Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie
herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen und
gute Beratungen.
Es gibt heute Morgen nicht einmal irgendetwas zu
vermelden, was uns vom unverzüglichen Eintritt in die
Tagesordnung abhalten könnte.
Ich rufe also gleich unseren Tagesordnungspunkt 25
auf:
– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der Rechtsgrundlagen zum Emissionshandel
im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008
bis 2012
– Drucksache 16/5240 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung der Rechtsgrundlagen
zum Emissionshandel im Hinblick auf die
Zuteilungsperiode 2008 bis 2012
Rede
– Drucksache 16/5617 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
– Drucksache 16/5769 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung
Frank Schwabe
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Dr. Reinhard Loske
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag
Die Linke vor. Über den Gesetzentwurf de
der CDU/CSU und der SPD werden wir sp
lich abstimmen.
tzung
n 22. Juni 2007
.00 Uhr
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Frank Schwabe für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen undHerren! Wem das bisher nicht klar war, der weiß es jetztnach anderthalbjähriger Diskussion über den Emissions-handel in der zweiten Periode: Klimaschutz gibt es nichtzum Nulltarif.Durch den Klimaschutz werden unsere Form der Ener-gieerzeugung und unsere Form des Wirtschaftens inwirklich revolutionärer Weise geändert. Das bringt unterdem Strich volkswirtschaftliche Vorteile und damit Vor-teile für alle, und das hilft vor allem denjenigen – auchbetriebswirtschaftlich –, die die Zeichen der Zeit früh-zeitig erkennen.textImmer wenn es konkret wird, gibt es aber massiveWiderstände aus nachvollziehbaren, sehr individuellen– man könnte auch sagen: egoistischen; was ich garnicht abwertend meine – Gründen. Zum Teil sind es guteArgumente, zum Teil ist es aber auch hanebüchener Un-sinn. Es hilft aber nichts: Die Bedingungen sind gesetzt.Wer im Rahmen internationaler Konferenzen und in Ab-kommen A sagt, der muss national auch B sagen wollen.
Mit dem vorliegenden Zuteilungsgesetz tun wir nichtsanderes, als unsere internationalen und insbesondere eu-ropäischen Verpflichtungen umzusetzen. Die Vorgabelautete 453 Millionen Tonnen pro Jahr –ir erreichen diese Reduktion auf 453 Mil-. Mit diesem sehr ambitionierten Cap bzw.h – dieser Obergrenze stellen wir sicher,der Fraktionr Fraktionenäter nament-aus Europanicht mehr. Wlionen Tonnen– auf Deutscdass das im Kiotoprotokoll verankerte Ziel der Reduzie-
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Frank Schwaberung um 21 Prozent von 1990 bis 2012 erreichbar ist undmöglicherweise sogar übererfüllt wird.Während der langen Diskussionszeit entstand hin-sichtlich dieses Gesetzes eine Lernkurve – Bundesminis-ter Gabriel hat das immer wieder deutlich gemacht –:Dass während dieser Zeit das Thema Klimaschutz in derBedeutung für die Menschen in unserem Land von Platzzehn auf Platz eins geschnellt ist, hat natürlich auch ge-holfen, den Emissionshandel besser zu machen.Am Ende liegt uns jetzt ein Gesetz vor, mit dem imGegensatz zur ersten Periode eine CO2-Senkung vonrund 57 Millionen Tonnen vorgesehen ist. Uns liegt einGesetz vor, das aufgrund der Abschmelzung von 58 Re-gelkombinationen und der Einführung von Benchmarksdeutlich transparenter und einfacher ist. Uns liegt einGesetz vor, durch das mit den Industrieunternehmen die-jenigen kaum belastet werden, die im harten internatio-nalen Wettbewerb stehen, und durch das mit den Unter-nehmen der Energiewirtschaft diejenigen sehr wohlbelastet werden, die hohe Einsparpotenziale haben undeinem Wettbewerb kaum ausgesetzt sind.Mit dem Emissionshandel in der zweiten Periodewird genau das getan, was getan werden muss. Manchewundern sich vielleicht darüber. Es werden Anreize zurReduzierung von CO2-Emissionen gesetzt. Je wenigerCO2-Ausstoß, desto besser. Vor allem wird der Anreizgesetzt, neue und effizientere Kraftwerke zu bauen.Richtig ist, dass wir massiv in Energieeffizienz underneuerbare Energien investieren müssen mit dem Zieldes vollständigen Ersatzes fossiler Energieträger in Zu-kunft. Dieses Ziel wird allerdings weder heute nochmorgen erreicht. Wir müssen aber eine Antwort auf dieFrage geben, wo wir morgen die Energie herbekommenwerden. Deshalb werden für eine Übergangszeit auchfossile Energieträger genutzt werden müssen. Das giltausdrücklich auch für die Braunkohle. Auch wenn eskeinen gesonderten Benchmark gibt, kenne ich keine se-riöse Untersuchung, die die Wettbewerbsfähigkeit derheimischen Braunkohle in der Emissionshandelsperiode2008 bis 2012 infrage stellt.Die Gewinnmargen – sie waren in den letzten Jahrenexorbitant hoch – der Unternehmen, die den klimaschäd-lichsten Energieträger verstromen, werden sicherlichkleiner werden. Dieses Preissignal liegt aber durchaus inder Logik des Emissionshandels, der im Kern ein Klima-schutzinstrument ist.Strukturbrüche sowohl in den Braunkohleregionen alsauch im Bereich der Energiesicherheit wollen wir abervermeiden. Das gelingt mit dem Gesetzentwurf. Für dieZukunft nach 2012 bedeutet das aber, dass die Technik derAbscheidung und Lagerung von CO2 – CCS genannt –sehr schnell erfolgreich sein muss. Andernfalls würde dieBraunkohle bei einem notwendigerweise weiter anstei-genden CO2-Preis zwangsläufig in eine schwierige Si-tuation geraten. Das geschieht aber in der Emissionshan-delsperiode 2008 bis 2012 ausdrücklich nicht.Ich will das nicht zu sehr zuspitzen, damit noch Spiel-räume bleiben. Aber diejenigen in den Ländern, die sichmit dem Emissionshandel anscheinend nur sehr bedingtauskennen – mein Heimatland NRW macht sich dabeileider besonders bemerkbar –, sollten das Zündeln las-sen. Das Lobbying mancher Landesregierung für zweinicht gerade vor der Pleite stehende Unternehmen inDeutschland droht dann, wenn der Zeitplan für denEmissionshandel in Verzug gerät, zu einem Hindernisfür andere viele Hundert Unternehmen zu werden.Ich kann nur dringend zur Besinnung und sofortigenEinkehr raten. Der Gesetzentwurf steht. Weitere Verzö-gerungen auf Länderseite werden nichts ändern; sie wer-den nur Unsicherheiten für die Unternehmen mit sichbringen, die ab 1. Januar des kommenden Jahres Klar-heit darüber erwarten dürfen, wie viele Zertifikate ihnenzur Verfügung stehen.
Ein Highlight des Emissionshandels ist die Veräuße-rung von fast 10 Prozent der Zertifikate, zunächst imWege des Verkaufs, dann im Wege der Versteigerung.Mit dieser Maßnahme, die in langen und umfänglichenDiskussionen letztlich durch die Arbeit im Parlament zu-stande gekommen ist, setzen wir uns an die europäischeSpitze. Damit überrunden wir Großbritannien, wo7 Prozent der Emissionsrechte öffentlich versteigert wer-den, und geben ein starkes Signal für eine umfassendeeuropäische Versteigerung nach 2012.Es ist richtig, dass die Einnahmen im Hause des Bun-desumweltministers veranschlagt und für Klimaschutz-maßnahmen vorgesehen werden. Die Reaktionen derEnergiewirtschaft dazu sind unterirdisch. Wer jetzt einenhöheren Strompreis ankündigt, der versucht, die Men-schen zu „vereimern“, wie wir im Ruhrgebiet sagen wür-den.Tatsache ist, dass aufgrund der Situation mangelndenWettbewerbs die Kundinnen und Kunden schon jetzt dieZeche für die den Stromkonzernen kostenlos zugeteiltenZertifikate gezahlt haben. Falls die Preise trotzdem er-höht werden, kann man in einem solchen Fall von Volks-verdummung – das lässt sich nicht anders bezeichnen –nur auffordern, den Stromversorger zu wechseln, undzwar am besten zu einem Ökostromanbieter.
Abschließend habe ich noch eine Bitte an den Koali-tionspartner. Das kann ich Ihnen leider nicht ersparen.Klären Sie mit Ihrer Bundeskanzlerin
– sie ist gerade auf Reisen – Ihre gemeinsame Haltungzum Klimaschutz. Ich will nicht verhehlen, dass wir inder SPD-Fraktion um den richtigen Weg zu einer ausge-wogenen Haltung gegenüber Klimaschutz und Wettbe-werbsfähigkeit ringen. Was Sie angeht, habe ich aller-dings den Eindruck, dass das nicht geklärt ist und dassSie es auch nicht klären wollen. Es gibt nämlich eineneklatanten Widerspruch zwischen den großen Wortender Bundeskanzlerin und der Glos’schen Union, die beijeder Art von Klimaschutz auf der Bremse steht und je-dem Lobbyinteresse nachgeben will.
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Frank SchwabeIch will uns die Einzelheiten aus unseren Gesprächenersparen – das gehört auch nicht hierher – und nur nocheinen Punkt ansprechen: Der Gesetzentwurf trägt vor al-lem die Handschrift der SPD, und das ist auch gut so.
Bitte klären Sie das, weil es in den nächsten Monatenweitere wichtige Gesetzentwürfe zum Klimaschutz ge-ben wird.Die Opposition fordere ich auf: Üben Sie Kritik, abertun Sie das bitte differenziert, wie es dem Gesetzentwurfgerecht wird! In den wesentlichen Punkten wie demCap, der Versteigerung
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
– ja – und der Ablehnung eines eigenen Braunkohle-
benchmarks gibt es eine große Übereinstimmung. Es
wäre schön, wenn Sie das neben Ihrer Kritik entspre-
chend würdigen würden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und dafür,
dass der Gesetzentwurf durch die namentliche Abstim-
mung die ihm gebührende Aufmerksamkeit bekommen
wird.
Vielen Dank.
Herr Kollege, der Hinweis auf die namentliche Ab-
stimmung ist technisch zutreffend. Wir sollten aber den
Eindruck vermeiden, dass sich die Relevanz eines Geset-
zes ernsthaft nur daran testen ließe, ob es den krönenden
Abschluss einer namentlichen Abstimmung erfährt.
Das Wort erhält nun der Kollegen Michael Kauch für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Libe-rale sind der Überzeugung, dass der Emissionshandeldas kostengünstigste Klimaschutzinstrument ist, undzwar dann, wenn wir die Rahmenbedingungen richtigsetzen.
Was die Emissionsbegrenzung angeht – da hat derKollege Schwabe recht –, ist ein Fortschritt gegenüberder letzten Handelsperiode festzustellen. Dieser Fort-schritt ist aber kein Resultat der Politik des Umwelt-ministers; das hat einzig und allein die EuropäischeKommission gegen die Bundesregierung durchgesetzt.
ren! Nicht so schüchtern!)Außerdem gibt es einen schweren Fehler im Detail.Die Experten in der Ausschussanhörung waren sehr ein-hellig der Meinung, dass die Reserve für Neuanlagenviel zu niedrig ist. Sie reicht nämlich gerade einmal fürdie zusätzlichen Kohle- und Gaskraftwerke, die IhrAtomausstieg erforderlich macht. Wirtschaftswachstumist schlichtweg nicht vorgesehen. Wenn Sie verantwortli-che Politik machen wollen, dann müssen Sie entwederdie Reserve erhöhen oder – besser noch – die Laufzeitender Kernkraftwerke verlängern. Dann haben Sie mehrSpielraum für Emissionsminderungen.
Kommen wir zum Streit um die Kohle. Da sage ichzunächst ganz klar: Wenn man, wie die Grünen bzw. wieFrau Künast es letztens gefordert hat, parallel zumAtomausstieg auch noch aus der Kohle aussteigenwürde, hätte das die Konsequenz, dass wir noch abhän-giger vom russischen Erdgas würden. Das können Siewollen – wir wollen das nicht.
Wir meinen, wir brauchen auf mittlere Sicht auch nochKohlekraftwerke in Deutschland.Eines ist auch klar: Die Kohle wird nur dann eine Zu-kunft in Deutschland haben, wenn wir auf Kohlekraft-werke umsteigen, die CO2 abscheiden und einlagern,statt es in die Luft abzugeben. Diese Kraftwerke werdenniemals eine Chance haben, wenn wir die Kohlekraft-werke mit alter Technologie auch nach 2012 weiter mitEmissionsrechten nach Bedarf ausstatten. Das muss sichin der nächsten Handelsperiode ändern.Wir dürfen den fossilen Kraftwerkspark nicht aufDauer festschreiben. Wir dürfen aber auch keine kurz-fristigen Verwerfungen verursachen. Deshalb wäre eineinheitlicher Benchmark für Gas- und Kohlekraftwerkezum jetzigen Zeitpunkt das falsche Signal, weil es dieVersorgungssicherheit riskieren würde.Die Versorgungssicherheit ist aber kein Argument da-für, die Braunkohle dauerhaft gegenüber der Steinkohlezu bevorzugen. Das kann man mit der Versorgungssi-cherheit nicht begründen.
Die Kohle bekommt schon doppelt so viele Zertifikatewie Gaskraftwerke, und die Braunkohle durch die Hin-tertür noch einen Zuschlag. Das ist schon zu viel, nichtzu wenig; denn je mehr Emissionsrechte wir den Braun-kohlekraftwerken schenken, desto mehr müssen wir beianderen Anlagen einsparen, weil sich das Volumen nichterhöht. Da muss ich ganz klar sagen: Wir können nichtdie Energieversorger, die mit dem Emissionshandel derletzten Periode Milliardengewinne erzielt haben, besser-stellen zulasten von Industrieunternehmen, die im inter-nationalen Wettbewerb stehen.
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Michael KauchAls jemand, der aus Nordrhein-Westfalen kommt,sage ich: Auch regionalpolitisch dürfen wir nicht blauäu-gig sein. Was ich dem Braunkohlekraftwerk der RWE imRheinland zusätzlich schenke, muss ich dem Steinkohle-kraftwerk der Eon in Gelsenkirchen oder dem Chemie-park in Marl wegnehmen. Ich würde mir wünschen, dassauch das in der Diskussion eine Rolle spielt.
Auch sonst sollten wir den Stromkonzernen nicht aufden Leim gehen. Eine Zuteilung von 10 Prozent unterBedarf wird nicht dazu führen, dass man die Investitio-nen, die man in den Braunkohleregionen getätigt hat,jetzt einfach in die Tonne kloppt. Da wird natürlich wei-ter produziert.
Deshalb ist nicht Angst, sondern Innovation das Gebotder Stunde.Der Emissionshandel braucht mehr Markt. Er braucht– das habe ich gerade in den letzten Tagen erfahren – we-niger Lobbyismus. Es gibt einen Kampf der Lobbyistenum die Emissionsrechte; jedes Unternehmen, jede Bran-che zerrt an der Politik, um möglichst viel vom Kuchengeschenkt zu bekommen.
Dann geschieht nur eines: Die vier Stromkonzerne ma-chen sich zulasten der Verbraucher die Taschen voll.Deshalb müssen wir zu einer Versteigerung der Emis-sionsrechte kommen.
Wir begrüßen, dass die Bundesregierung nach mona-telangem Widerstand hier endlich der Forderung derFDP gefolgt ist. Was wir aber gar nicht begrüßen, ist dieVerwendung der Versteigerungserlöse. Der Bundesum-weltminister, der monatelang im Plenum das Blaue vomHimmel versprochen und uns erzählt hat, was allesSchlimmes passiere, wenn die Versteigerung komme,sackt nun die Versteigerungserlöse ein. Klar ist nur, dasser sie bekommt. Aber was damit gemacht wird, hat dieKoalition nicht entschieden. Der Verteilungskampf be-ginnt bei den Haushaltsberatungen erneut.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir heute Mit-tag auf Initiative der Entwicklungspolitiker eine Debatteüber den Klimaschutz in den Entwicklungsländern füh-ren. Sie haben festgelegt, dass der Bundesumweltminis-ter das Geld bekommt. Aber der Antrag der Koalitionzum Klimaschutz in den Entwicklungsländern enthältdie Forderung, dass die Mittel aus dem Versteigerungs-erlös auch in den Entwicklungsländern investiert werdensollen. Was denn nun? Wer soll das Geld erhalten: derUmweltminister oder Frau Wieczorek-Zeul? Sie wissennicht, was Sie wollen. Die rechte Hand weiß nicht, wasdie linke Hand tut. Das ist typisch für die Koalition indiesen Tagen.
Die FDP setzt dieser Basarpolitik eine klare Forde-rung entgegen. Geben Sie das Geld aus dem Versteige-rungserlös denjenigen zurück, denen es gehört: den Ver-braucherinnen und Verbrauchern in diesem Lande, dieden Emissionshandel mit der Einpreisung der verschenk-ten Zertifikate in der Vergangenheit bereits bezahlt ha-ben! Denn mit dem Erlös könnte die Stromsteuer ge-senkt werden, und damit könnten auch die Strompreisesinken, nicht steigen. Das Geld gehört nicht dem Finanz-minister und erst recht nicht dem Umweltminister, son-dern den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Katherina Reiche,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirberaten heute mit dem Entwurf eines Zuteilungsgesetzesdas zentrale klimapolitische Vorhaben der Bundesregie-rung. Schauen wir einmal zurück, was wir vorgefundenhaben. Was hat Rot-Grün damals beschlossen? Es wur-den – dafür ist Herr Trittin verantwortlich – zu vieleEmissionszertifikate ausgegeben. Das heißt, die Unter-nehmen haben in der ersten Handelsperiode sehr vielmehr Zertifikate erhalten, als sie benötigen. Die Konse-quenzen sind heute an der Börse sichtbar: Emissionszer-tifikate haben derzeit einen Wert von rund 10 Cent. DerHandel ist faktisch tot.Sie haben die Zuteilungsregeln bürokratisch, kompli-ziert und unübersichtlich gestaltet. Sie haben 58 verschie-dene Regelkombinationen geschaffen. Eine Vielzahl vonAusnahmeregelungen verhinderte Modernisierungsan-reize. Die Regelung, wonach schon damals 5 Prozent derZertifikate hätten versteigert werden können, ließen Sieungenutzt. Nun wollen Sie es besser wissen. Das halte ichfür scheinheilig. Ich glaube, dass Sie dieser Regierungund der Bundeskanzlerin den Erfolg beim Klimaschutznicht gönnen. In zwei Jahren dieser Koalition ist beimKlimaschutz mehr passiert als in sieben Jahren Rot-Grün.
Als Fazit kann man festhalten, dass der grüne Emis-sionshandel nicht funktioniert hat. Stattdessen hat erdazu geführt, dass die Stromversorger die Strompreisedurch die Einpreisung der kostenlos zugeteilten Emis-sionszertifikate in die Höhe getrieben haben und soge-nannte Windfall-Profits erzielt wurden. Die Stromver-braucher wurden in Milliardenhöhe zur Kasse gebeten.Wir haben uns vorgenommen, hier Änderungen vorzu-nehmen. Deshalb haben wir das System vereinfacht. Wirhaben Ausnahmeregelungen gestrichen und die Transpa-renz des Systems erhöht. Wir haben zudem die Gesamt-
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Katherina Reiche
menge, die zur Verfügung steht, um 57 Millionen Ton-nen pro Jahr deutlich reduziert und kommen damit demKiotoziel ein ganzes Stück näher. Außerdem sorgtMichael Glos mit der GWB-Novelle für mehr Wettbe-werb auf dem Strommarkt. Auch das ist ein Fortschrittfür unser Land.Darüber hinaus haben wir Wort gehalten, indem wirder im Koalitionsvertrag enthaltenen Verpflichtungnachgekommen sind, Windfall-Profits bei den Stromer-zeugern zumindest teilweise zu verhindern.Deshalb haben wir in den Verhandlungen festgelegt,dass ab 2008 pro Jahr 40 Millionen Tonnen des Emis-sionsbudgets zunächst zum Marktwert an der Börse ver-kauft und dass spätestens ab 2010 die Zertifikate verstei-gert werden. Auch das ist ein wichtiger Schritt, um dieEffizienz des Systems zu verbessern.Die Emissionszertifikate für die Veräußerung werdenausschließlich von den Stromerzeugern erbracht. DieIndustrie ist hiervon ausgenommen. Auch das hat einenGrund: Die Stromerzeuger können den Wert der Zertifi-kate recht einfach abwälzen. Aber eine Glasfabrik fürSpezialglas kann nicht einfach die Preise für ihre Pro-dukte erhöhen. Diesem Umstand haben wir Rechnunggetragen. Einige Stromversorger haben bereits angekün-digt, als Folge der Veräußerung die Strompreise zu erhö-hen. Ich halte das für eine etwas unglückliche Politik.
Ich möchte festhalten, dass der überwiegende Teil derZertifikate nach wie vor kostenlos zugeteilt wird. Nurder geringere Teil muss ersteigert werden. Ich glaube,dass das eine richtige Entscheidung war.Inzwischen überschlagen sich die Vorschläge, wiediese Mittel verwendet werden sollen. Herr Bundesmi-nister, Sie haben vorgeschlagen, diese Mittel für Klima-schutzmaßnahmen zu verwenden. Ich persönlich habedurchaus Sympathie für diesen Vorschlag. Allerdingshätte ich mir schon gewünscht, dass Sie deutlich ge-macht hätten, dass es die Parlamentarier der Koalitions-fraktionen waren, die diese Entscheidung zur Veräuße-rung getroffen haben. Es ist noch gar nicht so lange her– ich kann mich gut daran erinnern –, dass Sie Ihre Sym-pathie für den jetzt gefundenen Kompromiss zumindestnicht besonders deutlich haben erkennen lassen. Ichfreue mich, dass Sie Ihre Meinung geändert haben. Al-lerdings hätte ich es als fair empfunden, wenn Sie er-wähnt hätten, wer Sie dazu gebracht hat.Herr Kauch, im Gesetz ist nicht festgeschrieben, dassder Bundesumweltminister das Geld erhält und darüberverfügen kann. Im Gesetz steht ganz klar, dass währendder Haushaltsverhandlungen über die Verteilung desGeldes gesprochen wird. Wir haben uns eindeutig gegenVorfestlegungen ausgesprochen, und wir werden an derVerordnung mitwirken, in der festgelegt wird, wie derEmissionshandel im Detail gestaltet wird. Dieses wich-tige Recht des Parlamentes haben wir hier gewahrt.
Uns ist es gelungen, ein Mittelstandspaket zu verab-schieden, von dem ich nur einige Punkte nennen möchte.Wir haben die spezifische Härtefallregelung für mittel-ständische Unternehmen verbessert. Die Schwelle istvon 5 Millionen auf 8 Millionen Tonnen angehobenworden. Dies hilft insbesondere der Zement-, Kalk- undGlasindustrie. Die unterstellten Betriebsstunden bei derGlasindustrie sind erhöht worden, ebenso die für Anla-gen zur Herstellung von Propylen und Ethylen. Auch beiKraft-Wärme-Kopplungsanlagen zur Herstellung vonBioethanol werden die Betriebsstunden erhöht. Die Un-ternehmen erhalten somit mehr Zertifikate. Durch dieseMaßnahmen haben wir den Mittelstand bessergestellt.Ich finde, das ist ein Erfolg.Darüber hinaus haben wir die Anrechenbarkeit vonEmissionsminderungen im Ausland im Rahmen vonCDM und JI von 20 auf 22 Prozent erhöht. Was heißt dasganz konkret? Baut beispielsweise ein Unternehmen ei-nen Windpark in Brasilien, kann es sich die erzieltenEmissionsminderungen hier anrechnen lassen. Das isteine klassische Win-win-Situation: für das Unternehmenund auch für die Entwicklungs- und Schwellenländer.Ich möchte zum Abschluss noch ein paar Worte zumThema Braunkohle verlieren. Herr Schwabe, es wärefair gewesen, wenn Sie gesagt hätten, dass es auch in Ih-rer Fraktion unterschiedliche Auffassungen zu diesemThema gibt. Wir von der Unionsfraktion sind der Mei-nung, dass die Braunkohle als heimischer und unsubven-tionierter Energieträger einen ganz wichtigen Beitrag zurVersorgungssicherheit in unserem Land leistet. Wir mei-nen, dass Versorgungssicherheit und Klimaschutz zu-sammengehören und nicht getrennt voneinander betrach-tet werden können.
Nun ist es so, dass sich unsere Auffassung im Gesetznicht wiederfindet. Deshalb haben einige Abgeordneteaus Nordrhein-Westfalen und auch aus den neuen Län-dern ihre Bedenken hinsichtlich dieses Kompromissesangemeldet. Ich finde das in Ordnung.Peinlich finde ich allerdings, was die Grünen jetzt ab-ziehen. Denn sie haben in der ersten Handelsperiode mitder Übertragungsregel von 14 plus vier Jahren eine Re-gelung geschaffen, die die Neuinvestitionen in Braun-kohlekraftwerke massiv bevorzugt hat. Den Kollegenaus den Braunkohleländern geht es jetzt nicht um eineBevorzugung, sondern um die Gleichbehandlung derBraunkohle und um faire Wettbewerbsbedingungen. Daszu erwähnen, gehört auch zur Ehrlichkeit in der Diskus-sion.Auch die FDP-Bundestagsfraktion verhält sich an derStelle nicht besser, Herr Kauch. Denn während sich dieCDU/FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen ganz klarfür Verbesserungen bei der Braunkohle einsetzt, habenSie in einer dpa-Meldung erklärt, dass Braunkohlekraft-werke bevorteilt seien. Ich bin gespannt, wie Sie das Ih-ren nordrhein-westfälischen Kollegen erklären wollen.Es ist uns gelungen, beim Zuteilungsgesetz viele Ver-besserungen zu erreichen und einen tragbaren Kompro-miss zu finden. In der nächsten Handelsperiode wird im
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Katherina Reiche
Vergleich zur ersten der Emissionshandel einfacher, un-bürokratischer, transparenter und effizienter werden. Wirwerden deshalb dem Gesetzentwurf zustimmen.
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter ist die nächste
Rednerin für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Minister! Heute stimmen wir überdas zentrale Klimaschutzinstrument Deutschlands ab.Wir entscheiden, wie der Emissionshandel bis zumJahr 2012 ausgestaltet werden soll. Nun meinen viele,nach der Intervention der EU-Kommission habe sich dasZuteilungsgesetz entscheidend verbessert. Nach der völ-lig verbockten ersten Handelsperiode werde das Han-delssystem nun endlich den Klimaschutz vorantreiben,weil die Menge an Emissionsrechten deutlich abgesenktwird. Andere wiederum sind der Auffassung, der Emis-sionshandel stecke nach wie vor in einer Sackgasse. Diegewünschten Lenkungswirkungen seien Illusion.Vielleicht sollten wir uns hier die Frage vorlegen, wasein solches Handelssystem eigentlich leisten kann. Inder Idealwelt soll das System zweierlei garantieren, zumeinen die Einhaltung eines festgesetzten Klimaziels, weiles feste Emissionsobergrenzen hat, zum anderen effi-zienten Klimaschutz, weil über den Markt preiswerteMöglichkeiten zur CO2-Einsparung gesucht werden.Schöne heile Welt. Doch die Weisheiten der Volkswirtehaben Tücken. Zunächst einmal hat der Emissionshandelkurzfristige und langfristige Wirkungen; kurzfristig, weildas vorliegende Gesetz den CO2-Ausstoß tatsächlich in-nerhalb der nächsten Handelsperiode mindern könnte.Die Reduktion um 453 Millionen Tonnen liegt auf demPfad des deutschen Kiotoziels. Natürlich gibt es auchSchlupflöcher. Dazu komme ich später.Prinzipiell kann die abgesenkte Obergrenze dazubeitragen, Einspar- und Modernisierungspotenziale imKraftwerksbestand zu heben. Zum Beispiel könnten dieVersorger ihre Gaskraftwerke zulasten der Kohlekraft-werke öfter hochfahren als bislang. Aber werden sie des-halb auch beim Ersatz von Kraftwerken, also beim Bauvon neuen Anlagen, auf Gasturbinen oder anderes setzenoder doch eher auf CO2-Schleudern, also auf neue Koh-lemeiler? Wir denken – das ist der eigentliche Skandal –,beim Kraftwerksneubau sind alle Weichen in Richtungklimaschädlicher Kohle gestellt. In Bayern investierensogar Stadtwerke in Kohlekraftwerke. Ich würde mir et-was anderes wünschen. Man sieht, dass hier Profite zumachen sind.Vielleicht haben noch nicht alle, die das Zuteilungs-gesetz heute feiern, begriffen: Bei langfristigen Inves-titionsberechnungen spielt es für die Entscheidung,welches Kraftwerk gebaut wird, eine zentrale Rolle, obich als Investor die Zertifikate künftig geschenkt be-komme oder ob ich sie ersteigern muss. Genau hier hatdie Bundesregierung falsche Zeichen gesetzt. Sie hat er-neut das CO2-Preissignal ausgeschaltet, indem 91 Pro-zent der wertvollen Zertifikate umsonst vergeben wer-den.
Zwar ist die weitgehend kostenlose Vergabe durch dieEmissionshandelsrichtlinie von der EU vorgeschrieben– das gestehe ich Ihnen doch zu –, aber was haben Siedenn im Vorfeld in der EU gemacht? Sie haben doch mitdafür gesorgt, dass sie nicht versteigert werden.
Dass die wertvollen Emissionsrechte verschenkt wer-den, wirkt doppelt verheerend. Weil die Versorger denMarktpreis der Zertifikate auf den Strompreis umschla-gen – das haben bis jetzt alle Parteien bestätigt –, reali-sieren sie diese Sonderprofite. Im Tagesgeschäft werdenso insbesondere die Kriegskassen der großen Stromkon-zerne zulasten des Bundeshaushalts und der Verbrauche-rinnen und Verbraucher gefüllt. Im Rahmen von Neuin-vestitionen sorgen diese Subventionen dafür, dass dieLenkungswirkung des Emissionshandels weitgehendverpufft, wenn es darum geht, zu entscheiden, ob emis-sionsarme Gas- oder CO2-intensive Kohlekraftwerke ge-baut werden. So ist es.Es ist etwas bizarr: Die EU-Kommission hat dafür ge-sorgt, dass der deutsche Zuteilungsplan deutlich verbes-sert wurde, etwa durch ein deutlich niedrigeres Cap unddurch das Verbot, neue Kraftwerke 14 Jahre lang von al-len Minderungspflichten zu befreien. Gleichzeitig voll-zieht die europäische Politik mit der vorgeschriebenenkostenlosen Vergabe von Zertifikaten beim Emissions-handel aber exakt das Gegenteil von dem, was sie angeb-lich bezwecken will. Statt einen Umbau des Kraftwerks-parks zu befördern, der auf emissionsärmere Brennstoffesetzt, werden bestehende Strukturen zementiert und sogarfür die Zukunft festgeschrieben. Statt die Macht der gro-ßen Energieversorger zurückzudrängen, werden Lob-byinteressen bedient und die Bürgerinnen und Bürger ab-gezockt.
Jetzt kommt die differenzierte Kritik, die Sie sich vonmir gewünscht haben, zum Thema Windfall-Profits. Icherwarte von der Koalition, dass sie hier endlich etwastut. Ich werde es Ihnen in dieser Legislaturperiode nochöfter sagen: Wir wollen die Profits abschöpfen. Wirbrauchen dieses Geld für den Haushalt; das wissen Sie.Wir können uns dann darüber streiten, wohin es fließensoll; das ist eine schöne Diskussion. Aber das Geld mussendlich abgeschöpft werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben dem zentra-len Problem der kostenlosen Zuteilung gibt es noch vieleEinzelregelungen, die gegen den Klimaschutz wirken:
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Juni 2007 10911
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Eva Bulling-SchröterErstens. Der Gesetzentwurf garantiert Neuanlagenweiterhin nahezu eine Vollausstattung mit Zertifikaten.Zweitens. Unterschiedliche Zuteilungsmaßstäbe fürKohle und Gas anstelle eines einheitlichen Standardsmachen den Brennstoffwechsel unattraktiv.Drittens. Das Sahnehäubchen für die Braunkohledurch die zugrunde gelegten längeren Betriebszeitenschützt ausgerechnet den klimaschädlichsten Brennstoff.Viertens ist schließlich die Neuanlagenreserve nurhalb so hoch, wie sie sein müsste. Deutschland wird ge-zwungen sein, schon jetzt auf zukünftige Emissions-rechte zurückzugreifen. Das berührt das Thema Genera-tionengerechtigkeit. Auch das müssen wir in diesemZusammenhang diskutieren.Insgesamt bewirkt die Bundesregierung mit diesenRegelungen zum Emissionshandel nicht mehr, als wennes überhaupt keinen Emissionshandel gäbe. Das warauch Tenor der Anhörung im Umweltausschuss; bitte er-innern Sie sich noch einmal. Nun werden Sie vielleichteinwenden, es gebe ja noch die feste Obergrenze von453 Millionen Tonnen. Etwaige Fehler im System wür-den durch diesen Deckel aufgefangen. Das Cap zwingedie Firmen letztlich zur CO2-Einsparung; das sei dasElegante am Emissionshandel. Dazu kann ich nur sagen:Schön wär’s. Der Deckel hat nämlich ein Ventil bzw. einLoch so groß wie ein Scheunentor. Die Hintertür nenntsich „flexible Mechanismen“.Nunmehr 22 Prozent der Zuteilungsmenge – daswurde schon gelobt – sollen in Deutschland über die In-strumente CDM oder JI, also über preiswerte Klima-schutzinvestitionen im Ausland abgerechnet werdenkönnen. 22 Prozent entsprechen 90 Millionen Tonnen.Während der Handelsperiode kann also ein ganzes Jah-resbudget an Emissionsrechten von außen kommen. Dasentspricht ungefähr dem Dreifachen der eigentlichenEinsparverpflichtung. Die Unternehmen können inDeutschland also ihren Ausstoß an Treibhausgasen sogardeutlich ausweiten, wenn sie dafür Emissionsgutschrif-ten aus Projekten im Süden beibringen. Das alles wärezumindest aus Sicht des Klimaschutzes dann kein Pro-blem, wenn alle CDM-Projekte in Asien und Südame-rika tatsächlich zu weiterem Klimaschutz gegenüberdem Status quo beitragen würden. Aber dem ist offen-sichtlich nicht so, wie Studien beweisen: Untersuchun-gen des bedeutenden und renommierten CDM-Gutach-ters Michaelowa besagen, dass bei jedem zweiten bei derUN registrierten CDM-Projekt in Indien nicht nachge-wiesen werden kann, dass Treibhausgase zusätzlich re-duziert werden.Auch in China gibt es Unregelmäßigkeiten, insbeson-dere in Form von manipulierten CDM-Bilanzen beiWasserkraftwerken.Michaelowa ist einer der härtesten Verteidiger dieserprojektbezogenen Mechanismen. Er ist kein Linker, son-dern ein Marktwirtschaftler aus Fleisch und Blut, HerrSchwabe. Er ist zugleich einer der intelligentesten Be-fürworter. Deshalb schaut er so genau hin und nicht weg.Kommen nämlich solche CDM-Zertifikate nach Europa,wird die ökologische Integration des gesamten Emis-sionshandelssystems untergraben. Die Konsequenz wäredas Ende dieses Instruments. Das wollen Sie doch allenicht; schließlich sind Sie sehr für dieses Instrument.Deutschland erhöht nun also den Nachfragedruck aufZertifikate aus CDM-Projekten enorm. Man muss keinProphet oder keine Prophetin sein, um zu erahnen, dassder Missbrauch des CDMs dadurch noch zunehmenwird. Unter dem Strich werden dann global mehr Klima-gase ausgestoßen; das wollen wir nicht.Der Kohlenstoffhandel in allen seinen Facetten isthöchst kompliziert; er ist ein kaum zu überblickenderMoloch. Analysiert man ihn sorgfältig und Schritt fürSchritt, kommt eine Menge Unfassbares zutage. In sei-ner gegenwärtigen Ausgestaltung läuft er dem Klima-schutz genauso wie der Gerechtigkeit zuwider. Vielleichtwäre er reformierbar. Dafür müsste man aber die Zertifi-kate zu 100 Prozent versteigern, Windfall-Profits besteu-ern, –
Frau Kollegin!
– ich komme gleich zum Ende –
Nein, sofort!
– die Einnahmen des Staates aus dem Emissionshan-
del für die soziale Abfederung der Energiewende ver-
wenden sowie die Anrechnung von CDM-Gutschriften
deutlich beschränken. Dazu haben wir einen entspre-
chenden Entschließungsantrag eingebracht.
Im Übrigen werden wir den Gesetzentwurf ablehnen.
Danke.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen ReinhardLoske, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eskönnte sein, dass das heute meine letzte Rede als Abge-ordneter im Deutschen Bundestag ist. Ich möchte meineRede, was Ton und Inhalt angeht, deshalb aufteilen: Inder ersten Hälfte meiner Redezeit möchte ich eine Oppo-sitionsrede halten und in der zweiten Hälfte möchte ichden Blick in die Vergangenheit richten.Zunächst aber drei Vorbemerkungen:Erstens. Mir ist Folgendes aufgefallen: Wenn hier einSozialdemokrat redet, klatscht kein Christdemokrat bzw.
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10912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Juni 2007
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Dr. Reinhard LoskeChristsozialer. Wenn hier ein Christdemokrat oderChristsozialer redet, klatscht kein Sozialdemokrat.
Der Grad der Zerrüttung in Ihrer Koalition ist wirklichphänomenal. Das merkt man auch bei der Beratung die-ses Gesetzes.
Zweitens. Geschätzter Herr Kollege Schwabe, Sie ha-ben gesagt, die Opposition dürfe kritisieren – dankeschön! –, aber sie müsse differenziert kritisieren. Gleich-zeitig haben Sie darauf hingewiesen, dies sei ein im We-sentlichen sozialdemokratisches Gesetz. Bevor ich diffe-renzierte Kritik übe, möchte ich darauf hinweisen, dassman daran, wie freundlich Sie mit der Kohle umsprin-gen, in der Tat merkt, dass dies ein sozialdemokratischesGesetz ist.
Drittens. Frau Kollegin Reiche, ich bin seit 1998 Ab-geordneter des Bundestages. Ich weiß noch, wie IhreTruppen seinerzeit bei den Beratungen zum Emissions-handel, zur Ökosteuer, zum Erneuerbare-Energien-Ge-setz, zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz gezetert undden Niedergang der deutschen Industrie an die Wand ge-malt haben. Heute treten Sie hier als Ökologin par excel-lence auf. Das glaubt Ihnen doch kein Mensch. Das mussman doch wirklich einmal sagen, auch wenn man denBlick nicht zu oft zurückrichten sollte.
Jetzt möchte ich aber zur Sache kommen. Dieses Ge-setz hat mit dem, was die Bundesregierung vor ungefähreinem Jahr vorgelegt hat, kaum noch etwas zu tun, unddas ist wirklich auch gut so. Das, was jetzt vorgelegtwird, ist deutlich besser; aber es ist noch weit davon ent-fernt, wirklich gut zu sein.
Dieses Gesetz ist erstens besser, weil die EU-Kom-mission standhaft geblieben ist und weil sie nicht bereitwar, einen als Klimaschutzplan getarnten Plan zum Aus-bau von Kohlekraftwerken zu akzeptieren. Da kannman nur sagen: Danke schön, EU-Kommission, für dieseBeharrlichkeit.
Das war keineswegs selbstverständlich.Zweitens ist dieses Gesetz besser geworden, weil dieOpposition Druck ausgeübt hat und gute konstruktiveVorschläge gemacht hat.Drittens ist dieses Gesetz besser geworden, weil sichdie öffentliche Meinung in dieser Angelegenheit zuguns-ten des Klimaschutzes gedreht hat, nachdem die großenMonopolisten bei der Einpreisung schlicht und einfachüberzogen haben. So steht die Öffentlichkeit nun mehr-heitlich aufseiten derjenigen, die wirklich einen ambitio-nierten Klimaschutz wollen. Die Regierung musste abertrotzdem zum Jagen getragen werden. Das ist kein Ruh-mesblatt. Sie hat sich nämlich sehr lange gegen dieseEinsichten gesperrt.
Ich erinnere noch einmal daran, dass der SPD-Vorsit-zende Kurt Beck und der Wirtschaftsminister der Union,Herr Glos, ernsthaft erwogen haben, wegen ebendieserBeharrlichkeit der EU-Kommission in Sachen Klima-schutz vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen. Daswäre sehr peinlich geworden und hätte eine europapoliti-sche Isolierung nach sich gezogen. Gott sei Dank ist esso nicht gekommen. Aber gut war das nicht.
Zur Sache gehört auch, dass wir drei Kritikpunkteimmer deutlich hervorgehoben haben: Die Ziele sind zulasch, die Regelungen sind zu kohlefreundlich, und es istfalsch, die Möglichkeit zur Versteigerung von 10 Pro-zent der Zertifikate nicht zu nutzen. Wie ist der Gesetz-entwurf im Hinblick auf diese drei Punkte zu beurteilen?Erstens. „Die Ziele sind zu lasch“, haben wir gesagt.Der Auffassung war auch die Kommission. Das ist abge-räumt worden. Das ist gut. Daran gibt es kein Jota Kritikzu üben.Der zweite Punkt: Sind die Regelungen nach wie vorzu kohlefreundlich? Ich würde sagen: Ja, sie sind ein-deutig zu kohlefreundlich. Zu diesem Punkt komme ichgleich noch einmal gesondert.Der dritte Punkt, die bisherige Nichtnutzung der Ver-steigerungsmöglichkeit. Sie sehen das jetzt vor. Sie nut-zen die Möglichkeit, 10 Prozent der Zertifikate zu ver-steigern. Das ist ein passabler Vorschlag. Wie vieleandere Kollegen erinnere ich mich noch daran, wie derHerr Minister damals gegen unseren Vorschlag argu-mentiert hat. Er hat seine Meinung jetzt geändert. Das istgut. Vor allen Dingen ist es gut, weil die Monopolrendi-ten, die sogenannten Windfall-Profits, jetzt nicht mehrin vollem Umfang anfallen; sie werden abgeschöpft.Außerdem ist es gut, dass wir auf der Lernkurve wei-ter nach oben kommen, dass wir lernen, mit diesem In-strument besser umzugehen. Wir brauchen das Geld ausder Versteigerung auch für Maßnahmen zur Verbesse-rung der Energieeffizienz, damit wir bei der vergesse-nen Säule der Energiepolitik, nämlich der Einsparungauf der ganzen Breite, endlich vorankommen.Unser Ziel ist ganz klar: Wir wollen, dass ab 2013100 Prozent der Zertifikate versteigert werden, und zwarnicht nur deshalb, weil das ökologisch besser ist – diePreise bilden dann die ökologische Wahrheit ab –, son-dern auch deshalb, weil die derzeitige Zuteilungspraxisdem Lobbyismus Tür und Tor öffnet. Das kam schon zur
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Dr. Reinhard LoskeSprache. Auch das letzte Gesetz war zwar nicht ganzrund ausformuliert, aber es musste ja überhaupt erst ein-mal losgehen. Große Teile in der Union wollten das jagar nicht. Das Hauptproblem war jedoch dieses Einfalls-tor für Lobbyismus: Da brauchte dieses Stahlwerk nochetwas, da brauchte jenes Kraftwerk noch etwas. – Wennwir wirklich auf 100 Prozent Versteigerung umstellen,wird dem Lobbyismus die Tür verschlossen. Das ist ge-nau das, was wir brauchen. Deswegen sagen wir:100 Prozent Versteigerung.
Jetzt komme ich zu der Frage: Sind die Regelungenfür die Kohlekraftwerke zu kohlefreundlich? Ja, siesind eindeutig zu kohlefreundlich. Es gab bis jetzt dieRegelung, dass ein neues Kraftwerk 14 Jahre lang vonallen Minderungspflichten befreit ist. – Das hat dieKommission zu Recht mit der Begründung kassiert:Über 2012 hinaus dürfen keine Festlegungen getroffenwerden.Was machen Sie jetzt? Sie geben der Kohle – ausge-rechnet der Kohle, die besonders klimaschädlich ist –doppelt so viele Emissionsrechte wie dem Erdgas. Dasist klimapolitisch nicht zu verantworten,
zumal Sie obendrein noch versuchen, der Braunkohleüber die Betriebsstunden durch die Hintertür ein Extra-privileg zu verschaffen.Wenn man es zusammenfassen wollte, könnte mansagen: Es gibt in diesem Gesetz keinerlei Anreiz zumBrennstoffwechsel, also weg von kohlenstoffintensivenhin zu kohlenstoffarmen Brennstoffen. Sie knipsen bis2012 das Preissignal für CO2 bei Kraftwerksneubautenfaktisch aus. Das ist falsch.
Zu den Kohlekraftwerken ganz generell – das ist jaein Thema, das uns alle miteinander noch lange beschäf-tigen wird –: Herr Minister, Sie sagen immer, nicht alle44 Projekte, die in der Liste der Bundesnetzagentur ste-hen, würden realisiert; es seien maximal acht oder so ge-plant. Wir haben uns das einmal genau angeschaut. ImMoment wird tatsächlich überall geplant. Standortpla-nungen landauf, landab; Widerstand landauf, landab.Natürlich ist es besser, wenn ein Kohlekraftwerk bei-spielsweise statt heute etwa 38 Prozent in Zukunft44 Prozent Wirkungsgrad hat, aber das Problem ist, dassdiese Kohlekraftwerke dann 40, 45 Jahre laufen,
damit die Energieversorgungsstrukturen bis 2050 ze-mentieren und es den erneuerbaren Energien schwer ma-chen. Deshalb unsere starke Kritik an der Kohle.
Es fehlt mir jetzt die Zeit, im Detail auf CCS, dieKohlenstoffabscheidung, einzugehen. Aber zu dem,was Sie gesagt haben, Herr Kauch, will ich klarstellen:Ich bin überhaupt nicht gegen diese Technologie, aberwir können doch nicht bei unserer gesamten Planung fürdie nächsten 10 bis 15 Jahre – gerade jetzt, wo das Fens-ter der Möglichkeiten offen ist – darauf setzen, dass ir-gendwann diese Kohlenstoffabscheidetechnologie kom-men wird. Die Technologie ist im Moment nicht da. Dasist unser Problem. Es gibt im Moment keine CO2-freienKohlekraftwerke. Deswegen sehen wir mit äußersterSkepsis, dass dieses Fenster der Möglichkeiten jetzt mitKohlekraftwerken vollgestellt werden soll, die vielleichtirgendwann einmal in einer fernen Zukunft nachgerüstetwerden. Das passt nicht zusammen. Wir dürfen uns dieseKarotte nicht vorhalten lassen, sondern wir müssen aufder Grundlage dessen, was wir heute haben, entscheiden.
Es ist wichtig, noch einmal auf Folgendes hinzuwei-sen: Wir stehen energiepolitisch jetzt an einer Weg-scheide. Es geht nicht um die Frage, ob wir in Energie-erzeugung investieren, sondern es geht um die Frage,wie wir in Energieerzeugung investieren. Die Frage lau-tet: Investieren wir CO2-intensiv oder CO2-arm?Investieren wir eher zentral oder eher dezentral? In-vestieren wir eher kapitalintensiv oder eher beschäfti-gungsintensiv? Konkret gefragt: Wollen wir in Zukunftdie Nummer eins bei erneuerbaren Energien oder beiKohle sein? Wollen wir, dass in Zukunft in großen Koh-lekraftwerken mit 1 000 Megawatt Leistung, die mitImportkohle befeuert werden, noch 80 Arbeitsplätze zurVerfügung stehen, oder wollen wir über die ganze Breite– erneuerbare Energien, Energieeinsparung, Kraft-Wärme-Kopplung – Arbeitsplätze in Handwerk, Indus-trie, Landwirtschaft und im Dienstleistungsbereichschaffen? Das ist die Alternative.
Hier plädieren wir ganz klar für den beschäftigungs-intensiven Weg.Ich muss zum Schluss kommen und möchte nochzwei kurze Anmerkungen machen:Die Klimapolitik ist endlich im Zentrum angekom-men, da, wo sie hingehört. Das ist ganz wichtig. Klima-politik ist aber mehr als nur ökologische Industriepolitik.Technologisch liegt ein riesiges Feld der Möglichkeitenvor uns: zum Beispiel bessere Häuser, bessere Transport-systeme, bessere Geräte, bessere Anlagen. Hier mussman mit einer gewissen Technikfreude und mit einemgewissen Technikoptimismus herangehen.Klimaschutzpolitik gibt aber vor allen Dingen eineAntwort auf die Frage der Gerechtigkeit zwischen Nordund Süd, aber auch innerhalb unserer eigenen Gesell-schaft, und, auch wenn das nicht ganz so populär ist,bringt mit sich, dass man den eigenen Lebensstil hinter-fragt. An der Aufgabe, das rechte Maß zu finden, kom-men wir als einzelne und als Gesellschaft nicht vorbei.
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Dr. Reinhard LoskeIch persönlich glaube, eine Gesellschaft, deren Funktio-nieren nur auf einem Immer-mehr basiert, kann aufDauer nicht klimaverträglich sein.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Wenn es gutbzw. normal läuft, dann werde ich ab nächste WocheFreitag in einer anderen Tätigkeit sein und mein Bundes-tagsmandat im Sommer abgeben. Ich hatte hier fast neunsehr gute Jahre und habe mich in diesem wunderbarenGebäude sehr wohl gefühlt. Man hat sich mit den Kolle-gen gestritten, aber das gehört ja dazu.Ganz herzlichen Dank an alle für die gute Zusammen-arbeit. Es hat mir Spaß gemacht. Wir werden uns sicher-lich auf die eine oder andere Weise wieder begegnen;darauf freue ich mich.Schönen Dank.
Herr Kollege Loske, im Unterschied zu Ihrer Ein-
gangsbemerkung vermute ich, dass das nicht Ihre letzte
Rede vor dem Deutschen Bundestag war.
Es war möglicherweise Ihre letzte Rede als Mitglied des
Deutschen Bundestages. Für den Fall, dass es so kommt,
wie Sie erhoffen und viele vermuten, stelle ich Ihnen
schon jetzt meine persönlichen Glückwünsche und die
des Hauses für das neue Amt in Aussicht. Für die bislang
hier im Hause geleistete Arbeit möchte ich Ihnen ganz
herzlich danken; dies tue ich sicherlich auch im Namen
aller Mitglieder dieses Hauses. Alles Gute für die wei-
tere Arbeit.
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lieber Reinhard, auch ich persönlich wünsche dirviel Erfolg und Freude im neuen Amt. Ich werde dichhier in den Debatten vermissen. Wir haben viele Dingegemeinsam gemacht, aber auch unterschiedliche Positio-nen vertreten. Zu der unterschiedlichen Position gehört– ich muss ja zum Thema finden –, dass ich glaube, dassder heute vorliegende Gesetzentwurf zum Emissions-handel gut für den Klimaschutz in Deutschland und gutfür den Klimaschutz in Europa ist.
Viele andere Mitgliedstaaten schauen im Augenblickdarauf, ob Deutschland wirklich die Emissionsberechti-gungen auktionieren, ob Deutschland wirklich dieStromkonzerne härter rannehmen wird. Alle Anzeichenweisen darauf hin, dass weitere Staaten in den nächstenTagen ebenfalls zur Auktion übergehen werden und da-mit ein klares Signal dafür setzen, dass ab 2013 dieEmissionsrechte vollständig versteigert werden.Mit dem Zuteilungsgesetz für die Zeit bis 2012 wirdder Emissionshandel endlich zu einem wirksamen In-strument für den Klimaschutz. Darin sind wir uns einig.Ich erinnere mich, dass das ein bisschen anders bei derDebatte über die erste Emissionshandelsperiode war. Diedamalige Opposition, bestehend aus unserem heutigenKoalitionspartner und der FDP, hat da gesagt: Das, wasihr dort hineinschreibt, ist viel zu ambitioniert. Ihr dürftden deutschen Unternehmen nicht so viele Zertifikatewegnehmen. Heute zu sagen, wir täten zu wenig, ohnedaran zu erinnern, dass man früher einmal etwas völliganderes gesagt hat, ist nicht ganz ehrlich. Herr Kauch,ich weiß, dass Sie persönlich anderer Meinung sind; aberIhre Partei wechselt an dieser Stelle die Meinung wie dasChamäleon die Farbe.
Wir werden in der neuen Emissionshandelsperiode50 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr einsparen. Alte Koh-lekraftwerke müssen bereits 50 Prozent und mehr derbenötigten Emissionsberechtigungen kaufen. Das wirdtechnologische Verbesserungen und damit mehr Klima-schutz auslösen.In der Tat hat die Europäische Kommission noch ein-mal Verbesserungen bei unserem Emissionshandelsplangefordert. Aber als Hinweis an die Grünen – auch dasmuss in der Erinnerung bleiben und der Wahrheit halbergesagt werden –: Einer der Punkte, die herausgestrichenwurden, war die Übertragungsregelung. Diese Übertra-gungsregelung war grüne Politik pur. Jürgen Trittin hatsie vor den Verhandlungen mit der SPD vorgeschlagen.Die Kommission hat sie als klimaschutzwidrig undrechtswidrig abgelehnt. Das hätte an dieser Stelle er-wähnt werden müssen.Es gibt viel weniger Sonderregelungen als in der ers-ten Emissionshandelsperiode. Damit wird das Instru-ment schärfer; alle müssen ihren Beitrag leisten.Was mich amüsiert: Am Montag wird die Auktionie-rung perfekt gemacht, und schon heute kann man aufBasis der öffentlichen Vorschläge eine vierfache Über-zeichnung der daraus zu erwartenden Einnahmen fest-stellen. Meiner Meinung nach müssen die Mittel ganzeindeutig für Klimaschutz und Effizienzmaßnahmen inDeutschland ausgegeben werden; denn nur so könnenwir die Energiepreise in den Griff bekommen und damitfür weniger Belastungen bei den Bürgern sorgen. Wirkönnen sie nicht vor steigenden Weltmarktpreisen schüt-zen. Wir können sie auch nur zum Teil vor monopolarti-gen Steigerungen schützen. Aber wir können dafür sor-gen, dass sie durch einen geringeren Verbrauch eineniedrigere Rechnung haben. Dazu können wir mit den
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Ulrich KelberMitteln, die wir aus dieser Auktionierung gewinnen, et-was beitragen.
Wir brauchen auch Mittel für Maßnahmen in Ent-wicklungs- und Schwellenländern, die zur Anpassung anden bereits begonnenen Klimawandel beitragen. Daserste Anzeichen des Klimawandels ist der Rückgang derGletscher, der sich auf das Trinkwasser auswirkt. Unssteht eine große Katastrophe bevor, wenn die Gletscherim Himalaya abschmelzen, denn dann werden 40 Pro-zent der asiatischen Bevölkerung – es handelt sich umMilliarden Menschen – von Trinkwassermangel bedrohtsein. Aktuell sind die Gletscher am Mount Kenia schonpraktisch verschwunden und die Flüsse ausgetrocknet.Die Katastrophe für die dortige Bevölkerung ist bereitseingetreten. Wir sind verpflichtet, vor Ort zu helfen undZugang zu sauberen Technologien zu ermöglichen.Auch das können wir mit den jetzt erwarteten Mitteln einStück weit leisten. Es ist unsere Verpflichtung als Indus-trieländer, die diesen Klimawandel ausgelöst haben, denMenschen zu helfen, die bereits heute davon betroffensind.
Ich möchte an dieser Stelle auch eine klare Warnungan die Stromkonzerne aussprechen: Der Emissionshan-del ist kein Grund, die Strompreise weiter zu erhöhen.Die von der Gemeinschaft in der Vergangenheit erhalte-nen kostenlosen Zertifikate – also das, was die Gemein-schaft den Stromkonzernen geschenkt hat, um es einmalauf gut Deutsch zu sagen – sind von den Konzernen be-reits in die Bilanzen eingerechnet und auf die Strom-preise aufgeschlagen worden. Dieses Geld wandert seitdrei Jahren aus den Taschen der Stromkunden direkt indie Taschen der Stromkonzerne, die sich damit auf ihrenBilanzpressekonferenzen brüsten. Wenn man den Kaufder gleichen Zertifikate nun als Vorwand nimmt, dieStrompreise noch einmal zu erhöhen, dann wäre damitder Missbrauch von Marktmacht endgültig bewiesen. Indem Fall hoffe ich auf eine klare Antwort der Politik.Wir haben alle Möglichkeiten, von der Anwendung desKartellrechts bis hin zur Zerschlagung von Konzernen.Es muss eine klare Antwort geben, wenn dieser Miss-brauch stattfindet und versucht wird, die eigenen Ta-schen zu füllen und der Politik den Schwarzen Peter zu-zuschieben. Dieses Spiel ist erkannt, meine Herren!
Der Emissionshandel ist ein wichtiges Instrument fürden Klimaschutz, aber nicht das einzige. Wir werdenmehr Instrumente benötigen, um die ehrgeizigen Ziele,die wir uns gemeinsam vorgenommen haben und die aufdem EU-Gipfel abgestimmt worden sind, zu erreichen.Die Treibhausgase sollen bis 2020 in Deutschland um40 Prozent reduziert werden, in Europa um 30 Prozent.Das sind allein in Deutschland 270 Millionen TonnenCO2 weniger pro Jahr. Ich freue mich, dass jetzt in derGroßen Koalition – das war bei meiner letzten Redenoch nicht der Fall – die Verhandlungen über zwei wei-tere Klimaschutzinstrumente, das Erneuerbare-Ener-gien-Wärme-Gesetz und das Kraft-Wärme-Kopplungs-gesetz, begonnen haben, wir über die Ausbauzielebereits Einigung erreicht haben und uns jetzt über dieDetails der Umsetzung unterhalten.Man muss dazu aber auch sagen: Der Entwurf vonBundesminister Glos zur Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung ist mit Blick auf das Ausbauziel unzurei-chend. Bis zum Energiegipfel Anfang Juli muss einneuer Vorschlag des Ministers auf dem Tisch liegen,weil im Sommer Entscheidungen über Investitionen ge-troffen werden. Die Unternehmen müssen wissen, wiedie Rahmenbedingungen für die Kraft-Wärme-Koppe-lung in Deutschland aussehen. Der Unterschied zwi-schen dem Vorschlag des einen Koalitionspartners unddem des Ministers darf nicht so groß sein, dass in Bezugauf diese Rahmenbedingungen keine Sicherheit vorhan-den ist. Wir brauchen einen Vorschlag des Ministers, derzumindest nahe bei dem liegt, was die Koalitionsfraktio-nen im Augenblick verhandeln. Sie sind an dieser Stelleim Ergebnis schon bei ganz anderen Zielen angekom-men. Meine dringende Bitte an Michael Glos ist, sichden Entscheidungen der Großen Koalition zum Klima-schutz anzupassen.
Bundesminister Sigmar Gabriel hat ein Programm zurSenkung der Treibhausgasemissionen um 40 Prozentvorgestellt. Alle Ressorts der Bundesregierung und derDeutsche Bundestag sind aufgerufen, dieses Programmbis Ende 2007 umzusetzen. Klimaschutz ist ein Wettlaufmit der Zeit. Wir müssen diesen Wettlauf gewinnen. Wirhaben alle Technologien und sehr viel Wissen, um die-sen Wettlauf zu gewinnen. Heute beschließen wir einwichtiges Instrument für diesen Wettlauf. Ich hoffe aufeine klare Mehrheit.Vielen Dank.
Gudrun Kopp ist die nächste Rednerin für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Da-men! Seit Mitte der 90er-Jahre ist das Instrument desEmissionshandels Bestandteil der Programmatik derBundestagsfraktion und der Partei der FDP, lieber HerrKollege Kelber. Man muss einfach sagen: Wir musstenHerrn Trittin, den früheren Umweltminister, an dieserStelle quasi zum Jagen tragen.
Wir sind überzeugt, dass der Emissionshandel auflängere Sicht das einzige effiziente Klimaschutzinstru-ment sein wird, wenn man alle Sektoren in den Blicknimmt. Wenn sich die Zahl der internationalen Teilneh-mer eines Tages hoffentlich erweitern wird, zum Bei-spiel um China, Indien und die USA, dann könnte es zueiner großen Erfolgsstory werden. Das Zuteilungsgesetz,
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Gudrun Koppin dem vorgesehen ist, knapp 10 Prozent der Zertifikatezu versteigern, trifft jedenfalls auf unsere volle Zustim-mung.
Wir müssen uns natürlich um die Einnahmen küm-mern. Im Zuteilungsgesetz ist geregelt, dass die rund800 Millionen Euro, die immerhin eingenommen wer-den sollen, in den Etat des Bundesumweltministers flie-ßen. Das halten wir für problematisch; denn dies istGeld, das den Bürgern und den Unternehmen in diesemLande gehört. Damit könnte man beispielsweise auchdie Preise senken. Deshalb meine Bitte an die Haushalts-politiker, doch darauf zu achten, dass der Etat des Bun-desumweltministeriums um diese Summe gesenkt wird,damit dieses Geld nicht automatisch in den Umlaufkommt und Begehrlichkeiten weckt. Ich schlage vor, mitdem Erlös von diesen rund 800 Millionen Euro dieStromsteuer zum Nutzen aller Verbraucher zu senken.Das wäre sinnvoll.
Problematisch ist zudem die Situation der Betreibervon Prozesswärmeanlagen, die dieses Zuteilungsgesetzals eine Strafaktion empfinden müssen. Das muss manso sehen. In diesem Bereich gibt es eine Auslastung von90 Prozent. Das heißt, für diese Branche – dazu gehörenauch die Brauereien; das ist für manche ja eine ganzsympathische Branche – wird es unmöglich sein, denstrengen Regeln, die für Kraftwerke gelten, gerecht zuwerden.
CO2-Einsparungen sind nicht möglich. Deshalb muss andieser Stelle nachgebessert werden. Das steht noch aus.Für die FDP-Bundestagsfraktion ist es außerdemwichtig, dass es ab 2012 eine Anschlussregelung zumKiotoprotokoll, also sozusagen ein Kioto-II-Abkom-men, gibt.Ich sagte eben schon, dass die Zahl der Teilnehmeram Emissionshandel unbedingt ausgeweitet werdenmuss.Langfristig muss der Emissionshandel von drei Fak-toren geprägt sein: Erstens muss er alle Sektoren umfas-sen, zweitens muss er hinsichtlich der Anlagen undBenchmarks brennstoff-unabhängig sein, und drittensmuss die Verteilung durch eine komplette Versteigerungangestrebt werden.
So ausgestaltet könnte der Emissionshandel in der Tat zueiner Erfolgsstory werden.Wir müssen eines immer wieder festhalten: Bei derEvaluierung der Instrumente ist es erforderlich, genau zuprüfen, ob die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt-schaft innerhalb Europas und global noch gegeben ist;das ist ein Lernprozess, mit dem wir jetzt beginnen. Eskann nicht angehen, dass wir auf falschen Wegen weiter-gehen und nicht korrigieren, wenn es nötig ist. Sonst ha-ben wir irgendwann zwar eine CO2-Minderung, auf deranderen Seite aber eine Verlagerung von Arbeitsplätzen.Das darf nicht geschehen. Deswegen müssen wir auf-merksam sein und dafür sorgen, dass dieses Instrumenterfolgreich ist. Das ist im Sinne des Klimaschutzes undder Wettbewerbsfähigkeit.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Andreas Jung,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwill zunächst etwas zu den meiner Ansicht nach etwashilflosen Versuchen sagen, die Klimapolitik der Bundes-regierung infrage zu stellen oder gar einen Spalt zwi-schen die Bundeskanzlerin und ihre Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion, zu treiben: Klar ist – das wurde in denletzten Wochen offensichtlich –, dass sich niemand denErfolg der Bundeskanzlerin in Heiligendamm im Kampffür den Klimaschutz so sehr gewünscht hat wie unserFraktion und sich niemand mehr über ihren Erfolg ge-freut hat.
Wir unterstützen die internationalen Anstrengungen, da-mit wir auf diesem Gebiet vorankommen. Darüber hi-naus stellen wir uns aber auch im Inland dieser Aufgabe.Wir bekennen uns dazu, dass Deutschland und EuropaVorreiter im Klimaschutz sein sollen.Wir wissen, dass sich manche gern an Worten messenlassen. Wir hingegen stellen uns der Aufgabe: MessenSie uns an unseren Taten! Messen Sie die Große Koali-tion an dem, was sie in der Klimaschutzpolitik geleistethat! Da gibt es kein Vertun: Wir haben all das, was unterRot-Grün zur Förderung regenerativer Energien auf denWeg gebracht wurde, nicht nur fortgesetzt, sondern dieMittel sogar aufgestockt. Weil Gebäudesanierung ein ef-fektiver Beitrag zum Klimaschutz ist, haben wir die Mit-tel für das Gebäudesanierungsprogramm mehr als ver-vierfacht.Zu den Themen Nationaler Allokationsplan und Zu-teilungsgesetz, über das wir heute debattieren, sage ichnur: Messen Sie uns auch hier an unseren Taten und anden Zahlen!
Für den CO2-Ausstoß haben wir die Obergrenze bei453 Millionen Tonnen festgelegt; mehr dürfen Energie-versorger und Industrie in dieser Handelsperiode nichtausstoßen. Sehr geehrter Herr Kollege Trittin, Sie wis-sen, dass unser Plan bei weitem ehrgeiziger ist als derPlan, den Sie zu verantworten hatten. In jedem Jahr spa-ren wir über 50 Millionen Tonnen CO2 mehr ein, alsRot-Grün mit dem Emissionshandel einsparen konnte.Ich finde, das verdient Respekt und Anerkennung.
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Andreas Jung
In Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ist unbestrit-ten, dass wir mit dieser Vorgabe die Kiotoverpflichtungerfüllen werden. Deutschland hat im Kiotoprotokoll einegroße Verpflichtung übernommen. Mit diesem Alloka-tionsplan stellen wir sicher, dass wir dieser Verpflich-tung gerecht werden. Das halte ich für wesentlich.Ich will hinzufügen, dass der Nationale Allokations-plan und dieses Zuteilungsgesetz auch ein Bekenntniszum Industriestandort Deutschland sind. Deshalb wirdder Sektor Industrie anders behandelt als der SektorEnergie. Wir wissen, dass sich die Industrie einem hartenglobalen Wettbewerb zu stellen hat, und wir wissen, dasses in der Industrie, beispielsweise in der chemischen In-dustrie, prozessbedingte Emissionen gibt, das heißt, dassbei bestimmten Prozessen eine bestimmte Menge anCO2 entsteht. Unsere klare Ansage lautet: Wir wollen,dass diese Prozesse, dass diese wirtschaftliche Tätigkeitauch in Zukunft in Deutschland stattfindet, dass inDeutschland auch in Zukunft in diesem Bereich Investi-tionen getätigt werden und damit Arbeitsplätze erhaltenund geschaffen werden.
Deshalb haben wir selbstverständlich die Industrie indiesen Plan einbezogen und verlangen auch von ihr Min-derungspflichten. Aber wir haben die Latte nicht zu hochgelegt. Das gilt für die Minderungspflichten und vor al-lem für das, was die Union in den Verhandlungen in denletzten Wochen noch herausholen konnte. Wir haben imZuteilungsgesetz ein Mittelstandspaket durchgesetzt.Wir haben durchgesetzt, dass das Budget für die Härte-fallregelung für den Mittelstand deutlich erhöht wird.
Wir haben durchgesetzt, dass die Standardauslastungs-faktoren in vielen Bereichen erhöht werden und dass da-durch die mittelständische Industrie in den BereichenZement, Kalk und Glas gestärkt wird. Wir haben Verbes-serungen zur Förderung von Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen zur Herstellung von Bioethanol, zur Versorgungder Zellstoffindustrie und vieles mehr durchgesetzt.
Ich glaube, damit zeigen wir, dass es gelingt, beideszusammenzuführen: Klimaschutz und eine Politik für In-dustrie und Arbeitsplätze. Das ist der Maßstab, an demwir uns messen lassen müssen. Wir in Deutschland müs-sen zeigen, dass Umweltschutz und Wirtschaft zusam-men möglich sind.
Dann werden wir erreichen, dass andere mitmachen.Dann können wir das erreichen, was die Bundeskanzle-rin in Heiligendamm gesagt hat: Wir wollen einen welt-weiten Kohlenstoffmarkt und nicht einen, der auf be-stimmte Regionen begrenzt ist. Damit würden sich auchviele Fragen der Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr stel-len.Wir haben die Industrie nicht in die Auktionierungeinbezogen, der wir jetzt nähertreten. Auch das halte ichfür richtig. Denn der Grund für diese Auktionierung istdoch, dass wir festgestellt haben, dass es im Energiebe-reich Mitnahmeeffekte gibt. Es hat in der letzten Han-delsperiode bei den großen Energieversorgern Mitnah-meeffekte in Höhe von 5 oder 6 Milliarden Eurogegeben. Diese wollen wir abschöpfen. Wir können dasin Höhe von 10 Prozent machen. In Höhe von 90 Prozentwird die Zuteilung weiterhin kostenlos erfolgen; auchdas muss man dazusagen. Wir haben aber keine andereMöglichkeit, weil die Europäische Union uns das so vor-gibt. Ich halte es für richtig, das so zu machen. Denn ichfinde, es darf nicht sein, dass manche vom Emissions-handel profitieren und die Bürger, die Stromkunden unddie Wirtschaft letztlich durch höhere Strompreise belas-tet werden. Deshalb wenden wir dieses Mittel jetzt an.Herr Kauch, Sie haben die Mittelverwendung ange-sprochen. Sie haben kritisiert, dass es noch keine klareFestlegung gibt, wofür wir die Mittel ausgeben. Ich binüberzeugt: Hätten wir schon eine Verwendung vorgese-hen, dann wären wir mit Sicherheit dafür kritisiert wor-den. Dann wäre gesagt worden: Ihr benutzt dieses Instru-ment doch nur, weil ihr die Bürger abzocken wollt. Ihrhabt doch nur ein neues Instrument gesucht, mit dem ihrEinnahmen generieren könnt. – Doch es ist nicht so. Esgeht uns um etwas anderes, nämlich um die Vermeidungvon Mitnahmeeffekten. Es geht uns aber auch darum,dieses Instrument zu erproben, um in dieser Periode zueiner Auktionierung von 10 Prozent und ab der nächstenPeriode zu bei weitem mehr – möglicherweise100 Prozent – zu kommen. Ich halte das für richtig undfür ein gutes Instrument.Ich freue mich darüber, und ich finde, dass es ein Ge-winn für das Parlament ist, dass es im parlamentarischenProzess gelungen ist, mehr zu erreichen, als die Bundes-regierung, als der Bundesumweltminister vorgelegt hat.Es zeigt, dass der Parlamentarismus lebendig ist und dieFraktionen sich hier mit Vehemenz in die Debatte ein-bringen.
Ich will eine letzte Bemerkung – ich spreche hier ins-besondere die Fraktion der Linken an – zu den ThemenCDM und JI machen. Sie waren doch dabei – wir warengemeinsam in Nairobi –, als der Umweltminister vonKenia uns aufgezeigt hat, dass es in Afrika rund20 CDM-Projekte gibt und in Kenia nur ein einziges. Erhat eindringlich auf uns eingeredet: Schafft die Voraus-setzungen dafür, dass mehr CDM-Projekte in Kenia ge-schaffen werden.
Er hat gesagt: Wir brauchen diese Projekte als Beitragzur Entwicklungshilfe. Wir brauchen Sie, um selber Kli-maschutz machen zu können. Deshalb schafft die Vo-raussetzungen dafür.Genau das haben wir in diesem Gesetzentwurf in denletzten Tagen durchgesetzt, indem wir die Quote von
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Andreas Jung
20 auf 22 Prozent erhöht haben. Ich finde, wer für Kli-maschutz ist und sich für internationale Solidarität aus-spricht, darf nicht gegen CDM sein.
Deshalb sind wir dafür. Ich finde, dass es ein Instrumentist, das den globalen Ansatz, den wir in der Klimaschutz-politik brauchen, umsetzt.
Herr Kollege Jung, möchten Sie unmittelbar vor
Schluss Ihrer Rede noch eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Bulling-Schröter annehmen?
Gern.
Danke schön, Herr Jung. – Stimmen Sie mit mir über-
ein, dass die CDM-Projekte zusätzlich sein sollten – es
gibt Studien, die belegen, dass viele nicht zusätzlich sind –,
dass wir in diesem Hause gemeinsam dafür sorgen soll-
ten, dass möglichst viel CO2 eingespart wird und dass
alle CDM-Kriterien eingehalten werden, und dass wir
zusätzliche Projekte, die alle Kriterien erfüllen, auf den
Weg bringen sollten?
Ich denke, in diesem Zusammenhang sind zwei Fra-
gen voneinander zu unterscheiden:
Erstens geht es um die Frage, die wir im Rahmen des
Zuteilungsgesetzes beraten: Wie hoch soll die Quote für
die CDM-Projekte in Deutschland sein? Wir sind der
Meinung, dass diese Quote möglichst hoch sein sollte;
denn das wäre ein Beitrag zum Klimaschutz. Was den
Klimaschutz angeht, ist es egal, ob CO2 in Deutschland,
in Mexiko oder in Kenia eingespart wird. Wir glauben,
dass eine hohe Quote ein Beitrag zu mehr Effizienz beim
Klimaschutz ist. Denn dann könnten die Unternehmen
für dasselbe Geld mehr CO2 einsparen. Darüber ent-
scheiden wir jetzt. Wir sind für eine Erhöhung der Quote
auf 22 Prozent.
Zweitens haben Sie die Frage angesprochen: Muss
man noch mehr tun, um diese Projekte wirkungsvoller
und nachhaltiger zu gestalten? In diesem Punkt stimmen
wir selbstverständlich mit Ihnen überein. Hier mag es
noch Handlungsbedarf geben. Größeren Handlungsbe-
darf sehe ich allerdings bei den Fragen: Wie können wir
dafür sorgen, dass diese Projekte wirkungsvoll bleiben
und noch wirkungsvoller werden, und wie können wir
sie von übermäßiger Bürokratie befreien, damit es für
die Unternehmen tatsächlich interessant wird, hier zu in-
vestieren?
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Bundesminister für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir be-schließen heute den Entwurf eines Gesetzes zum Emis-sionshandel im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008bis 2012. Es geht also um die eigentliche Kiotoperiode,in der Europa und somit auch Deutschland die Klima-schutzziele bzw. die Senkung der Treibhausgasemissio-nen bis zum Jahre 2012 erreichen müssen. Das ist des-halb so wichtig, weil natürlich alle internationalenVerhandlungen über die Zeit nach 2012 – das haben wirgerade erst beim G-8-Gipfel in Heiligendamm erlebt; dienächsten Verhandlungen sollen Ende dieses Jahres aufBali beginnen – wirkungslos bleiben, wenn es uns nichtgelingt, in der ersten Handelsperiode deutlich zu ma-chen, dass Deutschland und Europa tatsächlich bereitsind, die noch relativ niedrigen Klimaschutzziele zu er-reichen.Deswegen ist es von sehr großer Bedeutung, dass dieKoalition heute das Zuteilungsgesetz im Hinblick aufden Emissionshandel beschließt und damit sicherstellt,dass Deutschland die im Kiotoprotokoll formulierte Ver-pflichtung, seine Treibhausgasemissionen im Vergleichzum Jahre 1990 im Zeitraum 2008 bis 2012 um21 Prozent zu senken, wirklich erreicht. Das ist der ei-gentliche Erfolg dieses Gesetzes, und dafür kann dieBundesregierung den Koalitionsfraktionen nur Dank sa-gen.
Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht – das wirdim Zuteilungsgesetz deutlich –: Gegenüber der erstenHandelsperiode sparen wir jedes Jahr bis zu57 Millionen Tonnen CO2 ein, während wir in der erstenHandelsperiode lediglich 2 Millionen Tonnen pro Jahreingespart haben. Diejenigen, die sagen, dass wir einenLernprozess hinter uns haben und dass uns die EU dazugebracht hat, diesen Schritt zu machen, haben schlichtund ergreifend recht. Genau so ist es.Nur, Herr Loske, Sie sollten so fair sein, auch zu sa-gen, dass sich die Kritik, die die EU-Kommission amersten Entwurf des Allokationsplans der Bundesregie-rung geübt hat, gegen Regeln gerichtet hat, die Sie selberin der ersten Handelsperiode geschaffen haben. DieKritik der EU-Kommission lautete: Deutschland hat inder ersten Handelsperiode zu viele Zertifikate ausgege-ben; daran waren Sie mitbeteiligt. Deutschland hat eine14-Jahres-Regelung getroffen, die Sie nun kritisieren;daran waren Sie allerdings mitbeteiligt. Deutschlandverfügte über eine zu geringe Reserve von nur3 Millionen Tonnen pro Jahr – jetzt beträgt die Reserve23 Millionen Tonnen pro Jahr –; diese geringe Reservehaben Sie mitzuverantworten.
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Bundesminister Sigmar GabrielHerr Loske, auch uns ist klar, dass sich die Grünenund andere mehr gewünscht hätten. Es ist doch nicht zukritisieren, dass wir gemeinsam einen Lernprozessdurchlaufen haben. Gott sei Dank war das so. Wenn Sieaber jetzt so tun, als seien Sie diejenigen gewesen, diealles richtig gemacht hätten, dann muss man feststellen,dass das die schlichte Unwahrheit ist.
Der Emissionshandel gehört zu den echten Erfolgsge-schichten der Großen Koalition. Darauf können beideFraktionen stolz sein.
– Frau Künast, weil das nicht alle hören können und Siesich offensichtlich nicht trauen, hier zu reden – oder esnicht dürfen; ich weiß es nicht –, wiederhole ich, was Siegesagt haben. Sie haben gefragt: Wer war eigentlich da-ran beteiligt?
Frau Künast, vorhin kam die Frage auf, woran es liegt,dass das Ganze jetzt Erfolg hat. Es hat im Zentrum derPolitik gestanden, und zwar deshalb, weil die Problemeso groß geworden sind und weil sich die beiden großenVolksparteien dieses Themas angenommen haben. Dasist der Grund, warum es jetzt gelingt.Natürlich haben die Grünen auf diesem Feld weit voruns gearbeitet. Das ist ihr Erfolg. Jürgen Trittin hat indiesem Bereich einiges auf den Weg gebracht.
Aber Sie müssen doch zugeben, dass es für Sie eher einparteipolitisches als ein sachliches Problem ist, dass denDurchbruch in der Klimapolitik die beiden großenVolksparteien geschafft haben. Sie werden gestatten,dass die Koalition auf diese Erfolge stolz sein darf.
Ich will mich mit ein paar Argumenten, die Sie ge-nannt haben, auseinandersetzen. Wir haben so etwas wiedie k.-u.-k.-Monarchie bei Kohle und Kernenergie.
Ich will nur auf Folgendes hinweisen: Bis zumJahre 2012 sind in Deutschland neun Kohlekraftwerke– sechs Steinkohlekraftwerke und drei Braunkohlekraft-werke – in Planung bzw. schon im Bau. Das dient derModernisierung des Kraftwerksparks. Die neuen Kraft-werke sollen alte Braun- und Steinkohlenkraftwerke, dieviel CO2 emittieren, ablösen, sodass diese stillgelegtwerden können. Bis zu 42 Millionen Tonnen CO2 sollendabei pro Jahr eingespart werden. Was wir jetzt erleben,Herr Loske, ist, dass Sie von den Grünen auch gegendiese Kohlekraftwerke und sogar gegen Kraft-Wärme-Kopplungs-Kraftwerke mobilisieren, beispielsweise inBerlin, aber nicht nur in Berlin. Dann bleiben die altenCO2-Schleudern am Netz. Das ist die Konsequenz IhrerPolitik; das muss man einmal offen sagen.
Dann will ich etwas zur PDS sagen.
Ich weiß nicht, ob der Kollege Claus hier ist. Ich kann esihm aber nicht ersparen, Ihnen, Frau Kollegin, zu sagen:Wissen Sie, eines geht nicht, nämlich dass Sie hier imDeutschen Bundestag fordern, wir sollten noch wenigerEmissionsrechte für die Braunkohlekraftwerke vorse-hen, aber Ihre örtlichen Abgeordneten von mir Sonder-regelungen für die Braunkohlekraftwerke in Ostdeutsch-land verlangen.
Ich sage Ihnen Folgendes: Wir machen Klimaschutz;aber weil wir uns auch dafür verantwortlich fühlen, dassüber 1 000 Arbeitsplätze in solchen Regionen erhaltenbleiben, prüfen wir Härtefallregeln wie bei derMIBRAG.
Sagen Sie doch den Leuten vor Ort, dass Sie als PDSoder Linke – oder was für Abgeordnete auch immer – Ih-nen die Jobs kaputtmachen wollen!
Sie spielen ein doppeltes Spiel: Hier verlangen Sie, fürdie Braunkohlekraftwerke weniger Emissionsrechte vor-zusehen, vor Ort wollen Sie uns an die Wand nageln mitdem Vorwurf, wir würden Arbeitsplätze kaputtmachen.Ich glaube, das haben Sie bei Oskar Lafontaine gelernt;das ist die Art und Weise, wie der Politik macht.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Claus?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Mit großer Freude, Herr Kollege Claus.
Herr Bundesminister, ich will Sie fragen: Was veran-lasst Sie, mein Engagement für die in der BraunkohleBeschäftigten hier in dieser Weise zu diskreditieren, woSie doch am Dienstag dieser Woche maßgeblich,
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Roland Claussachkundig und, wie ich fand, konstruktiv nichts anderesgemacht haben als ich, nämlich mitzuwirken an einemvernünftigen Kompromiss, bei dem mehr herauskommtfür die Umwelt und für die Sicherheit der Beschäftigten?Warum regen Sie sich dann hier so künstlich auf?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Das tue ich überhaupt nicht. Herr Kollege Claus, ichfinde, dass Sie die richtige Position vertreten. Aber IhreFraktionsvorsitzenden oder wer immer von Ihnen hierim Deutschen Bundestag zu diesem Thema redet, wollendas Gegenteil. Das kritisiere ich. Das ist pharisäerhaft.Wenn die so handeln würden wie Sie, wäre alles in Ord-nung.
Ich sage Ihnen noch etwas, Frau Kollegin: Hier zukritisieren, dass die Bundesregierung nicht 100 ProzentAuktionierung durchgesetzt hat, das ist wirklich aben-teuerlich. Das europäische Emissionshandelssystem istim Jahre 2003 beschlossen worden. Sie sollten der ge-schätzten deutschen Öffentlichkeit einmal sagen, dassDeutschland mit den knapp 10 Prozent bei der Auktio-nierung in diesem Jahr in Europa an der Spitze dererliegt, die auktionieren. Die anderen Europäer sind frohdarüber, dass wir endlich dafür sorgen, dass ein vernünf-tiger Preisindikator in den Markt kommt. Erzählen Siehier den Leuten doch kein dummes Zeug. Wir werdenmit diesem Gesetz zum Führer in der europäischen Kli-maschutz- und Emissionshandelspolitik. Das, und nichtder Unsinn, den Sie hier der Öffentlichkeit erzählen, istdas tatsächliche Ergebnis, das mit diesem Gesetz er-reicht wird.
Meine Damen und Herren, zur Kohle. Natürlich brau-chen wir in Deutschland auch weiterhin einen preiswer-ten Grundlaststrom aus der Stein- und der Braunkohle.Wir können in Deutschland nicht neben den 28 Prozentdes Kernenergiestroms bis 2020 auch noch rund 50 Pro-zent der Kohleerzeugung ausphasen. Wer das will, hatentweder von der Lage der deutschen Industrie keineAhnung oder er verfolgt einen geheimen Plan zur Rück-kehr in die Kernenergie. Es geht nur eines von beiden.
Herr Kauch, dass Sie in der Sache selber noch nichtrichtig wissen, wohin Sie wollen, machen Sie durch IhreRedebeiträge deutlich. Einerseits fordern Sie mehr Kli-maschutz in Deutschland, andererseits konnten Sie sichaber in Ihrer eigenen Fraktion nicht durchsetzen, dasGeld, das wir durch die Auktionierung erhalten, auch fürden Klimaschutz einzusetzen, sondern Sie mussten sichIhren Wirtschaftpolitikern beugen, die das Geld letztlichdort belassen wollen, wo Windfall-Profits abgeschöpftworden sind, sodass höhere Steuern erhoben werdenmüssen, um Klimaschutz in Deutschland bezahlbar zumachen.
Sie bleiben die Antwort schuldig, wie wir in Deutsch-land den Klimaschutz bezahlen können. Wenn die Mittelder Auktionierung sozusagen zur Senkung der Strom-steuer genutzt werden, dann müssen Sie hier eine Ant-wort darauf geben, wie Sie im Bundeshaushalt die Hun-derte von Millionen Euro aufbringen wollen, um dieMaßnahmen zum Klimaschutz in Deutschland zu finan-zieren. Das ginge dann nur über Steuererhöhungen. Da-mit würden Sie natürlich nicht Ihre Klientel treffen, al-lerdings würde das die Stromrechnungen der vielenMenschen in Deutschland erhöhen, die das alles letzt-endlich schon über ihre Stromrechnung bezahlt haben.
Herr Minister, möchten Sie noch eine weitere Zwi-
schenfrage der Kollegin Kopp zulassen?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Gerne.
Ich will mir einen Hinweis erlauben: Ich bin mit sol-
chen Zwischenfragen und Kurzinterventionen nachweis-
lich eher großzügig, aber der Zweck dieser Instrumente
besteht eigentlich nicht darin, dass die von den Fraktio-
nen ohnehin gemeldeten Redner auf diese Weise zusätz-
liche Redezeiten in Anspruch nehmen können, sondern
darin, den nicht für die Debatten gemeldeten Kollegin-
nen und Kollegen aus den Fraktionen gegebenenfalls die
Möglichkeit einer gezielten Einwirkung zu geben.
Bitte schön, Frau Kollegin Kopp.
Herr Präsident, ich mache es auch sehr kurz.Ich empfinde es so, dass Minister Gabriel uns falschinterpretiert hat. Herr Minister, deshalb möchte ich Siefragen: Sind Sie bereit, sich hier zu korrigieren und un-seren Vorschlag so darzustellen, wie wir es gesagt haben,dass wir nämlich den Erlös aus der Versteigerung denje-nigen zurückgeben möchten, die am Markt die hohenEnergiepreise zu bezahlen haben,
und dass das Geld eben nicht im Haushalt verschwindetund für irgendetwas anderes ausgegeben wird?
Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Ich nehme erst einmal zur Kenntnis, dass Sie dann dieWindfall-Profits nicht richtig abschöpfen, sondern dieStromsteuer für die Unternehmen senken wollen. Damit
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Bundesminister Sigmar Gabrielgeben Sie es ihnen zurück. Ich nehme auch zur Kenntnis,dass Sie keine Antwort auf die Frage haben, wie wir inDeutschland die Klimaschutzpolitik bezahlen sollen.Am Ende wäre dafür eine Steuererhöhung notwenig.Das wollen Sie auch wieder nicht. In Wahrheit wollenSie eigentlich keine engagierte Klimaschutzpolitik, je-denfalls dann nicht, wenn sich diejenigen in Ihrer Parteidurchsetzen, die nicht für die Umweltpolitik zuständigsind.
Meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung zurSorge derjenigen, die glauben, dass das Nichtvorhan-densein eines Braunkohlebenchmarks die Braunkohle-wirtschaft in Deutschland zu sehr benachteiligen würde.Vor wenigen Wochen wurde uns eine Studie des Verban-des der Elektrizitätswirtschaft vorgelegt. Es war alsokeine Studie eines grünen Verbandes, einer NGO oderdes BMUs. In dieser Studie wird gezeigt, dass die ver-bleibenden und die neu gebauten Braunkohlekraftwerkein Deutschland auch weiterhin wirtschaftlich arbeitenkönnen und dass dies insbesondere daran liegt, dass derBrennstoff konkurrenzlos günstig zur Verfügung steht.Verschwiegen wird in der Debatte dabei meistens,dass das Eintreten einiger Bundesländer und von Teilender Elektrizitätswirtschaft für einen eigenen Braunkohle-benchmark nichts mit Klimaschutz zu tun hat und dasses nur um eine Sache geht, nämlich darum, die Emis-sionsberechtigungen in Deutschland zugunsten einesTeils der Elektrizitätswirtschaft und zulasten eines ande-ren Teils der Elektrizitätswirtschaft zu verteilen.
Die Emissionsobergrenzen gelten für alle. Das Glas mitZertifikaten ist nicht zu vergrößern. Es geht nur um dieFrage, wie die Zertifikate verteilt werden.Würden wir das tun, was die CDU/CSU-geführtenBundesländer von der Bundesregierung und vom Deut-schen Bundestag verlangen, käme es zu einer einseitigenUmverteilung im Wesentlichen zugunsten eines deut-schen Energieversorgers. Bis zu 300 Millionen Eurowürden zugunsten dieses Energieversorgers bzw. zulas-ten aller anderen Energieversorger umverteilt. Das gingeübrigens auch zulasten der ostdeutschen Braunkohle,weil die westdeutsche Braunkohle viel stärker von derUmverteilung profitieren würde als die ostdeutsche.Es ginge aber vor allen Dingen zulasten der Stadt-werke in Deutschland. Ich würde gerne wissen, wie dieMinisterpräsidenten der Länder, die von der Bundesre-gierung verlangen, dass sie einen Braunkohlebenchmarkeinführt, das den Oberbürgermeistern, Landräten, Bür-germeistern und Bürgerinnen und Bürgern in den Städ-ten und Gemeinden erklären.
Herr Minister, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Dieses Vorhaben bedeutet eine Umverteilung zulasten
der Stadtwerke und zulasten klimafreundlicher Energie-
träger. Deswegen kann ich davon nur abraten.
Ich bitte im Übrigen darum, nicht länger in der Öf-
fentlichkeit internationale Klimaschutzverhandlungen zu
beklatschen – und zwar zu Recht –, aber gleichzeitig im
Inland durch den Widerstand der Ministerpräsidenten im
Bundesrat all das zu torpedieren, was wir mit großer
Mühe durchzusetzen versuchen.
Klimaschutz kommt nicht im Schlaf zustande, sondern
nur dann, wenn man bereit ist, intensiv zu arbeiten und
die ökonomischen wie die ökologischen Konsequenzen
zur Kenntnis zu nehmen. Das ist bei dem vorliegenden
Gesetzentwurf der Fall.
Ich bedanke mich für die Beratungen mit den Koali-
tionsfraktionen und hoffe, dass wir letzten Endes zu der
Entscheidung kommen – und zwar im Bundestag, Herr
Kollege Kauch –, wie die durch die Auktionierung er-
zielten Mittel verwendet werden. Der Bundesumweltmi-
nister steckt gar nichts ein; vielmehr setzt die Veran-
schlagung der Mittel im Bundeshaushalt voraus, dass der
Bundestag zustimmt und präzise vorgibt, wofür sie ver-
wendet werden sollen. Wir haben uns einzig und allein
darauf verständigt, dass die Mittel für nationale und in-
ternationale Klimaschutzmaßnahmen genutzt werden.
Das ist nämlich bitter nötig.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Bevor der letzte Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt das Wort erhält, gibt es noch eine Kurzinterven-
tion der Kollegin Bulling-Schröter.
Ich darf vor allen Dingen die Kolleginnen und Kolle-
gen, die sich liebenswürdigerweise im oberen Teil des
Plenarsaals eingefunden haben, darum bitten, von den
noch hinreichend vorhandenen Sitzmöglichkeiten Ge-
brauch zu machen, damit wir die Debatte geordnet zu
Ende führen können, bevor die namentliche Abstim-
mung stattfindet.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben zum wieder-holten Male der Linken unterstellt, wir wollten Arbeits-plätze vernichten, weil wir gegen die Privilegierung derKohle sind und einen einheitlichen Benchmark wollen.
Ich möchte deshalb richtigstellen, dass wir keine Ar-beitsplätze vernichten wollen. Im Gegenteil: Wir wollen
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10922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Juni 2007
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Eva Bulling-Schrötermehr und existenzsichernde Arbeitsplätze in dieser Re-publik. Wir wollen allerdings auch den Ausstieg aus derNutzung fossiler Rohstoffe. Dass er sozialverträglich er-folgen muss, steht, denke ich, außer Frage.Ihre Unterstellung trifft insofern nicht zu. Speziell mirpersönlich können Sie nicht unterstellen, für die Ver-nichtung von Arbeitsplätzen einzutreten. Bevor ich inden Bundestag gewählt wurde, war ich Betriebsrätin undwar auch in der Legislaturperiode 2002 bis 2005 wiederdrei Jahre im Betrieb. Ich kenne die Ängste der Men-schen und weiß, was Hartz IV bewirkt.Von daher müssen wir, denke ich, über Ausstiegssze-narien und über soziale Absicherung reden. Wie wir wis-sen, bauen die großen Konzerne zusätzlich Arbeitsplätzeab. Dazu äußert sich die Bundesregierung nicht. Ichkann Ihnen auch mitteilen, dass die Anzahl der Beschäf-tigten in den neuen Kohlekraftwerken nur noch bei20 Prozent im Vergleich zu den alten Kohlekraftwerkenliegt.Noch eines: Wenn sich diese Bundesregierung so umdie Arbeitsplätze schert, dann frage ich Sie, warum Siesich nicht mehr für die Arbeitsplätze bei der Telekomeinsetzen; denn der Bund verfügt doch über einen Anteilvon 30 Prozent.
Zur Beantwortung der Kurzintervention hat der Mi-
nister das Wort.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Frau Kollegin, nun haben Sie ja mit der Telekom we-
nigstens ein Thema gefunden, bei dem Sie die Diskus-
sion einigermaßen überstehen können. Aber bei der
Kohle funktioniert das nicht. Ich meine, Sie müssten
über dieses Thema nicht mit mir diskutieren, sondern
eher mit Ihrem Kollegen Claus. Er vertritt in der Sache
eine realistische Position. Sie werden verstehen, dass es
nicht geht, dass wir auf der einen Seite vor Ort – zum
Teil im Einvernehmen mit den Abgeordneten Ihrer Frak-
tion, in diesem Fall mit Ihrem Kollegen Claus – die Pro-
bleme klären und Sie auf der anderen Seite im Deut-
schen Bundestag Forderungen stellen, die – wenn sie
erfüllt würden – uns vor Ort im Ergebnis überhaupt
keine Handlungsmöglichkeiten mehr geben würden.
Sie sind in dieser Frage doppelzüngig. Würden wir
das tun, was Sie wollen, dann würden wir in Sachsen-
Anhalt über 1 000 Arbeitsplätze vernichten. Das ist die
Realität. Trauen Sie sich doch beim nächsten Mal, den
Beschäftigten vor Ort vorzurechnen, was die Durchset-
zung Ihrer Forderung für sie bedeuten würde: Sie würde
nämlich die sofortige Arbeitslosigkeit für über
1 000 Menschen in Sachsen-Anhalt bedeuten. Das ist
Ihre Politik – darauf werden wir doch wohl hinweisen
dürfen.
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Nachdieser – wie ich meine – entlarvenden Rede unseresBundesumweltministers hätte man gute Lust, noch einbisschen mehr Salz in die zahlreichen Wunden aufseitender Linken und vielleicht auch an der einen oder anderenStelle aufseiten der Grünen zu streuen. Ich kann mir vor-stellen, dass es schmerzt, wenn man Ihnen nachweisenkann, dass Sie mit Ihrer Politik gerne zum Abbau vonArbeitsplätzen in dieser Republik beitragen würden. Ichkann mir auch vorstellen, dass es die Grünen nicht be-sonders freut, zu sehen, dass wir in allen klimarelevantenund ressourcenschonenden Bereichen Schritt für Schrittdeutlich weiter vorankommen, als es zu der Zeit, als hiernoch ein grüner Umweltminister tätig war, der Fall war.Meine Damen und Herren, nun gibt es einen breitenInstrumentenkasten des EEG, das wir demnächst novel-lieren werden. Das Gleiche gilt für das Thema KWK.Wir werden im Bereich der Gebäudesanierung feststel-len, wie erfolgreich das ist, was wir ausgebaut haben.Wir beschließen heute ein Instrument, das deutlichkomplexer ist, das aber doppelten Charme hat. Zum ei-nen handelt es sich um ein marktorientiertes System.Zum anderen ist es ein Instrument, das europäisch abge-stimmt ist und so international wirken kann. Wenn ichvon einem marktorientierten System spreche, dann istfür mich besonders entscheidend, wie dieser Markt funk-tioniert. Das ist die Erfolgsvoraussetzung für den Emis-sionshandel; da müssen wir gemeinsam noch etwas tun.Dieses Instrument wird nur funktionieren, wie wir es unsvorstellen, wenn wir letztendlich zu einem ausgewoge-nen Wettbewerb im Energiebereich kommen. Deshalbsind die Initiativen unseres BundeswirtschaftsministersMichael Glos so wichtig und entscheidend.
Wenn ich sage, wir brauchen ein europäisch abge-stimmtes und international wirksames Instrument, dannbin ich der festen Überzeugung, dass das unsere einzigeChance ist, im Klimawandel wirklich etwas zu bewegen.Dieses Land emittiert 3,2 Prozent der klimarelevantenGase. China verzeichnet jedes Jahr einen höheren Zu-wachs am CO2-Ausstoß, als wir in dieser Republik ins-gesamt CO2 emittieren. Wir müssen dafür Sorge tragen,dass sich andere an uns ein Beispiel nehmen. Das tun sienur dann, wenn wir an dieser Stelle glaubwürdig voran-kommen, also den CO2-Ausstoß bei uns tatsächlich re-duzieren. Nur dann können wir von den Schwellen- undEntwicklungsländern erwarten, dass sie auch etwas tun.Und sie tun nur dann etwas, wenn wir zeigen, dass unterdiesen Umständen auch Wachstum möglich ist.
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Dr. Georg Nüßlein
Zudem ist Fingerspitzengefühl bei dem, was wir hier tun– wir greifen schließlich massiv in die Wirtschaft ein –,ganz besonders wichtig.Nun hat der Kollege Schwabe gesagt: Dieses Gesetzträgt die Handschrift der SPD. Lieber Kollege, es kommtnicht auf die Handschrift bzw. die äußere Form, sondernauf den Inhalt an. Diesen haben wir in intensiven Ver-handlungen gemeinsam erarbeitet. Wir sind insbeson-dere im Bereich des Mittelstandes – Stichwort „Härte-fallregelung“ – zu einem recht guten Ergebnisgekommen, das verhindern wird, dass Branchen auf-grund unserer Gesetze ins Ausland gehen und dort wei-terhin CO2 emittieren. Das würde weder uns noch demKlima helfen.
Ich gebe zu, dass wir von der Union uns an der einenoder anderen Stelle etwas mehr auf die Wirtschaft zube-wegt hätten. Im Bereich der Braunkohle hätten wirgerne eine angepasste Benchmark gesehen. Wir hättenuns zudem vorstellen können, dass Neuanlagen, die aufBasis der besten Technologie arbeiten, stärker privile-giert werden – schließlich geht es darum, die Ziele, dieman sich gesteckt hat, zu erreichen –, genauso wieKWK-Anlagen. Aber ich sage ganz offen: Manchmalist es wichtig, nicht nur das Klima in dieser Republik,sondern das Klima in der Großen Koalition zu schützen.
Heute wurde schon sehr viel über das Thema Verstei-gerung gesprochen. Natürlich geht es dabei darum,Windfall-Profits und Mitnahmeeffekte zu verhindern.Aber aus unserer Sicht geht es in erster Linie darum, aufdas vorbereitet zu sein, was kommt. Wenn es funktio-niert, wird das Instrument des Emissionshandels nach2012 auszubauen sein. Wir müssen daher wissen, wasauf uns zukommt. Es macht mehr Sinn, erst einmal8,8 Prozent zu versteigern und sich anzuschauen, wie essich entwickelt, als ins kalte Wasser geworfen zu werdenund 100 Prozent zu versteigern, obwohl man die Effektenoch gar nicht absehen kann.
Bei allem Vertrauen in das Bundesumweltministe-rium ist für uns im Hinblick auf das Verfahren entschei-dend gewesen, dass nicht die administrative Seite dasVorgehen per Verordnung festlegt. Der Deutsche Bun-destag bleibt mit im Boot. Das haben wir erreicht. Dasist für unsere Rolle als Parlamentarier wichtig.
Auch über die Mittel und ihre Verwendung wird dasParlament entscheiden. So weit sind wir allerdings nochnicht. Wir haben die Mittel erst einmal dem Haushalt desBundesumweltministeriums zugeordnet. Wenn ich einepersönliche Bemerkung machen darf: Dorthin gehörensie auch. Aber wir müssen sehr wohl darüber nachden-ken, wie wir das Geld national und international, insbe-sondere in den Entwicklungsländern, so für den Klima-schutz einsetzen, dass in diesem Land und auf dieserErde wirklich etwas bewegt wird.Vielen herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zurAbstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurÄnderung der Rechtsgrundlagen zum Emissionshandelim Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012.Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-cherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/5769, den Gesetzent-wurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD aufDrucksache 16/5240 in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in die-ser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? –Das Erste war die Mehrheit. Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen hat hierzu namentliche Abstimmung beantragt.Sind alle Urnen mit den Schriftführerinnen und Schrift-führern besetzt? – Der Vorsitzende der SPD-Fraktion,der die Situation übersieht, hat mir bestätigt, dass das sosei. Dann eröffne ich hiermit die Abstimmung.Ist noch jemand anwesend, der seine Stimmkartenicht abgegeben hat? – Kennt jemand jemanden, derseine Stimmkarte nicht abgegeben hat? – Dann schließeich hiermit die Abstimmung und bitte die Schriftführe-rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-nen. Das Ergebnis der Abstimmung werden wir Ihnenmitteilen, sobald es vorliegt.Ich weise darauf hin, dass es zahlreiche persönlicheErklärungen zur Abstimmung gibt, die zu Protokoll ge-nommen werden.1)Wir setzen nun die Abstimmungen zu diesem geradebehandelten Thema fort. Dazu wäre es gut, wenn dieje-nigen, die an diesen Abstimmungen teilnehmen möch-ten, sich auf ihre Plätze begeben.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache16/5781. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Das Zweitewar fraglos die Mehrheit. Der Entschließungsantrag istabgelehnt.
1) Anlagen 2 bis 6
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10924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Juni 2007
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Präsident Dr. Norbert Lammert– Ich habe nichts Gegenteiliges behauptet. Ich habe fest-gestellt, dass der Antrag zweifellos keine Mehrheit ge-funden hat.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/5769, den Ge-setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5617zur Änderung der Rechtsgrundlagen zum Emissionshan-del im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sichder Stimme? – Dies ist einstimmig angenommen. Damitkönnen wir diesen Tagesordnungspunkt abschließen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 e auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu der Unter-richtung durch die BundesregierungSiebter FamilienberichtFamilie zwischen Flexibilität und Verlässlich-keit – Perspektiven für eine lebenslaufbezo-gene Familienpolitik und Stellungnahme derBundesregierung– Drucksachen 16/1360, 16/4211 –Berichterstattung:Abgeordnete Paul LehriederCaren MarksIna LenkeJörn WunderlichEkin Deligözb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungBericht der Bundesregierung über denStand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtesAngebot an Kindertagesbetreuung für Kin-der unter drei Jahren 2006– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-ten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDP zu der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung über denStand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtesAngebot an Kindertagesbetreuung für Kin-der unter drei Jahren 2006– zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze,Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der LINKENKindertagesbetreuung für Kleinstkinder so-fort ausbauen und Qualität verbessern– Drucksachen 16/2250, 16/4443, 16/4412,16/5397 –Berichterstattung:Abgeordnete Ingrid FischbachCaren MarksIna LenkeDiana GolzeEkin Deligözc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. BarbaraHöll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-KENElternbeitragsfreie Kinderbetreuung aus-bauen– zu dem Antrag der Abgeordneten EkinDeligöz, Volker Beck , Grietje Bettin,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENLeben und Arbeiten mit Kindern möglichmachen– zu dem Antrag der Abgeordneten EkinDeligöz, Krista Sager, Kai Gehring, weitererAbgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENKinder fördern und Vereinbarkeit von Be-ruf und Familie stärken – Rechtsanspruchauf Kindertagesbetreuung ausweiten– Drucksachen 16/453, 16/552, 16/1673, 16/3219 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Eva MöllringCaren MarksIna LenkeDiana GolzeEkin Deligözd) Beratung des Antrags der Abgeordneten EkinDeligöz, Christine Scheel, Volker Beck ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENVerbindlichen Ausbau der Kindertagesbetreu-ung jetzt regeln – Verlässlichkeit für Familienschaffen– Drucksache 16/5426 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
FinanzausschussHaushaltsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten InaLenke, Carl-Ludwig Thiele, Sibylle Laurischk,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPSofortprogramm für mehr Kinderbetreuung– Drucksache 16/5114 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussFinanzausschuss
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Juni 2007 10925
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Präsident Dr. Norbert LammertZum Siebten Familienbericht liegt je ein Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der FDP sowie der FraktionDie Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinba-rung soll die Aussprache eine Stunde andauern. – Dazuhöre ich keinen Widerspruch. Dann haben wir das sovereinbart.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstdie Bundesministerin Frau Dr. Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir redenheute über den Siebten Familienbericht und über einenBericht zum Stand des Ausbaus der Kinderbetreuungaus dem Jahr 2006. Zu Letzterem kann man zusammen-gefasst sagen: Der Fortschritt beim Ausbau der Kinder-betreuung
war zu diesem Zeitpunkt eine Schnecke. Von 2005 bis2006 ist das Verhältnis von Plätzen zu Kindern, die diePlätze in Anspruch nehmen können, gestiegen. Ja, dasVerhältnis ist besser geworden, aber nur um magere0,7 Prozentpunkte. Es zeichnet sich schon ab, dass es imFolgejahr nur einen Zuwachs von rund 1,3 Prozentpunk-ten geben wird. Damit liegen die Angebote in den west-lichen Bundesländern immer noch bei unter 10 Prozent.Das heißt, nicht einmal jedes zehnte Kind hat ein Ange-bot für einen Tagesmutterplatz, für eine altersgemischteGruppe in einer Kita oder für einen Krippenplatz. Ichdenke, diese Dynamik reicht bei Weitem nicht. Wennwir so weitermachen würden, dann wären wir vielleichtin einem Vierteljahrhundert so weit, dass für ein Drittelder Kinder und ihre Eltern, die Plätze suchen, überhauptein Angebot vorhanden wäre. Das muss schneller gehen.Sie wissen, was inzwischen vereinbart worden ist. Von2008 an wird der Bund gemeinsam mit den Ländern undKommunen schneller und mehr Plätze in Kindertages-stätten und bei Tagesmüttern schaffen. Wir wollen ge-meinsam, dass 2013 bereits für ein Drittel der Kinder einAngebot vorhanden ist. Der Bund beteiligt sich bis 2013mit 4 Milliarden Euro und übernimmt auch über 2013hinaus verlässlich finanzielle Mitverantwortung.Damit sind wir schon bei dem großen Thema desSiebten Familienberichts, nämlich dem Thema Zeit. DasThema Zeit zieht sich wie ein roter Faden durch denSiebten Familienbericht, Zeit sowohl im Alltag der Fa-milie als auch Zeit für Familie und Zeit für gute Arbeit,aber auch Zeit im Lebensverlauf. Angesichts der aktuel-len Diskussion warne ich davor, Familie in unseren De-batten wieder in ein ganz starres Schema zu packen,nach dem Motto: Einmal mit den Kindern zu Hause, im-mer zu Hause; einmal mit Kindern erwerbstätig, immererwerbstätig; einmal Pflege zu Hause, immer zu Hause.So ist das Leben eben nicht. Die Wirklichkeit ist wech-selvoller, und daran sollten wir uns orientieren.Deshalb geht es im Siebten Familienbericht vor allemdarum, die Übergänge von einer Lebensphase zurnächsten möglich zu machen. Ob jemand mit einemzweijährigen Kind oder mit einem zwölfjährigen Kindeinen neuen Job antreten will, die Probleme sind nichtanders. Sie sind als Schnittstellenprobleme da, und siesind nicht weniger. Wir müssen uns darum kümmern,dass diese Übergänge für Familien lebbar sind. Dasselbegilt, wenn erwachsene Kinder merken, dass ihre alten El-tern nicht mehr alleine zu Hause zurechtkommen unddass Pflege und Betreuung der alten Eltern zu Hause aufsie zukommt. Auch hier muss es so sein, dass dies nichtzum Lebensbruch für die Tochter oder für den Sohn füh-ren darf. Deshalb sagt der Siebte Familienbericht auchso deutlich, dass ein Mix an Maßnahmen notwendig ist:Es bedarf einer unterstützenden Infrastruktur, eines Net-zes der Hilfe für die Alltagszeit und die Arbeitszeit, undes bedarf finanzieller Mittel, die gezielt für diese Über-gänge zur Verfügung gestellt werden. Deshalb also einElterngeld und die Partnermonate, deshalb die besseresteuerliche Förderung der haushaltsnahen Dienstleistun-gen.In genau das gleiche Thema fallen sowohl der Ausbauder Kinderbetreuung als auch der Ausbau zum Beispielder Pflegestützpunkte, der ambulanten Pflegediensteoder einer Pflegezeit. Genauso wichtig sind deshalbauch die Allianzen mit der Wirtschaft, um verlässlicheZeit für Familie und verlässliche Zeit für die mittlere Ge-neration für gute innovative Arbeit möglich zu machen.In den letzten zwei Tagen wurde in den Schlagzeilenzunächst das Szenario gezeichnet, dass zu wenig jungeMenschen in Deutschland akademisch ausgebildet wer-den. Am Tag danach war die Mahnung der Bundesbil-dungsministerin zu lesen, dass es zu wenige Ingenieurin-nen und Ingenieure in Deutschland gibt. Wir müssen dasauch weiter denken und uns klarmachen, dass hinter denFachberufen natürlich auch Familienleben steht. Wirdürfen nicht nur die Forderung nach besserer Ausbil-dung in unser Land stellen, sondern wir müssen uns auchdarum kümmern, dass diese Ausbildung später nicht nurumgesetzt werden kann, sondern dass sie auch mit Kin-dern, mit älteren Angehörigen gelebt werden kann. Da-für ist entscheidend, dass wir uns um die Übergänge imLeben kümmern.
In einer Zeit wie im Augenblick, in der sich so viel fürdas Thema Familie bewegt, in der wir so hochspan-nende, elektrisierende Debatten um dieses große gesell-schaftspolitische Thema haben, sollten wir die Gunst derStunde nutzen, offen zu sein, neue Wege zu denken undneue Modelle im Kopf und in der Wirklichkeit zuzulas-sen. Warum sollten wir uns nicht einmal Hamburgs Sys-tem der Gutscheine näher anschauen?
Wenn man sich das einmal näher anschaut, dann siehtman, dass da Angebote von zwei bis zwölf Stundenmöglich sind.
Da kann man Kinderbetreuung für einen Vormittag oderdrei Nachmittage oder fünf Werktage finden.
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Bundesministerin Dr. Ursula von der LeyenDa entscheidet auch nicht irgendjemand in der Kom-mune, welches Angebot es gibt – jeder kennt es aus sei-nem eigenen Dorf: für die Zeit von acht bis zwölf ist einAngebot da; friss oder stirb –, sondern die Eltern ent-scheiden, was sie an Bildungsangeboten für ihre Kinderbrauchen, welche Zeitkontingente sie brauchen und vorallem, zu welcher Tagesmutter oder zu welchem Kinder-garten sie die Bildungsgutscheine bringen wollen.Das hat zu einer unglaublich großen Vielfalt im An-gebot und im Wettbewerb um Qualität geführt. Wettbe-werb um die beste Qualität in der Kinderbetreuung, dasbeste Netz, das, meine Damen und Herren, muss dochunser Ziel sein.
Ich bitte, auch noch einmal Folgendes zu bedenken:Wenn behauptet wird, das sei kompliziert, dann kannman ganz klar erwidern, dass das im 21. Jahrhundert ge-nauso unkompliziert möglich ist, wie jede Bonuskartein einem Kaufhaus abgerechnet wird, wie bei jedemTanken an der Tankstelle, wenn man zum Bezahlen dieChipkarte durch das Lesegerät zieht, an einer anderenStelle abgerechnet wird. Das passiert jeden Tag tausend-fach in Deutschland. Deshalb sollte man nicht suggerie-ren, es wäre komplizierter als das, was uns die Wirklich-keit jeden Tag in Deutschland schon zeigt.
Das Einzige, worum ich bitte, ist Folgendes: In dieserZeit, in der die Fenster der Möglichkeiten wirklich weitgeöffnet sind, in der es darum geht, anzunehmen, Neueszu denken und Offenheit zuzulassen, in dieser Zeit, inder sich jetzt so viel bewegt, sollten wir auch einmal In-novatives ausprobieren, prüfen und nicht gleich die Türzuschlagen. Es geht darum, das Bild, das ich eben mitder Flexibilität in der Kinderbetreuung gezeichnet habe,in das große Bild des Siebten Familienberichts zu über-tragen, nämlich zu sagen: Es müssen Möglichkeiten fürdie Übergänge, die Beweglichkeit und die Schnittstel-len mit Kindern und mit älteren Angehörigen für diemittlere Generation geschaffen werden, damit sie entlas-tet wird und Zeit für ihre Familie findet. Auf diesem Ge-biet politisch die Rahmenbedingungen zu gestalten, istdie Aufgabe, die wir im Augenblick zu bewältigen ha-ben. Dahinter stehen die Menschen, und das wollen wirfördern.Ja, wir können es schaffen, wenn wir langfristig Ver-antwortung für andere übernehmen. Das ist der Grund-gedanke einer Familiengründung. Wir sollten uns in derWelt, wie sie ist, einsetzen, zum Beispiel dafür, Kinderzu haben oder treu zu denjenigen zu stehen, die uns denWeg ins Leben geebnet haben. Entscheidend ist dasGrundgefühl, dass die Gesellschaft hinter einem stehtund dass dadurch bestimmte Möglichkeiten geschaffenwerden.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Seifert?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Gerne.
Frau Ministerin, Sie sprechen die ganze Zeit davon,wie wichtig die Übergänge in bestimmten Lebensphasensind. Das will ich nicht in Abrede stellen. Dennoch hätteich mir erhofft, dass Sie in Ihrer Rede einige Sätze zurLage von Menschen sagen, die ihr ganzes Leben langschwierige Situationen zu bewältigen haben. Ich denkezum Beispiel an Menschen mit Behinderungen, die ineiner Familie leben, oder an behinderte Eltern, die beider Betreuung ihrer nichtbehinderten Kinder Elternassis-tenz brauchen. Auch Ihr Familienbericht nimmt dazukeine Stellung. Wenn wir Inklusion wirklich wollen,dann müsste dieses Thema in einer so wichtigen Redewie der, die Sie hier halten, eine Rolle spielen. KönnenSie dazu vielleicht noch ein paar Sätze sagen?Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend:Das möchte ich gerne. Als Sozialministerin einesBundeslandes war ich unter anderem für Menschen mitBehinderungen zuständig. Ich habe die Erfahrung ge-macht, dass Eltern mit behinderten Kindern oder behin-derte Eltern mit Kindern elementar darauf angewiesensind, dass die Gesellschaft den Alltag durch eine unter-stützende Infrastruktur, durch helfende Netzwerke – da-rüber reden wir – erleichtert. Für Kinder, an deren Be-treuung besondere Anforderungen zu stellen sind, musses entsprechende Einrichtungen, zum Beispiel Schulen,geben. Für Eltern mit Behinderung muss es Angebotewie Netzwerke, Fahrdienste, besondere Ferien mit deneigenen Kindern und besondere, in die Familien kom-mende Hilfsdienste geben. Es geht darum, Unterstützungdieser Art zu gewährleisten.Ich erinnere mich sehr gut daran, wie stark das Be-streben des Landes Niedersachsen – zu Recht – gewesenist, bestimmte ambulante Dienste auszubauen. Dieseambulanten Dienste gehen in die Familien – in Familienmit Menschen mit Behinderungen, seien es die Elternoder seien es die Kinder, wird Großartiges geleistet –,um das Leben zu erleichtern und dafür zu sorgen, dasskein Familienmitglied aufgrund der Fürsorge für andereauf ein eigenes Leben völlig verzichten muss. Es gehtum die Schaffung eines Übergangs in ein eigenständigesLeben und dabei – das ist das Wichtigste – Verantwor-tung für andere zu übernehmen. Das schafft keiner ganzallein. Wer das versucht, zerbricht an diesen großen Auf-gaben.Die Aufgabe des Staates und der Gesellschaft bestehtdarin, so zu helfen, dass das Zusammenleben in der Fa-milie möglich ist. Notwendig ist dabei die Hilfe von au-ßen durch ambulante Dienste, und zwar im weitestenSinne.Dem liegt im Prinzip das gleiche Gedankenmodellzugrunde wie der Kinderbetreuung, der Unterstützungjunger Familien und den ambulanten Dienste in derPflege. Ich denke an die Pflegestützpunkte, also an die
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Bundesministerin Dr. Ursula von der LeyenDr. Maria BöhmerJochen BorchertGuttenbergOlav GuttingStefan Müller
Bernward Müller
Jens SpahnErika Steinbach
Wolfgang BosbachMichael BrandHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeMonika BrüningGeorg BrunnhuberGitta ConnemannLeo DautzenbergHubert DeittertAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornGeorg FahrenschonIlse FalkDr. Hans Georg FaustGerda HasselfeldtUrsula HeinenMichael HennrichJürgen HerrmannPeter HintzeKlaus HofbauerFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Bartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterVolker KauderMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteRita PawelskiDr. Peter PaziorekDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzDaniela RaabThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergGero StorjohannAndreas StormMax StraubingerThomas Strobl
Lena StrothmannHans Peter ThulAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlVolkmar Uwe VogelMarcus WeinbergPeter Weiß
Ingo WellenreutherAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar WöhrlWolfgang Börnsen Holger Haibach Bernd Neumann Christian Freiherr von StettenUnterstützung der pflegendeGrundgedanke ist: Niemanddenke an diejenigen, die miAufgaben konfrontiert werdelich sein, weil die GesellschUnterstützung geleistet wird.
Uhr des demografischen Blick auf das, was wir inreicht haben, können wirit ist günstig; sie arbeitet in für die Familien.Enak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisEberhard GiengerRalf GöbelDr. Reinhard GöhnerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundDr. Karl-Theodor Freiherr zu
ammert:iesem Tagesordnungspunktden Schriftführerinnen undgebnis der namentlichenetzentwurf der Fraktionen zum Emissionshandel imsperiode 2008 bis 201216/5769 – bekannt: Abge- haben gestimmt 360, mitund enthalten haben sichgen. Damit ist der Gesetz-Katherina Reiche
Klaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerJohannes RöringKurt J. RossmanithDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Hartmut SchauerteDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianKurt SegnerBernd SiebertThomas SilberhornJohannes Singhammer
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Präsident Dr. Norbert LammertSPDDr. Lale AkgünGregor AmannGerd AndresNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSabine BätzingDirk BeckerUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergPetra BierwirthLothar Binding
Volker BlumentrittKurt BodewigClemens BollenGerd BollmannDr. Gerhard BotzKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertDr. Michael BürschChristian CarstensenMarion Caspers-MerkDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinKarl DillerMartin DörmannDr. Carl-Christian DresselElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelGernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherPeter FriedrichSigmar GabrielMartin GersterRenate GradistanacAngelika Graf
Monika GriefahnGabriele GronebergAchim GroßmannBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Hubertus HeilRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Gerd HöferIris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeLothar IbrüggerBrunhilde IrberJohannes Jung
Josip JuratovicJohannes KahrsUlrich KasparickDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberChristian KleimingerHans-Ulrich KloseAstrid KlugDr. Bärbel KoflerWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningDr. Hans-Ulrich KrügerAngelika Krüger-LeißnerJürgen KucharczykHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachWaltraud LehnHelga LopezGabriele Lösekrug-MöllerDirk ManzewskiLothar MarkCaren MarksHilde MattheisMarkus MeckelPetra Merkel
Dr. Matthias MierschUrsula MoggMarko MühlsteinDetlef Müller
Michael Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesThomas OppermannHolger OrtelHeinz PaulaJoachim PoßChristoph PriesDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMaik ReichelGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterSönke RixDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Ortwin RundeMarlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenDr. Hermann ScheerMarianne SchiederOtto SchilyUlla Schmidt
Renate Schmidt
Heinz Schmitt
Olaf ScholzOttmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzRita Schwarzelühr-SutterWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltDieter SteineckeAndreas SteppuhnLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserDr. Peter StruckJoachim StünkerDr. Rainer TabillionJörg TaussJella TeuchnerDr. h. c. Wolfgang ThierseJörn ThießenRüdiger VeitDr. Marlies VolkmerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisGert Weisskirchen
Dr. Rainer WendLydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützDr. Wolfgang WodargWaltraud Wolff
Heidi WrightUta ZapfManfred ZöllmerBrigitte ZypriesNeinCDU/CSUGünter BaumannVeronika BellmannKlaus Brähmig
Hermann GröheUda Carmen Freia HellerBernd HeynemannRobert HochbaumSusanne JaffkeDr. Peter JahrDr. Hans-Heinrich JordanJens KoeppenManfred KolbeMichael KretschmerJohann-HenrichKrummacherAndreas G. LämmelKatharina LandgrafDr. Michael LutherMaria MichalkUlrich PetzoldHermann-Josef ScharfKarl SchiewerlingMichael StübgenArnold VaatzAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzGerald Weiß
Willi ZylajewSPDRainer FornahlGabriele FrechenDieter GrasedieckWolfgang GrotthausWolfgang GunkelHans-Joachim HackerStephan HilsbergErnst KranzSteffen Reiche
Silvia Schmidt
Reinhard Schultz
Simone ViolkaJörg VogelsängerGunter WeißgerberEngelbert WistubaFDPJens AckermannDr. Karl AddicksChristian AhrendtDaniel Bahr
Uwe BarthAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherPatrick DöringMechthild DyckmansJörg van EssenOtto FrickePaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Dr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannMiriam GrußJoachim Günther
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Präsident Dr. Norbert LammertFlorian Toncar Dorothée Menzner Ute Koczy Kai WegnerDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
Martin ZeilWir setzen nun die Debattdie Kollegin Ina Lenke für di
men und Herren! Frau Mi-nd mehr an Gesamtkonzep-te ich von Ihnen erwartet.d dem BÜNDNIS 90/NEN)n Familienbericht. Aber es finanziert? Wie wird orga- wie schon in den letztennkündigungen gehört. Sie aber wir brauchen auchartet wirkliche Konzepte.d dem BÜNDNIS 90/NEN)ilienbericht sind eindeutig.he Strukturen, eine auf dasete Politik und endlich diemilie und Beruf. Wir wis-darf, was die VereinbarkeitRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarGerade meldet das Sta6,5 Prozent der unter Dreijähbetreuung. Wir sind uns imwollen dafür sorgen, dass danen fehlen wirklich nochstreiten sich. Seit Monaten lstanzlose WasserstandsmelduLeyen 3 Milliarden Euro v4 Milliarden Euro. Die Krönuder Vorschlag zur EinrichtuDazu haben Sie sich überhawürden Sie Kommunen, diesungen vor Ort umsetzen wol
erungsvorschlag hören wirollen Familien Familien fi-nicht die Zustimmung dern wollen statt des Betreu- mehr Geld zur VerfügungDP auf dem Bundespartei- erteilt.]: Da haben Sie sichergetan!)Christoph Waitz Kornelia Möller Sylvia Kotting-Uhl Karl-Georg WellmannDr. Christel Happach-KasanBirgit HomburgerDr. Werner HoyerMichael KauchDr. Heinrich L. KolbHellmut KönigshausGudrun KoppJürgen KoppelinHeinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtIna LenkeMichael Link
Horst MeierhoferJan MückeBurkhardt Müller-SönksenDirk NiebelDetlef ParrCornelia PieperGisela PiltzJörg RohdeFrank SchäfflerDr. Konrad SchilyMarina SchusterDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerCarl-Ludwig ThieleDIE LINKEHüseyin-Kenan AydinKarin BinderEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselLutz HeilmannHans-Kurt HillCornelia HirschInge HögerDr. Barbara HöllDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingMonika KnocheJan KorteKatrin KunertOskar LafontaineMichael LeutertUlla LötzerDr. Gesine LötzschUlrich MaurerVolker Schneider
Dr. Ilja SeifertDr. Petra SitteFrank SpiethDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderGrietje BettinAlexander BondeDr. Uschi EidHans-Josef FellKai GehringAnja HajdukBritta HaßelmannWinfried HermannPeter HettlichPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnDr. Reinhard LoskeNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Winfried NachtweiOmid NouripourBrigitte PothmerKrista SagerElisabeth ScharfenbergIrmingard Schewe-GerigkRainder SteenblockSilke Stokar von NeufornHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeJürgen TrittinWolfgang WielandJosef Philip WinklerMargareta Wolf
Fraktionslose AbgeordneteHenry NitzscheGert WinkelmeierEnthaltungCDU/CSUMonika GrüttersPeter RzepkaIngo Schmitt
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Ina Lenke– Wir haben uns damit überhaupt nicht schwergetan. WirFrauen haben mit unseren Männern zusammengestan-den. Es hat eine klare Mehrheit gegeben. Wären Sie aufdem Parteitag gewesen, Frau Humme, hätten Sie gese-hen, dass nur 20 von 600 Stimmen für die CSU-Lösungwaren.
Zu dem Vorschlag, zusätzlich Geld an Familien zu ge-ben, muss ich sagen – damit kann ich, glaube ich, zumin-dest die weiblichen Abgeordneten von SPD und CDU/CSU ansprechen –: Viele Kinder gehen trotz 154 EuroKindergeld im Monat – bei der Sozialhilfe sind es204 Euro – ohne Frühstück aus dem Haus, und die Elternhaben angeblich kein Geld für das warme Mittagessen inder Schule. Das zeigt doch, dass das Geld über Bil-dungsgutscheine den Kindern zur Verfügung gestelltwerden muss und nicht den Eltern gegeben werden darf.
Meine Damen und Herren, die Zeit drängt. Am Endedes Jahres läuft für viele Paare das Elterngeld aus.Dann, Frau von der Leyen, fehlt die Anschlussbetreu-ung. Ihre Strategie – das muss ich leider sagen – ist nichtaufgegangen. Solange Sie die Eltern nach Ende des ein-jährigen Elterngeldes – das tritt ab dem 1. Januar 2008ein – im Regen stehen lassen und keine gesicherte Be-treuung da ist,
ist das Elterngeld wirklich nur ein nettes Starterpaket.Ich habe mich darüber gefreut, dass Sie heute endlicheinmal auch über Hamburg gesprochen haben. Sie wis-sen, dass die CDU-FDP-Koalition in Hamburg an demKinderbetreuungsgutschein gescheitert ist, weil dieCDU Herrn Lange nachher kein Geld gegeben hat. DassFrau Schnieber-Jastram dieses Konzept jetzt weiterent-wickelt hat, auch im Sinne der FDP, finde ich sehr gut.Ich hoffe, dass Sie daraus Ihre Schlüsse ziehen und auchendlich dafür werben, dass mehr Kita-GmbHs und mehrprivat-gewerbliche Angebote neben die staatliche Kin-derbetreuung treten. Es gehört meines Erachtens zurPolitik einer Familienministerin, ganz klar für solchemarktwirtschaftlichen Konzepte einzustehen.
Das Zauberwort heißt: Bildungs- und Betreuungsgut-schein für jedes Kind unter sechs Jahren. Damit kann diestarke Nachfrage nach mehr Kinderbetreuung schnellerund besser befriedigt werden. Sie haben gerade gesagt,dass es heute gar nicht möglich ist, ein Kind einmal nurzwei Tage statt fünf Tage in die Krippe zu geben; jeden-falls muss man dann für fünf Tage zahlen.
Das ist nicht in Ordnung. Darüber bin ich mit Ihneneinig. Legen Sie von SPD und CDU/CSU vor derSommerpause des Parlaments also endlich ein Gesamt-konzept vor! Dazu gehören auch der Kinderbetreuungs-gutschein und eine vernünftige Finanzierung.
Die FDP – das will ich sehr deutlich sagen – hat be-reits ihr Kinderbetreuungskonzept vorgelegt. Mit einemSofortprogramm wollen wir mit einem höheren Anteilaus den Mehrwertsteuereinnahmen, 1,5 Milliarden Eurojährlich, die Gemeinden direkt unterstützen, denn diemüssen ja die Kinderbetreuung organisieren. Weder dieLänder noch über die Krippenstiftung den Bund wollenwir mit drin haben. Unser Konzept ist verfassungsrecht-lich einwandfrei, weil es schon jetzt mit den 2,2 Prozentläuft.Die FDP will, dass privat-gewerbliche Einrichtungen,Elterninitiativen, Betriebskitas und -krippen mehr Luftzum Atmen haben. In Frankfurt, Hamburg und in vielenkleineren Orten läuft es mit der Kita-GmbH ganz gut.Das hat sich bewährt. Das fordern wir.Frau von der Leyen, Ihre Aufgabe ist es also, bessereRahmenbedingungen im Bund und mit den Ländern zu-sammen für diese Einrichtungen zu organisieren und denKinderbetreuungsgutschein hoffähig zu machen. Ergeb-nis werden flexiblere Öffnungszeiten sowie bessere undunterschiedliche Bildungsangebote sein. Die Verkäufe-rin und die Krankenschwester brauchen ebenfalls unsereUnterstützung für die Betreuung am Wochenende und inden langen Schulferien. Sie haben nur über den SiebtenFamilienbericht gesprochen, ich über alle Anträge derOpposition.Der Familienbericht – das ist mein letzter Satz – zeigtauf, wie eine neue Balance zwischen Erwerbstätigkeitund Fürsorge für die Familie gelingen kann.Meine Damen und Herren – klatschen Sie mit mir –:Kinderlärm ist Zukunftsmusik!
Ich erteile das Wort der Kollegin Nicolette Kressl,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Lenke, für den letzten Satz hätte ichgerne geklatscht,
aber man kann ja nicht für einen Satz alleine klatschen.Für den Rest klatschen wir ausdrücklich nicht.
Heute wollen wir nicht nur über Einzelfragen im Be-reich der Familienpolitik, sondern über den Familienbe-richt insgesamt diskutieren. Hierbei bietet sich die Gele-genheit, miteinander zu überlegen, was Familienbrauchen. Dafür kann es eigentlich nur zwei Maßstäbegeben, zum einen den Maßstab, dass Rahmenbedingun-gen für Frauen und Männer in Deutschland so entwickeltund ausgebaut werden müssen, dass sie sich für Kinderentscheiden und ihren Kinderwunsch tatsächlich erfül-
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Nicolette Kressllen können. Der zweite Maßstab kann nur sein: Wir müs-sen Kindern Rahmenbedingungen geben, damit sie aufder einen Seite Sicherheit und auf der anderen Seite al-lerbeste Entwicklungschancen für sich selbst haben.Denn wir sind davon überzeugt – das sind wir sicherlichalle –: Jedes Kind ist einzigartig. Jedes Kind verfügtüber ganz individuelle Talente und Fähigkeiten. UnsereAufgabe ist, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen,dass sich diese Talente entwickeln können.
In den letzten Jahren ist viel passiert, zum einen in dergesellschaftlichen Realität. Familien haben sich vielschneller verändert, entwickelt, als manche, die in derPolitik sind, es wahrhaben wollten. Es hat sich Gott seiDank aber auch viel im gesellschaftlichen Bewusstseinverändert. Ich bin der Überzeugung, dass eine politischeDebatte dies unterstützen kann. Darüber hinaus hat sichin den politischen Handlungen viel verändert. Hier erin-nere ich an das Ganztagsschulprogramm und das Gesetzzum Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige, wo-durch hinsichtlich der Infrastruktur und der Entwick-lungsmöglichkeiten für Kinder einige Veränderungenauf den Weg gebracht wurden. Auf all diesen drei Fel-dern hat es Veränderungen gegeben.Dennoch – der Familienbericht macht es wieder deut-lich – gibt es immer noch Defizite. Es gibt Defizite inder Geschwindigkeit – wir haben es gerade gehört –,aber auch bezüglich der Frage, wie sozial gerecht dieEntwicklungschancen für Kinder sind. Hier muss mannatürlich auf die gerade neu veröffentlichte Studie desDeutschen Studentenwerks hinweisen. Die Ergebnissefinde ich bedenklich und bedrückend: Von 100 Akade-mikerkindern studieren 83, von 100 Nichtakademiker-kindern studieren nur 23. Die Weichenstellung dafür er-folgt nicht im Alter von 18 oder 19 Jahren, sondernbereits ab einem Jahr. Auch da haben wir eine Aufgabe.
Eine Erkenntnis aus dem Familienbericht ist auch:Wir müssen Familienpolitik sehr viel mehr ganzheitlichbetrachten,
sowohl was die Lebensläufe als auch was die Vernetzungund Zusammenarbeit der Beteiligten angeht. Das ist ineinem föderalen System zugegebenermaßen etwasschwieriger als in zentralistischen Systemen. Es bedeutetaber nicht, dass wir diese Aufgabe nicht lösen können;es bedarf allerdings einer sehr großen Anstrengung.Ich bin der Überzeugung, wir brauchen mehr Vernet-zung vor Ort in den Familien selbst. Wichtig ist dieFrage: Wie groß ist die Chance, dass Kinder mit ihrenEltern reden können? Aber auch die Vernetzung zwi-schen Kita und Schule muss in Deutschland noch ver-bessert werden. Das Gleiche gilt für die Vernetzung zwi-schen Eltern, Institutionen und Wirtschaft. Letztere willich hier ausdrücklich nicht ausnehmen. Ich finde, auchdie Unternehmen haben eine Verantwortung, denn siefordern schließlich Fachkräfte ein.
Außerdem brauchen wir eine bessere Vernetzung zwi-schen den föderalen Ebenen; auch da ist eine ganzheitli-che Betrachtung gefragt. Ich halte es für ganz wichtig,dass wir im Rahmen des Ausbaus der Infrastruktur inDeutschland einfordern, dass die drei Ebenen, die im Be-reich der Kinder- und Jugendhilfe alle auch verfassungs-rechtliche Kompetenzen haben, Abschottungstendenzenaufgeben, sich zusammensetzen und überlegen, wie diebesten Rahmenbedingungen für Kinder und Familien aufden Weg gebracht werden können.
Deshalb ist es richtig und gut, wenn auch nicht ein-fach, jetzt einen schnelleren Ausbau der Kinderbetreu-ung für unter Dreijährige zu fordern und diesen – dassage ich ausdrücklich für uns Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten – mit einem Rechtsanspruch abzusi-chern,
nicht weil der Rechtsanspruch ein Zwangsinstrumentwäre, sondern weil er im Gegenteil ein flexibles Instru-ment ist, mit dem auch dort, wo nur ein niedriger Bedarfvorhanden ist, gehandelt werden kann. Das ist das Ge-genteil von Planwirtschaft. Dieses flexible Instrumentgibt – das ist ja ein Thema, das immer wieder angespro-chen wird – Eltern und Kommunen Sicherheit. Das mussim Sinne der Schaffung von optimalen Rahmenbedin-gungen ausdrücklich unser Ziel sein.
Ich halte dieses vernetzte Handeln für eine Schlüs-selaufgabe in Deutschland. Sie bedarf durchaus einer ge-wissen Anstrengung; diese Anstrengung sind die Kinderaber wert. Damit schaffen wir die Rahmenbedingungen,die erforderlich sind, um den Eltern das zu ermöglichen,was schon Johann Wolfgang von Goethe formuliert hat– ich finde, das ist ein schönes Zitat zum Abschluss derRede –:Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekom-men: Wurzeln und Flügel.Es lohnt sich, dafür zu kämpfen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Jörn Wunderlich, Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Kinder und Familie – kaum ein politisches
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Jörn WunderlichThema beschäftigt uns und die Öffentlichkeit in der letz-ten Zeit so sehr wie dieses. Noch vor wenigen Jahrenwurden familienpolitische Themen kaum behandelt, alsGedöns abgetan und je nach Bedarf – quasi nach politi-scher Tageslage – auf die Tagesordnung gesetzt. Inzwi-schen ist Bewegung in die Familienpolitik gekommen,und das ist gut so. Denn die gravierenden sozialen, öko-nomischen und demografischen Prozesse zwingen diePolitik zum Handeln. Aus Sicht der Linken war dasschon längst überfällig.Nun muss man natürlich hinterfragen: Entspricht dieeingeleitete Familienpolitik tatsächlich den verändertengesellschaftlichen Realitäten? Ist sie sozial gerecht, mo-dern und zukunftsfähig? Was für mich noch viel wichti-ger ist, ist die Frage: Was sind uns in diesem Zusammen-hang Kinder wert?Vor dem Hintergrund, dass Deutschland das Land mitden sechsthöchsten Rüstungsausgaben im Jahr 2006 warund beim Export von Rüstungsgütern weltweit an dritterStelle nach den USA und Russland steht, bei den sozia-len Belangen aber letztlich um jeden Cent gefeilschtwird, sind meine Fragen wohl mehr als berechtigt. Diesalles erfüllt meine Fraktion mit großer Sorge.Mit Selbstverständlichkeit greifen Sie mit Ihren poli-tischen Konzepten Arbeitslosen, Kranken, Geringverdie-nern und Alleinerziehenden in die Tasche. Familienleis-tungen werden in der Regel durch die Familien selbstgezahlt. Sie lassen immer wieder zu, dass in Deutschlandeine Umverteilung von unten nach oben stattfindet. Sielassen es zu, dass Armut in breiten Kreisen der Bevölke-rung auf Jahre zementiert wird.
Ergebnis Ihrer verfehlten Politik der letzten Jahre istdie falsch konzipierte Ausgestaltung des Sozialstaats.Sie reden von einem vorsorgenden Sozialstaat. Wie irre-führend! Wie lange noch, glauben Sie, werden Ihnen dasIhre Wählerinnen und Wähler abnehmen? Ein vorsor-gender Sozialstaat verlangt armutsfeste Konzepte undnicht die Privatisierung der Lasten von Kindererziehung,Pflege, Rente und Gesundheit.
All das machen Sie im Wissen darum, dass nahezu jedePrivatisierung die Preisgabe politischen Einflusses undgesellschaftlicher Gestaltung bedeutet.
– Das ist so, Frau Lenke. – Wer in der Kommune, im Ge-meinwesen privatisiert, hat über kurz oder lang nichtsmehr mitzuentscheiden. Das können wir aus linker Per-spektive nicht akzeptieren.
Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit, weil wir an-ders Hunger und Armut nicht überwinden können. Wirbrauchen keinen Reichtum für eine kleine Gruppe. Viel-mehr sind wir angehalten, zum Wohl aller MenschenPolitik zu machen.In unserem Entschließungsantrag zeigen wir Wege füreine sozial gerechte Familienpolitik auf. Die Neuorien-tierung in der Familienpolitik muss aus unserer Sicht fol-genden Anforderungen gerecht werden: Gesellschaftli-che Solidarität für Familien bedeutet die Übernahmeöffentlicher Verantwortung. Kinder dürfen im Rahmender Familienpolitik keine nachgeordnete Rolle spielenund nicht immer über die Familie definiert werden. Wirbrauchen eine Politik, die Kinder und Jugendliche als ei-genständige Bevölkerungsgruppe mit einem eigenen An-spruch auf einen Anteil an den gesellschaftlichen Res-sourcen behandelt.
Kinder haben Rechte, und diese Rechte sollen Verfas-sungsrang erhalten. Ich finde es schön, dass die Kinder-kommission endlich einmal einen damit übereinstim-menden Antrag eingebracht hat,
auch wenn dies dem Herrn Singhammer nicht so rechtpasst.Ein verbesserter Schutz von Kindern vor Miss-handlungen und Vernachlässigung ist durch ein Paketaus unterstützenden Angeboten und vernetzten Hilfen zuerreichen, die die Rahmenbedingungen für das Auf-wachsen von Kindern letztlich nachhaltig verbessern.Ausgangspunkt dafür ist die Vernetzung und Stärkungder Orte, an denen sich Kinder aufhalten: von der Fami-lie über die Kindertagesstätte und die Schule bis hin zumJugendhaus. Diskriminierung von Kindern und Fami-lien mit Migrationshintergrund gehört in die Ge-schichtsbücher. Es darf keine Familien erster und zwei-ter Klasse mehr geben.
Wir wollen im Rahmen des Bildungsanspruchs dieBereitstellung einer qualitativ hochwertigen, auf die Be-dürfnisse von Kindern und Eltern – Herr Singhammer –abgestimmten ganztägigen und beitragsfreien Kinder-betreuung als Rechtsanspruch. Das ist die wesentlicheVoraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie undBeruf für beide Elternteile. Hier müssen den Wortenendlich einmal Taten folgen. Nach Ihrer zweijährigenRegierungszeit hat sich in dieser Hinsicht nicht viel be-wegt.Im Siebten Familienbericht wird festgestellt, dassviele Eltern die Balance zwischen Familie und Erwerbs-arbeit als unbefriedigend empfinden. Elternschaft zu le-ben und zugleich berufliche Integration, soziales oderauch politisches Engagement zu verwirklichen, ist ge-rade für junge Eltern schwierig, aber auch sehr wichtig.Deshalb benötigen wir in der Gesellschaft, insbesonderein der Wirtschaft, ein neues Leitbild für gelebte Eltern-schaft, damit der Wunsch auf Kinder endlich wiederVorfahrt bekommt.
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Jörn WunderlichIn unserem Entschließungsantrag fordern wir eineVerkürzung der Arbeitszeiten; denn im Moment ist Teil-zeitarbeit entweder ein Karrierekiller oder ein Armutsri-siko. Beides muss sich ändern. Väter und Mütter wollenBeruf und Zeit für Familie; darauf muss sich vor allemdie Wirtschaft stärker einstellen. Aber auch der Gesetz-geber, also wir, sind gefragt:
Es müssen verstärkt familienbezogene Zeitrechte indas Arbeits- und Sozialrecht integriert werden. Es mussflexibler gestaltet und mit einem Arbeitsplatzrückkehr-recht ausgestattet sein. Eine Inanspruchnahme muss mitentsprechender sozialer und materieller Absicherungeinhergehen.Jetzt höre ich schon gedanklich die Rufe – noch ruftaber keiner –: Wer soll das alles bezahlen? Die Linkefordert und fordert!
Das ist ein Wolkenkuckucksheim! Es ist doch kein Geldda!
Wenn man Finanz- und Wirtschaftsstudien Glaubenschenken darf, setzt Deutschland 43 Prozent des Brutto-inlandsprodukts für Bildungs- und Sozialleistungen ein.Frankreich, Schweden, Finnland oder Dänemark geben50 Prozent und mehr aus. Wer in der Politik auf Rüs-tung und Krieg setzt, dem fehlen natürlich die Mittelfür die Ausgestaltung des Sozialstaates, der entzieht denwirklich Bedürftigen die Mittel; das ist doch nicht ver-wunderlich.
Ganz aktuell dazu: Der Haushaltsausschuss hat am Mitt-woch die Beschaffung von vier weiteren Fregatten imWert von mehr als 2 Milliarden Euro bewilligt. Dafürhätten ungefähr 1 700 Kindergärten gebaut werden kön-nen;
von den Steuergeschenken an die Unternehmen malganz zu schweigen.Noch Fragen? Sie werden nicht an Ihren Worten ge-messen, sondern an Ihren Taten.
Das ist eine Forderung, die immer wieder aufkommt.Frau Connemann ist nicht da. Sie hat in dieser Woche soschön gesagt: Nicht an Ihren Worten, sondern an IhrenTaten werden wir Sie messen. – Ich denke, das ist einMaßstab, der nicht nur an Frau Connemann, sondernauch an ihre Fraktion und die Koalition angelegt werdenmuss.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
– Herr Singhammer, jetzt treiben Sie es nicht zu weit.Sonst bedauere ich noch, dass Herr Stoiber das Parla-ment verlassen hat.Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielejunge Eltern möchten wissen, wann es endlich losgeht,wann das Bundesprogramm zum Ausbau der Kinder-betreuung anläuft. Die Antwort darauf sind Sie bislangschuldig geblieben. Keiner hat diese Frage beantwortet.
Den Anfang machten Sie, Frau Ministerin, im Fe-bruar. Seitdem sind schon einige Monate ins Land ge-gangen.
Im Mai gab es angeblich eine Verständigung in der Ko-alition. Und was ist jetzt? Still ruht der See! Nichts pas-siert!
Frau Ministerin, Sie haben es mit den Ihren sicherlichnicht immer leicht. Die Ihren werden vielleicht sagen:Wir mit ihr auch nicht. Jetzt ist es aber an der Zeit, dassSie endlich in die Puschen kommen; da hat Frau Lenkerecht. Das Elterngeld endet für viele in einem halbenJahr. Die Uhr tickt. Da muss jetzt endlich etwas passie-ren.
Aber was passiert? Das Gezerre unter der großenKoalitionsdecke geht munter weiter: Gezerre im Unions-lager, Gezerre zwischen SPD und CDU. Das ist aber garkein Wunder: Aus dem zusammengestrickten Koali-tionskompromiss hängen jede Menge lose Fäden raus;an denen wird jetzt natürlich gezogen. Es gibt keineklare Gegenfinanzierung und kein Konzept für eine ver-fassungskonforme Beteiligung des Bundes.
Es gibt äußerst windige Formulierungen zum Rechtsan-spruch und äußerst widersprüchliche Meinungen: Willman lieber den Ausbau der Kinderbetreuung voranbrin-gen oder eine Prämie zahlen, wenn die Kinder nicht indie Kinderbetreuung gehen?
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10934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Juni 2007
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Krista SagerMan hat den Eindruck, dass Sie inzwischen mehr loseFäden in der Hand haben als klare Vorstellungen.Nun ist es ja die vornehmste Aufgabe einer guten Op-position, der Regierung aus ihrer Verwirrung zu helfen.
Das wollen wir gerne tun: Sie diskutieren im Momentüber ein Gutscheinsystem. Das ist im Prinzip vernünf-tig. Sie haben offensichtlich gemerkt, dass der Vorschlagder grünen Oppositionsfraktion zur Kinderbetreuungs-karte – das ist ja die gleiche Richtung – ganz pfiffig ge-wesen ist. Wozu kann ein Gutscheinsystem gut sein? DasGeld des Bundes kann so über die Eltern tatsächlich indie Kinderbetreuung gehen, und zwar verfassungskon-form, was in diesem Land nicht so einfach ist. Es kannferner dazu beitragen, dass nicht nur die Länder profitie-ren, die beim Ausbau der Kinderbetreuung in der Ver-gangenheit besonders wenig gemacht haben, sondern imPrinzip jeder Platz, der in Anspruch genommen wird,gleich behandelt wird. Das Gutscheinsystem kann si-cherstellen, dass das Geld des Bundes zielgenau in derKinderbetreuung landet. Das ist ganz gut.Ich sage Ihnen aber auch: Vernünftig ist es nur, wennes mit einem Rechtsanspruch auf Betreuung und einerguten Gegenfinanzierung verbunden wird.
Herr Kauder hat darüber philosophiert, dass die Eltern,wenn sie Gutscheine haben, ihre Nachfragemacht inRichtung mehr Qualität nutzen könnten. Das funktio-niert aber nicht, wenn die Eltern um einen Gutscheinbetteln müssen und froh sein müssen, wenn sie für ihrenGutschein überhaupt irgendeinen Platz bekommen. Dasist dann keine Qualitätsoffensive. Deswegen kann dieBittstellerrolle der Eltern nur mit dem Rechtsanspruchbeseitigt werden.Genauso verhält es sich mit der Gegenfinanzierung.Wir haben vorgeschlagen, 5 Milliarden Euro aus den20 Milliarden Euro für das Ehegattensplitting zu neh-men. Dadurch wäre die Bundesfinanzierung dauerhaftgesichert. Sorgen Sie dann aber auch dafür, dass die Län-der und die Kommunen Mehreinnahmen haben, sodassauch sie ihren Beitrag zur Erhöhung der Qualität und zurSenkung der Elternbeiträge leisten können. Sonst habendie Eltern am Ende einen Bundesgutschein, aber immernoch keinen guten und kostengünstigen Krippenplatz fürihr Kind. Also: Gegenfinanzierung und Rechtsanspruchsind zwingend erforderlich.Schauen wir uns einmal die Erfahrungen in Ham-burg an. Daraus kann man lernen, was schiefgeht, wennder Gutschein ein Mittel der Mangelverwaltung wird. InHamburg hat man den Gutschein an die Erwerbstätigkeitbeider Eltern gebunden. Wozu hat das geführt? Das hatdazu geführt, dass zum Beispiel Kinder aus bildungsfer-nen Migrantenfamilien keinen Anspruch haben. Wenndiese Kinder einen Ganztagsplatz hatten, hat man ihnenden sogar weggenommen.
Familien, in denen beide Elternteile arbeitslos sind, ha-ben natürlich auch keinen Anspruch. Das heißt, geradedie Kinder, für die die frühe Förderung besonders wich-tig ist, sind massenhaft durch den Rost gefallen. Mitwelchem Ergebnis? In Hamburg ist die Ganztagsbetreu-ung für Drei- bis Sechsjährige in den sozialen Brenn-punkten von 2002 bis 2005 um ein Drittel zurückgegan-gen. In den sozialen Brennpunkten sind ein Drittelweniger Kinder in Krippenplätzen als im übrigen Ham-burg, weil man den Eltern eingeredet hat: Wenn die Mut-ter zu Hause ist, soll auch das Kind zu Hause sein.In den Stadtteilen mit überwiegend sozial benachtei-ligter Bevölkerung bekommen 20 Prozent der Kindervor der Schule überhaupt keine Kinderbetreuung zu se-hen. Das sind doppelt so viele wie im übrigen Hamburg.Das heißt, die Versorgung in den Stadtteilen mit über-wiegend armer Bevölkerung ist schlechter als in denStadtteilen mit reicher Bevölkerung. So darf man esnicht machen. Denn es geht nicht um Unterbringung vonKindern in Gebäuden, sondern um frühe Förderung.
In diesem Kontext ein Wort zur sogenannten Herd-prämie. Die gut ausgebildeten jungen Mütter werdensich ihre Berufstätigkeit mit einer Herdprämie nicht ab-kaufen lassen. Aber für eine bildungsferne Migranten-familie mit einem niedrigen Einkommen sind 150 Euroim Monat eine Menge Geld. Es ist doch absurd, solchenFamilien zu sagen: Wenn ihr euer Kind nicht in die Kin-derbetreuung gebt, dann kriegt ihr Geld, aber wenn ihreuren Zweijährigen doch in die Kinderbetreuung gebenwollt, dann bekommt ihr kein Geld.
Das ist im Hinblick auf alle bildungspolitischen, sozial-politischen und integrationspolitischen Ziele völlig ab-surd.
Herr Singhammer, ich glaube sogar, dass Sie es nichtböse meinen. Sie sitzen in Ihrer bayerischen mittelstän-dischen Familienidylle und wollen den CSU-Wählernjetzt zeigen, dass die CSU für solche Familien ein Herzhat. Aber Sie machen das auf Kosten der schwächstenKinder in diesem Land.
Sie kommen mir vor wie ein Kleingärtner, der darauf be-steht, seinen Rasen weiter mit dem Wasserschlauch
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Krista Sagersprengen zu dürfen, während nebenan das Haus brennt.So kann man keine moderne Familienpolitik betreiben.Ich finde es gut, dass die Frauen und die Familien-politiker in der FDP sich durchgesetzt haben. Wir über-schütten uns sonst nicht mit Komplimenten.
Ich kann nur hoffen, dass Sie, Frau von der Leyen, IhrenLeuten diesen Unsinn auch noch austreiben werden.
Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen
Singhammer das Wort.
Frau Kollegin Sager, nachdem Sie sich gerade so über
das Betreuungsgeld echauffiert haben, bitte ich freund-
lich um Kenntnisnahme folgender Zahlen und einen
Prozess des Nachdenkens. Gestern und heute kann man
beispielsweise in einer veröffentlichten Umfrage nachle-
sen – sie wurde nicht vom „Bayernkurier“ durchgeführt,
sondern von Forsa und der „Abendzeitung“ –, dass
70 Prozent – genaugenommen 71 Prozent – der Befrag-
ten gesagt haben, dass sie das Betreuungsgeld wollen,
dass sie es brauchen und dass sie es als Ausgleich der
unterschiedlichen Familienmodelle wünschen.
Diesem Wunsch und Willen einer ganz großen Mehrheit
der Menschen in Deutschland wollen wir entsprechen,
weil wir davon überzeugt sind, dass das richtig ist.
Wenn Sie sich an einer Partei, die seit vielen Jahrzehnten
über 50 Prozent der Stimmen erhält, orientieren wollen,
dann sollten Sie sich auch mit dem Betreuungsgeld an-
freunden.
Frau Kollegin Sager, Sie haben jetzt Gelegenheit zur
Reaktion.
Herr Singhammer, ich hätte mir gewünscht, dass Sie
sich, wenn Sie sich zu einer Kurzintervention melden,
argumentativ zumindest auf die Mechanismen einlassen,
die ich beschrieben habe.
Wenn Sie die Menschen fragen, ob sie mehr Geld ha-
ben wollen, sagen sie immer Ja. Aber wie wirkt das in
Bezug auf den Anreiz, ein Kind, das es besonders nötig
hat, in eine frühe Förderung zu bringen?
Auf diesen Mechanismus lassen Sie sich gar nicht ein.
Ich finde, das geht weder unter sozialpolitischen noch
unter integrationspolitischen noch unter bildungspoliti-
schen Gesichtspunkten.
Es ist nicht so, dass irgendeiner Familie in Deutsch-
land etwas weggenommen wird. Es ist auch nicht so,
dass Deutschland bei den Transferleistungen im interna-
tionalen Vergleich nicht ganz gut dasteht. Es gibt das
Ehegattensplitting,
und es gibt Betreuungsfreibeträge. Mit diesen Freibeträ-
gen werden die Familien gefördert, auch die Familien,
die sich gegen die Betreuung ihrer Kinder entscheiden.
Wir stehen vor der Aufgabe, insbesondere die Fami-
lien, die bildungsfernen Schichten angehören, und Ein-
wandererfamilien davon zu überzeugen, dass es gut ist,
wenn sie ihr Kind nicht erst mit vier oder fünf Jahren in
den Kindergarten schicken, und dass es gut ist, wenn sie
es dort nicht nur für vier Stunden lassen. Das ist eine rie-
sige Aufgabe.
An dieser Stelle setzen Sie das Signal in die umge-
kehrte Richtung. Sie wollen es geradezu prämieren,
wenn diese Familien ihre Kinder zu Hause behalten. Das
heißt, wenn die Mutter zu Hause ist, muss auch das Kind
zu Hause sein. Das ist wirklich fatal. Ich glaube, das
wird in der deutschen Wirtschaft inzwischen viel besser
verstanden als in der CSU. In der deutschen Wirtschaft
wird mittlerweile anerkannt, dass eine frühe Förderung
der Kinder wichtig ist.
Das Wort hat nun Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Werte Damen und Herren! Frau Sager,zunächst zu Ihrem Schlusswort: Die CDU/CSU-Fraktionhat es nicht nötig, von einer Ministerin oder einem Frak-tionsvorsitzenden auf Linie gebracht zu werden. UnsereFraktion besteht aus selbstbewussten und selbstständi-gen Abgeordneten, die um eine vernünftige und gute Lö-sung ringen. Sie dürfen uns durchaus zugestehen, dasswir dabei ein wohlmeinendes Interesse verfolgen undgute Absichten haben.
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Paul LehriederDer Siebte Familienbericht, über den wir heute imPlenum diskutieren, wurde bereits im April 2006 vorge-legt; seine Veröffentlichung liegt also schon einige Zeitzurück. Lassen Sie mich daher zu Beginn meiner Aus-führungen die wichtigsten Aussagen des Siebten Fami-lienberichts in Erinnerung rufen.Seine Kernbotschaft lautet: Familie ist nach wie vordie attraktivste Lebensform für junge Frauen und Män-ner. Für 80 Prozent der jungen Menschen ist Familieauch heute noch wichtig. Die meisten von ihnen wollenselbst einmal eine eigene Familie gründen. Allerdingsmüssen die jungen Menschen zur Verwirklichung diesesWunsches heutzutage flexibler und vielseitiger als ihreElterngeneration sein.Angesichts der demografischen Entwicklung und derBedeutung der Familie für unsere Gesellschaft als Gan-zes kann die Botschaft für uns Familienpolitiker nur lau-ten: Wir müssen alles dafür tun, damit junge Menschenihren Familienwunsch realisieren können. Aufgabe einermodernen Familienpolitik muss sein, die Rahmenbedin-gungen für Familien so zu gestalten, dass ein Leben mitKindern einfacher zu managen ist.
Um den Alltag und das Leben insgesamt meistern zukönnen, brauchen Familien aus Sicht der Sachverständi-genkommission heutzutage dreierlei: erstens finanzielleUnterstützung in den verschiedenen Lebensphasen,zweitens Zeit für ein gemeinsames Familienleben unddrittens eine Infrastruktur, durch die familiennaheDienstleistungen bedarfsgerecht angeboten werden.Bundesfamilienministerin Frau von der Leyen hat dieKernaussagen des Siebten Familienberichts in der Ver-gangenheit offensiv nach außen vertreten und sie auch inder heutigen Debatte deutlich gemacht. Sehr geehrteFrau Ministerin, Sie scheuen keine Auseinandersetzung,um Familienpolitik zum Wohle aller Familien in unse-rem Lande zum Topthema schlechthin zu machen. Des-halb freue ich mich, hier und heute feststellen zu können,dass die zentralen Empfehlungen der Sachverständigen-kommission in den vergangenen 14 Monaten bereitsweitestgehend umgesetzt worden sind.
Denken wir nur an die steuerliche Absetzbarkeit vonhaushaltsnahen Dienstleistungen und an die Einführungdes Elterngeldes zum 1. Januar dieses Jahres!
– Frau Lenke, zu Ihnen komme ich noch.Auch was die Bündelung der Leistungen für Familienbetrifft, sind wir auf einem guten Weg. Ich selbst bin inder Arbeitsgruppe „Familienleistungen“, die von meinerFraktion eingerichtet wurde, und kann bestätigen, dassan dieser komplexen Materie intensiv gearbeitet wird.Diese Maßnahmen haben entscheidend dazu beigetra-gen und werden entscheidend dazu beitragen, dass dieRahmenbedingungen für Familien in unserem Land bes-ser werden. Die inzwischen auf 1,4 Kinder pro Frauleicht gestiegene Geburtenrate bestätigt diese positiveEntwicklung.
– Sie reden nachher noch selber, Frau Gruß.Um Wunsch und Wirklichkeit in unserem Land nochweiter in Einklang zu bringen, war es besonders wichtig,dass wir auch beim Ausbau der Betreuung für unterDreijährige gehandelt haben. Die ideologischen Gra-benkämpfe, die diesen enorm wichtigen Schritt hin zurbesseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf lange Zeitblockiert haben, scheinen damit endlich überwunden zusein. Die Große Koalition hat beschlossen, dass bis 2013für 35 Prozent der Kinder ein Krippenplatz bzw. einPlatz bei einer Tagesmutter geschaffen wird.
Frau Sager, es geht hier nicht um ein Entweder-oder, esgeht um ein Sowohl-als-auch, es geht um das Recht aufeinen Krippenplatz, aber auch um die Möglichkeit derBetreuung zu Hause; ich komme noch im Detail dazu.Wir gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der Elternein entsprechendes Angebot benötigen und auch in An-spruch nehmen wird. Die Entscheidung des Koalitions-ausschusses vom 14. Mai 2007 wird dazu führen, dassvor allem der steigenden Zahl von alleinerziehendenMüttern und Vätern, aber auch all jenen Familien, dietrotz Kind arbeiten wollen – oder arbeiten müssen –, dasLeben in Zukunft erleichtert wird.
Nicht zuletzt aus diesem Grund ist anzunehmen, dasswieder mehr junge Menschen in Deutschland den Mutfinden werden, sich für ein Kind zu entscheiden. Es istaußerdem unser politischer Wille, dass ab 2013 einRechtsanspruch auf Betreuung der unter dreijährigenKinder eingeführt wird. Hierdurch erhalten junge Fami-lien wie auch Alleinerziehende Planungssicherheit undVerlässlichkeit.
Frau Sager, Sie haben in der Überschrift Ihres An-trags ausdrücklich „Verlässlichkeit für Familien schaf-fen“ geschrieben. Genau das tun wir; da sind wir sogarein Stück weiter als die Grünen.Frau Kressl, ich gebe Ihnen recht: Natürlich wird dieSteigerung des Angebotes an Krippenplätzen für unterDreijährige die Nachfrage beflügeln. Es werden mehrKrippenplätze für unter Dreijährige nachgefragt, wenndie Mutter weiß: Es sind Plätze da, und ich kann bewusstund auch in der heutigen Zeit leichter Ja zum Kind sa-gen.Gleichzeitig ist vorgesehen, dass jene, die ihre Kinderim Alter zwischen einem Jahr und drei Jahren nicht au-ßer Haus betreuen lassen möchten, ab 2013 eine monat-liche Zahlung von 150 Euro bekommen. Das sogenannte
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Paul LehriederBetreuungsgeld ist aus unserer Sicht ein weiterer Schrittzu echter Wahlfreiheit.
– Das unter dreijährige Kind wird Ihnen nicht sagen kön-nen, ob es die 150 Euro mitnehmen oder lieber mit sei-nen Kumpels in der Krippe spielen will. Also bitte, FrauGruß, ein bisschen Seriosität in der Diskussion sollteschon sein.Oberstes Ziel muss es sein, dass Eltern – sie habendas Erziehungsrecht – selbst entscheiden können, wel-che Betreuungsform sie für ihre Kinder möchten, unddass sie, egal wie die Entscheidung ausfällt, vom StaatUnterstützung und Anerkennung erfahren. Die CDU/CSU-Fraktion ist der Meinung, dass jede Familie, dieKinder erzieht, unseren Respekt und unsere Anerken-nung unabhängig vom gewählten Lebensmodell ver-dient.
Liebe Frau Sager, natürlich wird über das Gutschein-modell auch bei uns kontrovers und lebhaft diskutiert;keine Frage. Aber jetzt die bildungsfernen Schichten, diesie angesprochen haben, oder die Migrationsfamilien un-ter den Generalverdacht zu stellen, dass die Gelder nichtbezogen auf die Kinder ausgegeben werden, bzw. zu be-haupten, dass die „Herdprämie“ – Sie haben das ohneAnführungszeichen gemeint – dazu führt, dass die Kin-der nicht in Betreuungseinrichtungen gebracht werden –das sind Unterstellungen, die Sie nicht ernsthaft auf-rechterhalten werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wer will sie stellen? – Frau Gruß spricht nachher. Ichverzichte.
Auf keinen Fall wollen wir die einzelnen Lebensmo-delle gegeneinander ausspielen. Leider sind Sie, meinelieben Kollegen von der Opposition, über das Stadiumder Polarisierung und Diffamierung noch nicht hinaus,wie die Aktuelle Stunde zur „Herdprämie“ im Mai ge-zeigt hat. Ich bedauere die Bezeichnung „Herdprämie“– Sie haben sie auch vorhin verwendet –, weil damit eineSchärfe in die Diskussion gekommen ist, die den Fami-lien nichts nützt und für die viele Familien kein Ver-ständnis haben.Das gilt gleichermaßen für die auch von Teilen vonuns verwendete Bezeichnung Fremderziehung.
Mein Sohn mit seinen gut zwei Jahren ist für ein paarStunden am Tag in einer Krippe. Ich würde mich ver-wahren gegen die Formulierung, meine Frau und ich lie-ßen unser Kind deswegen fremderziehen. Jede Mutterund jeder Vater, die ihr Kind für vier Stunden am Tag indie Krippe bringen, erziehen das Kind 20 Stunden amTag noch selber. Ich glaube, es ist nicht der richtige Weg,hier von Fremderziehung zu sprechen. Wir sollten hierbeide rhetorisch abrüsten.
– Sie brauchen sie nicht anzumelden; ich lasse sie nichtzu.
Nehmen Sie doch lieber wohlwollend zur Kenntnis,dass den Familien in Deutschland ab 2013 durch das Be-treuungsgeld zusätzliches Geld – wohlgemerkt: zusätz-lich zu den 4 Milliarden Euro, die der Bund für den Aus-bau der Kinderbetreuung zahlen wird – zur Verfügungstehen wird. Es erschließt sich mir nicht, was an mehrGeld für Familien schlecht sein soll.Mit der Einführung des Betreuungsgeldes kann eineEmpfehlung der Sachverständigenkommission umge-setzt werden, die vorgeschlagen hat, die Dauer des El-terngeldes auf drei Jahre auszudehnen. Wir bewegen unsin der Diskussion ja schon in die Richtung, dass wir fürdie Familien über das erste Jahr hinaus mehr Leistungengewähren wollen. Das hatten Sie vorhin noch moniert,Frau Lenke.Lassen Sie uns daher doch die leidige Diskussionüber das richtige Familienbild und die Vorwürfe der Be-vormundung beenden. Konzentrieren wir uns lieber da-rauf, geeignete Instrumente und Wege zu finden, damitjedes Kind von den geplanten Initiativen profitierenkann. Maßstab jeder Überlegung kann dabei meinerMeinung nach nur das Kindeswohl sein. Das Kindes-wohl ist dann gewährleistet, wenn ein Kind seine Poten-ziale frei entfalten kann. Wir alle sind uns wohl darin ei-nig, dass in diesem Zusammenhang gerade derfrühkindlichen Bildung eine zentrale Rolle zukommt.Ich distanziere mich aber ausdrücklich davon, dassgute Angebote für Kinder ausschließlich durch institu-tionelle Betreuungseinrichtungen gewährt werden kön-nen. Ich denke, dass immer noch die Eltern am bestenentscheiden können, was der Entwicklung ihres Kindesgut tut. Die allermeisten Eltern werden das Betreuungs-geld auch zielgerichtet für das Wohlergehen ihres Kin-des einsetzen, Frau Sager.Diejenigen Eltern, die durch entsprechende Problemein der Familie nicht dazu in der Lage sind, brauchen beider Bewältigung ihrer Probleme Unterstützung. Ihnenund ihren Kindern ist vielleicht nicht unbedingt durchmehr Geld geholfen. Ich gebe den Kritikern des Betreu-ungsgeldes recht, dass das Geld in manchen Fällen wohlauch nicht bei den Kindern ankommen wird.
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10938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Juni 2007
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Paul LehriederEs ist aber auch klar, dass sozial benachteiligte Familien,auf die Sie aus der Opposition in diesem Zusammenhanggerne abzielen, zusätzlich gezielte Hilfestellungen brau-chen, damit sich die Situation der Eltern auch wirklichnicht negativ auf die Entwicklung der Kinder auswirkt.
Das soziale Frühwarnsystem der Bundesregierung istdarüber hinaus meiner Meinung nach bereits ein wichti-ger Schritt in die richtige Richtung, um Vernachlässi-gung oder sogar Misshandlung von Kindern wirksamvorzubeugen.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Jawohl, Herr Präsident, ich bin schon kurz vorm
Ende, obwohl ich noch viel zu sagen hätte.
Der Bund stellt 10 Millionen Euro für das Programm
bereit. Im Fokus stehen dabei vor allem Kinder bis zu
drei Jahren sowie junge Familien in belasteten Lebensla-
gen.
Liebe Frau Laurischk, ich freue mich auf die Diskus-
sion im Ausschuss.
Dort haben wir Zeit dafür. Ich stehe Ihnen für eine Dis-
kussion selbstverständlich gerne zur Verfügung. Ich bitte
aber um Verständnis, dass ich Schaufensterfragen hier
im Plenum aufgrund der vorgerückten Zeit nicht zuge-
lassen habe. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochen-
ende.
Danke schön.
Es wurden zwei Kurzinterventionen angemeldet. Zu-
nächst Kollegin Sager und dann Kollege Barth.
Herr Lehrieder, eine Sache kann ich so wirklich nicht
stehen lassen, nämlich Ihre Behauptung, ich hätte den
bildungsfernen Migrantenfamilien unterstellt, dass sie,
wenn sie eine staatliche Prämie bekämen, das Geld
nicht für ihre Kinder ausgeben würden. Das habe ich
nicht gesagt.
Der Sachverhalt ist doch anders: Sie wollen diese Prä-
mie als Belohnung dafür gewähren, dass diese Familien
ihr Kind nicht in eine Kinderbetreuung geben.
In dem Moment, in dem sich eine solche Familie ent-
scheidet, zum Beispiel ein zweijähriges Kind doch wie-
der in die Kinderbetreuung zu geben – was meistens mit
zusätzlichen Kosten verbunden ist –, nehmen Sie ihnen
das Geld wieder weg, weil sie die Kriterien für diese
Prämie dann ja nicht mehr erfüllen.
Das ist das völlig falsche Signal. Darauf lassen Sie
sich argumentativ aber offensichtlich nicht ein. Denken
Sie also noch einmal darüber nach!
Kollege Barth, bitte.
Herr Kollege Lehrieder, neben der Tatsache, dass ich
die Form und die Art Ihres Umgangs mit den Meldungen
zu Zwischenfragen nicht sehr kollegial fand, finde ich es
besonders verwunderlich, dass Sie am Ende bedauern,
dass Sie noch viel zu sagen gehabt hätten. Dabei hätten
Sie die Gelegenheit gehabt, mehr zu sagen, wenn Sie die
Zwischenfragen zugelassen hätten. Diese Chance haben
Sie nicht genutzt.
Ich möchte Sie nur kurz darauf hinweisen, dass es
auch in einigen ostdeutschen Ländern, in denen die CDU
meines Wissens mitregiert, einen Rechtsanspruch auf
Kinderbetreuung für Kinder von null bis 14 Jahren gibt.
Das ist in Sachsen-Anhalt zum Beispiel der Fall. Das,
was Sie vorgetragen haben, erscheint mir damit nicht
vereinbar. Vielleicht können Sie auch darauf in Ihrer
Antwort eingehen.
Vielen Dank.
Herr Kollege Lehrieder, Sie haben Gelegenheit zur
Antwort.
Zunächst zu Ihnen, Frau Sager: Es geht nicht um eineBelohnung dafür, dass die Kinder zu Hause bleiben, son-dern um einen Ausgleich.
Sie unterstellen, dass die Erziehungsleistung durch El-tern, die ihre Kinder zu Hause erziehen, weniger odergar nichts wert ist. Wenn für die Erziehung zu Hause– auch dort fallen schließlich Ausgaben an – ein Aus-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Juni 2007 10939
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Paul Lehriedergleich in Höhe von 150 Euro gewährt wird, dann ist dasweder eine Diskriminierung noch eine Präferenz.
Mir geht es darum, dass die Eltern frei zwischen bei-den Modellen wählen können, ohne dass eines bevorzugtwird. Das liegt im Interesse der Eltern wie auch der Kin-der.
Zu Ihrer Frage, Herr Barth: Ich habe kein Problem da-mit, wenn auf Länderebene ein Rechtsanspruch auf Kin-derbetreuung geschaffen wird. Wir haben uns mit demRechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab 2013 bereitsin diese Richtung bewegt, was Sie auch zur Kenntnis ge-nommen haben. Ob der Rechtsanspruch schneller einge-führt werden kann, bleibt abzuwarten. Auch wenn wirnicht ganz so schnell vorankommen, wie Sie es sich vor-stellen, sind wir auf dem richtigen Weg. Wir denken überdieses Thema nach. Das wäre vor ein paar Jahren bei unsnoch schlecht vorstellbar gewesen.Danke schön.
Nun erteile ich das Wort Kollegin Miriam Gruß, FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich möchte auf zwei Randgruppenhinweisen, die in der Debatte schlichtweg vergessenwurden. Der eine oder andere lacht zwar darüber, abermeiner Ansicht nach werden sowohl die Bedürfnisse undRechte der Kinder als auch die Forderungen und Anlie-gen der Väter in der gesamten Diskussion übersehen.Niemand aus den Reihen der CDU/CSU fragte bishernach dem Recht der Kinder auf Bildung, individuelleFörderung und Unterstützung bei der Entwicklung dereigenen Fähigkeiten.
Statt von Förderung spricht der Kollege Lehrieder näm-lich nur von einem Treffen von Kumpels, wenn es umdie Kinderkrippen geht. Sie müssen noch viel dazu-lernen.
Niemand aus den Reihen der CDU/CSU fragte bishernach den Wünschen, vielleicht aber auch nach denÄngsten der Väter, wenn es um das Thema Kinderbe-treuung ging. Im Siebten Familienbericht werden hinge-gen in beiden Bereichen Schwerpunkte gesetzt. Darüberfreue ich mich und danke den Autoren für ihre Weitsicht.Beim Thema Kinder steht die Trias Bildung, Betreu-ung und Erziehung im Mittelpunkt. Insbesondere dieersten Lebensjahre sind entscheidend für die Persönlich-keitsbildung von Kindern. Der vorliegende Bericht ver-weist zu Recht auf wichtige Ergebnisse neuerer For-schungen zur frühkindlichen Sozialisation.Demnach kommt es nicht nur auf die reine Versor-gung in den ersten Lebensmonaten an; ebenso wichtigsind auch der Aufbau stabiler Bindungen und die Bezie-hungsqualität, wie es im Bericht heißt. Ein Kind begreiftab der Geburt, ob es von einer Person nur versorgt oderaufmerksam betreut, angeregt und gefördert wird. Wiralle – außer der CDU/CSU – wissen, welche enormenEffekte frühkindliche Förderung hat:
selteneres Schulversagen, höhere und frühere Bildungs-abschlüsse, bessere Gesundheit und Ernährung und ge-ringere Kriminalitätsraten.
Deshalb fordert die FDP-Fraktion, dass schon Krip-pen und Kindergärten unter dem Aspekt der frühkindli-chen Bildung begriffen, dass dort die kognitiven Fähig-keiten von Kindern gezielt gefördert werden und dassdie Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird, nämlichbei den Kindern.
Möglich wird dies mit unserem Konzept der Subjektför-derung durch Bildungs- und Betreuungsgutscheine.Herr Lehrieder, Sie wollen doch eigentlich nur eineKindergelderhöhung durchsetzen.
Wir wollen nicht nach dem Gießkannenprinzip, sondernbedarfsgerecht fördern. In diesem Zusammenhang willich eines klarstellen: Auf Schuldenbergen können Kin-der nicht spielen.
Lassen Sie mich abschließend auf die zweite Minder-heit zu sprechen kommen. Im Siebten Familienberichtwird zu Recht an vielen Stellen darauf verwiesen, wieunterschiedlich Frauen und Männer mit der Herausfor-derung Familie umgehen. Es wird aber auch klargestellt,dass junge Männer am Erziehungsprozess ihrer Kinderbeteiligt werden wollen. In dem Bericht wird deutlichgesagt: Kinder brauchen ihre Väter. Sie sind ihnen Vor-bild, Vertrauensperson und Hilfe zugleich. Ich forderemehr männliche Erzieher, vor allem in den Kindergärten,aber auch in den Grundschulen. Die Väter sind ganzwichtig, und es ist auch extrem wichtig, dass sie ein Vor-bild für ihre Kinder sind.
Im Sinne der Väter, der Kinder und der Familien ma-chen wir von der FDP eine gute Bildungs- und Familien-politik.
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10940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Juni 2007
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Jetzt hat Frau Kollegin Humme von der SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Etwas Erfreuliches aus Bayern: 98,5 Prozent der 3- bis6-Jährigen gehen dort in einen Kindergarten. Das konnteman gestern lesen.
– Das ist richtig, sagen Sie, Herr Singhammer. Das isteine sehr beeindruckende Zahl, keine Frage. Warum sollich Sie nicht auch einmal loben, wenn es wirklich ange-bracht ist?
Ich sage aber gleichzeitig: Das ist so, weil es seit elfJahren für die 3- bis 6-Jährigen einen Rechtsanspruchauf einen Kindergartenplatz gibt. Der Rechtsanspruchwirkt an dieser Stelle.Wenn wir uns aber die Situation bei den Krippenplät-zen anschauen, dann müssen wir feststellen – das habenwir heute schon vielfach gehört –, dass die Zahlen wirk-lich mager sind. In Westdeutschland werden insgesamtnur 7,8 Prozent der Kinder unter drei Jahren entspre-chend betreut. Ich meine, an dieser Stelle ist klar: Auchim Krippenbereich brauchen wir unbedingt einenRechtsanspruch.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, vor neun Monatenhaben wir zum ersten Mal über den Siebten Familienbe-richt debattiert. Im Familienbericht legen uns die Wis-senschaftler ein Umdenken in der Familienpolitik nahe:weg von der bisherigen Politik der reinen Transferleis-tungen und hin zu einem nachhaltigen familienpoliti-schen Konzept, einem Mix aus Geld, Betreuungsangebo-ten und Zeit. Gleichzeitig – das ist ein Aspekt, der heutenoch gar nicht richtig zum Tragen kam – legen uns dieWissenschaftler nahe, dass gute Familienpolitik immerauch Gleichstellungspolitik sein muss. Beides gehört zu-sammen.
Wer vor anderthalb Jahren gedacht hat, dass dieGroße Koalition gar nicht in der Lage sein wird, aus die-sem Anspruch heraus etwas zu entwickeln, der wird– das muss man ehrlicherweise sagen – eines Besserenbelehrt. Ich sage Ihnen: Sie bewegt sich doch, auch wenndas in den letzten Tagen vielleicht nicht ganz so deutlichwar. Die Große Koalition hat in den letzten neun Mona-ten eine ganze Menge auf den Weg gebracht. Frau Sager,so langsam, wie Sie es beschrieben haben, war das mitSicherheit nicht.Denn wer hätte gedacht, dass schon am 1. Januar2007 – nach einem Jahr – das Elterngeld und die Eltern-zeit in Kraft treten würden? Und wer hätte gedacht, dasswir uns schon am 14. Mai 2007 – vor sechs Wochen –auf einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ver-ständigen würden?
Wir haben uns darauf verständigt – und darauf bestehenwir –, dass dieser Rechtsanspruch auch in dieser Legisla-turperiode formuliert wird.
– Warten wir einmal ab. – Damit erfüllen wir berechtig-terweise Schritt für Schritt die Forderungen des SiebtenFamilienberichts.Man stellt ja fest, dass das Elterngeld schon jetztdazu geführt hat, dass sich die Anzahl der Anträge derMänner auf Elternzeit im Vergleich zu früher verdoppelthat. Diese Verhaltensänderung der Männer ist der Be-weis dafür, dass die Annahme im Siebten Familienbe-richt richtig ist: Die Familie hat sich verändert, aber auchdie Rollen haben sich verändert.
Das Elterngeld und die Elternzeit geben den Mütternund Vätern die Chance, die Vereinbarkeit von Beruf undFamilie letztlich auch in die Tat umzusetzen. Das ist einewichtige Voraussetzung auch für das Thema Gleichstel-lung.Aber ich gebe Ihnen, Frau Sager, und allen, die vorhergesprochen haben, natürlich recht: Nach einem JahrElternzeit, das heißt im nächsten Jahr, wird der Druckzunehmen, einen qualitativ guten Krippenplatz zu fin-den.
– Aber der Druck erhöht sich auch, weil die Nachfragestärker wird, Frau Lenke. Darin werden Sie mir ja rechtgeben. Sie haben das in Ihrer Rede ja deutlich gemacht.Deshalb ist es richtig, Druck zu machen. Und Frauvon der Leyen macht ja auch Druck, um den Ausbauder Krippenplätze zu bescheunigen.
Darum ist richtig, dass wir bei den Krippenplätzen bis2013 auf 750 000 Plätze kommen wollen. Auch ist esrichtig, die Formulierung eines Rechtsanspruchs zu be-schleunigen.
Wir dürfen keine Zeit verlieren.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lenke?
Gerne.
Bitte, Frau Lenke.
Frau Kollegin Humme, da die Ministerin nicht mit
dem Finanzierungskonzept herausgerückt ist, sagen Sie
mir doch bitte, wie Sie den Druck ohne ein Finanzie-
rungskonzept erhöhen wollen mit dem Ziel, eine ausrei-
chende Zahl an Krippenplätzen zur Verfügung zu stellen.
Sie haben recht: Dafür braucht man Geld. Ich bin sehr
froh und stolz darauf, dass wir in der Großen Koalition
vereinbart haben, dass der Bund die Kommunen nicht
alleine lässt, sondern sich an der Finanzierung der Krip-
penplätze beteiligt.
Ich glaube, das ist ein Fortschritt. Das hat es vorher nicht
gegeben. Das müssen Sie anerkennen.
Beim Krippenausbau geht es nicht nur um Gleichstel-
lung, sondern auch – das wurde in den zuvor gehaltenen
Reden deutlich – um die Bildungschancen unserer Kin-
der. Frau Kressl hat mit Recht darauf hingewiesen: So-
lange es Zeitungsmeldungen gibt, dass Akademikerkin-
der einen besseren Zugang zum Studium haben und eher
ein Studium abschließen, während Kinder aus Familien
mit Migrantenhintergrund noch nicht einmal einen
Hauptschulabschluss erreichen, so lange haben wir die
Pflicht, die Bildung von Anfang an in den Vordergrund
zu stellen. Herr Lehrieder, Sie tun das Konzept der Bil-
dung von Anfang an leider als Spielgruppe mit Kamera-
den ab. Das kann ich Ihnen nicht durchgehen lassen.
Bitte schauen Sie sich die Bildungsberichte an. Dann
wissen Sie, wie wichtig Bildung von Anfang an ist.
Sie sehen, dass der Betreuungsausbau bei uns der Ta-
gesordnungspunkt eins ist. Ich sage Ihnen aber ganz
deutlich: Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
kraten steht das Betreuungsgeld nicht auf der Tagesord-
nung; denn ich stimme allen Vorrednerinnen und Vorred-
nern zu, die die Auffassung vertreten haben, dass das
Betreuungsgeld eine Geldleistung dafür ist, dass ein
Kind weniger Bildung erhält.
Es wäre außerdem eine Geldleistung dafür, dass Mütter
– nicht die Väter; um die geht es in der Regel nicht – ihre
eigenen Lebensentwürfe nicht leben können. Oder soll
ich vielleicht sagen: nicht leben sollen? Das wollen wir
auf keinen Fall.
Wir danken den Verfasserinnen und Verfassern des
Siebten Familienberichts für die Anregungen, die alle
ein einziges Ziel haben, nämlich die Neuausrichtung der
Familienpolitik an der Lebenswirklichkeit. Ich garan-
tiere: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
machen uns diese Anregungen gerne zu eigen.
Schönen Dank.
Nun hat als letzter Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt Kollege Wolfgang Spanier, SPD-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerBericht, über den wir heute diskutieren, hat 589 Seiten.Es ist völlig klar, dass wir in einer Stunde Debatte nureinzelne Punkte herausgreifen können.Ich möchte das unterstreichen, was Frau Humme ge-rade gesagt hat: Der Bericht ist ganz ausgezeichnet, undzwar sowohl in der Analyse als auch in der Orientierung,die er uns in der Familienpolitik gibt. Eines ist deutlich– das ist glücklicherweise seit drei, vier Jahren auch inder öffentlichen Wahrnehmung –: Familienpolitik ist einentscheidender Bereich der Gesellschaftspolitik für dieEntwicklung unseres Landes.Da ich in sechs Minuten nicht alle Aspekte anspre-chen kann, will ich mich auf zwei konzentrieren. Ichmöchte einige Anmerkungen zur Veränderung der Fami-lienstrukturen machen und auf einen Aspekt eingehen,der mir persönlich wichtig ist, nämlich auf die Genera-tionensolidarität.In dem Bericht wird im europäischen Vergleich sehrausführlich beschrieben – das wurde heute schon mehr-fach angesprochen –, wie sehr sich die Familienstruk-turen im Vergleich zu den 60er-Jahren verändert haben.Es wird dankenswerterweise mehrfach gesagt, dass alleVersuche, das zurückzudrehen, einen Schritt zurück indie 60er-Jahre zu machen, scheitern werden, dass einsolcher Schritt völlig verfehlt ist. Ich verstehe daher alle,die das Betreuungsgeld kritisieren; denn hier wird inder Tat übersehen, dass es im Kindergarten, in der Kin-dertagesstätte und in der Kinderkrippe nicht nur um Be-treuung geht. Es geht doch nicht allein darum, die Vo-raussetzungen dafür zu schaffen, dass beide Elternteilearbeiten können. In der Kinderkrippe geht es auch umBildung und Erziehung. Das ist ganz entscheidend.
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Wolfgang SpanierViele von den Älteren, wie zum Beispiel ich, sind Groß-eltern. Wir sehen an den Enkelkindern, welchen Ent-wicklungsschub es bei ihnen gibt, wenn sie diese Ein-richtungen besuchen. Kinderkrippen haben eben nichthauptsächlich mit Betreuung und Verwahrung zu tun.An mehreren Stellen gibt es den Versuch – das mussich sagen –, zurück in die 50er-Jahre zu gelangen. Wirmüssen einfach die Lebenswirklichkeit und die Vielfaltim Bereich Familie akzeptieren. Alles Gerede von derKrise der Familie geht an der Lebenswirklichkeit vorbei.Die Familie – das bestätigt dieser Bericht ausdrücklich –ist die entscheidende Instanz, um beiden Geschlechterndie gleiche Chance auf Lebensverwirklichung zu geben,allen Kindern gute Entwicklungsmöglichkeiten zu ga-rantieren und den Zusammenhalt der Generationen zugewährleisten. Das leistet nach wie vor die Familie.Aber sie tut dies angesichts des gesellschaftlichen Wan-dels unter erschwerten Bedingungen. In einem früherenFamilienbericht wurde das etwas akademisch als die„strukturelle Rücksichtslosigkeit“ bezeichnet. DenkenSie nur an die Veränderungen in der Arbeitswelt – Stich-wort Arbeitszeit –, die nicht von vornherein familien-freundlich sind.Ich komme nun zur Generationensolidarität. Es istganz wichtig, dass wir die drei Berichte, nämlich Fami-lienbericht, Kinder- und Jugendbericht und Altenbericht,im Zusammenhang diskutieren. Das sagen in ihrem Vor-wort auch die Verfasser des Familienberichts. Es ist rich-tig, dass Familie da ist, wo Kinder sind. Das trägt derVielfalt der Familien und der unterschiedlichen Formendes Zusammenlebens Rechnung, die sich im Laufe derletzten Jahrzehnte herausgebildet haben. Aber es ist auchrichtig, zu sagen – das habe ich der Antwort der Bundes-regierung entnommen –: Familie ist noch mehr; sie isteine Gemeinschaft mit starken Bindungen, in der meh-rere Generationen füreinander sorgen. – Diesen Genera-tionenaspekt halte ich für äußerst wichtig.
Wir sollten die Generationensolidarität nicht ideali-sieren. Sie ist aber nach wie vor ein Stützpfeiler unsererGesellschaft. Bei der Diskussion über die Pflege undPflegeversicherung geht es auch um Generationensolida-rität, die die Verbundenheit innerhalb der Generationenwiderspiegelt. Diese Generationensolidarität ist noch inweiten Teilen intakt. Aber sie ist ebenfalls gefährdet. ImBericht taucht dazu der etwas merkwürdige, ebenfallsakademische Begriff „multilokale Mehrgenerationenfa-milie“ auf.
Diese Entwicklung ist in der Tat festzustellen. Das zeigt,dass wir versuchen müssen, diesen gesellschaftlichenVeränderungen Rechnung zu tragen, wenn wir über Rah-menbedingungen nachdenken, die der Staat setzt.Eine kurze Bemerkung zu den Rahmenbedingungen.Ich gebe all denjenigen, die heute gesprochen haben,recht, dass wir bei allen Überlegungen, auch bei allen In-strumenten, die wir in der Familienpolitik einsetzen– das gilt auch für die unterschiedlichen Arten von Geld-leistungen –, immer ein ganz besonderes Augenmerk aufdie sozial benachteiligten Kinder und Familien rich-ten sollten.
Dazu gehören sehr viele Kinder und Familien mit Migra-tionshintergrund und auch behinderte Kinder, die wirebenfalls einbeziehen sollten. Ich bin Herrn Seifertdankbar, dass er diesen Punkt in der Debatte heute ange-sprochen hat.Unter uns gesagt: Ich halte diesen liebevollen Blickauf entsprechende Maßnahmen – wie wirken sie sich ge-nau auf diese Gruppe aus? – für besonders wichtig. Ichwill hier ehrlicherweise einräumen: Der Familienberichtbescheinigt uns, dass wir in der Bundesrepublik in dieserHinsicht nicht besonders erfolgreich gewesen sind. Dasmuss man leider zur Kenntnis nehmen. Ich halte garnichts von Dramatisierung, Skandalisierung und von ei-nem Moralisieren vom Rednerpult aus. Aber dass es ver-dammt wichtig ist, bei allen Maßnahmen diesen Aspektzu berücksichtigen, möchte ich unterstreichen.
Dabei geht es nicht in erster Linie um Geld. Vielmehrsind die Verbesserung der Infrastruktur und unterstüt-zende Maßnahmen von ganz entscheidender Bedeutung.Ich will nur noch einen Hinweis geben, da meine Zeitabgelaufen ist.
– Nur die Redezeit, ja. Aber mit 64 Jahren macht mansich so langsam seine Gedanken.
Frau Kressl, mir hat das Goethe-Zitat besonders gutgefallen: Kinder brauchen Wurzeln und Flügel. – Ichmöchte nun Goethe nicht ergänzen, aber ich will sagen:Auch Abgeordnete brauchen Wurzeln und Flügel, ge-rade in der Familienpolitik.Schönen Dank.
Ich dachte schon, lieber Kollege, Sie wollten Goethenoch übertreffen.Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufDrucksache 16/4211 zu der Unterrichtung durch dieBundesregierung auf Drucksache 16/1360 mit dem Titel„Siebter Familienbericht – Familie zwischen Flexibilitätund Verlässlichkeit – Perspektiven für eine lebenslaufbe-zogene Familienpolitik und Stellungnahme der Bundes-regierung“. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis derUnterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thiersedagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen ange-nommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-ßungsanträge.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-tion der FDP auf Drucksache 16/5782? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag istgegen die Stimmen der FDP-Fraktion mit den Stimmendes übrigen Hauses abgelehnt.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 16/5783? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen desübrigen Hauses abgelehnt.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufDrucksache 16/5397. Der Ausschuss empfiehlt unterNr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Be-richts der Bundesregierung auf Drucksache 16/2250über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtesAngebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter dreiJahren 2006 den Entschließungsantrag der Fraktion derFDP auf Drucksache 16/4443 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Frak-tion der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss in Kenntnis des genannten Berichts dieAblehnung des Antrags der Fraktion Die Linke aufDrucksache 16/4412 mit dem Titel „Kindertagesbetreu-ung für Kleinstkinder sofort ausbauen und Qualität ver-bessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist gegen die Stimmen der FraktionDie Linke mit den Stimmen des übrigen Hauses ange-nommen.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie,Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Frak-tion Die Linke mit dem Titel „ElternbeitragsfreieKinderbetreuung ausbauen“. Der Ausschuss empfiehltunter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/3219, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 16/453 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit der glei-chen Mehrheit wie zuvor angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktiondes Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/552mit dem Titel „Leben und Arbeiten mit Kindern möglichmachen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, derSPD und der FDP gegen die Stimmen der FraktionDie Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-nen angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3219 dieAblehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1673 mit dem Titel„Kinder fördern und Vereinbarkeit von Beruf und Fami-lie stärken – Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuungausweiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, derSPD und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltungen der Frak-tion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkte 26 d und e. Interfraktionellwird Überweisung der Vorlagen auf den Druck-sachen 16/5426 und 16/5114 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-weisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und b auf:a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenVolker Beck , Marieluise Beck (Bremen),Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENZur Situation von Roma in der EuropäischenUnion, in den EU-Beitrittsländern und imKosovo– Drucksachen 16/918, 16/2197–b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPDDie Rechte der Roma in Europa stärken– Drucksache 16/5736 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZu der Großen Anfrage liegen zwei Entschließungs-anträge der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minutenerhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenVolker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! GestattenSie mir zunächst, den Vorsitzenden des Zentralrats Deut-scher Sinti und Roma, Herrn Romani Rose, und HerrnHerrn Roßberg recht herzlich zu begrüßen, die auf derTribüne Platz genommen haben.
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Volker Beck
Ich glaube, die Debatte, die wir heute führen, istlängst überfällig; denn vor unseren Augen, mitten in Eu-ropa, ereignet sich der größte sozialpolitische Skandalseit Ende des Zweiten Weltkriegs. In zahlreichen Staatender Europäischen Union entstehen Slums. Roma werdenin ihren Wohnungen entmietet. Sie sind oftmals Opferder Politik der Privatisierung des Wohnraums in den ost-europäischen Ländern. Sie verlieren ihre Wohnung ohneChance auf eine vergleichbare Ersatzwohnung. DiesePolitik der Entmietung ist keine Politik der sanften Ent-mietung – das wäre schon schlimm genug –; sondern sieist begleitet von rassistischen Maßnahmen und rassisti-scher Politik von vielen Verantwortungsträgern in diesenLändern.Dazu einige Beispiele: Im Januar 2006 findet eineRäumung in Rumänien statt. Die Bewohner wurden nureinen Tag zuvor über das Vorhaben unterrichtet. Schät-zungsweise 130 Erwachsene und 70 Kinder wurden beieiner Temperatur von minus 15 Grad praktisch obdach-los. Ihre persönlichen Besitztümer durften sie nicht mit-nehmen. – Der ehemalige Bürgermeister der tschechi-schen Stadt Wesetin, Jiri Cunek, Parteivorsitzender derChristdemokraten in der Tschechischen Republik, setzt230 Menschen im Oktober 2006 vor die Tür und depor-tiert sie in Container. Er begründet diese Maßnahme imtschechischen Fernsehen mit den Worten: Ich entfernedoch nur ein Geschwür; das machen die Ärzte dochauch. Das ist die Sprache, die wir in unserem Land ausder Mitte des letzten Jahrhunderts kennen. Das ist dieSprache von Rassismus und von Menschenverachtung,die wir in Europa nicht dulden dürfen.
Weitere Räumungen ohne Bereitstellung alternativerUnterkünfte gab es auch in Patras und Athen, Griechen-land, in Mailand, Italien, in Miercurea Ciuc, Spanien,und Little Waltham, England. In Italien wurde vor zweiWochen bekannt, dass in Rom durch ein groß angelegtesProjekt des Bürgermeisters Tausende Roma in vier La-gern außerhalb von Rom angesiedelt werden sollen.Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sind hier alsEuropäer gemeinsam aufgefordert, gegenzusteuern.Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatKroatien in dieser Woche wegen der Diskriminierungvon Roma und Sinti verurteilt, weil bei einer Gewalttat,der ein Roma zum Opfer fiel, die Täter nicht strafver-folgt wurden und den Anzeigen nicht entsprechendnachgegangen worden ist.Wir haben von unserer Fraktion aus im Frühjahr eineReise in die Tschechische Republik und die Slowakeigemacht, und ich habe mir das vor Ort angeschaut. Es istwirklich erschütternd, zu sehen, unter welchen Bedin-gungen viele Roma am Stadtrand leben, die noch vorzehn oder 15 Jahren feste Wohnungen und Arbeit hattenund sozial einigermaßen integriert waren. Diese Men-schen leben dort ohne Strom- und Wasserversorgung inzusammengezimmerten Hütten ohne Heizung. Dort gabes den Geruch der Armut, den manche von uns aus afri-kanischen Flüchtlingslagern kennen. Die Menschen ver-suchen mühsam, ihre Würde zu wahren. Hier muss dieEuropäische Union gemeinsam mit den osteuropäischenStaaten Abhilfe schaffen. Wir müssen den Teufelskreisder Segregation – Ausschluss von Bildung, Verlust desWohnraums und Chancenlosigkeit auf dem Arbeits-markt – dringend gemeinsam durchbrechen.
In Banská Bystrica, einer slowakischen Stadt, habeich mir ein Lager angeschaut. Dort leben die Roma in ei-nem ehemaligen Frauengefängnis. Ohne dass es dafüreine Notwendigkeit gibt, stehen um dieses ehemaligeGefängnis herum noch die Gefängnismauern, die man aneinem Nachmittag spielend abtragen könnte. Sie sind so-zusagen manifester Ausdruck des Ausschlusses dieserMenschen.80 Prozent der Romakinder in osteuropäischen Staa-ten landen in Sonderschulklassen, zum Teil deswegen,weil das finanziell gefördert wird. Ich habe in BanskáBystrica ein Projekt gesehen, das Hoffnung macht – eszeigt, wo wir ansetzen können, um wenigstens den Ro-makindern zu helfen –: Man hat mit Kindern im Vor-schulalter gespielt, damit sie die slowakische Sprachelernen. Keines der Kinder, das an diesem Projekt teilge-nommen hat, musste eine Sonderschulklasse besuchen.Diese Kinder haben den Bildungsweg einer normalenSchule beschritten. Das zeigt, dass wir – wenn wir unsgemeinsam anstrengen – den Teufelskreis mit geringenMitteln durchbrechen können. Voraussetzung ist aber,dass der politische Wille dazu besteht.
Hier liegen verschiedene Anträge von Koalition undGrünen vor. Wenn man über die Lage der Sinti undRoma spricht, dann sollte man aber nicht nur auf dieProbleme in anderen Ländern verweisen. Auch in unse-rem Land gibt es einiges zu tun. Mit Erlaubnis des Präsi-denten möchte ich auf einen Skandal in unserem Landhinweisen.
Aber nur ganz kurz. Ihre Redezeit ist schon über-
schritten.
Der damalige stellvertretende Vorsitzende des Lan-desverbandes Bayern des BDK, Peter Lehrieder, hat indem Organ des Bundes Deutscher Kriminalbeamter ge-schrieben, Sinti und Roma seien Trickdiebe, Betrügerund Sozialschmarotzer, „die sich als ‚Made im Speck’der bundesrepublikanischen Wohlfahrtsgesellschaft füh-len“. Dies hat weder zu einer Distanzierung dieses Ver-bandes geführt noch zur Strafverfolgung wegen Beleidi-gung oder Volksverhetzung. Ich finde, so etwas ist einSkandal. Das zeigt, dass auch wir in unserem Land mitden Vorurteilen aufräumen müssen.Mit Blick auf den Koalitionsantrag wünsche ich mir,dass Sie noch einmal darüber nachdenken, ob es den dasuggerierten Zusammenhang zwischen traditioneller Le-bensweise der Roma und bestimmten Problemen, die esunbestreitbar gibt, auf die die Roma aber nicht abonniertsind, tatsächlich gibt. Denken Sie einmal darüber nach,ob Vorurteile und Diskriminierungen durch den Duktus
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Volker Beck
an manchen Stellen dieses Antrags nicht eher gefördertals bekämpft werden.Herr Präsident, ein letzter Satz. In unmittelbarer Nähezum Reichstag soll das zentrale Mahnmal für die wäh-rend der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma stehen.Wir als Bundestag sind dazu verpflichtet, dafür zu sor-gen, dass die Entscheidung, dieses Mahnmal zu bauen,endlich getroffen wird. Es ist ein Trauerspiel, dass wiruns bis zum heutigen Tag nicht dazu durchringen konn-ten, die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen.
Ich erteile das Wort jetzt Kollegin Erika Steinbach,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Die Volksgruppen der Sinti und Roma sind diejeni-gen Volksgruppen, die innerhalb der EuropäischenUnion bis heute die mit Abstand größten Probleme ha-ben. Das muss man einfach konstatieren. Alle Datensprechen dafür.Auschwitz ist das Symbol für die Ermordung vonMenschen in Gaskammern, nur weil sie als Sinti,Roma oder Juden auf die Welt gekommen sind. Dasist die härteste Anklage, das darf am wenigsten ver-gessen werden.Auf diese beiden Sätze hat der Publizist HermannLangbein das verdichtet, was uns bis heute in die Verant-wortung nimmt.Vor diesem Hintergrund müssen uns auch die Ergeb-nisse einer 2006 durchgeführten repräsentativen Um-frage des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, derenVertreter ich an dieser Stelle sehr herzlich begrüße, überdas Verhalten gegenüber Sinti und Roma hier inDeutschland nachdenklich stimmen. Das Ergebnis dieserUmfrage lautet: 76 Prozent der Befragten gaben an, dasssie Opfer von Diskriminierung am Arbeitsplatz gewor-den seien. In einzelnen Fällen wurden Personen auf-grund ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der Sinti undRoma sogar entlassen.Fast die Hälfte aller Befragten, nämlich knapp46 Prozent, gab an, dass bei Behörden oder der Polizeidie Minderheitenzugehörigkeit erfasst wurde. Das isteine Praxis, die nach dem Rahmenübereinkommen zumSchutz nationaler Minderheiten des Europarats sogar un-zulässig ist. Über 90 Prozent der Befragten befürchtetenaufgrund einseitiger Berichterstattung eine Zunahmevon Vorurteilen gegenüber ihrer Gruppe.Der Antrag von CDU/CSU und SPD macht deutlich– das ergeben auch die Daten –, dass die größten Pro-bleme beim Schutz von Sinti und Roma derzeit in eini-gen osteuropäischen Ländern zu finden sind. In ver-schiedenen Ländern werden Sinti und Roma regelmäßigund in den unterschiedlichsten Bereichen des Lebensganz gravierender Diskriminierung vonseiten der Mehr-heitsgesellschaft und auch des Staates ausgesetzt.Bildung ist der Schlüssel für die Zukunftsgestaltung.Wenn es um Bildung geht, sieht es für Sinti und Romanicht sehr gut aus. Die Kinder dieser Volksgruppen wer-den häufig getrennt von den Kindern der Mehrheitsbe-völkerung unterrichtet, und zwar an Schulen, die nur sel-ten das Durchschnittsniveau in den jeweiligen Ländernerreichen. Wie katastrophal die Lage der Bildungsver-sorgung zum Teil ist, mögen folgende Zahlen verdeutli-chen: Während zum Beispiel 90 Prozent aller ungari-schen Kinder die Sekundarstufe beginnen, tut dies nurein Drittel der Kinder von Sinti und Roma. In der slowa-kischen Republik stieg die Ausfallquote der Kinder vonSinti und Roma im letzten Viertel des 20. Jahrhundertssogar von 46 auf 63 Prozent. Kinder in der „Spata-Roma“-Gemeinde in Griechenland konnten volle dreiJahre lang überhaupt keine Schule besuchen, weil keineTransportmöglichkeiten zur nächstgelegenen Schule zurVerfügung standen oder zur Verfügung gestellt wurden.Nicht zuletzt aufgrund mangelnder Bildung und Aus-bildung ist in vielen Regionen Osteuropas und Südosteu-ropas ein hoher Prozentsatz der Sinti und Roma arbeits-los. Für viele gibt es kaum Möglichkeiten, ihrenLebensunterhalt auf legalem Weg zu bestreiten. Die Fol-gen sind Flucht in die Schattenwirtschaft oder in die Kri-minalität. Gleichzeitig können viele Sinti und Romaihren Kindern kaum bessere Bildungschancen ermögli-chen, als sie selbst erhalten haben. Es entsteht, wie in un-serem Antrag deutlich formuliert ist, ein Teufelskreisaus Armut und Arbeitslosigkeit, der sich nur ganzschwer durchbrechen lässt.Darüber hinaus – das hat der Herr Kollege Beck ebenschon sehr eindringlich geschildert – leben viele Sintiund Roma in Behausungen, die schlicht und ergreifendmenschenunwürdig sind. Ohne Strom, ohne Wasser,ohne Anbindung an das Abwassersystem und ohne aus-reichende Heizmöglichkeiten leben sie häufig am Randeder Gesellschaft – ausgegrenzt. In unserem Antrag istvon gettoartigen Siedlungen die Rede. Das ist meinerMeinung nach eine durchaus nicht völlig abwegige For-mulierung.In einigen Ländern der Europäischen Union wird denSinti und Roma außerdem kein ausreichender Zugang zuGesundheitseinrichtungen ermöglicht. Es ist deshalbkein Wunder, dass die Lebenserwartung der Sinti undRoma in Bulgarien zum Beispiel sechs Jahre niedrigerist als die von anderen Bevölkerungsgruppen. Die depri-mierende Wahrheit ist, dass die Kindersterblichkeit beiSinti und Roma in Rumänien etwa dreimal so hoch istwie im Landesdurchschnitt.Solche Zustände im Herzen Europas können wir nichtübergehen. Wir dürfen nicht darüber hinwegsehen. Wirmüssen helfen, diese Missstände zu beheben.
Dazu braucht es den Willen und viel Kraft. Infrastruktur,Bildung und Gesundheitsversorgung sind die elementa-ren Bereiche, in denen vordringlich Verbesserungen er-reicht werden müssen.
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Erika SteinbachViele dieser Punkte werden im Rahmen der „Dekadeder Roma-Integration 2005 bis 2015“ bereits aufgegrif-fen. Es ist wichtig und gut, dass sich an diesem Pro-gramm auch viele derjenigen Länder beteiligen, die dengrößten Handlungsbedarf haben; denn gerade der Bei-trag dieser Länder ist entscheidend für den Erfolg desPlans. Der finanzielle Beitrag Deutschlands kann erstdann Wirkung entfalten, wenn diese Länder mitmachen.Geld und administrative Maßnahmen allein könnenjedoch nur die gröbsten Missstände mildern. EinUmdenken ist wichtig. Es gehört aber zur Wahrheit,dass auch innerhalb der Gemeinschaften der Sinti undRoma ein Umdenken stattfinden muss. Verbesserte Rah-menbedingungen haben keinen positiven Effekt, wennsie von den betroffenen Volksgruppen nicht als Chancebegriffen werden. Ein verbesserter Zugang zur Schule istunbedingt notwendig; darin sind wir uns alle einig. DieEltern müssen die Kinder aber auch zur Schule schickenund versuchen, die Hausaufgaben zu kontrollieren. DieGleichstellung von Sinti und Roma in allen gesellschaft-lichen Bereichen ist absolut wünschenswert. Solangeaber innerhalb der Familien der Sinti und Roma Frauenunterdrückt werden, häuslicher Gewalt ausgesetzt sindund ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht wahrnehmenkönnen, kann eine tatsächliche Gleichstellung vonFrauen nicht erfolgen. Ein verbesserter Zugang zu Ge-sundheitseinrichtungen soll ermöglicht werden. Dannmüssen aber auch patriarchalische Traditionen weichen,die zu einer doppelten Diskriminierung der Frauen füh-ren. Erst wenn die Frauen in die Ambulanzen gehen,können sie von einem medizinischen Angebot profitie-ren.Vor diesen Wahrheiten verschließt der Antrag vonCDU/CSU und SPD nicht die Augen. Herr KollegeBeck, man tut dem Anliegen keinen Gefallen, wenn mandas einfach verschweigt. Sie haben ja eben kritisiert,dass man in unserem Antrag darüber besser nicht hättereden sollen.
Man muss aber alle Facetten auf den Tisch legen, um amEnde ein positives Ergebnis im Interesse der betroffenenMenschen zu erreichen.
Ich erteile das Wort Kollegen Florian Toncar, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bera-ten heute drei Anträge und die Antwort auf eine GroßeAnfrage zur Situation der Roma in Europa. Damit grei-fen wir ein wichtiges menschenrechtspolitisches Themaauf; denn es gehört zu den ganz traurigen Kapiteln euro-päischer Geschichte, dass die Geschichte der Roma inEuropa über Jahrzehnte hinweg mit Unterdrückung, Dis-kriminierung und Ausgrenzung verbunden war. Der düs-terste Abschnitt war ihre Verfolgung während der Zeitdes Dritten Reiches, der mehrere Hunderttausend Men-schen zum Opfer gefallen sind. Insbesondere das Doku-mentations- und Kulturzentrum der Sinti und Roma leis-tet einen unverzichtbaren Beitrag, um diese grausameZeit zu dokumentieren und aufzuarbeiten. In diesem Zu-sammenhang bedauert die FDP die eingetretenen Verzö-gerungen bei der Errichtung eines Mahnmals für die er-mordeten Angehörigen der Sinti und Roma in Berlin.Wir hoffen sehr, dass es endlich gelingt, dass sich alleBeteiligten an dieser Stelle bewegen und eine gute Lö-sung gefunden wird.
Wenn man die verschiedenen Staaten Europas be-trachtet, kann man festhalten, dass sich die gegenwärtigeSituation der Roma sehr unterschiedlich darstellt. Doches fällt auf, dass insbesondere in vielen Staaten Mittel-und Osteuropas, in denen die meisten Roma heute leben,die Probleme für die betroffenen Menschen am deut-lichsten, streckenweise sogar dramatisch sind. So warendie Angehörigen der Roma besonders häufig negativ vonden wirtschaftlichen Folgen des Sozialismus betroffen.Heute ist es so, dass sie in besonderem Umfang nichtvon der wirtschaftlichen Belebung durch die Marktwirt-schaft profitieren können. Die häufigsten Probleme sindschlechte Wohnverhältnisse, hohe Arbeitslosigkeit undmangelnde Bildungschancen. Noch gravierender ist je-doch die soziale Situation, die oft durch Ausgrenzungund Isolation geprägt ist. Wenn die Kinder der Roma ingesonderten Klassen, getrennt von den anderen Kindern,unterrichtet werden, dann grenzt das an Apartheid. Wenndie Wohnungen der Roma in räumlich getrennten Gebie-ten oder Stadtvierteln liegen, dann werden Integrations-probleme, die in gegenseitige Vorurteile, Aggressionenund Missverständnisse münden, zementiert.Diesen Teufelskreis der sozialen Ausgrenzung zudurchbrechen und die Roma besser zu integrieren, isteine Herausforderung, die viele europäische Staatennoch nicht ausreichend bewältigt haben. Wir müssen dieklare Erwartung an unsere europäischen Partnerländer inder EU artikulieren, dass es nicht sein kann, dass Romain dieser Art und Weise ausgeschlossen werden. WennStaaten diesen Zustand nicht nur dulden, sondern wo-möglich sogar initiieren und befördern, dann ist das imvereinigten Europa ein handfester Skandal.
Wichtig ist allerdings auch, dass Lösungen vor allemauf kommunaler und regionaler Ebene gesucht werden.Dezentrale Lösungen sind erforderlich, weil entschei-dend ist, wie eine Gemeinde oder eine Region struktu-riert ist. Wenn zentrale Programme und breite Förderungvon oben in die Anträge hineingeschrieben werden, istdas sicherlich von guter Absicht geprägt; aber zielfüh-render ist es, unten anzusetzen, denn die Kommunensind unterschiedlich, und dort müssen die Menschen dasumsetzen, was wir uns an Zielen vornehmen.
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Florian Toncar
Der Antrag der Regierungskoalition fordert die Bun-desregierung dazu auf, auf europäischer Ebene entspre-chende Initiativen zu ergreifen. Er enthält sicherlich eineernsthafte und zutreffende Zustandsbeschreibung. Aller-dings sind die Absichtserklärungen und Ziele, die in demAntrag enthalten sind, so allgemein gehalten, dass mankaum ernsthaft darüber streiten kann, dass er als Umset-zungsmaßstab in gewisser Weise an Wert verliert. Er istinsgesamt recht wolkig formuliert. Aber zumindest hater die heutige Debatte ermöglicht; insofern hat er etwasbewirkt und einen sinnvollen Beitrag geleistet.In den Entschließungsanträgen der Grünen kannich dem, was im europapolitischen Teil steht, vollum-fänglich zustimmen. Ansonsten habe ich aber das Ge-fühl, dass man im Grunde versucht hat, allzu viel Kon-kretes zu vermeiden – dasselbe Dilemma wie imKoalitionsantrag –, indem man einen ziemlich umfang-reichen Strauß an Forderungen vorgelegt hat, von denenaus meiner Sicht nicht jede einzelne umsetzbar ist bzw.umgesetzt werden sollte.Beispielsweise steht die Forderung, dass geduldeteRoma generell eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23des Aufenthaltsgesetzes bekommen, nicht unbedingt imZusammenhang mit möglichen Benachteiligungen inDeutschland. Das Aufenthaltsrecht ist ein Recht, das ge-rade im Fall von Duldungen Härten bei Abschiebungenvermeiden soll, das insbesondere aus humanitären Grün-den das weitere Verbleiben im Bundesgebiet ermögli-chen soll. Aber warum das nun gerade bei der Gruppeder Roma und nicht, wenn wir über den Kosovo spre-chen, auch bei Serben oder Albanern der Fall sein soll,erschließt sich mir nicht. Ich glaube, dass hier unzulässigdifferenziert wird.Interessant ist die Forderung nach der Ratifizierungdes Protokolls Nummer 12 zur Europäischen Menschen-rechtskonvention. Diese Forderung unterstützt die FDPvoll und ganz.
Auffällig ist allerdings, dass es gerade einmal zwei Jahreher ist, dass dieses Haus mit den Stimmen von Rot undGrün ebendiese Forderung abgelehnt hat. Das ist eineWende in der Haltung der Grünen, die vielleicht damitzu erklären ist, dass man jetzt in der Opposition ist unddas, was man fordert, nicht mehr unmittelbar umsetzenmuss. Es wäre zumindest konsequent gewesen, die Hal-tung, die man früher an den Tag gelegt hat, zu vertreten.Aber ich begrüße, dass hier ein Lernprozess stattgefun-den hat.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Die Be-kämpfung der Diskriminierung von Sinti und Roma isteine europäische Aufgabe. Ich glaube, dass wir den be-troffenen Staaten gegenüber klar artikulieren müssen,was wir von ihnen erwarten, und dass wir auch inDeutschland etwas tun müssen. Aber da sehe ich denAnsatz eher im Bereich Bildung und Integration als inden konkreten gesetzgeberischen Maßnahmen, die zumTeil auch in dem Antrag der Grünen vorgeschlagen wor-den sind. In diesem Sinne sollten wir uns dem Themaweiter widmen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Johannes Jung, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Roma gelten zwar als die größte ethnische Min-derheit in Europa; aber zuallererst sind sie genau das,was alle anderen auch sind: Sie sind Europäer, und siesind Teil unserer Gesellschaften und unserer europäi-schen Kultur. Roma sind nicht Opfer und trotz schwieri-ger gemeinsamer Geschichte sind sie auch nicht „die an-deren“.Ich möchte dazu eine Aussage von Herrn RomaniRose zitieren, die er unlängst hier in Berlin auf derUNICEF-Konferenz gemacht hat. Sie lautet:Wir wollen keine Musikfeste, sondern die gleichenRechte wie alle anderen in unseren Heimatländern.– Ich füge hinzu: Roma und Sinti müssen diese Rechtewahrnehmen können.
Die Lebenswirklichkeit von Roma in Europa ist sehrvielfältig. Von daher ist Vorsicht vor Verallgemeinerun-gen angebracht. Vorsicht ist auch angebracht in Bezugauf Beispiele, die den Eindruck allgemeiner Zustände er-wecken wollen. Ebenso ist Vorsicht im Umgang mitZahlen vonnöten. Denn es gibt aus verschiedenen nach-vollziehbaren Gründen kaum gesicherte Daten überRoma in Deutschland bzw. über Sinti und Roma in Eu-ropa. Wir wollen und sollten nicht mit dem Finger aufandere Länder zeigen. Die Probleme lassen sich nichtauf bestimmte Länder oder Ländergruppen begrenzen.Es wurden verschiedentlich Beispiele genannt; ichmöchte drei hinzufügen, die das aus meiner Sicht einwenig verdeutlichen. Da äußert sich beispielsweise dertschechische Vizepremier extrem abfällig über Roma.Diese Wortwahl hätte in unserem Land hoffentlich einenRücktritt erforderlich gemacht. In Slowenien, das sonstdas Musterländle der EU-Erweiterung ist und das ich oftund gerne als Erfolgsbeispiel im Hinblick auf alle mögli-chen Politikbereiche anführe, verhindern militante Dörf-ler, ein bewaffneter Mob, in finsterer, geradezu mittelal-terlicher Manier die Durchsetzung von Grundrechten derRoma in ihren Landgemeinden. Die staatlichen Autoritä-ten ziehen es vor, sich von der Europäischen Union rüf-feln zu lassen, und greifen nicht durch.Aber auch in Koblenz – es liegt bekanntlich in derBundesrepublik – haben Mitarbeiter der Kreisverwal-tung laut darüber nachgedacht, ob man Roma aus dem
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Johannes Jung
Kosovo, die in diesem Landkreis als Flüchtlinge ihr Le-ben fristen, einfach in die Slowakei abschieben könne,wo schließlich viele Romagruppen lebten.Das sind Beispiele, die klarmachen, dass sowohl indi-viduelles Verhalten von Staatsbürgern, von Angehörigender sogenannten Mehrheitsgesellschaften, als auch dasHandeln von staatlichen Behörden viel Kritik geradezuherausfordern. Hier muss Abhilfe geschaffen werden.Die „Frankfurter Rundschau“ bringt es auf den Punkt– Zitat –:… in Bezug auf die jeweilige Roma-Minderheitkann so gut wie jedes EU-Land getrost vor der eige-nen Haustür kehren.Dazu sage ich: Vor der eigenen Haustüre sollten wirzwar anfangen, aber im vereinten Europa nicht damitaufhören.Dass wir uns in angemessener Art und Weise mit denSchwierigkeiten der Roma in den EU-Staaten auseinan-dersetzen, bedeutet nicht – dies kann es nicht bedeuten –,dass wir die Augen vor den bei uns zu Hause bestehen-den Problemen verschließen. Roma sind in Europa nachwie vor Diskriminierungen und Benachteilungen aus-gesetzt. Ihnen gegenüber bestehen Vorurteile. Sie begeg-nen rassistisch motivierter Gewalt und struktureller Dis-kriminierung durch Polizei und Behörden. Das Lebenvieler Familien ist durch soziale Probleme geprägt; auchdarüber darf man nicht hinwegsehen.Dies darf nicht so bleiben. Wir wollen unseren Teildazu beitragen, dass sich das ändert. Wir haben die Ver-pflichtung, alle Formen von Rassismus, Fremdenfeind-lichkeit und Diskriminierung entschieden zu bekämpfenund für den Schutz von Minderheiten einzutreten.
Rund eine halbe Million Sinti und Roma wurdeOpfer des Völkermords in der Nazizeit. Dieser Völker-mord ist lange verdrängt, bagatellisiert oder sogar ge-leugnet worden. Es bedarf weiterhin hartnäckiger Auf-klärung, um die Geschichte der Verfolgung undVernichtung der Roma bewusst zu machen.Ich füge hinzu: Es gibt natürlich einen unmittelbarenHorrorzusammenhang mit der Vernichtungspolitik derNazizeit und weniger auffallenden Schwierigkeiten imUmgang mit der Minderheit der Roma in der Bundesre-publik sowie der Lage in den EU-Beitrittsländern und imweiteren Osteuropa; das sollte man nicht vergessen. Mantrifft auch aus diesem Grund mehr Angehörige derRomaminderheit in Osteuropa an als in der Bundesrepu-blik Deutschland. Das ist ein Umstand, der immer unterden Tisch fällt und in der öffentlichen Diskussion keineRolle spielt. Dies ist zwar ein Horrorzusammenhang,aber eigentlich auch ein sehr einfacher und direkter Zu-sammenhang. Ich frage mich, warum wir uns mit Ver-weis auf die Lebensumstände in Osteuropa häufig in dieeigene Tasche lügen.Ich begrüße, dass in der vergangenen Woche offenbarendlich eine Einigung über die Gestaltung des Mahn-mals für die im Zweiten Weltkrieg ermordeten Sinti undRoma erzielt wurde. Die Bundesregierung unterstütztden Bau dieses Mahnmals und die Arbeit des Dokumen-tations- und Kulturzentrums direkt.Sinti und Roma sind als eine von vier nationalen Min-derheiten in Deutschland anerkannt und werden entspre-chend gefördert. In Deutschland leben aber nicht nurdeutsche Sinti und Roma, sondern auch zahlreicheRomaflüchtlinge aus anderen Ländern und Regionen,vor allem aus dem Kosovo. Meine Vorrednerinnen undVorredner haben die teils sehr schlechte Lage dieserFlüchtlinge bereits beklagt. Wir sollten uns allerdingsklarmachen, dass viele dieser Schwierigkeiten klassischeFlüchtlingsprobleme und keine klassischen Romapro-bleme sind und dass hier keine Unterschiede bestehen;um es einmal vereinfacht darzustellen. Das macht die Si-tuation nicht besser. Daher sollten wir dringend etwasändern.Ein weiterer Schritt im Hinblick auf die Bemühungender Europäischen Union und auf europäischer Ebene ins-gesamt wäre übrigens getan, wenn sich die Staats- undRegierungschefs auf dem jetzt tagenden EU-Gipfel aufdie Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtecharta ei-nigen könnten. Auch aus diesem Grunde sollten wir derBundesregierung für die schwierigen Verhandlungen Er-folg wünschen.
Zum Antrag der Koalitionsfraktionen möchte ichFolgendes ausführen: Es ist mir unverständlich, wie HerrBeck sagen kann, wir hätten eine bestimmte Konnota-tion in diesem Antrag; die vermag ich beim besten Wil-len nicht zu erkennen. Es gab allerdings ein monatelan-ges Hin und Her zwischen Innenministerium und denInnenpolitikern der Unionsfraktion – ich betone: den In-nenpolitikern –, das mich ein bisschen ins Zweifeln ge-bracht hat. Ich habe mich gefragt, wo eigentlich die in-haltlichen Schwierigkeiten liegen. Ich hatte denEindruck, dass die Innenpolitiker die große, über allemschwebende Sorge hatten, dass die Bundesrepublik beidiesem Thema schlecht abschneiden könnte. DieseSorge ist, glaube ich, nicht begründet. Falls diese Sorgeexistiert, bricht sie an der konkreten Lebenslage, die mannicht ignorieren und wegwischen kann.Gewiss zählen Roma in Osteuropa in der Mehrheit zuden Verlierern der Transformation. Die Schwierigkeitendieser Minderheit nach Osten zu verschieben, würde denMenschen und der Sache aber überhaupt nicht gerecht.Auch diesbezüglich sind Aufklärung und eine intensiveAuseinandersetzung mit dem Thema offenbar notwen-dig.Die Probleme, denen sich Roma in Europa gegen-übersehen, sind im Laufe dieser Aussprache bereits aus-führlich dargestellt worden. In der Antwort der Bundes-regierung auf Ihre Frage, Herr Beck, werden sieebenfalls umfassend ausgeführt. Deshalb kann ich michan dieser Stelle kurz fassen. Völlig außer Frage steht,dass wir Diskriminierung und Rassismus in Europa inkeiner Form dulden wollen. Hier gilt: Null Toleranz. Die
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Johannes Jung
sozialen Probleme lassen sich mit vier Stichpunkten um-reißen: Bildung, Arbeit, Wohnung und Gesundheit.Die Bildung spielt auch hier selbstverständlich dieSchlüsselrolle. Wir müssen diesen Teufelskreis durch-brechen.Wir sollten nicht vergessen, dass in der Bundesrepu-blik Deutschland diverse Studien und die allgemeine Le-benserfahrung – in diesem Fall ist das deckungsgleich –gezeigt haben, dass das deutsche Schulsystem kaum ge-eignet ist, den unterschiedlichen Bildungshintergrundvon Kindern auszugleichen, sondern die Gräben vertieft.Das Schulsystem muss drastisch geändert werden, auch,damit es der Lebenssituation von Roma und Sinti in derBundesrepublik gerecht werden kann; das gilt aber nichtnur für Romakinder.Bei allen Bemühungen, die Situation von Roma zuverbessern, sollten die Hürden in der Romagemeinschaftnicht vergessen werden; auch sie müssen überwundenwerden. Das ist ein heikles Thema, über das wir in denAusschüssen noch weiter beraten müssen.Ich komme zum Schluss: Der Bundestag hat zuletzt1986 einen maßgeblichen Antrag zum Thema „Sinti undRoma“ verabschiedet. Damals ging es – man muss sa-gen: endlich – um die Entschädigung von Naziopfern. Inden letzten 20 Jahren ist viel geschehen, nicht zuletztdurch die Zeitenwende in Europa von 1989/90. Wir soll-ten in den nächsten Jahren unseren Teil dazu beitragen,dass entscheidende Verbesserungen der Lebensverhält-nisse und beim Umgang der Mehrheitsbevölkerung mitder Minderheitsbevölkerung erreicht werden können.Die Arbeitsleistung und die Sensibilität von uns Parla-mentariern sind hierbei gefragt.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Leutert, Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-gen Diskriminierung und Rassismus vorzugehen, ist dieeine Sache, der wir uns stellen müssen. Eine andere Sa-che ist es, unserer historischen Verantwortung gegen-über den Sinti und Roma gerecht zu werden.Von allen Rednerinnen und Rednern wurde bereits er-wähnt – auch ich erinnere noch einmal daran –, dass500 000 Sinti und Roma dem Holocaust der Nazis zumOpfer gefallen sind. Aus diesem Grund halte ich es füreinen Fehler, dass sich der Koalitionsantrag hauptsäch-lich den Roma mit deutscher Staatsangehörigkeit wid-met und nicht den Roma als ethnischen Minderheit. InDeutschland gibt es – das ist mehrfach angesprochenworden – 33 000 geduldete, hauptsächlich Bürgerkriegs-flüchtlinge aus dem Balkan. Ich denke, wir sind allenRoma und Sinti verpflichtet und nicht nur denen mitdeutscher Staatsangehörigkeit.
Diese geduldeten Flüchtlinge haben mit drei Diskri-minierungen zu kämpfen: Erstens. Sie sind Menschenohne deutsche Staatsangehörigkeit, in dem Sinne Aus-länder. Zweitens. Wir sprechen über spezifische Diskri-minierungen von Roma und Sinti. Die Ressentiments inder Bevölkerung sind bekannt: Sie sind Roma. Drittens.Als Flüchtlinge fallen sie unter das Asylbewerberleis-tungsgesetz. Das heißt, sie haben so gut wie keinen Zu-gang zum Arbeitsmarkt, einen sehr schlechten Zugangzum Bildungssystem, einen sehr schlechten Zugang zumGesundheitswesen, unterliegen einer Residenzpflicht,wohnen in Massenunterkünften usw. Die Liste ist langfortsetzbar.Letztendlich fallen sie nicht unter die Bleiberechts-regelung, die die Innenministerkonferenz im November2006 beschlossen hat – Kollegin Steinbach hat daraufhingewiesen –, da sie faktisch davon ausgenommen sind,weil sie ihren Lebensunterhalt meistens nicht aus eigenerKraft bestreiten können. Das ist ein Spezifikum der Sintiund Roma. Deshalb fallen sie nicht unter diese Bleibe-rechtsregelung.Ganz im Gegenteil, wie der „Zeit“ vom 24. Mai 2007zu entnehmen ist: In Rheinland-Pfalz wurde vor einigerZeit versucht, 500 Sinti und Roma in ihr sogenanntesStammland, in die Slowakei, abzuschieben. Zu dieserAktion ist es dann dank der Öffentlichkeit nicht gekom-men. Für mich stellt sich die Frage: Wie können wir inDeutschland trotz unserer historischen Verantwortungdulden, dass Opfer von Krieg und Terrorismus vonuns noch einmal zu Opfern, nämlich zu Vertreibungs-opfern, gemacht werden, indem wir sie umsiedeln wol-len? Frau Steinbach, Sie werden mir auch in diesemPunkt zustimmen, dass diese Menschen zum zweitenMal in ihrem Leben Opfer werden. Das sollten wir hierin Deutschland eigentlich nicht dulden.
Wir haben also die Chance, wenigstens diesen33 000 Menschen im Zuge einer historischen Wiedergut-machung ein dauerhaftes Bleiberecht zu geben und ihrenStatus als Flüchtlinge – das war die dritte Diskriminie-rungsebene – einfach zu streichen. Im Zuge dessen wür-den wir natürlich auch etwas für die Menschenrechtetun. Das ist völlig klar.Ein Vorbild dafür könnte Folgendes sein: Die letzteDDR-Regierung hat 1990 eine Aufnahmeregelung fürjüdische Flüchtlinge aus der Sowjetunion beschlossen.Diese wurde 1991 von den Regierungschefs des Bundesund der Länder nach Beratung durch die Innenminister-konferenz erneut beschlossen. Heute geht es nicht umeine Aufnahme. Heute geht es nur um den Verzicht aufAbschiebung und um ein Bleiberecht. Zu diesem Schrittsollten wir in der Lage sein. Wenn dieser Schritt nichtmöglich ist, sind alle anderen Maßnahmen nur Lippen-bekenntnisse.Ich danke.
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10950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Juni 2007
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Ich schließe die Aussprache.
Es ist beantragt worden, die Entschließungsanträge
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sachen 16/5784 und 16/5785 zu Tagesordnungspunkt 27 a
zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Men-
schenrechte und Humanitäre Hilfe und zur Mitberatung
an den Auswärtigen Ausschuss, den Innenausschuss, den
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung sowie an den Ausschuss für Kultur und
Medien zu überweisen. Der Entschließungsantrag auf
Drucksache 16/5785 soll zusätzlich an den Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union über-
wiesen werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5736 zu Tagesordnungspunkt 27 b an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, Klaus
Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele
Groneberg, Dr. Sascha Raabe, Stephan Hilsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Klimawandel global und effizient eindäm-
men – Klimaschutz und Anpassungsmaß-
nahmen in Entwicklungsländern entschieden
voranbringen
– Drucksache 16/5740 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Heute steht ein Antragauf der Tagesordnung, der sich mit dem Klimaschutz be-schäftigt. Alle Welt redet über den Klimaschutz. Wir imBundestag tun das natürlich auch. Die Bedeutung diesesThemas zeigt sich heute schon daran – deshalb meinDank an die dafür Zuständigen und Beteiligten –, dasswir mehr Redezeit als gewöhnlich für ein solches Themazur Verfügung haben. Das unterstreicht, denke ich, dieBedeutung dieses Antrages.Wir sprechen hier nicht über ferne Zukunftsszenarien.Wir sprechen über die Gegenwart. Nur wenn wir heuteanfangen, umzusteuern, haben wir noch eine Chance, dieschlimmsten Auswirkungen der Erderwärmung zu ver-hindern. Klimaschutz muss unserer Meinung nach alsglobale Aufgabe begriffen werden. Das heißt nichts an-deres, als mit der ganzen Welt zusammen daran zu arbei-ten.Wir wissen, dass das nicht immer ganz einfach ist.Die Industrienationen tragen die Hauptverantwortungfür den Ausstoß von CO2 und die dadurch verursachtenFolgen. Wir haben uns damit auseinandergesetzt, nichtzuletzt im Rahmen des G-8-Gipfels und in den EU-Län-dern. Wir haben uns mit den anderen darauf verständigt,den Klimawandel aktiv zu bekämpfen. Wir haben unsgerade im Rahmen der EU konkrete und ehrgeizige Zielegesetzt.Es gibt natürlich auch Staaten, die sich nur mit Müheüberhaupt darauf einlassen, die Gefahren des Klimawan-dels zuzugeben und anzuerkennen. Von den aktiven Zie-len einer Bekämpfung des Klimawandels sind diese weitentfernt.Außerdem gibt es die Schwellenländer – zum Bei-spiel China und Indien –, in denen der wirtschaftlicheAufbruch und die wirtschaftliche Entwicklung im Zeit-raffer geschehen und die einen großen Energiehungerentwickeln, der befriedigt werden will.Die dritte Gruppe sind die Entwicklungsländer. Siesind in hohem Maße von der Agrarwirtschaft abhängig.In diesen Ländern wirken sich Wetterextreme aufgrundder schon immer schwierigen klimatischen Bedingungenbesonders gravierend aus. In den ländlichen Räumendieser Länder gibt es abgesehen von der Landwirtschaftkaum andere Möglichkeiten, einer Beschäftigung nach-zugehen und Einkommen zu erzielen. Die Menschenund ihre Lebensgrundlagen sind akut bedroht, wenn diewichtigste Produktionsressource, der Boden, aufgrunddes Klimawandels degradiert und zerstört wird und ein-fach ausfällt.Ein weiteres Problem ist die Bedrohung durch Un-wetter. Jüngstes Beispiel ist das Unwetter, das vor einpaar Tagen in Bangladesch gewütet hat. Diese Regen-fälle – die heftigsten seit Jahrzehnten in Bangladesch –haben schwere Verwüstungen angerichtet. Viele Bewoh-ner der Hafenstadt Chittagong wurden von diesem Un-wetter überrascht. Sie ertranken oder wurden unter Erd-rutschen begraben. Natürlich widerfuhr das nicht denMenschen, die in festen Häusern wohnen, sondern den-jenigen, die in den Elendsvierteln in Stroh- und Bambus-hütten wohnen. Nach einem heftigen Monsunregen warein Hügel über der Siedlung teilweise abgerutscht und
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Gabriele Groneberghatte die dort lebenden Menschen mitgerissen. SolcheEreignisse häufen sich. Unwetter machen vor keinemKontinent Halt, ob es Lateinamerika, Asien, Afrika oderEuropa ist.Der Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturwird die Bedrohung durch den Klimawandel weiter ver-schärfen. Ganze Staaten, etwa die kleinen Inselstaatenim Pazifik oder in der Karibik, werden in ihrer Existenzbedroht. Durch den Anstieg des Meeresspiegels sind sieder Gefahr der völligen Überflutung ausgesetzt. Sie wer-den schlichtweg von der Landkarte gelöscht werden.Die Vernichtung der Urwälder trägt zur Klimakata-strophe bei. Brasilien und Indonesien sind Länder, mitdenen wir schon seit vielen Jahren Entwicklungszusam-menarbeit betreiben. Gleichzeitig halten sie aber auchden traurigen Rekord, was die Vernichtung von Wäldernangeht. Die Produktion von Palmöl, das nicht zuletzt inden Industriestaaten als Biosprit verwendet wird, und diedamit einhergehenden Brandrodungen haben dazu ge-führt, dass Indonesien, was das Ausmaß der CO2-Emis-sionen angeht, weltweit mittlerweile an dritter Stellesteht. Die zunehmende Verknappung von Boden undTrinkwasser war und ist immer auch eine Ursache politi-scher Krisen und Konflikte. Durch die drohende Erder-wärmung werden wir in Zukunft auch mit einer Zu-nahme der Migrationsströme rechnen müssen.UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat vor einigerZeit darauf hingewiesen, dass der Klimawandel seinerMeinung nach gefährlicher als ein Krieg sei. Demnachflüchten die Menschen in Zukunft nicht nur vor Krisenund Konflikten, sondern vor allem auch vor dem Klima-wandel.Die besondere Verwundbarkeit der Entwicklungslän-der korreliert mit einem niedrigen Prokopfeinkommen.Diese Länder sind durch ein extrem hohes Niveau derArmut ihrer Bevölkerungen gekennzeichnet. Sie verfü-gen kaum über wirtschaftliche oder institutionelle Res-sourcen. Fast zwei Drittel der Menschen in diesen Län-dern leben von weniger als 1 Dollar pro Tag, fast90 Prozent von weniger als 2 Dollar pro Tag. Um dieGrößenordnung dieses Problems deutlich zu machen: Eshandelt sich hierbei um rund 50 Länder, und die meistenvon ihnen liegen in Afrika.Die Industrieländer tragen die Hauptverantwortungfür den bereits eingeleiteten Klimawandel. Wir sind unssicherlich einig, dass wir alle aufgefordert sind, den Län-dern, die den Klimawandel am wenigsten zu verschul-den haben, aber am stärksten von ihm betroffen seinwerden, zu helfen. Der Verantwortung, die wir hier ha-ben, müssen wir mit wirksamen KlimaschutzstrategienRechnung tragen.
Für uns heißt das im Klartext: Die entwicklungspoliti-sche Zusammenarbeit muss sich auf die neuen Erforder-nisse einstellen. Sie muss in ein ressortübergreifendesKlimaschutzkonzept eingebettet werden, um einen sub-stanziellen Beitrag zur Bewältigung dieser einzigartigenHerausforderung leisten zu können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider fehlt mir dieZeit, auf unseren Antrag im Einzelnen einzugehen. Darinhaben wir uns umfassend mit diesem Thema auseinan-dergesetzt. Wir haben eine Beschreibung der Situationvorgenommen und geeignete Strategien entwickelt, umdiese Aufgabe anzugehen. Ich denke, es ist sinnvoll undnotwendig, dass wir darüber im Ausschuss diskutieren.Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass Sie unsere Beschrei-bung der Situation teilen und dass wir Ihre Unterstüt-zung bekommen, was die Maßnahmen betrifft, die wir inZukunft durchführen wollen und die wir in Deutschlandbereits in Angriff genommen haben. Das, was hier heuteMorgen stattgefunden hat, war unserer Meinung nachein gutes Beispiel. Es ist schade, dass die Fraktion derGrünen unserem Vorschlag nicht folgen konnte.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Karl Addicks, FDP-
Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der globale Klimawandel macht die Entwicklungspoli-tik zu einer noch größeren Herausforderung, als sie esohnehin ist. Es ist wirklich gut, dass wir alle in diesemHohen Hause diese Herausforderung angenommen undakzeptiert haben. Viel zu lange hat es gedauert, bis derZusammenhang zwischen den Emissionen und den glo-balen Klimaänderungen akzeptiert worden ist. Nachdemdas endlich in den Köpfen angekommen ist, ist es aller-höchste Zeit, die Konsequenzen zu ziehen und endlichkonkret zu handeln.
Natürlich sind an erster Stelle die Industrienationengefordert. Aber eine zukunftsgerichtete Entwicklungs-politik ist gut beraten, den Klimawandel und den Um-weltschutz bei jeder einzelnen Maßnahme zu berück-sichtigen und das in den Entwicklungsländern zum Teilerst rudimentär entwickelte Umwelt- und Klimabewusst-sein gezielt zu fördern. Fatal wäre es, wenn die Entwick-lungsländer die Fehler wiederholen würden, die die In-dustrienationen bei ihrer eigenen Entwicklung gemachthaben. Aus Fehlern kann und muss man lernen. Hier ste-hen alle Nationen in einer globalen Verantwortung.
– Danke.Im Moment sind die Emissionen der Entwicklungs-länder zwar relativ gering. Aber die Schwellenländerzeigen uns, wie schnell, geradezu exponentiell dieseEmissionen wachsen. Wenn das Maß an Entwicklung,
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Dr. Karl Addicksdas wir uns für alle Menschen auf der Welt wünschen,erreicht wird – und es wird kommen –, wäre es verhäng-nisvoll, diese Entwicklung verliefe ohne entsprechendenKlimaschutz.Die Expertenberichte zum Klimawandel haben unseindringlich gezeigt, dass es eigentlich schon fünf nachzwölf ist. Denn die Auswirkungen des Klimawandelstreffen erst nach einer gewissen Latenzzeit ein. Das Sze-nario ist mittlerweile jedem bekannt. Ich will es hiernicht noch einmal im Einzelnen beschreiben, aber fest-halten: Es trifft vor allem die Entwicklungsländer mitihren dichtbevölkerten Küstenregionen, es gibt Dürre-perioden – wir erinnern uns an unseren Besuch in Nord-kenia –, es gibt Flutkatastrophen wie in Mosambik. DieKosten der Beseitigung solcher Schäden werden dieweltweiten Ausgaben für EZ bei weitem übertreffen,wenn wir dieses Problem nicht sofort entschieden ange-hen. Deshalb müssen die Entwicklungsländer in jedeKlimaschutzstrategie von Anfang an einbezogen wer-den.Klimapolitik heißt, Energieversorgung und Um-weltschutz gleichermaßen zu berücksichtigen. Es wäregut, wenn die großen Industrienationen dabei mit gutemBeispiel vorangingen.
Die Vereinigten Staaten sind leider bis dato kein beson-ders gutes Beispiel. Immerhin hat Präsident Bush beimG-8-Gipfel einen Hoffnungsschimmer erkennen lassen,auch wenn das noch immer nicht das erforderliche kon-zertierte Handeln ist.Vor allen Dingen brauchen wir eine substanzielle Ver-stärkung des Ausbaus der erneuerbaren Energien.
Es kann nicht sein, dass in der Wüste bei 40 Grad Hitzeund senkrecht stehender Sonne ein Generator dröhnt, umStrom zu erzeugen. Mir würden da ad hoc viele Maßnah-men einfallen. Wir haben das ja bei unseren Besuchenselber sehen können.Natürlich muss jede Technik, die wir in die Entwick-lungsländer bringen, angepasst sein. Es macht keinenSinn, ultimative, hochsensible Technik nach Afrika zubringen – wir brauchen eine dem dortigen Entwicklungs-stand angepasste, einfach beherrschbare Technik, das istTrumpf.
Sonst geht es den Projekten so wie dem im Senegal, daswir neulich gesehen haben: Die Solaranlage der örtli-chen Wasserversorgung war weg, und es wurde ein Die-selgenerator hingestellt, weil die Menschen mit derSolartechnik noch nicht zurechtkamen, vielleicht auchweil wir sie damit alleingelassen haben. Bei jedem Pro-jekt müssen die Folgemaßnahmen – Maintenance etc. –berücksichtigt werden. Wir können nicht einfach Fertig-projekte hinstellen und dann nach Hause gehen. Wirmüssen die notwendigen Maßnahmen zusammen mitden Regierungen der Entwicklungsländer angehen.Wichtig ist dabei, dass der Postkiotoprozess anläuft.Das macht nur Sinn, wenn alle mitmachen. Ich rufe vondieser Stelle aus die USA, Indien und China auf, sichdieser Aufgabe zu stellen und sich auf verpflichtendeMaßnahmen zu verständigen. Die Zeit für Ausflüchteund für Vogel-Strauß-Politik ist abgelaufen.
Ich komme zu dem Antrag der Koalition. Dieser An-trag zeigt uns leider wieder einmal, dass die Rechte nichtweiß, was die Linke tut; mein Kollege Kauch hat dasheute Morgen schon angesprochen. Ich gebe sinngemäßdie Forderung 8 Ihres Antrages wieder: Im Rahmen derHaushaltsaufstellung ist festzulegen, wie die Einnahmenaus dem Emissionshandel für die Entwicklungsländerverwendet werden könnten. – Demnach müssten dieseEinnahmen also in den Haushalt des BMZ fließen. Ichhoffe, ich verstehe das richtig.
In dem Gesetzentwurf, den Sie am Mittwoch im Aus-schuss behandelt und heute Morgen verabschiedet ha-ben, steht sinngemäß: Die Erlöse aus der Veräußerungder Emissionsrechte werden in den Haushalt des Bun-desumweltministers eingestellt. – Was denn nun?
Lieber Herr Kollege Raabe, wir haben am Mittwochja darüber gesprochen: Das ist das Ergebnis, wenn manumfangreich geänderte Entwürfe bei laufender Sitzungeinfach einmal eben so vorlegt und abnickt, ohne dassman wirklich Kenntnis davon nehmen konnte. So kannman nicht mit seiner parlamentarischen Verantwortungumgehen. Das ist nicht nur in der Sache kontraproduktiv,sondern das ist auch kein vernünftiger Umgang mit demParlament. Machen Sie das in Zukunft bitte nicht mehrso.Vielen Dank.
Dr. Georg Nüßlein spricht jetzt für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Lie-ber Kollege Addicks, wie wir letztendlich Geld einset-zen, das wir noch nicht einmal vereinnahmt haben, son-dern dessen Vereinnahmung wir heute erst einmalbeschlossen haben, entscheidet, mit Verlaub, dieserDeutsche Bundestag. Das werden wir hier mit der Gro-ßen Koalition zu gegebener Zeit auch tun. Wahrschein-lich werden Sie dann bemängeln, dass Sie als FDP nichthaben mitreden dürfen. Das macht uns dann aber auchnichts aus.
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Dr. Georg Nüßlein
Der „Spiegel“ titelte im März dieses Jahres: „Ab-schied vom Weltuntergang“. Wenn man diesen Artikelliest, in dem all die Szenarien, die man bisher zum Kli-mawandel gelesen hat, infrage gestellt werden, dannmerkt man deutlich, dass es den Journalisten jetzt wahr-scheinlich nur darum geht, eine andere, eine neue Saudurchs Dorf zu treiben und einen anderen journalisti-schen Akzent zu setzen, nachdem der Klimawandelscheinbar nicht mehr geeignet ist, die Gazetten so wiebisher zu füllen.Nun gipfelt dieser Artikel aber in dem Satz:So dürfte Deutschland zweifellos zu den Gewin-nern des Klimawandels gehören.Unabhängig davon, dass der Konjunktiv „dürfte“ sprach-lich nicht mit dem Wort „zweifellos“ zusammenpasst, istdas natürlich ein Unding. Wir die Gewinner des Klima-wandels? Da ziehe ich für mich die Schlussfolgerung:Wenn es Gewinner gibt, dann gibt es ja offenkundigauch Verlierer. – Bei diesem heutigen Antrag, mit demwir das Thema Klimawandel nicht nur vorrangig unterUmwelt- und Wirtschaftsgesichtspunkten betrachten,geht es uns hier im Deutschen Bundestag um genaudiese Verlierer.Wenn man unabhängig von der Frage, was sich hier inDeutschland tut, ein bisschen weiterdenkt, dann weißman, dass Krieg seit alters her Begleiter der Menschheitist und dass es in Kriegen immer um Verteilungs-kämpfe geht. Wenn es durch den Klimawandel zu einerVerstärkung dieser Verteilungskämpfe – vielleicht nichtbei uns, aber in anderen Regionen dieser Erde – kommt,dann werden wir erbitterte Kriege und Auseinanderset-zungen um Wasser, um Nahrung und um den Zugang zuRohstoffen erleben. Das kann einen doch schon auf-grund der christlichen Verantwortung nicht einfach kalt-lassen.
Ich sage dazu aber auch: Das kann uns auch aus ei-nem gewissen Eigeninteresse nicht kaltlassen.
– Es ist ja nichts Schlimmes, wenn man beide Seitensieht, nämlich auf der einen Seite die christliche Verant-wortung, die Sie vielleicht nicht ganz so stark betonenwie wir, und auf der anderen Seite das Eigeninteresse.
– Sie kommt bei uns als Erstes zum Tragen, lieber HerrKollege.Wenn ich von unserem Eigeninteresse spreche – dasist bei einem Bundespolitiker schließlich sinnvoll; wirmüssen an die Interessen der Bundesrepublik Deutsch-land denken –, dann habe ich vor Augen, dass Migra-tionsströme in allergrößtem Ausmaß auf uns zukom-men. Ich persönlich glaube im Übrigen nicht, dass daseine Fünftel – die Reichen – auf dieser Welt in Friedenund Wohlstand leben kann, wenn es den anderen vierFünfteln zunehmend schlechter geht. Dazu wird der Kli-mawandel nämlich beitragen.Deshalb ist es wichtig, Klimaschutz nicht nur als Teilder Umweltpolitik zu betrachten, sondern auch als ent-scheidenden Bestandteil der Sicherheitspolitik und derEntwicklungspolitik. Wir haben die Gründe dafür schonvon den Vorrednern gehört. Entwicklungsländer sind inder Regel Agrarstaaten mit extremen Klimazonen, denendie Mittel fehlen, um sich an die Veränderungen anzu-passen.Gerade die Schwellenländer sind erhebliche Mitver-ursacher dieser Veränderungen. Der jährliche Anstiegder CO2-Emissionen Chinas ist so hoch wie die gesam-ten CO2-Emissionen Deutschlands in einem Jahr. Des-halb müssen wir uns aus meiner Sicht damit befassen,wie wir international etwas bewegen können. Das ist nurdann möglich, wenn wir in Deutschland und Europaglaubwürdig Klimaschutz betreiben und zeigen, dasssich etwas tut und dass wir in der Lage sind, die CO2-Emissionen zu reduzieren und gleichzeitig den Wohl-stand zu mehren und weiter zu wachsen.
– Ich weiß, dass das den Grünen nicht gefällt. Aber glau-ben Sie nicht, dass Sie in den Schwellenländern weiter-kommen, wenn Sie darauf verweisen, dass kein weiteresWachstum möglich ist, weil wir sonst das Klima nichtweltweit retten können!
Wir müssen zeigen, dass wir Wachstum von Klima-schutz und Ressourcenschonung entkoppeln können unddass Ökologie und Ökonomie sinnvoll miteinander ver-einbar sind.
Deshalb haben wir heute den Gesetzentwurf zum Emis-sionshandel beschlossen. Wir haben uns wohlüberlegt,den Emissionshandel bei uns weiter zu implementieren,und zwar auch mit Rücksicht auf bestimmte Branchen,die wir nicht aus dem Land vertreiben dürfen, nur damitsie woanders CO2 emittieren. Auch das muss man sichvergegenwärtigen.Wir haben die Versteigerung von Zertifikaten be-schlossen. Im ersten Schritt ist der Verkauf von Zertifi-katen für 40 Millionen Tonnen CO2 vorgesehen. AufBasis der derzeitigen Preise entspricht das etwa800 Millionen Euro. Der Bundestag wird, wie gesagt,darüber entscheiden, wie diese Einnahmen verwendetwerden. Persönlich würde ich mir wünschen, dass sie zu-gunsten des Klimaschutzes eingesetzt werden,
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Dr. Georg Nüßleinund zwar nicht nur auf nationaler, sondern auch auf in-ternationaler Ebene, vor allem in den Entwicklungslän-dern, weil dort die Auswirkungen des Klimawandels amgravierendsten sind und die stärkste Wirkung erzieltwerden kann.
In welchem Haushalt die Ausgaben veranschlagt wer-den, ist insofern zunächst unwichtig. Zu gegebener Zeitwerden wir zu einer sinnvollen Entscheidung darüberkommen.
– Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, lieberKollege, dann melden Sie sich bitte. Ich lasse sie gernezu.
Ich gehe davon aus, dass Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Aydin zulassen wollen.
Ja.
Bitte schön.
Sie haben vorhin gesagt, dass die Einnahmen nicht
nur auf nationaler Ebene, sondern vor allem auch in den
Entwicklungsländern für den Umweltschutz ausgegeben
werden sollen. Heißt das, dass die Bundesregierung Sie
dabei unterstützt? Ist das, was Sie gerade gesagt haben,
Gegenstand Ihrer Politik in den nächsten Jahren?
Lieber Kollege, ich gehe davon aus, dass Sie auf-
merksam verfolgt haben, was Angela Merkel auf inter-
nationalem Parkett zu diesem Thema gesagt hat: Sie hat
klipp und klar gesagt – im Übrigen auch bei der letzten
Regierungserklärung –, dass wir uns mit diesem Geld in
den Entwicklungsländern entsprechend engagieren wer-
den.
Ich setze auf das Wort der Kanzlerin und bin davon über-
zeugt, dass wir als Koalitionsfraktionen ihr auch an die-
ser Stelle folgen werden; denn sie macht eine überzeu-
gende, gute und wohlüberlegte Klimapolitik.
Es gibt auch noch andere Themen, über die wir uns
unterhalten sollten, zum Beispiel ist das Thema CDM
heute schon angesprochen worden. Wir müssen uns im
Ausschuss darüber Gedanken machen, ob es einen An-
satzpunkt gibt, um das eine oder andere zu entbürokrati-
sieren.
Wir müssen uns in einem nächsten Schritt überlegen,
wie man den Emissionshandel so ausbaut, dass andere
Bereiche – zum Beispiel der Luftverkehr – mit einbezo-
gen werden können.
Wir sollten uns auch Gedanken über das Thema
Waldschutz machen. Das ist ein ganz entscheidendes
Thema – gerade in den Entwicklungsländern. Mit kann
in diesem Bereich nur etwas erreichen, wenn man denje-
nigen, die jetzt Wald roden, andere Möglichkeiten auf-
zeigt, um zu überleben und ökonomisch weiterzukom-
men.
Einen letzten Aspekt halte ich für ganz entscheidend:
Wir müssen bei dem Thema erneuerbare Energien vo-
rankommen. Es ist wichtig, dass wir in diesem Land die
entsprechenden Techniken entwickeln und hier auch an-
wenden. Ich will keinen zweiten Transrapid, der dann
bei uns nicht zum Einsatz kommt, sondern ich will Tech-
nologien, bei denen man hier nachweisen kann, dass sie
funktionieren. Denn dann werden sie andernorts erst
recht funktionieren. Lassen Sie uns das in einem sinn-
vollen Technologietransfer voranbringen.
Es gibt also viel zu tun. Wir stehen noch am Anfang.
Aber ich bin froh, dass wir das Thema Klimaschutz auch
unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten beleuch-
ten.
Vielen Dank.
Jetzt spricht Heike Hänsel für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrNüßlein, ich hoffe, Ihre christliche Nächstenliebe richtetsich nicht nur auf Menschen, die in Ländern des Südensleben, sondern auch auf diejenigen, die hierherkommen,um hier einen Platz zu finden.
Der sogenannte Klimawandel ist kein Phänomen,sondern durch den Menschen verursacht. Das hat nachlangem Anlauf jetzt auch die Große Koalition erkannt.Damit ist aber auch schon Schluss mit der Erkenntnis.Die konkreten Ursachen der Klimazerstörung werden inIhrem Antrag nur unzureichend benannt; dementspre-chend sind auch die Antworten.
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Heike HänselGanz klar ist – wir haben es analysiert –: Das Welt-energiesystem, das immer noch auf fossile und atomareEnergien setzt, ist zerstörerisch. Der Kampf um Öl unddie militärische Nutzung der Atomkraft sind Konflikt-ursachen und fördern Kriege. Deshalb ist es entschei-dend, dass wir die Umstellung unserer Energiesystememassiv vorantreiben.
Ein Instrument dabei – jetzt kommt der entscheidendePunkt, der aber in Ihrem Antrag gar nicht genannt wird –ist die Vergabepolitik der Weltbank und anderer Ban-ken, zum Beispiel der Europäischen Investitionsbank.Die gesamte Vergabepolitik dieser Banken muss kriti-siert werden. Es wird hauptsächlich immer noch aufgroßdimensionierte Erdöl-, Erdgas-, Staudamm- und In-dustrieprojekte gesetzt. Darüber liest man in Ihrem An-trag gar nichts. Es ist klimapolitisch verantwortungslos,in diesem großen Maße immer noch auf fossile Energienzu setzen und damit die großen Öl- und Energiekonzernezu subventionieren.
Wir fordern ganz klar den Ausstieg dieser Banken ausder Förderung fossiler Energien und eine konsequenteFörderung regenerativer Energien. Frau Wieczorek-Zeulhat sich ja bereits dahingehend geäußert. Ich frage mich,warum in dem gesamten Antrag nichts darüber zu findenist.Der andere für mich entscheidende Punkt ist, dass Kli-maschutz auch eine andere Welthandelspolitik erfor-dert. Die jetzige Weltwirtschaftsordnung führt zu einerunverantwortlichen Ausbeutung der Natur und einem da-mit verbundenen drastisch steigenden Rohstoff- undEnergieverbrauch, zur Abholzung der Urwälder und zueinem stetig steigenden Transportvolumen an Waren.
Mit dem Wald- und Klimaschutz verbinden sich auchFragen nach den Lebensperspektiven der Menschen inden Ländern des Südens und unserer Art des Wirtschaf-tens, dem System von Profitmaximierung auf Kosten derEntwicklungschancen der Menschen in den Ländern desSüdens. Genau diese Handelspolitik treibt die Bundes-regierung im Rahmen der Europäischen Union – Stich-wort „Global Europe“ – und der aktuell geplanten Frei-handelsabkommen mit Lateinamerika, den EPAs mit denAKP-Staaten, voran. Davon sind die Existenzgrundlagenvon Millionen Menschen betroffen. Wenn Menschenkeine Perspektiven haben, weil ihre Existenzgrundlagezerstört wurde, wenn beispielsweise die einheimischenBauern mit den Waren aus den Ländern des Nordensnicht konkurrieren können, dann greifen sie auf andereRessourcen zurück und holzen zum Beispiel die Wälderab. Ein Beispiel von vielen ist Haiti. Eine Haupteinnah-mequelle Haitis ist die Holzkohle. Die meisten Urwälderin Haiti sind mittlerweile zerstört. Die Folgen sind klar;das alles haben Sie beschrieben. Das sind Auswirkungender neoliberalen Handelspolitik. Wir fordern eine an-dere, eine solidarische Handelspolitik, wenn es um dieLänder des Südens geht.
Es gibt neue, interessante Vorschläge aus Latein-amerika. Ich möchte als aktuelles Beispiel einen Vor-schlag aus Ecuador nennen. Dieses Land hat angeboten,auf die Erdölförderung im Amazonasgebiet zu verzich-ten, wenn es dafür einen Ausgleich auf bilateraler Ebeneoder aus einem Kompensationsfonds, angesiedelt beiden Vereinten Nationen, gibt. Hier könnte die Bundesre-gierung initiativ werden.
Bislang gibt es vonseiten der Bundesregierung keine Re-aktion. Sie hätte aber zum Beispiel die Möglichkeit,Ecuador die 50 Millionen Euro, mit denen es bei derBundesrepublik verschuldet ist, zu erlassen und dieseMittel in einen Fonds einzuzahlen, mit dem die Kom-pensation für nichtgefördertes Erdöl finanziert wird.
Das ist für mich die Zukunft und ein konkreter Beitragzum Klimaschutz. Wir müssen solche Initiativen unter-stützen.Die Vereinten Nationen müssen eine aktive Rollespielen, wenn es um Weltenergiefragen geht. Noch bes-ser wäre es, statt eines undemokratischen UN-Sicher-heitsrates einen demokratischen Weltenergierat zuinstallieren – und zwar unter breiter Beteiligung der Zi-vilgesellschaft –, der über die wichtigsten klimapoliti-schen Fragen entscheidet. Das wäre zukunftsweisendePolitik.
Wenn ein solcher Rat noch über die 900 MilliardenEuro, die derzeit weltweit für Rüstung ausgegeben wer-den, verfügen könnte, dann wären wir auf dem richtigenWeg.Danke.
Jetzt spricht die Kollegin Ute Koczy für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Große Koalition mag mit ihrem Antragzufrieden sein. Aber ich sage: Dieser Antrag streut Sandin die Augen. Zwar werden unter der Überschrift „Kli-mawandel global und effizient eindämmen“ durchausehrgeizige Maßnahmen beschrieben, die dem Schutz der
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Ute KoczyEntwicklungsländer und der Rettung des Klimas dienen.Aber das ist der vielfach vereinbarte Sachstand. LiebeKolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen,Sie wecken mit Ihrer korrekten Analyse – der Klima-wandel hat dramatische Folgen für die Entwicklungslän-der – große Erwartungen, weil jeder denkt: Jetzt geht eslos; jetzt wird in die Hände gespuckt; jetzt wird wirklichetwas getan! Wenn man sich aber den Forderungsteil ge-nau anschaut, dann stellt man fest, dass der Antrag derKoalitionsfraktionen gerade einmal ein Stückchen überdas hinausreicht, was eigentlich schon vereinbart ist. Ichwerte das nicht als Erfolg, nicht weil ich die Fort-schritte nicht erkennen kann, die dieser Antrag aufzeigt,sondern weil die gigantische Aufgabe, vor der wir ste-hen, nicht im Schneckentempo und erst recht nichtstückchenweise angegangen werden kann.
Wenn wir den Klimawandel nicht in den nächstenzehn Jahren abbremsen, werden das Austrocknen desAmazonasregenwaldes und das Ausbleiben des asiati-schen Monsuns zur Realität. Wir werden unseren Plane-ten nicht mehr wiedererkennen. Für all das braucht manheutzutage noch nicht einmal die Fähigkeiten einer Kas-sandra. Uns ist klar, dass das 2-Grad-Ziel erreicht wer-den muss. Es ist gut, dass Schwarz-Rot diese Ziellinieals die ihre erkannt hat.Wir Grünen fordern ein multilaterales, völkerrechtlichverbindliches Klimaregime, das Emissionsminderungs-verpflichtungen mit Technologiekooperation verbindet.Wir Grünen fordern weiter ein ambitioniertes Abkom-men Kioto-plus, und zwar unter dem Dach der UN-Kli-marahmenkonvention. Spätestens bis 2013 muss diesesKioto-plus in Kraft treten.Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, werden sich dieglobalen jährlichen Emissionen bis 2050 noch einmalverdoppeln. Weil das so ist, muss man sofort handeln. Eszählt jeder Monat. Da müsste doch eigentlich mehr drinsein als beispielsweise nur die schwache Formulierungim Antrag zum Emissionshandel, es bei einem Verstei-gerungssystem nicht zu Standortnachteilen im Bezug aufinternationale Investitionen kommen zu lassen.
Das ist echt mager.Zum Glück steigt die Bundesregierung endlich – so-zusagen zum Jagen getragen – mit 10 Prozent in die Ver-steigerung ein. Wir Grünen weisen da in die Zukunftund fordern, dass 100 Prozent der Zertifikate ab 2013versteigert werden. Das hätte in Ihren Antrag aufgenom-men werden können.Es geht darum, endlich Geld – und zwar viel Geld – indie Hand zu nehmen, um dem Klimawandel entgegenzu-wirken und um zu verhindern, dass er uns eines Tages soteuer zu stehen kommt, dass kein Geld mehr ausreichenwird, um die Schäden rückgängig zu machen.Dass es in ganz wesentlichen Bereichen nur ganz ge-ringe Fortschritte gibt, zeigt die G-8-Initiative zur Stär-kung des Tropenwaldschutzes, genauer gesagt zur ver-miedenen Entwaldung. Dass es diese Initiative gibt, istgut. Dass die Bundesregierung 40 Millionen Euro bei-steuern will, ist auch gut. Das Problem werden wir abermit solch kleinen Beiträgen nicht lösen. Wir alle wissen,dass die Zerstörung des Waldes die zweitwichtigste Ur-sache von Treibhausgasen ist. 20 bis 25 Prozent derEmissionen gehen auf die Waldzerstörung zurück.Nicholas Stern beziffert die Kosten für einen effizientenWaldschutz mit jährlich 15 Milliarden Dollar.Nach Schätzungen der Weltbank wird die Anpassungan unvermeidbare Auswirkungen des Klimawandelsjährliche Zusatzkosten von 10 bis 40 Milliarden US-Dol-lar verursachen. Bis 2030, so die Mindestschätzung,müssten für Energie in Entwicklungs- und Schwellen-ländern jährlich circa 319 Milliarden US-Dollar ausge-geben werden.Ich habe mich gefreut, bezüglich der Frage, was dieDeutschen machen, im Antrag zu lesen, dass die Bun-desregierung in rund 40 Partnerländern erneuerbareEnergien und eine effiziente Energienutzung mit einemVolumen von jährlich 1,6 Milliarden Euro fördert. Aberdiese Summe hat mich stutzig gemacht; denn das wäreganz schön viel Geld. Da stimmt etwas nicht. Wenn ichdie Quelle richtig interpretiere, dann geht es hier um dasGesamtvolumen laufender Vorhaben in 50 Partnerlän-dern. Ich hoffe, Sie korrigieren das, damit dieser falscheEindruck nicht bestehen bleibt.Wir brauchen eine konzertierte Aktion zur Finanzie-rung von Maßnahmen für die Anpassung an Klimaver-änderungen in Entwicklungsländern. Die Bundesregie-rung muss endlich ihre internen Streitigkeiten über dieEinführung von Ticketabgabe, Kerosinsteuer und Devi-senumsatzsteuer überwinden. Wir wollen konkreteSchritte und keine Vertröstungen auf morgen sehen.Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage, FrauPräsidentin.
Leider ist die Redezeit schon so weit überschritten,
dass die Zwischenfrage außerhalb liegen würde. Deshalb
ist meine Bitte, mit der Rede zum Ende zu kommen.
Das tue ich.
Wenn Sie nicht wollen, dass dieser Antrag auf Sand
baut, dann steht Ihnen noch gewaltig viel Arbeit bevor.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion spricht nun Marco Bülow.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Gestern hat die SPD-Fraktion eine kleine Feierstunde
durchgeführt. Der Anlass war, dass wir das Ziel, das wir
mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz erreichen woll-
ten, nämlich dass die erneuerbaren Energien im Jahr
2010 einen Anteil von 12,5 Prozent haben, schon in die-
sem Jahr erreichen.
Die erneuerbaren Energien leisten den größten Bei-
trag zum Klimaschutz in Deutschland. Es handelt sich
um etwa 77 Millionen Tonnen CO2 jährlich. Die Poten-
ziale der erneuerbaren Energien sind riesig. Ergänzt man
diese durch das Potenzial der Energieeffizienz, dann
wäre das der wichtigste Beitrag, den man weltweit zum
Klimaschutz leisten könnte. In diesem Zusammenhang
spielt die Entwicklungszusammenarbeit eine wichtige
Rolle, die man nicht nur deshalb nicht unterschätzen
darf, weil es im Prinzip – das wurde schon gesagt – egal
ist, wo man Klimaschutz praktiziert und CO2 einspart,
sondern auch deshalb, weil es viele Regionen auf der
Welt gibt, die auf der einen Seite den Lebensstandard er-
reichen wollen, den wir haben, denen aber auf der ande-
ren Seite bestimmte Technologien nicht zur Verfügung
stehen, weil sie sich diese nicht leisten können.
Ich bin froh, dass wir diesen Antrag auf den Weg ge-
bracht haben, der auf wichtige Punkte aufmerksam
macht. Ich möchte als Umweltpolitiker hier betonen,
dass ich es für wichtig halte, dass sich Entwicklungspoli-
tik mit dem Thema auseinandersetzt, aber auch andere
Politikfelder dies tun müssen. Wir müssten eigentlich
Klimaschutzanträge im Zusammenhang mit der Außen-
politik und der Wirtschaftspolitik diskutieren. Letztend-
lich ist das auch eine soziale Frage, und zwar internatio-
nal wie auch national. Was passiert denn, wenn die
Katastrophen über uns hereinbrechen? Der Hurrikan
über New Orleans in den USA hat gezeigt, welche Men-
schengruppen als Erste und damit auch am stärksten von
der Katastrophe betroffen sind, wer sich nicht so schnell
retten kann. Weltweit sind die Verursacher von CO2-
Emissionen nicht die Hauptopfer der Katastrophe.
Auch das wissen wir. Deshalb ist es gerade im Rahmen
der Entwicklungszusammenarbeit wichtig, Mittel zur
Verfügung zu stellen, um erneuerbare Energien und
Energieeffizienz zu fördern.
Ich will ein Beispiel nennen. Es werden oft Zahlen
genannt, die sich auf das „böse“ China und andere Län-
der beziehen, die alle so viel CO2 produzieren. Ja, es ist
wahr, wir müssen sehen, dass es auch dort nicht so wei-
tergeht. Das gelingt aber nur, wenn wir mit gutem Bei-
spiel vorangehen. In diesem Zusammenhang muss man
die Wahrheit sagen und feststellen, dass Deutschland al-
leine immer noch mehr CO2 ausstößt als alle afrikani-
schen Länder zusammen.
Daran zeigt sich, welch große Vorbildfunktion wir ha-
ben. Nehmen wir den Vergleich mit China: Der Pro-
Kopf-Ausstoß von CO2 beträgt in Deutschland
10 Tonnen, in China 4 Tonnen. Das zeigt: Wenn wir wol-
len, dass Schwellenländer und Entwicklungsländer nicht
den Pfad beschreiten, den wir beschreiten, dann müssen
wir mit gutem Vorbild vorangehen.
Deswegen ist Klimaschutz eine internationale, aber auch
eine nationale Aufgabe.
Das G-8-Signal ist sehr wichtig, aber es kann nur der
erste Schritt sein. Wir müssen über Ziele sprechen, wir
müssen Kioto-plus angehen, und wir müssen Vereinba-
rungen treffen. Bei all dem müssen aber auch die Instru-
mente vorhanden sein, um die Ziele umzusetzen, und
zwar sowohl national als auch international. Darauf
nimmt der Antrag Bezug. Ich will einen Punkt heraus-
greifen, über den wir auch beim Emissionshandel ge-
sprochen haben, nämlich die Mechanismen Joint Imple-
mentation und CDM, die wir verstärkt haben und die
wichtig sind. Man muss natürlich darauf achten, dass sie
wirklich funktionieren und auch kleine Projekte auf den
Weg gebracht werden können. Man muss auch nachprü-
fen können, ob wirklich CO2 eingespart wird. Dann ist
das eine gute Maßnahme, und dann sollten wir sie för-
dern.
Ich möchte Herrn Nüßlein zustimmen: Das Wich-
tigste wird für uns als Vorreiter sein, dass wir die Ent-
kopplung von Wachstum einerseits und Energiever-
brauch und CO2-Ausstoß andererseits hinbekommen.
Das wird für uns eine der größten Herausforderungen in
der Zukunft sein. An diesem Anspruch werden wir uns
international messen lassen müssen, weil viele Länder
auf Deutschland schauen.
Ich möchte zum Schluss betonen, dass die Entwick-
lungshilfe besonders wichtig ist und dass der Klimawan-
del in Zukunft dabei eine besondere Rolle spielen wird.
In diesem Zusammenhang sind die erneuerbaren Ener-
gien zu erwähnen, die ein riesiges Potenzial haben. Ich
glaube, dass wir mit ihrer Erschließung erst am Anfang
stehen. Es gibt in jedem Land Möglichkeiten, erneuer-
bare Energien in großem Umfang zu nutzen. Dazu
braucht man die entsprechenden Technologien, die wir
zum Teil liefern können und liefern sollten. Wir brau-
chen aber auch eine internationale Agentur für erneuer-
bare Energien, die das koordiniert und fördert und diese
Aufgabe mit den nationalen Parlamenten – ich hoffe, mit
Deutschland an erster Stelle – weltweit angehen wird.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Josef Göppel hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit diesem Antrag öffnen wir die Umweltpolitik inRichtung Umwelt und Entwicklung und vor allem auchin Richtung unseres Nachbarkontinents Afrika. DieseBetonung ist wichtig. Da schließe ich mich dem
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Josef GöppelKollegen Marco Bülow an, der ja auch gerade darübergesprochen hat, und danke ausdrücklich den Initiatorendieses Antrags, Gabriele Groneberg und Christian Ruck.Ich möchte mich auf zwei Anliegen konzentrieren,die in der Debatte noch nicht so ausführlich angespro-chen worden sind, nämlich die Frage des Walderhalts aufinternationaler Ebene und auch die Frage einer klima-gerechten Landnutzung.Die globale Entwaldung im Jahre 2006 umfasste7 Millionen Hektar. Das sind 1,5 Prozent des gesamtenWaldbestandes der Erde. Jährlich 1,5 Prozent – das kannman gut hochrechnen – führen in zehn Jahren zu einemVerlust von etwa 15 Prozent. Daran wird deutlich, dasswir dringend ein Instrumentarium benötigen, das demErhalt der weltweiten Wälder dient. Dabei liegen dieSchwerpunkte natürlich auf den tropischen Wäldern.So zielt der Antrag darauf ab, dass wir in den Kioto-mechanismus für nachhaltige Entwicklung eine Mög-lichkeit für den Walderhalt einbauen. Das jetzige Kio-toprotokoll kennt noch keinen solchen Mechanismus. Eshat nur ein einziges CDM-Projekt zur Wiederaufforstungauf der gesamten Erde gegeben. Das war in China. Mehrgab es bisher nicht. Deswegen ist dies ein Schwerpunkt.Der zweite Schwerpunkt ist der illegale Holzein-schlag. Das gehört hier mit hinein. Es gibt auf europäi-scher Ebene ein Aktionsprogramm namens FLEGT –Forest Law Enforcement, Governance and Trade. Das istschön, hat aber einen entscheidenden Nachteil: Es gibtkeine Kontrollmechanismen. Bei der Konferenz der in-ternationalen Parlamentariergruppen zum G-8-Gipfel,die hier vor kurzem stattfand, sagte ein indonesischerAbgeordneter: Sie müssen den Handel mit illegalemHolz unterbinden, dann unterbleibt auch der Raubbau. –Da sind wir gefordert. Wir müssen dafür sorgen, dass anden europäischen Außengrenzen wirklich die Import-verbote für illegal eingeschlagene Hölzer umgesetztwerden. Wir kommen nicht darum herum, die Zertifizie-rungen so vorzunehmen, dass sie auch Wirkung zeigen.Ein freundschaftliches Gespräch mit dem einen oder an-deren Holzkonzern, der international arbeitet, bringt dawenig.Noch einmal zu dem Mechanismus für den Wald-erhalt. Die Weltbank hat eine Initiative gestartet – ForestCarbon Partnership –, die mit sage und schreibe50 Millionen US-Dollar ausgestattet ist. Das ist natürlichinternational gesehen zu wenig. Aktuell hat die deutscheEntwicklungsministerin den neuen Weltbankchef aufge-fordert, da mehr hineinzugeben. Das heißt aber auch füruns deutsche Abgeordnete, dass wir Haushaltsmittel be-reitstellen müssen, weil wir die Weltbank zu einem gro-ßen Teil mitfinanzieren. Deswegen sind alle diese Dingeauch haushaltswirksam. Das ist unserer Fraktion be-wusst.Ich will noch kurz etwas zu dem Stichwort klima-gerechte Landnutzung sagen, zu der auch etwas in die-sem Antrag zu finden ist. Wälder binden Kohlenstoffdeutlich stärker als andere Landnutzungsformen. EineWiese bindet doppelt so viel Kohlenstoff wie Ackerland.Wir sollten uns daran erinnern, dass 80 Prozent der ter-restrischen Kohlenstoffvorräte in der Humusschicht desBodens und nur 20 Prozent in der oberirdischen Pflan-zenmasse gebunden sind. Notwendig ist also eine Land-nutzung, die auf die Kohlenstoffspeicherung in der Hu-musschicht Rücksicht nimmt.
Die gute alte Forderung, Humusaufbau zu betreiben– Vertreter des alternativen Landbaus haben sie immerwieder erhoben –, und die Forderung, beim Ackerbauflache Bodenbearbeitungsformen zu wählen, bekom-men eine ganz neue Bedeutung.Die klimagerechte Landnutzung wird für unsere eige-nen landwirtschaftlichen Produktionsverfahren eine He-rausforderung sein. Wir sind damit am Beginn einesWeges, der ganz neue Prioritätensetzungen von uns for-dert.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5740 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
FDP
Steuerklasse V abschaffen – Lohnsteuerabzug
neu ordnen
– Drucksache 16/3649 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es wurde verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu
debattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erster der
Kollegin Ina Lenke für die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Wozuder ganze Stress?“ – so lautet die Überschrift eines Zei-tungsartikels, in dem es um die Behandlung von Fami-lien und Frauen im Steuer- und Sozialversicherungsrechtgeht. Wenn Ehefrauen oder Ehemänner neben der Fami-lienarbeit erwerbstätig sein wollen, dann bringt ihnender aufgrund von Steuerklasse V sehr niedrige Netto-zweitverdienst nur Frust.Die Benachteiligung von Arbeitnehmern und Arbeit-nehmerinnen mit Steuerklasse V ist eklatant. Das betrifft
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Ina Lenkenicht nur den Lohnsteuerabzug, sondern auch die Höheder Transferleistungen Erziehungsgeld, Elterngeld usw.Es sind zu 95 Prozent Frauen, die von den negativenAuswirkungen von Steuerklasse V betroffen sind. Wenndiese Frauen dann auch noch staatliche Leistungen bean-spruchen – ich habe diese Leistungen gerade erwähnt –,dann werden sie doppelt diskriminiert: einmal beim Ein-kommen aus Erwerbsarbeit und außerdem, wenn dieHöhe staatlicher Leistungen nach dem Nettoeinkommenberechnet wird.Frauen mit Steuerklasse V erhalten weniger Geld alsjemand mit Steuerklasse III oder IV. Man muss ganzdeutlich sagen, dass es nicht darum geht, dass Ehepaareweniger Steuern zahlen; vielmehr geht es darum, dassdie Steuern, die ein Ehepaar zahlt, wenn beide erwerbs-tätig sind, anders verteilt werden, damit es Frauen wirk-lich Spaß macht, etwas hinzuzuverdienen, um das Fami-lieneinkommen aufzubessern.
Seit Jahren besteht für Ehepaare das antiquierteSteuerklassensystem III/V oder IV/IV. Ich will nur aufSteuerklasse V eingehen. Diese Steuerklasse stammt auseiner Zeit, in der es selbstverständlich war, dass der Ehe-mann der Ernährer ist, während die Ehefrau die Kindererzieht und den Haushalt managt. In der heutigen Zeitreicht das Einkommen eines Einzelnen oftmals nichtaus, um eine Familie zu ernähren – das wissen wir alle –,und daher müssen beide arbeiten gehen. Die Erwerbstä-tigkeit einer Frau hat dann nichts mit Selbstverwirkli-chung zu tun oder damit, dass sie eine Rabenmutter ist.Viele Frauen – viele Männer ebenfalls – wollen nämlichsowohl Kinder haben als auch arbeiten. Ich wiederhole:Diese Frauen sind weder Rabenmütter, noch sind sie aufSelbstverwirklichung aus.Ehepaare mit einem Alleinverdiener stehen finanzielloftmals besser da, weil diejenige Person, die nicht arbei-tet, familienkrankenversichert ist. Auch diesen Aspektmüssen wir sehen.All das verfestigt die konservative Arbeitsteilung ineiner Ehe, und das wollen Liberale nicht.
Ich möchte eine Anmerkung zum Ehegattensplittingmachen. Sie alle wissen, dass die SPD das Ehegatten-splitting abschaffen will. SPD und CDU/CSU haben hierim Bundestag aber auch ganz anderslautende Gesetzeverabschiedet. Ich erinnere nur an die Einführung dersogenannten Reichensteuer. Beim normalen Ehegatten-splitting ist es so, dass Ehepaare bei gutem Einkommenbis zu 8 000 Euro sparen können, wenn einer der beidenzu Hause bleibt. Durch die sogenannte Reichensteuerwird der Vorteil für dieses Familienmodell auf bis zu15 000 Euro jährlich angehoben. Das bedeutet: Wennder eine der beiden Ehepartner reich ist und der anderezu Hause bleibt, schenkt der Staat ihnen – das ist Folgeder guten Ideen der SPD – 15 000 Euro.
Diese eklatante Diskrepanz durch die Kombination vonEhegattensplitting und sogenannter Reichensteuer wer-den Sie mir bestimmt erklären. Dass es in der Tat bis zu15 000 Euro sind, hat Frau Hendricks mir in der Antwortauf meine Anfrage an die Bundesregierung mitgeteilt.
Es ist deshalb nur logisch, dass in dem heute vorlie-genden Antrag der FDP gefordert wird, die Steuer-klasse V abzuschaffen und das ganze Steuerklassensys-tem zu reformieren.
Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass durchdas System von Ehegattensplitting und der Steuer-klasse V die Arbeitsanreize für Zweitverdiener – dassind gerade Frauen – vermindert werden.Ein typisches Beispiel aus der Praxis: Die Frau willnach der Kinderziehungspause wieder in den Beruf ein-steigen.
Das Paar setzt sich an den Küchentisch und fragt sich, obsich das überhaupt lohnt, was die Frau dann netto ver-dient. Bei Einstufung in die Steuerklasse V – das wissenja viele von Ihnen – bleibt sehr wenig übrig. Hinzukommt, dass die Berufstätigkeit vielleicht noch ein zwei-tes Auto erfordert. Wenn Kinder da sind, ist zu berück-sichtigen, dass wegen der Einkommensabhängigkeit derKindergartengebühren auch hier noch höhere Kosten an-fallen. Das heißt, mit Steuerklasse V und den zusätzli-chen Kosten lohnt es sich manchmal wirklich nichtmehr, dass die Ehefrau wieder in das Berufsleben ein-steigt. Das wollen wir alle hier im Bundestag ändern.Die FDP hat schon in der letzten Legislaturperiodeüber das Solms-Konzept eine Steuerklassenreform vor-geschlagen. Am 29. November letzten Jahres haben wir,weil bei Ihnen nichts passiert ist, einen Antrag dazu vor-gelegt, den wir heute beraten. Wir fordern die Bundes-regierung auf, das Steuerklassensystem für unbeschränktsteuerpflichtige Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnenzu überarbeiten, indem erstens das geltende System ab-geschafft wird und zweitens unbürokratische Vorschlägefür die Neuregelung des Lohnsteuerabzugs vorgelegtwerden, die sich stärker am jeweiligen Arbeitslohn derEhepartner orientieren.
Der Vorschlag der Großen Koalition, den ich in derZeitung gelesen habe, ist meines Erachtens falsch undkommt zu spät. Es ist ein politischer Skandal, wie ichfinde, dass die Frauen bis 2009 durch die Steuerklasse Vweiterhin beim Elterngeld benachteiligt werden sollen.Wenn jemand 2 000 Euro brutto verdient, würde beiSteuerklasse V das Elterngeld monatlich um 390 Eurogeringer ausfallen als bei Steuerklasse III. Daran sieht
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Ina Lenkeman, dass diese Steuerklasse unbedingt abgeschafft wer-den muss. – Das kann ich Ihnen gern schriftlich geben.Ich komme zum Schluss: So wie es sich heute dar-stellt, bleibt es nach dem Willen von SPD und CDU/CSU beim jetzt gültigen Steuerklassensystem. Es wirdnur auf die derzeit schlechte Regelung eine zusätzlichedraufgesetzt. Das ist keine echte Reform. Ich gehe davonaus, dass Ihr Vorschlag in den Ausschussberatungennoch verbessert wird und dass wir gemeinsam zu einerbesseren Steuerklassenreform kommen, die allen Frauenund allen Familien in Deutschland nützt und Frauen Lustauf Arbeit macht.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Patricia Lips.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir stehen in der Tat vor der Einlösung jahre-langer frauenpolitischer Forderungen. Ich meine dasnicht ironisch,
sondern absolut im Ernst. Damit bekommt ein eher steu-ersystematisches Thema einen gesellschaftspolitischenHintergrund.Je länger Sie gesprochen haben, Frau Lenke, destomehr habe ich meine Rede verkürzt, weil wir – das wer-den wir auch sehen – im Ansatz durchaus ähnliche Zielehaben. Wer will verkennen, dass wir das Gleiche alsAusgangspunkt, als Problem, identifiziert haben? ImPrinzip ist Ihnen sogar dafür zu danken, dass an dieserStelle eine parlamentarische Debatte stattfindet, alsowieder einmal Öffentlichkeit hergestellt wird.
Sie passt in ihrer Grundsätzlichkeit hervorragend zu denanderen Debatten am heutigen Tage.Allerdings, Kolleginnen und Kollegen der FDP, sindSie sicherlich mit Ihrem Antrag nicht die ersten und ein-zigen – das haben Sie auch erwähnt –, die das zugrunde-liegende Problem erkannt haben. Worum geht es nocheinmal? – In Kürze: Wenn Ehepartner annähernd gleich-viel verdienen, bedienen sich beide in der Regel derLohsteuerklasse IV. Liegen jedoch die Einkünfte weiterauseinander, wählen sie – zurzeit sind es etwa 4 Millio-nen Ehepaare – die Kombination aus den Steuerklas-sen III und V. Durch einen Ausgleich im Rahmen derVeranlagung ist es bis zu diesem Punkt vor allem dieOptik, die im Jahresverlauf und pro Monat eine Hürdeaufbaut, mit der erforderlichen Begeisterung die Berufs-tätigkeit aufzunehmen bzw. auszuüben, und dies trifftnatürlich mehrheitlich auf Frauen zu. Viel wichtiger sinddeshalb für viele die, nennen wir es, Nebenwirkungen– Sie beschreiben es –, nämlich die vom Nettolohn ab-hängigen Leistungen wie Arbeitslosengeld und alles an-dere mehr.Dabei sollten und dürfen wir jedoch nicht den Ein-druck hinterlassen, es sei einzig eine Aufgabe des Steuer-systems, regulatorisch einzuwirken, um zu einer wieauch immer gearteten erhöhten Bereitschaft, berufstätigzu werden, zu kommen. Wenn wir an anderer Stelle – nurein Beispiel – über den Ausbau von Kinderbetreuung re-den, wie auch am heutigen Vormittag, dann drehen wir jagesamtwirtschaftlich natürlich genauso an einem Rad,das perspektivisch direkt Auswirkungen auf dieses tradi-tionelle Steuerklassensystem III/V haben wird, da sichEinkommen verändern werden oder sollen. Das dürfenwir nicht vergessen; das müssen wir immer im Hinter-kopf behalten.Kehren wir nun zurück und fragen uns, was die Zielesein sollen, wenn Änderungen an Steuerklassen vorge-nommen werden: erstens eine Stärkung der Anreize ins-besondere für Frauen, eine Arbeit aufzunehmen; zwei-tens eine ausgewogenere Verteilung der Lohnsteuerlastzwischen den Ehepartnern. Drittens. Die Gesamtsteuer-last beider per anno darf nicht höher sein als heute, aushaushaltspolitischer Verantwortung allerdings auch nichtniedriger. Viertens. Die erwähnten Lohnersatzleistun-gen, wenn der Fall eintritt, sollen/werden dann höherausfallen. Fünftens soll unter Berücksichtigung des Ehe-gattensplittings die Wahlfreiheit in der Lebensgestaltungaufrechterhalten werden, beispielsweise könnte bei Ein-führung eines neuen Modells ein Wahlrecht eingeräumtwerden, das bisherige beizubehalten. – Wer möchte dasnicht alles unterschreiben?
Nun zur Lösung: Gestatten Sie mir, dass ich zweiQuellen bemühe, weil sie mir bei der Vorbereitung sogut gefallen haben:Statt der bisherigen Steuerklassen werden wir einAnteilssystem einführen, mit dem jeder Ehegattekünftig soviel Lohnsteuer zahlt, wie es seinem An-teil am gemeinsamen Bruttolohn entspricht.Die andere Quelle besagt: Die Bundesregierung wirdaufgefordert,möglichst unbürokratische Vorschläge für die Neu-regelung des Lohnsteuerabzugs insgesamt vorzule-gen, wobei die Abzugsbeträge bei Ehegatten sichstärker am jeweiligen Anteil am Bruttoarbeitslohnorientieren.Die ersten Worte stammen aus dem Koalitionsvertrag,einem Werk, mit dem man als FDP-Abgeordneter nichteinverstanden sein muss, dessen Inhalte jedoch – das istunbestritten – konsequent umgesetzt werden, für mancheinen in diesem Land zu schnell. Die zweite Quelle – wirkönnen lange darüber diskutieren, woher was stammt –ist ein wörtliches Zitat aus Ihrem Antrag. Ein Unter-schied ist selbst für Steuerexperten zum Teil nur schwererkennbar.
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Patricia LipsFazit bis dahin: Ein Problem wurde allgemein erkanntund soll bzw. wird bereits einer Lösung zugeführt. Esgibt Ihren Antrag. Es gibt Vorschläge aus dem Ministe-rium; sie sind Ihnen bekannt. Beide verfolgen das glei-che Ziel. Über den Weg werden wir noch diskutieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Politik immereinfach wäre, könnten wir damit theoretisch den heutigenTag beschließen. Die Sache hat allerdings – natürlich –den sprichwörtlichen Haken: Mit der Begründung, eineinzelnes Element, nämlich die Lohnsteuerklasse V – da-rum ging es zu 90 Prozent in Ihrem Antrag und in IhrerRede – zu überarbeiten, abzuschaffen, wie auch immerSie es nennen wollen, oder, besser formuliert – das ist jadas eigentliche Anliegen –, Frauen über das Steuersys-tem einen größeren Anreiz zur Berufsaufnahme zu geben– das ist ja das eigentliche Ziel –, kommen Sie in IhremAntrag zu der Forderung, das gesamte bestehende Steu-erklassensystem umzuarbeiten bzw. aufzulösen.
Auch wenn dem viele grundsätzlich eine gewisse Sym-pathie entgegenbringen, ähnelt Ihr Vorgehen – gestattenSie mir bitte, das zu sagen – im bisher beschriebenen Zu-sammenhang so ein bisschen der berühmten Kanone, mitder man auf Spatzen schießt.Wir haben nicht vergessen, dass Sie einen Gesetzent-wurf zur Änderung des Gesamtsteuersystems vorge-legt haben. Hierzu gab und gibt es unterschiedliche An-sichten; so ist eben Demokratie. Dennoch war dieVorgehensweise Ihrer Fraktion an dieser Stelle konse-quent. Es macht aber nur bedingt Sinn, Teilelemente ei-nes Gesamtsystems separat zu behandeln. Heute ist esdie Lohnsteuerklasse V, morgen ist es in einem anderenAusschuss ein anderes Thema. Bitte denken Sie darübernach. Diese Splitteranträge gehen an dem ordnungspoli-tischen Anspruch, den Sie für sich selbst gerne reklamie-ren, deutlich vorbei. Ihr ganzes Ansinnen heute wirkt da-mit innerlich zerrissen zwischen den Anliegen derFinanz- und denen der Familienpolitiker Ihrer Fraktion.Lassen Sie mich noch ein Zitat aus Ihrem Antragbringen.
Würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke
zulassen?
Nein, ich bin gleich am Ende meiner Rede. – Das Zi-
tat aus Ihrem Antrag lautet:
Aber auch innerhalb des geltenden Einkommen-
steuerrechts ist die Aufteilung der insbesondere von
Ehegatten zu zahlenden Lohnsteuer … möglich.
Das heißt, Sie haben dort einen Weg aufgezeigt, in wel-
che Richtung man gemeinsam weiter diskutieren kann.
Deshalb mein Appell: Lassen Sie uns gemeinsam das
eigentliche Problem lösen! Da sind wir nicht weit aus-
einander. Aber diese Teil- bzw. Rumpfanträge, um fami-
lienpolitische Duftnoten zu setzen, helfen uns an dieser
Stelle nicht weiter. Ich freue mich auf die Auseinander-
setzung der kommenden Wochen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Lenke zu einer Kurzintervention.
Frau Kollegin, mich ärgert wirklich, dass Sie zu den
mit der Steuerklasse V zusammenhängenden Problemen
sagen, das seien Splitterprobleme bzw. es gehe um einen
Splitterantrag. Sie haben selber gesagt, 4 Millionen
Frauen würden darunter leiden. Es geht uns nicht darum,
Frauen dazu zu drängen, berufstätig zu werden, sondern
darum, dass doppelte Diskriminierung durch die Steuer-
klasse V beseitigt wird. Die Steuerklasse V ist vor 40
oder 50 Jahren eingerichtet worden, als die Verhältnisse
entsprechend waren. Heute sind die Verhältnisse anders.
Ich bitte, hier nicht von Splitteranträgen zu reden, vor al-
lem, nachdem Sie selber zu Anfang Ihrer Rede gesagt
haben, dass es hier auch um ein frauenpolitisches Anlie-
gen gehe.
Frau Lips, möchten Sie antworten?
Ich antworte kurz. – Sehr geehrte Kollegin, ich habedas nicht in Bezug auf die Wichtigkeit gesagt. Ichglaube, ich habe in meiner Rede genauso wie Sie auf dieDringlichkeit und Wichtigkeit hingewiesen, das Themaanzugehen. Damit spreche ich sicher für alle Fraktionenin diesem Haus, und zwar nicht nur für die Frauen, son-dern auch für die Männer.Ich habe allerdings darauf verwiesen, dass es von Ih-nen durchaus ein Gesamtkonzept gibt, wie es auch vonanderen steuerpolitische Gesamtkonzepte gibt. In demZusammenhang habe ich mir erlaubt, darauf aufmerk-sam zu machen, dass der Umgang mit der Lohnsteuer-klasse V auch Bestandteil Ihres Gesamtkonzeptes ist, Siedieses Problem aber nun daraus herausgegriffen haben.Vor diesem Hintergrund handelt es sich um den heutevorliegenden Antrag um einen Splitterantrag.Die Frage ist: Wie kommen wir im Rahmen des beste-henden Systems zu einer möglichst breiten Lösung indiesem Haus, also ohne das gesamte Steuerklassensys-tem aufrollen zu müssen? Auch dazu haben Sie in IhremAntrag einen Weg aufgezeigt und zugleich deutlich ge-macht, dass Sie zu einer Diskussion bereit sind. Das warder ganze Hintergrund meiner Rede am heutigen Tag.Danke schön.
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Jetzt hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für Die Linke
das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Kollegin Lips,
gerade in Bezug auf die Kinderbetreuung finde ich, dass
der Worte genug gewechselt sind. Lassen Sie endlich Ta-
ten folgen, damit zumindest die Frauen, die heute
schwanger sind, die Hoffnung haben können, dass sie
eine Kinderbetreuung angeboten bekommen, und zwar
in Ost und West.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 36,3 Prozent aller
erwerbstätigen Frauen arbeiten in Teilzeitjobs, meist
nicht freiwillig. Das ist die höchste Quote in Europa. Sie
zeigt eindeutig, wie wenig die Wertschöpfung aus weib-
licher Arbeit in Deutschland gefragt und gefördert wird.
Das konservative Familienmodell mit dem Mann als
Hauptverdiener scheint in Deutschland besonders stabil
zu sein. Gestützt wird es unter anderem durch das Steu-
errecht und ganz besonders durch das veraltete Ehegat-
tensplitting, dessen Neuausgabe in Form des Familien-
splittings nicht viel moderner und nicht viel gerechter
daherkommt.
Das deutsche Steuerrecht, insbesondere das Einkom-
mensteuerrecht, bringt, gelinde gesagt, hohe Risiken be-
züglich der Verteilungswirkung, aber vor allem auch für
gleichstellungspolitische Maßnahmen mit sich. In fast
allen europäischen Nachbarländern ist es Usus, alle indi-
viduell zu besteuern. Eine Zusammenveranlagung, wie
es in Deutschland im Rahmen des Ehegattensplittings
der Fall ist, gibt es dort nicht. Ungereimtheiten im Sys-
tem kommen zum Ausdruck, wenn man beispielsweise
an die Kombination der Steuerklassen III und V denkt.
Ich nenne dazu ein Beispiel: Eine gut ausgebildete PR-
Assistentin – verheiratet, Mutter eines Sohnes –, die Teil-
zeit arbeitet, da sie keine Kinderbetreuung hat, verdient
monatlich 1 600 Euro brutto und bekommt 800 Euro auf
die Hand. Ihr Mann – Referatsleiter im Gesundheitsamt,
natürlich in der Steuerklasse III –, der Vollzeit arbeitet,
verdient dreimal so viel und bekommt 3 000 Euro heraus.
Zusätzlich erhält er am Jahresende einen Ausgleich in
Form der Steuerrückzahlung, weil sowieso alles über sein
Konto läuft. Falls diese Frau dann krank oder arbeitslos
wird, in Mutterschaftsurlaub geht oder Elterngeld bean-
tragt, sind die in diesen Fällen zu zahlenden Leistungen
natürlich wesentlich geringer, weil sie in der Steuer-
klasse V ist. Das ist grob ungerecht.
Nicht zu unterschätzen ist – Frau Kollegin Lenke, Sie
haben das nebenbei erwähnt – die psychologische Wir-
kung;
denn es wird durch dieses System immer wieder sugge-
riert, die Frau trage weniger zum Familieneinkommen
bei, obwohl es nicht so ist. Wir halten das nicht für eine
Nebensache.
Ich muss Ihnen allerdings sagen: Ich finde es gut,
wenn die Regierungskoalition darüber nachdenkt – sie
hat es im Koalitionsvertrag zum Ausdruck gebracht; in-
zwischen hat sich die Diskussion ein bisschen weiterent-
wickelt –, dieses System zu ändern. Sie schlägt das An-
teilsverfahren vor. Aber die Probleme wird sie damit
nicht in den Griff bekommen.
Gerade aufgrund der Aufteilung in die Steuer-
klassen III und V – ich habe es vorhin beschrieben –
flüchten viele Frauen in 400-Euro-Jobs. Sie brauchen
dann keine Steuern zu zahlen und haben das Gefühl,
dass zumindest anerkannt wird, was sie arbeiten, da sie
ein entsprechendes Einkommen dafür erhalten.
Mit dem vorgeschlagenen optionalen Anteilsverfah-
ren werden Sie diese Probleme nicht lösen.
Zum einen werden sich, wenn das Gesamteinkommen
beider insgesamt stärker besteuert wird, die Ehepartner
auf freiwilliger Basis wohl kaum für dieses Verfahren
entscheiden. Nach dem, was uns bisher aus den Medien
bekannt ist, ist dann, wenn man diese Option wählt, da-
mit der Pferdefuß verbunden, dass eine gemeinsame
Veranlagung de facto entfällt. Steuerberater gehen davon
aus, dass dies zu Mindereinnahmen bei den Familien
und damit zu Mehreinnahmen beim Staat in Höhe von
etwa 500 Millionen Euro führen wird.
Datenschützer verweisen darauf, dass dieses Verfah-
ren umstritten ist, weil die Arbeitgeber der Ehepartner
wissen, was der jeweils andere Ehepartner verdient.
Das kann natürlich auch wieder gegen die Frauen ge-
nutzt werden, nach dem Motto: Dein Mann verdient
doch genug. Was kommst du jetzt hier an und möchtest
noch mehr verdienen!
Letztendlich schwenken auch Sie, Frau Lenke, mit
dem, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, auf die Linie
des Anteilsverfahrens ein.
Ich bin froh, dass sich Bündnis 90/Die Grünen, seit es
in der Opposition ist, wieder darauf besonnen hat, dass
die einzige konsequente Lösung der Übergang zur Indi-
vidualbesteuerung ist. Diesen Ansatz verfolgen auch wir.
Hinzu muss die Übertragbarkeit des steuerfreien Exis-
tenzminimums kommen. Es sollte uns vielleicht zu den-
ken geben, dass wir diese Woche einen Aufruf bekom-
men haben, –
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
– der genau dieses vorschlägt, Frau Präsidentin. Die-sen Aufruf haben unter anderem AWO, DGB und Deut-scher Frauenrat, aber auch die Evangelische Aktionsge-meinschaft für Familienfragen und die KatholischeArbeitnehmerbewegung unterschrieben. Darüber solltesich die Koalition informieren und dann mit uns diesenkonsequenten Weg gehen.Ich danke Ihnen.
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Jetzt spricht Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Frau Lenke, Sie haben sich hier fürch-
terlich über den immensen Splittingvorteil empört und
so getan, als ob mit Abschaffung der Steuerklasse V der
Splittingvorteil verschwinden würde. Oder war das ein
Antrag, die Splittingtabelle gleich mit abzuschaffen?
Das kann ja sein; vielleicht habe ich Sie missverstanden.
In Ihrer Rede habe ich einen weiteren kleinen Wider-
spruch entdeckt, den ich gern aufklären möchte. Sie ha-
ben gesagt, dass eine Frau viel weniger Elterngeld be-
zieht, wenn sie vor der Geburt Steuerklasse V und nicht
Steuerklasse III hatte.
Wenn wir die Steuerklasse V abschaffen, gibt es die
Steuerklasse III aber auch nicht mehr. Was wollen Sie
denn nun? Wollen Sie das Elterngeld nach
Steuerklasse III berechnen oder die Steuerklasse V ab-
schaffen?
Es ist nicht möglich, beides gleichzeitig zu machen. Le-
sen Sie das Protokoll einmal nach. Ich hoffe, dass Sie die
Widersprüche zumindest dann feststellen.
Wir beraten heute über einen Antrag, der zu zwei
Dritteln der Antrag der Grünen ist, über den wir vor ein
paar Wochen, am 2. Februar 2007, debattiert haben. Die
Steuerklasse V wird auch in Ihrem Antrag – das ist
schon gesagt worden – als großes Beschäftigungshinder-
nis dargestellt. Sie weisen, wie ich finde, völlig zu
Recht, auf die Diskrepanz bei den Lohnersatzleistungen
hin. In den meisten Fällen haben die Ehegatten die Lö-
sung dieser beiden Probleme selbst in der Hand. Sie
müssen nicht die Steuerklassen III und V wählen. Man
kann die Steuerklassenkombination IV und IV wählen.
Da man länger als drei Monate schwanger ist, kann man
auf die Steuerklassenkombination IV und IV wechseln
und erhält dann das Elterngeld nach Steuerklasse IV
ausgezahlt.
Frau Frechen, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lenke zulassen?
Ja, klar.
Frau Lenke, bitte.
Im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend ist das Elterngeld federführend beraten worden.
Wenn es so wäre, wie Sie sagen, wäre eine Überlegung,
den Durchschnittsbruttoverdienst der letzten drei Mo-
nate vor der Geburt als Berechnungsgrundlage für das
Elterngeld heranzuziehen. Nach dem Elterngeldgesetz
werden jetzt aber die letzten zwölf Monate vor der Ge-
burt zur Berechnung herangezogen. Sie können mir doch
nicht erzählen, dass man weiß, dass man zwölf Monate
später schwanger wird.
Diese Regelung ist ganz bewusst so gemacht worden,
damit die Ehepartner die Lohnsteuerklassen nicht ändern
können. In der Fachpresse können Sie lesen, dass das
Ändern der Steuerklasse gefährlich ist. Wenn nämlich
derjenige, der mehr verdient, arbeitslos wird, hat er das
gleiche Problem wie die Frau mit Steuerklasse V.
Erzählen Sie hier nicht so etwas, sondern schauen Sie
sich erst einmal das Elterngeldgesetz und die Regelun-
gen, die Sie festgelegt haben, an. Ich finde es ziemlich
mies, dass hier so über diesen Antrag gesprochen wird.
Ich möchte sagen: Das war wieder typisch Lenke.
Sie wollen die Steuerklasse III für beide, für die Frau,die Elterngeld beziehen möchte, und für den Mann, derwomöglich arbeitslos wird. Ich denke, es ist am besten,Sie nehmen die Steuerklasse IV, dann brauchen Sie sichmit solchen Einzelproblemen nicht herumzuschlagen.
Ich widerspreche Ihnen ja gar nicht: Bei den Lohn-ersatzleistungen macht das wirklich etwas aus. Dastimme ich Ihnen gerne zu. Aufgrund meiner Erfahrungals Steuerberaterin kann ich aber sagen, dass die Men-schen sehr viel bewusster mit der Steuerklassenkombi-nation umgehen, als Sie uns glauben machen wollen. Inmeiner langen Berufstätigkeit habe ich Ehepaare erlebt,die ganz bewusst Steuerklasse IV gewählt haben.
Sie haben gesagt: Im Frühjahr bekommen wir etwasGeld raus, das legen wir beiseite, das sparen wir für denUrlaub. Andere haben gesagt: Wir können mit unseremGeld viel besser umgehen als der Staat. Wir wählen ganzbewusst die Steuerklassen III und V. Ich gehe zwar dasRisiko ein, nachzahlen zu müssen. Das Geld dafür legenwir aber jeden Monat zurück. Je nachdem, wie viel wirnachzahlen müssen, gehen wir am Ende des Jahres einKölsch trinken oder Essen. Frau Lenke, Sie können mirmeine Erfahrungen nicht streitig machen. Bei aller Wert-schätzung, ich weiß, wovon ich rede.
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Gabriele FrechenBei der Steuerklassenkombination III und V zahltderjenige, der Steuerklasse III hat, unverhältnismäßigwenig Steuern und derjenige, der Steuerklasse V hat, un-verhältnismäßig viel Steuern. Am Ende des Jahres wirddas aber ausgeglichen.In Ihrem Antrag steht nicht – das haben Sie aber hierin Ihrer Zwischenfrage gesagt –, dass überwiegendFrauen die Steuerklasse V haben. Aber liegt es daran,dass sie Frauen sind, oder liegt es nicht vielmehr daran,dass Sie die niedrigeren Einkommen haben?
– Ja, das denke ich auch.Wir leben mit der Vorstellung, dass Mann und Frausich Erwerbsarbeit und Familienarbeit gerecht unterei-nander aufteilen müssen. Das ist sehr schön. Das wollenwir alle. Aber es entspricht nicht den Tatsachen. Mannund Frau teilen sich Erwerbs- und Familienarbeit meistnur so lange, bis sie Eltern werden. Spätestens ab diesemZeitpunkt ändert sich die Situation schlagartig.Warum ist das so? Diese Fragen müssen wir uns zuRecht immer wieder stellen. Ich glaube nicht, dass dasdurch eine Abschaffung der Steuerklasse V geregeltwerden kann. Es geht darum, dass Frauen für die gleicheArbeit weniger Lohn, weniger Gehalt bekommen unddass sie regelmäßig mehr Teilzeit arbeiten als Männer.Das ist kein Problem aufgrund der Steuerklasse V. Dasist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das könnenwir mit einem Herumdoktern an Steuerklassen, wie Sieuns glauben machen wollen, nicht ändern.
Nichtsdestoweniger – das sage ich versöhnlich zumWochenende, Frau Lenke – gibt es auch bei uns Überle-gungen, die Steuerlast unter den Ehegatten unterjähriggleichmäßiger zu verteilen.
Aber – das betone ich ausdrücklich – das ist freiwillig.Das ist nur für die Ehegatten, die diese Kombinationwählen wollen. Freiheit und Selbstbestimmung geltenüberall, nur nicht bei der Wahl der Steuerklassen. DieMenschen wissen selber ganz gut, welche Steuerklassen-kombination für sie die richtige ist. Warum müssen wirEhegatten vorschreiben, wie sie ihre Steuerlast, die siebeim Familieneinkommen zu tragen haben, verteilensollen? Ich glaube, die Menschen sind in diesem Punktviel weiter als Sie, Frau Lenke. Es tut mir leid.
Wir wollen, dass die Menschen die Steuerlast andersverteilen können, nämlich so, wie sie es für richtig emp-finden. Alle Kolleginnen und Kollegen kennen sicher-lich den Referentenentwurf zum Jahressteuergesetz2008. Wir alle haben uns da schon sehr eingearbeitet.Darin ist das Anteilsverfahren enthalten. Wir bieten dieMöglichkeit an, die Steuerlast freiwillig gleichmäßigerzu verteilen.Ob damit die Probleme gelöst werden, ob es praktika-bel ist und ob es angenommen wird, kann ich noch nichtsagen. Noch sind wir nicht im Geschäft. Denn das parla-mentarische Verfahren beginnt deutlich später. Ich binauf die Diskussionen, die dabei entstehen, gespannt. Ichfreue mich darauf.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Dr. Höll zulassen?
Ja.
Frau Frechen, ich habe meine Position genannt. Ich
finde den konsequenten Übergang zur Individualbesteu-
erung richtig. Ich weiß, dass die Arbeitsgemeinschaft
Sozialdemokratischer Frauen dies auch so sagt bzw. so
sieht. Es erschließt sich mir daher nicht – auch nicht vor
dem Hintergrund der Ergebnisse der neuen Bertelsmann-
Studie, in der eine eindeutige Positionierung erfolgt –,
warum Sie jetzt das optionale Anteilsverfahren bevorzu-
gen.
Liebe Frau Kollegin Höll, wir können das in der Tatauch im Ausschuss besprechen. Sie haben meine Posi-tion dazu aber schon am 2. Februar 2007 gehört – so Siedenn anwesend waren –, als wir über den Antrag derKolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünenzur Abschaffung der Splittingtabelle gesprochen haben;da habe ich sie dargestellt. Ich glaube, es würde uns bei-den keine Freude machen – und vor allen Dingen keineFreunde –, wenn ich jetzt meine Rede vom 2. Februarwiederholen würde.
– Nein, ich stimme ihr nicht zu.Ich glaube aber nicht, dass Sie so lange stehenbleibenkönnten, bis ich das erklärt habe. Es gibt da noch ganzandere Gründe, warum ich mich in diesem Punkt etwasanders verhalte als die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemo-kratischer Frauen. Es ist noch nicht ausdiskutiert, wervon uns beiden da recht hat. Lesen Sie das in meinerRede einfach nach. Dann erschließt es sich Ihnen mit Si-cherheit sofort.Ich bleibe dabei: Mit der Änderung des Steuerrechtserreichen wir weder eine Erhöhung der Beschäftigungvon Frauen noch erreichen wir, dass die Gehälter zwi-
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Gabriele Frechenschen Frauen und Männern gleich hoch sind. Das wer-den wir mithilfe des Steuerrechts nicht schaffen.Die Kinderbetreuungskosten werden in allen Berech-nungsmodellen vom Gehalt der Mutter abgezogen wer-den. Ich frage Sie: Wo leben wir eigentlich?
Ist der Vater nicht auch für die Kosten der Kinderbetreu-ung verantwortlich?
Solange es so bleibt, dass die Kinderbetreuungskosten inallen Berechnungsmodellen vom Nettogehalt der Mutterabgezogen werden,
sind wir nicht auf einem partnerschaftlichen Weg: wederbei der Erwerbsarbeit noch bei der Familienarbeit.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat das Wort die Kollegin Britta Haßelmann für
das Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte FrauStaatssekretärin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Im Jahr 2001 waren von den in Lohnsteuer-klasse III, der Steuerklasse mit dem niedrigen Lohnsteu-erabzug, eingestuften Personen 83,1 Prozent Männerund 16,9 Prozent Frauen. Gleichzeitig waren von den inLohnsteuerklasse V, der Steuerklasse mit dem hohenLohnsteuerabzug, eingestuften Personen 10,4 ProzentMänner und 89,6 Prozent Frauen. Frau Frechen, ichmusste ein bisschen schmunzeln, als ich hörte, wie Siedie Position der SPD dargestellt haben.
Sie sagten, das sei frei gewählt, und Männer und Frauenentschieden solidarisch miteinander, wie das innerhalbder Familie verteilt wird. Zumindest die Frauenpolitike-rinnen in Ihrer Fraktion wissen, dass das nicht so ist.Deshalb setzen sie sich an anderer Stelle genauso wie ichfür die Abschaffung der Steuerklasse V ein.Die Steuerklasse V ist antiquiert, ungerecht und leis-tungsfeindlich, und sie benachteiligt einseitig dieFrauen. Deshalb ist es dringend an der Zeit, sie abzu-schaffen. Dieser Diskurs wird nicht nur bei den Grünengeführt. Auch viele Frauenpolitikerinnen und Frauen-politiker in Vereinen und Verbänden, selbst in der Wirt-schaft, sowie in der SPD und in anderen Fraktionen er-heben diese Forderung seit langem.Rund 90 Prozent derjenigen, die in diese diskriminie-rende Steuerklasse eingestuft sind, sind Frauen. Das liegtdaran, dass Frauen in diesem Land selbst für die gleicheArbeit immer noch deutlich weniger verdienen als Män-ner. Deshalb werden sie in diese Steuerklasse eingestuft.Das gesamte System der Lohnsteuerklassen für Ehe-paare zementiert diese Ungleichheit. Es muss dringendan die Lebensrealität angepasst werden und darf nichtweiter Arbeitsanreize für Zweitverdiener, in der Regelfür Frauen, vermindern.
Liebe Frau Lenke, die Vorstellungen der FDP zurNeuregelung des Lohnsteuerabzugs sind allerdings sehrkarg gehalten. Ihr Antrag bringt diese Debatte aus mei-ner Sicht überhaupt nicht voran. Wir Grüne haben schonvor ein paar Monaten – Frau Frechen hat das gerade an-gesprochen – eine Alternative vorgelegt. Unser Antragmit dem Titel „Steuervereinfachung – Lohnsteuerklas-sen III, IV und V abschaffen“ befindet sich schon seitFebruar dieses Jahres im parlamentarischen Verfahren.Nun zur Großen Koalition. Welchen Beitrag leistet sieeigentlich zur Gleichstellung von Frauen im Steuer-recht? Die Große Koalition plant, im Lohnsteuerabzugs-verfahren ab 2009 ein Optionsrecht einzuführen. Diebisherigen und aus meiner Sicht antiquierten Steuerklas-sen bleiben also bestehen, und das Optionsrecht wird zu-sätzlich obendrauf gesattelt.
Damit liegt die Große Koalition schon im Ansatz dane-ben. Denn das Lohnsteuerabzugsverfahren wird dadurchnicht etwa einfacher, sondern komplizierter. Diesen Vor-schlag machen ausgerechnet Sie, die Sie sich an andererStelle vehement für den Bürokratieabbau einsetzen.Die Option erlaubt den Ehepartnern, sich nach ihremjeweiligen Anteil am gemeinsamen Gesamtbruttolohnbesteuern zu lassen. Das bedeutet letztlich nichts ande-res, als dass die ungerechten und leistungsfeindlichenVerteilungswirkungen des Ehegattensplittings unverän-dert bleiben. Es wird lediglich an den Symptomen he-rumgedoktert, letztlich aber nichts verändert. Wer fürdas Anteilsverfahren optiert – Frau Lenke, dafür sprichtsich übrigens auch die FDP aus –, zahlt so viel Lohn-steuer, wie es seinem Anteil am Familieneinkommenentspricht.Der hohe Lohnsteuerabzug bei Lohnsteuerklasse V isteine Folge des Ehegattensplittings. Deshalb wollen wirdas Ehegattensplitting in eine gerechte und zeitgemäßeIndividualbesteuerung umwandeln, wobei die gegen-seitigen Unterhaltspflichten der Partnerinnen und Part-ner dadurch berücksichtigt werden, dass ein Höchstbei-trag an den Ehegatten übertragbar ist. Jede Frau undjeder Mann macht die Steuererklärung für sich – dieSteuerklassen III, IV, V können somit ersatzlos wegfal-len.Lassen Sie mich zuletzt noch die datenschutzrechtli-che Krux des Anteilverfahrens ansprechen, für das sichdie Große Koalition und die FDP aussprechen: Die eige-nen Einkünfte müssen dem Arbeitgeber des Partnersbzw. der Partnerin bekannt gemacht werden. Eine solche
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Britta Haßelmannweitreichende Offenlegung persönlicher Daten geht unszu weit. Deshalb lehnen wir dieses Verfahren ab.Ich sehe in der Individualbesteuerung und dem Vor-schlag, den wir Grüne gemacht haben, den Weg, derEmanzipation der Frau im Steuerrecht ein Stückchen nä-her zu kommen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3649 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Oskar
Lafontaine, Dr. Barbara Höll, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines ...
Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes
– Drucksache 16/4659 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Damit sind Sie einverstanden.
Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Leo
Dautzenberg, Klaus Uwe Benneter, Mechthild
Dyckmans und Margareta Wolf gehen zu
Protokoll.1)
Ich erteile das Wort dem Kollegen Professor Herbert
Schui für Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ak-tiengesetz weist dem Aufsichtsrat die Aufgabe zu, dieGeschäftsführung zu überwachen. Das scheint nötigerdenn je zu sein. Die Konzerne Siemens, Daimler, EADSund Telekom beispielsweise machen nicht den Eindruck,gut geführt und hinreichend beaufsichtigt zu sein. Daswundert auch deswegen nicht, weil die ehemaligen Vor-stände regelmäßig Aufsichtsräte werden.Der unternehmerische Ehrgeiz der Vorstände richtetsich gegenwärtig weniger auf Ziele wie langfristige Pla-nung und technischen Fortschritt – noch weniger auftechnischen Fortschritt, der der Umwelt zugute käme.Vielmehr verlegen sie alle Energie darauf, ihren Beleg-schaften unbezahlte Mehrarbeit und den Verzicht aufLohn abzupressen – dies alles vor dem Hintergrund, dassdie Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermö-1) Anlage 7gen im vergangenen Jahr um 38 Milliarden Euro zuge-nommen haben.Ähnlich nachdrücklich gehen die Vorstände bei derErhöhung der Managementvergütung vor: Bei denDAX-Unternehmen haben sich diese Vergütungen wäh-rend der letzten sechs Jahre verdoppelt. Die realen Net-tolöhne dagegen sind, wie Sie wissen, gesunken. Bei denManagervergütungen gibt das Aktiengesetz dem Auf-sichtsrat eine klare Verantwortung: Er hat dafür zu sor-gen, dass die Vorstandsbezüge in einem angemessenenVerhältnis zu den Aufgaben des Managements und zurLage der Gesellschaft stehen. Bei einer wesentlichenVerschlechterung der Lage der Gesellschaft können dieManagementbezüge sogar abgesenkt werden – ich be-zweifle allerdings, ob das je der Fall war.Mit der unternehmerischen Dynamik sieht es schlechtaus, daran arbeiten die Vorstände allenfalls verhalten:Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung beispiels-weise liegen mit 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktsunter dem Richtwert des Lissabonprozesses, der bei3 Prozent liegt.Bei Siemens wurde der Vorstandsvorsitzende Kleinfeldvon seinem Vorgänger von Pierer, der in den Aufsichts-rat gewechselt war, überwacht. In dieser Zeit sah sichder Konzern nicht in der Lage, mit der Entwicklung derHandyproduktion Schritt zu halten. Korruption grassiert.Gelbe Gewerkschaften werden mit Konzerngeldernhochgepäppelt, um die IG Metall zu schwächen. Zeit-gleich mit der BenQ-Pleite kündigte der Aufsichtsratvon Siemens an, die Vorstandsgehälter um 30 Prozent zuerhöhen. Erst massiver öffentlicher Protest hat dafür ge-sorgt, dass diese Vorhaben verschoben und möglicher-weise auch ganz aufgegeben wurden.Der Fall Siemens ist typisch für viele deutsche Unter-nehmen: schleppende Innovation, beschleunigte Lohn-senkung, keine Hemmungen der Vorstände und ineffi-ziente Aufsichtsräte. Ein Grund dafür ist, dass der Auf-sichtsrat als Versorgungsposten für ehemalige Vorständeherhält, die die Folgen ihrer eigenen Entscheidungendann schließlich selbst überwachen sollen.Von den 21 seit 2002 ausgeschiedenen Vorstandsvor-sitzenden der im DAX vertretenen Unternehmen lande-ten 16 im Aufsichtsrat desselben Unternehmens, zwölfwurden sogleich Aufsichtsratsvorsitzende. Das ist ganzoffensichtlich Missbrauch. Durch das Aktienrecht wirdnicht umsonst verboten, dass ein Aufsichtsratsmitgliedzugleich Vorstandsmitglied ist. Nicht viel anders liegendie Dinge, wenn ein direkter Übergang vom Vorstand inden Aufsichtsrat erfolgt.Durch das Aktienrecht wird die Beachtung desCorporate-Governance-Kodex nahegelegt. Darin ver-pflichten sich die Unternehmen in freiwilliger Überein-kunft, einen unmittelbaren Wechsel des Vorstandschefsin den Aufsichtsrat in der Regel auszuschließen. Wie dieErfahrung aber zeigt, ist diese Selbstverpflichtung nichtswert. Umso erstaunlicher ist, dass die Koalition so nach-drücklich darauf setzt. Durch die freiwilligen Verhal-tensregeln wird auch die Veröffentlichung der Vor-standsgehälter vorgeschrieben. Befolgt wurde diese
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Juni 2007 10967
(C)
Dr. Herbert SchuiRegel jedoch erst, nachdem die entsprechenden Passa-gen dieses Kodex Gesetz geworden sind.Deshalb schlägt Die Linke vor, den Übergang vonVorstandsmitgliedern in den Aufsichtsrat erst nach einerÜbergangsfrist von fünf Jahren zu erlauben. Die Forde-rung ist Ihnen bekannt. Sie wurde so ähnlich auch vonVolker Kauder vertreten. Das Gesetz wäre also nichtsweiter als die rechtliche Normierung des freiwilligenCorporate-Governance-Kodex.Ich gehe davon aus, dass all diejenigen, die den Inhaltder freiwilligen Vereinbarungen gutheißen, auch unserenAntrag gutheißen werden. An sich sollte die überwie-gende Mehrheit des Hauses unserem Antrag zustimmen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Es ist verabredet, den Gesetzentwurf auf Druck-
sache 16/4659 an die Ausschüsse zu überweisen, die in
der Tagesordnung vorgeschlagen werden. – Damit sind
Sie einverstanden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
Mit Bioraffinerien in Deutschland die Bio-
masse effizienter nutzen und zusätzliche Res-
sourcen erschließen
– Drucksache 16/5529 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Flachsbarth, Mühlstein, Brunkhorst, Bulling-Schröter
und Kotting-Uhl sind zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5529 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung stehen. – Auch damit sind Sie
einverstanden.
Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung an-
gekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages, auf Mittwoch, den 4. Juli 2007, 13 Uhr, ein.
Genießen Sie das Wochenende und die gewonnenen
Einsichten.
Die Sitzung ist geschlossen.