vor allem ein Symptom der allgemei-
nen, vom Westen mitverschuldeten Krise in der Rüs-
tungskontrolle.
Um die eigentliche strukturelle Krise der Rüstungs-
kontrolle zu überwinden, muss man allerdings vermei-
den, den KSE-Vertrag zu mystifizieren. Die Realität
sieht längst anders aus. Die im Anpassungsvertrag neu
vereinbarten Truppenobergrenzen stellen keine Ein-
schränkung für die NATO dar. Die globale militärische
Interventionsfähigkeit der USA bzw. der NATO wird
durch die Regelungen in keiner Weise berührt. Den US-
Truppen reichen permanente Materiallager als Sprung-
brett in die Kriegsgebiete aus. Wir brauchen stattdessen
ein weiterführendes und den geänderten Bedingungen
angepasstes Konzept zur konventionellen Rüstungskon-
trolle in Europa, welches auch die qualitative Dimension
berücksichtigt und neue Rüstungstechnologien mit ein-
bezieht.
Gleichzeitig gilt aber auch: Die für den Weltfrieden
wichtige Rüstungskontrolle kann keine weiteren Krisen
gebrauchen. Der KSE-Vertrag schaffte eine weltweit ein-
malige Transparenz über die Stationierung von Streitkräf-
ten in einer Region und zählt aufgrund des Verifikations-
systems zu einem der wichtigsten vertrauensbildenden
Maßnahmen. Es ist wichtig, dass beim KSE-Vertrag der
Schalter doch noch umgelegt wird. Dies sollte zudem das
Startsignal für weitergehende Verhandlungen über kon-
ventionelle Abrüstung im OSZE-Rahmen sein.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der russische Präsident Putin hat am 14. Juli angekün-
digt, dass Russland mit Wirkung vom 12. Dezember die-
ses Jahres die Anwendung des KSE-Vertrages und des
Flankendokuments von 1996 aussetzen werde. Unsere
Fraktion bedauert das zutiefst und fordert Russland auf,
auf eine Aussetzung des KSE-Vertrages zu verzichten.
Der KSE-Vertrag ist eines der zentralen Instrumente der
Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in Europa.
Wer die Anwendung des KSE-Vertrages aussetzt, setzt
damit auch das Zeichen, dass für ihn die Zeit der koope-
rativen Sicherheitspolitik ausläuft. Das kann und darf
nicht im Interesse Russlands und Europas sein.
Wenn Putin, wie jüngst geschehen, von der „Wieder-
auferstehung“ der russischen Armee redet, mag man das
als Innenpolitik oder Wahlkampfmanöver abtun. Wir
fürchten, das ist mehr. Die politische und militärische
Führung Russlands hat in den vergangenen Monaten
wiederholt Signale gesendet, dass sie gewillt ist, zu einer
konfrontativeren Politik gegenüber dem Westen zurück-
zukehren. Die verbale und ideologische Aufrüstung ist
vor dem Hintergrund der geplanten Stationierung ameri-
kanischer Raketenabwehrsysteme in Polen und Tsche-
chien sowie dem immer weiteren Heranrücken der
NATO an Russland in vollem Gange. Auch im militäri-
schen Bereich hat die russische Führung in den vergan-
genen Wochen die Muskeln demonstrativ spielen lassen.
Solche Drohgebärden sind kontraproduktiv. Sie kön-
nen das fragile Gebäude der Rüstungskontrolle und Ab-
rüstung weiter zum Einsturz bringen. Es ist kein Ge-
heimnis, dass es in den USA, bei europäischen NATO-
Partnern und in der Bundesregierung durchaus Kräfte
gibt, die die vertragliche Rüstungskontrolle und Abrüs-
tung als Fessel empfinden und abstreifen wollen. Die im
Dezember 2001 erfolgte ersatzlose Aufkündigung des
ABM-Vertrags vonseiten der Bush-Administration war
dabei ein Dammbruch. Putin hat sich diesem Ansinnen
nicht widersetzt. Im 2002 geschlossenen Moskauer Ver-
trag über den Abbau strategischer Offensivwaffen haben
Bush und Putin auf ein Verifikationssystem verzichtet.
Die USA haben im Mai dieses Jahres angekündigt, den
1991 unterzeichneten START-Vertrag 2009 auslaufen zu
lassen. Russland hat signalisiert, dass es damit keine
nennenswerten Probleme hat und sich mit einem weni-
ger formalisierten Folgeabkommen abfinden könnte.
Die Drohungen aus Russland, gegebenenfalls auch
den Mittelstreckenraketenvertrag aus dem Jahr 1987 zu
kündigen, haben auf amerikanischer Seite niemanden
beeindruckt. Dort ist man anscheinend bereit, die Auf-
kündigung dieses historischen Vertrages in Kauf zu neh-
men. Das Risiko für die USA wäre – im Gegensatz zu
Europa – minimal. Abrüstungspolitisch bewegen wir uns
damit in Richtung der Vor-Gorbatschow-Ära. Dies kann
nicht das Interesse Deutschlands und der EU sein. Wir
dürfen nicht zulassen, dass die multilaterale Rüstungs-
kontrolle an die Wand gefahren wird.
Der Antrag der Regierungsfraktionen verspricht, die
Krise des KSE-Vertrages durch neue Impulse beenden
zu wollen. Diese Impulse bleiben Sie schuldig. Sie
schieben den Schwarzen Peter Russland zu. Wir sollten
nicht so tun, als wäre der KSE-Vertrag erst per Dekret
aus Moskau in die Krise geraten. Wir sollten nicht so
tun, als hätte es die NATO-Erweiterung 2004 nicht gege-
ben und als würden Georgien und die Ukraine nicht an
der Pforte der NATO auf Einlass warten. Wir sollten
auch nicht so tun, als würden Militärbasen in Rumänien
und Bulgarien oder die Stationierung von Raketenab-
wehrsystemen in Europa russische Sicherheitsinteressen
nicht berühren. Der Westen hat durch das Verschleppen
der A-KSE-Ratifizierung an der Krise des KSE-Regimes
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12321
(A) (C)
(B) (D)
eine nicht unwesentliche Mitverantwortung. Wir müssen
einen wesentlichen Teil der Kritik Russlands ernst neh-
men und nach Wegen suchen, wie wir zu einer vertrau-
ensvollen Zusammenarbeit zurückkehren können.
Es mag im Jahr 2000 gute Gründe gegeben haben,
warum man bei der NATO auf die vorherige Erfüllung
der sogenannten Istanbul-Verpflichtungen beharrt hat.
Die Lage hat sich in den vergangenen sieben Jahren,
zum Beispiel durch den 11. September oder durch die
NATO-Erweiterung in vielfacher Hinsicht substanziell
verändert. Russland hat Schritte zur Erfüllung der Istan-
bul-Verpflichtungen in die Wege geleitet. Die müssen
umgesetzt und abgeschlossen werden. Die grundsätzli-
che Blockadehaltung der NATO ist für uns nicht mehr
nachvollziehbar.
An der restlichen Implementierung der Istanbul-Ver-
pflichtungen darf die Ratifizierung des A-KSE-Vertrages
nicht scheitern. Wir sind der Auffassung, der Vertrag
muss jetzt unverzüglich ohne Wenn und Aber ratifiziert
werden. Gleichzeitig sollte ein Prozess in die Wege ge-
leitet werden, wie die seit 1999 neu hinzugekommenen
Fragen der konventionellen Rüstungskontrolle im ge-
genseitigen Einvernehmen gelöst werden können. Wir
können die Rüstungsobergrenzen ohne Sicherheitsver-
lust weiter senken und auf andere Waffenkategorien aus-
weiten. Der NATO-Russland-Rat und die OSZE haben
ihr Kooperationspotenzial im Rüstungskontrollbereich
noch nicht ausgeschöpft.
Wir haben zur Kenntnis genommen, dass Außenmi-
nister Steinmeier in den vergangenen Monaten Schritte
unternommen hat, um den Streit um die Ratifizierung
des A-KSE-Vertrags zu entschärfen und den Dialog in
Gang zu halten. Wir haben den Eindruck: Dem Außen-
minister und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
ist es ernst. Sie sind daran interessiert, den A-KSE zum
Erfolg zu führen. Unsere Unterstützung haben Sie.
Gleichzeitig haben wir Zweifel, ob die Unionsfraktio-
nen tatsächlich an einem Erfolg des Außenministers in-
teressiert sind. Zum wiederholten Male versagt die
Union dem Außenminister und dem Koalitionspartner in
Abrüstungsfragen die Unterstützung. Wer die Bundesre-
gierung nicht dabei unterstützt, unverzüglich den Ratifi-
zierungsprozess einzuleiten, nimmt das Scheitern des
KSE-Regimes billigend in Kauf. Was die Regierungs-
koalition als Antrag vorlegt, ist daher ein Armutszeug-
nis. Viel deutlicher kann man den Außenminister nicht
im Regen stehen lassen.
Der Vorschlag der FDP, den Vertrag in Deutschland
zu ratifizieren, die Ratifizierungsurkunde aber nicht zu
hinterlegen, ist nicht neu. Vor sieben Jahren wäre das
eine gute, vor sieben Monaten eine noch denkbare Op-
tion gewesen. Heute, so befürchte ich, hilft uns dieser
Trippelschritt nicht mehr weiter. Für solche Spielchen ist
keine Zeit mehr. Entweder wird der A-KSE-Vertrag
schnellstmöglich ratifiziert und weiterentwickelt, oder
das KSE-Regime wird in wenigen Monaten der Ge-
schichte angehören und zu Grabe getragen – mit allen
Unwägbarkeiten für die Rüstungskontrolle insgesamt.
Der angepasste KSE-Vertrag schafft bessere Verifika-
tionsbedingungen, senkt die Obergrenzen und ermög-
licht zum Beispiel auch den überfälligen Beitritt anderer
europäischer Staaten. Die Ratifizierung des angepassten
KSE-Vertrages war in Russland 2004 nicht unumstritten.
Sie war ein Vertrauensvorschuss an den Westen, den wir
jetzt, in dieser kritischen Phase, erwidern sollten. Gehen
wir einen großen Schritt auf Russland zu. Stärken wir
dem deutschen Außenminister bei dieser schwierigen
Mission den Rücken. Lassen Sie uns in Deutschland den
A-KSE-Vertrag unverzüglich ratifizieren und damit auch
ein Zeichen für andere NATO-Partner setzen. Sorgen wir
dafür, dass das System der konventionellen Rüstungs-
kontrolle in Europa erhalten und weiter ausgebaut wird.
Dafür werben wir in unserem Antrag.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 23)
Michael Hennrich (CDU/CSU): Heute findet die
erste Lesung des Gesetzes zur Änderung des Vierten Bu-
ches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze statt. Der
Gesetzentwurf zielt vor allem auf Veränderungen in drei
Problembereichen:
Zum einen gehen wir mit den vorgesehenen Änderun-
gen im Verfahrensrecht weitere Schritte auf eines der
Ziele unserer Koalition zu, den Bürokratieabbau. Damit
tragen wir zu vereinfachten Arbeitsabläufen für alle Be-
troffenen bei.
Des Weiteren sollen offene Fragen in Bezug auf die
Verwaltungspraxis der Träger der Rentenversicherung
geklärt werden.
Schließlich setzen wir mit dem Gesetzentwurf die Ka-
binettsentscheidung vom 13. Dezember 2006 um und
verteilen die Erstattungslasten zwischen dem Bund und
den fünf „neuen“ Ländern aus dem Anspruchs- und An-
wartschaftsüberführungsgesetz neu.
Die Bundesregierung arbeitet für die Änderung des
Sozialversicherungsgesetzes eng mit den Vertretern der
Arbeitgeberverbände und der Sozialversicherungsträger
zusammen. Damit wird sichergestellt, dass das Recht auf
der Höhe der Zeit bleibt, also dass die Änderungen auf
die derzeitigen Erfordernisse in den Betrieben und bei
den Sozialversicherungsträgern zugeschnitten sind. Die-
ser Dialog trägt wesentlich dazu bei, dass das Sozialver-
sicherungsänderungsgesetz ein Erfolg wird, indem
Arbeitsabläufe passgenau vereinfacht oder zusammen-
gefasst werden. Dafür möchte ich den Arbeitgeberver-
bänden und den Sozialversicherungsträgern an dieser
Stelle herzlich danken. Danken für die gute und kon-
struktive Zusammenarbeit, die keine Selbstverständlich-
keit ist, sondern Beharrlichkeit und Ausdauer erfordert
und ein kontinuierliches Aufeinanderzugehen um der
Sache willen. Der Normenkontrollrat spricht in diesem
Zusammenhang sogar davon, dass dieser kontinuierliche
12322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Dialog der Bundesregierung mit den Arbeitgeberverbän-
den und Sozialversicherungsträgern richtungweisend ist.
Lassen Sie uns daran auch in Zukunft festhalten!
Um die drei angesprochenen Ziele des Gesetzent-
wurfs zu erreichen, haben wir neben all den technischen
Veränderungen viele kleine Anpassungen vorgenom-
men. Diese Kleinarbeit auf dem Weg zu unserem Ziel
Bürokratieabbau ist nicht populistisch verkäuflich, da sie
von der Allgemeinheit nicht hoch angesehen wird. Sie
werden selten jemanden finden, der Ihnen dafür dankbar
auf die Schulter klopfen wird. Und dennoch ist diese
Kleinarbeit wichtig, da die Ergebnisse der in diesem Ge-
setzentwurf vorgenommenen Änderungen konkrete Ver-
besserungen für die jeweils Betroffenen mit sich brin-
gen. Auf einige davon gehe ich im Folgenden genauer
ein.
Die Zusammenfassung der Vorschriften im Bereich
des Sozialversicherungsausweises und die Aufhebung
der Sozialversicherungsausweisverordnung begrüße ich
ausdrücklich. Diese Neuerungen tragen wesentlich zu ei-
ner größeren Übersichtlichkeit und damit vor allem zu
einer Entlastung der Arbeitgeber bei. Auch der Bundes-
verband der Arbeitgeber und der Zentralverband des
Deutschen Handwerks stimmen hier mit uns überein und
begrüßen die geplanten Änderungen.
Ein besonders zukunftsträchtiges Zeichen sehe ich in
der Vollautomatisierung des Melde- und Beitragsverfah-
rens sowie der vollautomatischen Rückmeldung an die
Arbeitgeber. Diese technischen Neuerungen stellen we-
sentliche Erleichterungen dar, kann die Information doch
einmal eingegeben und ohne weiteren Aufwand weiter
verwendet werden. An sich wurde das Verfahren schon
zum 1. Januar 2006 eingeführt, aber erst mit dem Sozial-
versicherungsänderungsgesetz wird durch die verbindli-
che Genehmigung von entsprechenden Datensätzen die
Voraussetzung für eine komplette Umstellung der Ar-
beitgeber vom Papier- auf das elektronische Verfahren
geschaffen. Schätzungen des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales zufolge können mit dieser Maß-
nahme rund 7 Millionen Euro jährlich eingespart wer-
den.
Durch die zum 1. Januar 2009 geplante zentrale Mel-
destelle für alle berufsständischen Versorgungseinrich-
tungen müssen die Unternehmen die Unterlagen zukünf-
tig auch nicht mehr in Papierform an mehr als 80
verschiedene Einrichtungen schicken. Damit sollte der
Bearbeitungsaufwand sowohl für die Arbeitgeber als
auch für die Versorgungseinrichtungen reduziert werden.
Das Ministerium spricht hier daher von Einsparungen in
Höhe von rund 45,36 Millionen Euro.
Diese und weitere Änderungen der Informations-
pflicht werden daher auch ausdrücklich vom Normen-
kontrollrat gelobt, und es wird von einer Entlastung ge-
sprochen.
Die für mich zentrale Verbesserung des hier vorlie-
genden Entwurfs des Sozialversicherungsänderungsge-
setzes sind die Änderungen in Bezug auf die Familienan-
gehörigen im Handwerk. Endlich kam es hier zu einer
Klärung des Status derselben. Dies ist ein Ergebnis aus
der Zusammenarbeit mit dem Zentralverband des Deut-
schen Handwerks und anderen sowie des kontinuierli-
chen Einsatzes der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für
dieses Ergebnis. Bisher haben die Familienangehörigen
in Handwerksbetrieben zwar meist Sozialversicherungs-
beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung einge-
zahlt, damit jedoch nicht automatisch einen Anspruch
auf Leistungen erhalten. Begründet liegt das in der Ein-
stufung der Familienangehörigen durch die Sozialversi-
cherungsträger als Unternehmer und nicht als Arbeitneh-
mer. Bereits mit dem Vierten Gesetz für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) konnte
hier ein Teilerfolg errungen werden: Für diejenigen, die
ab dem 1. Januar 2005 erstmalig der Einzugsstelle als
Arbeitnehmer gemeldet wurden, wurde das automati-
sche Feststellungsverfahren durchgeführt. Damit findet
für diese zugleich auch die leistungsrechtliche Bindung
der anderen Sozialversicherungsträger statt. Es blieb je-
doch dabei, dass Altfälle nur durch Klagen und langwie-
rige Verfahren zu ihrem Recht kommen konnten, und bei
den Neufällen waren nur die Ehegatten automatisch be-
rücksichtigt, für Kinder musste ein gesonderter Antrag
gestellt werden.
Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf kommt es
für die Familienangehörigen von Handwerkern nun zu
weiteren Verbesserungen:
Zum einen wird das automatische Feststellungsver-
fahren ausgeweitet und damit auf Ehegatten und Kinder
zugleich angewendet. Die Prüfung wird dabei über die
Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung erfol-
gen. Damit erhalten dann endlich alle im Handwerksbe-
trieb angestellten Familienangehörigen für ihre Zahlun-
gen in die Sozialversicherung im Bedarfsfall auch die
damit verbundenen Leistungen.
Zum anderen wurde die Regelung hinsichtlich der be-
reits gezahlten Beiträge von Familienangehörigen zur
gesetzlichen Rentenversicherung geändert. Diese gelten
in Zukunft als zu Recht entrichtete Pflichtbeiträge, wo-
durch eine Schlechterstellung der in Handwerksbetrie-
ben angestellten Familienangehörigen gegenüber dem
tatsächlich Pflichtversicherten verhindert wird. Eine Er-
stattung der gezahlten Beiträge zur gesetzlichen Renten-
versicherung findet zwar nicht statt, aber die Beiträge
bleiben zukünftig als solche erhalten.
Auch an dieser Stelle ist der Dialog hervorzuheben,
der hier mit dem Zentralverband des Deutschen Hand-
werks, den Unternehmerfrauen des Handwerks und an-
deren geführt wurde und letzten Endes zu mehr Rechts-
sicherheit durch diese für die Betroffenen in der Praxis
relevanten Verbesserungen führen wird. Daher auch an
dieser Stelle herzlichen Dank an all diejenigen, die zu
diesem Ergebnis beigetragen haben. Ein Ergebnis, das
eine erhebliche und nachhaltige Verbesserung für Hand-
werkerfamilien bringt, da nun endlich ein automatisches
Feststellungsverfahren durchgeführt wird und somit die
soziale Absicherung rechtssicher geregelt wird. Und
auch hier die Aufforderung: Weiter so!
Auf zwei weitere konkrete Beispiele aus dem Gesetz
möchte ich noch eingehen, zwei für die Allgemeinheit
wohl nur kleine Beispiele, die für die jeweils Betroffe-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12323
(A) (C)
(B) (D)
nen jedoch wichtige Veränderungen mit sich bringen:
Für gehörlose bzw. hörbehinderte Menschen eine Bes-
serstellung und für Unternehmen eine weitere Vereinfa-
chung.
Im Sozialversicherungsänderungsgesetz ist vorgese-
hen, dass gehörlose bzw. hörbehinderte Menschen bei der
Inanspruchnahme von Sozialleistungen einen Dolmet-
scher beanspruchen können. Damit wird es in Zukunft
über die Kostenübernahme keinen Streit mehr geben, da
diese in Höhe der Sätze des Justizvergütungs- und -ent-
schädigungsgesetzes (JVEG) vorgenommen werden soll.
Konkret heißt das, dass für einen Dolmetschereinsatz bei
der Ausführung von Sozialleistungen die Kosten dafür
mindestens in der Höhe erstattet werden, die bei einem
vorgelagerten Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren ent-
stehen würden. Damit werden gehörlose und hörbehin-
derte Menschen beim Dolmetschereinsatz anlässlich der
Ausführung von Sozialleistungen in Zukunft genauso ge-
stellt wie in Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren. Die
Regelung dient dabei sowohl der Gleichbehandlung als
auch dem Abbau von Bürokratie und damit der Reduzie-
rung von Kosten.
Das andere Beispiel, auf das ich eingehen wollte, sind
die Krankengeldzuschüsse – ein kleines, aber oft leidi-
ges Thema für Unternehmen. Leidig vor allem dann,
wenn durch Tarifverträge vereinbart wurde, das Kran-
kengeld durch einen Arbeitgeberzuschuss auf 100 Pro-
zent des vorherigen Nettoentgelts aufzustocken. Denn
schon allein die Fortzahlung von Kleinstbeträgen, wie
die Erstattung von Kontoführungsgebühren oder Zu-
schüssen zu vermögenswirksamen Leistungen, war bis-
her beitragspflichtig. Der dadurch entstehende Berech-
nungs-, Melde- und Nachweisaufwand steht jedoch zur
Beitragshöhe oft in keinem vertretbaren Verhältnis. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf soll daher künftig eine
Bagatellgrenze von 50 Euro pro Monat laut § 23 c
SGB IV eingeführt werden. Schätzungen des Ministe-
riums für Arbeit und Soziales gehen dabei von einer Ent-
lastung der Arbeitgeber von rund 32,4 Millionen Euro
aus.
Der heute zum ersten Mal ins Plenum eingebrachte
Gesetzentwurf ist, wie Sie an der von mir vorgenomme-
nen Auswahl sehen, eine Ansammlung von vielen klei-
nen Änderungen.
Der Bundesrat hat sich mit diesem Gesetzentwurf be-
reits am 21. September 2007 in erster Lesung befasst
und stimmte dem Entwurf grundsätzlich zu. Die Bundes-
regierung hat die Übernahme der meisten Anregungen
zugesagt. Kritisch gesehen wurden zwei Vorschläge des
Bundesrates:
Zum einen wurde die vorgeschlagene Streichung zur
Regelung der Kommunikationshilfegewährung abge-
lehnt, da durch den damit einhergehenden Bürokratieab-
bau Kosten gespart werden und nicht eine große finan-
ziellen Mehrbelastung für die Länder, wie vom
Bundesrat geäußert, erwartet wird. Außerdem ist anzu-
merken, dass der Bedarf an sich gering ist und die Län-
der – sollte der Bedarf doch ansteigen – die Möglichkeit
zu gesonderten Vergütungsvereinbarungen laut § 14
JVEG haben.
Zum anderen wurde die Verhängung von Säumniszu-
schlägen mit der Begründung abgelehnt, dass mit den
Änderungsvorschlägen nichts geregelt wird, was nicht
bereits durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ab-
gedeckt wäre. Das Bundessozialgericht sprach sich be-
reits in einem Urteil aus dem Jahr 2004 grundsätzlich für
Säumniszuschläge aus und sieht auch die säumniszu-
schlagsfreie Dreimonatsfrist als angemessen an. Letztere
entspricht auch der seit Jahren üblichen Verwaltungspra-
xis, welcher zu insgesamt 85 Prozent bzw. 95 Prozent
bei Schuldnern auf Bundesebene mit steigender Tendenz
nachgekommen wird.
Geprüft werden sollen noch die Vorschläge zur Anhe-
bung der Hinzuverdienstgrenze für Rentner und die Aus-
weitung der Vertrauensschutzregelung für Versicherte
mit einer Vorruhestandsversicherung. Bei beiden Punk-
ten stehen wir mit unserem Koalitionspartner im Ge-
spräch und werden in den nächsten Wochen die Ände-
rungsmöglichkeiten und -wünsche veröffentlichen.
Als Reaktion auf die vielen konstruktiven Vorschläge
des Bundesrates und zahlreiche weitere Anregungen
wird die Bundesregierung daher voraussichtlich dem-
nächst einen Änderungsantrag im Bundestag einbringen.
Hierzu werden noch viele offene Gespräche stattfinden,
und es ist klar, dass auch beim Entwurf des Sozialversi-
cherungsänderungsgesetz gilt, dass noch kein Gesetz
den Bundestag so verlassen hat, wie es als Entwurf ein-
gebracht wurde. In der nächsten Sitzungswoche wird der
Gesetzentwurf zunächst im Ausschuss für Arbeit und
Soziales beraten. Es ist geplant, dass die zweite und
dritte Lesung des Sozialversicherungsänderungsgesetzes
vor dem 16. November stattfinden wird, damit das Ge-
setz pünktlich zum 1. Januar 2008 in Kraft treten kann.
Mit diesem Gesetzentwurf werden viele Einzelpro-
bleme gelöst und wird in Kleinarbeit Abhilfe durch Ver-
einfachungen geschaffen. Daher freue ich mich für alle
betroffenen Personengruppen, so vor allem über die
Klarstellung für Familienangehörige von Handwerkern
hinsichtlich ihrer sozialen Sicherung und auch über die
Hilfen für gehörlose und hörbehinderte Menschen, je-
doch auch generell über die Verbesserungen für unsere
Unternehmen.
Der hier vorliegende Entwurf des Sozialversiche-
rungsänderungsgesetzes ist ein wesentlicher Beitrag zum
Bürokratieabbau. Besonders bemerkenswert ist hierbei,
dass unsere Unternehmen durch den geplanten Bürokra-
tieabbau voraussichtlich Kosten in Höhe von rund
200 Millionen Euro einsparen können. 200 Millionen
Euro, die auf Erleichterungen und Vereinfachungen be-
ruhen und damit keine Abschöpfung darstellen, sondern
eine wirkliche Einsparung. Und daher auch 200 Millio-
nen Euro, die für Wachstum und Beschäftigung genutzt
werden können, auf dass auch in Zukunft die Wirtschaft
weiter wächst und die Arbeitslosigkeit weiter sinkt.
Dieser Gesetzentwurf zeigt deutlich, dass man mit
vielen kleinen Schritten einiges erreichen kann und dass
wir dabei auf einem guten Wege sind.
12324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Anton Schaaf (SPD): Der vorliegende Gesetzent-
wurf ist ein typisches Beispiel für ein sogenanntes Om-
nibusgesetz. In einem solchen Gesetz werden Regelun-
gen untergebracht, die für die Verfahren und
Arbeitsabläufe der jeweiligen Verwaltungen und Unter-
nehmen wichtig sind, aber dennoch – wegen des hohen
Aufwands – jeweils keinen eigenen Gesetzentwurf
rechtfertigen.
Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Vierten
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze beinhaltet
daher zahlreiche Regelungen zum Verfahrensrecht der
Sozialversicherung. Es erfolgen Anpassungen an die be-
triebliche Praxis in den Unternehmen und bei den So-
zialversicherungsträgern. Arbeitsabläufe werden verein-
facht und zusammengefasst. Überflüssig gewordene
Vorschriften werden aufgehoben. Das gesamte Maßnah-
menpaket entlastet die Unternehmen von Bürokratie und
damit von Kosten in einer Höhe von rund 190 Millionen
Euro.
Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf Änderungen
im Rentenversicherungsrecht und anderen Bereichen des
Sozialversicherungsrechts vor, mit denen Klarstellungen
für die Verwaltungspraxis erfolgen. Diese betreffen unter
anderem das Auslandsrentenrecht für Hinterbliebene,
den Zeitpunkt der Rentenauskunft, das Rentensplitting
sowie die Alterssicherung der Landwirte. Ferner werden
in Zukunft bei der Altersteilzeit die Erstattung für Auf-
stockungsleistungen für arbeitslos Gemeldete und Emp-
fänger von ALG II vereinheitlicht.
Ich möchte allerdings auf jene Neuerungen eingehen,
die mir politisch wichtig sind:
Erstens werden in Zukunft bereits gezahlte Arbeit-
nehmerbeiträge zur Sozialversicherung vor einer nach-
träglichen Rückforderung durch einen Insolvenzverwal-
ter geschützt.
Zweitens werden die finanziellen Ausgaben der
neuen Länder für die Zusatz- und Sonderversorgungs-
systeme der Rentner deutlich gesenkt.
Drittens prüft die Bundesregierung Vorschläge, die
der Bundesrat zum vorliegenden Gesetzentwurf gemacht
hat. Die Aufnahme dieser Vorschläge ist zu begrüßen,
weil sie deutliche Verbesserungen für Rentenversicherte
und Rentenbezieher mit sich bringen. Dazu gehören die
Anpassung der Hinzuverdienstgrenze bei einer vorge-
zogenen Rente an die Entgeltgrenze für geringfügige
Beschäftigung in Höhe von 400 Euro und ergänzende
Regelungen zum Sozialversicherungsschutz für Vorru-
hestandsgeldbezieher.
Der Gesetzentwurf stellt mit einer Ergänzung des
§ 28 e Abs. 1 SGB IV klar, dass Arbeitnehmerbeiträge
zur Sozialversicherung im Insolvenzfall zum Vermögen
des Arbeitnehmers gehören und damit bei den Sozialver-
sicherungsträgern verbleiben.
Bisher können im Insolvenzfall Beiträge für einen
Zeitraum von bis zu zehn Jahren von den Sozialversiche-
rungsträgern zurückgefordert werden. Geschätzte
800 Millionen Euro jährlich gehen damit den Sozialver-
sicherungen verloren. Zusätzlich verzichtet der Fiskus
auf 120 Millionen Euro Einkommens- und Umsatz-
steuer.
Die entgangenen Beiträge müssen letztendlich von
der Versichertengemeinschaft aufgebracht werden, denn
die Ansprüche aus den Versicherungen – insbesondere
der Rentenversicherung – bleiben für die Versicherten
selbstverständlich bestehen.
Dies kann im Extremfall zu der paradoxen Situation
führen, dass einer langen Erwerbsbiografie keine ent-
sprechenden Beiträge an die Rentenversicherung gegen-
überstehen. Dies gilt auch für die anderen Zweige der
Sozialversicherung.
Die einschlägigen Interessenverbände warnen davor,
eine gesetzliche Änderung vorzunehmen. Sie wollen
verfügbare finanzielle Mittel – die Sozialversicherungs-
beiträge gehören nach dieser Argumentation dazu – zur
Abwendung des Konkurses verwenden. Demnach be-
drohen nicht zurückgeforderte Sozialversicherungsbei-
träge die Existenz der betroffenen Unternehmen. Belast-
bare Statistiken, die diesen Zusammenhang bestätigen,
konnten bisher allerdings nicht vorgelegt werden. Zu-
meist jedoch werden die entsprechenden Verfahren oh-
nehin mangels Masse eingestellt. Die zurückgeflossenen
Sozialversicherungsbeiträge dienen deshalb eher dazu,
die Gebühren für die Insolvenzverwaltung zu decken.
Die jetzt gefundene Regelung ist nicht optimal, kann
aber einen Teil des Schadens für die Sozialversicherung
abwenden. Wünschenswert aus meiner Sicht ist aller-
dings eine Lösung, die auch von den Arbeitgebern ge-
leistete Sozialversicherungsbeiträge in Zukunft vor ei-
nem Zugriff schützt.
Des Weiteren soll die finanzielle Entlastung der
neuen Bundesländer durch den vorliegenden Gesetzent-
wurf nicht unerwähnt bleiben. Bisher tragen die neuen
Länder zwei Drittel und der Bund zu einem Drittel die
Lasten, die für die Rentenversicherung durch Aufwen-
dungen für die Zusatzversorgungssysteme (Zusatz- und
Sonderversorgungssysteme der DDR) entstehen. In § 15
Abs. 2 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberfüh-
rungsgesetz (AAÜG) wird nun festgelegt, dass eine
stufenweise Anhebung des Finanzierungsanteils des
Bundes im Jahr 2008 auf 36 Prozent, im Jahre 2009 auf
38 Prozent und ab 2010 auf 40 Prozent vorgesehen ist.
Dies führt zu Mehrbelastungen des Bundes in Höhe von
ca. 65 Millionen Euro im Jahr 2008, circa 113 Millio-
nen Euro im Jahr 2009 und circa 162 Millionen Euro
jährlich ab dem Jahr 2010. Die neuen Bundesländer
müssen dann entsprechend weniger ausgeben und wer-
den damit deutlich entlastet.
Darüber hinaus erscheint im Anschluss an die Anhe-
bung des Rentenalters durch das RV-Altersgrenzenan-
passungsgesetz eine bessere Einbeziehung des Vorruhe-
stands in das Regelwerk notwendig. Ursprünglich sollte
das Rentenalter für langjährig Versicherte von 63 auf
62 Jahre abgesenkt werden. In Anlehnung daran sehen
die bis dahin abgeschlossenen Vereinbarungen einen
Vorruhestandsgeldbezug bis zum Alter von 62 Jahren
vor. Der mit dem RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz
beschlossene Verbleib der Altersgrenze bei der Rente für
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12325
(A) (C)
(B) (D)
langjährig Versicherte bei 63 Jahren stellt die Versicher-
ten deshalb vor ein Problem.
Durch die neue Regelung kann in Zukunft eine Ver-
sorgungslücke von bis zu einem Jahr zwischen Vorruhe-
stand und Rente entstehen. Besonders gravierend wäre
der Wegfall der Versicherungspflicht in der Renten-,
Kranken- und Pflegeversicherung durch das Ende des
Vorruhestandsgeldbezugs.
Die Bundesregierung lehnt es allerdings ab, den im
RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz verankerten Vertrau-
ensschutz für die Altersteilzeit auf Vorruhestandsverein-
barungen, die vor dem 1. Januar 2007 abgeschlossen
wurden, auszudehnen. Sie prüft aber Möglichkeiten,
auch in Zukunft den Sozialversicherungsschutz nach
Auslaufen eines Vorruhestandsgeldbezugs zu gewähr-
leisten. Eine denkbare Lösung ist der Verbleib der Al-
tersgrenze bei 62 Jahren für eine klar einzugrenzende
Personengruppe – in Abhängigkeit von Geburtsjahrgang
und Zeitpunkt der Vorruhestandsvereinbarung.
Zwar können Arbeitnehmer und Arbeitgeber heute
mit der neuen Rechtslage die Vorruhestandsvereinbarun-
gen an die neue Altersgrenze von 63 Jahren anpassen.
Für bereits abgeschlossene Vereinbarungen muss es aber
eine verbindliche Regelung geben, um die Rechts- und
Planungssicherheit für die Versicherten zu gewährleis-
ten.
Der Bundesrat empfiehlt ebenfalls eine prüfenswerte
Verbesserung des Hinzuverdienstes bei Bezug einer vor-
gezogenen Rente. Meines Erachtens ist eine solche Re-
gelung wünschenswert und längst überfällig. Denn die
Festsetzung der gültigen Hinzuverdienstgrenze bei Be-
zug einer vorgezogenen Altersvollrente oder einer vollen
Erwerbsminderungsrente auf ein Siebtel der Bezugs-
größe – in 2007 sind dies 350 Euro – ist für viele Rent-
nerinnen und Rentner kaum nachvollziehbar. Sie orien-
tieren sich an der Geringfügigkeitsgrenze von 400 Euro
und gehen davon aus, dass sie neben der Rente eine ge-
ringfügige Beschäftigung ausüben dürfen. Was bisher
zur Folge hat, dass bei mehrmaligem Überschreiten der
350-Euro-Grenze die Rente in der Regel ganz oder teil-
weise zurückgefordert wird.
Mit der Vereinheitlichung der Hinzuverdienstgrenze
werden in Zukunft solche von niemandem ernsthaft ge-
wollten Ergebnisse vermieden. Und sie bedeutet auch
eine erhebliche Verwaltungsvereinfachung für die Ren-
tenversicherungsträger, weil aufwendige Überprüfun-
gen und Rückforderungen entfallen.
Wir entwickeln unser Sozialrecht weiter. Das vorlie-
gende Gesetz trägt dazu bei und dokumentiert unser Be-
mühen, auch in Zukunft mit den gesellschaftlichen und
ökonomischen Entwicklungen Schritt zu halten und
mehr noch diese auch in unserem Sinne zu gestalten.
Heinz-Peter Haustein (FDP): Der vorliegende Ge-
setzentwurf zielt darauf ab, eine ganze Reihe von Rege-
lungen im Sozialversicherungsrecht zu ändern, um Ver-
fahren und Abläufe zu vereinfachen und anzupassen.
Insofern begrüßt die FDP den Schritt der Regierung, mit
der vorliegenden Initiative aktiv geworden zu sein. Die
Vielzahl der in Rede stehenden Regelungen und Vor-
schriften verbietet an dieser Stelle eine abschließende
Behandlung. Auf einige wenige Sachverhalte möchte ich
jedoch gezielt eingehen.
Zunächst offeriert der Entwurf etliche aus unserer Sicht
unproblematische Regelungen: So ist die Streichung der
Übergangsvorschriften im sogenannten Statusfeststellungs-
verfahren ebenso richtig wie die Zusammenfassung der
Vorschriften zum Sozialversicherungsausweis, der nun von
der Rentenversicherung ausgestellt werden soll, unter
Genehmigungsvorbehalt des Ministeriums. Auch die
Klarstellung zum Melde- und Beitragsverfahren, in dem
die Rückmeldungen an die Arbeitgeber künftig ebenfalls
vollautomatisiert abgewickelt werden sollen, ist aus un-
serer Sicht ein sinnvoller Schritt.
Auch das Meldeverfahren für Versicherte in den be-
rufsständischen Versorgungseinrichtungen soll laut dem
Entwurf zukünftig richtigerweise in das Meldeverfahren
zur Sozialversicherung integriert werden. Die Festle-
gung eines einheitlichen Zeitpunktes zur Übermittlung
der Beitragsnachweise, der nun als Kompromiss zwi-
schen Arbeitgebern und Einzugsstellen auf „zwei Ar-
beitstage vor Fälligkeit“ fixiert werden soll, ist so hin-
nehmbar.
Dies alles und andere der vorgesehenen Regelungen
– ich will und kann hier nicht den ganzen Entwurf abar-
beiten – sind aus Sicht der FDP völlig unstrittig. Noch
einmal sorgfältig überdenken sollte man jedoch unserer
Meinung nach insbesondere zwei der beabsichtigten
Neuerungen:
Zum Ersten sollen laut dem Gesetzentwurf künftig
die zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichteten
Beiträge nur noch für die jeweils letzten vier Jahre an
den Beitragszahler rückerstattet werden, falls sich he-
rausstellen sollte, dass dieser gar nicht versicherungs-
pflichtig war. Der Status quo hingegen sieht für den Fall
der Feststellung der fehlenden Versicherungspflicht vor,
dass die Beiträge umfassend rückerstattet werden. Zwar
besteht bei der Arbeitslosenversicherung im Falle der
Feststellung der fehlenden Versicherungspflicht bereits
heute lediglich die Verpflichtung zur Rückerstattung der
Beiträge der letzten vier Jahre. Das dies jedoch ein Prä-
judiz dafür sein soll, in der gesetzlichen Rentenversiche-
rung ebenso zu verfahren und nicht eine Angleichung in
anderer Richtung vorzunehmen, sollte nicht ohne jede
weitere Diskussion so stehengelassen werden.
Gerade vor dem Hintergrund der Streitfälle der Ver-
gangenheit bei im Betrieb mitarbeitenden Familienange-
hörigen und hinsichtlich der für den Einzelnen erhebli-
chen Summen, die über Jahre bei fehlerhafter
Beitragszahlung zusammenkommen können, sollte noch
einmal darüber nachgedacht werden, in welcher Rich-
tung man hier eine Angleichung der Verfahren vorneh-
men möchte. Wir müssen eine Antwort auf die Frage fin-
den, ob wir jemandem, der nicht der Versicherungspflicht
unterliegt und keinerlei Anspruch auf Versicherungsleis-
tungen hat, wirklich erklären wollen, dass er möglicher-
weise über Jahre hinweg Beiträge gezahlt hat, von denen
er nicht mit einem Cent etwas hat, weder bezüglich eines
Versicherungsanspruchs noch in Form einer Rückerstat-
12326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
tung. Da selbst die zurückgezahlten Beiträge ohne Ver-
zinsung erstattet werden, besteht schon darin eine Be-
nachteiligung der Betroffenen, die gegenüber einer
kapitalgedeckten Altersvorsorge deutliche Nachteile hat.
Es ist zu klären, inwieweit die Sozialversicherungs-
träger die Folgen und Konsequenzen von Irrtümern bei
der Feststellung der Versicherungspflicht legitimerweise
einseitig auf die Betroffenen abwälzen dürfen. Aus unse-
rer Sicht ist in dieser Frage mit äußerster Sensibilität
vorzugehen. Die FDP hat bereits in der letzten Legisla-
turperiode einen Antrag in den Bundestag eingebracht,
der vorsah, dass Betroffene, die jahrelang im Glauben an
die Sozialversicherungspflicht Beiträge zahlten und bei
denen sich dann herausstellte, dass keine Versicherungs-
pflicht gegeben ist, ein Wahlrecht erhalten. Die Betroffe-
nen müssen die Möglichkeit haben, zu wählen zwischen
der Inanspruchnahme der Versicherungsleistung einer-
seits, derer sie sich jahrelang sicher waren, und der
Rückerstattung der Beiträge andererseits. Im Sinne einer
Angleichung der Verfahren könnte durchaus in der ande-
ren Richtung verfahren werden. Die Festlegung auf die
Lösung zuungunsten der Betroffenen sollten wir noch
einmal überdenken, wie ich meine.
Zum Zweiten muss die beabsichtigte Neuverteilung
der Erstattungslasten des Bundes nach dem Anwart-
schafts-Überführungsgesetz betrachtet werden. Bislang
trugen die Länder zwei Drittel der Lasten, der Bund trug
ein Drittel. Die stufenweise Erhöhung des Bundesanteils
auf 40 Prozent im Jahr 2010 zieht die Frage nach sich,
warum es hier zu einer Entlastung der Länder kommen
soll. Darüber hinaus kritisiert der Bundesrat in seiner
Stellungnahme eine Reihe anderer Neuregelungen, zum
Beispiel, dass auch die Landesaufsichtsbehörden die
aufbereiteten Gesamtdaten von den Rentenversiche-
rungsträgern erhalten sollen. Auch die vorgesehene
Übernahme von Kosten für gehörlose und hörbehinderte
Menschen im Sozialleistungsverfahren bemängelt die
Länderkammer angesichts der Tatsache, dass bislang je-
der ausdrückliche Hinweis auf die Höhe der zu erstatten-
den Kosten im SGB I fehlt. Es wird also im weiteren
Verlauf des parlamentarischen Verfahrens noch genug
über den vorgelegten Gesetzentwurf zu reden sein.
Katja Kipping (DIE LINKE): Das Sozialgesetz-
buch IV enthält gemeinsame Vorschriften für die Sozial-
versicherungen und regelt insbesondere Verfahren, die
für alle Zweige der Sozialversicherung gelten. Mit dem
neuerlichen Gesetzentwurf der Bundesregierung sollen
diese zunächst an „Erfordernisse der betrieblichen Pra-
xis“ sowie bei den Trägern der Sozialversicherungen an-
gepasst werden.
Insgesamt sind für das SGB IV 14 Änderungen vor-
gesehen. Zum Teil dienen die Vorschriften der Klarstel-
lung von gewünschten Verfahrensabläufen, die entweder
Vereinfachung für die Arbeitgeber oder die Sozialver-
sicherungsträger darstellen. Für die Versicherten sind
folgende Neuregelungen relevant:
Erstens. Zu Unrecht geleistete Beiträge zur gesetzli-
chen Rentenversicherung konnten bislang rückwirkend
erstattet werden. Nunmehr sollen nach Ablauf einer Ver-
jährungsfrist von vier Jahren diese Beiträge als Pflicht-
beiträge gewertet werden. Eine Erstattung ist nicht mehr
möglich.
Zweitens. Es wird klargestellt, dass im Insolvenzfall
die Arbeitnehmerbeiträge als Besitzstand des Arbeitneh-
mers gelten.
Außerdem werden weitere 18 Änderungen in anderen
Gesetzen vollzogen, die teilweise den redaktionellen
Charakter oder Verfahrensfragen klären bzw. vereinfa-
chen sollen. Als bedeutsam erachte ich hier folgende As-
pekte:
Erstens. Nach dem Anspruchs- und Anwartschafts-
überführungsgesetz übernehmen der Bund und die neuen
Länder die vollständige Erstattung von Rentenkosten,
die auf der Überführung von Zusatz- und Sonderversor-
gungssysteme in der DDR beruhen. Die Aufteilung der
Kosten zwischen Bund und neuen Ländern wird zuguns-
ten der neuen Länder geändert. Der Bund trägt derzeit
ein Drittel der Kosten und steigert seinen Anteil stufen-
weise auf 40 Prozent im Jahr 2010.
Zweitens. Bei einer Anpassung des Auslandsrenten-
rechts bei Hinterbliebenenrenten wird die großzügigere
Regelung des EU-Gemeinschaftsrechts übernommen.
Bislang wurden Renten für Hinterbliebene bei gewöhnli-
chem Aufenthalt im Ausland für drittstaatsangehörige
Hinterbliebene nur in Höhe von 70 Prozent ausgezahlt,
während das EU-Gemeinschaftsrecht die volle Leis-
tungsgewährung vorsieht.
Drittens. Die Prüfrechte zur Prüfung von Erstattungs-
ansprüchen von Werkstätten für behinderte Menschen
und ähnliche Einrichtungen werden auf Ersuchen des
Bundesrechnungshofs ausgeweitet.
Viertens. Im landwirtschaftlichen Bereich ist die Hof-
übergabe immer die Voraussetzung für den Rentenbe-
zug. Nunmehr soll die Möglichkeit der Hofabgabe unter
Ehegatten erleichtert werden, mit dem Ziel ein früheres
Renteneintrittsalter zu ermöglichen. Eine Hofabgabe an
den anderen Ehegatten soll – schon – dann möglich sein,
wenn der den Hof übernehmende Ehegatte ein Lebensal-
ter erreicht hat, ab dem er frühestens eine vorzeitige Al-
tersrente beziehen könnte, nach Ablauf der Übergangs-
zeit wäre dies das 57. Lebensjahr.
Für mich ist klar erkennbar, dass ein Großteil der Än-
derungen vor allem dazu dient, Vereinfachung und Kos-
tenminimierung bei Verwaltungsabläufen herbeizufüh-
ren. Das ist prinzipiell zu begrüßen, ebenso wie der
Insolvenzfall oder die stärkere Kostenbeteiligung des
Bundes an Rentenansprüchen nach dem Anspruchs- und
Anwartschaftsüberführungsgesetz, auch wenn natürlich
der Aspekt Rentenüberleitung ausführlicher und grund-
sätzlicher in Bezug auf das Leistungsrecht behandelt
werden sollte. Ob negative Auswirkungen auf die Versi-
cherten eintreten, das bleibt allerdings abzuwarten.
Zudem sehe ich die beabsichtigte Änderung des § 73
SGB IV zu über- und außerplanmäßigen Ausgaben kri-
tisch. Es ist vorgesehen, diese Entscheidung dem Ver-
waltungsrat zu übertragen. Das widerspricht in meinen
Augen einer flexiblen und situationsgerechten Handha-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12327
(A) (C)
(B) (D)
bung des Haushaltsrechtes. In der Regel tagen Verwal-
tungsräte in recht großen zeitlichen Abständen, sodass
zusätzliche Treffen anberaumt werden müssten, die für
die Krankenkassen natürlich einen erheblichen zusätzli-
chen Verwaltungsaufwand sowie Mehrkosten verursa-
chen. Deutlich günstiger wäre es, auch diese Bewilligun-
gen beim Vorstand zu belassen, da diesem ohnehin die
finanzrelevanten Aufgaben obliegen.
Aus den genannten Gründen kann meine Fraktion
diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Gesetzentwurf enthält eine Vielzahl verfahrenstechni-
scher Regelungen und rechtlicher Anpassungen, die im
Sinne einer Harmonisierung des Sozialrechts zu begrüßen
sind. Problematisch sind solche Verfahrensänderungen,
wenn sie die Selbstbestimmungs- und Widerspruchs-
rechte der betroffenen Leistungsempfänger beschneiden.
Deshalb kritisieren Bündnis 90/Die Grünen ausdrück-
lich die Pläne der Bundesregierung, Rentenversicherten
das Recht auf Erstattung von zu Unrecht entrichteten Bei-
trägen zu nehmen. Durch die geplante automatische Um-
wandlung zu Unrecht gezahlter Beiträge in Anwartschaf-
ten nach Ablauf der Verjährungsfrist von vier Jahren wird
den Antragstellern außerdem ihr Widerspruchsrecht ge-
nommen. Denn Bescheide, die die Unrechtmäßigkeit der
Beiträge feststellen, werden durch diese Regelung hinfäl-
lig. Auf diese Weise hebelt die Bundesregierung elemen-
tare Verfahrensrechte für viele Millionen Versicherte aus.
Wir vermissen außerdem Erläuterungen seitens der
Bundesregierung über die finanziellen Auswirkungen
dieser Regelung sowohl für die Versicherten als auch für
die Rentenversicherung.
Kein Verständnis haben wir für die Ablehnung der
Bundesländer zu den Plänen der Bundesregierung, die
Kostenberechnung von Gebärdensprachdolmetschern und
Kommunikationshelfern bei der Ausführung von Sozial-
leistungen auf festere Füße zu stellen. Diese sollen an
die Regelungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren
angepasst werden. Ich begrüße ganz ausdrücklich dieses
Vorhaben der Bundesregierung. Gehen Menschen mit
Hörbehinderungen heute zum Arzt, so ist die Kostener-
stattung bzw. Refinanzierung für eine Gebärdensprach-
dolmetschung alles andere als unproblematisch. Auch
die Rahmenvereinbarungen mit den Krankenkassen ent-
sprechen bei Weitem nicht dem Standard, den wir schon
in anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens er-
reicht haben. Das Behindertengleichstellungsgesetz ge-
bietet einen barrierefreien Zugang für Menschen mit
Behinderungen zu den Sozialleistungen sowie eine aus-
kömmliche Vergütung der Dolmetschung. Die geplante
Änderung durch die Bundesregierung ist daher unum-
gänglich.
Die vorgesehene Änderung der Zuständigkeit für die
Verordnungsermächtigungen des Behindertengleichstel-
lungsgesetzes vom Bundesministerium des Innern auf
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist ein
richtiger und nachvollziehbarer Schritt in die richtige
Richtung. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozia-
les hat den höheren Sachbezug zu den Themen der Men-
schen mit Behinderungen. Ganz ausdrücklich warne ich
jedoch davor, die Zuständigkeiten des Behinderten-
gleichstellungsgesetzes zu einseitig auf das Bundesmi-
nisterium für Arbeit und Soziales zu konzentrieren. Bar-
rierefreiheit betrifft fast alle Ressorts der einzelnen
Ministerien und muss im Sinne eines Disability Main-
streaming ministeriumsübergreifend mitgedacht werden.
Finanzpolitisch fragwürdig sind außerdem die ge-
planten Änderungen zu den Kostenerstattungsregelun-
gen des Anspruchs- und Anwartschaftsrechtes zwischen
Bund und neuen Bundesländern. Hierzu ist festzustellen,
dass die finanzielle Lage des Bundes auch nicht besser
als die der Länder ist. Im Gesetzentwurf findet sich
keine Erläuterung zur Grundlage dieser Entscheidung.
Verwiesen wird lediglich auf eine Kabinettsentscheidung
vom 13. Dezember 2006. Wir fordern die Bundesregie-
rung auf, die Gründe für diese Änderung offenzulegen.
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister für Arbeit und Soziales: Mit dem Gesetz zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und an-
derer Gesetze geht die Bundesregierung konsequent wei-
ter den Weg, bürokratische Hemmnisse für die deutsche
Wirtschaft im Bereich der Sozialversicherung abzu-
bauen. Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen werden
die Kosten für die deutsche Wirtschaft um rund 200 Mil-
lionen Euro pro Jahr reduziert. Der Standort Deutsch-
land wird weiter gestärkt.
Dabei werden die Möglichkeiten moderner Datenver-
arbeitung für die Übermittlung von Daten konsequent
genutzt, zum Beispiel für die Beitragsabrechnung der
Versicherten in berufsständischen Versorgungswerken.
Bisher senden die Unternehmen für ihre Versicherten an
85 Versorgungseinrichtungen umfangreiche Daten auf
Papier. Zukünftig werden nun alle notwendigen Daten
automatisiert an eine Annahmestelle der Versorgungs-
einrichtungen übermittelt. Von dort werden die Daten an
die zuständige Versorgungseinrichtung weitergeleitet.
Genutzt werden dabei Techniken, die sich auch im
Melde- und Beitragsverfahren für die Sozialversiche-
rung bewährt haben.
Ein weiteres Beispiel ist die Vereinheitlichung des
Abgabezeitpunktes für die Beitragsmeldungen zur So-
zialversicherung. Gab es bisher für die Übermittlung
eine Frist von vier bis zwei Tagen je nach Satzung der
Einzugsstelle, ist zukünftig die Frist auf spätestens zwei
Tage vor Fälligkeit der Beiträge gesetzlich festgelegt.
Dadurch werden in erheblichem Umfang Mahnverfahren
und Säumniszuschläge für verspätete Übermittlungen
bzw. zusätzliche Meldungen eingespart.
Über diese direkten Entlastungen der Wirtschaft hi-
naus, werden mit dem Gesetz auch zahlreiche kleinere
Maßnahmen umgesetzt, die für die betroffenen Personen
wichtig sind. Ich nenne hier beispielhaft die Meldung
von im eigenen Unternehmen beschäftigten Kindern zur
Feststellung ihres Versichertenstatus – ein Anliegen, das
besonders den Handwerksbetrieben am Herzen liegt.
12328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Außerdem wird klargestellt, dass in Insolvenzfällen
die Insolvenzverwalter die Meldepflichten des Arbeitge-
bers zu übernehmen haben. Damit wird sichergestellt,
dass den entlassenen Versicherten zumindest in Bezug
auf ihre Zeiten im Versichertenkonto keine Nachteile
mehr entstehen.
Diese Beispiele machen deutlich: Das Gesetz zur Än-
derung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und ande-
rer Gesetze ist mehr als ein Artikelgesetz mit vielen
technischen Einzelregelunge. Sondern: Es handelt sich
dabei um ein Gesetz, das mit seinen vielen Einzelrege-
lungen die tägliche Arbeit in den Unternehmen bei den
Sozialversicherungsträgern spürbar erleichtern wird und
darüber hinaus die Rechte von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern spürbar schützt, um ein Gesetz, das gut
zu einer modernen sozialen Marktwirtschaft passt.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Dem Verlust an Agrobiodiversität ent-
gegenwirken (Tagesordnungspunkt 22)
Johannes Röring (CDU/CSU): Der vor uns lie-
gende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Agrobio-
diversität ist geprägt von Wunschvorstellungen und
Träumereien, die mit der Realität allerdings nichts zu tun
haben. Um Irritationen zu vermeiden, lassen Sie mich
zunächst konstatieren, dass es auch für mich eine wich-
tige Rolle spielt, wie wir mit der Natur umgehen, dass
biologische Vielfalt und Naturschutz eine große Bedeu-
tung bei der Arbeit in der Natur haben. Die Menschen
und Beschäftigten in der Agrarbranche wissen dies und
handeln nach den Vorgaben der guten fachlichen Praxis,
um die Interessen von Natur und Mensch zu achten.
Doch lässt der aktuelle Antrag tatsächlich eher den
Schluss zu, dass von den Grünen Fakten ignoriert wer-
den und man eher Träumereien hinterherläuft, die mit
den aktuellen Gegebenheiten nicht in Einklang zu brin-
gen sind. Zugespitzt kann man auch sagen, dass dieser
Antrag eine Generalkritik an der zukunftsgerichteten,
modernen Landwirtschaft und dem Industriestandort
Deutschland ist.
Zunächst sollte man sich die Frage stellen, was über-
haupt Biodiversität ist und inwieweit sie konkret be-
schreib- und messbar ist. Wissenschaftlich gesprochen
ist unter dem Begriff Biodiversität zum einen die Vielfalt
unterschiedlicher Tier- und Pflanzenarten zu fassen, zum
zweiten gehört die Vielfalt innerhalb der Arten, also die
genetische Unterschiedlichkeit innerhalb der Arten und
ihrer Populationen dazu, und den dritten Aspekt der Bio-
diversität bildet die Vielfalt der Lebensräume und Lebens-
gemeinschaften. Schließlich zählen auch alle zwischen
den genannten Ebenen auftretenden Wechselwirkungen
dazu.
In Ihrem Antrag wagen Sie nun einen Vergleich mit
der Biodiversität des 19. Jahrhunderts und sprechen da-
bei von der unglaublichen Fülle an Arten und Sorten, die
damals im Gegensatz zu heute existierte, und klagen da-
bei die über Probleme der Nutzung durch den Menschen.
Dabei scheinen Sie vergessen zu haben, dass viele Tier-
und Pflanzenarten erst durch menschliches Handeln in
Deutschland heimisch geworden sind. Bei Ausbleiben
einer menschlichen Nutzung würde die Zusammenset-
zung der Tier- und Pflanzengesellschaften dagegen im
Wesentlichen von Boden und Klima bestimmt. Wäre
also in der Vergangenheit keine landwirtschaftliche Nut-
zung durch den Menschen erfolgt, dann würde in weiten
Teilen Deutschlands bis heute ein vergleichsweise arten-
armer Eichen- und Buchenwald vorherrschen. Erst durch
die Nutzung der Flächen, durch Rodung, Beweidung und
Ackerbau, sind neue Lebensräume entstanden, die von
weiteren, vielfach auch gebietsfremden Arten besiedelt
werden konnten. In vielen Teilen des Landes würden
heute noch Schafe über sumpfige Moorlandschaften zie-
hen und die Menschen dort verhungern, wenn man nicht
aktiv die Natur um- und mitgestaltet hätte.
Wir leben in einer Welt, in der sich das Bevölkerungs-
wachstum in besorgniserregender Weise erhöht, wir also
auf den vorhandenen Flächen mehr anbauen müssen, um
immer mehr Menschen satt machen zu können. Diese
Entwicklung ist schon seit langem bekannt, weshalb ich
auch gerne aus den offiziellen Dokumenten der Verein-
ten Nationen zur Agenda 2010 der Rio-Konferenz von
1992 zitieren möchte:
Im Jahr 2025 werden 83 Prozent der Weltbevölke-
rung, die bis dahin auf voraussichtlich 8,5 Milliar-
den gestiegen sein wird, in den Entwicklungslän-
dern leben. Es ist allerdings fraglich, ob die
Kapazität der vorhandenen Ressourcen und Tech-
nologien ausreichen wird, um die Bedürfnisse die-
ser ständig weiter wachsenden Bevölkerung in
bezug auf Nahrungsmittel und andere landwirt-
schaftliche Produkte zu befriedigen. Die Landwirt-
schaft muß dieser Herausforderung in erster Linie
dadurch begegnen, daß sie die Produktion auf be-
reits bewirtschafteten Flächen steigert; … Vorrang
muß dabei die Erhaltung und die Steigerung der
Leistungsfähigkeit der ertragreicheren landwirt-
schaftlichen Nutzflächen haben, denn nur so kann
eine wachsende Bevölkerung ausreichend versorgt
werden.
In Anbetracht der dramatischen Entwicklung der
Weltbevölkerung von 1,6 Milliarden Menschen im Jahr
1900, über circa 2,5 Milliarden 1950 und aktuell etwa
6,5 Milliarden mussten vielfältige Anstrengungen unter-
nommen werden, die Produktivität der Agrarflächen zu
steigern. Durch die damit verbundenen Eingriffe – Ent-
wässerung, Bewässerung, Bodenbearbeitung, Nährstoff-
zufuhr, Pflanzenschutz, Konzentration auf ertragreiche
Sorten – ist es möglich geworden, dass heute effizienter
und effektiver als zu Beginn des vorigen Jahrhunderts
gearbeitet werden kann. Aktuelle Daten bestätigen, dass
die optimale Ressourceneffizienz und Nettoenergiege-
winne nur dann erzielbar sind, wenn nicht etwa extensiv,
sondern mit bedarfsgerechter Düngung und ebensol-
chem Pflanzenschutz gewirtschaftet wird. Man kann nur
noch einmal betonen: Eine nachhaltige Landwirtschaft
ist geprägt durch ihre Intensivität. Die im Antrag vorge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12329
(A) (C)
(B) (D)
brachten Kritikpunkte an der Düngung und dem Pflan-
zenschutz sind damit als obsolet zu betrachten.
Abschließend möchte ich betonen, dass es nicht nur
angesichts der weiter wachsenden Weltbevölkerung,
sondern auch durch die zunehmende Nachfrage nach
nachwachsenden Rohstoffen und der ebenso steigenden
weiteren Beanspruchung der Fläche durch Versiegelung
und sonstige Nutzungen kein Ziel sein kann, die vom
Menschen verursachte damalige Artenvielfalt auf Pro-
duktionsflächen heute zum Ziel von Visionen zu ma-
chen. Eine solche Zielstellung missachtet nicht nur die
Entstehung und Herkunft dieser „Vielfalt“, sondern auch
die heutigen grundlegenden Anforderungen einer insge-
samt nachhaltigen Entwicklung. Denn folgen wir den Il-
lusionen dieses vorliegenden Antrags hinsichtlich der
Ausweitung des Ausbau der ökologischen Landwirt-
schaft müssten wir feststellen, dass beispielsweise beim
Anbau von Weizen die mehr als doppelt so große An-
baufläche wie bei der konventionellen Landwirtschaft
notwendig wäre und damit neue Flächen erschlossen
werden müssten, auch jetzige Naturschutzflächen.
Die Forderungen nach einer Extensivierung der land-
wirtschaftlichen Produktionsmethoden ist folglich ein-
hergehend mit einem erhöhten Anbauflächenbedarf, der
bei den uns nur begrenzt verfügbaren Flächen zwangs-
läufig und unausweichlich zulasten der Flächen gehen
muss, die heute noch uneingeschränkt als Naturschutz-
gebiete existieren. Unsere Aufgabe muss folgerichtig
nicht eine weitere Extensivierung, sondern eine Effi-
zienzsteigerung sein.
Wir sehen also, dass dieser Antrag inhaltlich an allen
Realitäten vorbeigeht und wir daher guten Gewissens
diesen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ablehnen
können.
Dr. Gerhard Botz (SPD): Das Thema Biodiversität
– einfacher gesagt: die Grundlage und Vielfalt unseres
menschlichen Daseins – steht nicht oft im Mittelpunkt
unserer Reden. Wenn man sich einmal die Zeit nimmt
und intensiv darüber nachdenkt, wie Prozesse auf unse-
rer Erde vonstatten gehen, erkennt man die Bedeutung
des Themas als lebensnotwendig und lebenserhaltend
und die Verpflichtung und Verantwortung, die wir bei
diesem Thema haben.
Die Gefährdung der biologischen Vielfalt ist nicht
einfach nur ein Verlust an Arten von Pflanzen und Tie-
ren, sondern über diesen Verlust gerät auch unser ganzes
Ökosystem ins Wanken; dessen sollten wir uns bewusst
sein. Über die biologische Vielfalt werden solche Öko-
systemleistungen wie Bestäubung, Bodenbildung, Nähr-
stoff- und Wasserkreisläufe, Klimaregulierung etc. ent-
scheidend gesteuert. Wir sind abhängig von den
Dienstleistungen der Natur – von sauberer Luft, reinem
Trinkwasser, fruchtbaren Böden –, und wir gefährden
unsere eigene Existenzgrundlage, wenn wir den Reich-
tum der Arten, deren Lebensräume und die genetischen
Ressourcen zu stark einschränken.
Darum ist es richtig, den Schutz der Artenvielfalt ein-
zufordern. Vor dem Hintergrund der stetig steigenden
Weltbevölkerung, der Aufholprozesse der Entwicklungs-
länder und des ständig steigenden Bedarfs an Rohstoffen
und Lebensmitteln ist das wahrlich keine einfache Auf-
gabe. Doch wenn wir uns dieser Aufgabe nicht stellen,
wer dann? Heute stehen wir nicht nur vor der Frage, wie
wir die Biodiversität erhalten wollen, sondern, wie wir
sie überhaupt erhalten können. Denn mit dem Klima-
wandel wird sich eine Änderung der Biodiversität ein-
stellen, auf die wir keinen Einfluss mehr haben. Be-
stimmte Pflanzen- und Tierarten werden einfach
aussterben, weil sie die dann herrschenden klimatischen
Verhältnisse nicht mehr vertragen. Noch haben wir es in
der Hand, etwas zu unternehmen.
Der Begriff Agrobiodiversität grenzt den Begriff der
Biodiversität auf den Bereich der Land-, Forst- und Nah-
rungsgüterwirtschaft ein. Er steht hauptsächlich für Er-
nährungssicherheit. Eine Möglichkeit, positiven Einfluss
auf die Agrobiodiversität zu nehmen, die Vielfalt der
Pflanzen- und Tierarten zu erhöhen und ökologische
Dienstleistungen zu vollbringen, ist der Anbau von Bäu-
men auf landwirtschaftlichen Nutzflächen, die soge-
nannte Agroforstwirtschaft. Pflanzungen mit Wertholz-
bäumen, Nutztierhaltung oder ackerbauliche Nutzung
zwischen Baumreihen sind Formen der Agroforstwirt-
schaft, die für den Naturschutz und die Agrobiodiversität
einen besonders wertvollen Beitrag liefern.
Es wird nicht nur die Biodiversität erhöht, sondern es
werden auch die Folgen von Wind- und Wassererosion
gemindert. Das CO2-Bindevermögen der landwirtschaftli-
chen Nutzfläche wird gesteigert und die Humusproduk-
tion des Bodens verbessert, wodurch eine Reduzierung
des Düngemitteleinsatzes möglich ist. Durch verbesserte
Schattenwirkung innerhalb der Schläge ergeben sich posi-
tive Auswirkungen auf Bodenwasserhaushalt und Ertrag.
Dies alles kann einen besonders vielschichtigen und lang-
fristigen Ansatz zur Agrobiodiversität liefern.
Die Agroforstwirtschaft ist also in der Lage, eine
Schlüsselrolle für eine nachhaltige Landwirtschaft zu
übernehmen. Sie kann auch eine sichere Versorgung
nachfolgender Generationen mit Lebensmitteln und
landwirtschaftlichen Rohstoffen ermöglichen, ohne die
Aspekte der Agrobiodiversität aus den Augen zu verlie-
ren. Die wachsende Nachfrage nach Biomasse für die
energetische Nutzung wird zurzeit hauptsächlich über
Raps oder Mais realisiert. Es besteht daher die berech-
tigte Befürchtung, dass Monokulturen unsere landwirt-
schaftlichen Nutzflächen dominieren. Im Vergleich dazu
leistet der Anbau von Energieholz in Kurzumtriebsplan-
tagen durch längere Umtriebszeiten einen wesentlich
größeren Beitrag zur Agrobiodiversität. Forschungsar-
beiten und Modellvorhaben müssen sich in diese Rich-
tung orientieren.
Den heute vorliegenden Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Dem Verlust an Agro-
biodiversität entgegenwirken“ werden wir ablehnen.
Zwar ist er inhaltlich tragbar, an einigen Stellen jedoch
überholt. Bereits im Mai dieses Jahres wurde im Bun-
destag ein Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD zu Maßnahmen zur Erhaltung der Artenvielfalt ver-
abschiedet. Der darin geforderte nationale Strategieplan
12330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
zur biologischen Vielfalt der Bundesregierung steht kurz
vor dem Abschluss. Er enthält ein breites Spektrum an
Maßnahmen und Instrumenten zum Schutz und Erhalt
der biologischen Vielfalt in Deutschland und für entspre-
chende Schritte auf europäischer und globaler Ebene.
Die Große Koalition hat auch an dieser Stelle ihre Haus-
aufgaben gemacht und wird diese wichtige Zielstellung
weiter verfolgen.
Gabriele Groneberg (SPD): Wenn wir uns heute
mit dem Verlust der Agrobiodiversität beschäftigen,
dann handelt es sich hier um ein Problem von zentraler
entwicklungspolitischer Bedeutung.
Circa 80 Prozent der biologischen Vielfalt, des natür-
lichen Vorkommens an genetischen und biologischen
Ressourcen weltweit liegen in Entwicklungsländern. Die
landwirtschaftliche Vielfalt von Nutztieren und -pflan-
zen ist Teil dieser biologischen Vielfalt. Der Erhalt die-
ses Artenreichtums ist für die Entwicklungsländer exis-
tenziell; denn Agrobiodiversität dient direkt der
Ernährungssicherung. Es ist wichtig, die natürliche Ar-
tenvielfalt, aber auch die Ergebnisse jahrtausendealter
Züchtungsarbeit in Entwicklungsländern sowie das tra-
ditionelle Wissen im Nutzpflanzenbereich zu erhalten.
Landwirtschaftlich nutzbarer Artenreichtum wird die
Entwicklungsländer weniger verletzlich machen gegen-
über den Folgen des Klimawandels und erhöht ihre An-
passungsfähigkeit gegenüber sich verändernden Um-
weltbedingungen.
Was ich damit meine, möchte ich an einem Beispiel
erläutern: Das für seine formschönen Hörner bekannte
Ankole-Rind in Uganda könnte innerhalb der nächsten
Jahrzehnte aussterben, weil die Bauern lieber auf Rin-
derarten mit höheren Milcherträgen zurückgreifen. Wäh-
rend einer Dürreperiode stellte sich allerdings der Vorteil
des einheimischen Rinds heraus. Die Bauern konnten
mit den widerstandsfähigen Ankole-Rindern weite Stre-
cken bis zur nächsten Wasserquelle zurücklegen. Die
Bauern mit den importierten Rindern haben ihre gesamte
Herde verloren.
Dass in dem vorliegenden Antrag dieser Aspekt be-
tont wird, kann ich zwar als Entwicklungspolitikerin be-
grüßen. Dies habe ich auch in meiner Stellungnahme am
24. Mai 2007 deutlich zum Ausdruck gebracht. Aller-
dings frage ich mich, warum Sie sich nicht mit der natio-
nalen Strategie zur biologischen Vielfalt der Bundesre-
gierung auseinandergesetzt haben. Im Übrigen haben wir
mit der Verabschiedung des Koalitionsantrages im Mai
2007 zu Maßnahmen gegen den Artenrückgang und das
Artensterben im Grunde dazu das Wesentliche gesagt,
und auch deshalb hätten Sie Ihren Antrag zurückziehen
können.
Wenn Sie sich mit der Strategie zur biologischen Viel-
falt der Bundesregierung beschäftigen, werden Sie
schnell feststellen, dass die Große Koalition durchaus
begriffen hat, dass das Thema Biodiversität in dieser
Vielschichtigkeit zu erfassen ist und anspruchsvolle und
auch umsetzbare Ziele zu definieren sind. Dies gilt so-
wohl für den Erhalt der biologischen Vielfalt in allen
Agrarökosystemen als auch für den Bereich Biodiversi-
tät und Armutsbekämpfung. All dies wird auch in dieser
Strategie dargelegt.
Vor dem Hintergrund des ersten Millenniumsentwick-
lungsziels, die Anzahl der Menschen, die Hunger leiden
in der Welt, bis 2015 zu halbieren, sehen wir den Schutz
und die nachhaltige Nutzung der Biodiversität als inte-
grale Bestandteile einer wirtschaftlich, sozial und ökolo-
gisch nachhaltigen Entwicklungspolitik an.
Wir brauchen eine enge Kooperation mit den Ent-
wicklungsländern, um eine gemeinsame Lösung zu erar-
beiten. Angesichts unserer Rolle als Gastgeber für die
neunte Vertragsstaatenkonferenz zum Schutz der biolo-
gischen Vielfalt in Bonn im nächsten Jahr wäre es wün-
schenswert, wenn Sie sich dazu entscheiden könnten, die
Strategie zur biologischen Vielfalt der Bundesregierung,
die wir entwickelt haben, offensiv mitzuvertreten.
Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Die Landwirt-
schaft ist unverzichtbarer Partner für den Erhalt der Bio-
diversität in Deutschland. Eine besondere Rolle spielt
dabei die Agrobiodiversität. Zu ihrer Sicherung ist eine
ökologisch, ökonomisch und sozialverträgliche Nut-
zung unabdingbar. In engem Zusammenhang zur Agro-
biodiversität steht die Vielfalt von Bewirtschaftungs-
und Produktionsformen. Anders als bei der biologischen
Vielfalt, sind viele Bestandteile der Agrobiodiversität
ausschließlich auf menschliche Aktivität angewiesen.
Die Agrobiodiversität ist der Grundstein für die Siche-
rung der menschlichen Ernährung und trägt gleichzeitig
zum Erhalt der Ökosysteme bei. Das bedeutet, dass eine
hohe Agrobiodiversität die zukünftigen Lebensgrundla-
gen des Menschen sichert, unter anderem dadurch, dass
ein breiter Genpool erhalten bleibt. Von den vorkom-
menden rund 340 000 Pflanzenarten werden derzeit nur
7 000 vom Menschen genutzt.
Weltweit gesehen brauchen wir beides: Wir brauchen
den Naturschutz, den Schutz von biologisch bedeutsamen
Flächen, Biotopen und Nationalparks. Wir brauchen aber
auch die Landwirtschaft zur Produktion unserer Nah-
rungsmittel sowie zur Produktion nachwachsender Roh-
stoffe für die stoffliche und inzwischen insbesondere für
die energetische Produktion.
Jede Strategie zum Erhalt der biologischen Vielfalt
muss die Ursachen für das Aussterben von Arten be-
kämpfen und artenreiche Regionen schützen. 3 Prozent
der weltweit beschriebenen Arten kommen in Deutsch-
land vor. Das klingt sehr wenig, ist aber sehr viel. Es ist
eine große Aufgabe, diesen Schatz zu schützen. Arten-
vielfalt bedeutet Informationsvielfalt.
Das Aussterben des Mammuts in Europa war eine
Folge des Klimawandels. Es war unvermeidlich. Der
Klimawandel ist allgegenwärtig und ist keine Erfindung
des 21. Jahrhunderts. Der vom Menschen verursachte
Anteil des Klimawandels muss weiter bekämpft werden,
muss gemindert werden. Aber die durch den Klimawan-
del hervorgerufene Veränderung des Artenspektrums
werden wir nicht aufhalten können. Wir können höchs-
tens versuchen, frühzeitig durch Anpassungsstrategien
die Folgen zu mildern.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12331
(A) (C)
(B) (D)
Es gibt einen Rückgang an Arten, der über diese un-
vermeidbare Änderung des Artenspektrums hinausgeht.
Wir haben in Deutschland 48 000 Tierarten und
28 000 Pflanzenarten. 520 Tierarten sowie 512 Pflanzen-
und Pilzarten sind ausgestorben. Der Präsident des Um-
weltbundesamtes hat recht: Der Wandel des Artenspek-
trums in Deutschland ist nicht dramatisch. Für Deutsch-
land können wir verzeichnen, dass wir bei dichter
Besiedlung und hoher Intensität der landwirtschaftlichen
Bewirtschaftung keinen großen Artenschwund haben.
Der öffentliche Eindruck eines Artenrückgangs geht mit
der Entfremdung der Menschen von der Natur einher.
Wer nur Unter den Linden spazieren geht, weiß eben
nicht, wie artenreich unsere Wälder sind.
Die Zerstörung von Lebensräumen ist Hauptursache
für den Rückgang der Artenzahl. Angesichts der Tatsache,
dass die Weltbevölkerung 1800 bei 1 Milliarde Menschen
lag und nun 6 Milliarden beträgt, ist es normal und rich-
tig, dass wir Flächen verstärkt landwirtschaftlich nutzen
und die Intensität der landwirtschaftlichen Nutzung er-
höht haben. 1800 wurden in Deutschland 7 Doppelzent-
ner Weizen auf 1 Hektar geerntet. Nun sind es über
90 Doppelzentner. Auf diese Intensivierung der Land-
wirtschaft können wir nicht verzichten.
Von daher können wir auch dem Antrag der Grünen
nicht zustimmen. Denn er steht im krassen Widerspruch
zur Forderung einer weltweit ausreichenden Nahrungs-
mittelversorgung und einer weitreichenden Energiepro-
duktion aus nachwachsenden Rohstoffen zugunsten des
Klimaschutzes.
Auf Deutschland bezogen können wir sagen: Vieles
ist auf einem guten Weg. Probleme bereiten die zuneh-
mende Flächeninanspruchnahme, das Zerschneiden von
Naturräumen und das Eindringen fremder Arten.
Aber weltweit betrachtet ist die Situation dramatisch
anders. Die Bedrohung der Artenvielfalt wächst: Das an-
haltende Bevölkerungswachstum erfordert vermehrte
Anstrengungen bei der Armutsbekämpfung und damit
auch eine vermehrte und intensivere Flächennutzung.
Zunehmend mehr Menschen haben keinen Zugang zu
gesundem Trinkwasser. Die Übernutzung der Fischbe-
stände bedroht die Biodiversität in den Meeren. Und
selbst wir in der EU schaffen es noch nicht einmal, den
illegalen Fischfang in der Ostsee einzuschränken. Der
weitere Verlust von Wäldern, unter anderem bedingt
durch den fortgesetzten illegalen Holzeinschlag, hat
Auswirkungen auf das Klima. Das gilt auch für die zu-
nehmende Flächenkonkurrenz zwischen Nahrungsmit-
telproduktion und Erzeugung von Biomasse für die ener-
getische Nutzung.
Wie diesen Herausforderungen international begegnet
werden kann, ist noch weitgehend offen. Die FDP for-
dert die Bundesregierung auf, schnellstens Lösungsan-
sätze zu erarbeiten, wie sie dem Verlust der Agrobio-
diversität gedenkt entgegenzuwirken. Die FDP wird sich
diesbezüglich mit einer Kleinen Anfrage zur Wildpflan-
zen-Gendatenbank in die parlamentarische Debatte ein-
bringen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Bereits Ende
Mai haben wir uns mit der Agrobiodiversität befasst.
Leider ging der gute Antrag der Kolleginnen und Kolle-
gen der grünen Fraktion während der Debatte zum
schwarz-roten Placebo-Antrag zur Biodiversitätsstrate-
gie etwas unter. Das ist schade, denn die Artenvielfalt
auf und neben dem Acker sowie in den Ställen ist min-
destens genauso wichtig wie die Biodiversität in der Na-
tur. Und mindestens ebenso gefährdet!
Im Antrag wird auf das in der Öffentlichkeit kaum be-
achtete Problem des Artenrückgangs bei Nutzpflanzen
und Nutztieren hingewiesen. Dabei hat dieser Verlust der
Artenvielfalt schwerwiegende Konsequenzen: Er bedeu-
tet Verlust an genetischem Anpassungspotenzial. Damit
wird unter anderem die Ernährungssicherung unserer
Zukunft gefährdet. Wir brauchen eine große Vielfalt der
Rassen, Sorten und Ökosysteme, um die zukünftigen
Herausforderungen der Land- und Forstwirtschaft be-
wältigen zu können. Die Herausforderungen werden
durch den Klimawandel und dessen Auswirkungen auf
die Agrarökosysteme eher größer als kleiner.
Doch dieser Rückgang an Agrobiodiversität passiert
nicht so einfach von allein. Schauen wir also genauer
hin: Er ist vor allem die Folge eines rücksichtslosen
Kampfes um eine weltweite Konzentration von Wirt-
schaftsmacht in immer weniger Händen, und es geht um
Marktanteile!
Wir als Linke haben dabei ein besonders kritisches
Auge auf die Machenschaften der weltweit agierenden
Agrarkonzerne. Der Saatgutmarkt wird zum Beispiel un-
terdessen von fünf großen Unternehmen beherrscht.
Diese interessieren sich für den Erhalt der Sortenvielfalt
nur dann, wenn es ihren eigenen Interessen entspricht –
als Ressource für noch mehr Profit und noch mehr
Marktmacht! Ein freier Zugang aller Bäuerinnen und
Bauern zum Saatgut ist in ihrer Welt nicht wichtig. Ein-
zig die profitorientierte Vermarktung weniger Sorten ist
von Bedeutung und wird durch das Patentrecht gesi-
chert.
Patente auf Tiere und Pflanzen schützen aber nur die
Interessen der Agrarkonzerne. Sie eignen sich privat den
natürlichen Reichtum an. Er gehört aber uns allen! Da-
her ist der Patentschutz nicht im Interesse der Bäuerin-
nen und Bauern, der Landwirtinnen und Landwirte und
der Verbraucherinnen und Verbraucher!
Deshalb ist für meine Fraktion Die Linke ganz klar:
Patente auf Lebewesen sind absurd, und wir lehnen sie
ab! Der öffentliche Zugang zu den natürlichen Ressour-
cen muss gewährleistet bleiben. Das dient gleichzeitig
auch dem Schutz der Artenvielfalt in Natur und Land-
wirtschaft!
Agrobiodiversität und die Debatte darüber dürfen aus
Sicht meiner Fraktion auf keinen Fall dazu führen, dass
nun die Agrogentechnik hoffähig gemacht wird. Diese
erhöht nicht, sondern gefährdet die Artenvielfalt! Beson-
ders problematisch ist die Nutzung dieser Risikotechno-
logie in der Nähe von Genbanken, in denen Sorten durch
Anbau konserviert werden. Daher tritt Die Linke auch
konsequent gegen die Nutzung der Agrogentechnik in
12332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
der Nähe der Genbank für Kulturpflanzen in Gatersleben
ein. Darüber gab es in diesem Jahr ja schon mehrere De-
batten. Man kann vielleicht über die Höhe des Kontami-
nationsrisikos streiten. Aber es ist nicht zu verstehen,
warum es ausgerechnet an diesem Ort überhaupt einge-
gangen werden muss. Denn zumindest den Risikofaktor
„menschliches Versehen“ wird man niemals ausschlie-
ßen können.
Die Grünen führen in ihrem Antrag aus, die Aufhe-
bung der obligatorischen Flächenstilllegung könnte ein
weiteres Artensterben der Agrarökosysteme zu Folge ha-
ben. Diese Gefahr sehen wir in der Tat auch. Allerdings
muss diese Diskussion auch im Zusammenhang mit dem
aktuell steigenden Bedarf an nachwachsenden Rohstof-
fen, insbesondere für die energetische Nutzung, geführt
werden. Der damit verbundene steigende Flächenbedarf
ist unbestritten. Außerdem ist der Anbau von Biomasse
nicht automatisch, aber eben in vielen Fällen energie-
und klimapolitisch sinnvoll. Andererseits ist auch nicht
jede Flächenstilllegung automatisch naturschutzfachlich
wertvoll.
Daher begrüßt Die Linke das Aussetzen der obligato-
rischen Flächenstilllegung. Gleichzeitig machen wir uns
Gedanken um den Ersatz der damit wieder reduzierten
Rückzugsräume für bedrohte Pflanzen- und Tierarten im
Agrarökosystem. Wir fordern, das Aussetzen der Flä-
chenstilllegung durch eine Verstärkung anderer Agrar-
umweltmaßnahmen und ökologisch sinnvoller Markt-
anreizprogramme zu begleiten. Ziel muss unter anderem
der Erhalt oder die Verbesserung der Agrobiodiversität
sein. Darüber haben wir gestern im Agrarausschuss ja
bereits gesprochen. Es wäre zum Beispiel denkbar, die
ökologisch sinnvolle Gestaltung von Ackerseitenrändern
als gesellschaftlich sinnvolle Arbeit der landwirtschaftli-
chen Betriebe zum Erhalt der Kulturlandschaft noch
konsequenter zu fördern.
Die Agrobiodiversität ist öffentlich kaum beachtet,
obwohl sie im Interesse der gesamten Gesellschaft liegt.
Sie bietet unsere genetische Rückversicherung für zu-
künftige Herausforderungen in der Landwirtschaft – ich
nenne hier beispielhaft Tierseuchen, Trockenheit, Kälte,
Standortangepasstheit – und ist andererseits Zeugnis un-
serer jahrhundertealten landwirtschaftlichen Geschichte.
Damit ist die Artenvielfalt unserer Nutztiere und -pflan-
zen auch ein Wert an sich – ökologisch und kulturhisto-
risch gleichermaßen. In diesem Sinne stimmen wir dem
grünen Antrag zu, auch wenn wir nicht jeden einzelnen
Vorschlag mit der gleichen Vehemenz unterstützen.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ar-
tenvielfalt ist Ernährungssicherheit. Dies ist der Leitge-
danke unseres Antrages zur Agrobiodiversität.
Heute beruht ein Großteil der Welternährung nur noch
auf einer kleinen Zahl von Kulturpflanzenarten. Die
Zahl der Nutztierrassen ist auf einen Bruchteil der aus
dem vorletzten Jahrhundert bekannten Vielfalt zurückge-
gangen. Die Fruchtfolgen konzentrieren sich auf immer
weniger ertragsstarke Sorten. Diese ertrags- und leis-
tungsstarken Sorten und Rassen werden zudem intensiv
angebaut und in Großanlagen gehalten. Eine solche
Landwirtschaft aber ist gefährdet. Schädlinge und
Krankheiten haben auf diese Weise ein leichtes Spiel.
Schädlingskalamitäten und Seuchenzüge, die große wirt-
schaftliche Schäden verursachen, gehören heute zum
Alltag der „modernen“ Landwirtschaft. Es gehört nicht
viel Fantasie dazu, um zu erkennen, wie leicht dieses
sensible Gefüge überdehnt und die Ernährung der Welt-
bevölkerung in Gefahr geraten kann.
Im Agrarausschuss haben uns die Kollegen von der
Union entgegengehalten, die Agrobiodiversität zu erhal-
ten hieße, so zu wirtschaften wie im 19. Jahrhundert. So
könne man die Welt heute nicht mehr ernähren. Diese
Polemik zeigt, dass Sie das Anliegen unseres Antrages
– den Erhalt des Genreservoirs zur Absicherung zukünf-
tiger Ernten – nicht wirklich verstanden haben.
Staatssekretär Müller ist da schon weiter. Er ließ im
Oktober letzten Jahres erklären: „Unsere Verantwortung
gegenüber den nach uns folgenden Generationen gebie-
tet es, den großen Reichtum und die unermessliche Viel-
falt der Nutzpflanzen, wie sie von Generationen von
Bauern und Züchtern weltweit über Jahrhunderte aus
Wildpflanzen entwickelt worden sind, als Nutzungs-
potenzial für weitere züchterische Fortschritte und neu-
artige Verwendungen von Pflanzen zu erhalten.“ Tref-
fender kann man es nicht ausdrücken.
Ja, wir brauchen neue Sorten, die standortangepasst
gute Erträge bringen, um die Welt mit Nahrung und
nachwachsenden Rohstoffen zu versorgen. Es besteht
auch gar kein Widerspruch zwischen der Züchtung er-
tragreicher Sorten und dem Erhalt der Agrobiodiversität.
Vielmehr ist die Agrobiodiversität mit ihren großen Gen-
pools Voraussetzung für die Züchtungsforschung.
Aber es geht nicht nur darum, die Arten- und Sorten-
vielfalt in Saatgutbanken zu erhalten. Wir wollen, dass
sie auch angebaut und zur Bereicherung unseres Speise-
zettels genutzt werden. Und das ist kein Zurück ins Ges-
tern, sondern wir sind gut beraten, wenn wir die Zahl der
genutzten Kulturpflanzenarten und -sorten vergrößern.
Das gibt den Landwirten die Möglichkeit, die Fruchtfol-
gen auszuweiten, was sowohl unter phytosanitären As-
pekten als auch im Interesse des Erhalts der Boden-
fruchtbarkeit nur sinnvoll sein kann.
Wenn wir über Agrobiodiversität reden, dürfen wir
nicht nur Kulturpflanzen im Blick haben, sondern müs-
sen wir auch die Ackerbegleitflora und -fauna sehen. Die
EU hat sich zum Ziel gesetzt, den Artenrückgang bis
2010 zu stoppen. Dazu gehört auch die Artenvielfalt in
unseren Agrarökosystemen, einschließlich Ackerkraut-
diestel, Brauner Bär und Rebhuhn. Zu erreichen ist das
nur durch den Ausbau von Agrar- und Waldumweltmaß-
nahmen, eine bessere Förderung des Ökolandbaus, die
Verminderung chemisch-synthetischer Pestizide und ei-
nen verbindlichen Anteil an Strukturelementen anstelle
der Flächenstilllegung. Auch qualifizierte Cross-Com-
pliance-Regelungen und eine mittelständische Züch-
tungsforschung, die ihre Kraft nicht auf wenige gentech-
nisch veränderte Sorten, sondern auf Vielfalt und die
Herausforderungen der Zukunft konzentriert, können ei-
nen Beitrag zum Erhalt der Biodiversität leisten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12333
(A) (C)
(B) (D)
Die vielfältigen, artenreichen Kulturlandschaften, die
mit diesen Maßnahmen entstehen, sind genau diejeni-
gen, die die Menschen in unserem Land schätzen. Kein
Mensch liebt ausgeräumte Agrarlandschaften, in denen
die Schläge fast bis zum Horizont reichen. Auch dies
sollte für Sie ein Grund sein, unseren Antrag zu unter-
stützen.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Messen und Ge-
schäftsreisen als Chance für den Tourismus-
standort Deutschland (Tagesordnungspunkt 25)
Klaus Brähmig (CDU/CSU): Deutschland verfügt
im internationalen Bereich über ein hohes Ansehen als
Kongress- und Tagungsziel. Durch seine Professionali-
tät, seine Zuverlässigkeit, der Gewährleistung eines si-
cheren Umfeldes sowie durch die gute Tagungs- und
Verkehrsinfrastruktur kann sich Deutschland an vorders-
ter Stelle der attraktiven Tourismusstandorte behaupten.
Auch das große Potenzial von über 1 000 außergewöhn-
lichen Tagungsstätten wie etwa Schlösser, Burgen, Mu-
seen, Industriedenkmäler, Freizeitparks und modernste
Tagungszentren wird immer stärker genutzt. So liegt
Deutschland nach einer Studie des International Asso-
ciation Meeting Market 2005 im internationalen Ver-
gleich nach den USA auf Rang zwei der beliebtesten
Kongress- und Tagungsstandorte. Trotz neuester Kom-
munikationstechnik ist die Bedeutung des Kongresswe-
sens nach wie vor sehr hoch, insbesondere für den Wis-
sens- und Know-how-Transfer.
Kongresse und Tagungen sind für die Kommunika-
tion von Angesicht zu Angesicht und den interdisziplinä-
ren Informationsaustausch unverzichtbar. Zudem lässt
sich Sozialkompetenz nicht über das Internet vermitteln.
Damit wird der deutschen Wirtschaft, Wissenschaft und
Gesellschaft importiertes Wissen vor Ort kostengünstig
zugänglich gemacht und ein wichtiger Beitrag zur Siche-
rung des Informations- und Wissensvorsprungs Deutsch-
lands geleistet. Gleichzeitig kann sich Deutschland mit
seinem eigenen Know-how präsentieren und seine füh-
rende Position als Exportweltmeister sichern. Der Mes-
sen- und Dienstreisensektor ist neben den Urlaubsreisen
von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Jeder dritte Ar-
beitsplatz in der Tourismuswirtschaft ist direkt oder indi-
rekt vom Tagungs- und Kongressreiseverkehr abhängig.
Die Zahlen der Geschäftsreisenanalyse 2006 des Verban-
des Deutsches Reisemanagement, VDR, belegen diese
Tatsachen. Im Jahr 2005 lag die Anzahl von Geschäfts-
reisenden bei rund 150 Millionen. Davon sind 35 Pro-
zent Besucher von Messen, Kongressen, Firmenevents,
Schulungen und Seminaren.
Zudem profitiert die deutsche Tourismuswirtschaft in
erheblichem Maße von Geschäftsreisenden, die insbe-
sondere auch in der Nebensaison und unter der Woche
für die Auslastung der Beherbergungsbetriebe und der
Gaststätten sorgen. Reisende aus dem Ausland verbin-
den oft ihre Kongress- und Messebesuche mit privaten
Reisen in Deutschland. Geschäftsreisende geben dabei
durchschnittlich doppelt so viel Geld aus wie reine Ur-
laubsgäste. Dabei profitiert der Einzelhandel enorm.
Doch stellen Geschäftsreisen nicht nur eine wirtschaftli-
che Notwendigkeit dar, sondern auch einen Kostenfak-
tor. Es besteht hinsichtlich der verwaltungstechnischen
Abläufe bei der Organisation von Dienstreisen ein er-
hebliches Effektivitäts- und Einsparpotenzial.
Mit unserem Antrag möchten wir die Rahmenbedin-
gungen für Messen und Geschäftsreisen weiter verbes-
sern, um den Wirtschafts- und Tourismusstandort
Deutschland weiter zu entwickeln und weiter wettbe-
werbsfähig, in der immer stärker werdenden internatio-
nalen Konkurrenz zu etablieren. Deshalb fordern wir
insbesondere den Abbau bürokratischer Hemmnisse und
die Vereinfachung bürokratischer Abläufe. Statistik-,
Nachweis-, Dokumentations- und Buchführungspflich-
ten, denen Unternehmen bei Geschäftreisen unterliegen,
müssen geprüft werden. Zudem fordern wir die Überprü-
fung der aktuelle Situation im Hinblick auf die Bearbei-
tung von Visa-Anträgen für Aussteller und Geschäftrei-
sende im Rahmen der Schengen-Regelung und
inwieweit diese Bedingungen praktikabler gestaltet wer-
den können.
Die Bewerbung Deutschlands als Kongress- und Ta-
gungsstandort muss von der Deutschen Zentrale für Tou-
rismus, DZT, stärker als bisher auf Geschäftsreisende
ausgerichtet werden. Dabei kann bei der Vermarktung
mit den Namen großer Dichter, Denker, Erfinder und
Schriftsteller geworben werden. Hier gibt es oft Image-
vorteile gegenüber der Vermarktung als reinem Urlaubs-
ziel. Als Reisemotiv stehen bei Tagungen und Kongres-
sen auch die fachlichen Themen und Inhalte der
Veranstaltungen sowie die Möglichkeit des Erfahrungs-
austausches im Vordergrund. Zudem besticht Deutsch-
land mit seinen sehr interessanten und attraktiven The-
menjahren. Kulinarisches Deutschland heißt im diesem
Jahr das Motto und beweist eindrucksvoll, dass Deutsch-
lands Spezialitäten die Gourmets der Welt begeistern
können. Unser Preis-Leistungs-Verhältnis braucht auch
mit keinem Land dieser Welt einen Vergleich zu
scheuen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt für den Kongress- und
Tagungsstandort Deutschland ist eine gut ausgebaute
und moderne Infrastruktur. Für Besucher von Messen
und Kongressen sind öffentliche Verkehrsmittel in den
großen Messestädten Deutschlands, wie Berlin, Dresden
Frankfurt, Hannover und andere, die schnellste und ein-
fachste Art sich zu bewegen. Eine effektive Vereinfa-
chung der öffentlichen aber auch privaten Verkehrsinfra-
struktur kann durch die mehrsprachige Gestaltung der
Verkehrszeichen und Hinweistafeln, zumindest an gro-
ßen Messestandorten, erreicht werden. Die Länder und
Kommunen müssen aufgefordert werden, diese loh-
nende Maßnahme umzusetzen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für unsere
Forderungen einzusetzen, damit Deutschland nicht nur
weltweit wettbewerbsfähig, sondern auch weiterhin an
der Spitzenposition der attraktivsten Messe- und Kon-
gressstandorte international bleibt. Um dieses Ziel zu er-
12334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
reichen, muss Deutschland seine weltoffene, tolerante
und gastfreundliche Art bewahren, getreu dem Motto
des DZT „Deutschland – Das Reiseland“.
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDUCSU): Die Bedeu-
tung von Messen und Geschäftsreisen für den Touris-
musstandort Deutschland steigt. Das führt der vorlie-
gende Antrag der Koalitionsfraktionen ganz deutlich
aus. Die Zahlen sprechen für sich, und sie unterstreichen
nachhaltig, dass die Relevanz der Geschäftsreisen und
insbesondere der Messen für unsere Wirtschaft und den
Standort Deutschland nicht hoch genug eingeschätzt
werden kann.
Da ist zum Einen der große Komplex der Geschäfts-
reisen. Gerade für eine Handels- und Exportnation wie
Deutschland ist es ein unabdingbares Muss, die Infra-
struktur und die Rahmenbedingungen hierzu auf dem
bestmöglichen Stand zu halten. Vor diesem Hintergrund
sind vielfältige Maßnahmen möglich und nötig. Der An-
trag führt hier etliche auf, zum Beispiel im Bereich von
Verkehrsdienstleistungen.
Der andere Komplex, auf den ich mich konzentrieren
möchte, ist der Bereich des Messetourismus; dabei nicht
in seiner Bedeutung für die großen Messestandorte, son-
dern vielmehr hinsichtlich seiner regionalen Relevanz.
Wir verfügen in der Bundesrepublik mit zahlreichen
Messen und Ausstellungen über ein erhebliches Poten-
zial, um innovative Produkte, zukunftsweisende Techno-
logien und überzeugende Dienstleistungen unserer
Unternehmen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die
Messen und Ausstellungen geben als wichtige Leis-
tungsschauen ein sehr anschauliches Beispiel für die
Wirtschaftskraft unseres Landes. Sie sind damit zugleich
ein starker und wirkungsvoller Magnet für Geschäftsrei-
sende wie auch Verbraucher.
Zu den rund 150 internationalen Messen kommt ein
dichtes Netz regionaler Fach- und Verbraucherausstel-
lungen. Dabei ist eine zunehmende Verknüpfung von
Messe- und Kongressaktivitäten zu beobachten. Messe-
begleitende Kongresse und Tagungen haben jährlich
etwa 400 000 Besucher. Zusammen werden knapp
1,9 Millionen Teilnehmer gezählt. Als ein Schlüsselbe-
reich in der deutschen Dienstleistungswirtschaft sind
Messen und nationale wie internationale Wirtschaftsaus-
stellungen gerade für die kleinen Standorte damit ein un-
erhört wichtiges Mittel der Eigendarstellung.
Eines der Hauptziele von Messeausstellern ist die
Neukundengewinnung. Das äußern immer wieder mehr
als 90 Prozent der ausstellenden Unternehmen. Für die
Messestandorte sind das einerseits Messebesucher, die
als Geschäftsreisende direkt die Gastronomie und Frem-
denverkehrsbetriebe nutzen und die in ihren Parallelpro-
grammen zum Messebesuch die Freizeit- und Touristik-
angebote der Region nachfragen und in Anspruch
nehmen. Andererseits bedeutet diese Messezielsetzung
aber zugleich auch eine Ansprache von immer wieder
neuen Geschäftsreisenden, die insbesondere für die klei-
nen Standorte auch zu Multiplikatoren und Werbeträgern
für die Region werden. Gerade in diesem Bereich eröff-
nen sich positive Imagewirkungen für die Regionen auch
über die Ansprache weiterer Zielgruppen und damit die
Möglichkeit zu einer nachhaltigen Vermarktung als Tou-
rismusregion. Die positiven Effekte des Messetourismus
hinsichtlich des Umsatzes, der Beschäftigung, der Aus-
lastung etc. liegen damit auf der Hand. An kleineren
Messestandorten sind sie für die regionale Wirtschaft
aber von proportional wesentlich größerer Bedeutung.
Daher ist mir unsere Forderung, eine stärkere Wer-
bung und bessere Vermarktung von Messen und Ge-
schäftsreisen durch die DZT zu prüfen, ein besonders
wichtiges Anliegen, weil neben der Chance zur Stärkung
des Tourismusstandortes auch eine Standortstärkung ei-
ner Stadt und Region erreicht werden kann.
In den vergangenen Jahren hat sich neben der insge-
samt wachsenden Bedeutung des Messetourismus aber
auch gezeigt, dass die Zahlen der Teilnehmer und Aus-
steller bei den verschiedenen Messen und Ausstellungen
rückläufig gewesen sind. Darauf müssen wir reagieren.
Als Beispiel für diese Entwicklung möchte ich Ihnen
kurz die Situation der Messe- und Veranstaltungs GmbH
in meinem Wahlkreis in Pirmasens schildern. Dies liegt
an der Grenze zu Frankreich und ist mit der Nähe zu Lu-
xemburg auch gut erreichbar von einem internationalen
Handelsplatz.
Es handelt sich dabei um den größten Messestandort
in Rheinland-Pfalz, der in den 60er- und 70er-Jahren der
größte Standort für die Messen der Schuhindustrie war.
Mit dem Zusammenbruch dieser Monopolindustrie
musste die Messe neue Wege gehen. Aufgabe der Mes-
severantwortlichen war und ist eine neue Positionierung
als Veranstaltungsort. Wenn durch attraktive Messen
oder Kongresse Geschäftsreisende in eine Stadt oder in
eine Region kommen, profitiert nicht allein die Messe
davon, sondern die Besucher tragen zur Wertschöpfung
bei und stärken somit auch die Tourismuswirtschaft.
Die Pirmasenser Messe zeichnet sich heute nicht al-
lein durch zahlreiche regionale Ausstellungen, sondern
auch durch nationale und internationale Messen aus.
Hierzu haben die Verantwortlichen beispielsweise neue
Messen entwickelt. Vorstellbar wäre aber auch die Bün-
delung von Spezialthemen, zum Beispiel eine Messe
„Junge Designer aus drei Ländern“ oder „Wellness im
Dreiländereck“, aber auch neue Ansätze wie zum Bei-
spiel ein Wettbewerb für Hotel- und Kongressinvestitio-
nen in Kooperation mit der Messe.
Doch eine neue inhaltliche Ausrichtung von Messen
reicht nicht allein. Der Messebesucher oder der Ge-
schäftsreisende will nicht nur eine interessante Veran-
staltung erleben, sondern er will auch ohne große Mühe
zum Ort kommen. Als ausländischer Gast will er in sei-
ner Sprache oder zumindest in einer gängigen internatio-
nalen Sprache informiert werden. Damit diese Voraus-
setzungen gegeben sind, ist auch die Unterstützung
vonseiten der Bundesregierung nötig, wie wir es in unse-
rem Antrag formuliert haben.
Es gibt – wenn ich damit auf einige Einzelheiten in
unserem Antrag zurückkommen darf – um die Stadt
Pirmasens herum beispielsweise noch keine internatio-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12335
(A) (C)
(B) (D)
nalen Schilder. Es gibt keinen Shuttletransport vom
Hauptbahnhof zur Messe oder vom 20 Kilometer ent-
fernten Flughafen Zweibrücken nach Pirmasens. Das
sind Faktoren, die sich in der Vergangenheit bei den klei-
neren Messen, aber auch bei der alle zwei Jahre stattfin-
denden Verbrauchermesser „hageha“ als nachteilig er-
wiesen haben. Diese Messe zieht Besucher aus
Frankreich, Luxemburg und dem Saarland an. Es ist eine
der größten Verbraucherausstellungen in Rheinland-
Pfalz. Die Lage von Pirmasens in unmittelbarer Nähe
zum Elsass, Lothringen, Luxemburg, Saarland und Ba-
den-Württemberg sorgt für ein großes Einzugsgebiet und
viele Besucher, die aber noch zahlreicher wären, wenn
die Bedingungen im Umfeld besser wären. Dazu gehört
eine bessere Verkehrsanbindung mit der Bahn und den
Bussen, aber auch der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur.
Wenn die Rahmenbedingungen für Messen und Ge-
schäftsreisen durch die Bundesregierung verbessert wer-
den, stärken wir auch den Tourismusstandort Deutsch-
land. Auf diese Weise kann auch insbesondere aus
kleineren Städten oder ländlich strukturierten Regionen
touristisches Potenzial entwickelt werden. Davon profi-
tiert die Wirtschaft und damit natürlich unser ganzes
Land.
Brunhilde Irber (SPD): Einmal mehr haben die
Deutschen im vergangenen Jahr den Tourismuswettbe-
werb als Reiseweltmeister beendet. Deutsche Urlauber
haben für Auslandsreisen über 60 Milliarden Euro aus-
gegeben. Umgekehrt haben unsere ausländischen Gäste
jedoch nur 26 Milliarden Euro nach Deutschland ge-
bracht.
Zwar gilt nach wie vor: Deutschland ist für Kongresse
und Tagungen der beliebteste Messestandort in Europa,
und darauf können wir stolz sein. Dennoch glaube ich
fest daran, dass wir unseren Standort attraktiver gestal-
ten können, indem wir entsprechende gesetzliche Rah-
menbedingungen schaffen. An diesem Punkt setzt der
vorliegende Antrag der CDU/CSU und der SPD „Mes-
sen und Geschäftsreisen als Chance für den Tourismus-
Standort Deutschland“ an.
Für den Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutsch-
land haben Messen und Geschäftsreisen eine unschätz-
bare Bedeutung. 2006 haben ausländische und deutsche
Geschäftsreisende in Deutschland gemeinsam 82,6 Mil-
lionen Geschäftsreisen mit Übernachtungen unternom-
men; dabei wurden über 60 Milliarden Euro mit (Tages-)
Geschäftsreisen umgesetzt. Laut der Studie „Internatio-
nal Association Meetings Market“ der International
Congress and Convention Association, ICCA, sind wir
bei Tagungen und Kongressen weltweit die Nummer
zwei hinter den USA. Über 1,85 Millionen Veranstaltun-
gen mit knapp 90 Millionen Teilnehmern wurden organi-
siert und durchgeführt. Hinzu kommt eine große Zahl
von Regionalmessen. Laut der aktuellen VDR-Ge-
schäftsreiseanalyse planen neun von zehn Unternehmen
für das Jahr 2008 gleich viele oder sogar mehr Ge-
schäftsreisen. Jeder dritte Beschäftigte unternahm min-
destens eine Geschäftsreise. Die Tendenz ist steigend,
das Tourismussegment der Geschäftsreisen boomt.
Auch benachbarte Wirtschaftsbereiche profitieren
von den Geschäftsreisenden, die außerhalb der Hauptur-
laubszeiten und unter der Woche dafür sorgen, dass Ho-
tels und Gaststätten ausgelastet sind. Jeder fünfte Beher-
bergungsbetrieb rechnet sogar mit einem Zuwachs der
Hotelübernachtungen im kommenden Jahr. Deutschland
ist für Geschäftsreisende nicht zuletzt deshalb attraktiv,
weil in Deutschland die Zimmerpreise durchschnittlich
halb so hoch sind wie in den Metropolen Moskau, Genf,
Paris, London oder Rom. Laut „European Travel Moni-
tor“ liegt bundesweit der durchschnittliche Anteil der
Geschäftsreisen bei 30 Prozent und derjenige der Pri-
vatreisen bei 70 Prozent. Aber ausländische Tagungsteil-
nehmer verbinden oft ihre Geschäftsreisen mit privaten
Reisen in Deutschland. 2006 gaben sie mit 148 Euro pro
Tag durchschnittlich doppelt so viel Geld aus wie reine
Urlaubsgäste. Daher ist es richtig, dass wir in unserem
Antrag die stärkere Ausrichtung der Auslandswerbung
der Deutschen Zentrale für Tourismus, DZT, auf Ge-
schäftsreisende verlangen. Wenn wir unseren Aufwärts-
trend nicht unterbrechen wollen, brauchen wir eine effi-
zientere Bearbeitung von Visa-Anträgen für Aussteller
und Geschäftsreisende und eine damit einhergehende eu-
ropaweite Harmonisierung der langwierigen Antragsver-
fahren.
Übrigens: Für uns sind die touristischen Organisatio-
nen in Deutschland wichtige Partner bei der Planung und
Einführung neuer Richtlinien oder Bestimmungen. Des-
halb haben wir bereits in den rot-grünen Jahren das Bud-
get der DZT erhöht. Auch in der schwarz-roten Koali-
tion ist es uns gelungen, in den Bundeshaushalt 2008
eine erneute Anhebung der Bundeszuwendung an die
DZT um 500 000 Euro auf 25,5 Millionen Euro durchzu-
setzen. In den nächsten Jahren ist ebenfalls eine kontinu-
ierliche Erhöhung dieser Bundeszuwendung um eine
halbe Million pro Jahr geplant, da wir als SPD um die
Bedeutung der Werbetätigkeit der DZT für das deutsche
Wirtschaftswachsturn wissen. Mit ihrer Kampagne „Die
Welt zu Gast bei Freunden“ und der Standortinitiative
„Deutschland – Land der Ideen“ wurden weltweit
3,5 Milliarden Menschen erreicht. Da Deutschland in er-
heblichem Maße vom Imagegewinn der Fußballwelt-
meisterschaft profitiert hat, wirbt die DZT im Ausland
aktuell unter dem neuen Slogan „Deutschland. Einfach
freundlich“ auch mit einem neuen Logo, das die Natio-
nalfarben Schwarz-Rot-Gold in Form eines Balls zeigt
und damit das positive Image der Fußball-WM aufgreift.
Geschäftsreisen sichern weit über eine halbe Million
Arbeitsplätze in Deutschland. Jeder dritte Arbeitsplatz der
deutschen Tourismuswirtschaft ist direkt oder indirekt
vom Tagungs- und Kongressreiseverkehr abhängig.
Deutschlandweit ist heute jeder dritte Hotelgast Tagungs-
oder Kongressteilnehmer. Kein Wunder, denn 2006 haben
deutsche Unternehmen für die Geschäftsreisen ihrer Mit-
arbeiter stolze 47,4 Milliarden Euro ausgegeben. Damit
wird eines ganz deutlich: Wirtschaftswachstum hängt we-
sentlich vom deutschen Geschäftsreisetourismus ab. Mit
2,8 Millionen Arbeitsplätzen im vor- und nachgelagerten
Bereich und mehr als 110 000 Ausbildungsplätzen ist der
Tourismus eine boomende Branche für Beschäftigung.
Offizielle Schätzungen gehen von circa 300 000 neuen
12336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Arbeitsplätzen bis 2015 in Deutschland aus. Besonders
freue ich mich über die gestiegene Ausbildungsbereit-
schaft im Gastgewerbe. Auch die Einführung des Ausbil-
dungsberufs „Kaufmann/Kauffrau für Tourismus und
Freizeit“ zeigt, dass die Tourismusbranche ihrer gesell-
schaftlichen Verantwortung bewusst ist. In diesem Zu-
sammenhang appellieren wir an die Verantwortlichen in
den Ländern, die Qualität im Dienstleistungsbereich
durch entsprechende Ausbildungsangebote, insbesondere
die Aufnahme des Schwerpunktes „Geschäftsreisema-
nagement“ und die Förderung von Fremdsprachenkennt-
nissen, zu verbessern.
Die Welttourismusorganisation prognostiziert bis 2020
ein Wachstum der weltweiten Touristenankünfte in
Deutschland von über 4 Prozent. Eine Wachstumspro-
gnose der DZT für 2015 besagt, dass Deutschland mit
erfolgreichem Marketing 58 Millionen Übernachtungen
aus dem Ausland erzielen könnte. Das wären etwa
16 Millionen mehr als heute ohne Camping. Wenn auch
ländliche Regionen von diesen positiven Trends profitie-
ren könnten, wäre dies ein wichtiger wirtschaftlicher Im-
puls.
Die SPD ist sich ihrer Verantwortung für den Mittel-
stand äußerst bewusst. Laut der Geschäftsreiseanalyse
2007 des Verbandes Deutsches Reisemanagement e. V.,
VDR, wenden sich immer mehr Unternehmen ange-
sichts steigender Energie- und Reisekosten als Form der
Geschäftsreisevermeidung Video- und Telefonkonferen-
zen zu. In der überwiegend mittelständisch geprägten
deutschen Tourismuswirtschaft sind Kostensteigerun-
gen für Geschäftsreisen um 24 Prozent wie im letzten
Jahr oftmals nicht finanzierbar. Im Rahmen unserer Mit-
telstandspolitik setzen wir uns daher in diesem Antrag
für Verbesserungen im Reisemanagement und für den
Abbau von bürokratischen Hemmnissen im Bereich der
Statistik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchfüh-
rungspflichten ein.
Ich habe diesen Antrag von Anfang an mit Initiative
und großem Enthusiasmus vorangetrieben. Ich gebe zu,
dass ich an der einen oder anderen Stelle weitergehende
Vorschläge und präzisere Forderungen eingebracht habe,
die leider nicht realisierbar waren. Weitergehenden
Handlungsbedarf sehe ich beispielsweise im zu kompli-
zierten Steuersystem für Geschäftsreisen, in den exzessi-
ven Aufbewahrungsfristen für Reisekostenabrechnungen
oder in der Unterscheidung von Dienstreise, Einsatz-
wechseltätigkeit und Fahrtätigkeit. Auch eine Neudefini-
tion des Begriffs „regelmäßige Arbeitsstätte“ ist überfäl-
lig.
Man kann auf seinem Standpunkt stehen, aber man
sollte nicht darauf sitzen.
Das wusste bereits Erich Kästner. So ist dieser Antrag
zwar eine Kompromisslösung. Ich denke aber, dass da-
mit ein Schritt in die richtige Richtung getan wird, um
die herausragende Stellung des Messestandortes
Deutschland im internationalen Ranking weiter auszu-
bauen.
Einig waren wir mit dem Koalitionspartner in dem
Wunsch, das Reiseland Deutschland zu stärken. Dazu
gehören neben bereits Erwähntem der Ausbau der Infra-
struktur mit mehrsprachigen Hinweistafeln an großen
Messestandorten wie zum Beispiel Hannover, Frankfurt
a. M. und Köln. Außerdem sollen die Deutsche Bahn
und andere Verkehrsanbieter ihre Verkehrsmittel und
Bahnhöfe so weit wie möglich barrierefrei gestalten.
Schließlich ist auch beim Ausbau der Verkehrswege da-
rauf zu achten, dass Umsteigezeiten möglichst gering
gehalten werden.
Wir wollen mit diesem Antrag ein positives Zeichen
für den Messe- und Kongressstandort Deutschland in
Europa setzen und mit attraktiven Angeboten das Seg-
ment „Geschäftsreisen“ weiter fördern. Auch bin ich mir
sicher, dass sich die wirtschaftliche Entwicklungsdyna-
mik der neuen EU-Länder positiv auf den Markt für Ge-
schäftsreisende auswirken wird.
Ernst Burgbacher (FDP): Der Antrag der Regie-
rungsfraktionen, Messe- und Geschäftsreisen als Chance
für den Tourismusstandort Deutschland zu begreifen und
zu fördern, ist begrüßenswert. Messen und Geschäftsrei-
sen stellen eine große Chance, aber auch eine große He-
rausforderung für den Tourismusstandort Deutschland
dar.
Im Jahr 2006 gaben deutsche Unternehmen für Ge-
schäftsreisen mehr als 47 Milliarden Euro aus, was einen
Anstieg um 3 Prozent im Vergleich zu den Ausgaben im
Jahr 2005 bedeutet. Jede dritte Übernachtung und jeder
zweite Euro in der Kasse der deutschen Hotellerie
stammt aus Geschäftsreisen. Die Anzahl der Reisenden
ist ebenfalls um 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf
fast 158 Millionen Reisende gestiegen. Diese Geschäfts-
reisen führen zu fast 52 Millionen Hotelübernachtungen.
Allerdings waren die Gesamtausgaben für Geschäfts-
reisen in Deutschland von 54,1 Milliarden Euro in 2003
auf 44,0 Milliarden Euro in 2004 deutlich zurückgegan-
gen. Welche Möglichkeiten gibt es hier, die Geschäftrei-
sen noch attraktiver für Unternehmen zu machen?
Es fallen die hohen – oftmals staatlichen – Kostentrei-
ber einer (Geschäfts-) Reise auf. Knapp 54 Prozent der
Reiseausgaben entfielen 2006 auf die Verkehrsträger.
Dabei sind die Ausgaben für die Flugtickets mit
30 Prozent der Geschäftsreisekosten und insgesamt
14,4 Milliarden Euro der größte Einzelposten der Kos-
ten. Flugreisen befinden sich laut VDR-Geschäftsreise-
analyse 2007 weiter im Aufwind, eine einseitige Belas-
tung des Luftverkehrs würde sich hier negativ auswirken
und wäre nachteilig für den Geschäftsreisesektor und die
damit verbundenen Arbeitsplätze. Außerdem suchen im-
mer mehr Unternehmen – darunter vor allem kleinere
und mittlere Unternehmen – aufgrund der Reisekosten
Alternativen zu Geschäftsreisen. Alternativen werden
vor allem in Telefon- und Videokonferenzen gesehen.
Die Anwendung anderer Formen der Kommunikation
zeigt, dass die Unternehmen ein Interesse daran haben,
möglichst wirtschaftlich mit ihrer Zeit und ihren Res-
sourcen umzugehen. Bereits 65 Prozent der Unterneh-
men praktizieren diese Art der Reisevermeidung. Jedoch
haben auch diese Wege ihre Grenzen. So betonte auch
der Präsident des VDR Michael Kirnberger die Bedeu-
tung der Geschäftsreisen für die deutschen Unterneh-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12337
(A) (C)
(B) (D)
men. Um überall auf der Welt Geschäfte machen zu kön-
nen, ist die deutsche Wirtschaft auf die Mobilität ihrer
Mitarbeiter angewiesen. Gerade für ein exportorientier-
tes Land wie Deutschland sind Geschäftsreisen unab-
dingbar für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatz-
sicherheit.
Viele bürokratische Hemmnisse, wie beispielsweise
die zehnjährige Aufbewahrungsfrist der Reisekostenab-
rechnung – § 147 AO – oder die unterschiedlichen Ver-
pflegungspauschalen, bewirken einen hohen Aufwand
und somit weitere unnötige Kosten.
Sicherlich ist im Zuge der immer noch vorhandenen
Terrorgefahr verstärkt auf die Sicherheit an Flughäfen zu
achten, denn gerade auch die Sicherheitsmaßnahmen
machen Deutschland für ausländische Gäste so attraktiv.
Ohne Zweifel darf nicht an geeigneten und notwendigen
Sicherheitsmaßnahmen gespart werden. Jedoch dürfen
Sicherheitsmaßnahmen den Firmen und Reisenden nicht
die Mobilität nehmen oder diese unverhältnismäßig ver-
teuern. Die Sicherheitsgebühr, die nach den Anschlägen
vom 11. September 2001 veranschlagt wurde, ließ die
Flugpreise um 5 Prozent steigen.
Gebühren und bürokratische Hemmnisse stellen die
größten Kostentreiber dar. Großunternehmen stellen in
der Regel mehrere Mitarbeiter ein, um den erhöhten bü-
rokratischen Aufwand zu bewältigen. Kleinere Unter-
nehmer sind jedoch dazu nicht in der Lage und sind folg-
lich mit diesen Pflichten überlastet. Während das
Reisebudget und die Zahl der Reisenden 2006 im Mittel-
stand im Schnitt um 4 Prozent stiegen, kamen die großen
Unternehmen mit 5 Prozent weniger aus, obwohl deren
Mitarbeiter viel häufiger Geschäftsreisen unternehmen.
Aus diesem Grunde sollte vorrangig die Entbürokrati-
sierung das Ziel sein. Denn nur so lassen sich die Kosten
der Flug- und somit auch der Geschäftsreise senken. Ge-
mäß der Ziffer 9 des Koalitionsvertrages ist der Bürokra-
tieabbau ein wesentliches Ziel der Bundesregierung. Ein
guter Schritt in diese Richtung wäre die Entbürokratisie-
rung bei Geschäftsreisen.
Der internationale Tourismus muss weiter gefördert
werden, und es müssen attraktive Angebote für ausländi-
sche Messeteilnehmer entwickelt werden. Vor allem die
neuen Quellmärkte der Wirtschaftsmächte China, Indien
und die EU-Osterweiterung bieten Chancen. Gleich-
zeitig gilt es, Deutschland als internationalen Messe-
standort in Europa zu stärken. Dazu zählt neben der
Vernetzung der Verkehrswege und -mittel auch die
mehrsprachige Gestaltung der Beschilderung der Ver-
kehrszeichen und Hinweistafeln. Um eine möglichst
hohe Mobilität und unkomplizierte Einreise ausländi-
scher Geschäftsreisender zu ermöglichen, muss eine zü-
gigere Visavergabe erfolgen.
Der Geschäftsreisemarkt wirkt stabilisierend auf die
wirtschaftliche Lage. Er ist saisonunabhängig und weit-
gehend krisenfest, weil Mobilität meistens eine wichtige
Voraussetzung für Wachstum ist.
Die CDU/CSU-Fraktion hatte bereits in der vergange-
nen Legislaturperiode einen Antrag „Rahmenbedingun-
gen für Geschäftsreisen verbessern“ vorgelegt, der aller-
dings von der damaligen rot-grünen Regierungsmehrheit
abgelehnt wurde. Es ist erfreulich, dass die SPD sich nun
auch für die Stärkung des Geschäftsreisesektors einsetzt.
Dem vorliegenden Antrag der Regierungsfraktionen
kann die FDP in vielen Punkten zustimmen. Ich biete
gerne an, im Ausschuss ausführlich zu diskutieren und
eventuell einen gemeinsamen Antrag zu formulieren.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Es ist unstrittig: Mes-
sen und Geschäftsreisen sichern zahlreiche Arbeitsplätze
in der Tourismuswirtschaft, vor allem in höherpreisigen
Hotels außerhalb von Ferien und Wochenenden, in den
First- und Businessklassen der Flugzeuggesellschaften
und der ersten Klasse der Bahn. Wenn die Welt nur aus
Tourismus bestehen würde, hätte der Antrag meiner Kol-
leginnen und Kollegen aus dem Tourismusausschuss von
CDU/CSU und SPD seine Berechtigung. Ich meine aber,
auch wir Tourismuspolitiker müssen über den Tellerrand
blicken. Deswegen sollte für Geschäftsreisen das Motto
gelten: So viel wie nötig und so effektiv, kostengünstig
und ökologisch wie möglich. Davon ist im Antrag der
Koalition nichts zu finden, hier geht es trotz der schon
ohne Zutun der Bundesregierung wachsenden Branche
um noch mehr Geschäftsreisen ohne Rücksicht auf die
Auswirkungen auf Klima und Umwelt.
Unter der Überschrift „Schmutzbilanz mit Folgen“
zeigt die Wirtschaftswoche in einem Artikel vom
24. September 2007 auf, dass die Wirtschaft in ihrem
Denken schon ein ganzes Stück weiter ist als die Verfas-
serinnen und Verfasser dieses Antrages. Rund ein Drittel
der 500 VDR-Mitglieder – VDR steht für Verband Deut-
sches Reisemanagement – beschäftigt sich nach einer
Umfrage des Verbandes mit Klimaschutzproblemen, ein
Viertel diskutiert darüber, in die CO2-Kompensation von
Dienstreisen einzusteigen. Die internationale Travel-Ma-
nagement-Vereinigung ACTE hält im Schnitt 40 Prozent
aller Dienstreisen für verzichtbar, wenn stattdessen kon-
sequent Video-, Web- und Telefonkonferenzen genutzt
würden. Um nicht missverstanden zu werden: Auch die
Linke weiß, dass das sich Versammeln an einem Ort
– und sei aus geschäftlichen oder dienstlichen Gründen –
mehr ist als das Austauschen von Informationen. Und
wenn Dienst- und Geschäftsreisen noch stärker in mittel-
ständischen Landhotels – möglichst außerhalb der Sai-
son – stattfinden, wissen auch wir die positiven Effekte
für die Wirte und die Beschäftigten zu würdigen.
Zunehmend mehr Unternehmen nutzen die Bahn statt
Inlandsflüge, schaffen sich schadstoffarme Autos an
bzw. mieten solche für Dienstreisen, leisten für Flüge
Kompensationszahlungen an „Atmosfair“ und andere
Organisationen, weisen für ihre Geschäftsreisenden per-
sönliche CO2-Bilanzen aus und schaffen Synergien
durch Fahrgemeinschaften. Damit wird nicht nur ein
Beitrag für die Umwelt geleistet. Die Unternehmen sen-
ken Kosten und fördern die Gesundheit Ihrer Beschäftig-
ten durch Reduktion von nicht gerade stressarmen Rei-
sen.
Von all dem ist im Koalitionsantrag nicht die Rede.
Stattdessen soll die Bundesregierung in einem Sammel-
surium von Einzelpunkten und Prüfaufträgen aufgefor-
12338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
dert werden, Messen- und Geschäftsreisen weiter voran-
zubringen. Begrüßenswert ist, dass die Koalition bei
diesem Antrag auch an die Barrierefreiheit denkt. Aber
wie und warum nur im Zusammenhang mit Geschäfts-
reisen? Laut Koalition soll die Bundesregierung bei allen
baulichen Einrichtungen des Bundes auf Barrierefreiheit
achten. Das ist schön, aber bereits gesetzlich im Bundes-
gleichstellungsgesetz und Baugesetzbuch geregelt. An-
statt zu fordern, dass die Bundesregierung auch die Län-
der und Kommunen darauf hinweist sollte der Bundestag
die Pflicht auf Barrierefreiheit für alle Neubauten ver-
bindlich im Baugesetzbuch verankern.
Gleiches gilt auch hinsichtlich der Barrierefreiheit bei
der Bahn und anderen Bereichen des Personentransports.
Schon jetzt erklärt die Bundesregierung sich bei diesbe-
züglichen Forderungen regelmäßig für nicht zuständig,
obwohl der Bund ja noch Eigentümer der Bahn ist und
nicht wenig Geld für den ÖPNV zur Verfügung stellt.
Statt Privatisierungen voranzutreiben, sollte die Bundes-
regierung hier Ihren Pflichten als Eigentümer gerecht
werden – zum Wohle von Geschäfts- und Privatreisen-
den und allen anderen Bürgerinnen und Bürgern. Auch
die Frage der Förderung von Sprachkompetenz von den
in der Tourismuswirtschaft tätigen Menschen oder die
Frage der Bearbeitung von Visa-Anträgen ist keine spe-
zifische Frage des Geschäftsreisetourismus.
Völlig ausgeblendet ist im Koalitionsantrag die Frage
der Dienstreisen von uns selbst, der Bundesregierung
und den in Bundesbehörden Beschäftigten. Wie viele un-
nötige Dienst- und Heimreisen gibt es allein durch die
doppelten Dienstsitze aller Bundesministerien in Berlin
und Bonn? Der überfällige Umzug aller Bundesministe-
rien nach Berlin würde das Steuersäckel und die Umwelt
erheblich entlasten. Auch das darüber hinausgehende
Dienstreisemanagement der Bundesbehörden muss kri-
tisch hinterfragt werden, und vielleicht sollten wir Abge-
ordnete künftig nicht nur unsere Nebeneinkünfte son-
dern auch unsere persönliche CO2-Bilanz offenlegen?
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Markt für Tagungen und Kongresse stellt ein bedeu-
tendes wirtschaftliches Segment dar. Laut einer Analyse
des VDR, des Verbandes Deutsches Reisemangement,
wurden im Jahr 2006 157,8 Millionen Geschäftsreisen
von Unternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern durch-
geführt. Jede Stunde beginnen in Deutschland durch-
schnittlich 17 200 Geschäftsreisen.
Der Anteil der Geschäftsreisen stellt aber auch einen
erheblichen Teil des Personenverkehrs dar. Dementspre-
chend ergeben sich gravierende Folgen für die Umwelt.
Klimawandel, Umweltaspekte, aber auch die Erhöhung
der Benzinpreise und die Kerosinsteuerdiskussion füh-
ren dazu, dass Unternehmen anfangen, ihre Geschäfts-
reisegewohnheiten zu überdenken. Wir begrüßen diese
Entwicklung und setzen uns für einen umweltverträgli-
chen, barrierefreien, erfolgreichen, aber auch effizienten
Geschäftsreisetourismus ein.
Der nationale Tagungs- und Kongressmarkt ist vor al-
lem ein Markt in den großen Metropolen: Berlin, Mün-
chen, Hamburg, Leipzig, Frankfurt seien an dieser Stelle
nur beispielhaft genannt, alles Orte mit einer guten in-
nerstädtischen Infrastruktur und Verkehrsanbindung.
Hier funktioniert der Geschäftstourismus vor allem
durch außergewöhnliche Veranstaltungsstätten und zu-
sammen mit kulturellen Angeboten. Unser vielseitiges
Kultur- und Naturgut bietet einen gewissen Mehrwert.
Diesen Mehrwert gilt es zu erhalten und nicht durch
Kürzungen von öffentlichen Mitteln zu vernichten. Lei-
der vermisse ich diesen Aspekt gänzlich in Ihrem An-
trag.
Wir machen uns im Bereich des Geschäftsreisetouris-
mus stark für regionale, nachhaltige und qualitativ hoch-
wertige Angebote mit einer guten Kunden- und Service-
orientierung. Eine Konzentration auf wenige Metropolen
gilt es zu verhindern. Nur so kann auch zukünftig bran-
chenübergreifend eine Vielzahl von Arbeitsplätzen in
den ländlichen Räumen gesichert werden.
Es gilt, verstärkt vor Ort und in den Regionen Netz-
werke und Kooperationen zwischen Industrie und Tou-
rismusverbänden zu bilden, um daraus neue Projekte für
den Geschäftsreisetourismus zu entwickeln.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Oldtimer von Fein-
staub-Fahrverboten ausnehmen (Tagesord-
nungspunkt 24)
Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Seit der Erfin-
dung des Motorwagens durch Karl Benz im Jahr 1886
gehört das Automobil zu unserem Leben, und in
Deutschland haben wir aus dieser Innovation viel ge-
macht. Ein Blick auf das erste Automobil und ein heuti-
ges Modell zeigt: Es hat sich in der technischen Ent-
wicklung viel getan. Oldtimer sind Zeitzeugen dieser
Entwicklung sie haben den heutigen technischen
Entwicklungsstand erst ermöglicht. Dies trifft in beson-
derem Maße auch für die Standards der Automobilindus-
trie zur Emissionsvermeidung zu. Sie sind Qualitäts-
merkmal und Verkaufsargument für die heutigen
Modelle – Modelle, die in 30 Jahren auch Oldtimer sein
können.
Die Geschichte des Automobils ist auch durch den
Widerspruch von Begeisterung für Technik und Komfort
und Nebenwirkungen gekennzeichnet. Emissionen bil-
deten zu allen Zeiten Anlass für öffentliche Diskussio-
nen und sind Gegenstand einer stetigen Verschärfung der
Rahmenbedingungen. Neu ist die Qualität, mit der wir
die Diskussion führen. Die Folgen für das Klima und die
Gesundheit rücken in den Vordergrund der Verkehrspoli-
tik. Wir debattieren über die Folgen von verkehrsbeding-
ten Emissionen in unseren Verkehrszentren, den Städten.
Jede Maßnahme, die hier begrenzend wirkt, wird unsere
Zustimmung finden, wenn sie die Realitäten und Not-
wendigkeiten anerkennt und geeignet ist, spürbare Ver-
besserungen herbeizuführen. Hierüber besteht grund-
sätzlich Einigkeit in der Politik und bei den Verbänden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12339
(A) (C)
(B) (D)
Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie in nationales
Recht wurde die Zuständigkeit der Umsetzung der Vor-
gaben den Ländern zugewiesen. In welchem Umfang die
Kennzeichnung zur Einführung von Umweltzonen führt,
liegt im Ermessen der jeweiligen Kommune bzw. Lan-
desbehörde. Dies gilt ebenso für die Erteilung genereller
oder einzelner Ausnahmeregelungen. Übergangsfristen
sind nicht vorgesehen. Feinstaubfahrverbote bedrohen
Mittelständer, Busunternehmer, Anlieger, Wohnmobil-
besitzer und eben auch Oldtimer. Wir Deutsche versu-
chen wieder einmal unserem Ruf als „Saubermänner“
Europas gerecht zu werden: von Null auf Hundert in ei-
nem Atemzug.
Doch wie sieht das Ergebnis ein halbes Jahr nach un-
serer ersten Debatte nach dem Inkrafttreten der Kenn-
zeichnungsverordnung aus? In Deutschland werden der-
zeit für 21 Städte Umweltzonen geplant. Andere Städte
haben die Entscheidung zurückgestellt. Nicht ein einzi-
ges feinstaubbedingtes Umweltfahrverbot wurde in die-
sem Jahr ausgesprochen.
Blüten trieben bei uns die Vorschläge für Ausnahme-
regelungen von feinstaubbedingten Fahrverboten. Sie
waren so vielgestaltig, wie unser Land nur sein kann.
Verunsicherung bei den Bürgern, den Unternehmen und
Verbänden war die Folge. Zahlreiche Anfragen haben
mein Büro und die Büros meiner Kollegen hierzu er-
reicht. Selbst die entscheidungsbegünstigten Länder und
Kommunen waren in ihrem Gestaltungsrecht verunsi-
chert. Von den Möglichkeiten einer Allgemeinverfügung
machten die wenigsten Gebrauch. Auch hier wuchs der
Wunsch nach bundesweit einheitlicher Ausgestaltung
der Ausnahmen.
Besonders den Berliner Oldtimerfahrern wird noch
die Titelseite der „Berliner Morgenpost“ vom 21. März
2007 in Erinnerung sein. Der hier aufgeführte Katalog
für Ausnahmen und Kosten von Umweltfahrverboten
dürfte die unrühmliche Spitze in der Debatte darstellen.
Mit umfangreichen Nachweispflichten für die technische
Unmöglichkeit der Nachrüstung, Kostenpflichten für
den Verwaltungsaufwand, Fahrtenbüchern und Kilome-
terbegrenzungen waren diese Regelungsvorschläge des
rot-roten Senats in Berlin an Bürgerfeindlichkeit und
Bürokratie-Irrsinn kaum noch zu übertreffen.
Eine bundesweit einheitliche Ausnahmeregelung ist
im Vergleich zu den vielgestaltigen Vorschlägen für die
Bürgerinnen und Bürger klar verständlich. Sie erfordert
keine Zeit, keinen Papieraufwand, keine Verwaltungs-
kosten, sie fördert im besten Fall die Tourismusbranche.
Kurzum: Sie ist am Bürger und den tatsächlichen Gege-
benheiten orientiert – sie ist vernünftig.
Dieser Antrag sieht eine solche Lösung für Oldtimer
vor. Die Diskussion zeigte wiederholt, dass wir bei Old-
timern von unterschiedlichen Sachverhalten sprechen.
An die Adresse meiner Kollegen gerichtet darf ich des-
halb in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass
der Begriff des Oldtimers eng gefasst ist. Es sind Fahr-
zeuge in einem guten technischen und orginalgetreuen
Erhaltungszustand, die älter als 30 Jahre sind. In
Deutschland gibt es insgesamt 470 000 Fahrzeuge über
25 Jahre. 153 000 Fahrzeuge besitzen das H-Kennzei-
chen. Oldtimer sind ein bedeutender Wirtschaftsfaktor.
Rund 6 Milliarden werden auf diesem Gebiet jährlich in
Deutschland umgesetzt.
Die wiederholte Herabsetzung und Gleichsetzung der
Fahrzeuge mit gewöhnlichen Altfahrzeugen seitens ein-
zelner Vertreter des Bundesministeriums für Umwelt wie
auch einzelner Kollegen wird weder diesem technischen
Kulturgut noch dem privaten Engagement ihrer Halter
gerecht. Sie geht schlicht am Thema vorbei. Für die Hal-
ter und Fahrer sind Oldtimer nicht nur Liebhaberei, son-
dern auch eine Verpflichtung aus Begeisterung und Inte-
resse am technischen Kulturgut Automobil. Wir reden
hier nicht von Prosecco-Gesellschaft oder Protzkisten,
wie leider manche vorschnell und inkompetent urteilen.
Tatsache ist: Die Fahrleistung eines Oldtimers beträgt im
Durchschnitt jährlich weniger als 1 500 km, der Durch-
schnittswert von Oldtimern in Deutschland liegt unter
15 000 Euro, und in diese Statistik sind die 300SL-Flü-
geltürer genauso eingerechnet wie der VW Käfer oder
der Fiat 500. Über 90 Prozent der Besitzer sind Ange-
stellte.
Wir haben uns in den Diskussionen mit unserem
Koalitionspartner und in den parlamentarischen Beratun-
gen deshalb aktiv für eine bürgernahe und sachgerechte
bundesweit einheitliche Lösung eingesetzt. An dieser
Stelle gilt mein besonderer Dank meinem Kollegen Jens
Koppen. Seinem Engagement haben wir einen Antrags-
entwurf zu verdanken, der in der Koalition zur Diskussion
gestellt wurde. Über die darin geforderten bundesweit ein-
heitlichen Ausnahmeregelungen für benzinbetriebene
Fahrzeuge, Oldtimer, Anlieger und ortsansässige oder
auftragsgebundene klein- und mittelständische Unter-
nehmer sowie eine Übergangsfrist von fünf Jahren
konnte mit den Kollegen von der SPD jedoch keine Eini-
gung erzielt werden. Wir sind als CDU/CSU nach wie
vor bereit, nicht nur für die Oldtimer dies bundeseinheit-
lich zu regeln. Wir wollen Politik bürgerfreundlich und
praxisnah gestalten.
Ich begrüße daher ausdrücklich die Zustimmung der
unionsgeführten Bundesländer im Bundesrat am
21. September 2007 zum Antrag Hessens, Oldtimer von
den feinstaubbedingten Fahrverboten auszunehmen.
Einer Symbolpolitik des Bundesministeriums für Um-
welt auf dem Rücken der Halter, Fahrer und all jener, die
Freude an Oldtimern haben, konnte erfolgreich eine Ab-
sage erteilt werden. Bei einem Anteil von 0,07 Prozent
am Verkehr ist der Effekt feinstaubbedingter Fahrver-
bote fragwürdig. Wir sind deshalb froh über die Ent-
scheidung des unionsdominierten Bundesrates und ge-
hen fest davon aus, dass Bundesminister Gabriel sich an
diesen Beschluss des Bundesrates hält. Deshalb ist die-
ser FDP-Antrag überholt und der Sachverhalt geklärt.
Ich möchte aber nicht verschweigen, dass ich mich trotz-
dem über diese Initiative freue.
Selbst das rot-rote Berlin kommt nunmehr zur Ver-
nunft. Die linke Umweltsenatorin Lompscher hat in der
„Berliner Morgenpost“ vom heutigen Donnerstag Män-
gel der Regelung eingeräumt und Nachbesserungen an-
gekündigt. Wenn auch spät, kommen vielleicht linke
Politiker dann mal zur Vernunft, wenigstens punktuell.
12340 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Mal sehen, was diese Ankündigung in der Realität be-
deutet.
Für die Oldtimer wurde eine bundeseinheitliche Re-
gelung durch den Bundesrat jetzt erreicht, der Flecken-
teppich in Deutschland wurde somit verhindert, der
FDP-Antrag hier ist hinfällig. Wir sind froh darüber,
dass wir in Deutschland einen Anschlag auf das automo-
bile Kulturgut Oldtimer verhindert haben.
Die Diskussion zu einem Sachverhalt aus der Praxis
zeigt mir, wie Europa an der Realität vorbeigehen kann.
Die zugrunde liegende EU-Richtlinie ist daher aus mei-
ner Sicht völlig überzogen, praxis- und bürgerfern. Zu-
dem widerspricht sie dem Prinzip der Subsidiarität. Be-
reits jetzt sind weitere Untersuchungen und Grünbücher
in der Schublade, mit denen die EU sich erneut in die
kommunale Selbstverwaltung einmischen will. Hier
müssen wir im Interesse unserer Bürgerinnen und Bür-
ger wie auch der Wirtschaft aufpassen.
Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Wir alle wollen
und brauchen saubere Luft zum Leben. Damit die Luft in
Europa sauberer wird und gesundheitsschädliche Fein-
stäube reduziert werden, hat die EU das Instrument der
Luftreinhaltepläne eingerichtet.
Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments hat
in dieser Woche schärfere Grenzwerte für Feinstaub be-
schlossen. Die Kommission erwartet, dass durch die Ver-
schärfung die Zahl der Todesfälle durch Luftverschmut-
zung von jährlich 370 000 auf 230 000 sinken kann.
Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat ent-
schieden, dass die Anwohner stark befahrener Straßen
die Kommunen verklagen dürfen, wenn die EU-Grenz-
werte für Feinstaubbelastung überschritten werden.
Denn seit 2005 dürfen in Deutschland die geltenden
Grenzwerte für Feinstaub nur an 35 Tagen im Jahr über-
schritten werden; viele deutsche Großstädte können das
nicht gewährleisten. Die Kommunen sind aber in der
Verantwortung, mit Aktionsplänen dieses Ziel zu errei-
chen. Mit der Feinstaubverordnung können Kommunen
Umweltzonen einrichten und Fahrzeugen mit zu hohem
Schadstoffausstoß ein Fahrverbot für diese Zonen ertei-
len.
Grundsätzlich sind von diesen Fahrverboten ältere
Fahrzeuge, zum Beispiel Autos mit altem Dieselmotor
– EURO 1 und schlechter – und Benziner ohne Kataly-
sator oder Kat-Fahrzeuge der ersten Generation, betrof-
fen, es sei denn, sie werden mit einem Katalysator oder
Rußfilter nachgerüstet.
Oldtimer sind Autos, die älter als dreißig Jahre sind.
Oldtimer können gewöhnlich nicht nachgerüstet werden.
Der FDP-Antrag will deshalb eine bundesweite Aus-
nahme für Oldtimer von den Feinstaubfahrverboten.
Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Grundprinzip der Eu-
ropäischen Union. Es entspricht dem Subsidiaritätsprin-
zip, dass Probleme, die auf untergeordneten Ebenen ge-
regelt und gelöst werden können, auch dort geregelt
werden sollen. Die Kommunen, die in der Verantwor-
tung für die Einhaltung ihrer Luftreinhaltepläne stehen,
können regionale Begebenheiten, landschaftliche Beson-
derheiten und spezielle Probleme am besten beurteilen
und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Unserer
Meinung nach ist die Entscheidung, wer wann welche
zusätzliche Ausnahmeerlaubnis erhält, bestens bei der
jeweiligen Kommune aufgehoben. Ausnahmen – zum
Beispiel für Oldtimer, damit das Brauchtum ausgeübt
werden kann – können auf kommunaler Ebene hinrei-
chend gut getroffen werden.
Die Bundesländer haben in der Sitzung des Bundesra-
tes am 21. September dem Antrag aus Hessen zuge-
stimmt und eine generelle Ausnahme von Oldtimern be-
schlossen. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung
den Wunsch der Länder berücksichtigen wird. Denn es
ist dringlich, dass die Kennzeichnungsverordnung in
Kraft treten kann und die Kommunen die Maßnahmen
zur Luftreinhaltung umsetzen können.
Wir haben in unserem Entschließungsantrag der Ko-
alitionsfraktionen vorgeschlagen, die gefundene Rege-
lung nach zwei Jahren zu evaluieren. Nach zwei Jahren
werden wir uns erneut damit beschäftigen, ob die Kom-
munen in dem von ihnen gewünschten Rahmen in der
Lage waren, das Ziel einer sauberen Luft zu erreichen.
Die Länder setzen damit die Maßstäbe und dürfen die
gesundheitlichen Aspekte nicht vernachlässigen.
Oldtimer sind auch für mich ein Kulturgut. Oldtimer
gehören in unserem Automobilland zur Geschichte.
Auch in Zukunft soll der Oldtimerfan sein Hobby pfle-
gen und sein schönes Auto fahren dürfen. Die Frage ist,
ob hochbelastete Städte bundesweite Ausnahmeregelun-
gen brauchen oder ob es ausgereicht hätte, die vorhande-
nen Möglichkeiten auf kommunaler Ebene auszuschöp-
fen, um Oldtimertreffen, Autokorsos oder gelegentliche
Fahrten in die Zentren zu ermöglichen. Unsere Intention
war, diese Frage nicht von oben für alle Regionen zu ent-
scheiden, sondern die entsprechende Wahlmöglichkeit
vor Ort zu erhalten.
Das Problem, das ich bei der bundesweiten Ausnah-
meregelung für Oldtimer sehe, ist, dass eine Regel ein-
geführt wird und mit ihr eine Fülle von Ausnahmen.
Zwar gilt das deutsche Sprichwort: Keine Regel ohne
Ausnahme. Ich gebe aber zu bedenken, dass mit jeder
zugelassenen Ausnahme bei denjenigen, die nicht von
der Regel befreit wurden, Gefühle von Unverständnis
und Benachteiligung aufkommen. Es kommt die Frage
auf: Wieso dürfen die und ich nicht?
Zum Beispiel ist der Handwerker, der seinen 15 Jahre
alten Firmenwagen nicht nachrüsten kann, gezwungen,
ein neues Fahrzeug anzuschaffen. Er könnte sich aller-
dings auch einen Oldtimer anschaffen und dürfte dann
weiter in der Umweltzone ausliefern. Beides kann er
sich vielleicht aber nicht leisten. Seine wirtschaftliche
Existenz steht auf dem Spiel. Sicherlich gibt es viele Ar-
gumente, die in einzelnen Fällen für eine Befreiung vom
Fahrverbot sprechen können. Einzelentscheide und Här-
tefallausnahmen wird es ja auch geben. Eine generelle
Ausnahme für mittelständische Unternehmer gibt es aber
nicht. Die Forderung nach Ausnahmen für Wirtschafts-
verkehre wird aber von der Wirtschaft erhoben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12341
(A) (C)
(B) (D)
Es gibt viele Weiterentwicklungen des deutschen
Sprichwortes mit der Regel und den Ausnahmen. Eine
Variante lautet: Die Ausnahme belästigt die Regel, bis
sie selber Regel ist. Es gibt noch andere Interessengrup-
pen, die Ausnahmen von den Fahrverboten fordern, zum
Beispiel die Wohnmobilfahrer. Die haben auch nachvoll-
ziehbare Argumente dafür, dass sie nicht außerhalb der
Umweltzone parken wollen. Die EU fordert Ausnahmen
für Touristen, denn eine Urlaubsreise mit dem Auto
durch unterschiedliche Umweltzonen bringt wenig Ver-
gnügen. Eine Ausnahme folgt der Ausnahme folgt der
Ausnahme, und der Sinn der Regel, nämlich der Gesund-
heitsschutz, stellt sich hinten an.
Individuelle und öffentliche Interessen sind gegenei-
nander abzuwägen. Ich hoffe, dass die Länder in dem
von ihnen gewünschten Rahmen, den öffentlichen Inter-
essen der Luftreinhaltung und damit dem Schutz der
Menschen vor krankmachenden Schadstoffen genügen
werden. Dies werden wir nach zwei Jahren prüfen.
Die gefährlich hohe Feinstaubbelastung in den Bal-
lungsräumen einzudämmen, ist unser aller Interesse.
Den Erfolg der Luftreinhalte- und Aktionspläne lässt
sich an den Feinstaubwerten messen. Die Grenzwerte
der EU sind der Maßstab unseres Handelns. Die Kom-
munen müssen sich anstrengen. Im Mittelpunkt steht die
Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger.
Patrick Döring (FDP): Ich bin mir sicher, die große
Zahl der hier Anwesenden schätzt William Shakespeare
außerordentlich. Da nehme ich mich nicht aus. Und wir
erwarten sicherlich alle mit großer Spannung die Verfil-
mung eines seiner vortrefflichsten Stücke, das in diesen
Tagen in die deutschen Kinos kommt. Aber bei aller
Liebe zu Shakespeares Komödien: Die jüngsten Auffüh-
rungen von Viel Lärm um Nichts und Wie es euch gefällt,
die ich in diesem Hohen Hause in den letzten Monaten
erleben durfte, fand ich eher missraten.
Auch das Drama, das die Koalition in der Diskussion
um die Ausnahme von Oldtimern von den Feinstaub-
Fahrverboten aufgeführt hat, bekommt zu Recht
schlechte Kritiken. Die Autoren und Regisseure der Ko-
alition haben an dem kleinen Dramolett zwar lange gear-
beitet, aber das Ergebnis ist nicht sehr sehenswert. Aus
gutem Grund wird der letzte Akt jetzt in der Nachtvor-
stellung aufgeführt. Es ist verständlich, dass man diesem
Stück eher keine Zuschauer wünscht.
Monatelang wurde da diskutiert und unser Antrag mit
der Bitte aufgeschoben, man brauche die Zeit, um eine
vernünftige Lösung zu finden. Der Berg kreißte – und
gebar einmal mehr eine Maus. Die von der Koalition
vorgelegte Entschließung ist ein Zeugnis der Ohnmacht.
Die Vernunft wurde offensichtlich wieder einmal dem
Prinzip geopfert: Anstatt eine klare Entscheidung zu fäl-
len, sollte die Diskussion für weitere zwei Jahre aufge-
schoben werden, um dann die Auswirkungen der Ver-
ordnung zu überprüfen. Für viele Betroffene wäre es
dann freilich schon zu spät gewesen.
Wir können daher von Glück sagen, dass im Bundes-
rat die Länder mit vereinter Kraft diesen Unsinn verhin-
dert haben und, in Übereinstimmung mit dem von uns
hier vorgelegten Antrag, auf einer Ausnahme für die
Oldtimer bestanden. Ich erwarte nun mit Spannung die
Umsetzung durch die Regierung. Hier darf es keine
Halbheiten geben.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie hät-
ten es einfacher haben können. Von Anfang an war klar,
dass die Einbeziehung der Oldtimer in die Fahrverbote
unverhältnismäßig sein würde. Hätten Sie Ihren Willen
durchgesetzt, der Schaden wäre immens gewesen: Der-
zeit sind in Deutschland 21 Fahrverbotszonen in Pla-
nung – und nach dem Feinstauburteil des Bundesverwal-
tungsgerichtes werden es sicherlich bald noch mehr sein.
Sie hätten dieses großartige Hobby, durch das einzigar-
tige Fahrzeuge und damit auch ein kulturelles Erbe be-
wahrt werden, quasi unmöglich gemacht. Bei jeder Fahrt
wäre von dem Fahrer verlangt worden, sich zu erkundi-
gen, ob und wo Fahrverbote bestehen und sich gegebe-
nenfalls eine Ausnahmegenehmigung zu besorgen.
Auch hätte das Verbot schwere Folgen für Wirtschaft
und Tourismus gehabt. Fahrverbote wären nicht nur das
Ende für Oldtimer-Rundfahrten gewesen, sondern hätten
auch eine Branche gefährdet, die europaweit jedes Jahr
Milliarden Euro in den Bereichen Versicherungen, Fahr-
zeughandel, Reparatur und Restaurierung von Oldtimern
umsetzt.
Es wäre ein Leichtes gewesen, all dies durch die An-
nahme unseres Antrages gleich zu verhindern. Stattdes-
sen brauchte es erst eine Entschließung des Bundesrates,
um der Regulierungswut der schwarz-roten Bundesre-
gierung Einhalt zu gebieten. Der Anteil der Oldtimer an
den Feinstaubemissionen in Deutschland ist denkbar ge-
ring. Nach einer Studie des Fraunhofer-Institutes ma-
chen Pkw ohnehin nur insgesamt 4 Prozent des Feinstau-
baufkommens aus. Und der Anteil der Oldtimer an der
Zahl der Personenwagen liegt bei gerade einmal 0,4 Pro-
zent. Noch geringer ist ihr Anteil an der jährlichen Stre-
ckenleistung. Es ist daher geradezu lächerlich, die Ent-
scheidung, ob Oldtimer ausgenommen werden sollen, zu
einer Frage der Volksgesundheit zu machen.
Man muss sich tatsächlich fragen, warum Teile der
Koalition – vor allem aufseiten der Sozialdemokratie –
so nachdrücklich darauf beharren, die Oldtimer aus un-
seren Städten zu verbannen. Anstatt Ihre Energien darauf
zu verschwenden, den Menschen das Leben schwer zu
machen, sollten Sie sich besser um wirkliche Lösungen
bemühen.
Das Feinstaubproblem wird jedenfalls nicht gelöst,
indem man ein paar Autoklassiker aus den Innenstädten
verbannt. Letztlich braucht es ein Gesamtkonzept und
auch überregionale Ansätze. Doch hier machen Sie es
sich sehr einfach und lassen die Kommunen mit ihren
Problemen im Regen stehen.
Anstatt Oldtimer aus den Städten auszusperren, soll-
ten Sie noch einmal über die Beschaffenheit der Grenz-
werte nachdenken. Die Jahresgrenzwerte müssen schär-
fer, die Tageswerte aber flexibler werden. Sonst werden
wir weiterhin die paradoxe Situation haben, dass in eini-
gen Kommunen mit einer permanent hohen Feinstaub-
12342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
konzentration, die aber die Grenzwerte nur selten über-
schreitet, nichts geschieht, während auf der anderen
Seite Städte an den Pranger gestellt werden, die nur an
wenigen Tagen im Jahr ein dann aber sehr hohes Fein-
staubaufkommen haben. Das Europäische Parlament hat
hier schon vorgedacht. Die Bundesregierung hat diese
Initiative aber leider bisher abgelehnt. Ich empfehle Ih-
nen dennoch gerne den Beschluss des europäischen Um-
weltausschusses als Lektüre.
Anstatt die Jagd auf Oldtimer zu eröffnen, sollten Sie
endlich die 1. Bundesimmissionsschutz-Verordnung no-
vellieren, um auch Grenzwerte für die Millionen kleiner
Holzfeuerungsanlagen einzuführen. Denn diese stoßen
insgesamt etwa genauso viel Feinstaub aus wie die Mo-
toren von Lkw, Pkw und Motorrädern zusammen.
Anstatt den Autoklassikern das Grab zu schaufeln,
sollten Sie ein integriertes Konzept, zusammen mit Län-
dern und Kommunen, aber auch den europäischen Nach-
barn, entwickeln. Nur wenn wir die zahlreichen Fein-
staubquellen in den Griff bekommen, können wir das
Problem lösen.
Nichts von alledem haben Sie bisher getan. Stattdes-
sen erschöpft sich Ihre politische Arbeit in Aktionismus
und Symbolpolitik. Den Schaden haben die Menschen in
Deutschland, denen nicht effektiv geholfen wird – oder
deren Interessen Sie für den öffentlichen Effekt opfern.
Es ist wahrlich ein Trauerspiel, das die Koalition hier
aufgeführt hat, und es wird leider wohl auch nicht das
letzte sein, das Schwarz-Rot uns auf dieser Bühne dar-
bieten wird. Es bleibt abzuwarten, wie Ihr Publikum dies
goutiert. Im vorliegenden Fall können wir von Glück sa-
gen, dass durch den Bundesrat das größte Unglück ver-
hindert wurde. Ein gutes Licht auf die Politik dieser Re-
gierung wirft dies freilich nicht.
Lutz Heilmann (DIE LINKE): Der Bundestag debat-
tiert heute zum zweiten Mal über Oldtimer. Es geht um
die Frage, ob Oldtimer generell in Umweltzonen fahren
dürfen oder nicht. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum,
Oldtimern die Teilnahme am gesamten Straßenverkehr
zu verbieten. Genau diesen Eindruck vermitteln aber die
Oldtimer-Lobby und ihr Sprachrohr, die FDP. Auch wird
der Anschein erweckt, die spezialisierten Werkstätten
stehen vor dem Ruin.
Dem ist aber nicht so – und das will meines Wissens
auch niemand, auch Die Linke nicht, obwohl der durch-
schnittliche Oldtimer-Besitzer nicht gerade zu unserer
klassischen Wählerschicht gehört. Dies weiß ich aus ei-
genem Erleben, als Tankstellenkassierer bediente ich
früher eine Reihe von Oldtimer-Fahrern.
Ein Oldtimer ist eben nicht als Alltagsfahrzeug ge-
dacht, sondern nur als zusätzliches „Liebhaber-Stück“
für gelegentliche Ausfahrten vorgesehen. Das muss man
sich erst mal leisten können. Deshalb nährt die FDP mit
ihrem Antrag den gelegentlich geäußerten Vorwurf, sie
sei die Partei der Besserverdienenden. Mit diesem An-
trag wird einseitige Klientelpolitik betrieben. Umwelt-
und Gesundheitsschutz sind bei der FDP anscheinend
nur Lippenbekenntnisse.
Denn genau darum geht es – um den Gesundheits-
schutz der Bevölkerung in den Innenstädten. Dafür wer-
den nach Auskunft der Bundesregierung derzeit 21 Um-
weltzonen vorbereitet. Dadurch wird die extrem
gesundheitsgefährdende Feinstaubbelastung gesenkt.
Der EU-Grenzwert wird in vielen Städten, insbesondere
an Hauptverkehrsstraßen, sehr häufig – zu häufig – über-
schritten. Auch für das hochgiftige Stickstoffdioxid gilt
ab 2010 ein strenger Grenzwert, der bislang vielerorts
überschritten wird.
Mit Umweltzonen werden also nicht Oldtimerfahrer
schikaniert, sondern die Bevölkerung in den Innenstäd-
ten vor Gesundheitsgefahren geschützt. Oldtimer sind
dabei nicht vernachlässigbar, sondern eine nicht uner-
hebliche Quelle von Luftverschmutzung. Obwohl sie nur
0,4 Prozent an der gesamten Pkw-Flotte Deutschlands
ausmachen, sind Oldtimer für 3 Prozent der Stickoxid-
emissionen verantwortlich. Ihr Schadstoffausstoß liegt
um bis zum 60-Fachen über einem Neuwagen.
Deswegen gibt es für Oldtimer keine generelle Be-
freiung – und das ist auch gut so!
Es ist aber nun nicht so, dass Oldtimer gar nicht in
den Umweltzonen fahren dürfen. Denn die Kommunen
können und sollen selber entscheiden, inwieweit sie Old-
timern und anderen Betroffenen – dazu gleich mehr –
Ausnahmen erteilen.
Berlin als Vorbild und Vorreiter wird als erste Kom-
mune ab dem 1. Januar 2008 eine Umweltzone einrich-
ten. Stuttgart und andere Städte Baden-Württembergs
wollten ursprünglich früher loslegen, mussten ihren
Starttermin aber immer wieder verschieben. Man könnte
einen gängigen Werbeslogan deshalb etwas abwandeln
in „Baden-Württemberg – wir können alles außer Um-
weltzone“.
Vielleicht haben sie aber nur auf die Bestimmungen
Berlins gewartet, um sie zu übernehmen? Berlin jeden-
falls hat eine großzügige Regelung für Oldtimer geschaf-
fen. Klar können sie weiter für Hochzeitsfahrten oder
Ähnliches genutzt werden. Klar erhalten auch private
Oldtimer eine unbefristete Ausnahmegenehmigung. Da-
mit dürfen sie pro Jahr 700 Kilometer in der Umwelt-
zone fahren.
Diese erstreckt sich nun nicht auf ganz Berlin, son-
dern nur auf den S-Bahn-Ring. Wenn man da einmal
rein- oder durchfährt, sind das fünf bis zehn Kilometer.
Oldtimer können also weiterhin gelegentlich über die
„Linden“ fahren und ihre Werkstätten besuchen. Und
Oldtimerbesitzer, die in der Umweltzone wohnen, müs-
sen ihren Wagen weder verkaufen noch außerhalb der
Umweltzone parken.
Deswegen frage ich mich: Warum diskutieren wir
ausgerechnet über Oldtimer in Umweltzonen? Kritisch
ist nicht der Freizeitverkehr mit Oldtimern. Die wirklich
problematischen Fälle sind Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer, die aufs eigene Auto angewiesen sind. Er-
freulicherweise hat sich durch die nachträgliche Rege-
lung für G-Kats der Kreis der Betroffen erheblich
reduziert.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12343
(A) (C)
(B) (D)
Auch der Wirtschaftsverkehr, dessen Lkw und Trans-
porter oft veraltet sind, ist ein Problem. In beiden Fällen
hat Berlin ebenfalls sinnvolle Ausnahmeregelungen ge-
schaffen. Klar ist aber auch, dass nicht allen eine Aus-
nahme erteilt werden kann. Dann könnte man die Um-
weltzone gleich sein lassen.
In der Bundesregierung und insbesondere beim klei-
neren Koalitionspartner wird ja viel über „fordern und
fördern“ gestritten. Ich würde mir wünschen, dass die
Bundesregierung auch im Gesundheitsschutz dem För-
dern mehr Gewicht gegeben hätte. Denn wenn man
Menschen zu Einschränkungen zwingt – Fahrverbote
sind in der Tat eine Einschränkung –, dann sollte man ih-
nen auch Alternativen anbieten.
Da der Gesundheitsschutz eine öffentliche Aufgabe
ist, sollte er nicht nur denjenigen angelastet werden, die
alte Fahrzeuge haben. Nein, die Bundesregierung ist
gegenüber der EU für die Einhaltung der Grenzwerte
mitverantwortlich. Deshalb hätte sie die steuerliche För-
derung der Umrüstung von Fahrzeugen mit Dieselrußfil-
tern deutlich großzügiger gestalten müssen. Die sehr ent-
täuschenden Zahlen bislang erfolgter Umrüstungen
belegen, dass 330 Euro viel zu wenig sind.
Auch für den Wirtschaftsverkehr sollten Förderpro-
gramme – so weit möglich zur Nachrüstung, ansonsten
zur Flottenerneuerung – aufgelegt werden.
Der Schutz der Gesundheit der Menschen geht alle
an, nicht nur Einzelne!
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir haben über den Antrag der FDP ja schon einmal An-
fang März 2007 debattiert. Ich habe damals – wie andere
meiner Kolleginnen und Kollegen – eine Kennzeich-
nungsverordnung begrüßt, die am 1. März 2007 in Kraft
getreten war, heute aber schon wieder der Vergangenheit
angehört.
Was war geschehen? Es hatte handwerkliche Fehler
gegeben, zu spät war aufgefallen, dass ein nicht unerheb-
licher Teil von Fahrzeugen mit älteren Kats – nach US-
Norm – ohne Plakette bleiben würde und so nicht in der
Umweltzone fahren dürfe. Fahrzeuge mit Katalysatoren
der ersten Generation – G-Kat, Kats nach US-Norm –
haben jedoch keine schlechteren Abgaswerte als Euro-1-
Fahrzeuge, die nach der ersten Version der Verordnung
die grüne Plakette erhalten. Schon Anfang März hatte
die Bundesregierung angekündigt, dies zu korrigieren.
Bundesumweltminister Gabriel hat am 4. Juli 2007 eine
entsprechende Änderung der Plakettenverordnung ins
Kabinett eingebracht.
Die FDP hat mit ihrem Antrag für die Oldtimer eine
generelle Ausnahmeregelung von den Fahrbeschränkun-
gen gefordert. So sollten alle Oldtimer mit H-Kennzei-
chen sowie möglichst auch jene mit dem „roten 07er-
Kennzeichen“ pauschal von der Verordnung ausgenom-
men werden. Wir haben dieses Anliegen in der ersten
Lesung abgelehnt. Denn es ist sachlich und mit Blick auf
eine vorsorgende Luftreinhaltung nicht einzusehen, dass
alten Diesel-Oldtimern erlaubt sein soll, ein Mehrfaches
an Feinstaub auszustoßen als andere Fahrzeuge. Aus der
Beschlussempfehlung – 16/6327 – des Verkehrsauschus-
ses lässt sich entnehmen, dass auch die Mehrheit der Ab-
geordneten einen Freifahrtschein für Oldtimer ablehnt.
Das ist auch richtig so.
Vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundes-
verwaltungsgerichtes in Leipzig sind Kommunen drin-
gend aufgefordert, die Belastung der Bevölkerung mit
Feinstaub wirksam einzudämmen. Das Feinstauburteil
von Leipzig erinnert die Städte und Gemeinden nicht nur
an ihre Verantwortung, sondern es zieht sie zur Verant-
wortung. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 27. Sep-
tember 2007 höchstrichterlich entschieden, dass Anwoh-
ner von besonders mit Feinstaub belasteten Straßen ihr
Recht auf saubere Atemluft gerichtlich durchsetzen kön-
nen. Kommunen könnten sich nicht auf das Fehlen eines
Aktionsplans zur Luftreinhaltung berufen, entschieden
die Richter. Sie müssen vielmehr dafür sorgen, dass ein
wirksames Aktionsprogramm auch realisiert wird.
Denn schon 2002 wurde mit den rot-grünen Vorgaben
im Bundes-Immissionsschutzgesetz und der dazugehöri-
gen Verordnung den Kommunen eine Vielzahl von
Instrumenten zur Verfügung gestellt, mit denen sie ge-
gen die Emissionsquellen vorgehen können. Auch die
Ermächtigungsgrundlagen für Verkehrsverbote oder -be-
schränkungen stammen aus dem Regelwerk von 2002.
Bis dahin waren Verkehrsbeschränkungen wegen Luft-
verunreinigungen stets nur symbolische Politik.
Wir Grünen haben diese falsche Praxis beendet. Wir
haben damals im Bundes-Immissionsschutzgesetz zwei
neue Ermächtigungsgrundlagen für Verkehrsbeschrän-
kungen wegen Luftverunreinigungen geschaffen – § 40
Abs. 1 und Abs. 2 BimSchG. Damit wurden Kommunen
zu Verkehrsverboten und -beschränkungen ermächtigt, die
in Luftreinhalte- oder Aktionsplänen vorgesehen sind und
ihnen wurde gestattet, unabhängig von den planerischen
Instrumenten Verkehrsbeschränkungen und -verbote zu
erlassen, wenn der Verkehr zur Überschreitung von Im-
missionswerten beiträgt.
Die Planung der Umweltzonen ist ein wesentliches
Instrument der Kommunen, die Grenzwertüberschrei-
tungen in den Griff zu bekommen. Symbolische Politik
ist es aus unserer Sicht jedoch, Umweltzonen mit Fahr-
beschränkungen anzukündigen und einzurichten und zu-
gleich so viele Ausnahmetatbestände zu schaffen, dass
die Idee der Umweltzone wieder ad absurdum geführt
wird.
Im Jahr 2002 hatten Bundestag und Bundesrat der
22. BImSchV zugestimmt. Doch schon mit Näherrücken
des Termins und erst recht aufgrund der Feinstaubmes-
sungen vor 2005 änderte sich die Haltung in vielen Län-
dern und Kommunen. Es war schnell klar: Viele Bal-
lungsräume würden die Grenzwerte reißen. Doch statt
sich um wirksame Maßnahmen zu kümmern, forderten
einzelne Länder nun eine Revision der EU-Vorgaben.
Ziel: Grenzwerte, die man nicht einhalten kann, müssen
eben angehoben werden. Es soll hier nicht ungesagt blei-
ben, dass viele Länder und Kommunen rechtzeitig Luft-
reinhaltepläne und Aktionspläne auf den Weg gebracht
haben.
12344 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
Was die Umweltzonen und Oldtimer angeht, so hat
uns doch Herr Koch aus Hessen überrascht: Er hat sein
Herz für das Kulturgut Oldtimer entdeckt und flugs im
September 2007 im Bundesrat den Antrag gestellt, die
Oldtimer in den Ausnahmekatalog der Verordnung auf-
zunehmen. Das Land Hessen war mit seinem Ände-
rungsantrag zur Kennzeichnungsverordnung erfolgreich,
und der Bundesrat stimmt der Verordnung mit dieser Än-
derung zu. Mit dem Nachbessern an der Verordnung wa-
ren die Oldtimer-Lobbyisten auf den Plan getreten und
haben offenbar ganze Arbeit geleistet. Jetzt stellt sich die
Frage, ob die Bundesregierung respektive der Umwelt-
minister diese Bundesratsentscheidung hinnimmt oder
daran die ganze Verordnung scheitern lässt und wieder
auf Anfang geht. Dies würde natürlich bedeuten, dass
damit die Rechtsgrundlage für die Umweltzonen ab
2008 infrage steht. Eine weitere Verzögerung können
sich Bund und Länder im Kampf gegen den Feinstaub
jedoch nicht leisten.
Wir waren dafür, pragmatische Regelungen für Old-
timer-Veranstaltungen in Städten zu finden, und ange-
sichts der überschaubaren Zahl von Oldtimer waren wir
für begrenzte Sondergenehmigungen, aber eine generelle
Ausnahme halten wir auch nach der Bundesratsentschei-
dung nicht für sachgerecht. Schließlich ruft dies auch an-
dere Betroffeneninteressen für weitere Ausnahmetatbe-
stände auf den Plan.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuregelung des Wohngeldrechts und zur
Änderung anderer wohnungsrechtlicher Vor-
schriften (Zusatztagesordnungspunkt 10)
Gero Storjohann (CDU/CSU): Seit 40 Jahren wer-
den durch das Wohngeld die Wohnkosten einkommens-
schwacher Mieter und selbst nutzender Eigentümer be-
zuschusst. Diese Leistung unseres Sozialstaates hat sich
bewährt und ist für sozial schwache Bürger unverzicht-
bar. Die Wohngeldberichte der Bundesregierung belegen
das ein ums andere Mal.
Der Wohngeldbericht der Bundesregierung aus 2002
hat erhebliche Vollzugsprobleme bei der Bewilligung
von Wohngeldleistungen offenbart. Lange Bearbeitungs-
zeiten und komplizierte Berechnungsverfahren wurden
von den Betroffenen beklagt, sowohl auf der Seite der
Wohngeldempfänger als auch aufseiten der Mitarbeiter
der Bewilligungsstellen.
Dies bildete den Rahmen für die Koalitionsvereinba-
rung zwischen CDU/CSU und SPD in Bezug auf die
Weiterentwicklung des Wohngeldgesetzes. Daher zitiere
ich den Text an dieser Stelle ausdrücklich: „Das Wohn-
geld wird weiterhin der sozialen Absicherung des Woh-
nens dienen. Wohngeld ist eine Fürsorgeleistung. Bund
und Länder werden das Wohngeldrecht zügig mit dem
Ziel einer deutlichen Vereinfachung überprüfen“. So
steht es im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und
SPD. Mit dem heutigen Entwurf eines Gesetzes zur Neu-
regelung des Wohngeldrechts und zur Änderung anderer
wohnungsrechtlicher Vorschriften setzt die Große Koali-
tion dieses Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um.
Es ist jedoch ein weiterer Aspekt hinzugetreten: Von
der Hartz-IV-Gesetzgebung wurde auch das Wohngeld
umfassend betroffen. So wurden Transferleistungsemp-
fänger durch dieses Gesetz, vom Wohngeld ausgeschlos-
sen. Damit wurde deutlich gemacht, dass es sich hierbei
um zwei eigenständige soziale Sicherungsinstrumente
handelt. Real wurde das Wohngeld auf einen Kernbe-
reich von Leistungsempfängern zurückgeführt. Dieser
Kernbereich umfasst im Wesentlichen Menschen mit
niedrigem Arbeitseinkommen bzw. mit niedriger Rente.
Durch die Vollkostenübernahme für das Wohnen bei
ALG-II-Empfängern im Rahmen der Grundsicherung ist
ein großer Teil der Wohngeldempfänger entfallen.
Zwischenzeitlich sind Schnittstellenprobleme zwi-
schen den Leistungssystemen identifiziert und auch An-
zeichen für Fehlanreize aufgetreten. So haben sich zum
Beispiel Vollzugsschwierigkeiten zwischen Wohngeld-
stellen und den für die Grundsicherung für Arbeit-
suchende zuständigen Stellen bei der Gewährung von
SGB-Il-Leistungen und Wohngeld aufgetan.
Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist es daher,
den Verwaltungsaufwand im Vollzug zu vermindern und
Schnittstellen mit den Transferleistungsgesetzen zu ver-
einfachen. Darüber hinaus sollen die Wohngeldmittel
noch effizienter verwendet werden. Weiteres Ziel des
von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwur-
fes ist es, die Normen sowohl für Antragsteller als auch
für die Bearbeiter einfacher und besser verständlich zu
machen. Dem setzt das komplizierte deutsche Steuer-
recht jedoch natürliche Grenzen. Die Große Koalition
leistet mit diesem Gesetzentwurf auch einen Beitrag zum
Bürokratieabbau in Deutschland; er ist sicher nicht ent-
scheidend, aber ein weiterer Baustein unser Ziele bei
diesem Thema.
Was sieht das Gesetz im Einzelnen vor? Lassen Sie
mich die wichtigsten Neuerungen kurz darstellen.
Durch das Gesetz wird der wohngeldrechtliche Haus-
haltsbegriff fortentwickelt. Alle Mitglieder einer Wohn-
und Wirtschaftsgemeinschaft werden fortan in diesen
nach dem Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen einbe-
zogen werden. Dadurch entfällt die für die Verwaltung
äußerst kompliziert durchzuführende Vergleichsberech-
nung. Auch wird dadurch die bisherige Regelung der vo-
rübergehenden Abwesenheit hinfällig. Die Arbeit der
Verwaltung bei Berechnung des jeweiligen Wohngeldan-
spruchs wird damit erheblich erleichtert.
Des Weiteren wird durch den Gesetzentwurf die für
die Höhe des Wohngeldes maßgebliche Differenzierung
in vier Baualterklassen wegfallen. Auch hier musste die
Verwaltung in der Vergangenheit immer umständliche
Berechnungen anstellen. Dies wird durch das neue Ge-
setz jetzt bereinigt.
Erhebliche Verbesserungen bringt der Gesetzentwurf
auch für die Bezieher von Wohngeld. So haben wir die
Rückforderung des Wohngeldes von den Erben erheb-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12345
(A) (C)
(B) (D)
lich erleichtert. Ferner werden durch das Gesetz die ge-
samtschuldnerische Haftung aller Haushaltsmitglieder
und die Erweiterung der Aufrechnungs- und Verrech-
nungsmöglichkeiten bei überzahltem Wohngeld einge-
führt.
Der Bundesrat hat mit seiner Stellungnahme eine
Vielzahl von Anregungen gegeben, bei denen die Bun-
desregierung bereits eine Zustimmung oder entspre-
chende Anpassung im parlamentarischen Verfahren
empfiehlt. Auch wir werden die vom Bundesrat aufge-
worfenen Fragen eingehend prüfen. Uns ist klar, dass
zum wichtigen Punkt der Beibehaltung der sachfremd im
Wohngeldgesetz verankerten Ausgleichsregelung für
grundsicherungsbedingte Mehrkosten die Wünsche von
Bundesrat und der Vorschlag der Bundesregierung noch
nicht zusammenpassen. Deshalb müssen wir wohl den
inhaltlichen Zusammenhang zum parallel zu beratenden
Entwurf eines Zweiten SGB-XII-Änderungsgesetzes be-
rücksichtigen.
Ich sehe der Ausschussberatung mit Interesse entge-
gen und wünsche mir, dass Wohngeld auch in Zukunft
ein wirksames Instrument des verantwortungsvollen So-
zialstaates bleibt.
Sören Bartol (SPD): Die zeitnahe Überarbeitung des
Wohngeldgesetzes mit dem Ziel einer deutlichen Verein-
fachung hatten CDU/CSU und SPD im Koalitionsver-
trag festgelegt; dieses Vorhaben wird mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf umgesetzt.
Dieser Gesetzentwurf ist ein dringend notwendiger
Schritt zur Entbürokratisierung, der Verwaltungsauf-
wand vermindert, Schnittstellen mit Transferleistungsge-
setzen des SGB II vereinfacht, Wohngeldmittel noch ef-
fizienter verwendet und Regelungen für Bürgerinnen
und Bürger verständlicher gestaltet. Es ist ein wichtiger
Gesetzentwurf, auch weil er zugleich eine Aktualisie-
rung diverser Bereiche und Begrifflichkeiten an eine
veränderte gesellschaftspolitische Realität vornimmt.
Dazu zählen unter anderem die Fortentwicklung des
wohngeldrechtlichen Haushaltsbegriffs, die Einführung
der gesamtschuldnerischen Haftung aller Haushaltsmit-
glieder sowie die Erweiterung der Aufrechnungsmög-
lichkeit bei überzahltem Wohngeld und des Datenab-
gleichs. Vorgesehen ist außerdem der Wegfall der für die
Höhe des Wohngeldes maßgeblichen Differenzierung in
vier Baualtersklassen, den ich entgegen der Auffassung
des Bundesrats ausdrücklich begrüße.
Zum einen vereinfacht dies das Verwaltungsproze-
dere, zum ändern trägt man damit der Entwicklung
Rechnung, dass der Wert vieler Altbauten in den letzten
Jahren durch Renovierungen und Sanierungen erheblich
gestiegen ist. Bislang wurde in den Berechnungen allein
auf das Baujahr abgestellt. Im vorliegenden Gesetzent-
wurf – § 12 WoGG-E – sind die Höchstbeträge nun der
bisherigen Bauklasse IV aus der Tabelle des geltenden
§ 8 WoGG entnommen: Eine Leistungsverbesserung, die
ich – auch vor dem Hintergrund des Wohn- und Mieten-
berichts 2006 der Bundesregierung – für richtig halte.
Für weit genug gehend halte ich sie nicht. Man muss an
dieser Stelle klar sagen: Der Weisheit letzter Schluss
kann der Gesetzentwurf in der vorliegenden Form nicht
sein.
Zwar dient die Neuformulierung des Wohngeldgeset-
zes in erster Linie der Verwaltungsvereinfachung, und
diesem Anspruch wird sie in der Tat gerecht; den seit
2002 zu konstatierenden eklatanten Preisanstieg im Be-
reich der Nebenkosten aber lässt sie außer Betracht.
Mittel- und langfristig haben wir mit dem CO2-Ge-
bäudesanierungsprogramm eine adäquate und nachhal-
tige Antwort auf steigende Energiekosten gefunden.
Durch die energetische Sanierung von Wohnungen und
Häusern werden die Belastungen von Mietern und Ei-
genheimbesitzern erheblich reduziert. Um etwa 40 Pro-
zent konnte der Heizenergieverbrauch je Quadratmeter
Wohnfläche in den letzten 20 Jahren mit entsprechenden
Maßnahmen bereits gesenkt und der CO2-Ausstoß ver-
ringert werden. Deshalb hatten wir das CO2-Gebäudesa-
nierungsprogramm für 2006 um 350 Millionen Euro auf
1,5 Milliarden Euro aufgestockt. Allein in diesem Jahr
konnten mit dem Programm 265 000 Wohnungen und
Gebäude saniert und 900 000 Tonnen Kohlendioxid ver-
mieden werden. Durch erneuerte Fassaden und Fenster,
eine verbesserte Wärmedämmung und modernisierte
Heizungen lassen sich bis zu 25 Prozent Energie sparen.
So können die finanziellen Belastungen der Haushalte
erheblich gesenkt werden.
Energieeffizienz wird künftig auch bei der Woh-
nungsauswahl ein zentrales Kriterium sein: Ab 2008
wird der Energieausweis zu einem wichtigen Instrument
für Mieterinnen und Mieter, das zu Transparenz und län-
gerfristig zu weiteren Gebäudesanierungen führen wird.
Aber natürlich benötigt die Sanierung unseres kom-
pletten Gebäudebestandes Zeit; denn längst nicht alle
Wohngeldempfänger wohnen in energetisch sanierten
Häusern. Vor dem Hintergrund von Preissteigerungen in
Höhe von 30 Prozent bei Heizung und Warmwasser im
Vergleich zu 2002 sollte daher auch eine Weiterentwick-
lung des Wohngeldes Gegenstand der parlamentarischen
Beratungen sein.
Hierbei sollte es auch darum gehen, mögliche Instru-
mente zur Schließung der Gerechtigkeitslücke zwischen
den Unterkunftskosten nach § 22 SGB II und dem
Wohngeld zu prüfen. Denn es ist nicht von der Hand zu
weisen, dass die jetzige Gesetzeslage wohngeldberech-
tigte Haushalte gegenüber Empfängern von ALG II, bei
denen eine Vollbruttokostenerstattung der Miete inklu-
sive der Nebenkosten erfolgt, benachteiligt.
Wenn also das Wohngeld seiner Intention, einkom-
mensschwache Haushalte, die ihren Lebensunterhalt aus
eigener Hand bestreiten, angesichts der Mietbelastung
jedoch an ihre finanziellen Grenzen stoßen, vor einer
Überforderung zu schützen, auch in Zukunft gerecht
werden will, sollten wir nicht nur über eine Anpassung
der Miethöchstbeträge an die aktuellen Entwicklungen
des Wohnungsmarktes und entsprechende Änderungen
der Wohngeldleistungstabellen diskutieren.
Angesichts der immens gestiegenen Nebenkosten
wäre hier eine Regelung in Betracht zu ziehen, bei der
12346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
auch warme Nebenkosten zu den zuschussfähigen
Wohnkosten zählen können. Dabei muss es um eine
nicht nur sozial-, sondern ebenfalls energiepolitisch
sinnvolle Lösung gehen.
In welchem Rahmen dies konkret erfolgen könnte, ist
noch zu eruieren. Möglich wäre etwa die Festschreibung
von Höchstgrenzen nach einem vom Energiebedarf aus-
gehenden Berechnungssystem.
Wir brauchen ein starkes, der veränderten Entwick-
lung angepasstes Wohngeld, wenn es auch in Zukunft
ein funktionierendes Element unserer Wohnungspolitik
sein soll, das einkommensschwachen Haushalten ein
angemessenes und familiengerechtes Wohnen ermög-
licht. Das gilt umso mehr, wenn wir Menschen aus dem
ALG-Il-Bezug herausholen wollen.
Joachim Günther (Plauen) (FDP): Der heute in ers-
ter Lesung zu behandelnde Entwurf eines Gesetzes zur
Neuregelung des Wohngeldes war zwischen den Regie-
rungsparteien im Koalitionsvertrag vereinbart und somit
keine größere Überraschung. Allerdings überrascht der
Inhalt schon; denn die Koalitionsparteien hatten sich in
diesem Zusammenhang nicht nur darauf verständigt, das
Wohngeldgesetz zu entschlacken und zu vereinfachen,
sondern es sollte auch – so hatte ich es jedenfalls ver-
standen – durch die materielle Verbesserung des Wohn-
geldes auf die in den letzten Jahren erheblich gestiege-
nen Wohnkostensteigerungen, insbesondere durch die
extrem gestiegenen Energiekosten, reagiert werden. Ich
will die Kostensteigerungen seit 2001 noch einmal nen-
nen, damit klar ist, dass es hier nicht um Bagatellbeträge
geht: Die Kosten für Strom sind um 23,8, für Gas um
30,3 und für Öl um 53,3 Prozent gestiegen. Das führt im
Extremfall dazu, dass die Betriebskosten die Kaltmiete
weit übersteigen und das Wohngeld damit seine Wirkung
komplett verfehlt.
Es ist also einerseits zu loben, dass mit dem Entwurf
Erleichterungen und Vereinfachungen geschaffen wur-
den, zum Beispiel durch den Wegfall der für die Höhe
des Wohngeldes maßgeblichen Differenzierung in vier
Baualtersklassen oder durch die Klarstellung wohnungs-
rechtlicher Begriffe sowie der Abgrenzung zu Transfer-
leistungen für ALG-II-Empfänger. Andererseits wird
aber die tatsächliche Mietkostenentwicklung nicht be-
rücksichtigt. Das entspricht nicht dem eigentlichen An-
liegen des Wohngeldes. Der Koalitionsvertrag beschreibt
dieses Anliegen, indem er besagt, dass das Wohngeld der
sozialen Absicherung des Wohnens diene. Ich teile diese
Auffassung, finde im Entwurf aber keine entsprechende
Umsetzung. Die Bundesregierung hat zwar im Wohn-
geld- und Mietenbericht 2006 sowie in einer Antwort auf
Fragen der Fraktionen der FDP, der Grünen und der Lin-
ken durchaus richtig erkannt, dass die Belastungen für
Geringverdiener mit einem Wohngeldanspruch insbe-
sondere durch die warmen Betriebskosten extrem gestie-
gen sind. Sie hat diese Erkenntnisse aber nicht in erfor-
derlichem Maße in den hier vorliegenden Entwurf
einfließen lassen. Zum Beispiel macht allein der Wegfall
der Baualtersklassen eine Anhebung der Höchstbeträge
nicht entbehrlich.
Aus meiner Sicht ist es nicht hinnehmbar, dass Bezie-
her von Arbeitslosengeld II Unterkunftskosten und Heiz-
kosten fast vollständig vom Staat ersetzt bekommen,
während Bezieher von Wohngeld nur einen Zuschuss zur
Grundmiete und zu den kalten Betriebskosten erhalten.
Da insbesondere die hohen Energiekosten bei den Be-
triebskosten zu Buche schlagen, ergibt sich hier klar eine
Gerechtigkeitslücke. Über dieses Thema wird in den fol-
genden Debatten sicherlich noch zu reden sein.
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Kommen wir gleich
auf den Punkt: Seit dem 1. Januar 2001 ist das Wohngeld
nicht mehr erhöht worden. Seit 2001 sind die Mieten
ohne Nebenkosten um 6,5 Prozent gestiegen. Die Ge-
bühren für Wasser, Abwasser und Müll sind in diesem
Zeitraum um über 10 Prozent, die Kosten für Strom um
23,8 Prozent, für Gas um 30,3 Prozent und für Öl um
53,3 Prozent gestiegen. Für diese Preissteigerungen gibt
es bis heute keinen Ausgleich und keinen Zuschlag zum
Wohngeld. Die Heizkosten werden überhaupt nicht be-
rücksichtigt. Der von der Bundesregierung vorgelegte
Gesetzentwurf zur Neuregelung des Wohngeldgesetzes
ist keine Wohngeldreform, die diesen Namen wirklich
verdient. Die Grundsatzfrage nach der längst überfälli-
gen Erhöhung des staatlichen Zuschusses zum Wohnen
wird vollständig ausgeklammert. Die Bundesregierung
muss ihre Zusagen aus dem Koalitionsvertrag ernst neh-
men und ihren Feststellungen aus dem soeben veröffent-
lichten Wohngeld- und Mietenbericht 2006 Taten folgen
lassen. Heute müssen knapp 60 Prozent aller Wohngeld-
bezieher tatsächlich eine höhere Miete zahlen, als bei der
Wohngeldberechnung zugrunde gelegt wird. Hier wird
nicht auf die tatsächlich gezahlte Miete abgestellt, son-
dern es gelten Höchstbeträge, je nach Wohnungsstan-
dard, Baujahr und Wohnort, die im Wohngeldgesetz
festgelegt sind. Der Wegfall der Differenzierung der vier
Baualtersklassen bringt für Wohngeldempfänger insbe-
sondere in Altbauwohnungen einen spürbaren Vorteil.
Dagegen ist der Versuch, wohnungsbezogene Leistun-
gen aufeinander abzustimmen, beim besten Willen nicht
erkennbar. Im Gegensatz zu Haushalten, die Anspruch
auf ALG II haben, bleiben bei Wohngeldempfängern die
Heizkosten völlig unberücksichtigt. Auch der jetzt vor-
gelegte Gesetzentwurf macht keinen Versuch, diese Ge-
rechtigkeitslücke zu schließen.
Seit Einführung der Hartz-Gesetze sank nach Anga-
ben des Städtetages die Zahl der Wohngeldbezieher von
2,3 Millionen um zwei Drittel auf rund 680 000 Men-
schen. Die Zahl der Geringverdiener, die als sogenannte
„Aufstocker“ Unterkunftskosten erhalten, stieg dagegen
zwischen September 2005 und März 2007 um 20 Pro-
zent auf inzwischen 1,15 Millionen. Damit Niedrigein-
kommensbezieher/innen nicht zu Bedürftigen nach dem
SGB II werden, fordern wir eine deutliche Erhöhung des
Wohngeldes um mindestens 15 Prozent sowie die Anhe-
bung der Einkommensgrenzen für Wohngeldbezieher/in-
nen. Außerdem müssen Heizkosten und Warmwasser
endlich im Wohngeld berücksichtigt werden. Hierzu
befindet sich bereits ein Antrag meiner Fraktion im par-
lamentarischen Verfahren. Die Fortentwicklung des
wohngeldrechtlichen Haushaltsbegriffs ist durchaus zu
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12347
(A) (C)
(B) (D)
begrüßen, da so auch andere Haushaltsmitglieder als Fa-
milienangehörige in den Genuss von Wohngeld kommen
und veränderten Lebensformen Rechnung getragen
wird. Allerdings führt die vorgeschlagene Formulierung
auch nach Einschätzung des Bundesrates zu einer
Schlechterstellung von Behinderten, die in einer Wohn-
gemeinschaft leben, gegenüber Behinderten als Be-
wohner von Alten- und Pflegeheimen. Für Wohn-
gemeinschaftsmitglieder und Verwaltung wird hoher
zusätzlicher organisatorischer Aufwand durch notwen-
dige wiederholte Antragsstellungen wegen Änderung
des Gesamteinkommens bei Tod oder Auszug eines
Hausgemeinschaftsmitgliedes verursacht. Auch die hier-
mit verbundene gesamtschuldnerische Haftung aller
Haushaltsmitglieder bei Wohngemeinschaften ist skep-
tisch zu sehen.
Zukünftig soll nur eine Person der Wohngemeinschaft
Wohngeld für die Gruppe in Anspruch nehmen können,
sofern sich die Gruppe gemeinsam versorgt. Nach § 4
des Wohngeldgesetzentwurfs würde sich das Wohngeld
allerdings nach dem Gesamteinkommen aller Mitglieder
der Wohngemeinschaft richten, und bei der Berechnung
des Wohngeldes wären sämtliche Haushaltsmitglieder zu
berücksichtigen. Dadurch wären dann bei einer Erstat-
tung von Wohngeld neben der wohngeldberechtigten
Person auch die anderen Haushaltsmitglieder als Ge-
samtschuldner haftbar zu machen. Die Tragweite der er-
weiterten Rücküberweisung und Erstattung im Todesfall
kann auf die Schnelle nicht abgeschätzt werden. Hier ist
Sorge zu tragen, dass die überlebenden Haushaltsmit-
glieder nicht in eine finanziell prekäre Situation geraten.
Aus Sicht meiner Fraktion verbleiben zu viele Kritik-
punkte und Änderungsbedarfe, als dass dieser Gesetz-
entwurf still und leise, bei Nacht und Nebel, durch das
Parlament gehen könnte. Daher wird in der Fraktion Die
Linke die Ansetzung einer Anhörung zum Wohn-
geldrecht prüfen und setzt dabei auf breite parlamentari-
sche Unterstützung.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Bundesregierung setzt mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf unter dem Deckmantel der Verwaltungsvereinfa-
chung konsequent ihre Politik gegen moderne Wohn-
und Lebensformen fort. Quasi in einer Nacht- und Nebel-
aktion erscheint kurzfristig auf Drängen der Koalition
ein Gesetz auf der Tagesordnung, das in der Konsequenz
Menschen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften und
Wohngemeinschaften nötigt, eine vergleichsweise teu-
rere Einzelwohnung zu beziehen, sofern sie aufgrund ih-
rer Einkommenssituation Wohngeld in Anspruch neh-
men müssen.
Künftig sollen für die Wohngeldberechnung nicht
mehr die zum Haushalt zählenden Familienmitglieder,
sondern alle „Haushaltsmitglieder“ herangezogen wer-
den. Wohn-und Wirtschaftsgemeinschaften sollen per
definitionem zu dieser gehören. Zukünftig werden alle
Wohngemeinschaften von der Alten-WG, der Studenten-
WG bis zur Berufstätigen-WG bei neuen Mitbewohnern
deren Einkommen prüfen müssen. Bei nicht abschätzba-
ren Armutsrisiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit
werden sie künftig mit in die Haftung genommen. Dies
widerspricht dem Geist dieser modernen Wohnformen,
in denen sich nicht familiär gebundene Individuen oft-
mals nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit zu einer
Wohngemeinschaft zusammenschließen. Dass es sich
hierbei nicht um eine Randgruppe handelt, beweist eine
Erhebung des Statistischen Bundesamtes: Hiernach le-
ben 10 Prozent aller Alleinstehenden – dies sind rund
1,5 Millionen Personen – mit anderen Personen unter ei-
nem Dach.
Die Strategie der Zerschlagung von modernen Wohn-
formen ist nicht neu. Schon beim Arbeitslosengeld II
hatten SPD und CDU ab 1. August 2006 per „Fortent-
wicklungsgesetz“ die Umkehr der Beweislast bei nicht-
eheähnlichen Lebensgemeinschaften eingeführt. Seither
gilt immer schon dann die Vermutung der Bedarfsge-
meinschaft, wenn Partner länger als ein Jahr zusammen-
leben. In diesem Falle wird im SGB II das Vorliegen
einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft ver-
mutet. Diese kann allerdings noch widerlegt werden.
Nach dem Willen der Bundesregierung soll das beim
Wohngeld nicht mehr möglich sein. Mit der geplanten
Reform des Wohngeldes geht die Bundesregierung über
das im SGB II geltende Prinzip der Verantwortungsge-
meinschaft hinaus. Hier sollen bei der Berechnung des
Wohngeldes auch die Personen mit ihrem Einkommen
als Haushaltsmitglied berücksichtigt werden, die mit ei-
ner wohngeldberechtigten Person in einer „Wohn- und
Wirtschaftsgemeinschaft“ leben. Hierdurch verfehlt die
Bundesregierung nicht nur ihr selbst gesetztes Ziel der
Harmonisierung mit den Regelungen im SGB II. Sie er-
weitert auch den Kreis der mit ihrem Einkommen zu be-
rücksichtigenden Personen um Wohngemeinschaften,
bei denen kein wechselseitiger Wille besteht, Verantwor-
tung füreinander zu tragen.
Die erwarteten Kosteneinsparungen durch nicht ge-
zahltes Wohngeld werden eher kurzfristiger Natur sein.
Denn Personen mit keinem oder nur geringem Einkom-
men werden faktisch genötigt, in Einzelwohnungen zu
ziehen, um an Transferzahlungen zu gelangen. Dies
dürfte unter dem Strich, in der Regel teurer für Bund,
Länder und Kommunen sein. Außerdem wird der Bedarf
an Wohnungen für Einzelhaushalte steigen und einen
Preisanstieg auf diesem Teilmarkt zur Folge haben, was
sich mittelfristig wiederum negativ auf die Kosten für
Transferleistungen auswirkt.
Der Gesetzesentwurf sieht keine Erhöhung des Wohn-
geldes vor. Seit der letzten Erhöhung zum 1. Januar 2001
sind in vielen Regionen Deutschlands die Mieten und
Nebenkosten gestiegen. Wenn das Wohngeldgesetz wei-
terhin seine Funktion der wirtschaftlichen Sicherung an-
gemessenen Wohnens behalten soll, ist eine Anpassung
an die gegebene Kostenentwicklung unerlässlich. Zu-
dem verpasst die Bundesregierung mit ihrer Initiative die
Chance, die aufgetretenen Fehlentwicklungen im Bezug
von Arbeitslosengeld II zu korrigieren. Die Zahl der so-
genannten Aufstocker ist seit Einführung des Arbeits-
losengeldes II kontinuierlich gestiegen. Heute beziehen
rund 1,1 Millionen Erwerbstätige zusätzlich zu ihrem
Erwerbseinkommen Arbeitlosengeld II. Davon erhalten
12348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
(A) (C)
(B) (D)
aufgrund der Entwicklungen im Niedriglohnsektor rund
275 000 Bedarfsgemeinschaften ausschließlich Kosten
der Unterkunft, die zum Großteil von den Kommunen fi-
nanziert werden. Bündnis 90/Die Grünen fordern die
Bundesregierung auf, durch eine konsequente Auswei-
tung von Mindestlöhnen und eine längst fällige Anpas-
sung der Wohngeldhöhe gegenzusteuern, damit das
Wohngeld wieder als vorrangiges Sicherungssystem fun-
gieren kann.
Karin Roth, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi-
nister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das
Wohngeld ist ein bewährtes Instrument unserer sozialen
Wohnungspolitik. Es unterstützt einkommensschwache
Haushalte dabei, sich am Wohnungsmarkt mit angemes-
senem und familiengerechtem Wohnraum zu versorgen.
Durch die letzte große Reform im Wohngeld und das
Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeits-
markt, wurden Transferleistungsempfänger vom Wohn-
geld ausgeschlossen. Deren angemessene Kosten der
Unterkunft einschließlich der Heizkosten werden seit
2005 bei der jeweiligen Transferleistung berücksichtigt.
In der Umsetzung zeigten sich an einigen Schnittstellen
des Wohngeldgesetzes mit den Transferleistungsgesetzen
Vollzugsschwierigkeiten, insbesondere mit dem Arbeits-
losengeld II. Das Wohngeldrecht soll deshalb weiter ver-
einfacht werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf er-
füllen wir den Auftrag aus dem Koalitionsvertrag, das
Wohngeldrecht mit dem Ziel einer deutlichen Vereinfa-
chung zu überprüfen.
Lassen Sie mich zwei Beispiele für die Vereinfachungen
nennen: Die bisherige Unterteilung in vier Baualtersklassen
soll abgeschafft werden. Für alle Gebäude sollen statt-
dessen künftig einheitliche Höchstbeträge für die be-
rücksichtigungsfähige Miete oder Belastung gelten. Da-
durch werden Mieter und Vermieter entlastet, weil sie
das Jahr der Bezugsfertigkeit und die Ausstattung des
Gebäudes nicht mehr mitteilen müssen. Die entspre-
chenden Informationspflichten fallen also weg. Diese
Vereinfachung baut aber nicht nur für Bürger und Wohn-
geldstellen spürbar Bürokratie ab. Sie hat gleichzeitig
auch höhere Wohngeldleistungen für viele Haushalte zur
Folge und ist für uns deshalb ein ganz zentrales Element
der Novelle. Viele der Haushalte mit einer Baualtersklasse
vor 1992 – das waren im Jahr 2005 circa 74 Prozent aller
Wohngeldhaushalte – werden bessergestellt, weil auch
für sie künftig allein die höchste Baualtersklasse gelten
soll.
sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19
nd 91, 1
2, 0, T
22
118. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15