Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Tag, liebe Kolleginnenund Kollegen!Der Kollege Werner Dreibus feiert heute seinen60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliereich dazu sehr herzlich und wünsche ihm alles Gute. Wieich höre, ist er auf dem Weg hierher. Ich hoffe, dass ihmdie Glückwünsche übermittelt werden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Bericht zur technologischenLeistungsfähigkeit Deutschlands 2007.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Bundesministerin für Bildung und Forschung,Frau Dr. Annette Schavan. – Bitte.Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Bundesre-Redegierung hat in der heutigen Kabinettssitzung den Berichtzur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2007beraten und verabschiedet. Das wird der letzte Bericht indieser Form sein. Er wird durch einen Bericht zum Standder Innovationskraft in Deutschland abgelöst werden.Der Bericht 2007 zeigt, dass sich das Umfeld für In-vestitionen in Forschung und Entwicklung in Deutsch-land deutlich verbessert hat. Bereits die Plandaten für2006 zeigten gegenüber 2005 einen Aufwuchs von 1,8 Mil-liarden Euro in der Industrieforschung in Deutschland.Das ist eine Steigerung um 4,7 Prozent. Es wird deutlich,dass es nicht nur in den klassischen Branchen – ichnenne die Automobilbranche –, sondern zunehmendauch in anderen Branchen gute Prognosenvestitionen gibt. Ich nenne als BeispielIndustrie, die bis zum Ende des Jahrzehntjährlichen Zuwachs bei den ForschungsinvHöhe von 9 Prozent ausgeht.tzungen 20. Juni 20073.00 UhrUrsache für diese Dynamik im Bereich von FuE istauf der einen Seite die allgemeine konjunkturelle Ent-wicklung und auf der anderen Seite – von den Expertenwird das so bewertet – das erstmals vorliegende Konzepteiner integrierten Forschungs- und Innovationspolitik.Die Hightechstrategie wird eigens als Beispiel dafür ge-nannt, wie den Schwächen in der Wertschöpfungskette,die in den vergangenen Jahren immer wieder festgestelltworden sind, durch die Integration aller relevanten Fak-toren begegnet wird.Eine weitere wichtige Information ist, dass im Jahr2006 erstmals der kontinuierliche Rückgang bei denGründungen junger Technologieunternehmen, der in derersten Hälfte dieses Jahrzehnts kontinuierlich war, ge-stoppt werden konnte. Damit können wir noch nicht zu-frieden sein. Die positiven Entwicklungen müssen für ei-nen Anstieg genutzt werden. Der über Jahre andauerndeRückgang ist aber auf jeden Fall gestoppt. Auch das istein Erfolg.In den Bereichen Technologieexport und Patente gibtes positive Entwicklungen und damit eine weitere Ver-besserung der Position Deutschlands im internationalenVergleich.Wichtige Hinweise für die Zukunft:textErstens. Fachkräftemangel. Wenn die jetzige Dynamikanhält, werden – das wird uns vorhergesagt – bis zum Jahr2014 jährlich zwischen 41 000 und 62 000 Akademike-rinnen und Akademiker – das sind etwa 20 Prozent einesJahrgangs – fehlen. Das ist viel. Wenn wir aber – das wirdein ganz wichtiger Punkt sein, an dem wir ansetzen müs-sen – eine Halbierung der Studienabbrecherquoten in denentsprechenden Studiengängen für Technik und Natur-wissenschaften erreichen könnten – also eine Senkungder Abbrecherquote von 50 auf 25 Prozent –, dann könn-ten wir die Zahl der fehlenden Akademikerinnen undAkademiker deutlich senken.Verbesserung der Rahmenbedingungen fürtitionen in FuE. Über das Thema diskutie-de: Wagniskapital und Stabilisierung fürehmen über einen ausreichend langen Zeit- für FuE-In-die optisches von einemestitionen inZweitens.private Invesren wir gerajunge Unternraum.
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Bundesministerin Dr. Annette SchavanDrittens. Steuerliche Förderung von Investitionen inFuE. Dies wird uns mit Blick auf die nächste Legislatur-periode in den nächsten Jahren ganz gewiss beschäfti-gen. Die meisten Länder, mit denen wir im Wettbewerbstehen, haben neben ihren Projektförderungen und nebenihren Forschungsförderungsprogrammen klare Anreizeim Steuersystem. Das ist ein wichtiger Punkt: Wir brau-chen eine Erweiterung des Instrumentenkastens mitBlick auf diejenigen – das gilt vor allem für kleine undmittlere Unternehmen –, die an den Förderprogrammenjetzt nicht genügend partizipieren. Die Forschungsprä-mie ist ein erstes Instrument, das wir zur Erreichung die-ses Ziels schaffen.Das sind die wesentlichen Stichworte mit Blick aufMöglichkeiten der Weiterentwicklung: Steigerung derZahl von Fachkräften, verbesserte Rahmenbedingungen– beispielsweise im Bereich Wagniskapital –, Erweite-rung der Instrumente zur Förderung von FuE und konse-quentes Festhalten am jetzt eingeschlagenen Kurs derBundesregierung. Dies bedeutet, am 3-Prozent-Ziel fest-zuhalten und integrative Forschungs- und Innovations-politik zu betreiben.Vielen Dank.
Ich danke herzlich für den Bericht und bitte, zunächst
Fragen zu dem Themenbereich zu stellen, über den so-
eben berichtet wurde.
Das Wort zur ersten Frage hat der Kollege Johann-
Henrich Krummacher.
Frau Ministerin, wer bei internationalen Wirtschafts-
begegnungen unterwegs ist, macht die Erfahrung, dass
über den Technologiestandort Bundesrepublik Deutsch-
land und auch über die Technologieförderung, die Ihr
Ministerium in Gang gebracht hat, äußerst positiv ge-
sprochen wird. Ich möchte den Blick auf Asien lenken,
auf die Aufholjagd der asiatischen Länder, insbesondere
China, Indien und die Länder Südostasiens. Diese Auf-
holjagd wird im Bericht als eine Chance für das Techno-
logieexportland Deutschland beschrieben.
Wie reagiert die Bundesrepublik auf diese Entwick-
lung? Gibt es Strategien zur Zusammenarbeit mit diesen
Ländern, die die Position unserer technologieorientierten
Unternehmen auf diesen Wachstumsmärkten unterstüt-
zen?
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:
Ja, es gibt solche Kooperationen. Grundlage für die
von Ihnen genannte Feststellung sind die Tatsache, dass
65 Prozent der Unternehmen in Deutschland im interna-
tionalen Vergleich als innovative Unternehmen gelten,
und der eben schon erwähnte hohe Anteil der hochentwi-
ckelten Technologien am Export.
Deshalb streben wir in den internationalen Beziehun-
gen jetzt vor allen Dingen Vereinbarungen an, bei denen
auf beiden Seiten die Partner Wissenschaft und Wirt-
schaft miteinander kooperieren. Deutschland ist in der
Tat in einer Reihe von Bereichen – ich nenne nur die La-
sertechnik – Weltmarktführer, wodurch solche Koopera-
tionen für andere interessant sind.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Dr. Petra Sitte.
Danke schön. – Frau Ministerin, Sie selbst haben denFachkräftemangel angesprochen, der, wie schon im letz-ten Bericht zu lesen war, bundesweit eine besondereRolle spielt. Ich möchte mich diesem Problem mit Blickauf die neuen Bundesländer zuwenden.Unlängst hat das Berlin-Institut für Bevölkerung undEntwicklung eine Studie herausgegeben. In dieser Studiemit dem Titel „Not am Mann“ – diesen Titel finde ichsehr einfallsreich – kam man zu dem Ergebnis, dass vorallem junge, qualifizierte Frauen aus den ostdeutschenLändern abwandern. Zurück bleibt – ich zitiere; ichwürde mich gar nicht trauen, das so zu sagen – „eineneue, von Männern dominierte Unterschicht“. Die„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat das wie folgtkommentiert: Ostdeutschland stehe mit Blick auf Aus-wanderung schlechter da als Polarregionen.Die Bundesregierung hat auf dieses Problem reagiert,indem sie ein Pilotprojekt aufgelegt und dafür4 Millionen Euro zur Verfügung gestellt hat; dieser Be-trag würde übrigens bedeuten, dass jedes ostdeutscheBundesland noch nicht einmal 1 Million Euro erhält. ImRahmen dieses Pilotprojekts will man sich mit medizini-schen und kulturellen Angeboten vor allem an jungeFrauen wenden. Das ist aber nicht das Problem der jun-gen Frauen, sondern, wie die Ergebnisse sozialer Studienbelegen, eher das Problem der jungen Männer.Wir glauben, dass es eines viel komplexeren Ansatzesbedarf. Man braucht mehr Geld, mehr Personal und einekonzertierte Aktion von Bundesregierung und Bundes-ländern. Vor diesem Hintergrund frage ich Sie: Was hatdie Bundesregierung in ihrer heutigen Kabinettssitzungbesprochen bzw. konkret beschlossen, um dieses Pro-blem zu lösen?Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Die Bundesregierung hat sich nicht auf ein 4-Millio-nen-Euro-Pilotprojekt geeinigt; das ist lediglich einneuer Vorschlag, den ein Kollege auf diese Meldung hinim Kabinett gemacht hat.Selbstverständlich gibt es allerdings eine umfassendeInnovationsstrategie für die neuen Länder. Dazu gehörendie verschiedenen Programme im Rahmen von Inno-Re-gio. Dazu gehören zusätzliche Investitionen in Ausbil-dung und hohe berufliche Qualifikation. Dazu gehörenProgramme zur Stabilisierung der Situation der Unter-nehmen durch Beratung des Managements und zur För-
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Bundesministerin Dr. Annette Schavanderung des innovativen Potenzials. Dazu gehört, dass ineiner ganzen Reihe von Regionen ein entsprechendesVerständnis von Forschungspolitik entwickelt wird – dasist unter dem Dach von Inno-Regio geschehen –, um re-gionale Entwicklungen zu fördern.Hier denke ich an Kooperationen zwischen Hoch-schulen und Unternehmen, die es beispielsweise in Leip-zig und Magdeburg, also an unterschiedlichen Orten, be-reits gibt. Ich denke ferner an Programme, im Zuge dererschon eine Reihe von Unternehmen gegründet und vieleArbeitsplätze geschaffen wurden. Ich habe die genauenZahlen zu den entstandenen Arbeitsplätzen nicht alle imKopf. Aber ich kann sagen, dass die Bilanz der bisheraufgelegten Programme sehr gut ist.Vor einigen Monaten wurde in dem Bereich, für denich zuständig bin, ein institutionalisierter Dialog zwi-schen den fünf neuen Bundesländern und der Bundesre-gierung ins Leben gerufen, um auf der Grundlage derdort gemachten Erfahrungen die Weiterentwicklung derInnovationsstrategien zu fördern. Es reicht nämlich nichtaus, zur Verhinderung der Abwanderung nur Projektepunktuell an dieser oder jener Stelle durchzuführen.Vielmehr muss in den Regionen eine innovative Ent-wicklung in Gang gesetzt werden, an der nach Möglich-keit diese fünf Länder teilhaben. Das wird in finanziellerHinsicht in großem Umfang gefördert.
Die nächste Frage kommt wieder aus der Unionsfrak-
tion. Der Kollege Müller hat das Wort.
Frau Ministerin, das Thema Fachkräftemangel ist
wichtig. Im Bericht der Bundesregierung wird dieses
Problem umfassend erörtert; darauf haben Sie in Ihren
einführenden Erläuterungen bereits hingewiesen. Im Be-
richt heißt es, dass bis zum Jahre 2014 mehr als 60 000
Akademikerinnen und Akademiker fehlen könnten. Die-
sem Problem kann, zumindest teilweise, durch eine Sen-
kung der Studienabbrecherquote begegnet werden. Wel-
che weiteren Möglichkeiten gibt es Ihrer Meinung nach,
dem Fachkräftemangel nicht nur in den neuen Bundes-
ländern, sondern darüber hinaus auch im gesamten Bun-
desgebiet entgegenzutreten?
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:
Es gibt nach meinem Eindruck drei Schlüsselmaßnah-
men:
Der erste Punkt. Wir müssen nahe an das Ziel kom-
men – das ist im Koalitionsvertrag vereinbart –, dass ein
von Generation zu Generation höherer Anteil studiert,
und dies besonders im Bereich der Natur- und Technik-
wissenschaften. Um das zu erreichen, ist aber auch not-
wendig, dass von den Unternehmen in Deutschland das
Signal an die jungen Leute geht, dass es sich lohnt, in
diese Bereiche zu gehen. Denn Schulabsolventen orien-
tieren sich, wie wir wissen, in ihrer Studien- und Berufs-
wahl vor allem an den Perspektiven; sie haben die Zah-
len Tausender arbeitsloser Physiker und Ingenieure noch
in Erinnerung.
Wir müssen die Zahl derer, die sich hoch qualifizie-
ren, erhöhen und brauchen dazu die entsprechenden
Signale. Die Bundesregierung hat deshalb mit den Län-
dern den Hochschulpakt geschlossen, damit die zusätzli-
chen Bewerber, die es aufgrund der demografischen Ent-
wicklung einige Zeit geben wird – bis 2009 ein Zuwachs
von 90 000 Studienanfängern –, aufgenommen werden
können. Dafür haben Bund und Länder jetzt die finanzi-
ellen Voraussetzungen geschaffen, übrigens – wenn ich
einen Schlenker zurück zu den neuen Ländern machen
darf – mit klaren finanziellen Vereinbarungen über den
Erhalt von Studienplätzen. Denn natürlich werden in den
neuen Ländern nicht zusätzliche Studienplätze geschaf-
fen. Aufgrund der demografischen Entwicklung gab es
schon Pläne für den Abbau von Studienplätzen. Das
kann mit den Möglichkeiten des Hochschulpaktes ge-
stoppt werden.
Der zweite Punkt wurde von mir schon angesprochen.
Ich sage mit Blick auf die Biografien der jungen Leute
und mit Blick auf die Volkswirtschaft sehr deutlich, dass
es keine akzeptable Situation ist, dass wir in den Tech-
nik- und Naturwissenschaften 50 Prozent Studienabbre-
cher haben, an den Fachhochschulen immerhin noch
25 Prozent. Wenn wir die Zahl der Abbrecher überall auf
das Niveau der Fachhochschulen senken könnten, hätten
wir letztlich die Zahlen erreicht, die nötig sind.
Der dritte Punkt. Die demografische Entwicklung in
Deutschland wird mittel- bis langfristig so sein, dass wir
auch Signale an junge Leute aus dem Ausland senden
müssen. Das heißt, die Bedingungen nicht nur für Stu-
dieren und wissenschaftliches Arbeiten, sondern auch
für das Arbeiten in Deutschland ganz generell müssen
verbessert werden. Dazu gehört die Frage der Gehalts-
grenze. 85 000 Euro im Jahr sind zu hoch; das sind keine
Gehälter, wie man sie beim Einstieg in das Berufsleben
gezahlt bekommt. Wir wissen aus Gesprächen auf inter-
nationaler Ebene, es brauchte als Anreiz Pakete für Stu-
dium und Berufseinstieg. Dazu muss diese Bedingung
geändert werden.
Wir müssen erreichen, dass es für junge Leute, die
etwa aus China oder Indien zum Informatikstudium nach
Deutschland kommen, einfach ist, zu studieren und dann
hier zu bleiben, sodass sie, wenn sie die Lebensphase des
Studiums in Deutschland verbringen, von vornherein die
Gewähr dafür haben, dass sie hinterher bleiben können.
Das sind in meinen Augen die drei wichtigsten Punkte,
die wir angehen müssen.
Die nächste Frage stellt der Kollege Volker Schneider.
Frau Ministerin, Sie haben angesprochen, dass einwesentliches Fundament der technologischen Leistungs-fähigkeit die Bildung und Ausbildung von Fachkräftenist. Ich denke, hier sind nicht nur Studium bzw. beruf-liche Ausbildung als Erstausbildung zu sehen – enorme
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Volker Schneider
Bedeutung kommt auch der beruflichen Weiterbildung,dem lebenslangen Lernen, zu.Wenn man sich die Ländervergleiche einmal an-schaut, stellt man fest, dass das bei uns schlecht aussieht:Hinsichtlich der Weiterbildungsbeteiligung liegen wirim letzten Drittel. Die Beteiligung älterer Arbeitnehmerfällt bei uns überdurchschnittlich ab. Das gilt auch fürdie Beteiligung der sogenannten bildungsfernen Schich-ten.Nun hat das Kabinett am 13. Juni Eckpunkte für dasBildungssparen verabschiedet. Ich möchte Sie fragen, obSie der Auffassung sind, dass das, was verabschiedetworden ist, allein ausreicht, um durch eine hochqualifi-zierte Weiterbildung die technologische Leistungsfähig-keit zu sichern. Ketzerisch könnte ich darüber hinausfragen, ob Sie mir einmal erläutern könnten, was mansich für 308 Euro an beruflicher Weiterbildung alles ein-kaufen kann.Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Ich bin selbstverständlich nicht der Meinung, dass dasdas einzige Instrument zur Erhöhung der Zahl derer, diean Weiterbildungen teilnehmen, sein kann. Aber das istein Einstieg, den die Koalition vereinbart hat.Daneben werden wir über das Vermögensbildungsge-setz die Zahlung einer Prämie ermöglichen. Die Höhedieser Prämie orientiert sich schlicht an den uns vorlie-genden statistischen Daten. Die Teilnehmerentgelte von75 Prozent aller Weiterbildungsmaßnahmen bewegensich in dem zu fördernden Bereich. Damit sind also nichtteure Aufbaustudien oder Ähnliches gemeint. In75 Prozent der Fälle ist also der Eigenanteil damit abge-deckt.Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es im Bereichdes Bildungssparens noch weitere Möglichkeiten gebenwird. Jetzt muss der Einstieg erreicht werden. Danachwerden weitere Schritte abzuwägen sein.Zum zweiten Punkt, der eine Rolle spielt. Bei derFrage, warum jemand nicht an einer Weiterbildung teil-nimmt, muss man bedenken, dass die Zeit immer eineRolle spielt. Man muss also über Lernzeitkonten nach-denken. Das ist im Wesentlichen aber Angelegenheit derSozialpartner. Auch diese Diskussion wird im Innova-tionskreis Weiterbildung des BMBF geführt.Dritter Punkt. Natürlich gab es auch in der Vergan-genheit zu viele Anreize für eine frühzeitige sogenannteFreisetzung anstelle von Angeboten der Qualifizierungzum Erhalt beruflicher Fähigkeiten. Auch hierzu hat esbeim IT-Gipfel der Bundeskanzlerin im Dezember letz-ten Jahres eine wichtige Vereinbarung gegeben. Inner-halb der Branche der Informations- und Kommunika-tionstechnologien wurde zwischen dem UnternehmenSAP, dem BITKOM – also dem entsprechenden Fach-verband – und uns ein umfangreiches Programm zurWeiterqualifizierung jetzt arbeitsloser Ingenieure mitdem Ziel des Wiedereinstiegs in den Beruf vereinbart;denn es gibt eine ganze Reihe von Ingenieuren im Altervon bis zu 45 Jahren, zu denen man nicht sagen kann– davon bin ich überzeugt –, dass es für sie keine Mög-lichkeit mehr gibt.Dies sind also die unterschiedlichen Baustellen. An-reize, Unterstützung, attraktive Angebote bis hin zurEntdeckung der Weiterbildung durch die Universitätenbilden in etwa das Spektrum, an dem wir arbeiten.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Ulrike Flach.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, wieimmer in solchen Fällen liegen Zahlen vor, die leidernicht dem aktuellsten Stand entsprechen. Sie stammenzum größten Teil auch aus Bereichen, für die Sie alsMinisterin nicht direkt verantwortlich waren.Anders als Sie es eben dargestellt haben, ist der Anteilder Spitzentechnologien am Export gemäß diesem Be-richt nicht so berauschend. Es werden nur 30 Prozent an-gegeben. Deswegen möchte ich von Ihnen gerne hören,ob es in Ihrem Verantwortungsbereich in den unmittelbarzurückliegenden Monaten bereits ein Anzeichen dafürgab, dass dies besser wird.Da wir Unternehmensgründungen in diesem Zusam-menhang immer fördern wollen, bitte ich Sie gleichzei-tig, uns Näheres über Ihre Überlegungen zur Förderungvon Wagniskapital und zu all den Punkten, über die wirmiteinander diskutieren, mitzuteilen.Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Es ist in der Tat so: Alle Tabellen in dem Bericht be-treffen den Zeitraum von 2003 bis 2005. Er enthält aller-dings auch Prognosen darüber – diese ergeben sich ausUmfragen bei Unternehmen –, wie sich bestimmteDinge weiterentwickeln werden. Deshalb habe ich ebenversucht, das ein wenig zu gewichten.Zu dem von Ihnen angesprochenen Punkt liegt eineZahl aus dem Jahre 2005 vor, wonach der Wert derexportierten forschungsintensiven Industriewaren428,3 Milliarden Euro betrug. Damit waren wir größterTechnologieexporteur und lagen noch vor den USA undvor Japan. In dieser Woche stand in irgendeiner Zeitungeine weiter fortgeschriebene Zahl. Danach liegen wirnach wie vor vor den USA und vor Japan.
– Aufsteigende Linie überall.Ich weiß jetzt nicht, ob für das Jahr 2006 bereits eineZahl vorliegt. Aber beispielsweise für die optischenTechnologien mit ihren Spitzenprodukten werden – dazuhat der Stifterverband gerade Zahlen vorgelegt – sowohlim Bereich der Beschäftigung als auch bei den FuE-In-vestitionen Entwicklungen prognostiziert, die die derletzten fünf Jahre bei weitem übertreffen.
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Bundesministerin Dr. Annette SchavanDie Aktualität von Zahlen ist aber in der Tat ein Pro-blem. Deshalb nehmen wir im Zusammenhang mit demBericht eine Umstellung vor, indem wir zumindest beiden Schlüsseltechnologien auf aktuelle Zahlen zurück-greifen.Es kann aber kein Zweifel daran bestehen: DieSchlussfolgerungen der Experten sind eindeutig, dass esauf der Grundlage der jetzt möglichen Investitionen sei-tens der öffentlichen Hand gegenüber den Vorjahren zueinem deutlichen Anstieg der Investitionen im FuE-Be-reich kommen wird. Ich gehe davon aus, dass sich dasauch positiv auf den Anteil der Investitionen im Bereichder Spitzentechnologien auswirken wird.Was das Wagniskapital angeht, stehen wir derzeit inVerhandlungen. Ich bin zuversichtlich, dass wir zu einerLösung kommen werden, die dem Ziel gerecht wird, jun-gen Unternehmen Zugang zu Wagniskapital zu verschaf-fen, und die – das ist ein weiterer wichtiger Punkt – dietatsächlichen Unternehmensentwicklungen über einenausreichend langen Zeitraum berücksichtigt.Die Häuser bewegen sich aufeinander zu. Das Eck-punktepapier des BMF war nicht zureichend. Es war ausder Perspektive des Wirtschafts- und des Forschungsmi-nisteriums nicht akzeptabel. Beide Häuser haben ein ge-meinsames Papier vorgelegt. Auf dieser Grundlage wer-den die Gespräche geführt. Ich gehe davon aus, dass siein absehbarer Zeit positiv beendet werden.
Bevor die Kollegin Hinz ihre Frage stellt, sei mir einHinweis gestattet. Wir haben den erfreulichen Umstandzu verzeichnen, dass viele Kolleginnen und Kollegen zudiesem Geschäftsbereich Fragen stellen wollen.
Ich möchte in den verbleibenden zehn Minuten alle Fra-gesteller aufrufen und bitte deshalb um kurze Fragen, diees der Frau Ministerin ermöglichen, entsprechend kurzzu antworten.
Das Wort hat die Kollegin Priska Hinz.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Ministerin, im zusammenfassenden Endberichtzur technologischen Leistungsfähigkeit wird darauf hin-gewiesen, dass wir in Deutschland einen grundlegendenWandel unserer Bildungsphilosophie – weg von derAuslese der Kinder im Schulsystem – brauchen und dassder Hochschulpakt unterfinanziert ist, was dazu führt,dass an den einzelnen Hochschulen der Numerus claususfast flächendeckend eingeführt wird.Ich frage Sie deshalb erstens, wie Sie der Auslese imBildungssystem entgegenwirken wollen, und zweitens– der Hochschulpakt ist erst letzte Woche unterschriebenworden –, ob Sie aufgrund dieses Berichtes in Nachver-handlungen über den Hochschulpakt einsteigen, um ihnso auszufinanzieren, dass die Zielzahl von 40 ProzentStudienanfängern, die sich die Koalition selbst gesetzthat, tatsächlich erreicht werden kann.Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Erstens bin ich davon überzeugt, dass der Hochschul-pakt hinsichtlich der Studienanfängerplätze ein attrak-tives Finanzierungsangebot an die Länder darstellt.Zweitens obliegt es der Verantwortung der Länder, dafürSorge zu tragen, dass ihre Universitäten – übrigens auchim Kontext des Bolognaprozesses – über die notwendi-gen finanziellen Spielräume verfügen. Einige Länder ge-hen vorbildlich voran. Die Bayerische Staatsregierunghat gerade beschlossen, den Universitäten 1 MilliardeEuro zusätzlich zur Verfügung zu stellen, um nicht nurden Studienanfängern, sondern auch den Erfordernissendes Bolognaprozesses gerecht zu werden. Gleiches kannich für Baden-Württemberg feststellen. In Nordrhein-Westfahlen gibt es ebenfalls konkrete Strategien.Wer sagt, das reicht im Hinblick darauf, was zuguns-ten der Hochschulen getan werden muss, nicht aus, derrichtet diese Kritik vor allen Dingen an die Adresse derLänder, die primär dafür verantwortlich sind, für leis-tungsfähige Hochschulen zu sorgen. Dies zeigen dieProgramme einiger Kabinette. Es gibt auch Länder, vondenen ich noch nichts höre; ich will sie jetzt nicht nen-nen.Ich füge hinzu: Im Wettbewerb der Hochschulen wirddies eine große Rolle spielen. Hochschulen, die in zehnJahren für Studierende nicht attraktiv sind, werden vonihnen auch nicht gewählt werden. Deshalb muss dieseine Priorität der Landespolitik sein.Der Bund wird, konkretisiert bis 2010 und festge-schrieben bis 2020, einen erheblichen Beitrag dazu bei-steuern. In einer Höhe wie nie zuvor stellt er den Hoch-schulen Geld zur Verfügung. Dabei geht es nicht nur umdie Finanzierung der Studienplätze; allein bis 2010 wer-den den Universitäten über 700 Millionen Euro fürOverheadkosten zur Verfügung gestellt. Dies bedeuteteine erhebliche Verbesserung.Ich komme nun auf Ihre Frage nach dem Bildungs-system zu sprechen. Für ein gerechtes und leistungsfähi-ges Bildungssystem gilt der Satz: kein Abschluss ohneAnschluss. Zwei Drittel aller Jugendlichen durchlaufeneinen Weg in der beruflichen Bildung. In Deutschlandgibt es mit den höchsten Anteil an Sekundarabschlüs-sen II. Dieser Weg verläuft in den 16 Ländern auf unter-schiedliche Weise: Manche Länder tendieren jetzt zuGemeinschaftsschulen, andere Länder bevorzugen einzweigliedriges System, bei dem die Regionalschule starkauf die berufliche Bildung vorbereitet. Von daher liegtauch hier die Primärverantwortung für eine strukturelleund konzeptionelle Weiterentwicklung ihrer Bildungs-systeme bei den Ländern, wenn es darum geht, das ge-meinsame Ziel zu erreichen.Eine weitere Quelle für Verbesserungen ist in derfrühkindlichen Bildung zu sehen. Wie Sie wissen, ist dieBundesregierung gerade in herausragender Weise tätig,
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Bundesministerin Dr. Annette Schavanum auch in diesem Bereich finanzielle Stabilisierung zuermöglichen.
Nun stellt der Kollege Jörg Tauss seine Frage. Ich bin
zuversichtlich, dass er zu diesem komplexen Zusam-
menhang präzise fragen kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, ich wollte eigentlich ein bisschen in
Euphorie verfallen und auf Deutschland als Technolo-
gieexportweltmeister und Exporteur Nummer eins hin-
weisen. Aber nach dem Hinweis der Präsidentin lasse
ich es bleiben. Gleichwohl freut man sich nach Jahren
der Miesmacherei auch darüber.
Meine Frage, Frau Ministerin, bezieht sich zum einen
auf die steuerliche FuE-Förderung. Welche Initiativen
gibt es hier? Mir fehlt es hier – ich habe dies in den letz-
ten Tagen in einem Gespräch im BMF bemerkt – ein bis-
schen an der Vergleichbarkeit. Mir geht es also um steu-
erliche FuE-Förderung versus Projektförderung bei uns,
was sich nur schwer vergleichen lässt. Zum anderen
frage ich Sie, nachdem Herr Schäuble dieser Tage hier
über die Frage qualifizierter Kräfte geredet und über Ge-
spräche mit Ihnen berichtet hat, was ich außerordentlich
begrüße, ob es in diesem Punkt in nächster Zeit zu Fort-
schritten kommt.
Sowohl die steuerliche Seite als auch die Fachkräfte-
seite sind in diesem Zusammenhang wichtig. Hier frage
ich Sie nach Ihren weiteren Überlegungen ausgehend
vom Technologiebericht. – Schneller ging es nicht, Frau
Präsidentin, was auch meine Redegeschwindigkeit ein-
bezieht.
Nach jahrelanger Erfahrung erkenne ich Ihr Bemühen
an. – Jetzt hat aber die Frau Ministerin das Wort.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:
Ich versuche ebenfalls, mich kurz zu fassen. Herr
Tauss, die Kollegen Schäuble und Glos und ich, wir sind
uns einig, dass wir in der Frage der Gehaltsgrenzen et-
was tun müssen; an diesem Thema müssen wir in der
Großen Koalition noch arbeiten, damit alle Betroffenen
es richtig erkennen. Es geht, um es noch einmal zu sa-
gen, um Hochqualifizierte sowie darum, dass wir im
Hinblick auf die Lebensplanung junger Leute nicht at-
traktiv sind, wenn wir ihnen sagen, sie dürften zwar bei
uns studieren, müssten hinterher aber sofort das Land
verlassen, es sei denn, sie fänden einen Job, in dem sie
85 000 Euro verdienten. In dieser Frage werbe ich bei
Ihnen wegen Ihrer Sprecherrolle in Ihrer Fraktion dafür,
zu erkennen, dass dies nicht realistisch ist. Eine junge
Ärztin oder ein junger Informatiker beginnt nicht mit
85 000 Euro. Deswegen haben wir hier noch einen wich-
tigen Schritt vor uns.
Zu der von Ihnen angesprochenen Vergleichbarkeit
von FuE-Förderung gibt es internationale Studien. Das
ist analog zur Vergleichbarkeit von Steuersystemen zu
sehen. Uns geht es darum – genau deshalb richten wir
den Blick auf andere Systeme –, den Instrumentenkasten
so zu erweitern, dass wir das erreichen, was wir
wollen, nämlich 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
für FuE-Aufwendungen bis 2010. Es sollte aber
niemand meinen, dass dann Schluss sei. Wenn wir das
3-Prozent-Ziel in Europa erreicht haben, müssen wir das
nächste Ziel setzen; denn in Indien, China und Japan
schläft man nicht. Dort ist man längst auf dem Weg zu
den nächsten Zielen.
Vor diesem Hintergrund werden nun Fachgespräche
geführt. Die entscheidende Frage ist, was in welchem
systemischen Zusammenhang wie wirkt. Wie die Mehr-
heit der OECD-Länder, in denen man erfolgreich ist,
zeigt, ist der richtige Mix aus Projektförderung – die
Mittel dafür erhöhen wir mit unserem gemeinsamen In-
vestitionsprogramm à jour – und Anreizsystemen wich-
tig, die unter der Überschrift „Steuerpolitik ist Innova-
tionspolitik“ stehen und die sich vor allen Dingen auf die
Gruppen beziehen, die mit ihren Entwicklungen nicht
unmittelbar von den Förderprogrammen partizipieren.
Der gesunde Menschenverstand gebietet es, festzustel-
len: Es ist noch keine ausreichende Innovationspolitik,
wenn eine Bundesregierung versucht, vorab alle mögli-
chen innovativen Entwicklungen bei den Förderpro-
grammen zu berücksichtigen. Wir denken weiter.
Wie weit ich mit Ihnen zufrieden bin, klären wir
nachher, Herr Kollege Tauss.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Krista Sager.
Frau Ministerin, im Abschlussbericht wird deutlichhervorgehoben, dass die Politik dem Mangel an akade-mischen Fachkräften unter anderem durch verbesserteMöglichkeiten für die Unternehmen entgegenwirkenmuss, ausländische Fachkräfte zu beschäftigen und Bil-dungsausländer, die in Deutschland einen Hochschulab-schluss machen, im Land zu halten. Meinen Sie nicht,dass es dafür notwendig ist, die gesetzlichen Rahmenbe-dingungen zu verändern und zum Beispiel die nach wievor hohen Einkommensgrenzen für Hochqualifizierte zusenken?Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Ja, der Meinung bin ich. Wir haben mit der Novellie-rung des Einwanderungsrechtes in der letzten Woche ei-nen ersten wichtigen Schritt getan. Hier gibt es konkreteVerbesserungen vor allen Dingen in den Bereichen Wis-senschaft und Forschung. Die Verhandlungen mit demBMI waren gut. Das wird sich positiv auswirken.Nun geht es um zwei weitere Punkte, die ich eben ge-nannt habe. Wir wollen unter anderem den Übergangvom Studium in den Beruf erleichtern. Dafür müssen dieGehaltsgrenzen – ich meine aus Ihrer Frage herausgehörtzu haben, dass Sie ebenfalls dieser Meinung sind – redu-ziert werden.
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Die nächste Frage stellt die Kollegin Pieper.
Frau Ministerin, die Gutachter haben im Bericht zur
technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2007
festgestellt, dass die Mehrzahl der OECD-Länder in den
letzten zehn Jahren ihr Förderspektrum durch eine steu-
erliche Förderung der FuE-Aufwendungen von Unter-
nehmen ergänzt hat. Dazu hat die Bundesregierung in ih-
rer Stellungnahme geäußert, dass sie die Möglichkeiten
der eigenständigen steuerlichen Förderung von FuE-
Ausgaben in Deutschland untersuchen wolle. Was ist da-
mit gemeint? Beabsichtigen Sie, die im Bundestag schon
beschlossene und nun im Bundesrat zur Abstimmung an-
stehende Unternehmensteuerreform noch zu stoppen und
zu ergänzen bzw. die Zinsschranke fallen zu lassen, weil
diese verhindert, dass insbesondere kleine und mittel-
ständische Unternehmen mehr Fremdkapital gewinnen
können, was eine geringere Forschungsintensität bei den
KMUs zur Folge hat?
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:
Die Bundesregierung hat für diese Legislaturperiode
die Entscheidungen getroffen, die Teil der Hightechstra-
tegie sind. Dazu gehören die Einführung der For-
schungsprämie für KMUs, der Spitzenclusterwettbewerb
und anderes. Nun wird – das ist mit dem Wort „unter-
suchen“ gemeint – auf der Grundlage eines internationa-
len Vergleichs darüber nachgedacht, welche Instrumente
nach Ablauf der Hightechstrategie in Betracht kommen.
Ich sage ausdrücklich: Die Instrumente dürfen nicht als
Ersatz für die Projektförderung fungieren; das wäre ab-
surd. Vielmehr müssen die Instrumente so ausgestaltet
werden, wie ich es eben dargelegt habe.
Was die Unternehmensteuerreform angeht, so sind
wir, wie ich eben bereits gesagt habe, im Zusammen-
hang mit dem Wagniskapital und dem Unternehmensbe-
teiligungsgesetz jetzt dabei, die im Bereich der jungen
Unternehmen entstandenen Probleme aufzuarbeiten. Ich
will aber auch hier hinzufügen – das ist übrigens auch
Teil des Berichtes –, dass die Unternehmensteuerreform
natürlich insgesamt eine Entlastung der Unternehmen in
Deutschland bedeutet. Alle Experten sagen uns, dass sie
sich auf FuE-Investitionen sehr positiv auswirken wird.
Anders sind solche Zahlen wie ein jährlicher Zuwachs
von 9 Prozent bei den optischen Technologien nicht
denkbar.
Als letzte Frage in diesem Bereich lasse ich die Frage
des Kollegen Weinberg aus der Unionsfraktion zu.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich will noch einmal
auf die 17 Innovationsfelder zurückkommen. Der Be-
richt hat ja ausdrücklich gelobt, dass die Hightechstrate-
gie der Bundesregierung diese 17 Innovationsfelder he-
rausgestellt hat. Meine Frage dazu ist: Können Sie nach
ungefähr zehn Monaten Laufzeit bereits feststellen, wel-
che Felder sich besonders positiv entwickelt haben, und
gibt es möglicherweise bei gewissen Innovationsfeldern
noch Bedarf, sie etwas stärker ins Rampenlicht zu
rücken?
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:
Die Bundesregierung wird nach einem Jahr, also im
September, den ersten Bericht vorlegen. Im Moment
lässt sich aus dem Stand sagen: In dem eben genannten
Bereich der optischen Technologien gibt es eine wirklich
große Entwicklung. Im Bereich der chemischen Indus-
trie gibt es sehr dynamische Entwicklungen, ebenso im
Bereich von IKT. Die großen Felder, die auch in der
Hightechstrategie besonders ausgestattet sind, stoßen
also auf große Resonanz und in immer mehr Teilberei-
chen auch auf das Angebot aus der Wirtschaft, mit uns
zu konkreten Vereinbarungen zu kommen.
Natürlich hat das Thema Klimaschutz in einer Reihe
von technologischen Bereichen noch einmal eine Dyna-
mik ausgelöst – Energieeffizienz, erneuerbare Ener-
gien –, wozu dann ja auch die Hightechstrategie für den
Klimaschutz vorgelegt wird.
Salopp gesprochen sage ich: Die Rechnung geht auf.
Diese Hightechstrategie ist ein sehr wirksames Signal an
die Branchen in Deutschland, in denen ein hohes Poten-
zial für Innovation steckt.
Herzlichen Dank, Frau Ministerin. – Es gab noch
mehr Fragen zu diesem Bereich, aber – es tut mir leid –
wir sind über die Zeit. Ich beende deshalb die Befragung
der Bundesregierung und rufe Tagesordnungspunkt 2
auf:
Fragestunde
– Drucksachen 16/5683, 16/5707 –
Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Ziff. 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringli-
chen Fragen auf Drucksache 16/5707 auf. Wir beginnen
mit der dringlichen Frage 1 der Kollegin Cornelia
Hirsch.
Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse der
diesjährigen Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks,
DSW, die belegen, dass soziale Herkunft und Vorbildung der
Eltern bei einem jungen Menschen nach wie vor maßgeblich
über die Aufnahme eines Studiums entscheiden, und welche
Konsequenzen zieht sie daraus?
Es antwortet der Parlamentarische Staatssekretär
Andreas Storm.
A
Frau Präsidentin! Ich beantworte die Frage der Kolle-gin Hirsch wie folgt:Die Ergebnisse der 18. Sozialerhebung des DeutschenStudentenwerkes zeigen, dass sich über den Zeitraumder letzten zwei Jahrzehnte die Bildungsbeteiligungender Kinder aus den unterschiedlichen Herkunftsmilieustendenziell angenähert haben. Die Chancen für Kinder
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10662 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Andreas Stormaus nicht akademischen Herkunftsfamilien konntenspürbar gesteigert werden. Dennoch bleibt die Verwirkli-chung der Chancengerechtigkeit eine vordringliche Auf-gabe der Bildungspolitik in Deutschland.Ziel der Bundesregierung ist es, die Studienanfänger-quote auf 40 Prozent anzuheben. Dazu muss vor allemdas große Potenzial von jungen Menschen, deren Fami-lien keinen akademischen Bildungshintergrund habenoder als bildungsfern gelten, verstärkt berücksichtigtwerden. Hier ist aktives Handeln von Bund und Länderngefragt, und mit dem Hochschulpakt und der angestreb-ten BAföG-Erhöhung stellt der Bund hier die richtigenWeichen. Der Hochschulpakt versetzt Länder und Hoch-schulen finanziell in die Lage, bis 2010 insgesamt91 370 zusätzliche Studienanfänger aufzunehmen. Einespürbare Erhöhung der Bedarfssätze und Freibeträgebeim BAföG wird dazu führen, dass mehr StudierendeAnspruch auf BAföG erhalten und somit studieren kön-nen.Aufgabe der Länder ist es, durch frühe Fördermög-lichkeiten im vorschulischen Bereich und insbesonderein den Schulen auf Chancengerechtigkeit in den Bil-dungsbiografien hinzuwirken.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke schön. – Herr Staatssekretär, meine Nachfrage
geht dahin, ob Ihnen bewusst ist, dass die Formulierung
des Deutschen Studentenwerks deutlich kritischer als
Ihre Einschätzung ist. Sie haben insbesondere darauf
hingewiesen, dass ein klarer Rückgang der Studieren-
denquote zu verzeichnen ist, die bei der letzten Erhe-
bung noch bei 39 Prozent lag, mittlerweile aber nur noch
bei 36 Prozent liegt. Sie haben als Zweites die Forderung
nach einer sozialen Öffnung der Hochschulen aufge-
stellt, wenn man wirklich die Studierendenquote steigern
will. Es muss der Schwerpunkt darauf gelegt werden,
dass den Gruppen, die bisher an den Hochschulen kaum
vertreten sind – das sind die Kinder aus den sogenannten
bildungsfernen Schichten –, der Weg an die Hochschu-
len geebnet wird. Ich habe Ihrer Antwort nicht entneh-
men können, ob Sie die Auffassung teilen, dass es wirk-
lich um eine soziale Öffnung geht. Das ist auch nicht in
Ihrer Pressemitteilung deutlich geworden, die gestern
vom BMBF verschickt wurde und in der die Frage der
sozialen Kriterien erst in den hinteren beiden Abschnit-
ten auftaucht. Deshalb meine Nachfrage, ob Sie die Auf-
fassung des Deutschen Studentenwerks in diesem Punkt
teilen, dass das die zentrale Aufgabe ist, oder ob Sie sich
in dieser Hinsicht anders positionieren.
A
Frau Abgeordnete Hirsch, ich teile Ihre Einschätzung
nicht. Ich habe gestern gemeinsam mit dem Präsidenten
des Deutschen Studentenwerks, Herrn Professor
Dobischat, eine Pressekonferenz veranstaltet. Bei dieser
etwa eine Stunde dauernden Pressekonferenz haben sehr
stark auch methodische Fragen eine Rolle gespielt. Da-
bei hat sich gezeigt, dass die Untersuchung zweierlei er-
gibt: Sie zeigt zum einen in der Tat eine Bestätigung des
von mir dargestellten Sachverhalts, dass sich die Schere
im Hinblick auf die Bildungschancen etwa von Arbeiter-
kindern im Vergleich zu Kindern aus Beamtenhaushalten
in den letzten beiden Jahrzehnten signifikant geschlos-
sen hat. Das Verhältnis von Arbeiterkindern zu Kindern
von Beamten, die eine Hochschule besuchten, lag im
Jahr 1985 bei 1 : 6. Mittlerweile liegt die Relation bei
1 : 3,6. Sie hat deutlich abgenommen. Zugleich ist mit
einem neuen Instrument, das erstmals in dieser Studie
angewendet worden ist, ein sogenannter Bildungstrichter
veröffentlicht worden, der deutlich macht, dass wir nach
wie vor signifikante Unterschiede bei den Bildungschan-
cen haben. Deshalb bleibt die Aufgabe, die Bil-
dungschancen gerade für Kinder aus sozial schwächeren
Familien zu erhöhen, eine wesentliche Aufgabe für die
Bildungspolitik.
Ich habe deshalb auch deutlich gemacht, dass wir vor
allen Dingen auf zwei Instrumente setzen: Zum einen
setzen wir mit dem Hochschulpakt auf die Bereitstellung
von Kapazitäten für zusätzliche Studienanfänger, zum
anderen auf gezielte Instrumente, die Jugendlichen und
Studienanfängern aus sozial schwächeren Familien ein
Studium ermöglichen. Dazu gehört neben einer allge-
meinen Anhebung der Bedarfssätze und der Einkom-
mensfreibeträge beim BAföG zum Beispiel auch die
Verbesserung von Studienbedingungen für Studierende,
die Kinder haben. Deshalb wollen wir bei der BAföG-
Novelle eine Kinderbetreuungskomponente einführen.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Ich möchte den Punkt BAföG aufgreifen. Sie haben
davon gesprochen, dass Sie eine spürbare Erhöhung der
Bedarfssätze und Freibeträge anstreben. Meine Nach-
frage ist: Wann und um wie viel Prozent strebt das
BMBF an, solch eine Erhöhung vorzunehmen?
A
Frau Abgeordnete Hirsch, das BMBF strebt in der Tat
eine spürbare Erhöhung sowohl der BAföG-Leistungs-
sätze als auch der Einkommensgrenzen an. Wir wollen
hierzu eine Verständigung im Zusammenhang mit der
Entscheidung über den Bundeshaushalt für das Jahr
2008 erreichen. Der Bundeshaushalt wird am ersten
Mittwoch im Juli im Bundeskabinett behandelt. Ich gehe
davon aus, dass wir bis dahin eine solche Verständigung
haben werden. Das bedeutet, dass wir dann, wenn dieses
in die BAföG-Novelle integriert wird, im Herbst dieses
Jahres die Gesetzgebung zur BAföG-Novelle und zur
Anpassung der Leistungssätze abschließen können.
Danke, Herr Staatssekretär. – Wir kommen zum Ge-schäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. ZurBeantwortung der Frage steht der ParlamentarischeStaatssekretär Alfred Hartenbach zur Verfügung.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007 10663
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauIch rufe die dringliche Frage 2 des Kollegen VolkerBeck auf:
Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, Dr. Thomasde Maizière, auf den sächsischen Ministerpräsidenten GeorgMilbradt eingewirkt habe, „er möge endlich Ruhe in die Rei-hen seiner aufgeregten Christdemokraten bringen“, und habendie Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel oder andere Kabi-nettsmitglieder Kenntnis von ähnlichen Initiativen?Bitte, Herr Staatssekretär.A
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Sehr geehrter Herr Kollege Beck, Sie beziehen
sich in Ihrer Frage auf Presseberichte. Die Bundesregie-
rung kommentiert Presseberichte grundsätzlich nicht;
das wissen Sie.
Im Übrigen würde es sich bei dem in der Presse er-
wähnten Telefonat – sollte es tatsächlich stattgefunden
haben – um ein Gespräch unter ehemaligen sächsischen
Kabinettskollegen über eine Sachsen betreffende Ange-
legenheit handeln. Deshalb kann die Bundesregierung
über ein als virtuell oder wie auch immer zu bezeichnen-
des Gespräch hier keine Auskunft geben.
Herr Beck, Sie haben das Wort zur Nachfrage.
Ich möchte das Bundesjustizministerium jetzt nicht
bitten, uns eine ausführliche Darstellung darüber zu ge-
ben, wie die Rechtsfigur „ehemaliges sächsisches Kabi-
nettsmitglied“ zu definieren ist.
Ich frage die Bundesregierung danach, ob zwischen
dem Chef des Bundeskanzleramtes, Bundesminister
Thomas de Maizière, und dem Ministerpräsidenten
Georg Milbradt ein Telefongespräch darüber stattgefun-
den hat, dass man Ruhe in die Reihen der aufgeregten
Christdemokraten Sachsens bringen soll, und ob es
stimmt, dass ein solcher Anruf Folgen hat, wie der
„Spiegel“ schreibt:
Teubner wurde vom CDU-Fraktionschef ermahnt,
er solle abschwören – de Maizière müsse aus der
Schusslinie gehalten werden. Doch der Geheim-
dienstkontrolleur war nicht umzupolen: Sein Vor-
wurf bleibt in der Welt.
Das wird da behauptet. Ich möchte wissen, ob der
oberste Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung
dahin gehend Druck ausübt, dass nicht bekannt wird, mit
welchem Amtsverständnis er in Sachsen eine ähnliche
Funktion bekleidet hat. Das ist für den Deutschen Bun-
destag von Relevanz. Wir wollen wissen, ob wir darauf
vertrauen können, dass der jetzige Geheimdienstkoordi-
nator seinen gesetzlichen Pflichten gegenüber dem Par-
lamentarischen Kontrollgremium nachkommt.
Die Frage wurde formuliert, und die Intention wurde
erläutert. Herr Staatssekretär, bitte.
A
Meine Antwort wird nicht ganz so lang sein wie das
Statement von Herrn Beck.
Verehrter Herr Kollege Beck, ich gehe davon aus,
dass Sie ein solches Gespräch, das angeblich stattgefun-
den hat, nicht persönlich mitgehört haben.
Da ich auch davon überzeugt bin, dass der Redakteur
dieses Magazins, dieses Nachrichtenblattes oder wie
man dieses sehr wichtige Organ auch immer bezeichnen
will,
ebenfalls nicht persönlich mitgehört hat, darf ich Sie nur
darauf verweisen, dass Sie sich hier in unglaublichen
Vermutungen ergehen, die Sie mit gar nichts belegen
können. Deswegen erwarten Sie von mir bitte nicht, dass
ich mich zu Ihren Vermutungen, die Sie mit gar nichts
belegen können, auch nur im Entferntesten äußere.
Ich gehe davon aus, dass der Kollege Beck eine
zweite Frage stellt. – Das ist der Fall.
Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass ein sol-
ches Gespräch mit dem Ziel des Ausübens von Druck
auf Parlamentarier und auf Mitglieder der sächsischen
Landesregierung, die Kritik an Herrn de Maizière einzu-
stellen, nicht zu dem Aufgabenbereich des Chefs des
Bundeskanzleramtes gehört und dass es zu kritisieren
wäre, wenn es so stattgefunden hätte, wie es im „Spie-
gel“ steht?
A
Verehrter Kollege Beck, dies ist keine Quadratwurzel,wie sie der polnische Ministerpräsident anwendenwollte, sondern Hypothese hoch vier.
Wenn ich den ersten Teil Ihrer Frage richtig verstan-den habe, müsste diesen ersten Teil Ihrer Frage der säch-sische Ministerpräsident beantworten.
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10664 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach– Der Herr Tauss kann dabei behilflich sein. Der weiß,wie man das macht.
Was den zweiten Teil Ihrer Frage angeht, so kann ichdarauf keine Antwort geben, weil er so hypothetisch ist.Zumindest ich als Vertreter der Bundesregierung darfvon einer ordnungsgemäßen Amtsführung des Kanzler-amtsministers Dr. Thomas de Maizière ausgehen.
Weitere Nachfragen gibt es dazu nicht. – Danke, Herr
Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes. Zur Beantwortung steht der Staatsminister
Gernot Erler zur Verfügung.
Ich rufe die dringliche Frage 3 des Kollegen
Wolfgang Gehrcke auf:
Ist die Bundesregierung bereit, vor dem Hintergrund, dass
am 18. Juni bei einem US-Luftangriff auf ein „mutmaßliches
Paktika, sieben Kinder getötet wurden, ihre Haltung zur wei-
teren Unterstützung der Operation Enduring Freedom zu ver-
ändern?
Herr Kollege Gehrcke, meine Antwort lautet: Die
Bundesregierung sieht keinen Grund, ihre Haltung zur
Operation Enduring Freedom zu verändern. Die Bundes-
regierung bedauert sehr, dass es bei Einsätzen in Afgha-
nistan zu zivilen Opfern kommt. Die Bundesregierung
setzt sich innerhalb der NATO sowie in Gesprächen mit
ihren Partnern dafür ein, dass alles getan wird, um zivile
Opfer so weit als möglich zu vermeiden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage, Kollege
Gehrcke.
Herr Staatsminister, das Bedauern ist aufrichtig, aber
beim Bedauern kann es nicht bleiben. Deswegen möchte
ich präzise nachfragen: Ist der Bundesregierung bekannt,
welche Aufklärungsergebnisse den USA, die diesen
Bombenangriff für die Operation Enduring Freedom ge-
flogen haben, vorlagen, wie sie das Ziel bestimmt ha-
ben?
Herr Kollege Gehrcke, über die Art und Weise, wie
die Aufklärung durch die amerikanische Seite stattge-
funden hat, liegen der Bundesregierung keine belastba-
ren Erkenntnisse vor. Aber wir haben in diesem Zusam-
menhang natürlich, genau wie Sie, Pressemeldungen zur
Kenntnis genommen, die unter anderem darauf hinaus-
laufen, dass die amerikanische Seite die fragliche Schule
einen ganzen Tag lang beobachtet hat und dabei, bevor
es zu diesem Angriff kam, weder Zivilisten allgemein
noch Kinder gesehen hat. Nachher tauchten Berichte auf,
dass offensichtlich Zivilisten einschließlich Kindern in
dieser Schule festgehalten wurden – ein sehr signifikan-
ter Vorgang einer Instrumentalisierung von Zivilisten
einschließlich Kindern als lebende Schutzschilde, was
die Bundesregierung auf das Schärfste verurteilt.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Herr Staatsminister, ich bin immer davon ausgegan-
gen, dass die Bundesregierung mehr weiß als das, was in
der Presse steht. Wenn das nicht der Fall ist, habe ich
mich eben getäuscht. Das spricht aber nicht unbedingt
für die Bundesregierung.
Ich will dann zum direkten Handeln der Bundesregie-
rung nachfragen. Es ist bekannt, dass an diesem Tag
deutsche Tornados genau in dieser Region Aufklärungs-
flüge durchgeführt haben. Kann die Bundesregierung
verbindlich ausschließen, dass Luftaufnahmen der deut-
schen Tornados eine der Grundlagen für diesen Angriff
gewesen sind?
Herr Kollege Gehrcke, das ist Gegenstand einer wei-
teren dringlichen Frage. Ich würde jetzt ungern die Ant-
wort meines Fachkollegen auf diese Frage vorwegneh-
men. Die Antwort wird gleich erfolgen.
Wenn Sie die dringliche Frage des Kollegen Ströbele
meinen sollten: Die Antwort wird leider nicht gleich er-
folgen, weil die Frage schriftlich beantwortet wird.
Entschuldigung. Ich habe übersehen, dass diese
dringliche Frage schriftlich beantwortet werden soll.
Herr Kollege Gehrcke, dann bin ich natürlich frei, Ihnen
zu antworten.
An dem fraglichen Tag, dem 17. Juni, hat im Kom-
mandobereich East, wozu Paktika und damit auch der
Ort dieser Schule gehören, kein einziger Aufklärungs-
flug der Recce-Tornados stattgefunden. Auch an den
beiden Tagen vorher ist dieses Gebiet nicht aufgeklärt
worden, sodass ein Zusammenhang nicht herzustellen
ist.
Danke, Herr Staatsminister.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe-riums der Verteidigung auf. Die dringliche Frage 4 desKollegen Hans-Christian Ströbele soll schriftlich beant-wortet werden.Deshalb kommen wir nun zum Geschäftsbereich desBundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beant-wortung steht der Parlamentarische Staatssekretär GerdAndres zur Verfügung.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007 10665
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauIch rufe die dringliche Frage 5 des Kollegen WernerDreibus auf:Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass weder mitder im Koalitionsausschuss vereinbarten Ausweitung des Ar-beitnehmer-Entsendegesetzes noch mit der geplanten Rege-lung für tariffreie Branchen – Ausschuss für Mindestlohn –das Problem tariflicher Niedriglöhne zu lösen ist?Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich dem Kolle-gen nochmals zu seinem heutigen 60. Geburtstag.
G
Herr Kollege Dreibus, herzlichen Glückwunsch. –
Für die Bundesregierung beantworte ich Ihre Frage wie
folgt: Die Bundesregierung sieht in dem vom Koalitions-
ausschuss vorgeschlagenen Maßnahmenpaket ein wirk-
sames Instrument zur Ordnung des Niedriglohnbereichs.
Sie haben die Möglichkeit zur ersten Nachfrage. –
Bitte.
Herr Staatssekretär, wie soll ich im Zusammenhang
mit den jetzt von Ihnen für die Bundesregierung getrof-
fenen Aussagen die von Ihrem Kollegen und verantwort-
lichen Minister gestern öffentlich getätigten Aussagen
interpretieren, die sich ja nun ganz anders anhörten?
G
Auf den Zwischenruf, für welchen Teil ich spreche,
entgegne ich: Ich habe hier eben für die Bundesregie-
rung geantwortet. Das tue ich übrigens während der ge-
samten Fragestunde.
Ihnen, Herr Dreibus, möchte ich sagen: Das Maßnah-
menpaket, das verabredet worden ist, konzentriert sich
zunächst auf die Bereiche, bei denen von den beiden Ko-
alitionspartnern besonderer Handlungsbedarf gesehen
wurde. Dabei handelt es sich zum einen um Branchen, in
denen es keine Tarifverträge gibt oder bestehende Tarif-
verträge nur eine Minderheit von Arbeitgebern oder Ar-
beitnehmern erfassen. Zum anderen erhalten alle Bran-
chen mit einem Mindestmaß an Tarifbindung das
Angebot, ihre Aufnahme in das Arbeitnehmer-Entsende-
gesetz zu beantragen. Damit können sie zukünftig auf
dieses Instrument zurückgreifen.
Dieses Maßnahmenpaket berücksichtigt in besonde-
rem Maße den von den Tarifvertragsparteien in den be-
treffenden Branchen gesetzten Handlungsrahmen. Die
Bundesregierung und die Koalition haben also besonde-
ren Wert darauf gelegt, zunächst das, was im Rahmen
der Tarifautonomie entwickelt werden kann, zum Zuge
kommen zu lassen. Im zweiten Teil wurden Regelungen
für Bereiche getroffen – das steht ja in der Vereinbarung
auch drin –, die sozusagen weiße Flecken aufweisen
bzw. in denen es keine Entfaltung der Tarifautonomie
gibt.
Ihre zweite Nachfrage.
Da ja nun öffentlich bekannt geworden ist, dass ich
nicht zu den Jüngsten in diesem Hause gehöre, darf ich
Sie vielleicht in dem Zusammenhang mit der Frage kon-
frontieren, wie lange denn die Beschäftigten in den
Branchen, in denen es keine tariflichen Regelungen gibt
oder in denen es aufgrund tariflicher Regelungen bei-
spielsweise Löhne unter 4 Euro gibt, noch warten müs-
sen, bis durch eine Initiative dieser Bundesregierung ihre
Situation wirkungsvoll verbessert wird, also indem ihre
Armutslöhne per gesetzlicher Regelung auf ein vertret-
bares Mindestmaß angehoben werden.
G
Herr Kollege Dreibus, ich bin davon überzeugt, dass
wir das in der Regierungskoalition verabredete Paket so
schnell wie möglich umsetzen werden. Für die Öffnung
des Entsendegesetzes steht ja ein Datum in der Verabre-
dung. Ich will Sie nur darauf hinweisen: Gegenwärtig er-
streckt sich das Entsendegesetz nur auf die Bereiche Bau
und Gebäudereinigung. Künftig erstreckt sich das Ent-
sendegesetz, wenn die Tarifvertragsparteien es wollen,
auf viele weitere Branchen. Das Instrument des aus dem
Jahr 1952 stammenden Gesetzes, des Mindestarbeitsbe-
dingungsgesetzes, stand für diesen Zusammenhang der-
zeit faktisch überhaupt nicht zur Verfügung.
Ich möchte einmal darauf hinweisen, dass es, wie ich
finde, eine Reihe sehr guter Regelungen gibt, die dazu
führen, dass für Sektoren, für die es bisher überhaupt
keine Regelungen gab, Regelungen verabredet werden
können. Ich fasse das einmal in einer Position zusammen
– wir kennen uns ja schon lange Zeit aus anderen Zusam-
menhängen –, die für Gewerkschaftler ziemlich wichtig
ist: Mit dem Entsendegesetz erreichen wir die Bereiche,
in denen die Tarifbindung mindestens 50 Prozent beträgt.
Mit dem zweiten Gesetz können wir nunmehr in Be-
reichen tätig werden, bei denen es bis jetzt keine Grund-
lage dafür gab. Deswegen halte ich das für die Bundesre-
gierung durchaus für ein bemerkenswertes Ergebnis.
Selbstverständlich kann nicht verschwiegen werden
– das ist ja öffentlich –, dass die Koalitionspartner dieser
Regierungskoalition naturgemäß unterschiedliche Vor-
stellungen haben, die sie, wie mein Minister öffentlich
erklärt hat, auch weiter verfolgen werden.
Ich rufe die dringliche Frage 6 der Kollegin UllaLötzer auf:
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10666 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauTeilt die Bundesregierung die Auffassung, dass nur in we-nigen Branchen mit bundesweit gültigen Tarifverträgen einewichtige Voraussetzung für die vom Koalitionsausschuss vor-geschlagene Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegeset-zes gegeben ist?Bitte, Herr Staatssekretär.G
Frau Kollegin Lötzer, nach dem Vorschlag des Koali-
tionsausschusses wird allen Branchen mit einem be-
stimmten Mindestmaß an Tarifbindung bis zum Stichtag
31. März 2008 ein Angebot zur Aufnahme in das Arbeit-
nehmer-Entsendegesetz unterbreitet. Voraussetzung für
die Aufnahme ist ein gemeinsamer Antrag von Tarifver-
tragsparteien der betroffenen Branche. Um wie viele und
welche Branchen es sich dabei handeln wird, ist erst
nach Ablauf der Frist ersichtlich. Ich kann Ihnen aber
versichern – auch das ist öffentlich –, dass in den letzten
Wochen und Monaten eine Reihe von Branchen im Bun-
desarbeitsministerium vorstellig geworden sind und die
Aufnahme ins Entsendegesetz wollten.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Trotz Ihrer Antwort
habe ich konkrete Nachfragen. Erstens. Ist damit die Vo-
raussetzung eines bundesweiten Tarifvertrages – das
würde ja restriktiv wirken – hinfällig, weil sie durch
diese 50-Prozent-Klausel ersetzt wird?
Zweitens wüsste ich gern Folgendes von Ihnen: Bei
50 Prozent Tarifgebundenheit kann man in der Regel
nicht von einem Mindestmaß an Tarifbindung sprechen;
vielmehr ist dies schon ein relativ hohes Maß an Tarif-
bindung. Sind Sie nicht mit mir der Auffassung, dass in
diesen Branchen – das wüsste ich gern konkreter von Ih-
nen – in der Regel auch die Kraft der Gewerkschaften
ausreicht, Tariflöhne oberhalb eines Armutslohns durch-
zusetzen, dies also zumindest zur Lösung des Problems
nationaler Armutslöhne nichts beiträgt?
G
Frau Abgeordnete, das Vorhandensein von bundes-
weiten Tarifstrukturen ist für die Aufnahme einer Bran-
che in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz nicht erforder-
lich. Stattdessen ist formuliert, dass man 50 Prozent der
in der Branche betroffenen Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer erreichen muss. Das kann schon der Fall
sein, wenn ein Arbeitgeber diese 50 Prozent beschäftigt;
wird ein entsprechender Antrag gestellt, so ist nach un-
serer Auffassung die Voraussetzung erfüllt. Dann setzt
sich die Mechanik in Bewegung, deren weitere Etappen
in den Koalitionsbeschluss aufgenommen sind.
Ich will noch einmal ganz ausdrücklich sagen, was
dies bedeutet: Angesichts dessen, dass das Entsendege-
setz gegenwärtig ausschließlich für die Baubranche und
für die Branche der Gebäudereiniger gilt, halte ich dies
für einen außerordentlichen Fortschritt, und ich wäre
verrückt, wenn ich sagte, ich schlösse die Möglichkeit
aus, andere Branchen aufzunehmen, nur weil ich persön-
lich oder wir als Partei eine weitergehende Forderung als
Zielsetzung haben.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage weise ich noch einmal
auf Folgendes hin: Man soll das Instrument des Gesetzes
von 1952, das wir überarbeiten, nicht unterschätzen.
Meines Erachtens bietet es eine ganze Menge Möglich-
keiten, auf alle Fälle solche, die es bisher gar nicht gab.
Dann lassen Sie mich noch einmal gerade zu der Vo-
raussetzung einer 50-prozentigen Tarifbindung nachfra-
gen. Ihnen ist das Problem der Verbandsflucht von Ar-
beitgebern durchaus auch bekannt. Meinen Sie nicht,
dass sich viele Arbeitgeber, die die Absicht der Umge-
hung haben, sich nicht geradezu eingeladen fühlen, Ver-
bandsflucht zu begehen, um sich einer solchen Wirkung
des Entsendegesetzes zu entziehen?
G
Das Problem der Verbandsflucht haben wir gegen-
wärtig schon. Immer mehr Arbeitgeber verlassen die
Verbände.
– Darf ich noch einmal auf den Zusammenhang hinwei-
sen?
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär. Wir
sind in der Fragestunde und nicht in der Debatte.
G
Ich teile auch Ihre Meinung nicht, dass wir die Arbeit-geber dazu einladen. Es geht um die Tarifbindung in dergesamten Branche: Die Voraussetzung ist erfüllt, wennmindestens 50 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer einer Branche – das kann bei nur einem Ar-beitgeber, aber natürlich auch bei mehreren sein – tarif-gebunden beschäftigt sind. Ich nenne ein Beispiel: Einebesonders wichtige Branche, die boomt, ist die Brancheder Zeitarbeit. Da gibt es zwei Verbände, die einen iden-tischen Tarifabschluss für die Zeitarbeit getätigt habenund die sich beide dringend für die Aufnahme ins Ent-sendegesetz ausgesprochen haben. Angesichts dessenund angesichts der zusätzlichen Bedingungen gehe ichdavon aus, dass die Möglichkeit, diese Verbände ins Ent-sendegesetz aufzunehmen, aufgrund der getroffenenVereinbarungen gegeben ist.Wenn jetzt das eintritt, was Sie befürchten, dass näm-lich die Arbeitgeber reihenweise die Verbände verlassen,gibt es die Möglichkeit Nummer zwei, die es bishernicht gab. Ich bitte, zur Kenntnis zu nehmen, dass wirnun sowohl das Instrument des Arbeitnehmer-Entsende-gesetzes als auch das Gesetz über die Mindestarbeitsbe-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007 10667
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Gerd Andresdingungen von 1952 haben. Ich spitze das einmal zu:Das eine Gesetz gilt für die Branchen, die zu über50 Prozent organisiert sind, und das andere Gesetz giltfür den Rest. Das wäre wenigstens meine Interpretation.Man muss sich das anschauen, und das werden wir imGesetzesverfahren machen. Ich glaube, dass es mit die-ser Regelung einen deutlichen Fortschritt gibt.
Ich rufe die dringliche Frage 7 der Kollegin Kornelia
Möller auf:
Welche Position bezieht die Bundesregierung zur Auffas-
sung, dass die Realisierung des Vorschlags des Koalitionsaus-
schusses – ein Ausschuss für Mindestlohn solle für Branchen
ohne tarifvertragliche Bindung beim Bundesminister für Ar-
beit und Soziales einen Mindestlohnantrag stellen – von
wechselnden politischen Mehrheiten abhängig macht und da-
mit zu keinem zuverlässigen Modus für die Einführung von
Branchenmindestlöhnen führen kann?
Ich gratuliere der Kollegin zu ihrem Geburtstag.
G
Frau Möller, auch ich gratuliere Ihnen herzlich zum
Geburtstag.
Ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die Bundes-
regierung teilt diese Auffassung nicht. Gerade die vorge-
sehenen Ausschüsse und ihre Besetzung zielen auf von
politischen Mehrheiten unabhängigen Sachverstand.
Sie haben die Möglichkeit zur ersten Nachfrage.
Danke. – Herr Staatssekretär, wie stehen Sie zu der
Aussage, dass dieser Ausschuss für Mindestlohn ent-
sprechend dem englischen Vorbild als ein Mindestlohn-
rat gestaltet werden könnte, der dann für alle Bereiche
zuständig wäre?
G
Nach der Regelung, die in der Koalitionsvereinbarung
getroffen ist, konstituieren wir zunächst einmal einen
Hauptausschuss. Dieser Hauptausschuss wird so besetzt,
wie es dort niedergelegt ist. Er hat zu prüfen, ob der
Mindestlohnantrag gestellt wird oder nicht. Der Fach-
ausschuss, der dann gebildet wird, ist für die Lohnfin-
dung in dem Bereich zuständig. Bei der Besetzung sol-
len die betroffenen Branchen berücksichtigt werden.
Folgende Konstruktion ist vorgesehen: Ein Hauptaus-
schuss wird in einer bestimmten Art und Weise gebildet.
Er ist ein ständiger Ausschuss, der prüft, ob ein Mindest-
lohnantrag gestellt wird oder nicht. Daneben werden die
Fachausschüsse gebildet. Diese legen für die Branche,
wenn die Notwendigkeit besteht, die Höhe des Lohnes
fest.
Nun möchte ich nicht fantasieren, was daraus zu-
künftig werden kann. Ich habe die Arbeit der Low Pay
Commission in Großbritannien immer mit großer Sym-
pathie verfolgt. Ob es so etwas wird, weiß ich nicht. Jetzt
wird das, was in der Koalitionsvereinbarung festgehalten
ist, umgesetzt.
Ich danke Ihnen und habe noch eine zweite Nach-
frage: Wer wird in diesem Ausschuss für Mindestlohn
einen Antrag stellen, wenn es keine einheitlichen Ver-
bandsstrukturen für die betroffene Branche gibt? Wer ist
dann Antragssteller oder Vertreter im Ausschuss?
G
Darüber wird man noch reden müssen. Ich verstehe es
so: Der Hauptausschuss wird als ständiger Ausschuss
eingerichtet, wenn man das zugrunde legt, was in der
Vereinbarung formuliert ist. Ich will sie gerne noch ein-
mal zitieren:
Ziffer 1. Es gibt zunehmend Wirtschaftszweige
oder einzelne Regionen, in denen es entweder keine
Tarifverträge gibt oder eine Tarifbindung nur für
eine Minderheit der Arbeitnehmer oder der Arbeit-
geber besteht . Um in diesen Be-
reichen Mindestlöhne zu setzen, wird das Gesetz
über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingun-
gen aus dem Jahr 1952 gangbar gemacht und auf
den aktuellen Stand gebracht.
Ziffer 2. Das Vorhandensein eines derartigen tarif-
losen Zustandes reicht als Anwendungsvorausset-
zung.
Wenn die Kommission also als Tatbestand feststellt,
dass es diesen tariflosen Zustand gibt, dann würde eine
entsprechende Festlegung stattfinden, und dann muss
sich damit der Fachausschuss im Einzelnen beschäfti-
gen. Ich finde, man kann daraus ordentlich etwas ma-
chen, wenn man das will.
Es gibt eine weitere Nachfrage, diesmal vom Kolle-
gen Grund.
Herr Staatssekretär, man kann zwar „ordentlich etwas
daraus machen.“ Letztendlich handelt es sich, wenn man
das Mindestarbeitsbedingungengesetz von 1952 moder-
nisiert und der entsprechende Ausschuss, den die Koali-
tion verabredet hat, eingerichtet wird, aber um eine staat-
lich festgesetzte Lohnfindung. Sehen Sie dabei nicht die
Gefahr des Eingriffes in die Tarifautonomie, die auch
vom Grundgesetz her ein schützenswertes Gut ist?
G
Nein, das sehe ich nicht. Deswegen hat ja der Koali-tionsausschuss über die Aktivierung dieses Gesetzes indem Zusammenhang nachgedacht, wie er hier dargelegtist.
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10668 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007
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P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Koalition sagt:
Für uns hat die Tarifautonomie absoluten Vorrang. Dort,
wo die Tarifvertragsparteien eine Regelung getroffen ha-
ben, ist das in Ordnung. Deswegen haben wir ja beim
Entsendegesetz die erwähnte 50-Prozent-Klausel und
Weiteres vorgesehen. Nun stellen wir aber fest, dass in
bestimmten Bereichen, Regionen und Branchen die Ta-
rifautonomie gar nicht mehr wirkt. Sie ist nämlich gar
nicht mehr vorhanden. Wenn das so ist, dann würde eine
staatliche Lohnsetzung greifen; da haben Sie recht. Das
ist dann aber keine Bedrohung der Tarifautonomie, son-
dern ersetzt die nicht mehr vorhandene Tarifautonomie.
Ich rufe die dringliche Frage 8 der Kollegin Sabine
Zimmermann auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass der Koali-
tionsausschuss mit dem Vorschlag, die Ausweitung des Ar-
beitnehmer-Entsendegesetzes von einer tarifvertraglichen De-
ckung der jeweiligen Branche von mindestens 50 Prozent
abhängig zu machen, die Ausweitung des Arbeitnehmer-Ent-
sendegesetzes auf weitere Branchen erschweren wird?
G
Frau Kollegin Zimmermann, Sie fragen nach der ta-
rifvertraglichen Deckung von 50 Prozent. Das habe ich
mehrfach erläutert. Auf Ihre Frage antworte ich jetzt
schlicht: Nein, wir teilen diese Auffassung nicht.
Ihre erste Nachfrage bitte.
Danke, Herr Staatssekretär. Ihre Antwort war ja sehr
kurz und knapp.
Ich habe heute einmal im WSI angerufen und mich
dort mit der zuständigen Kollegin unterhalten. Das WSI
bezieht sich ja immer auf die Stichprobenerhebung des
IAB. Es wurde eindeutig gesagt: Es gibt keine Statisti-
ken für einzelne Branchen. Es gibt zwar zum Beispiel in
Ostdeutschland eine Tarifbindung von 41 Prozent und in
Westdeutschland eine Tarifbindung von soundso viel
Prozent. Aber für einzelne Branchen gibt es keine Statis-
tik.
Jetzt frage ich Sie: Wie wollen Sie zum einen prak-
tisch ermitteln, wie viele Branchen eine 50-prozentige
Tarifbindung haben? Zum anderen: Welche Branchen
würden aus Ihrer Sicht infrage kommen?
G
Die Bestimmung, dass eine Tarifbindung von mindes-
tens 50 Prozent erreicht werden sollte, gibt es ja schon
heute in bestimmten Bereichen – wirksam im Tarifver-
tragsgesetz und in Allgemeinverbindlichkeitserklärun-
gen –, ohne dass das jemand im Einzelnen nachgezählt
hat. Wenn es Spitz auf Knopf steht, muss man es ermit-
teln; das ist doch völlig logisch.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: In der Zeitarbeitsbran-
che gibt es drei große Arbeitgeberverbände.
Zwei haben einen identischen Tarifvertrag. Man kann ja
einfach die Beschäftigtenzahlen dieser Unternehmen ad-
dieren. Ich weiß, dass die Branche gegenwärtig – das ist
jetzt Pi mal Daumen – zwischen 500 000 und
600 000 Beschäftigte hat. Dann kann ich feststellen:
Reicht das, oder reicht das nicht?
Ich nenne Ihnen einen anderen, sehr spannenden Be-
reich. Denken Sie einmal über die Postdienstleistungen
nach.
Da gibt es ein ganz großes Unternehmen. Natürlich kann
man sagen, dass das statistisch nicht stimmt; das mag ja
auch sein. In der Praxis wird sich das relativ schnell he-
rausstellen.
Ich habe in der Antwort auf eine andere Frage vorhin
schon gesagt, dass ich nicht darüber spekulieren möchte,
welche Branchen aufgenommen werden. Ich kann Ihnen
aber folgende nennen: private Entsorger, Postdienstleis-
tungen, Zeitarbeit; es gibt noch einige andere. Einige
Branchen haben sogar Tarifvertragsklauseln oder Ab-
sichtserklärungen formuliert, in denen steht: Wenn das
Entsendegesetz geöffnet wird, werden wir einen Min-
destlohn festlegen und beantragen. – Lassen Sie uns mit
dem Geschäft einfach anfangen; dann werden wir sehen,
was dabei herauskommt.
Ihre zweite Nachfrage.
Ich denke, Pi mal Daumen reicht nicht. Ich will fest-
halten, dass es dort Niedriglohnbereiche gibt, wo die Ge-
werkschaften sehr schwach sind. Das ist Fakt.
In einer Presseerklärung haben Sie gesagt, dass der
Einzelhandel aufgenommen werden soll. Es gibt aber
gar keinen bundesweiten Tarifvertrag für den Einzelhan-
del. In Sachsen zum Beispiel ist er an den Berliner Tarif-
vertrag gekoppelt. Dort wird ein ortsüblicher Lohn in
Höhe von 5 Euro gezahlt. Angesichts dessen frage ich
Sie: Wie wollen Sie das praktisch umsetzen? Ihre Rege-
lung ist im Einzelhandel, wo insbesondere die Frauen
betroffen sind, gar nicht umsetzbar.
G
In einer anderen Antwort habe ich schon gesagt, dassein bundesweit gültiger Tarifabschluss gar nicht Voraus-setzung ist. Als Voraussetzung ist vielmehr formuliert:50 Prozent der Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmereiner Branche müssen bei Arbeitsgebern beschäftigtsein, die tarifgebunden sind.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007 10669
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(D)
Parl. Staatssekretär Gerd AndresIch greife das Beispiel Einzelhandel auf. Im Zusam-menhang mit anderen Entwicklungen – Arbeitszeit oderÄhnliches – beklagen wir die ungeheure Monopolisie-rung in diesem Sektor. Ich bemühe einmal die Fantasie:Stellen wir uns vor, es gäbe ein, zwei, drei oder viergroße Unternehmen, die ein Interesse an ordentlichenVerhältnissen in ihrer Branche hätten und einen solchenAntrag stellen würden.
– Es gibt ja auch noch andere. Wir wollen hier jetzt keineSchleichwerbung machen. Sonst müssen wir noch alleaufzählen. Ich versuche nur, Ihre Frage kreativ zu beant-worten.Das ist die eine Sache. Die andere Sache betrifft daszweite von mir genannte Gesetz: Es kann nur dort wirk-sam werden, wo es keine Tarifverträge bzw. „weißeFlecken“ gibt. Ich würde schon sagen, dass manche Ge-werkschaft überlegen sollte – ich drehe das jetzt einmalum –, ob sie aufgrund ihrer Schwäche jeden Tarifvertragunterschreibt und billigt oder nicht doch lieber sagt, dasssie sich dazu nicht mehr hergibt, was dann entspre-chende Folgen hätte.
Danke, Herr Staatssekretär. Wir sind damit am Ende
dieses Geschäftsbereichs.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Technologie.
Ich rufe die dringliche Frage 9 der Kollegin Sabine
Zimmermann auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass – bleibt es
bei der Nichteinigung des Koalitionsausschusses bezüglich
der Verlängerung des sogenannten Briefmonopols – ab 2008
mit der vollständigen Öffnung des Briefmarktes in Deutsch-
land eine drastische Zunahme von Billigjobs im Briefdienst
droht, da bereits die bisherige Teilöffnung von 20 Prozent des
Briefaufkommens zu einem Niedriglohnwettbewerb geführt
hat, weshalb gegenwärtig etwa 10 000 Zustellerinnen und Zu-
steller ihr Niedrigeinkommen durch Arbeitslosengeld II auf-
stocken müssen?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssek-
retär Hartmut Schauerte zur Verfügung. – Sie haben das
Wort.
H
Ich gebe für die Bundesregierung folgende Antwort:
Diese Auffassung teilen wir nicht. Die komplexe Pro-
blematik des Niedriglohnbereichs kann nur im Zusam-
menhang mit der generellen arbeitsmarkt- und sozial-
politischen Diskussion gesehen werden. Die im
Koalitionsausschuss beschlossene Ausweitung des Ar-
beitnehmer-Entsendegesetzes eröffnet die Möglichkeit,
dass auch für die angeführte Postbranche eine grundsätz-
liche Sicherung eines angemessen Lohnniveaus herbei-
geführt werden kann.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke schön. – Wenn Sie die Auffassung nicht teilen,
muss ich Sie auf Folgendes hinweisen: 10 000 Zustelle-
rinnen und Zusteller erhalten in Deutschland aufsto-
ckende Löhne; das ist eine Masse. Sind Sie angesichts
dessen nicht mit mir einer Meinung, dass viele Men-
schen davon zutiefst betroffen sind und so wenig Lohn
bekommen, dass sie nicht davon leben können und sich
noch vom Amt Geld holen müssen, damit sie leben kön-
nen?
H
Die von Ihnen genannte Zahl – wenn sie denn stimmt –
hat sich ja zu Zeiten der Geltung des Briefmonopols er-
geben. Also ist die Logik, dass es so etwas nicht gibt,
wenn man das Briefmonopol verlängert, irreführend.
Deswegen ist auch die Annahme, die man daran knüpfen
will, dass ein kausaler Zusammenhang besteht und es
daher durch eine Liberalisierung zu einer drastischen
Zunahme der Zahl der betroffenen Personen kommen
würde, falsch. Wir teilen diese Auffassung nicht.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Die Zahl ist aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage
an die Bundesregierung.
Ich habe noch eine Frage: Der Koalitionsausschuss
hat ja beschlossen, die Verlängerung bzw. die Nichtver-
längerung des Briefmonopols davon abhängig zu ma-
chen, wie man sich in der EU einigt. Hat die Bundes-
regierung vor, jetzt auf die Bedenken Frankreichs – von
dort wurden schon Bedenken angemeldet – und anderer
Länder einzugehen und nicht mehr eine Vorreiterrolle in
der Liberalisierung des europäischen Postmarktes zu
spielen? Welche Position vertritt die Regierung zum
Vorschlag der europäischen Postgewerkschaften, die
Öffnung der EU-Postmärkte bis 2012 zu verschieben?
H
Wir halten an unseren bisherigen Bewertungen und
Einstellungen fest. Wir halten die Diskussion in Europa
für noch nicht abgeschlossen. Die Bundesregierung sieht
keine Notwendigkeit, von der bisherigen Beschlusslage,
wonach das Postmonopol zum 1. Januar 2008 ausläuft,
abzuweichen.
Unabhängig davon kann man konstruktiv über Lösun-
gen und Ansätze nachdenken, wie eventuell befürchtete
negative Auswirkungen gemildert werden können. Auch
darüber sind wir in einem intensiven Gespräch miteinan-
der.
Danke, Herr Staatssekretär.
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10670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007
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(D)
Vizepräsidentin Petra PauNachdem die dringlichen Fragen aufgerufen und be-antwortet worden sind, rufe ich jetzt die Fragen aufDrucksache 16/5683 in der üblichen Reihenfolge auf.Die Fragen 1 und 2 der Kollegin Monika Lazar zumGeschäftsbereich des Bundesministeriums des Innernwerden schriftlich beantwortet.Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums der Justiz. Die Frage 3 des KollegenPeter Hettlich soll ebenfalls schriftlich beantwortet wer-den.Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Verteidigung. Die Frage 4 der KolleginDr. Gesine Lötzsch soll ebenfalls schriftlich beantwortetwerden.Die Fragen 5 und 6 der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk zum Geschäftsbereich des Bundesministeriumsfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden eben-falls schriftlich beantwortet.Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatsse-kretär Ulrich Kasparick zur Verfügung.Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Jörg Rohde auf:Liegen der Bundesregierung Hinweise zu aus Parkproble-men resultierenden Einschränkungen der Mobilität contergan-geschädigter Ohnarmer vor, und, wenn ja, plant sie Maßnah-men zur Beseitigung dieser Einschränkungen?U
Herr Kollege Rohde, wenn Sie gestatten, beantworte
ich die Fragen 7 und 8 zusammen, weil sie im Sachzu-
sammenhang stehen.
Dann rufe ich auch die Frage 8 des Kollegen Rohde
auf:
Zählt zu den durch die Bundesregierung gegebenenfalls
geplanten Maßnahmen zur Beseitigung der aus Parkproble-
men resultierenden Einschränkungen contergangeschädigter
Ohnarmer auch die Schaffung der Voraussetzungen für die Er-
teilung des Merkzeichens „aG“ für diesen Personenkreis, da-
mit diese die sogenannten Rollstuhlparkplätze nutzen können,
und, wenn nein, warum nicht?
U
Die gesetzliche Grundlage für die Antwort der Bun-
desregierung ist § 46 Abs. 1 Nr. 11 der Straßenverkehrs-
Ordnung und die dazu erlassenen Allgemeinen Verwal-
tungsvorschriften. Da ist geregelt, welche Personengrup-
pen Parkerleichterungen haben können. Wir haben eine
klare Definition. Wenn es um die Gestattung von Parker-
leichterungen geht, ist dabei insbesondere an Menschen
mit außergewöhnlichen Gehbehinderungen zu denken.
Die gesetzliche Grundlage dafür sind die vom Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales veröffentlichten
Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im
sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwer-
behindertenrecht, Teil II SGB IX.
Zusätzlich besteht die Situation, dass man diesen Per-
sonenkreis in besonders begründeten Fällen ausweiten
kann. Die Befreiung von der Benutzung von Parkuhren
und Parkscheinautomaten, auch die Befreiung von der
Verpflichtung, im Zonenhalteverbot und auf Parkplätzen
mit zeitlicher Begrenzung einen Parkschein ins Fenster
zu legen, ist für die Personengruppe, zu der Sie hier fra-
gen, jetzt schon möglich. Wenn man eine weitergehende
Parkerleichterung haben möchte, braucht man das Merk-
zeichen „aG“ oder die Gleichstellung mit diesem Merk-
zeichen; darüber entscheidet die Versorgungsverwal-
tung. Voraussetzung einer Gleichstellung ist, dass das
Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt ist.
Wir haben nicht die Möglichkeit, die Personengruppe,
für die Sie sprechen, generell in die Freistellung aufzu-
nehmen, weil wir ein höchstrichterliches Urteil vom
17. Dezember 1997 zu beachten haben, wonach die Ver-
waltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 der Straßenverkehrs-
Ordnung eng auszulegen ist. Konsequenz dieses Ge-
richtsurteils ist, dass wir keine allgemeine Befreiung aus-
sprechen können. Eine Änderung des geltenden Rechts
ist vor diesem Hintergrund nicht geplant.
Sie haben das Wort zu Ihrer ersten von vier möglichen
Nachfragen.
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie richtig verstanden
habe, sieht die Bundesregierung im Moment keine ge-
setzliche Möglichkeit, Ohnarmern das Merkzeichen
„aG“ zu erteilen, um dadurch für eine bundesweit ein-
heitliche Regelung zu sorgen. Habe ich Sie richtig ver-
standen?
U
Das ist die Situation.
Ihre zweite Nachfrage.
Ist der Bundesregierung bewusst, dass Ohnarmer zum
Beispiel mehr Platz zum Öffnen von Autotüren benöti-
gen? Sie können zwar gehen, aber wenn sie etwas tragen
müssen – etwa vom Einkaufsladen zu ihrem Auto –, sind
lange Wege hinderlich. Daher wäre es sehr hilfreich,
wenn sie, auch ohne das Merkzeichen „aG“ erteilt zu be-
kommen, eine Parkerleichterung erhielten.
U
Das ist der Grund, aus dem Ohnarmern bereits andereParkerleichterungen gewährt wurden; das habe ich schongesagt, und das dürfte Ihnen bekannt sein. Wir sind ver-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007 10671
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(D)
Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparickpflichtet, das Urteil des Verwaltungsgerichts eng auszu-legen. Daran müssen wir uns halten.
Ihre dritte Nachfrage.
Ich beschränke mich darauf, drei Nachfragen zu stel-
len; die vierte Nachfrage lasse ich entfallen.
Vor dem Hintergrund der Einführung des trägerüber-
greifenden persönlichen Budgets und der zunehmenden
Mobilität der Behinderten frage ich Sie: Kann man für
diese Personengruppe bis zum Jahreswechsel nicht doch
noch etwas tun?
U
Ich verstehe Ihr Anliegen. Ich verstehe auch, dass die
Menschen, für die Sie sprechen, großes Interesse daran
haben. Bundesregierung und Parlament sind allerdings
an die geltenden Gesetze gebunden. Daran müssen wir
uns halten.
Vielen Dank.
Die Frage 9 des Kollegen Peter Hettlich soll schrift-
lich beantwortet werden.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär Kasparick.
Die weiteren Fragen zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär Achim
Großmann.
Ich rufe die Frage 10 des Kollegen Dr. Anton
Hofreiter auf:
Aus welchen Gründen wurde das Sicherheitskonzept für
das Transrapidprojekt in München nach § 23 Abs. 1 der
Magnetschwebebahn-Bau- und Betriebsordnung, MbBO,
noch nicht veröffentlicht, und wann rechnet die Bundesregie-
rung mit der Veröffentlichung desselben?
A
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege
Dr. Hofreiter, das Sicherheitskonzept ist im Auftrag der
DB Magnetbahn GmbH erstellt worden und befindet sich
in deren Eigentum. Das Eisenbahn-Bundesamt hat das Si-
cherheitskonzept nach § 23 Abs. 1 der Verordnung über
den Bau und Betrieb der Magnetschwebebahnen – die
Verordnung heißt konkret: Magnetschwebebahn-Bau-
und Betriebsordnung, kurz: MbBO – genehmigt. Eine
Veröffentlichung ist aufgrund der darin enthaltenen sen-
siblen Sicherheitsdaten nicht vorgesehen.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Könnten wir so vorgehen, dass der sehr geehrte Herr
Staatssekretär meine zweite Frage gleich mitbeantwortet
und ich meine Nachfragen anschließend stelle? Die bei-
den Fragen stehen nämlich in einem engen Zusammen-
hang.
Wenn der Herr Staatssekretär das möchte.
A
Ja, das mache ich gerne.
Dann rufe ich auch die Frage 11 des Kollegen
Dr. Anton Hofreiter auf:
Warum ist das Sicherheitskonzept nicht Bestandteil der
Planfeststellungsunterlagen für das laufende Planfeststel-
lungsverfahren für das Transrapidprojekt in München, und
welche Folgen für die rechtliche Anfechtbarkeit hat dies aus
Sicht der Bundesregierung?
Bitte, Herr Staatssekretär.
A
Die Antwort auf Ihre zweite Frage lautet: Bei der Ge-
nehmigung des Sicherheitskonzepts nach § 23 der von
mir gerade im genauen Wortlaut genannten Verordnung,
der MbBO, handelt es sich um ein gesondertes Verwal-
tungsverfahren. Somit ist es nicht in das Planfeststel-
lungsverfahren integriert. Dies wird auch durch die Ent-
scheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Juni
2007 gestützt.
Beide Verfahren verfolgen unterschiedliche Zielset-
zungen: Das Sicherheitskonzept enthält die Ermittlung
und Bewertung aller erkennbaren Sicherheitsrisiken
nach Art, Häufigkeit und Auswirkungen sowie die Fest-
stellung der daraus abgeleiteten baulichen, technischen,
betrieblichen und organisatorischen Sicherheitsmaßnah-
men. Das Planfeststellungsverfahren hingegen dient zur
Erlangung des Baurechts. Soweit Erkenntnisse des Si-
cherheitskonzepts auch bauliche Aspekte betreffen, sind
diese unmittelbar in die Planfeststellungsunterlagen ein-
geflossen. Dies gilt beispielsweise im Hinblick auf Ret-
tungswege, Schutzvorkehrungen oder Einfriedungen.
Zur ersten von vier möglichen Nachfragen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank für dieAntwort. Herr Staatssekretär, Sie sagten, dass die bauli-chen Aspekte in das Planfeststellungsverfahren einge-flossen sind und das Planfeststellungsverfahren zurErlangung des Baurechts dient. Im Rahmen des Planfest-stellungsverfahrens kann sich aber auch herausstellen,dass kein Baurecht erteilt wird. Die Kritiker bzw. Gegner
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10672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007
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(D)
Dr. Anton Hofreiterdes Projekts könnten weitaus objektiver beurteilen, obdas Projekt in der Form genehmigt werden kann, undentsprechende vernünftige Einwände vorbringen, wennsie das gesamte Sicherheitskonzept beurteilen könnten;so müssen sie sich auf die Behörden verlassen. Deshalbmeine Frage: Steht der Veröffentlichung dieses Konzep-tes irgendetwas entgegen?A
Herr Dr. Hofreiter, wir sind nicht der Veranlasser des
Sicherheitskonzeptes und daher nicht sein Eigentümer;
das Sicherheitskonzept befindet sich im Eigentum der
beauftragenden Firma. Ich habe in Beantwortung Ihrer
Frage schon gesagt: Eine Veröffentlichung ist aufgrund
der darin enthaltenen sensiblen Sicherheitsdaten nicht
vorgesehen. Ich glaube, es ist klar, was damit gemeint
ist: Der Bund hat gar nicht die Möglichkeit, das Konzept
zu veröffentlichen, weil wir dieses Konzept nicht erstellt
haben und es nicht in unserem Eigentum ist.
Ihre zweite Frage, bitte.
Wenn ich es richtig verstanden habe, hat das Eisen-
bahn-Bundesamt das Sicherheitskonzept geprüft. Wäre
es möglich, vom Eisenbahn-Bundesamt zumindest einen
abgespeckten Bericht darüber zu bekommen, inwieweit
die Prüfung Probleme ergeben hat, inwieweit das Sicher-
heitskonzept die Zustimmung des Eisenbahn-Bundesam-
tes erhalten hat, welche Aspekte kritisch sind und wel-
che nicht, ohne dass auf die sensiblen Details
eingegangen wird?
A
Ich glaube, Sie wissen, dass das Eisenbahn-Bundes-
amt seiner Aufgabe unbeeinflusst vom Ministerium
nachgeht. Das EBA trägt hier auch die Verantwortung.
Diese Verantwortungsverteilung macht Sinn, da es an-
sonsten bei der Zuordnung von Verantwortung kunter-
bunt durcheinanderginge. In dieses Regelwerk, das nicht
nur für den Bau des Transrapids gilt, sondern auch für
andere Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen, bei denen Si-
cherheitskonzepte und Sicherheitsaspekte berücksich-
tigt werden, wollen wir nicht eingreifen. Das Verfahren
hat sich bewährt.
Ihre dritte Nachfrage.
Ich will auch nicht in das Verfahren eingreifen. Ich
habe nur gefragt, ob es einen abgespeckten Prüfbericht
des Eisenbahn-Bundesamtes gibt, den man veröffentli-
chen könnte. Das Eisenbahn-Bundesamt wird das Si-
cherheitskonzept ja nicht durchgelesen und festgestellt
haben: „Schön; was die DB AG gemacht hat, passt“; es
wird doch etwas schriftlich festgehalten haben.
A
Einen zusammenfassenden Bericht des EBA zu die-
sem Sicherheitskonzept gibt es, soweit mir bekannt ist,
nicht. Aber selbst wenn es ihn gäbe, würden für ihn die-
selben Bedenken zutreffen, die für das Sicherheitskon-
zept gelten.
Sie haben noch eine vierte Frage.
Das heißt, letztendlich muss sich die kritische Öffent-
lichkeit darauf verlassen, dass das, was die
DB Magnetbahn GmbH da gemacht hat, schon passt und
das EBA das korrekt geprüft hat. Man kann das also
nicht selber überprüfen, sondern muss sich auf die Be-
hörden verlassen.
A
Das ist kein Willkürakt; es gibt ein vorgesehenes Ver-
fahren – das habe ich Ihnen geschildert –: Das EBA ist
bei der Planfeststellung beteiligt, was das Baurecht an-
betrifft. Bei den Fragen, die die Sicherheit betreffen, ist
auch die Behörde, die das Planfeststellungsverfahren
durchführt – das ist hier die Regierung Oberbayern – mit
im Boot. Sie wissen, dass wir wegen des Unfalls im
Emsland sogar einen unabhängigen Professor beauftragt
hatten, das Sicherheitskonzept noch einmal zu überprü-
fen. Das ist sozusagen ein doppeltes Sicherheitskonzept.
Ich glaube, dieses Verfahren ist nicht anders zu be-
werten als viele andere Genehmigungsverfahren. Es ist
geregelt, in welchen Bereichen die Bürgerinnen und
Bürger ein Recht auf weitergehende Informationen ha-
ben. Es gibt in diesem Sicherheitskonzept einen etwas
geschützteren Bereich, der so sensible Daten enthält,
dass deren Veröffentlichung eher zum Gegenteil von Si-
cherheit führte.
Danke, Herr Staatssekretär.Wir kommen damit zum Geschäftsbereich der Bun-deskanzlerin und des Bundeskanzleramtes. Die Fra-gen 12 und 13 des Kollegen Christoph Waitz sollenschriftlich beantwortet werden. Dies gilt ebenfalls fürdie Frage 14 des Kollegen Volker Beck. Damit danke ichdem Staatssekretär Beus für seine Bereitschaft, die Fra-gen zu beantworten, und für die Übermittlung der Ant-worten an die Kollegen.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-nisteriums für Arbeit und Soziales. Die Frage 15 desKollegen Dr. Ilja Seifert wird schriftlich beantwortet.Dies gilt auch für die Fragen 16 und 17 der Kollegin
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007 10673
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Vizepräsidentin Petra PauBärbel Höhn und die Frage 18 des Kollegen OmidNouripour.Damit rufe ich den Geschäftsbereich des AuswärtigenAmtes auf. Zur Beantwortung steht der StaatsministerGernot Erler zur Verfügung.Die Fragen 19 und 20 des Kollegen Hans-JoachimOtto sollen schriftlich beantwortet werden.Ich rufe die Frage 21 des Kollegen Wilhelm JosefSebastian auf:Was hält die Bundesregierung davon ab, den Repräsentan-ten der Republik China auf Taiwan einen Diplomatenpassbzw. Diplomatenausweis zuzugestehen, wie dies einige euro-päische Nachbarländer tun, wie zum Beispiel Frankreich,Großbritannien, Finnland, Italien, Polen, Schweden oder Ös-terreich?Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Sebastian, taiwanische Diplomaten-
pässe werden nicht akzeptiert, weil ihre Visierung den
Anschein eines für Diplomaten üblichen Notifikations-
verfahrens erwecken würde. Der Bundesregierung liegt
daran, keinen solchen falschen Anschein zu erwecken.
Die Ausstellung von Diplomatenausweisen an Vertre-
ter Taiwans kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil
Deutschland keine diplomatischen Beziehungen zu Tai-
wan unterhält.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatsminister, warum wird dies in verschiede-
nen europäischen Ländern anders gehandhabt als bei
uns? Gibt es dazu keine einheitliche Linie in Europa?
Herr Kollege Sebastian, soweit uns bekannt ist, gibt
es keine unterschiedliche Behandlung hinsichtlich der
Diplomatenpässe bzw. Diplomatenausweise. Es gibt eine
Ausnahme in Wien. Die Beobachtermission aus Taiwan
bei der IAEO, der Internationalen Atomenergiebehörde,
besitzt gültige Diplomatenausweise, die vom österreichi-
schen Außenministerium ausgestellt werden, nicht aber
die Mitarbeiter des Instituts für Chinesische Kultur, das
dort die inoffizielle Vertretung Taiwans ist.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Herr Staatsminister, halten Sie es dem Land gegen-
über, das lange für Demokratie, Freiheit und Menschen-
rechte gekämpft hat, nicht für angebracht, ihm etwas
mehr Anerkennung zu zeigen, indem man auf europäi-
scher Ebene versucht, solche Kleinigkeiten – so will ich
das einmal nennen – gemeinsam Schritt für Schritt zu re-
geln, ohne unsere Ein-China-Politik zu verlassen?
Herr Kollege Sebastian, wir sind in völligem Konsens
hinsichtlich der Anerkennung der Bemühungen Taiwans
um Fortschritte. Darüber kann es keinen Streit geben.
Auf der anderen Seite stellen Diplomatenpässe bzw. Di-
plomatenausweise ein Signum von Staatlichkeit dar. Wir
betreiben in Europa gemeinsam die Ein-China-Politik,
die eben nicht mit einer Anerkennung von Taiwan ein-
hergeht. Gerade die Bundesregierung versucht, die Ein-
heitlichkeit dieser Politik zu wahren.
Wir kommen damit zur Frage 22 des Kollegen
Wilhelm Josef Sebastian:
Was hält die Bundesregierung davon ab, den Repräsentan-
ten der Republik China auf Taiwan das Recht eines Sonder-
kennzeichens einzuräumen, wie dies einige europäische
Nachbarländer tun, wie zum Beispiel Frankreich, Großbritan-
nien, Lettland oder die Niederlande?
Herr Kollege, die Republik China auf Taiwan wird
von der Bundesrepublik Deutschland nicht anerkannt
und daher in Deutschland auch nicht repräsentiert.
In Bezug auf die Kraftfahrzeuge inoffizieller Vertreter
Taiwans ist keine Voraussetzung erfüllt, die zur Ausgabe
eines Sonderkennzeichens führen könnte.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatsminister, mir liegen Informationen vor,
dass in einigen europäischen Ländern Sonderkennzei-
chen vergeben werden. Warum kann die Bundesrepublik
das nicht wie andere Länder handhaben?
Es geht hier um einen ähnlichen Punkt wie bei der
vorherigen Frage. Uns sind keine unterschiedlichen Auf-
fassungen der Partnerländer der EU bekannt, was die
Behandlung Taiwans als unabhängigen Staat angeht. Al-
lerdings wird die Vergabe der Sonderkennzeichen in den
verschiedenen europäischen Staaten unterschiedlich be-
handelt.
Ihre Information, dass solche Sonderkennzeichen in
Großbritannien ausgegeben werden, konnten wir nicht
verifizieren. Es gibt tatsächlich ein Land, das die übli-
chen CC-Sonderkennzeichen ausgibt, nämlich Lettland.
Lettland ist deswegen schon ins Visier chinesischer Pro-
teste geraten.
Damit haben Sie die Möglichkeit zu einer zweiten
Frage.
Herr Staatsminister, mir liegen Informationen vor,dass in Frankreich Sonderkennzeichen gewährt werden.
Metadaten/Kopzeile:
10674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007
(C)
(D)
Wilhelm Josef SebastianIch denke, in einem demokratischen Land dürfen wirin solchen Fragen nicht einfach nachgeben, wenn einLand wie China protestiert, und darauf verzichten, einenFortschritt zu erreichen.
Ich möchte noch einmal festhalten, dass die Ausgabe
von Corps-diplomatique- und Corps-consulaire-Kenn-
zeichen wegen der Ein-China-Politik ausscheidet; da-
rüber gibt es unter den europäischen Staaten keine unter-
schiedlichen Auffassungen. Aber es gibt möglicherweise
bestimmte nationale Gepflogenheiten, was andere Son-
derkennzeichen angeht. Es mag sein, dass es da Abwei-
chungen gibt. Aber in der Politik selber bemühen wir
uns um Einheitlichkeit und sehen auch nicht, dass Unter-
schiede in der Handhabung bestehen.
Das Wort zu einer weiteren Nachfrage hat die Kolle-
gin Rita Pawelski.
Herr Staatsminister, der gemeinsame Entschluss der
Europäischen Union zur Taiwanpolitik stammt aus dem
Jahr 1988. Damals war Taiwan kein demokratisch re-
giertes Land. Mittlerweile hat sich dort eine Demokratie
entwickelt. Das höchste Amt wird durch freie Wahlen
besetzt.
Meinen Sie nicht, dass es an der Zeit ist, dass die
Europäische Union wie auch die Bundesrepublik
Deutschland die Taiwanpolitik ändert, weil es sich bei
Taiwan um ein demokratisch regiertes Land handelt?
Frau Kollegin Pawelski, die Frage der Anerkennung
eines Landes richtet sich nicht danach, ob es ein demo-
kratisches Land ist – das war auch nicht der Fall, als es
um die Entscheidung in Sachen Taiwan ging –; wir
müssten sonst bei einer ganzen Reihe von Staaten die
Anerkennung zurückziehen, weil sie leider nicht demo-
kratisch regiert werden.
Insofern ist die Ein-China-Politik in keiner Weise mit
Kritik an den inneren Zuständen in Taiwan verbunden.
Unsere Entscheidung ist vielmehr Ausdruck der sehr
wohl begründeten Ein-China-Politik, die nicht nur in
Europa betrieben wird.
Es tut mir leid, Frau Pawelski, Sie haben leider nur
die Möglichkeit zu einer Nachfrage.
Damit rufe ich die Frage 23 der Kollegin Angelika
Krüger-Leißner auf:
Was hält die Bundesregierung davon ab, die Ausländer-
meldepflicht und die Beantragung einer Aufenthaltsgenehmi-
gung für Mitglieder der Vertretung von Taiwan in Deutsch-
land zu erleichtern, indem die Aufenthaltsgenehmigung direkt
durch die Protokollabteilung des Auswärtigen Amts beantragt
wird, wie dies auch für Mitglieder der deutschen Vertretung in
Taiwan üblich ist?
Frau Kollegin Krüger-Leißner, Mitarbeiter der Tai-
pehvertretungen unterliegen dem Ausländerrecht. Sie er-
halten ihre Aufenthaltstitel deshalb von den zuständigen
Ausländerbehörden der Länder oder der Gemeinden.
Grundlage ist jeweils eine Bescheinigung des Auswärti-
gen Amts, dass der Aufenthalt im öffentlichen Interesse
liegt. Die Bescheinigung stellt die Politische Abteilung
des Auswärtigen Amts aus. Eine Ausstellung durch das
Protokoll hätte demgegenüber keinen erkennbaren Vor-
teil. Auch das Einreichen des Antrags unmittelbar bei
der bearbeitenden Ausländerbehörde führt nach
Beobachtung des Auswärtigen Amts zu keiner Er-
schwernis, sondern erscheint im Hinblick auf eine zü-
gige Bearbeitung vorzuziehen.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Ich nehme erst einmal hin, dass es sich nicht um eine
Benachteiligung handelt und genauso schnell geht. Na-
türlich sind mir diesbezüglich andere Erfahrungsberichte
zu Ohren gekommen.
Ich frage mich aber: Warum ist es nicht möglich, wie
andere europäische Länder zu verfahren und bestimm-
ten Repräsentanten wie dem Botschafter einen beson-
deren Status zu geben, zum Beispiel eine diplomatische
ID-Card oder, wie es in Finnland, Österreich und Italien
gehandhabt wird, eine ID-Card vom Außenministerium?
Warum finden wir nicht solche Lösungen, die für die
Menschen, die aus Taiwan kommen und hier arbeiten,
eine Erleichterung darstellen?
Frau Kollegin, ich habe schon darauf hingewiesen,
dass wir uns bei dieser Praxis schlicht nach den rechtli-
chen Vorschriften des Ausländerrechts richten. Machten
wir hier Ausnahmen oder erlaubten wir Sonderbehand-
lungen, bewegte dies nach allen Erfahrungen viele an-
dere dazu, ähnliche Sonderregelungen zu wünschen. Ich
glaube, dass ich aufzeigen konnte, dass unsere Art der
Handhabung in Wirklichkeit für die Betroffenen der ver-
nünftigste Weg ist.
Sie haben die Möglichkeit zu einer zweiten Nach-
frage.
Ich nehme das erst einmal so hin und werde es noch
überprüfen.
Dann rufe ich die Frage 24 der Kollegin Krüger-Leißner auf:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007 10675
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauWas hält die Bundesregierung davon ab, einen touristi-schen Aufenthalt von bis zu 30 Tagen für taiwanesische Bür-gerinnen und Bürger von der Visumpflicht zu befreien, wiedies auch für EU-Bürger in Taiwan der Fall ist?
Frau Kollegin Krüger-Leißner, die Entscheidung da-
rüber, welche Drittstaatsangehörigen für Kurzaufent-
halte von bis zu 90 Tagen pro Halbjahr in der Europäi-
schen Union der Visumpflicht unterliegen und welche
nicht, liegt nicht in der Hand der einzelnen Mitglied-
staaten. Es ist vielmehr Aufgabe der Europäischen Kom-
mission, in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten dies
verbindlich festzulegen, und zwar im Rahmen der Euro-
päischen Verordnung Nr. 539/2001, der sogenann-
ten EU-Visumverordnung. Vor diesem rechtlichen Hin-
tergrund kann die Bundesregierung nicht einseitig die
Aufhebung der Visumpflicht für Taiwanerinnen und Tai-
waner beschließen.
Haben Sie noch eine Nachfrage? – Bitte schön.
Ich habe nun etwas dazugelernt und weiß, dass in die-
ser Frage im Grunde genommen die EU-Kommission
unser Ansprechpartner ist.
Das ist völlig korrekt. Ich kann Sie ergänzend darüber
informieren, dass dies Ende 2006 auf der Tagesordnung
der Ratsarbeitsgruppe „Visa“ stand. Dort hat eine grö-
ßere Zahl von Mitgliedstaaten der EU einer solchen Er-
leichterung in Form einer Aufhebung der Visumpflicht
nicht zugestimmt, sodass die Entscheidung darüber zu-
rückgestellt worden ist.
Ich danke.
Wir kommen nun zur Frage 25 des Kollegen Olav
Gutting:
Was hält die Bundesregierung davon ab, bezüglich der Be-
zeichnung für Taiwan bei wirtschaftlichen und kulturellen
Veranstaltungen eine pragmatische Haltung einzunehmen und
sich generell für die Bezeichnung „Taiwan“ auszusprechen?
Herr Kollege Gutting, wirtschaftliche und kulturelle
Veranstaltungen finden ganz überwiegend in privater
Regie statt, ohne dass es überhaupt einen Anlass für die
Bundesregierung gäbe, sich für die eine oder andere Be-
zeichnung auszusprechen. Wo die Bundesregierung Mit-
veranstalterin ist, erfordert es ihre Glaubwürdigkeit, ihre
außenpolitischen Positionen nicht selbst infrage zu stel-
len. Ihre Vertreter in den jeweiligen Gremien stimmten
also der Bezeichnung „Taiwan“ nur dann zu, wenn sie
nicht als Staatsname missverstanden würde.
Sie haben die Möglichkeit zu zwei Nachfragen. –
Bitte.
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, wie in anderen
europäischen Ländern die Bezeichnung gehandhabt
wird?
Herr Kolleg Gutting, wie Sie meiner Antwort ent-
nommen haben, ist bei wirtschaftlichen und kulturellen
Veranstaltungen sehr selten eine eindeutige staatliche
Verantwortung gegeben. In Deutschland wird das eher
flexibel und unterschiedlich gehandhabt; dies ist auch in
den anderen europäischen Staaten der Fall.
Herr Gutting, Sie verzichten auf Ihre zweite Nach-
frage.
Die Frage 26 des Kollegen Hans-Josef Fell wird
schriftlich beantwortet.
Herzlichen Dank, Herr Staatsminister.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Finanzen. Die Frage 27 des Kollegen
Hans-Josef Fell wird schriftlich beantwortet, ebenso die
Frage 28 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch und die
Frage 29 des Kollegen Peter Rzepka.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Gesundheit. Die Fragen beantwortet
die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-
Merk.
Ich rufe die Frage 30 des Kollegen Dr. Harald Terpe
auf:
Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über aus fi-
nanziellen Gründen geplante Einschränkungen der Qualität
der Behandlung von Opiatabhängigen in den Städten, die nach
§ 3 Abs. 2 des Betäubungsmittelgesetzes, BtMG, eine Aus-
nahmegenehmigung zur Fortführung der Heroinbehandlung
beantragt haben, und wie bewertet sie diese Einschränkungen
im Hinblick auf die Ziele der Herointherapie?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
M
Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkennt-
nisse vor, Herr Kollege Terpe. Es ist klar: Wenn die be-
treffenden Städte das Modellprojekt fortführen wollen
und einen Antrag an das BfArM stellen – diese Möglich-
keit besteht –, dann gehört zur Prüfung die Einhaltung
der Qualitätsstandards dazu, die bislang Voraussetzung
für das Modellvorhaben waren.
Sie haben keine Nachfrage dazu, Herr Terpe.Ich rufe die Frage 31 des Kollegen Dr. Harald Terpeauf:
Metadaten/Kopzeile:
10676 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauPlant die Bundesregierung, die finanzielle Unterstützungder beteiligten Heroinambulanzen bzw. Städte fortzuführen,und, wenn nicht, auf welche andere Weise will die Bundes-regierung sicherstellen, dass neue Patientinnen und Patientennicht aus finanziellen Gründen abgewiesen werden müssenbzw. die Behandlungsqualität eingeschränkt werden muss?Bitte, Frau Staatssekretärin.M
Herr Kollege Terpe, die Bundesförderung für die am
Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung Opiat-
abhängiger teilnehmenden Städte soll unter den bisheri-
gen Bedingungen bis Ende September 2007 verlängert
werden; denn wir wissen, dass einige Städte nach dem
Auslaufen der Modellphase einen Antrag an das BfArM
stellen und weitermachen wollen. Deswegen ist für uns
wichtig, dass die betreffenden Städte diese Möglichkeit
bekommen.
Darüber hinaus wird derzeit in intensiven Beratungen
und Verhandlungen versucht, eine rechtlich tragfähige
Lösung für die Fortführung zu finden. Aus diesem
Grund haben wir den beteiligten Städten ein Signal ge-
ben wollen, das deutlich macht, dass die derzeitige
Finanzierung bis Ende September 2007 fortgeführt wird.
Der Kollege Terpe hat keine Nachfrage.
Ich rufe die Frage 32 der Kollegin Monika Knoche
auf:
Wie rechtfertigt die Bundesregierung, dass die positiven
Ergebnisse der Arzneimittelstudie zum Modellprojekt zur he-
roingestützten Behandlung Opiatabhängiger nicht zu einer re-
gelgerechten Zulassung von Diamorphin in die ärztliche
Therapie führten, obwohl die Signifikanz dieser Therapieform
deutlich die der allgemeinen Arzneimittelzulassung über-
schreitet?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
M
Frau Kollegin Knoche, wir haben ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass mit den Diamorphinmodellprojekten
das Thema „Diamorphin versus klassische Methadonbe-
handlung“ im Rahmen einer Arzneimittelstudie unter-
sucht wird. Die Ergebnisse aus der Diamorphinbehand-
lung sind aus unserer Sicht signifikant besser gewesen.
Aus diesem Grund gibt es Bestrebungen, eine rechtliche
Grundlage für das Fortsetzen dieser Modellprojekte zu
schaffen. Da wir derzeit noch in Verhandlungen sind
– unter anderem gibt es Initiativen einiger Bundesländer
hierzu, wie man der Presse gestern entnehmen konnte –
und die Länder noch prüfen, prüfen wir rechtliche Mög-
lichkeiten zur Fortsetzung der Behandlung. Wie ich dem
Kollegen Terpe gerade erläutert habe, haben wir aus die-
sem Grund die Finanzierungsvereinbarung bis Ende
September 2007 verlängert.
Wir gehen jetzt daran, eine rechtlich tragfähige Lö-
sung zu erarbeiten. Unabhängig von rechtlichen Verän-
derungen ist es aber den Städten nach wie vor möglich,
Anträge auf Fortsetzung der Behandlung beim BfArM
zu stellen. Ich weiß, dass einige Städte bereits entspre-
chende Anträge gestellt haben und andere es planen,
meiner Kenntnis nach auch Karlsruhe.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin Caspers-Merk, ich habe in der
Tat noch eine Nachfrage. Habe ich die Intention, die Sie
hier dargelegt haben, richtig verstanden, dass Sie durch-
aus erwägen, im September eine gesetzliche Änderung
in den Bundestag einzubringen, um die Zulassung des
Substitutionspräparates zu ermöglichen, oder wollen Sie
lediglich eine Fortführung der nach den bestehenden
Modellen derzeit laufenden Substitutionsbehandlungen
ermöglichen? Wie ist Ihre Antwort zu verstehen? Planen
Sie selbst eine gesetzliche Änderung?
M
Zunächst einmal, Frau Kollegin Knoche, haben die
Städte jetzt die Möglichkeit, die Vorhaben fortzusetzen,
indem sie einen Antrag beim BfArM stellen. Damit ist
die Befürchtung vieler Städte, die Patientinnen und Pa-
tienten in den jetzt laufenden Verfahren könnten nicht
mehr versorgt werden, ausgeräumt. Es können sogar
– das zeigt der positive Bescheid des Antrags der Stadt
Frankfurt – neue Patientinnen und Patienten in die Vor-
haben aufgenommen werden.
Darüber hinaus versuchen wir im Moment, über die
Möglichkeit des einfachen Antrags hinaus, der den Mo-
dellstädten schon jetzt freisteht, gesetzlich oder unterge-
setzlich eine Änderung zu verabreden. Wie Sie wissen,
haben wir in der Koalition über diese Frage noch keine
Einigkeit erzielt. Wir prüfen zurzeit die Alternativen ei-
ner gesetzlichen oder untergesetzlichen Neuregelung
und haben aus diesem Grunde die Geltung der Finanzie-
rung bis Ende September verlängert.
Frau Kollegin Knoche erhält Gelegenheit zu einer
zweiten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, ich habe zu meiner ersten Fragenoch eine weitere Nachfrage. Sind Sie mit mir der Auf-fassung, dass bezogen auf die klassischen Kriterien einerArzneimittelstudie die Studie zur Heroinsubstitution si-gnifikant bessere Merkmale aufweist, als es bei der Zu-lassung anderer Präparate, die nicht unter das Betäu-bungsmittelgesetz fallen, der Fall ist, und schließen Siedaraus nicht, dass im Sinne der Arzneimittelzulassungs-gleichheit die Bundesregierung aufgefordert wäre, diegesetzliche Grundlage für die allgemeine Zulassung die-ses Substitutionspräparates vorzunehmen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007 10677
(C)
(D)
M
Den ersten Teil Ihrer Zusatzfrage beantworte ich mit
Ja. Wir haben signifikant bessere Ergebnisse. Deswegen
haben die Bundesregierung und auch die Drogenbeauf-
tragte der Bundesregierung den Modellversuch positiv
beurteilt. Um ein Modellvorhaben in eine Struktur der
Substitutionsbehandlung einzupassen, müssen wir aller-
dings gesetzlich oder untergesetzlich Veränderungen
vornehmen, und über diesen Punkt wird derzeit noch po-
litisch diskutiert.
Nun kommen wir zur Frage 33 der Kollegin Monika
Knoche:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Ungleichbehand-
lung von Schwerstheroinabhängigen bei der wohnortnahen
Diamorphinbehandlung, da es nur den ehemaligen Modell-
städten möglich erscheint, eine Ausnahmegenehmigung des
Amtes für Arzneimittelsicherheit zu erhalten?
Frau Staatssekretärin, bitte.
M
Frau Kollegin Knoche, Ihre Annahme in dieser Frage
ist unrichtig. Es ist grundsätzlich allen Schwerstopiat-
abhängigen, die in Einrichtungen in der Bundesrepublik
Deutschland versorgt werden, anheimgestellt, einen ent-
sprechenden Antrag gemäß § 3 Abs. 2 des Betäubungs-
mittelgesetzes auf der Basis des „öffentlichen Interes-
ses“ bei der Bundesopiumstelle des BfArM zu stellen.
Diese prüft, ob der Antragsteller die notwendigen Vo-
raussetzungen erfüllt. Ihre Annahme, dass dies nur auf
Modellstädte begrenzt bliebe, ist also nicht richtig. Es
könnten auch andere Städte einen solchen Antrag stel-
len. Sie müssen dann dieselben Prüf- und Qualitätskrite-
rien erfüllen wie die Städte, die bereits an dem Modell-
vorhaben beteiligt waren.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Verstehe ich Sie richtig, dass es der Initiative weiterer
Städte bedürfte, um analog den Kriterien der bisher im
Modellprojekt befindlichen Städte verfahren zu können?
Die zweite Nachfrage dazu gleich hinterher: Wäre es ei-
nem individuellen Patienten oder einer Patientin, der
oder die mit Methadon nicht hinreichend versorgt wer-
den kann, möglich, beim BfArM eine Einzelzulassung
für eine Heroinsubstitution zu bekommen?
M
Das waren zwei Fragen, die ich als zwei Zusatzfragen
werte. Andere Städte – das hatte ich gerade gesagt –
könnten dieses Antragsverfahren aufgreifen. Die Initia-
tive muss von der Einrichtung ausgehen.
Die zweite Frage war, ob ein Individuum einen sol-
chen Antrag stellen kann. Auch in diesem Fall müssten
dieselben qualitativen Voraussetzungen erfüllt sein. Es
kann nicht ein Einzelner sagen, er möchte ab sofort mit
Diamorphin versorgt werden, sondern man müsste die-
selben Kriterien prüfen, die man auch in den Modellvor-
haben geprüft hat. Dazu gehören folgende Punkte: Wird
Diamorphin – das macht den Stoff so problematisch – si-
cher verwahrt? Wie ist das Arrangement mit den anderen
Substitutionseinrichtungen vor Ort? Es handelt sich um
ein hochschwelliges Projekt, kein niedrigschwelliges.
Man muss die Gesundheitsvoraussetzungen erfüllen,
und es müssen zwei Therapien abgebrochen worden
sein. Ferner gehören zu den Voraussetzungen das Min-
destalter, die Soziotherapie und das Casemanagement.
Es müssten alle Bedingungen erfüllt sein – die mit
sehr hohen Auflagen verbunden waren –, die auch die
am Modellversuch beteiligten Städte erfüllt haben. Es
darf also keine Abstriche bei der Sicherheit und der Qua-
lität geben. Ansonsten hat jede Einrichtung, jede Stadt
und auch jeder Einzelne den Anspruch, dass sein bzw.
ihr Antrag geprüft wird. Aber die Prüfkriterien sind sehr
hoch, weil sie die Bedingungen des Modellversuchs als
Prüfinhalt voraussetzen.
Habe ich noch eine Nachfrage?
Sie haben explizit zwei Fragen gestellt.
Dann bedanke ich mich.
Wir kommen zur Frage 34 des Kollegen Omid
Nouripour:
Was hat die Bundesregierung bislang konkret unternom-
men bzw. was wird sie noch unternehmen, um dem Wunsch
der hessischen Landesregierung und der am Modellprojekt
der Heroinbehandlung beteiligten Städte für eine Weiterfüh-
rung der Heroinbehandlung über den 30. Juni 2007 hinaus zu
entsprechen?
M
Zunächst möchte ich sagen, dass wir in einem engenKontakt mit allen sieben Standorten des Modellvorha-bens sind. Es finden regelmäßig Besprechungen und einAustausch über die Ergebnisse und über die Arbeitenstatt, die eine Fortsetzung ermöglichen. Sie wissen, dassdie Bundesregierung auf Wunsch der beteiligten Bun-desländer eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Erarbei-tung von Eckpunkten für ein Gesetzesvorhaben einge-setzt hat. Das heißt, es wurde sehr wohl einigesunternommen, um eine Fortsetzung zu ermöglichen.Die Koalition diskutiert derzeit die Fortsetzung derModellvorhaben. Unabhängig davon hat insbesonderedie Stadt Frankfurt den Weg beschritten, die Antragstel-lung beim BfArM vorzunehmen: Sie war die erste Stadt,die beim BfArM einen entsprechenden Antrag gestellthat. Im öffentlichen Interesse ist die Fortsetzung desModellvorhabens in Frankfurt sichergestellt.
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10678 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007
(C)
(D)
Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-MerkDarüber hinaus ist mir bekannt, dass sich die Hanse-stadt Hamburg gestern dahin gehend geäußert hat, eineBundesratsinitiative starten zu wollen. Wir werden abzu-warten haben, ob diese Bundesratsinitiative von den an-deren beteiligten Ländern unterstützt wird. Wir bieten imHaus nach wie vor Gespräche an; außerdem führen wirzurzeit Gespräche. Wir haben die Geltung der Finanzie-rungsstruktur nochmals verlängert, um Zeit für einerechtlich einwandfreie Lösung zu haben. Der Bundes-regierung liegt daran, den Anforderungen an die Qualitätdieses Modellversuchs – ich verweise auf die Einschrän-kungen, die damit verbunden waren – auch in Zukunftvoll und ganz gerecht zu werden.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Eine Bundesratsinitiative wurde nicht nur gestern von
der Landesregierung Hamburg, sondern auch vorgestern
von der Landesregierung Hessen unter Herrn Roland
Koch beschlossen. Welcher Umgang mit dieser Bundes-
ratsinitiative schwebt Ihrem Haus eigentlich vor?
M
Erstens. Wie ich bereits gesagt habe, sind alle Initiati-
ven, die die Länder über den Bundesrat gestartet haben,
auf die Vorarbeiten zurückzuführen, die die Bundes-
regierung gemeinsam mit den Ländern geleistet hat.
Zweitens. Natürlich sind die Länder frei, Gesetzent-
würfe über den Bundesrat einzubringen. Das legislative
Verfahren wird nicht geändert werden. Man muss
schauen, ob es im Bundesrat für dieses Ansinnen eine
Mehrheit gibt. Falls das der Fall ist, wird sich der Bun-
destag mit diesem Ansinnen auseinanderzusetzen haben.
Erst einmal haben wir es mit einer Ankündigung zu tun.
Wir haben Zeit, die weiteren Schritte in aller Ruhe abzu-
warten.
Eine zweite Nachfrage, bitte.
Ihr Hinweis darauf, dass Sie Zeit haben, die weiteren
Schritte abzuwarten, veranlasst mich, eine weitere Frage
zu stellen: Kann die Bundesregierung eigentlich zusi-
chern, dass alle Anträge – weitere werden gestellt wer-
den; davon kann man ausgehen – pünktlich mit Ablauf
der Studienphase beschieden werden, sodass die abhän-
gigen Patienten weiterhin ohne Verzögerung behandelt
werden können?
M
Herr Kollege, mir ist es ein sehr wichtiges Anliegen,
dass wir niemanden, der an einem Diamorphinmodell er-
folgreich teilgenommen hat, der vom Straßenheroin
weggekommen ist, der also dabei ist, seine Sucht zu
überwinden, alleinlassen. Wir möchten nicht, dass je-
mand in eine Situation kommt, in der die Fortsetzung
des Modells ungewiss ist.
Wie ich bereits zweimal erläutert habe, ist die finan-
zielle Beteiligung des Bundes fortgesetzt worden, um
den beteiligten Städten die Möglichkeit zu geben, ent-
sprechende Anträge zu stellen. Ich glaube, dass die
Kommunikation mit den Städten wichtig ist. Es ist nicht
so, dass die Städte jetzt alleingelassen werden oder dass
ein Modellvorhaben abgebrochen werden muss. Wenn
man weitermachen will, kann man selbst einen Antrag
stellen. Prüfkriterien sind die hohen Anforderungen des
Modellprojekts. Damit diese Beantragung und die Prü-
fung zeitlich parallelisiert werden – man will Luft
haben –, wurde das ganze Verfahren verlängert.
Frau Staatssekretärin, ich danke Ihnen für die Beant-
wortung der Fragen.
Alle Fragen, die heute gestellt worden sind, sind be-
antwortet. Wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Bis zum Beginn der Aktuellen Stunde um 16.15 Uhr
unterbreche ich die Sitzung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrocheneSitzung ist wieder eröffnet.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENNotwendigkeiten einer zukunftsfesten Pflege-reform im Verhältnis zu den pflegepolitischenVorschlägen der KoalitionIch eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin das Wort der Kollegin Elisabeth Scharfenberg fürdie Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Kol-leginnen und Kollegen! Ich kann verschiedene Bilderbemühen, um diese Pflegereform der Großen Koalitionzu beschreiben, zum Beispiel: Der Berg kreißte und ge-bar eine Maus; nein, ein Mäuschen. Der Geburtsterminwurde mehrfach verschoben. Dann wurde ein Notkaiser-schnitt gemacht. Bei den prominenten Geburtshelferin-nen und -helfern haben wir alle, ehrlich gesagt, einenWonneproppen erwartet. Das war leider vergeblich.
Wir können aber auch von ungedeckten Schecks re-den, die diese Koalition ausstellt.Nicht zuletzt fallen mir die Potemkinschen Dörferein. Dieses Reförmchen ist tatsächlich nicht mehr alseine schön gemalte Kulisse im Bühnenbild Ihres Koali-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007 10679
(C)
(D)
Elisabeth Scharfenbergtionsdramas. Ich bin sicher, dass dieses Bühnenbild beimnächsten politischen Sturm zusammenfallen wird. FrauMerkel ist auf anderer Ebene unterwegs.
Die führt auf dem außenpolitischen Parkett Regie undnicht hier.Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union undSPD, nachhaltig sollte diese Pflegeversicherung werden.Nun sehen wir, dass das, was Sie „nachhaltig“ nennen, inkeinem Fall nachhaltig ist.
Gemessen an der Zeit, die Sie sich für diese Reform neh-men wollten und die Sie sich auch genommen haben– schließlich warten wir seit 2006 auf diese Reform –,haben wir schon eine etwas mutigere und auch einegroße Reform erwartet. Das Gegenteil ist der Fall.
Auch die Medien sind sich da vollkommen einig.
In einem Artikel wurde diese Pflegereform völlig zuRecht als kaum verhüllte Fahnenflucht bezeichnet. Ges-tern hieß es in der „taz“ auf der ersten Seite treffend: DieWirklichkeit ist der Politik weit voraus. – Genau das istder Punkt. Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, flie-hen vor der Verantwortung, die Sie so dringend habenwollten. Faktisch haben Sie eine wirkliche Reform aufdie nächste Wahlperiode verschoben.
Union und SPD reformieren erneut mit schwarzenund roten ideologischen Scheuklappen – und das, weilbeide Seiten einfach auf die nächste Wahl warten. Das istIhr Begriff von Nachhaltigkeit, verehrte Kolleginnenund Kollegen: bis zur nächsten Wahl und keinen Schrittweiter.
Sie speisen Millionen von Pflegebedürftigen, Angehöri-gen und Pflegekräften mit kleinen Häppchen ab, obwohlSie ganz genau wissen, dass von diesen Häppchen nie-mand satt wird.Frau Ministerin Schmidt, ich nörgele nicht nur herum.Ich habe gegen einige Ihrer Leistungsverbesserungenüberhaupt nichts einzuwenden. Manche sind wirklichdurchaus sinnvoll.
Aber ich frage mich: Soll das alles gewesen sein?
Wie geht es weiter? Sie drücken sich vor den entschei-denden Fragen, nämlich: Wie können wir im Zuge derdemografischen Veränderungen eine menschenwürdigeund nutzerorientierte Pflege sicherstellen? Wie kommenwir weg vom Verrichtungsbezug der Pflegeversicherungund hin zu einem umfassenden Begriff der Pflegebedürf-tigkeit? Wie kommen wir zu einem Pflege- und Hilfe-mix, der den Lebensentwürfen der Menschen, also auchuns allen hier, entspricht? Diese Fragen werden uns alledie nächsten Jahre begleiten. Alle diese Fragen sind be-reits gestellt. Die Antworten können wir nicht erst in einpaar Jahren geben, vielleicht erst nach der nächsten Bun-destagswahl.
Drücken Sie sich nicht, und stellen Sie sich endlichihrer Verantwortung! Wir brauchen eine umfassende Re-form. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie beru-fen sich immer wieder auf Ihren Koalitionsvertrag, aberschon bei Ihrem Koalitionsvertrag musste man sich fra-gen, wohin dieses Abenteuer wohl führen wird. Was istdenn nun mit der Demografiereserve? Was ist denn nunmit dem Finanzausgleich zwischen sozialer und privaterPflegeversicherung? Mit diesem Koalitionsvertrag nahmdas Chaos seinen Lauf. Mit der Föderalismusreform zumBeispiel haben Sie das Heimrecht regelrecht an die Län-der verhökert. Aber: „Schlimmer geht immer“ ist dasMotto dieser Großen Koalition.Sie schieben die elementar wichtige Überarbeitungdes Begriffs der Pflegebedürftigkeit so weit vor sich her,dass wir in dieser Legislatur ohnehin nicht mehr mit Er-gebnissen rechnen. Stattdessen sollen demenziell Er-krankte, und zwar nur demenziell Erkrankte, pauschaleMehrleistungen bekommen.
Sie denken nicht an Behinderte, Sie denken nicht an psy-chisch Kranke. Ich werfe das hier nur so ein.
Das kann man so machen, aber ich sage Ihnen: Das löstdas dahinterstehende strukturelle Problem nicht. Das istuns zu wenig. Sie haben die wirkliche Dimension desThemas Pflege nicht begriffen. Das wird deutlich, wennvon führenden Vertretern der Koalitionsparteien zu hö-ren ist, es bestehe derzeit kein unmittelbarer Handlungs-druck, die Konjunktur laufe ja so gut. Dazu muss ich sa-gen: So viel Dreistigkeit können Sie sich offenbaraufgrund Ihrer Stimmenmehrheit zwar leisten, peinlichbleiben solche Äußerungen trotz allem.Politik soll sich an Menschen und nicht an machtver-liebten oder – vielleicht sollte ich das besser sagen –machtbesessenen Politikern orientieren. Ihre Pflegepoli-
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10680 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007
(C)
(D)
Elisabeth Scharfenbergtik hat mit Weitblick und Nachhaltigkeit überhauptnichts zu tun.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Annette
Widmann-Mauz für die Fraktion CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Zunächst einmal herzlichen Dank, FrauScharfenberg, dass Sie uns heute die Möglichkeit geben,die Beschlüsse der Großen Koalition bei erstbester Gele-genheit im Parlament vor dem Hohen Hause auch darzu-stellen. Das will ich sehr gerne tun.
Gerade Sie als Vertreterin der Fraktion der Grünenmüssen sich ja schon fragen lassen, warum Sie unsereBeschlüsse derart kritisieren, nachdem Sie selber wäh-rend der sieben Jahre Rot-Grün nichts gemacht haben.
Sie haben doch regiert. Warum beschreiben Sie hier einKoalitionstheater? Ihr Drama dauerte sieben Jahre lang,und es ist nichts passiert. Die Kulissen können wir heutenoch in der Abstellkammer bewundern. Es wurde nichtsvon dem Wirklichkeit, was Sie immer wieder hier imParlament anmahnen.Was haben Sie denn getan, um den Pflegebegriff zuerweitern?
– Frau Künast, Sie sollten wissen: Politik wird immernoch mit dem Kopf und nicht mit dem Kehlkopf ge-macht. Also bitte erst einmal zuhören. – Sie haben dochnichts für die Reform des Pflegebegriffs getan. Sie ha-ben so gut wie nichts für die Demenzerkrankten bewirkt.Wir, die Große Koalition, wir handeln. Mehr als1 Million altersverwirrte Menschen werden ab demnächsten Jahr bis zu 2 400 Euro im Jahr an Unterstüt-zung erhalten,
und zwar unabhängig, ob sie bereits heute in eine Pflege-stufe eingestuft sind oder nicht. Sie haben immer nurgroß herumgeredet, aber an dieser Stelle haben Sie über-haupt nichts gemacht.
Wir machen Politik für die Menschen. Wir tun etwasfür die Demenzerkrankten und Altersverwirrten sowieihre Familien. Wir lassen sie mit ihrem schwerenSchicksal nicht im Regen stehen. Zugleich schaffen wirdafür die Voraussetzung, dass dann, wenn die Arbeits-gruppe zur Neudefinition des Pflegebegriffs ihre Arbeitbeendet hat, sofort in eine Reform eingestiegen werdenkann. Wir warten nicht ab, sondern handeln bereits inder Zwischenzeit.Sie müssen sich auch fragen lassen, was Sie getan ha-ben, um den Wertverfall der Leistungen der Pflegeversi-cherung seit ihrer Einführung zu bekämpfen. Ich habenichts wahrgenommen. Der Gegenwert wurde geringerund geringer. Sie wissen, dass der Realwert um13 Prozent gesunken ist und die Belastungen für dieKommunen im selben Zeitraum kontinuierlich angestie-gen sind.
Immer mehr Menschen sind nämlich wieder sozial be-dürftig geworden und waren damit auf entsprechendeHilfen angewiesen. Sie haben nichts dagegen getan.
Wir lassen die Menschen nicht im Stich, sondern hebendie Pflegegeldleistungen für ambulante Pflege in allenStufen und für die Stufe III im stationären Bereich konti-nuierlich an. Wir werden außerdem dafür sorgen, dass abdem Jahr 2015 ein Inflationsausgleich etabliert wird.Was haben denn die Grünen während ihrer Regie-rungszeit getan, damit zum Beispiel Familienangehörigeeine vorübergehende Auszeit bei der Erwerbsarbeit neh-men können, um Angehörige zu pflegen? Sie habenüberhaupt gar nichts getan. Sie haben die Menschen wieauch sonst so oft im Stich gelassen.
Sie haben große Ankündigungen gemacht, aber erst dieUnion hat im Rahmen der Großen Koalition Maßnah-menpakete auf den Weg gebracht und verabschiedet, diees Menschen ermöglichen, eine Auszeit vom Berufsle-ben zu nehmen und sich bis zu sechs Monate um ihreAngehörigen zu kümmern.
Das ist richtig, und die Große Koalition deckt hiermiteine große Lücke ab, deren Schließung sehr wichtig ist.
Was haben denn die Grünen getan, um zum Beispielden Grundsätzen „ambulant vor stationär“ oder „Rehavor Pflege“ gerecht zu werden? Wir gehen hier voran.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 104. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Juni 2007 10681
(C)
(D)
Annette Widmann-Mauz
Wir schaffen kommunale Pflegestützpunkte, wir wollenintegrierte, wohnortnahe Versorgungs- und Betreuungs-angebote etablieren. Wir werden Fallmanager bei denKassen etablieren, damit die Menschen einen Ansprech-partner haben, der ihnen hilft, genau die Pflege zu erhal-ten, die notwendig ist. Wir werden Angebote und Vor-schläge zum Abbau von Schwarzarbeit und Illegalitätvorlegen.Vor allen Dingen gehen wir mit unseren Vorschlägen,um die Rehabilitation zu stärken, erfolgsorientiert anPflege heran. Wir entlohnen nicht nur dafür, dass gear-beitet wird, sondern wir belohnen, wenn erfolgreichePflege zu einer Herabstufung führt. Das ist erfolgsorien-tierte Pflege, das kommt bei den Menschen an, und da-rum kümmern wir uns ganz besonders.Die Grünen und Sie, Frau Verbraucherschutzministe-rin a. D., haben doch immer große Töne gespuckt, wennes um Transparenz ging. Dabei denke ich an Gesetzent-würfe, die Sie hier wortstark vertreten haben. Die GroßeKoalition wird jetzt hier in diesem Haus die Ergebnissedes Medizinischen Dienstes in Bezug auf ambulante undstationäre Formen der Pflege in einer patientengerech-ten, verbraucherfreundlichen Sprache veröffentlichen.Das hilft den Menschen und bringt die Klarheit, die nö-tig ist, um Missstände in der Pflege besser verhindern zukönnen.
Zu dem letzten Vorwurf kann ich nur sagen: Sie ha-ben immer gesagt, die Nachhaltigkeit fehle. Sie haben inIhrer Regierungszeit die Beiträge um 0,25 Beitrags-punkte erhöht, aber den Menschen nicht wie die GroßeKoalition gleichzeitig eine Entlastung bei der Arbeitslo-senversicherung gegeben, überhaupt nichts davon. Siehaben keine Verbesserung bei den Leistungen erreicht.Es ist schon ziemlich mutig, hier die Backen so aufzu-blasen, aber die Hausaufgaben in sieben Jahren nie erle-digt zu haben.Wir gehen die Pflegereform an, und wir kommen ei-nen deutlichen Schritt voran. Wir nehmen die Verant-wortung im Interesse der Menschen in unserem Landwahr.
Nun hat der Kollege Heinz Lanfermann für die FDP-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Alle Versuche des Schönredens nützen nichts;die Schlagzeilen sehen anders aus:
„Jungpolitiker verreißen Pflegereform“. Das sind welcheaus der Union, aber von ihr spricht ja nachher noch einer.Eine Chance wurde kläglich verpasst, sagte ProfessorRaffelhüschen,
und tatsächlich ist die Finanzreform der Pflegeversiche-rung kläglich gescheitert.
Die Gesundheitsministerin Schmidt ist gescheitert, unddies ist auch der Anfang des Scheiterns dieser Koalition.Meine Damen und Herren, vor einem Jahr, im Juli2006, sagte die Kanzlerin:Wir werden die Pflegeversicherung im nächstenJahr reformieren, aber Beitragserhöhungen stehennicht auf der Tagesordnung.
O-Ton Merkel; versprochen, gebrochen.
In der Koalitionsvereinbarung wurde Nachhaltigkeitversprochen – keine Spur davon. Tatsächlich ist es so,wie Ministerin Schmidt sagt:Dieser Kompromiss ist wegweisend.Das finde ich auch;
allerdings führt der Weg in den finanziellen Abgrund.
Eines ist doch klar: So schön es sich anhört und sonett es für die Betroffenen auch ist, mehr Leistungen be-deuten mehr Beitrag. Jetzt ist es so gerechnet, dass essich deckt. In 20, 30 Jahren deckt es sich im Umlagesys-tem überhaupt nicht mehr, weil es dann viel mehr Leis-tungsempfänger geben wird, übrigens insbesondere De-menzkranke, aber viel weniger Menschen, die dieBeiträge dafür aufbringen. Deswegen darf ich ein weite-res Zitat bringen, diesmal von Professor Rürup, auf denSie sonst eigentlich zu hören pflegen. Er hat gesagt:Durch die jetzigen Beschlüsse wird die Finanzie-rung der Pflegeversicherung nicht nachhaltiger, imGegenteil. Die Umverteilung zwischen den Genera-tionen zulasten der Jungen nimmt noch zu.
Damit wird die Reform der Finanzierungsseite, dieauf jeden Fall kommen muss, schwieriger.Die Finanzierungsfrage wird der Politik Ende dernächsten Wahlperiode wieder vor die Füße fallen.Mit der Verschiebung einer Finanzreform ver-schenkt die Koalition wertvolle Jahre.
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Heinz LanfermannDas wird aber die Hälfte von Ihnen nicht mehr betreffen.Sie wissen nur noch nicht, welche.
Meine Damen und Herren, wir sprechen hier nichtüber Kleinigkeiten. Nach den Berechnungen des For-schungszentrums Generationenverträge, vor einigen Wo-chen von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaftveröffentlicht, wird vor Umsteigen auf Kapitaldeckungbei durchschnittlicher Demografieentwicklung jedenTag ein Wert von 29 Millionen Euro verloren.
Das kann man gar nicht oft genug wiederholen. So vielwird jetzt an zukünftigen Schulden aufgebaut, die dannvon den jungen Generationen bezahlt werden müssen.Frau Ministerin, das können Sie im Kopf ausrechnen:29 Millionen Euro pro Tag bedeuten über 10,5 Milliar-den Euro im Jahr. Wenn Sie die Reform, die Sie verspro-chen haben, nicht bis 2008 hinbekommen, dann kommtsie frühestens 2011. Bis dahin vergehen noch drei Jahre;das sind also 30 Milliarden Euro. Sie stehen jetzt auf Ih-rem Konto als Schuld gegenüber der jüngeren Genera-tion.
Ihre Taktik, meine Damen und Herren von der SPD,entspringt ideologischer Verklemmung.
Sie haben die junge Generation als Geisel genommen.Sie haben den Aufbau von Kapitaldeckung verhindert;Ihre geplante Finanzverschiebung von privater zu sozia-ler Versicherung ist lediglich eine Fata Morgana undfunktioniert nicht.
Sie funktioniert von Verfassungs wegen nicht;
das hat das Innenministerium Ihnen klar und deutlichaufgeschrieben. Das Justizministerium hat es etwas ver-brämter dargestellt.
Aber Sie wollen immer noch Rücklagen wegnehmen,die in der Pflegeversicherung gebildet werden, damit dieMenschen, die dort versichert sind, ihre Pflegeleistungenim Alter mit Sicherheit bekommen, ohne überhöhte Bei-träge zu zahlen. Damit wollen Sie die kranke Pflegever-sicherung sanieren. Sie ist aber deswegen krank, weildas Umlagesystem zu Beiträgen von 4, 5 oder mehr Pro-zent führt. Sie wissen ganz genau, dass Sie diesen Pro-zess noch verstärken. Sie haben die finanzielle Katastro-phe jetzt noch vergrößert.
Die Pflegeversicherung ist ein Haus, das auf Sand ge-baut ist.
Statt ihm jetzt ein neues Fundament zu geben, machenSie einen Anstrich, setzen noch ein Stockwerk drauf undverkaufen das als große soziale Leistung und Reform.Eines sage ich Ihnen, auch den Grünen: Auch dieBürgerversicherung ist keine nachhaltige Lösung. Dasind die Finanzierungswege zwar andere – Sie wollen jaauch auf Zinsen und Mieten, die vielleicht nebenbei miteinem Häuschen eingenommen werden, zugreifen –;
aber es ist und bleibt ein Umlagesystem, und das Ver-hältnis von Jungen zu Älteren verändert sich nicht, nurweil Sie vielleicht eine Bürgerversicherung einführen.Das wird Ihnen – Gott sei Dank – auch nicht gelingen;da sind auch wir davor.
Diese Bürgerversicherung ist ein Umlagesystem unddeswegen genauso schädlich und nicht zukunftssicher.
Deswegen empfehle ich Ihnen zum Abschluss dieserRede dringend: Lesen Sie den Beschluss des FDP-Bun-desparteitags in Stuttgart am letzten Wochenende.
Der Antrag war so gut, dass er sogar einstimmig ange-nommen wurde. Das ist bei uns sehr selten; das ge-schieht nur, wenn wirklich alles stimmt. In diesem Be-schluss ist der Übergang auf ein prämienfinanziertes,kapitalgedecktes System vorgesehen, mit dem die Ab-hängigkeit von den Löhnen und von Konjunktur besei-tigt wird und durch das den jungen Leuten die Chancegegeben wird, für ihre eigenen Pflegekosten, die sieeventuell im Alter haben, vorzusorgen.Das ist der Weg der Zukunft. Sie haben jetzt dafür ge-sorgt, dass es einige Jahre länger dauert, bis wir das ver-wirklichen können. Wir werden trotzdem weiter daranarbeiten.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Bundesregierung hat nun die Bundesministe-rin Frau Ulla Schmidt das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Lanfermann, während Ihrer Rede war ichsehr froh darüber, dass nicht die überwiegende Mehrheitin diesem Land die Auseinandersetzung zwischen denGenerationen so betreibt, wie Sie es hier dargestellt ha-ben.
Man darf die junge Generation nicht vergessen. Nur, beialler Diskussion – auch ich bin sehr für Nachhaltigkeit –bitte ich, dass nicht vergessen wird, dass die Jungen da-von profitieren, dass die Alten dieses Land aufgebaut ha-ben.
Vor dem Hintergrund der Generationengerechtigkeit unddamit die jüngere Generation die Belastungen in Zukunfttragen kann, müssen wir – zum Beispiel durch Investi-tionen in Prävention, in Rehabilitation, durch bessereStrukturen und Effizienz in den Bereichen des Gesund-heitswesens, aber auch der Pflege – dafür sorgen, dassmöglichst jeder Euro zielgenau ausgegeben wird.
– Das kommt. – Die Frage ist, wohin man gehen muss.Aber hier so zu tun, als ob wir eine Politik in der Formmachen, dass die Älteren auf Kosten der Jungen leben,weise ich zurück; denn dies wird den älteren Menschen,die in diesem Lande leben, überhaupt nicht gerecht. Dasist nicht unsere Politik.
Dies ist Gott sei Dank auch nicht die Auffassung derMehrheit der jüngeren Generation, wenn solche Diskus-sionen geführt werden. Die Reform der Pflegeversiche-rung, das, was wir auf den Tisch legen, ist sogar einThema sowohl der jüngeren als auch der älteren Genera-tion; denn die ältere Generation hat ein erhöhtes Risiko,pflegebedürftig zu werden.Frau Kollegin Scharfenberg, noch vor zwei Wochenhaben Sie gesagt: Es geht nicht um Ökonomie, sondernum die Menschen und die Versorgung. Da gebe ich Ih-nen recht. Aber man muss auch dabei bleiben, wenn mansich darüber auseinandersetzt, was getan werden muss.Wir wollen für diejenigen, die einen erhöhten Hilfe-bedarf haben, die Leistungen dort ergänzen, wo wir auf-grund der Diskussionen der letzten Jahre wissen, dass sienicht ausreichend sind. Wir wissen, dass es bei vieleneinfachen Dingen Probleme gibt: An wen wendet mansich eigentlich, wenn jemand in der Familie pflegebe-dürftig wird? Wo finde ich Ansprechpartner? Diese sindnicht in allen Kommunen so ohne Weiteres zu finden.Wo gibt es Menschen, die mich beraten, was ich vomKrankenhaus bis dahin mache, wo die Pflege zu organi-sieren ist? Wir wollen dazu quartiersnah Pflegestütz-punkte aufbauen. Wir wollen, dass dort wirklich Pflege-management betrieben wird. Wir wollen, dass dortFallmanager oder Fallmanagerinnen angesiedelt sind,die sowohl denjenigen, der gepflegt werden muss, alsauch die Angehörigen sehr eng begleiten. Auch diejunge Generation ist darauf angewiesen, dass sie dieseAnsprechpartner und Ansprechpartnerinnen findet,wenn sie – das wünscht niemand – für ihre Eltern oderim Verwandtenkreis Pflege organisieren müssen. Wirwollen, dass es keine Schnittstellenprobleme mehr gibt,sondern dass wir Unterstützung zu Prävention und Reha-bilitation gewähren.
Weil wir wollen, dass so viel wie möglich in die Rehabi-litation eines älteren Menschen, der pflegebedürftig ist,investiert wird, haben wir schon mit der Gesundheitsre-form unabhängig vom Alter einen Rechtsanspruch aufRehabilitation eingeführt.
Mit der Pflegeversicherungsreform werden wir Me-chanismen einbauen, sodass die Ansprüche auf Rehabili-tation auch umgesetzt werden, weil sonst die Kranken-kassen an die Pflegekassen einen Ausgleich zahlenmüssen, damit es dort organisiert wird. Wir wollen, dassdiejenigen im professionellen Sektor, die durch gute Re-habilitation Menschen dazu bringen, dass für sie viel-leicht eine Pflegestufe niedriger notwendig ist, nichtnoch finanziell bestraft werden, sondern Übergänge or-ganisiert werden. Da sind viele weitere Dinge zu nennen.Wer sagt: „Es geht um die Menschen“, sollte sich dasEckpunktepapier ansehen. Ich sage Ihnen: Ich habe mirvieles angeschaut und viele Diskussionen mit den So-zialverbänden, mit Vertretern von Einrichtungen, mitdenjenigen, die an Modellversuchen teilnehmen, und Fa-milien geführt, die einen demenziell Erkrankten zuHause haben, bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit ge-hen und im Grunde genommen selber krank werden,weil sie zu wenig Unterstützung und Hilfe haben. Jetztkann man darüber reden, dass bis zu 2 400 Euro im Jahrfür Demenzkranke zu wenig sind. Sie finden immer ei-nen Grund dafür, dass man auch doppelt so viel Geld ge-ben kann. Aber der Weg, den wir hier gehen, nämlichdass wir nicht nur für altersverwirrte Menschen, sondernauch für psychisch kranke Menschen und geistig behin-derte Menschen – Gott sei Dank gibt es eine solche ersteGeneration in diesem Lande; im Nationalsozialismuswurden sie noch brutal ermordet – bis zu 2 400 Euro,wenn keine Eingruppierung in eine Pflegestufe notwen-dig ist, vorsehen,
um eine Betreuung zu organisieren, ist richtig. Wir sagenaber auch:
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Bundesministerin Ulla Schmidt
Dort, wo körperliche Pflege und Betreuung zusammen-treffen, wird dieses Geld additiv zur Pflegestufe hinzu-gefügt. Auch diese Leistungen werden wir anheben.
Wir werden noch etwas tun, um Familien, die dieseschwere Arbeit zu Hause verrichten, zu entlasten: DieKombination aus häuslicher Pflege und Inanspruch-nahme von Tagespflege wird gestärkt. Die Menschen,die zu Hause pflegen, brauchen manchmal Zeit, umKraft zu tanken, um sich zu erholen, damit sie dieseschwere Aufgabe erfüllen können. Wir fördern die Ta-gespflege, indem wir bei häuslicher Pflege plus Tages-pflege 150 Prozent der Leistungen geben.Sie sagen, das seien alles kleine Mäuse. Ich sage Ih-nen einmal etwas: Für die Betroffenen sind es keine klei-nen Mäuse, wenn sie in ihrem Wohnviertel Beratung er-halten, dort Menschen finden, die ihnen helfen, ihreAnsprüche durchzusetzen, die wissen, wann die häusli-che Krankenpflege kommt und wann die Pflegeversiche-rung eintreten muss, die dafür sorgen, dass eine verord-nete Rehabilitation auch wirklich in Anspruchgenommen werden kann, wenn Menschen das ehrenamt-liche Engagement unterstützen und Kurse angebotenwerden, damit denen, die zu Hause betreuen, die not-wendige Hilfe angeboten werden kann. Das hat nichtsmit „Mäuschen“ zu tun, sondern ist gelebte Hilfe undUnterstützung, damit die Menschen die Aufgaben, diesie heute erfüllen, auch künftig wahrnehmen können.Davon lebt diese Gesellschaft; um das einmal zu sagen.
Wir verbinden das mit unseren Berichten über Quali-tätssicherung, Transparenz und Einzelkräfte. Wir wollendie Möglichkeit schaffen, das Geld quasi in einem Poolzusammenzufassen, damit Schluss damit ist, dass, wennin einem Haus vier Pflegebedürftige leben, aus allen vierRichtungen jeweils ein Pflegedienst kommt. So wirdnämlich nur viel Geld für Fahrtkosten ausgegeben, aberes bleibt zu wenig Zeit für Zuwendung. Wir müssenneue Angebote schaffen. Die ambulanten Pflegedienstemüssen besser kooperieren, weil das zu einer besserenQualität der Pflege führt: mehr Zeit, mehr Gesicht, mehrZuwendung. Diese Dinge kosten zwar nicht viel Geld,haben aber viel mit Umstrukturierung zu tun. Geld kos-ten die Leistungen für Demenzkranke und die Dynami-sierung, die wir erreichen wollen, damit die Arbeit derMenschen, die in diesem Bereich arbeiten, auf Dauerfinanziert werden kann.Deswegen haben wir zwei weitere Entscheidungengetroffen: Erstens. Die Mittel für Leistungen im ambu-lanten Bereich werden angehoben, ohne dass die Mittelfür die Leistungen im stationären Bereich gesenkt wer-den; wir brauchen nämlich in beiden Bereichen Verbes-serungen.
Zweitens. Die Beitragssatzerhöhung um 0,25 Prozent-punkte. Auf 1 000 Euro sind das 2,50 Euro. Das ist gutangelegtes Geld. Mit diesem Geld können wir die Leis-tungen bis 2014 finanzieren.Wir arbeiten an einer Neudefinition des Pflegebe-griffs. Mit der Betreuung unternehmen wir den erstenSchritt. Auch die anderen Fragen, zum Beispiel, wieman zu einem gerechteren Finanzausgleich zwischenprivater und gesetzlicher Versicherung kommen kann,bleiben auf unserer Tagesordnung, auch auf meiner per-sönlichen. Es ist aber nicht entscheidend, diese Fragenjetzt zu lösen. Jetzt müssen wir uns darum kümmern,dass es den Menschen, die gepflegt werden müssen, bes-ser geht und diejenigen, die pflegen, unterstützt werden.Wir müssen dafür sorgen, dass die Struktur erhaltenbleibt, damit wir auch in zehn, 20 und 30 Jahren ein An-gebot haben.Das sind die Aufgaben, denen sich die Große Koali-tion stellt. Sie sollten sich unsere Vorschläge einmal ge-nauer anschauen.
Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Ilja Seifert
für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Ministerin,ich würde Sie für Ihre kleinen Schritte furchtbar gern lo-ben – auch kleine Schritte können gut sein –, aber ichkann nicht erkennen, in welche Richtung es geht. Das istdas Problem. Es bleibt doch alles beim Alten. Sie sagennicht und Sie schreiben es auch in kein Gesetz hinein,dass es um die Ermöglichung von Teilhabe gehen mussund nicht um „satt und sauber“. Das bleibt doch alles un-verändert.Sie sagen: Nachdem wir alles gemacht haben, wollenwir einen neuen Pflegebegriff einführen. Gerade das istaber falsch. Dann erzählen Sie hier voller Inbrunst, dassdurch Prävention und Rehabilitation Pflegbedürftigkeitvermieden bzw. hinausgezögert werden kann. Ja gerne,prima! Dafür bin auch ich. Aber wo ist denn Ihr Präven-tionsgesetz? Es ist ja nicht einmal vorgesehen, eines vor-zulegen.
In welche Richtung wollen Sie gehen? Das ist nicht zuerkennen.Ich freue mich über jede Verbesserung, selbst über diemickrigen 10 Euro, die Sie den Menschen pro Pflege-stufe drauflegen wollen. Denn ich weiß: Die Betroffenenbrauchen das dringend. Aber damit lösen Sie nicht eineinziges Problem. Sie gleichen ja nicht einmal den Infla-tionsverlust aus, der in den letzten zwölf Jahren eingetre-
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Dr. Ilja Seifertten ist, geschweige denn, dass irgendeine Verbesserungmöglich wäre.Dann das Tollste: Jetzt haben wir endlich die demen-ten Menschen einbezogen. Na, prima! Aber wie denn,bitte schön? Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen: Wermit dementen Menschen in seiner Familie zu tun hat, derweiß, dass das Allerwichtigste Kontinuität ist. Sie müs-sen immer wieder die gleichen Handlungen durchführenkönnen. Man muss sie immer wieder anleiten, diese sel-ber zu machen, damit sie sich in ihrer Lebenswelt zu-rechtfinden.Jetzt geben Sie den Menschen maximal 2 400 Euro.Das klingt ja richtig gut, aber das sind pro Tag 7 Euro.Sie geben den Menschen pro Tag maximal 7 Euro in dieHand. Was kann ich dafür an Erleichterung – das war jaIhr Ziel – für die Angehörigen schaffen? Nichts. Im Ge-genteil: Wenn wirklich jemand ambulante oder teilstatio-näre Leistungen in Anspruch nimmt, also seinen demen-ten oder psychisch kranken Angehörigen für einenhalben Tag oder vielleicht auch für einen Dreivierteltag– so weit reicht das Geld vielleicht mit Mühe und Not –in eine tagesstrukturierende Einrichtung gibt, ist das Er-gebnis, dass er verwirrter zurückkommt, als er hingegan-gen ist. Mit anderen Worten: Die sich gerade erholt ha-benden Angehörigen haben es anschließend nochschwerer, dem Dementen die Handlungen, die er sichgerade vorher angewöhnt hat, wieder beizubringen.Wenn es schlecht kommt, schaden diese 7 Euro mehr, alssie nutzen. Das Allerbeste, was passieren kann, ist, dassdie Leute sozusagen wenigstens 200 Euro mehr in ihrerFamilienkasse haben. Aber das ist nicht der Sinn derPflegeversicherung. Deswegen ist die Richtung falsch.
Ich will noch ein Wort zur Finanzierung sagen. Da-rüber rede ich immer als Letztes. Erst muss man sagen,wofür man das Geld eigentlich braucht. Wenn Sie, HerrLanfermann, die Generationen hier so gegeneinanderaufhetzen, dann müssten Sie zumindest hinzufügen, dassdie Alten diejenigen sind, die die 0,25 Prozent hundert-prozentig zahlen; die Jungen kriegen wenigstens dieHälfte abgezogen. Mindestens das müssten Sie sagen.Die jetzigen Rentnerinnen und Rentner sind am meistenin den Hintern gekniffen. – Entschuldigung, Frau Präsi-dentin, dass ich dieses Wort benutzt habe.
– Ich habe ja sofort um Entschuldigung dafür gebeten.Ich möchte noch etwas sagen. Wir tun hier immer so,als ob es sich bei der Pflege – ich spreche lieber von As-sistenz –, die die Menschen brauchen, um am gesell-schaftlichen Leben teilhaben zu können, immer umPflege für Menschen handelt, die bald sterben. Ja, das istein wichtiger Teil. Ich finde, es ist sehr wichtig, dass andieser Stelle gute Hilfe zur Verfügung steht, entwederaus der Familie oder von anderer Seite. Aber es gibtviele Menschen, zum Beispiel mit Behinderungen oderpsychischen Krankheiten, die in jungen Jahren durchausberufstätig sein wollen, obwohl sie inkontinent sind, ob-wohl sie Pflege bzw. Assistenz brauchen. Sie kommen indiesem Denken überhaupt nicht vor.
– Moment, das ist ja nun das Allerletzte. Dafür brauchtman ein Nachteilausgleichsgesetz; das weiß ich auch.Aber wenn wir diese Menschen schon in die Pflege-versicherung einbeziehen, dann müssen wir es richtigmachen. Deswegen sage ich Ihnen ausdrücklich: LassenSie uns den Zweck benennen! Die UNO-Konvention fürdie Rechte behinderter Menschen gibt den Weg vor. Inihr steht, was die Staaten zu tun haben, damit Menschenmit Behinderungen in ihrem Lande am öffentlichen Le-ben teilhaben können. Die behinderten Menschen sollensich nicht den öffentlichen Einrichtungen anpassen müs-sen, sondern umgekehrt. Tun Sie das bitte schön. Darumgeht es.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Zu tun bleibtnoch vieles.
Nun hat das Wort der Kollege Willi Zylajew für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Die Grünen werden nicht müde, uns das abzu-verlangen, was sie selbst nicht geleistet haben. FrauScharfenberg, wenn man das Bühnenbild der letzten, der15. Wahlperiode betrachtet, muss man sagen: Die Grü-nen waren nicht einmal Kulissenschieber. Das müssenSie zur Kenntnis nehmen.
Auf der Tribüne saßen vorhin einige Besucher – wieich sehe, sind sie jetzt nicht mehr anwesend –,
die sich hoffentlich noch an die Antworten erinnern, dieSie in den sieben Jahren Ihrer Regierungszeit gegebenhaben. Ich stelle fest, dass die Grünen offensichtlichnicht einmal den Unterschied zwischen der Eingliede-rungshilfe und der Pflegeversicherung kennen.
– Verehrter Herr Kollege, wir haben die Eingliederungs-hilfe entwickelt, um den Behinderten eine gute Unter-stützung zu bieten. Ich formuliere es einmal sehr dras-
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Willi Zylajewtisch: Grundsätzlich sind Behinderte nicht imklassischen Sinne pflegebedürftig. Vielmehr benötigensie eine gute Eingliederungshilfe. Den Umfang dieserLeistungen werden wir nicht schmälern.
– Es mag sein, dass die FDP das gerne tun würde. Dazusage ich nur: Nicht mit uns.Herr Kollege Seifert, ich lege Wert darauf, dass sichdie Behinderten und die Pflegebedürftigen auf uns ver-lassen können. Wir geben Antworten auf ihre Fragen.Derzeit geben wir für den ambulanten Bereich 6,4 Mil-liarden Euro aus; das ist die größte Verbesserung. DenUmfang der Geldleistungen erhöhen wir je nach Pflege-stufe um bis zu 15 Prozent – Frau Künast, wenn Sienicht so laut plappern würden, könnten Sie die Zahlen,die ich nenne, hören –, den der Sachleistungen um fast20 Prozent. Sie sagen, das sei nur eine Kleinigkeit undnicht sehr bedeutend, da es nur ein paar Euro pro Tagausmache. Natürlich geht es nur um ein paar Euro. Aberich bin sicher, dass die Menschen das zu schätzen wis-sen.
Um den Zuruf von Frau Künast aufzugreifen, sageich: Wir sind nicht feige, sondern wir handeln. Wir ge-ben den Menschen das Geld, das sie benötigen. Wirbauen die Bürokratie ab. Wir wollen gegen den durch dieBürokratie verursachten Arbeitszeitdiebstahl vorgehen.Wir wollen mehr unangemeldete Kontrollen als langevorbereitete Kontrollen. Wir wollen die zum Teil völligunsinnigen Hürden zwischen ambulant und stationär ab-bauen; das werden wir mit dieser Reform tun. Wir wer-den dafür sorgen, dass die Menschen, die in ihrer Fami-lie helfen müssen, einen Rechtsanspruch auf Pflegezeitbekommen; das ist uns wichtig.
Zu den Regelungen zur Kurzzeit- und Tagespflege.Verehrter Herr Dr. Seifert, ich verstehe nicht, dass Siesagen, ein Tagespflegeangebot für Demente sei keineHilfe. Sie leben offensichtlich in einer anderen Welt alsich. Die Angehörigen der Dementen, die ich kenne, hät-ten gerne die Möglichkeit, Tagespflege in Anspruch zunehmen, um selbst eine Entlastung zu erfahren. Das An-gebot der Tagespflege für Demente ist für Sie nichts?Bei all Ihrem Engagement muss ich sagen: An dieserStelle verstehe ich Sie wirklich nicht.Wir werden uns mit dem Thema neue Wohnformenbeschäftigen.
Da sie von allen Seiten propagiert werden, möchte ichmich dazu äußern, wie die neuen Wohnformen aussehenkönnten.
– Wir sind auch auf Ihre Vorschläge gespannt. BringenSie Ihren Sachverstand doch ein! Versuchen Sie einmal,auf vernünftige Weise mit uns zu diskutieren, statt im-mer nur dazwischenzurufen!
In jedem Wohnquartier wird es in Zukunft wohnortnaheStützpunkte geben; die Ministerin hat das angesprochen.Darum werden wir uns kümmern.Herr Lanfermann, das ist ein wegweisender Kompro-miss.
Wir tun exakt das, was Sie in vielen Veranstaltungen, andenen auch ich teilgenommen habe, gefordert haben:Wir geben für den Bereich Demenz etwa 1,5 MilliardenEuro mehr aus, wir stellen eine halbe Milliarde Euro fürdie Verbesserung der Leistungen zur Verfügung – in un-seren Veranstaltungen waren wir uns noch einig, heutesind wir es offensichtlich nicht mehr –, und wir geben jenach Pflegestufe bis zu 20 Prozent mehr aus. Das istgroßartig.Natürlich wissen wir alle, dass wir uns mit einemwichtigen Aspekt noch befassen müssen: mit der Frageder Zukunftsfestigkeit. Da müssen wir noch ein Stückweiterkommen, und darüber werden wir uns in derKoalition irgendwann verständigen können.
Da sollten wir linksrheinisch-hoffnungsfroh sein. Ichsage Ihnen: In dieser Koalition ist es uns gelungen, daszu machen,
was in der früheren Koalition nicht möglich war, näm-lich für die Pflegenden bessere Leistungen sicherzustel-len.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Ich binfertig; jetzt können Sie weiter dazwischenrufen, FrauKünast.
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hatnun das Wort die Kollegin Birgitt Bender.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Esbesteht Einigkeit in diesem Hause, dass die Pflegeversi-cherung reformbedürftig ist. Die Leistungen sind re-formbedürftig, die Organisation ist reformbedürftig, dasAngebot von Pflege- und Betreuungsleistungen ist zu re-formieren, auszubauen und in der Qualität zu verbessern.Das wissen wir alle. Wir wissen auch, dass wir in derletzten Legislaturperiode eine Reform machen wollten.Herr Kollege Zylajew, Sie wissen, dass es jedenfalls anden Grünen nicht gelegen hat.Jetzt verspricht diese Koalition Leistungsverbesse-rungen, auf die viele Angehörige und Pflegebedürftigedringend warten und über die sie sich auch freuen; daswill ich Ihnen zugestehen. Denn wir wissen, dass seitzwölf Jahren nichts verändert worden ist. Wir wissen,dass die Kaufkraft der Leistungen aus der Pflegeversi-cherung entsprechend um 15 Prozent abgenommen hat.Wir wissen, dass die Betreuung dementer Menschen inder Pflegeversicherung nicht hinreichend abgebildet ist.Sie versuchen, in all diesen Punkten etwas zu verbes-sern; das will ich Ihnen zugestehen.Natürlich werden sich die Angehörigen von dementenMenschen freuen, wenn jetzt der Betreuungsbetrag er-höht wird.
Besser wäre es allerdings gewesen, Sie hätten es ge-schafft – Sie hatten ja genügend Zeit dazu –, den Pflege-bedürftigkeitsbegriff zu überarbeiten,
damit es eben nicht mehr nur auf körperliche Verrichtun-gen ankommt, sondern damit der Pflege- und Betreu-ungsbedarf alter Menschen insgesamt berücksichtigtwird. Da sind Sie zu kurz gesprungen.
Nichtsdestotrotz schafft mehr Geld Erleichterungen,auch bei den ambulanten Leistungen. Deswegen begrü-ßen auch die Verbände, was da kommt. Aber wenn maneinmal näher hinsieht, sieht man doch: Sie versprechenjetzt Leistungsverbesserungen und verbinden das mit– durchaus überschaubaren – Beitragserhöhungen, be-haupten aber, das koste niemanden etwas, weil gleich-zeitig der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung reduziertwerde,
und auch die Rentnerinnen und Rentner koste es nichts,weil ja eine Rentenerhöhung in Aussicht stehe.Überlegen Sie einmal, was das für eine Botschaft ist!
Die Botschaft lautet: Seht her, liebe Menschen in diesemLande, Reform im Sozialsystem heißt, es gibt bessereLeistungen, und niemand muss das bezahlen.
Was glauben Sie, was der politische Preis dafür seinwird? Sie wissen genau, dass diese Rechnung bereits beider Pflege nicht stimmt; denn die Rechnung werden die,die künftig die Beiträge zahlen, bekommen. Und mit derpolitischen Rechnung für die nicht gemachten Hausauf-gaben wird sich die nächste Regierung herumschlagendürfen.
Die Politik und die Experten diskutieren seit Jahrenüber die demografische Entwicklung und erklären, dassNachhaltigkeit in den Sozialsystemen notwendig ist,dass man in den Umbau, den das mit sich bringt, schonheute zu investieren bereit sein muss, dass man denMenschen etwas abzuverlangen bereit sein muss. DochIhre übergeordnete Botschaft lautet: Was kümmert unsunser Geschwätz von gestern, wir machen bessere Leis-tungen, und das kostet auch nichts.
Das wird uns allen noch auf die Füße fallen.
Sie wissen genau, wir bräuchten in der Pflegeversi-cherung eine Demografiereserve. Sie haben sich darübergestritten, ob das in Form eines privaten Kapitelstocksoder innerhalb des Solidarsystems aufgebaut werdensoll. Ich will Ihnen zugestehen, dass es schwierig ist,sich darüber zu einigen. Aber der Vorsitzende der Jun-gen Union in Bayern hat recht, wenn er Ihnen sagt: Na-türlich wäre auch bei der Kapitalreserve mit etwas gutemWillen ein Kompromiss möglich gewesen.
Sie haben sich aber davor gedrückt, Kompromisse zufinden.
Es hat immer geheißen: Die Große Koalition löstgroße Probleme. Wie ist das hier? Von der Großen Ko-alition gibt es eine kleine Lösung für den schnellen Bei-fall, aber mit kurzer politischer Halbwertzeit. Nachhal-tigkeit in den Sozialsystemen ist für diese Koalitionoffensichtlich ein Fremdwort.
Damit haben Sie politisch versagt, meine Damen undHerren.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Hilde Mattheis für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man die Vertreterinnen und Vertreter der Opposi-tionsfraktionen bisher gehört hat, dann könnte man mei-nen, dass Sie die Leistungsverbesserungen, die wir jetztzu bieten haben, gar nicht wollen.Ich erinnere mich, dass wir gemeinsam auf Podien sa-ßen und uns eigentlich darin einig waren, dass wir imBereich der Demenz, im Bereich ambulant vor stationärund auch im Bereich der Dynamisierung Verbesserungenfür die Menschen wollen. Jetzt realisieren wir sie, undSie sitzen hier bzw. stehen am Rednerpult und agitierenin Richtung Regierungskoalition, anstatt zu sagen: Ja,das ist der richtige Schritt in die richtige Richtung.
Wenn ich daran denke, dass wir in der letzten Legis-laturperiode gemeinsam mit den Grünen einen wunder-baren Antrag zum Thema Demenz eingebracht haben, indem genau das steht, was wir jetzt umsetzen, dass es dortnämlich eine Unterstützung gibt, dann frage ich mich, obSie das vergessen haben. Das sollten Sie aber nicht ver-gessen haben; denn die Verbesserung kommt bei denLeuten richtig an. Verbesserungen für Menschen mit De-menz zu erreichen, ist genau der richtige Ansatzpunkt,den wir immer gewollt haben.
Sie sagen jetzt, dass 200 Euro pro Monat nicht beiden Menschen ankommen, weil die Ausgestaltung desPflegebegriffs noch nicht steht. Das verwundert mich,weil Sie genau wissen, dass der Pflegebegriff in einemlängeren Prozess erarbeitet werden muss. Hier gilt näm-lich: Qualität und Sorgsamkeit vor Schnelligkeit. Mit derAusgestaltung dieses neuen Pflegebegriffs werden wirgenau das erreichen, was Sie hier zu Recht fordern.
Hier liegen unsere Ansichten ja nicht auseinander.Das wurde durch diese Regierungskoalition ange-packt. Der Beirat arbeitet daran. Wir haben das hinbe-kommen. Ich sage: Es ist gut, dass das Ministerium dashinbekommen hat; denn die Neujustierung der Pflege-stufen ist wichtig, damit all die Leistungsverbesserun-gen, die wir erreichen wollen, auch greifbar werden. Derindividuelle Pflegebedarf muss nämlich ermittelt werdenkönnen. Die Teilhabe entspricht genau dem Perspekti-venwechsel, den wir wollen. Aber jetzt zu sagen, wirwerden die Pauschale nicht einführen, weil der Pflegebe-griff erst sehr viel später greift, finde ich absurd.
Von daher meine ich, dass Sie bei aller Kritik, dieauch wir an Teilen dieses Kompromisses haben – –
– Uns wäre es auch lieber gewesen, wenn die privatenPflegeversicherungen ins Solidarsystem hineingekom-men wären,
weil wir dieses Geld von den Privaten sehr gut hätten an-legen können. Das war immer unser Ansatz.
– Es geht um Solidarität, Herr Lanfermann,
nämlich um die Solidarität, die Sie unter dem StichwortGenerationengerechtigkeit vermissen lassen. Die Solida-rität in dieser Gesellschaft und die Solidarität zwischenden Generationen stehen für uns ganz oben.
Ich bin überzeugt, dass wir mit unserem Vorhaben,eine Bürgerversicherung einzuführen, genau das richtigeZiel verfolgen und dass mit diesen Eckpunkten jetzt klarist, dass Leistungsverbesserungen und Strukturreformenin dieser Großen Koalition ganz oben stehen. Wir habenes hinbekommen, dass die Finanzierung bis 2014 gesi-chert ist und dass die Lebensqualität der Menschen, aufdie es uns ankommt, nämlich derjenigen, die zu Hausezu pflegen sind, und derjenigen, die zu Hause pflegen,durch die Geldleistungen ein Stück verbessert wird.Ich glaube, mit diesen Maßnahmen – wie der durchdie Pauschale von bis zu 200 Euro monatlich erzieltenVerbesserung für Menschen, die an Demenz erkranktsind – können wir eine Entlastung der Familien in denalltäglichen Angelegenheiten bewirken. Dieses Ziel ha-ben wir in den letzten Jahren immer verfolgt, sodass zumBeispiel jemand, der eine an Demenz erkrankte Personbetreut, auch einmal selber den Arzt oder Friseur aufsu-chen kann. Solche kleinen Alltäglichkeiten sind nämlichhäufig fast unmöglich. Das wissen wir doch alle. Mandarf auch nicht kleinreden, dass wir durch die Anhebungder Beträge für ambulante Sachleistungen zum Beispielauf 450 Euro in der Pflegestufe I Verbesserungen er-reicht haben.
Ich fordere Sie auf, all das, was Sie in unseren ge-meinsamen Diskussionen mitgetragen haben, jetzt auchmitzutragen. Das, was in den Eckpunkten festgehalten
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Hilde Mattheisist – sicherlich muss man beim Referentenentwurf undim Gesetzgebungsverfahren genau auf die Einzelheitenachten –, ist der richtige Schritt in die richtige Richtung!Danke.
Nächster Redner ist nun der Kollege Jens Spahn für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Bender – Sie haben die Aktuelle Stundebeantragt –, gestatten Sie mir einige Anmerkungen zudem, was in sieben Jahren Rot-Grün stattgefunden hat.Ich bin niemand, der immer wieder nachkartet und denanderen vorhält, was sie damals hätten tun sollen. Aberwenn man Ihre Ausführungen verfolgt hat und bedenkt,dass zum Zeitpunkt Ihrer Regierungsübernahme 1998 inder Pflegeversicherung eine Reserve in Höhe von5 Milliarden Euro vorhanden war, die dann über die vie-len Jahre langsam abgebaut wurde,
und Ihnen in dieser Situation nur Beitragserhöhungen fürRentner und Kinderlose eingefallen sind, meine ich, dassSie zwar in der Sache jederzeit gerne mit uns diskutierenkönnen; es wäre aber angebracht, dafür eine andere Ton-lage zu wählen.
Ich möchte kurz drei Punkte aufgreifen, die wir imGesetzgebungsverfahren vorschlagen wollen. Erstensgeht es um mehr Transparenz. In einer Anhörung zurPflege und Entbürokratisierung, die wir soeben durchge-führt haben,
ist sehr deutlich geworden, dass gerade Angehörige wieauch Pflegebedürftige mehr Transparenz hinsichtlich derQualität von Einrichtungen und entsprechende Indikato-ren in allen Punkten – seien es so banale wie Zufrieden-heit, Essen oder Sauberkeit, seien es Krankheitsfragenoder bestehende Pflegeprobleme – wollen. Das wollenwir auf Grundlage der Heimprüfungsberichte, aber auchmöglicher anderer Daten erreichen.Zweitens geht es um die Frage der Flexibilität. In derDebatte darüber, wie wir in einer älter werdenden Ge-sellschaft leben und über die derzeit übliche Unterschei-dung zwischen ambulanter und stationärer Pflege hinausflexiblere Angebote schaffen können, wie wir entspre-chende Zwischenschritte einbauen können, spielt dieGenerationengerechtigkeit eine mindestens genausogroße Rolle wie die Frage, wie wir in Zukunft in diesemLand gemeinsam alt werden wollen. Zu diesem Zweckwollen wir bei der Förderung betreuter Wohnformen,beim Fallmanagement und beim Schnittstellenmanage-ment viele Schritte, wie ich meine, in die richtige Rich-tung gehen.Der dritte wichtige Punkt betrifft
– das wurde im Grunde auch immer von allen unter-stützt – die Verstärkung der ambulanten Pflegeleistun-gen,
notwendige Verbesserungen bei der Berücksichtigungdemenzieller Erkrankungen und die Erhöhung der Leis-tungen.Klar ist aber auch, Herr Kollege Seifert – Sie habendie Zahlen angesprochen –, dass die Pflegeversicherungimmer eine Teilkostenversicherung gewesen ist. Dassollten wir immer wieder deutlich machen; denn es istnicht allen bewusst.
Sie ist anders als die gesetzliche Krankenversicherungnie dazu gedacht gewesen, alle Kosten zu decken; siesoll vielmehr den Menschen Unterstützung bieten. Des-wegen sollten wir gemeinsam dafür werben und kämp-fen, dass zusätzlich privat Vorsorge betrieben wird. Werin meinem Alter, also frühzeitig anfängt, vorzusorgen,wird auch die Chance haben, mit relativ geringen Beiträ-gen über ein langes Leben entsprechende Vorsorge zutreffen.Nun komme ich, wie ich zugeben muss, zu einemWermutstropfen für die jüngeren Abgeordneten, auch inder Union. Dabei geht es mir, Frau Ministerin, nicht umeinen Kampf von Jung gegen Alt, sondern um die Frage,ob diejenigen, die heute die Beiträge zahlen, dies im Ver-trauen darauf tun können, dass sie dann, wenn sie altsind, tatsächlich noch entsprechende Leistungen bekom-men werden. Es darf nicht dazu kommen, dass sie zwarBeiträge zahlen, aber dann, wenn sie selbst pflege-bedürftig werden – das mag im Jahre 2030 oder 2040oder wie bei mir vielleicht erst im Jahre 2050 sein –,keine angemessene Leistungen erhalten werden. Es wäreder richtige Schritt gewesen – so war unsere Idee –, da-für eine Kapitalrücklage zu bilden. Ich bedaure es sehr,dass es ein Junktim zwischen einer zumindest verfas-sungsrechtlich bedenklichen und grundsätzliche Pro-bleme nicht lösenden Maßnahme wie dem Ausgleichzwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherungund einer zukunftsweisenden, zukunftsfesteren und denMenschen gegenüber ehrlicheren und generationenge-rechten Kapitalrücklage gegeben hat.Umso wichtiger ist es, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, zum einen anzuerkennen, dass das, was die großeKoalition vorlegt, eine sehr gute und den Bedürfnissender Menschen angepasste Lösung für aktuelle Problemeist,
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Jens Spahnnicht weniger, aber – das ist nun einmal koalitionsbe-dingt – am Ende leider auch nicht mehr. Damit es mehrwird und wir nicht nur aktuelle, sondern durch den Auf-bau einer Kapitalrücklage auch zukünftige Probleme lö-sen, kann ich Sie alle nur herzlich einladen, für ein sol-ches Modell zu werben. Je früher wir damit beginnen,eine Kapitalrücklage aufzubauen, desto besser wird esam Ende sein. Dann werden auch die heute Jungen,wenn sie im Jahre 2040 oder im Jahre 2050 alt sein wer-den, noch auf gute Pflegeleistungen hoffen können.Danke schön.
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Margrit Spielmann
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über viele wichtige Punkte, konkrete Maßnahmen und
zukunftsfähige Strukturen haben sowohl die Ministerin
als auch meine Kolleginnen und Kollegen schon gespro-
chen. Ich möchte noch auf einen für mich wichtigen
Punkt hinweisen, bei dem es darum geht, die Pflege zu-
kunftsfähig zu machen: auf die Stärkung der ambulanten
Pflegestrukturen, auf ambulante Pflegeformen durch die
von uns jetzt verabredete integrierte wohnortnahe und
quartierbezogene Versorgung und die damit verbundene
Bildung eines Pflegestützpunktes bzw. eines Pflegekom-
petenzzentrums.
Aus unseren Wahlkreisen wissen wir alle, welcher
Odyssee manche Angehörigen und Betroffenen ausge-
setzt sind, wenn sie ein entsprechendes Angebot suchen.
Deshalb findet es meine volle Unterstützung, dass
Pflege, Betreuung, Beratung und Information oder, Herr
Dr. Seifert, auch Assistenz aus einer Hand zu erhalten
sein sollen.
Wo liegen die Vorteile eines solchen Pflegestützpunk-
tes bzw. Pflegekompetenzzentrums für die Angehörigen
und Betroffenen? Von diesem Pflegestützpunkt sollen
Beratungen, Informationen und der Pflegebedarf auf
kommunaler Ebene wohnortnah und quartierbezogen,
wie ich bereits sagte, und unter Berücksichtigung der
Träger und der öffentlichen Verwaltungen aufeinander
abgestimmt und realisiert werden. Dieser Dialog, diese
Zusammenarbeit findet, wie wir alle wissen, zurzeit
nicht statt. Von den Pflegestützpunkten sollen Verträge
zur integrierten wohnortnahen Versorgung und Betreu-
ung mit Krankenkassen, Pflegekassen, Kommunen und
Leistungserbringern geschlossen werden. Dabei soll den
Pflegestützpunkten von der Pflegeversicherung eine An-
schubfinanzierung für zwei Jahre gewährt werden. Ein
Pflegestützpunkt soll demnach für 20 000 Einwohner da
sein und mit 15 000 Euro gefördert werden. Dies ist, wie
ich denke, ein guter Anfang.
Mir ist wichtig, noch darauf hinzuweisen, dass ein
Pflegestützpunkt nicht im vierten Stock liegen darf, son-
dern behindertengerecht ausgestaltet werden sollte.
Ich wünsche mir außerdem sehr, dass ein solcher Stütz-
punkt ein Ort der Begegnung, der Information, der Bera-
tung und vielleicht auch des geselligen Lebens in einem
wohnortnahen Quartier ist.
Der Pflegestützpunkt wird durch die Pflegekassen
verpflichtet, den pflegebedürftigen Versicherten ein
Pflegemanagement anzubieten, welches eine zielgenaue
Unterstützung für jeden Einzelnen zu gewährleisten hat.
Dazu gehört, dass künftig eine Fallmanagerin oder ein
Fallmanager als Ansprechpartner für jeweils bis zu
100 pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen
da sein wird.
Durch einen solchen Stützpunkt werden nach meiner
Meinung des Weiteren die Prävention und die Rehabili-
tation gestärkt. Das ist unter Nachhaltigkeitsgesichts-
punkten besonders wichtig und soll künftig mit finan-
ziellen Anreizen gefördert werden. Durch aktivierende
Pflege und Rehabilitation sollten wir Verbesserungen am
Gesundheitszustand der Pflegebedürftigen erzielen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass ein solcher Pfle-
gestützpunkt generationenübergreifendes und bürgerli-
ches Engagement zu unterstützen hat; denn künftig wer-
den die Pflegekassen verpflichtet, gemeinsam mit den
Bundesländern und den übrigen Vertragspartnern darauf
hinzuwirken, dass bürgerlich Engagierte noch besser in
ambulante vernetzte Versorgungsstrukturen auf kommu-
naler Ebene einbezogen werden. Ich denke hier an Be-
treuungsgruppen für demenziell Erkrankte, Helferkreise,
Selbsthilfegruppen, Agenturen für die Vermittlung von
Betreuungsleistungen, Dienstleistungen und Teilhabe.
Es sollen begleitende Schulungen bürgerlich engagierten
Helfern für Organisation und Planung ein entsprechen-
des Betätigungsfeld bieten.
Der Pflegestützpunkt ist deshalb ein absolut richtiger
Schritt in die richtige Richtung.
Dadurch wird erreicht, dass Information, Beratung und
Unterstützung vor Ort stattfinden, dass das Prinzip der
Pflege aus einer Hand umgesetzt wird, dass in der Pflege
auf die individuellen Bedürfnisse der Menschen durch
sachgerechtes Fallmanagement eingegangen werden kann
und dass eine solche Pflege finanziert werden kann.
Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin MariaEichhorn für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die beschlossenen Eckpunkte für eine Qualitätsreformder sozialen Pflegeversicherung sind eine gute Botschaftfür Millionen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Esbesteht keinerlei Anlass, die Reform kleinzureden. Mitden beschlossenen Verbesserungen im Leistungsspek-trum dieses Sozialversicherungszweigs erfüllt die GroßeKoalition eine zentrale Zusage: Die Leistungsfähigkeitder Pflegeversicherung wird erhalten und weiterentwi-ckelt. Das ist nicht selbstverständlich. An die Grünen alsAntragsteller dieser Aktuellen Stunde und an alle Kriti-ker der jüngsten Koalitionsbeschlüsse richte ich den Ap-pell: Messen Sie unsere Beschlüsse an den künftigenumfassenden Leistungsverbesserungen und nicht an Ih-ren ideologischen Vorstellungen!
Die Reform wird den Grundsatz „ambulant vor statio-när“ stärken. Damit entsprechen wir dem Bedürfnis derPflegebedürftigen, so lange wie möglich in ihrer ge-wohnten Umgebung zu bleiben sowie im Kreis ihrerVerwandten und Freunde zu sein.
Die Reform bringt die Hilfe näher an die Pflegebedürfti-gen und ihre Angehörigen. Ich nenne als Beispiele nurdie Einrichtung der wohnortnahen Pflegestützpunkteund die Fallmanager. Diese qualitativen Neuerungen be-deuten eine wichtige Entlastung der Angehörigen, indemsie beratende Unterstützung beim Umgang mit den ver-schiedenen Instrumenten des Pflegesystems leisten. Esist nicht einfach, zu durchschauen, was für den einzelnenPflegebedürftigen das Beste ist.Mit der Reform werden auch die Rehabilitations- undPräventionsanstrengungen verstärkt. Es ist sehr zu be-grüßen, dass die Anstrengungen in Zukunft mehr daraufgerichtet werden, den Gesundheitszustand der Pflegebe-dürftigen wieder zu verbessern bzw. zumindest eine Ver-schlechterung zu vermeiden.Die meisten Menschen erhoffen sich, zu Hause ge-pflegt zu werden. Die Einführung der Pflegezeit ist invielen Fällen Voraussetzung dafür, dass dieser Wunscherfüllt werden kann, und ich begrüße diesen Schritt auchaus familienpolitischer Sicht ganz besonders. Mein Ap-pell geht jetzt an die Wirtschaft, nicht gegen diese Ein-führung zu wettern, sondern konstruktive Lösungen zurUmsetzung zu erarbeiten.
Die Leistungsverbesserungen sind vor allem auch einwichtiges frauenpolitisches Signal. 80 Prozent der pfle-genden Angehörigen sind Töchter, Schwiegertöchter,Mütter oder sonst nahestehende Frauen. Ihnen und allden Helferinnen und Helfern in der ambulanten und sta-tionären Pflege gilt unser Dank. Die gesellschaftlich oft-mals viel zu gering erachtete aufopferungsvolle Arbeitverdient unsere volle Unterstützung.
Unseren Dank und unsere Anerkennung verdienenaber auch die vielen ehrenamtlichen Helferinnen undHelfer. Oft geht es nur darum, dem Pflegebedürftigenzusätzliche Zeit zu schenken, die das Pflegepersonal we-gen des Zeitdrucks nicht aufbringen kann. Das hilft demPflegebedürftigen und bringt Lebensqualität.Damit den Pflegekräften wieder mehr Zeit für dieVersorgung und Betreuung zur Verfügung steht, müssensie von unnötiger Bürokratie entlastet werden. Bereits inder letzten Legislaturperiode hat die CDU/CSU-Fraktionunter Federführung der Arbeitsgruppe Familie dazu Vor-schläge vorgelegt. Als Folge der Föderalismusreform istdas Heimgesetz, um das es hier vor allem geht, jetzt al-lerdings Aufgabe der Länder.
Aber auch der Bund wird, soweit notwendig, seineHausaufgaben machen.Die beschlossenen Leistungsverbesserungen bedeu-ten vor allem eine Qualitätssteigerung im Bereich derPflege. Richtig ist, dass diese Verbesserungen schonlange gefordert werden. Richtig ist aber auch, dass erstdiese Große Koalition die Kraft hatte, diese Verbesse-rungen in der Praxis umzusetzen.
Wer sich jetzt davon überrascht zeigt, dass die beschlos-senen Maßnahmen zu einem Mehrbedarf an Beitragsmit-teln führen, argumentiert unredlich. Wenn jetzt ausge-rechnet Sie von den Grünen in der Aktuellen Stunde dasErreichte kleinreden wollen, dann seien Sie daran erin-nert:
Mit dem aktuellen Reformvorhaben arbeitet die GroßeKoalition Versäumnisse auf, für die Sie mitverantwort-lich sind.Über die Bedeutung der Pflegereform, vor allem imqualitativen Bereich, ist bereits vieles gesagt worden.Darüber hinaus ist aber eines zu berücksichtigen: DieZahl der Pflegebedürftigen hat seit 1997 um 17,5 Pro-zent zugenommen. Rechnet man die demenziell Er-krankten dazu, liegt die Zahl der Pflegebedürftigen weitüber der 2-Millionen-Marke. Für all diese Betroffenenund ihre Angehörigen ist die erzielte Verständigung überdiese Reform eine gute Botschaft.
Diese Reform dient den Menschen, und darauf kommt esan.
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Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Dr. Carola
Reimann für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Auch ich begrüße sehr, dass wir jetzt eineAktuelle Stunde zu diesem Thema haben. Das gibt unsGelegenheit, die Eckpunkte sofort darzustellen – das hatdie Kollegin Widmann-Mauz auch schon gesagt – undauch gleich aufkeimenden Legendenbildungen vorzu-beugen; Stichwort: Behinderte sind nicht dabei und ähn-liche Dinge.Ich weiß ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Siewahrscheinlich gedacht haben, Sie könnten jetzt einFeuerwerk der Kritik zünden,
aber Sie verfallen hier natürlich in die alten Verhaltens-muster, die wir schon aus den Beratungen zur Gesund-heitsreform kennen.
Jedenfalls erinnert mich das daran. Auch bei der Ge-sundheitsreform wurden die vielen und umfangreichenVerbesserungen, die wir jetzt umsetzen, verschwiegenund kleingeredet, und bei der Pflege reden Sie jetzt voneiner Minireform. Bei allem Respekt: Das ist maximalerUnsinn;
denn wir haben zahlreiche Veränderungen im Leistungs-und Strukturbereich. Das wird die Lebenssituation vonganz vielen Pflegebedürftigen und ihren Angehörigenspürbar verbessern. Diese Einschätzung teilen auch dieVerbände. Das sieht man am Presseecho, das anders ist,als es hier immer dargestellt worden ist.Ich erinnere mich auch noch ganz gut an die letzteAktuelle Stunde zu diesem Thema im vergangenen No-vember. Da hatten wir Gelegenheit, die Ziele der damalsnoch zukünftigen Reform darzulegen. Ich nenne gernnoch einmal die Ziele, die wir damals aufgelistet haben.Wir wollten die Leistungen der Pflegeversicherung, dieseit 1995 unverändert geblieben sind, dynamisieren, dieambulante Pflege stärken und vor allem die Situation de-menzerkrankter Menschen mit ihrem besonderen Hilfe-bedarf verbessern.
Wenn man jetzt einen Blick in die Eckpunkte wirft,Frau Kollegin Bender, dann sieht man klar: Ziel erreicht.Gerade im Bereich der ambulanten Pflege sind wir einenganz wichtigen Schritt vorangekommen. Die KolleginSpielmann hat gerade die Bildung der quartierbezogenenPflegestützpunkte erwähnt. Sie sollen wohnortnahe An-laufstellen für Pflegebedürftige und vor allen Dingen fürderen Angehörige werden, die Rat und Orientierung ge-ben, um die möglichen Hilfeangebote, die es schon gibt,besser aufeinander abzustimmen und miteinander zuvernetzen. Das ist eine große Hilfe gerade für die Ange-hörigen, die durch eine – auch das geschieht sehr häufig –plötzlich eintretende Pflegebedürftigkeit oft überfordertwerden. Sie hat von Odyssee gesprochen. Das wird unsoft so berichtet, und es wird so empfunden.
Zugleich kann so den Pflegebedürftigen schneller undzielgerichteter geholfen werden. Das soll durch die Un-terstützung eines Fallmanagements ergänzt werden, dasim Rahmen dieser Pflegestützpunkte angeboten werdenkann. So schaffen wir neue, ergänzende Strukturen, diedie ambulante Pflege stärken und die den Zugang zu ei-ner passgenauen Hilfe für den jeweiligen Pflegebedürfti-gen und seine individuell-persönlichen Pflegebedürf-nisse und -erfordernisse erleichtern. Ich denke, FrauScharfenberg, das ist nutzerorientierte Pflege. So nennenSie das dann.Neben der Stärkung der ambulanten Versorgung ent-hält das vorliegende Paket noch weitere wichtige Maß-nahmen. Ich will die Einführung der Pflegezeit nennen.Die war von ganz vielen gewünscht. Ich bedaure, dass esnur Menschen in größeren Betrieben und nicht in Klein-betrieben ermöglicht wird, diese Pflegezeit für sich inAnspruch zu nehmen. Ich glaube, dass Familien sich daswünschen. Wir haben Anreize zu aktivierender Pflege– die Ministerin hat es genannt –, Rehabilitation in denPflegeeinrichtungen und den Abbau von Schnittstellen-problemen vorgesehen. Nicht zuletzt werden wir mit derPflegereform das bürgerschaftliche Engagement stärkerunterstützen; denn – ich kann es nicht oft genug sagen –gerade vor dem Hintergrund einer älter werdenden Ge-sellschaft ist die Bedeutung des ehrenamtlichen Engage-ments gar nicht hoch genug einzuschätzen. Da wirdgroßartige Arbeit geleistet. Die gilt es noch mehr zu un-terstützen.
Die Anhebung der Sachleistungen im ambulanten Be-reich sowie des Pflegegeldes, die Strukturreformen undweitere Leistungsverbesserungen sind nicht zum Nullta-rif zu haben. Ich muss hier in aller Deutlichkeit und auchfür die jüngere Generation sagen: Es muss uns etwaswert sein, dass pflegebedürftige Menschen ein möglichstselbstbestimmtes und würdevolles Leben führen können.
Für uns Sozialdemokraten ist bei der Finanzierungentscheidend – das ist hier immer ein wichtiges The-ma –, dass jeder entsprechend seiner Leistungsfähigkeitbeteiligt wird und dass die paritätische Finanzierung vonArbeitnehmern und Arbeitgebern erhalten bleibt. Das istuns gelungen.
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Dr. Carola ReimannNatürlich hätten wir, gerade was das Verhältnis von pri-vater und gesetzlicher Pflegeversicherung anbelangt,gerne mehr umgesetzt, und natürlich – die KolleginMattheis hat es schon gesagt – bleibt für die SPD auch inder Pflege die solidarische Bürgerversicherung das Ziel.Aber mit den jetzt erzielten Strukturreformen und Leis-tungsausweitungen bringen wir spürbare Verbesserun-gen und zusätzliche Unterstützung für zahlreiche Pflege-bedürftige auf den Weg. Die Dementen sind hierangesprochen worden. Für sie haben wir wichtige Hilfenauf den Weg gebracht. Man sollte auch als Opposition– an sie möchte ich appellieren – gerade im Hinblick aufdie Betroffenen keine Zweifel und Verunsicherung we-cken.Danke schön.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch wenn die Opposition versucht hat, diese Reformkleinzureden, sage ich: Diese Reform ist ein Riesenfort-schritt für die fast 2 Millionen Pflegebedürftigen und de-ren Angehörige. Wer die in dieser Aktuellen Stunde vonvielen Rednerinnen und Rednern der Koalition darge-stellten Leistungsverbesserungen kleinreden will, derlebt nicht mehr in dieser Welt und hat überhaupt keineAhnung von den Problemen der Pflegebedürftigen undihrer Angehörigen.
Ich finde, dass diese Reform, was die Leistungsver-besserungen und die Strukturverbesserungen anbelangt,auch nachhaltig ist. Bezüglich der Finanzierung kannman sicherlich geteilter Meinung sein – ich komme da-rauf nachher noch zu sprechen –; wie bekannt ist, gab eszwischen der Union und uns unterschiedliche Auffas-sungen. Ich frage Sie jetzt aber allen Ernstes: Sollen wirIhrer Auffassung nach nur deswegen warten, demenz-kranken Menschen schon jetzt, also im Vorfeld, be-stimmte Leistungen zukommen zu lassen, weil der Pfle-gebegriff noch nicht neu definiert ist?
Sollen wir damit warten, den Umfang der ambulantenLeistungen schrittweise in Richtung stationäre Leistun-gen zu erweitern? Sollen wir damit wirklich warten?
Sollen wir damit warten, die Strukturen ambulanter Be-handlung vor Ort – sie sind bei weitem noch nicht so,wie wir sie brauchen werden, wenn meine Jahrgängewomöglich pflegebedürftig sind – zu verbessern? Sollenwir diese Strukturreformen noch weiter aufschieben?Ich finde, wir dürfen damit nicht warten, auch wennwir den Pflegebegriff noch nicht abschließend definierthaben – wir haben auf diesem Gebiet noch etwas zu tun;das bestreiten wir überhaupt nicht –, auch wenn wir überdie Frage der nachhaltigen Finanzierung weiter diskutie-ren müssen, um Mehrheiten zu finden und so eine nach-haltige Finanzierung zustande zu bringen. Dass auch indiesem Bereich noch etwas zu tun ist, bestreiten wirebenfalls nicht. Aber hätten wir diesen Schritt jetzt nichtvollziehen sollen? Hätten wir ernsthaft damit warten sol-len? Ich hätte dann gern einmal Ihre Reden zu diesemThema in einer Aktuellen Stunde gehört.
Ich glaube, dass wir gut daran tun, diese Maßnahmenjetzt durchzuführen.Ich möchte noch auf einige Punkte eingehen.Herr Lanfermann hat etwas zur Generationengerech-tigkeit gesagt und auf den Präsidiumsbeschluss der FDPBezug genommen.
– Nein, oben auf meinem Papier steht „Präsidiums-beschluss der FDP“.
Es mag sein, dass Ihr Parteitag das beschlossen hat. Dasist umso schlimmer; denn dieser Beschluss bedeutetnichts anderes, als dass Sie die solidarische gesetzlichePflegeversicherung auf Sicht gesehen abschaffen wollen.Wie mir der Kollege gerade bestätigt, stimmt das. Ichkann Ihnen nur viel Vergnügen dabei wünschen, damit inden nächsten Bundestagswahlkampf zu ziehen. DieMenschen werden begeistert sein, wenn die FDP diePflegeversicherung und die Hilfen, die damit verbundensind, abschaffen will.
– Ihr Kollege hat doch eben genickt.
Der zweite Punkt ist der – für meine Begriffe herbei-geredete – Generationenkonflikt. Unser größtes Problemmit der Finanzierung der gesetzlichen Pflegeversiche-rung ist, dass diese Finanzierung höchst unsolidarischund höchst ungerecht erfolgt. Manchmal machen es ein-fache Zahlen deutlich: Wenn man den Umfang der Leis-tungsausgaben der gesetzlichen Pflegeversicherungdurch die Anzahl der Versicherten teilt, dann lautet dasErgebnis 240,36 Euro. Stellt man die gleiche Rechnungfür die private Pflegeversicherung an, dann lautet das Er-
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Elke Fernergebnis 60,42 Euro. Ich muss einmal folgende Frage stel-len: Was ist daran gerecht, dass in der einen Versiche-rung jeder Versicherte im Jahr im Durchschnitt etwa240 Euro aufbringen muss, während in der anderen Ver-sicherung jeder Versicherte im Jahr im Durchschnitt nuretwa 60 Euro aufbringen muss, obwohl beide Versiche-rungen exakt die gleichen Leistungen erbringen?
Das ist nicht gerecht.
– Ach, Herr Lanfermann, wenn man laut schreit, hat mannoch lange nicht recht, und in diesem Falle haben Siewirklich unrecht. Ihnen geht es eigentlich nur um dieGewinnmaximierung der privaten Versicherer, aber nichtum die Frage, wie Menschen, wenn sie pflegebedürftigsind, versorgt werden.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist: Wirals SPD werden weiter für eine solidarisch finanziertePflegeversicherung kämpfen. Unser Ziel ist die Bürger-versicherung bei der Pflege, in die alle einbezogen wer-den und an deren Finanzierung sich alle vor allen Dingensolidarisch, gerecht und nach ihrer jeweiligen Leistungs-fähigkeit beteiligen.
Dieser erste Schritt der Reform, den wir jetzt vor unshaben, ist ein guter Schritt. Er ist im Sinne der Pflegebe-dürftigen und ihrer Angehörigen. Was die Frage derFinanzstrukturen anbelangt – das ist der nächste Schritt –,werden wir im Bundestagswahlkampf unsere Konzepteaustauschen.
Dann werden die Menschen entscheiden, ob sie ein Prä-mienmodell, ein Abschaffungsmodell oder das Modelleiner solidarischen Bürgerversicherung wollen.
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 21. Juni 2007,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen