Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich und wünsche uns einen guten Morgen und guteBeratungen.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten können,müssen wir fünf vom Deutschen Bundestag in den Stif-tungsrat der neu errichteten Bundesstiftung Baukulturzu entsendende Mitglieder wählen. Von den Fraktionensind dafür vorgeschlagen: die Kollegin Renate Blank fürdie Fraktion der CDU/CSU, die Kollegin Petra Weis fürdie Fraktion der SPD, der Kollege Joachim Günther fürdie Fraktion der FDP, die Kollegin Heidrun Bluhm fürdie Fraktion Die Linke und die Kollegin Undine Kurthfür die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Sind Siedamit einverstanden? – Das scheint der Fall zu sein. Ichhöre jedenfalls keinen Widerspruch dazu. Dann sind diegenannten Damen und der Kollege Joachim Günther inden Stiftungsrat der Bundesstiftung Baukultur gewählt.Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen teilt mit,dass für den kürzlich aus dem Deutschen Bundestag aus-geschiedenen Kollegen Matthias Berninger die KolleginKerstin Andreae ordentliches Mitglied im Beirat derBundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommu-Redenikation, Post und Eisenbahnen werden soll. Sind Sieauch mit diesem Vorschlag einverstanden? – Das scheintder Fall zu sein. Dann ist die Kollegin Kerstin Andreaein den Beirat der Bundesnetzagentur gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:Haltung der Bundesregierung zur Raketenstationierungin den Ländern Osteuropas
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zurFahrpersonalgesetzes– Drucksache 16/4691 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungzung den 22. März 2007.00 Uhrb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke,Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDPChancen für Frauen auf dem Ausbildungs- undArbeitsmarkt verbessern– Drucksache 16/4737 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und SozialesZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN:Zustand der Deutschen Bahn AG vor dem BörsengangZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam Gruß,Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDPRücknahme der Vorbehaltserklärung der BundesrepublikDeutschland zur Kinderrechtskonvention der VereintenNationen– Drucksache 16/4735 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAuswärtiger AusschussZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten AngelikaBrunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPBodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestalten – Subsi-textdiarität sichern, Verhältnismäßigkeit wahren– Drucksache 16/4736 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Die Tagesordnungspunkte 8, 12 a und 15 werden ab-gesetzt und der Tagesordnungspunkt 19 b zusammen mitdem Tagesordnungspunkt 4 beraten. Außerdem ist zumspunkt 12 b eine Aussprache nicht mehrr soll bei den Beratungen ohne Ausspracherden. Durch die Absetzungen und Verschie-en sich Auswirkungen auf die Reihenfolge Änderung des Tagesordnungvorgesehen. Ebehandelt webungen ergebder Tagesordnungspunkte. Die Tagesordnungspunkte 10,
Metadaten/Kopzeile:
8836 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert Lammert14, 16 und 18 werden jeweils vorgezogen und nach denTagesordnungspunkten 7, 9, 11 und 13 aufgerufen.Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Das ist offensichtlich der Fall. Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist das so beschlossen.Bevor wir nun in die Tagesordnung eintreten, möchteich darauf hinweisen, dass heute auf den Tag genau vor175 Jahren Johann Wolfgang von Goethe gestorben ist.
Da in einem beachtlichen Teil des deutschen Feuilletonsin den vergangenen Tagen die ausdrückliche Besorgnisgeäußert wurde, dass die deutsche Öffentlichkeit davonnicht einmal Kenntnis nimmt, will ich dem durch aus-drückliche Erwähnung entgegentreten.
Für ein anderes ähnlich bedeutendes Ereignis mussman diese Besorgnis nicht haben, aber es verdient ganzgewiss auch Erwähnung: Gestern hat Hans-DietrichGenscher seinen 80. Geburtstag gefeiert.
Als ich ihm gestern neben meinen persönlichenGlückwünschen die Huldigung des Deutschen Bundesta-ges zu Füßen legen wollte, hat er gemeint, das sei dochvielleicht eher eine Übertreibung. Ich habe in Aussichtgestellt, dass sich der Deutsche Bundestag meiner Ein-schätzung ganz sicher mit breiter Mehrheit anschließenwerde.
– Ich bedanke mich für die prompte Bestätigung undbringe meine Bewunderung vor allen Dingen für dieKolleginnen und Kollegen zum Ausdruck, die es von dergestrigen Veranstaltung rechtzeitig zur heutigen Sitzunggeschafft haben.
Damit rufe ich jetzt endlich den Tagesordnungs-punkt 3 auf:Vereinbarte Debatte50. Jahrestag der Römischen VerträgeNach einer interfraktionellen Vereinbarung soll dieseAussprache zwei Stunden dauern. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so vereinbart.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst der Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren für dieSPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Lassen Sie mich meine Rede mit einem Traum beginnen.Es ist Jeremy Rifkins Traum von Europa, der Traumeines Amerikaners. Ich darf zitieren:Der europäische Traum stellt Gemeinschaftsbezie-hungen über individuelle Autonomie, kulturelleVielfalt über Assimilation, Lebensqualität über dieAnhäufung von Reichtum, nachhaltige Entwick-lung über unbegrenztes materielles Wachstum,spielerische Entfaltung über ständige Plackerei,universelle Menschenrechte und die Rechte der Na-tur über Eigentumsrechte und globale Zusammen-arbeit über einseitige Machtausübung.Wenn Rifkin von diesem europäischen Traum spricht,dann meint er nicht, dass es sich um eine irreale Vorstel-lung handelt, sondern dass dieses Europa, diese EUwirklich traumhaft ist. Mancher von uns mag von un-gläubigem Staunen erfasst sein. Mancher mag mitleidiglächeln. Das soll die EU sein? Unser bürokratisches,schwerfälliges Monster, das so weit von den Bürgernentfernt und so wenig durchschaubar ist? Diese EU, dieein großer, aber kalter gemeinsamer Markt ist? Ja, dieEU ist mehr als Kohle und Stahl, Agrarsubventionen undChemikalienrichtlinie.Der 50. Geburtstag der Römischen Verträge ist An-lass, innezuhalten, um sich der Anfänge zu erinnern, Bi-lanz zu ziehen und nach vorne zu schauen. Schon im19. Jahrhundert sahen vereinzelte Visionäre die Zukunftunserer europäischen Nationalstaaten in einem geeintenEuropa. Die SPD sprach in ihrem Heidelberger Pro-gramm bereits 1925 von der zwingend gewordenenSchaffung einer europäischen Wirtschaftseinheit und derBildung der Vereinigten Staaten von Europa.
Doch die Schrecken des Ersten Weltkrieges hattennoch nicht ausgereicht, um die Menschen zusammenzu-führen. Erst die Barbarei des Nationalsozialismus mit ih-ren schrecklichen Folgen – Tod und Leid von MillionenMenschen, die Zerstörung altehrwürdiger Städte undhochleistungsfähiger Industrien – schuf die Bereitschaft,aufeinander zuzugehen. Die Gründungsväter der europäi-schen Vereinigung haben teilweise schon während desZweiten Weltkrieges Ideen entwickelt, wie Europa nachden nationalistischen Verirrungen zu einem neuenSelbstverständnis, zu Sicherheit, Frieden, Freiheit, Mo-bilität und wirtschaftlichem Wohlstand finden könnte.Robert Schuman, de Gaulle und Konrad Adenauer ha-ben dann der Versöhnung und der Zusammenarbeit imgemeinsamen Interesse den Vorrang gegeben. Die An-fänge waren schwierig und setzten das politisch Notwen-dige und Mögliche um. Nach Bildung der Montanunionscheiterte die europäische Verteidigungsgemeinschaft,die in eine politische Gemeinschaft eingebettet seinsollte, am Veto der französischen Nationalversammlung.Dennoch machten die Pragmatiker weiter. Inspiriert vonden Europavisionen wurden am 25. März 1957 die Rö-mischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirt-schaftsgemeinschaft und Euratom unterzeichnet.War die europäische Integration nur vom wirtschaftli-chen Interesse der großen Realisten geprägt? Im Gegen-teil: Sehr mutige, weitreichende politische Visionen ha-ben dazu geführt, dass sechs Länder bereit waren, die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8837
(C)
(D)
Dr. Angelica Schwall-Dürennationale Souveränität in einigen Bereichen auf die euro-päische Ebene zu übertragen. Dabei erklärt Jean Monnetdie sogenannte Gemeinschaftsmethode folgendermaßen:„Wir vereinigen keine Staaten, sondern Menschen.“Manchmal frage ich mich, ob diese Regel Jean Monnetsheute vergessen ist.Da der Fortschritt bekanntlich eine Schnecke ist, lös-ten sich integrationspolitische Erfolge mit Krisen undReformversuchen ab. Aber mit der Einheitlichen Euro-päischen Akte sowie den Verträgen von Maastricht,Amsterdam und Nizza haben sich die Mitgliedstaatenimmer stärker integriert und parallel dazu die Gemein-schaft in mehreren Beitrittswellen vergrößert, bis mitden letzten Erweiterungsrunden die Teilung Europasaufgehoben wurde.
Mit dem Aufbegehren der Bürgerinnen und Bürgerder Staaten in Mittel- und Osteuropa und dem Zusam-menbruch der UdSSR wurde der Eiserne Vorhang nie-dergerissen. Das mutige Engagement unserer Nachbarnin Mittel- und Osteuropa hat einen außerordentlich gro-ßen Beitrag geleistet, die jahrzehntelange Spaltung Eu-ropas zu überwinden.
Am 1. Mai 2004 und zuletzt am 1. Januar 2007 habensich abermals ehemals verfeindete Nationen die Handgereicht. Ich will diese Gelegenheit nutzen, Hans-Dietrich Genscher zu danken, der in der Tat große Ver-dienste um die Vereinigung Europas erworben hat,ebenso wie Egon Bahr, der vor wenigen Tagen seinen85. Geburtstag gefeiert hat und dem ich von dieser Stelleaus alles Gute wünschen möchte.
Ist mit diesen europäischen Fortschritten der europäi-sche Traum Rifkins tatsächlich Wirklichkeit geworden?Der Vereinigung der europäischen Staaten liegt der Para-digmenwechsel zugrunde, dass die Gemeinschaftsbezie-hungen im Vordergrund der europäischen Politik stehen,ja dass die Zusammenarbeit mehr Erfolg bringt als dieVerfolgung von Einzelinteressen. Dieses Denken istnicht nur ein Grundelement der bewährten europäischenSozialsysteme, sondern es prägt das Solidarprinzip inder EU. Es lohnt sich für alle, wenn mithilfe der Kohä-sionsfonds den schwächeren Mitgliedstaaten Unterstüt-zung beim Aufholprozess gegeben wird.Wie steht es mit der Lebensqualität? Ist sie mehr alsdie von Rifkin genannte Anhäufung von Reichtum?Nun, der Wohlstand gehört zur Lebensqualität dazu. Erist in allen Mitgliedstaaten gestiegen. Aber Rifkin hatrecht: Lebensqualität ist mehr. Sie bedeutet gerechteVerteilung des Reichtums. Sie heißt gleiche Chancen füralle, Zugang zu Dienstleistungen der Daseinsvorsorgesowie zu Bildung und beruflichem Erfolg. Sie beinhaltetwirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Teil-habe. Kurz: Es handelt sich um das europäische Gesell-schaftsmodell, das gleichzeitig Voraussetzung und Er-gebnis des erfolgreichen Integrationsprozesses in der EUist. Wenn Rifkin von der Nachhaltigkeit anstelle von un-begrenztem materiellem Wachstum in Europa spricht,dann macht er darauf aufmerksam, dass es darum geht,weder auf Kosten bestimmter Gruppen in der Gesell-schaft noch auf Kosten der nachwachsenden Generatio-nen noch auf Kosten der natürlichen Ressourcen dasWachstum voranzutreiben. Genau dafür sorgt die EU,wenn sie ihren Mitgliedern vorschreibt, niemanden zudiskriminieren, den Aufbau von Schulden zu begrenzensowie weder Luft, Wasser und Boden zu belasten nochdie Ressourcen zu erschöpfen.Ich bin froh, dass wir trotz der Vereinheitlichung vonRegeln und Industrienormen unsere reiche kulturelleVielfalt bewahren konnten. Ich gebe Rifkin recht: NichtAssimilation darf das Ziel der Zusammenarbeit sein. DasWichtigste ist vielmehr, dass sich eine gemeinsame euro-päische Identität und nationale, regionale, lokale Identi-täten nicht ausschließen.
Zum Reichtum Europas gehören die Werke Goethes,aber auch zum Beispiel die „Unfrisierten Gedanken“ vonStanislaw Lec oder die Skulpturen von Niki de SaintPhalle.Die EU ist der Raum, der in besonderer Weise dieEinhaltung der universellen Menschenrechte einfor-dert. Schon in den Römischen Verträgen 1957 wurde dieGleichstellung von Männer und Frauen – gleicher Lohnfür gleiche Arbeit – zum gewichtigen Programmpunktder EU. Die jüngst auch bei uns in nationales Recht um-gesetzte Antidiskriminierungsrichtlinie ist Ausfluss die-ser Zielstellung.
Menschenrechtliches Engagement genauso wie dieMenschenrechtspolitik wurde zum Bezugspunkt für dasauswärtige Engagement der EU, die in besonderer WeiseVorbild für viele Regionen in der Welt ist, auch weil siemithilft, in Konfliktregionen durch multilaterales En-gagement demokratische, soziale und wirtschaftlicheStrukturen aufzubauen. Ich bin überzeugt, dass der Au-ßenminister und auch mein Kollege Michael Roth aufdie Aspekte der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-politik eingehen werden.Ich will hier darauf aufmerksam machen, dass die EUvor neuen Herausforderungen steht. So erfolgreich dieGlobalisierung bei der weltweiten Wohlstandssteigerungin der Summe ist, so ungleich ist der Reichtum verteilt.Der Klimawandel ist eine nicht mehr zu übersehendeGefahr, und die Weltgemeinschaft muss sich rasch aufGegenstrategien verständigen. Es hat sich gezeigt, dassauch Europa durch den Terrorismus verwundbar ist. Re-gionale Konflikte wie zum Beispiel im Nahen Ostenoder in Afrika verlangen nach einer Lösung. Die EU hatdie Verantwortung, sich all diesen Herausforderungen zustellen. Hohe Erwartungen werden an uns gerichtet, üb-rigens nicht nur von außen, sondern auch von unserer ei-genen Bevölkerung. Circa 80 Prozent unserer Bevölke-rung erwarten, dass die EU mittels der Gemeinsamen
Metadaten/Kopzeile:
8838 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Angelica Schwall-DürenAußen- und Sicherheitspolitik Lösungen für die existie-renden Probleme findet.Die Bürgerinnen und Bürger erwarten aber auch, dassdann, wenn die Nationalstaaten die Probleme nicht mehrlösen können, zum Beispiel wenn es um die Unterschrei-tung menschenwürdiger sozialer Standards oder Fragender Nachhaltigkeit geht, die EU den Herausforderungengerecht wird. Es ist aber auch nicht zu leugnen, dass sichdie Bürger fragen, ob die EU derzeit in der Lage ist, dieihr gestellten Aufgaben zu erfüllen. Damit verweisen sieauf eine tatsächlich existierende Reformnotwendigkeit.Mit dem Verfassungsvertrag, der nach dem Vertrag vonNizza entwickelt wurde, sollte der Versuch unternom-men werden, genau diese Defizite aufzuarbeiten. Er istder zurzeit bestmögliche Kompromiss zur zukünftigenGestaltung der Union aber wie wir alle wissen, ist dieRatifizierung derzeit blockiert. Der Vertrag würde dieEntscheidungsfähigkeit verbessern, die Transparenz er-höhen, die rechtlichen Grundlagen vereinfachen, mehrDemokratie und den Schutz der Grundrechte und der so-zialen Rechte ermöglichen. Das ist eine gute Grundlagefür die Zukunft der EU. Ich bin überzeugt, dass Bundes-kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier allestun werden, damit die deutsche EU-Ratspräsidentschaftihrem Auftrag gerecht wird, einen Fahrplan für eine er-folgreiche Verabschiedung eines Verfassungsvertragesvorzulegen.
Die Berliner Erklärung, die an diesem Wochenendeunterzeichnet werden soll, wird deshalb nicht nur die Er-folge der EU feiern, sondern sie wird uns auch Mut ma-chen, uns auf der Grundlage der uns verbindenden Werteden Herausforderungen zu stellen und die Union so fort-zuentwickeln, dass sie im Einvernehmen mit ihren Bür-gerinnen und Bürgern diesen Herausforderungen gerechtwird. Für Jean Monnet bestand die neue Devise 1950 da-rin – ich zitiere –: „ein gemeinsames Werk zu vollbrin-gen, nicht um Vorteile auszuhandeln, sondern um unse-ren eigenen Vorteil im gemeinsamen Vorteil zu suchen.“Als mutige und verantwortungsvolle Politiker müssenwir uns öfter an diese alte „neue Devise“ erinnern.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Vorsitzende der FDP-Fraktion
Dr. Guido Westerwelle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Zunächst einmal: Wir feiern am Wochenende einen50. Geburtstag, nämlich den 50. Geburtstag Europas. Ichmeine, das darf der Deutsche Bundestag durchaus mitFreude zum Ausdruck bringen.
Das ist eine wunderbare Angelegenheit. Man darf sagen– das finde ich jedenfalls –: Wenn es Europa nicht gäbe,dann müssten wir es dringend erfinden. Auch dann,wenn Europa nicht mehr als 50 Jahre Frieden bei uns ge-bracht hätte, hätte es sich schon gelohnt.
Frau Kollegin, ich möchte an das anknüpfen, was Siezu Recht gesagt haben. Sie haben Egon Bahr erwähnt.Ich denke an Egon Bahr und an viele andere, zum Bei-spiel an Hans-Dietrich Genscher. Außerdem denke ichan die Generation, die noch erlebt hat, warum Europaeinmal aufgebaut und gebaut worden ist. Es ist nämlichkeine Selbstverständlichkeit, dass wir auf unserem Kon-tinent eine so lange Friedensepoche haben. Manche re-den über Europa, als wäre es lediglich eine Angelegen-heit von Bürokraten. Es ist zunächst einmal eineAngelegenheit der Menschen.
Dass die Menschen sich hier, auf unserem Kontinent,nicht mehr umbringen, das ist auch ein Ergebnis euro-päischer Friedenspolitik.Es ist übrigens nicht nur eine Angelegenheit derer, dieEuropa einmal gegründet haben, also der Generation, dieden Krieg noch erlebt hat, sondern auch derjenigen, dieder Generation danach angehören, oder auch derjenigen,die heute jung sind. Sie erleben Europa, und sie erlebenauch die Freude, die Europa bereitet. Manchen ist garnicht mehr bewusst, dass es zum Beispiel etwas Beson-deres ist, dass man von einem Land in ein anderes reisenkann und nicht stundenlang mit Grenzkontrollen aufge-halten wird, dass man ohne Vorurteile durch Europa rei-sen kann und dass man in anderen europäischen Ländernauch von Gleichaltrigen – das sage ich den jüngerenMenschen – mit Freude empfangen wird. Das ist alleskeine Selbstverständlichkeit.Diejenigen, die in meinem Alter sind, die also in den60er-Jahren Kind waren und die in den 70er-Jahren zurSchule gegangen sind, haben zum Beispiel noch erlebt,wie man von der älteren Generation in Frankreich be-handelt worden ist, und zwar verständlicherweise. Alsich als Schüler mit dem Zelt in der Bretagne unterwegsgewesen bin, habe ich erlebt, wie eine ältere Dame, de-ren Mann durch den Krieg und auch uns Deutsche umge-bracht worden ist, sich geweigert hat, einen jungen Deut-schen zu bedienen; sie brach in Tränen aus. Ich kann nursagen: Europa ist erfunden worden, damit so etwas niewieder passiert. Dass die Menschen friedlich zusammen-leben, ist in Wahrheit die riesige Errungenschaft unsererZeit.
Das sind keine Selbstverständlichkeiten. Meiner Mei-nung nach muss man sich vielmehr vor Augen führen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8839
(C)
(D)
Dr. Guido Westerwelledass man gegenüber denen, die Europa einmal aufgebauthaben, Dankbarkeit zum Ausdruck bringen sollte. Ichwiederhole: Das ist alles keine Selbstverständlichkeit.Dass es Schwierigkeiten gibt, das ist doch gar keineFrage. Die Frage ist nur: Ist Europa dafür verantwortlich,dass es mehr Schwierigkeiten gibt, oder ist Europa eherein Beitrag, auch diese Schwierigkeiten in den Griff zubekommen? Wir neigen definitiv zur zweiten Ansicht.Nehmen wir doch einmal das, was Sie, Frau Kollegin,zu Recht erwähnt haben, nämlich die weltweiten Verän-derungen durch die Globalisierung. Wenn es etwas gibt,was eine Antwort auf die mit der Globalisierung verbun-denen Fragen ist, dann ist es doch gerade die Europäi-sche Union. Wir haben jetzt einen europäischen Binnen-markt mit fast 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgergeschaffen. Das ist die Reaktion auf die verstärkte Kon-kurrenz durch die Globalisierung. Das ist eine ökonomi-sche und soziale Chance. Die Wohlstandsfrage, auch füruns Deutsche, ist in Wahrheit: Sind wir bereit, uns mitanderen Ländern zusammenzufinden und einen großenBinnenmarkt zu schaffen?
Das wird keiner allein können.Mancher hat den Eindruck, die große Konkurrenz seijetzt der polnische Fliesenleger oder der tschechischeHandwerker. Das, was damit verbunden ist, sind inWahrheit vielmehr Chancen. Ich sage ausdrücklich:Auch die Osterweiterung Europas ist in Wahrheit eineviel größere Chance. Wer meint, dass Deutschland schondurch die Konkurrenz durch osteuropäische HandwerkerSchwierigkeiten bekomme, dem ist möglicherweisenicht klar, was durch die Globalisierung etwa aus Chinaoder aus anderen asiatischen Ländern noch auf uns zu-kommt. Das sind unsere Bewährungsproben; das sindunsere Chancen. Es ist in Wahrheit unsere ökonomischeLebensversicherung, auf die wir als Reaktion auf dieVeränderungen in der Welt angewiesen sind.Es ist eben nicht so, dass Deutschland zuerst Zahl-meister ist – das ist ein gern gepflegtes Vorurteil –;Deutschland ist – bei allem, was auch auszusetzen ist –zuallererst der größte Gewinner der europäischen Eini-gung einschließlich der Erweiterung der EuropäischenUnion.
Schließlich müssen wir uns natürlich auch darüberunterhalten – das kann man an einem solchen Tag nurkursorisch tun –, was verändert werden muss, was auchbewegt werden kann, beispielsweise durch die BerlinerErklärung. Ich fände es sehr gut, Herr Bundesaußen-minister – ich spreche Sie an, weil Sie heute Vormittagnoch das Wort ergreifen werden –, wenn Sie den Deut-schen Bundestag an den Überlegungen zur Berliner Er-klärung teilhaben ließen. Wenige Stunden vor Verab-schiedung der Berliner Erklärung wäre es angemessen,dass Sie uns als Parlament über den Stand der Überle-gungen informieren. Es ist eben nicht ein Europa der Re-gierungschefs, was wir wollen; es ist ein Europa derVölker, und die Volksvertreter sitzen hier.
Ich halte es gleichzeitig für notwendig, dass wir vonIhnen etwas über den europäischen Verfassungsprozesserfahren. Ich habe gar keinen Zweifel daran, dass Sieden wollen, das Beste hier tun und sich entschieden da-für einsetzen. Auch dazu wollen wir mehr wissen, alsdass Sie beabsichtigen, einen Fahrplan festzulegen.Wir müssen doch hier darüber reden: Wollen wirdiese Verfassung? Ich vermute, eine riesige Mehrheit imDeutschen Bundestag will eine gemeinsame europäi-sche Verfassung. Wenn wir eine gemeinsame europäi-sche Verfassung wollen, müssen wir uns vor dem Hinter-grund der bislang gescheiterten Referenden allmählichauch in diesem Hause darüber unterhalten: Wie soll denndie zu verabschiedende Verfassung aussehen? Soll deralte Vertrag Gegenstand sein? Soll ein neuer Vertragkommen? Wird der Vertrag abgespeckt? Wird er erwei-tert? Auch über den Stand dieser Überlegungen solltenSie mit dem Deutschen Bundestag ins Gespräch kom-men, meine sehr geehrten Damen und Herren der Bun-desregierung.
Ich möchte die europäische Verfassung natürlich auchdeswegen erwähnen, weil wir damit eine hervorragendeChance haben, Defizite, die es gibt, die doch auch jedersieht, anzugehen. Es hat eine Debatte dazu gegeben, an-gestoßen nicht nur von dem von mir hochgeschätztenfrüheren Bundespräsidenten Roman Herzog. Ich teilenicht alles, was er gesagt hat, aber er hat doch ein, wieich finde, ganz wichtiges Ausrufezeichen gesetzt. DieFrage ist doch: Was ist in einem erweiterten, größerenEuropa die demokratische Legitimation der europäi-schen Entscheidungen? Dafür brauchen wir einen Ver-fassungsprozess. Das ist notwendig.Zur Demokratie gehört auch demokratische Kon-trolle durch das Volk und durch die Volksvertreter. Wennwir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Bei mancher eu-ropäischen Entscheidung ist diese demokratische Kon-trolle so weit verflüchtigt, dass durchaus von einer ge-wissen Abgehobenheit die Rede sein darf.
Die demokratischen Institutionen in Europa gemeinsamzu verbessern, muss meiner Meinung nach auch im Inte-resse der Funktionsfähigkeit Europas ein Schwerpunktunserer Verhandlungen und unserer Überlegungen zumVerfassungsvertrag sein.
Schließlich möchte ich auf eine Sache eingehen, dieaus meiner Sicht von großer Bedeutung ist, gewisserma-ßen zurück zu den Anfängen, zurück zu dem, warum wiralle ja vermutlich begeisterte Europäer sind. Bei allem,was man auch kritisch sehen muss: Es ist letzten Endes
Metadaten/Kopzeile:
8840 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Guido Westerwelleein riesiger Gewinn für uns. Schon dann, wenn man sichwenige Stunden von Europa wegbewegt, weiß man, dassFrieden keine Selbstverständlichkeit ist. Wir leben in ei-nem friedlichen, in einem freien Europa. Wir leben allesin allem in einem Europa, das für Rechtsstaatlichkeitvorbildlich in der Welt ist. Wir leben in einem Europa, indem wir uns wirklich darüber freuen dürfen, dass dieMütter und Väter vor uns dies geschaffen haben.Aber, meine Damen und Herren, wir stehen natürlichauch vor neuen Herausforderungen. Eine Herausforde-rung, gerade im Zeichen weltweit neuer Unsicherheiten,ist zum Beispiel die Gemeinsame Außen- und Sicher-heitspolitik. Ich will hier als Vertreter der liberalen Op-positionsfraktion Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, ausdrück-lich sagen: Zu den Worten, die Sie zur GemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik bei Ihrer wirklich höchstschwierigen Reise in Polen gefunden haben, gratulierenwir. Sie finden dafür ausdrücklich auch unsere Unter-stützung. Wir wollen eine gemeinsame europäische Au-ßen- und Sicherheitspolitik. Wir wollen keine Rena-tionalisierung, von wem auch immer. Wir müssen eineSpaltung Europas in der Außen- und Sicherheitspolitikverhindern. Deswegen ist die Raketenstationierung, diedort geplant wird, außerordentlich kritisch zu betrachten.
Spätestens nach dem, was Präsident Putin in Mün-chen vorgetragen hat – der Kollege Schockenhoff undandere waren dabei und haben das gehört –, weiß man,dass die Gefahr, dass eine neue Rüstungsspirale entsteht,groß ist. Wenn wir eine neue Rüstungsspirale verhindernwollen, muss man die Ausführungen von Präsident Putinernst nehmen, aber nicht alles annehmen und auch nichtalles übernehmen. Aber ernst nehmen muss man dieDinge, die passieren, weil die meisten Rüstungsspiralenzunächst aus großem Misstrauen entstanden sind. Mandenke daran, was in den 80er-Jahren die Rüstungsspiraleausgelöst hat. Die Irrtümer, die damals bei den – mitVerlaub gesagt – Reaganomics eine Rolle gespielt ha-ben, muss man ja in unserer Zeit nicht wiederholen. Dassollten wir an dieser Stelle auch einmal festhalten. Nie-mals ist etwas eins zu eins vergleichbar, aber gewisse Er-innerungen ruft das schon wach.Wenn es so ist, dass wir im Rahmen der deutschenEU-Präsidentschaft für ein gemeinsames starkes Auftre-ten Europas in der Welt sorgen wollen, dann ist es schonnotwendig – das sage ich mit allem Respekt –, dass dieRegierung und die Regierungskoalition selbst bei so ei-ner fundamentalen Friedensfrage einig sind. Es istschwierig für eine Regierung, eine gemeinsame europäi-sche Außen- und Sicherheitspolitik zu verlangen, wenndie Einigkeit schon in der eigenen Regierungskoalitiongewisse Grenzen findet. Das habe ich in Anbetracht desschönen Tages diplomatisch formuliert, meine sehr ge-ehrten Damen und Herren.Wir haben uns aus unserer Sicht über Europa nicht zubeklagen, ganz im Gegenteil. Dieses Geburtstagsfestsollten wir mit den Bürgerinnen und Bürgern feiern. Fürdie Bürger in Deutschland war Europa nämlich mit Si-cherheit eines der besten Dinge, die passieren konnten.Herzlichen Dank.
Der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff ist der
nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Der Rückblick auf 50 Jahre Römische Ver-träge macht Mut für den Blick nach vorn. 50 Jahre Euro-päische Union stellen eine Erfolgsgeschichte dar. DieMotive der Gründungsväter waren die Sicherung vonFrieden und Sicherheit, von wirtschaftlichem Wohl-stand, das Wahrnehmen globaler Verantwortung undnicht zuletzt die Schaffung einer gemeinsamen Identität.Es war die Bedrohung durch die Sowjetunion mit ih-rer expansionistischen Ideologie, gegen die jeder ein-zelne Staat in Europa zu schwach und zu klein erschien.Daher war die Bildung einer Gemeinschaft in West-europa in Verbindung mit der Garantie durch die USAim Rahmen der NATO die existenzielle Grundlage fürunsere Sicherheit.Eng verbunden mit dem Sicherheitsinteresse war vonAnfang an die Friedens- und Freiheitsvision. Heute,50 Jahre später, ist mit der Aufnahme von zwölf mittel-,ost- und südosteuropäischen Staaten die widernatürlicheTeilung Europas endgültig überwunden. Das ist dergrößte Erfolg der Europäischen Union.In wenigen Wochen des Herbstes 1989 führten dieDemonstranten in Budapest, Ostberlin, Leipzig und Pragder EG vor Augen, dass sie für Millionen von Menschenein Ideal darstellt. Sie war nicht nur ein Raum des wirt-schaftlichen Wohlstandes, sondern ein politisches Ge-bilde, dessen Werte sie teilen wollten und zu dessen Kul-tur sie sich zugehörig fühlten. Das haben hier bei unsseinerzeit nicht alle erkannt. Dass es der damalige deut-sche Bundeskanzler Helmut Kohl erkannt hat, ist seinehistorische Leistung und war ein Glücksfall für Europa.
Europa erlangte seine Einheit deshalb wieder, weil esvon Anfang an auf Freiheit und Demokratie setzte. Ausder Wirtschaftsgemeinschaft wurde eine Sicherheits-union mit dem Schengensystem, einer GemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik und einer gemeinsamenVerteidigung, deren sichtbarster Ausdruck die Battle-Groups als Vorläufer einer europäischen Armee sind.Natürlich brauchen wir – da teile ich Ihre Auffassungvöllig, Herr Westerwelle – in der europäischen Außen-und Sicherheitspolitik mehr gemeinsamen Willen fürentschiedenes gemeinsames Handeln. Natürlich mussEuropa seine militärischen Fähigkeiten weiter verbes-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8841
(C)
(D)
Dr. Andreas Schockenhoffsern. Aber schon heute nimmt die Europäische Unionnicht nur als eine globale Wirtschaftsmacht, sondernauch als ein wichtiger sicherheitspolitischer Akteur ihreInteressen international erfolgreich wahr. Auch das istTeil der europäischen Erfolgsgeschichte.Dazu gehört auch der Euro. Bis zu seiner Einführungwurden durch Spekulationen und Währungsschwankun-gen Finanz- und Wirtschaftskrisen ausgelöst, gingen Ar-beitsplätze verloren, musste die Bundesbank nicht seltenmassiv intervenieren, entstanden erhebliche volkswirt-schaftliche Verluste. Das alles ist heute nicht mehr derFall. Deswegen war es richtig, die Stabilitätskriterieneinzuführen, und deswegen ist es richtig und notwendig,dass wir alles tun, sie wieder dauerhaft einzuhalten.
Meine Damen und Herren, Europa voranbringen zuwollen, bedeutet besondere Verpflichtungen für Deutsch-land; denn wir sind der größte Staat in der EuropäischenUnion. Deutsche Europapolitik war immer dann erfolg-reich, wenn sie auf einer engen und partnerschaftlichenZusammenarbeit mit den EU-Staaten und auf einer ver-trauensvollen Partnerschaft zwischen Europäern undAmerikanern aufbauen konnte. Beides war immer dieMaxime deutscher Außenpolitik.Deutschland und Frankreich waren der Motor desEinigungsprozesses, und sie müssen und werden es auchweiterhin sein. Wann immer Deutschland und Frank-reich sich nicht einig waren, lief nichts in der EU; wennsie sich einig waren, kam Europa voran.
Das jüngste Beispiel, Frau Bundeskanzlerin, war derletzte EU-Gipfel. Er wurde in dem Moment zum Erfolgfür den globalen Umweltschutz, als es Ihnen gelungenist, Frankreich für die Klimaschutzziele zu gewinnen.Dann lenkten auch andere EU-Partner ein. Das war gutfür Europa und gut für den Klimaschutz.Außerdem ist es für eine erfolgreiche Europapolitikwichtig, die mittleren und kleinen Staaten rechtzeitig zukonsultieren und einzubinden. Das ist bei 26 Partner-staaten mühsam und schwierig. Aber es ist, wie es dieseBundesregierung beweist, möglich. Nichts ist kontrapro-duktiver für die EU – auch diese Erfahrung haben wirleider schon gemacht –, als wenn die Großen eine Politiküber die Köpfe der mittleren und kleinen Staaten hinwegbetreiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um den Weg zumZusammenwachsen unseres Kontinents zu ebnen, mussEuropa vor allem eine Antwort auf die Frage nach seinereigenen Identität geben. Je größer und unüberschauba-rer die EU wird, desto mehr fragen die Menschen: Wasmacht die Europäische Union aus? Wozu brauchen wirsie? Worin bleibt die Europäische Union im permanen-ten Wandel sich selbst gleich und von anderen unter-scheidbar? Es ist die Frage von uns Europäern nach unsselbst. Die europäische Identität ist das Ergebnis einesJahrhunderte währenden Kulturprozesses der Differen-zierung wie der Vereinheitlichung, bestimmt von derausgeprägten Vielfalt der Nationen auf engem Raum, derKreativität ihrer Kulturen und dem Zusammentreffen ei-ner Vielzahl historischer, geografischer und kulturellerBesonderheiten: jüdisch-christliche Prägung, Pluralitätund Koexistenz der Konfessionen, griechische Philoso-phie, römisches Recht, Humanismus, Reformation undAufklärung, Wissenschaft und Technik, Gemeinsamkei-ten in Architektur, Musik, Literatur, gemeinsame Ge-schichte einschließlich der vielen Kriege, die neuzeitli-chen Freiheitsbewegungen und die Grundüberzeugungeiner sozialen Verantwortung mit dem Aufbau des So-zialstaates in einer sozialen Marktwirtschaft.Aus dieser Vielfalt ergeben sich Spannungen. Den-noch wollen wir den mit der Globalisierung einherge-henden politischen und kulturellen Wandel erfolgreichgestalten. Dafür sehe ich sechs Aufgaben.Erstens. Wir müssen wieder deutlicher ins Bewusst-sein der Bürger bringen, dass das Handeln der EU nichtnur im Innern, sondern gerade nach außen auf unserenWerten beruht. Unser Eintreten für Frieden, Freiheit, So-lidarität und Gerechtigkeit ist für die Ärmsten der Ar-men, für die bedrohten Völker und Menschen entschei-dend. Es ist aber auch für die Wahrung unsererpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungenin der künftigen weltpolitischen Ordnung von zentralerBedeutung. Deshalb müssen wir unseren Bürgern deut-lich machen, dass unsere EU-Entwicklungshilfe, unserefinanzielle Hilfe für die Palästinenser, unser Einsatz inAfrika oder unser Einsatz in Afghanistan werteorientier-tes Handeln ist.Zweitens. Die EU muss erfolgreich sein. Die Bürgermüssen noch mehr als bisher die Erfahrung machen,dass die EU als Ganzes besser als ihre einzelnen Mit-gliedstaaten in der Lage ist, länderübergreifende undglobale Herausforderungen zu bewältigen. Der Erfolgfür den Klimaschutz auf dem letzten EU-Gipfel – ichhabe es bereits erwähnt – ist eine solche Erfahrung. Esgeht darum, auch im Zeitalter der Globalisierung dasOrdnungsprinzip der sozialen Marktwirtschaft zu wah-ren. Es geht darum, Terrorismus und internationale Kri-minalität erfolgreich zu bekämpfen oder mit einer euro-päischen Energiepolitik, die jetzt beschlossen wurde, imweltweiten Wettbewerb eine bezahlbare Energieversor-gung zu sichern.Drittens. Je größer die Europäische Union wird, destomehr muss sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren.Sie ist nicht zuständig für Fragen, die auf der nationalenoder regionalen Ebene bürgernäher geregelt werden kön-nen. Wenn sich dies für den Bürger in der täglichen Pra-xis widerspiegelt, führt dies auch zur Stärkung der euro-päischen Identität.Viertens. Die Verbesserung der Entscheidungsfähig-keit und eine stärkere Differenzierung der EU werden,so paradox dies auf den ersten Blick erscheinen mag,identitätsstiftend wirken. Nur wenn die EU zügig ent-scheiden und handeln kann, wird sie im globalen Wett-bewerb Erfolg haben. Was bewirkt mehr Identität als dergemeinsame Erfolg?
Metadaten/Kopzeile:
8842 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Andreas SchockenhoffFünftens. Zur Identität gehört auch eine Klärung derFrage, wo die Grenzen der Europäischen Union liegen.Die im Verfassungsvertrag formulierte Perspektive „DieUnion steht allen europäischen Staaten offen, die ihreWerte achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zufördern“ ist eine Antwort. Sie gilt grundsätzlich für alleeuropäischen Staaten. Es wird aber in jedem Einzelfallim Zusammenhang mit der vollständigen Erfüllung derBeitrittskriterien zu bewerten sein, ob und wieweit dieEU aufgrund ihrer inneren Entwicklung die Aufnahmeweiterer europäischer Staaten verkraften kann. Nur sowerden wir auf die Sorge der Bürger vor Unüberschau-barkeit und Grenzenlosigkeit der Europäischen Unioneine überzeugende Antwort geben.
Sechstens. Zur Identität der Europäischen Union ge-hört nicht zuletzt auch eine emotionale Bindewirkung.Die Öffnung der Grenzen hatte das bewirkt. Die Euro-paflagge und der Euro leisten einen Beitrag dazu. Ichwill dies ausdrücklich erwähnen: Auch Hochtechnolo-gieprojekte bewirken eine emotionale Bindewirkung,wie dies etwa bei der Ariane und trotz aller Diskussio-nen, die wir zurzeit führen, auch beim Airbus der Fallwar. Umso mehr muss es uns darum gehen, dass diesauch bei anderen Projekten gelingt. Ich nenne beispiels-weise das Galileo-Projekt, ein Projekt, das uns nicht nuraus technologischen, sondern auch aus politischen Grün-den wichtig sein muss und das im Sinne der Selbstbe-hauptung Europas gegenüber den Vereinigten Staatenvon Amerika durchaus identitätsstiftend sein kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zeitalter derGlobalisierung ist Europa die Bedingung für unseren Er-folg. Ich habe es eingangs gesagt – die Frau KolleginSchwall-Düren und der Herr Kollege Westerwelle habenes ebenfalls gesagt –: 50 Jahre Europäische Union sindGrund genug, stolz zu sein, sind Grund genug, nachvorne zu schauen und sich anzustrengen, aber auch Mutzu haben, die vor uns liegenden Aufgaben gemeinsamanzugehen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun erhält das Wort der Vorsitzende der Fraktion Die
Linke, Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Vor 50 Jahren wurden die Römischen Verträgegeschlossen und die Europäische Wirtschaftsgemein-schaft gebildet. Sie hatte ursprünglich drei Ziele: Erstenswollte man eine gemeinsame ökonomische Stärke– auch gegenüber dem sowjetischen Bereich – herausar-beiten. Man muss sagen: Das ist wohl ganz gut gelun-gen. Zweitens wollte man nach Faschismus und Zwei-tem Weltkrieg Deutschland einbinden und in gewisserHinsicht auch unter Kontrolle nehmen. Auch das – sokann man sagen – ist ganz gut gelungen und heute sovielleicht nicht mehr nötig. Drittens wollte man keineKriege mehr in Europa, und zwar nicht nur zwischen denMitgliedsländern, sondern in ganz Europa nicht. Da gibtes eine unangenehme Ausnahme – das muss ich sagen –:Das ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Ju-goslawien, der nie hätte stattfinden dürfen.
Unklar ist bis heute, ob die EWG, die inzwischennicht mehr EWG, sondern EU, Europäische Union,heißt, ein Staatenbund oder ein Bundesstaat werden soll.Das wurde nie wirklich ausdiskutiert. Das verunsichertdie Leute, weil das Ziel nicht völlig klar ist.Zum Ende des Kalten Krieges passierte etwas, washier schon beschrieben worden ist: Osteuropa kamhinzu. Die EU hat jetzt 27 Mitgliedsländer; das ist natür-lich eine völlig andere Größe mit anderen Herausforde-rungen, als wir sie früher hatten. Es gibt seit 1945 posi-tive Veränderungen in Europa – das kann man so sagen –,auf die Guido Westerwelle hingewiesen hat.Aber wir sind nicht nur eine Wirtschaftsunion.13 Mitgliedsländer waren damals auch an der Einfüh-rung einer Währungsunion beteiligt. Ich möchte daranerinnern, dass wir damals sagten: Euro, so nicht! Dieshieß ja nicht: Euro, nein!
Wir sagten vielmehr: Die Voraussetzungen fehlen,
nämlich eine politische Union, eine Steuerharmonisie-rung, Mindestlöhne sowie soziale und juristische Min-deststandards für die Bürgerinnen und Bürger. All daswar und ist im Kern bis heute nicht vereinbart. Das istdas Problem der Währungsunion.
Ich sage Ihnen auch, warum: Weil dadurch Ängsteentstehen. Dadurch lebte der Nationalismus in den Län-dern wieder auf, und Parteien, zum Beispiel die NPD,hatten Erfolge, die wir alle hier in Deutschland nichtwollen. Deshalb müssen wir die Europäische Union inunserem gemeinsamen Interesse in Zukunft anders ge-stalten.
Durch den Maastrichtvertrag und die Lissabonstrate-gie übernahm man dann die neoliberale Ausrichtung derEU. Ich erinnere daran: Seitdem wird in ganz Europaüber Privatisierung diskutiert. Ob es Stromkonzerneoder Verkehrsnetze sind – all das, was mit öffentlicherDaseinsvorsorge zu tun hat, soll Schritt für Schritt priva-tisiert werden. Das entmündigt die Politik. Im Bewusst-sein der Menschen reduziert sich dadurch die Bedeutungder Demokratie. Denn wenn ich oder Sie Bürgermeistersein können, wir beide aber nichts mehr zu entscheidenhaben, weil sowieso alles privatisiert ist, dann wird die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8843
(C)
(D)
Dr. Gregor GysiWahl für die Leute unwichtiger. Es geht hier also auchum Kernfragen der Demokratie.
Dann zur Deregulierung. Wir führen in Deutschlandund auch in Europa seit langer Zeit die Debatte um denKündigungsschutz. Die Zahl der befristeten Arbeits-verträge hat in Deutschland enorm zugenommen. Über50-Jährige können immer wieder befristet eingestelltwerden. Es ist die Frage: Bringt das den über 50-Jähri-gen etwas? Es ist dadurch kein einziger zusätzlicher Ar-beitsplatz entstanden. Wissen Sie, was der einzige Un-terschied zwischen einem Arbeitnehmer mit einemunbefristeten und einem mit einem befristeten Arbeits-verhältnis ist? Entlassen werden können zwar beide;aber der eine hat Anspruch auf Abfindung und der an-dere nicht. Es geht nur ums Geld, und zwar zum Nach-teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Derzeit gibt es eine Dominanz der Marktkontrolleund immer weniger gesellschaftliche Gestaltung. Dazupasst die Dienstleistungsrichtlinie, die Sie, HerrWesterwelle, wenn ich es richtig verstanden habe, einbisschen gewürdigt haben. Sie ist ja zum Glück nicht soin Kraft getreten, wie sie ursprünglich geplant war; dasmuss ich hinzufügen. Sie können doch nicht im Ernsteine Richtlinie anstreben, in der gesagt wird: Rumäni-sche Unternehmen können in Deutschland vollständig zurumänischen Bedingungen und auch zu rumänischenLöhnen arbeiten. – Damit zerstören Sie den europäi-schen Integrationsgedanken.
Ich habe davon gesprochen: Es gibt keine Steuerhar-monisierung. Nun ist die Frage: Wer setzt hier eigentlichwen unter Druck? Ich darf Ihnen ein Beispiel nennen.Nehmen wir doch einmal die jetzt vom Bundesfinanzmi-nister Steinbrück von der SPD vorgeschlagene Senkungder Körperschaftsteuer. Ich bitte Sie: Der Steuersatzlag mal bei 45 Prozent, dann bei 40 Prozent und jetzt bei25 Prozent. Nun sagt er: Die Deutsche Bank und andereKapitalgesellschaften sollen nur noch einen Steuersatzvon 15 Prozent zahlen. Im Vergleich dazu haben die dreiLänder Frankreich, Großbritannien und USA – ich weiß,die USA sind nicht in der EU; Sie brauchen mich nichtzu korrigieren; ich sage es trotzdem – jeweils Körper-schaftsteuersätze von 30 bis 35 Prozent. Wir setzen dieseLänder doch unter Druck.
Dort werden Debatten beginnen, und man wird sagen:Die Steuersätze müssen herunter, weil Deutschland seineso senkt.Nehmen wir die Löhne. Wenn wir etwas machen,dann machen wir es komplett, also immer zu100 Prozent. In allen europäischen Ländern sind dieLöhne in den letzten Jahren gestiegen. Nur in Deutsch-land sind sie in den letzten acht Jahren um 1 Prozent ge-sunken, was natürlich auch die Kaufkraft reduziert unddamit die mittleren und kleinen Unternehmen schwächt,die auf den Binnenmarkt angewiesen sind.
Wir haben jetzt zwei Krisen: Das eine ist eine Verfas-sungskrise, und das andere ist eine Krise hinsichtlich dergemeinsamen Außenpolitik.Die Verfassungskrise ist ganz klar. Es ist ein Entwurfvorgelegt worden, der Aufrüstung und auch ein weltwei-tes militärisches Agieren der EU vorsieht. Das war ur-sprünglich gar nicht der Gedanke, als die Verträge vor50 Jahren geschlossen worden sind. Es ist eine neolibe-rale Ausrichtung enthalten. Es gibt keine sozialenGrundrechte. Es gibt wohl politische Grundrechte, aberkeine sozialen Grundrechte. Entsprechende Standardsgibt es auch nicht.Das alles hat dazu geführt, dass die Mehrheit derFranzösinnen und Franzosen und auch der Niederlände-rinnen und Niederländer Nein gesagt hat. Was nun? Jetztwird ständig über Tricks nachgedacht, wie man das ohneVolksentscheid hinkriegt. Das ist doch nicht die Lösung!Wir müssen eine viel kürzere, eine klare, eine die Rechtestärkende Verfassung erarbeiten, alle Mitgliedsländermüssen Volksentscheide durchführen, und überall musseine Mehrheit Ja sagen.
Dann ist es akzeptiert. Das wäre auch ein demokrati-scher Fortschritt in Europa.Wo ist die Krise in der Außenpolitik entstanden? Sieist ganz klar bei der Frage „Irak“ entstanden. Großbri-tannien hat ganz klar Ja gesagt. Deutschland hat Neingesagt. Später haben wir festgestellt, nur zu 80 Prozent;aber immerhin.
Es ist ein Verdienst. Das hat auch eine eigenständige Au-ßenpolitik im Verhältnis zu den USA begründet. Dannging die Spaltung durch die gesamte EU. Was soll mandenn nun sagen, was die gemeinsame Außenpolitik derEuropäischen Union in Bezug auf den Irak ist? Es gibtdarauf keine Antwort. Das hat uns diesbezüglich weitzurückgeworfen.Jetzt kriegen wir – das ist nicht vergleichbar – wiedereine solche Spaltung in Bezug auf die Raketenaufstel-lung in Polen und Tschechien. Bei dieser Frage denktund handelt die EU wiederum nicht einheitlich. Ichdenke, wir stimmen überein, dass wir eine gemeinsameAußen- und Sicherheitspolitik brauchen. Dafür mussman eine Menge tun.Die europäische Integration – das ist ja eine Aus-nahme – ist das Einzige, was alle Fraktionen in diesemHaus wollen.
Das ist übrigens etwas, worüber man ernsthaft nachden-ken muss. Aber die Frage ist, wie wir sie viel besser hin-kriegen. Das Entscheidende ist nicht, ob wir das alle
Metadaten/Kopzeile:
8844 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Gregor Gysiwollen, sondern ob auch eine Mehrheit der Bürgerinnenund Bürger das will. Um das zu erreichen, brauchen wirandere, positive Erfahrungen für die Bürgerinnen undBürger. Das heißt, wir brauchen in der EU mehr Demo-kratie und weniger Bürokratie. Wir brauchen mehr Steu-ergerechtigkeit, kein Lohn- und Sozialdumping, sondernmehr soziale Standards und deutlich weniger Arbeitslo-sigkeit. Wir brauchen mehr ökologische Nachhaltigkeit.Wir brauchen mehr Bildung und Kultur und weltweiteFriedenseinsätze, nicht weltweite Kriegseinsätze.
Das muss die EU ausstrahlen.Wenn wir das hinkriegen, dann hätten auch demokra-tische Parteien deutlich höhere Chancen und die NPDspielte – wie sie es verdient – eine völlig marginaleRolle. Lassen wir uns die EU nicht kaputtmachen! Aberdazu müssen wir sie ändern, auch von ihren Grundlagenher.Danke.
Nächste Rednerin ist die Vorsitzende der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 JahreRömische Verträge – das ist eigentlich schon einen Fest-akt wert. Ich freue mich, dass wir heute hier die Diskus-sion über ein einzigartiges Projekt von Frieden undWohlstand und einer fast vollständigen Wiedervereini-gung des europäischen Kontinents führen können. Dennnoch ist ja nicht ganz Europa auf dieser Ebene zusam-men. Wir haben uns befreit von der Bedrohung durchKrieg und Diktaturen. Man kann wirklich sagen: Eineinzigartiger Raum.Denken wir einmal zurück! Wenn man sich die 70,80 Jahre vor Unterzeichnung der Römischen Verträgeansieht, dann stellt man fest: 180 000 Tote im Deutsch-Französischen Krieg; 8 Millionen Tote im Ersten Welt-krieg; über 50 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg, vonden Vertriebenen ganz zu schweigen. Deshalb war dasvor 50 Jahren wirklich ein sehr mutiger Schritt, das ein-zig Richtige, um die europäischen Staaten miteinanderzu versöhnen. Damals war es ein beinahe unfassbarerSchritt, bei dem man sich dachte, das könne eigentlichgar nicht funktionieren: die große Idee von Freiheit undFrieden.Noch heute wirkt die Europäische Union in den Mit-gliedstaaten; das Besondere ist, dass sie heute auch weitdarüber hinaus wirkt. Man kann, wenn man es auf Neu-deutsch sagen will, formulieren: Die Soft Skills derEuropäischen Union verändern nicht nur die nationalePolitik, die Wirtschaft und das Rechtssystem, sondernstrahlen so weit aus, dass sich Nachbarländer in Europaund über Europa hinaus an uns orientieren. Sie sagen:Diese Art der Herrschaft des Rechts, der Gewaltentei-lung, der Menschenrechte ist Vorbild für uns; dem wol-len wir nacheifern.
Da kann man geradezu nur gerührt sein, wenn mansich überlegt, wie zickig wir selber manchmal intern re-agieren, wie wir immer wieder – –
– Herr Ramsauer, gut, dass gerade Sie sich beim Stich-wort „zickig“ melden.
Es ist schon beachtlich, wie wir manchmal mit der Euro-päischen Union umgehen. Wenn wir auf nationalerEbene einmal nicht weiterwissen, sagen einige – auchSie, Herr Ramsauer, und Ihr Verein –: Daran ist Europaschuld. Wir haben kaum angenommen, dass wir Europa,die Europäische Union, mit Verve vertreten sollten.Meine Hoffnung ist, dass der heutige Tag vielleicht einAusgangspunkt ist, wenn in Zukunft etwas schiefgeht,nicht mehr zu sagen: Das war Europa. Wir sollten viel-mehr sagen: Wir in Europa packen es gemeinsam an.
Wir dürfen aber heute nicht nur auf die vielen Re-gimewechsel, auf das Erfolgsprojekt Europäische Unionblicken, sondern müssen an diesem 50. Geburtstag dieEuropäische Union neu und weiter definieren. Das Zielder Feierlichkeiten kann und soll nicht nur sein, imRückblick zu sagen, wie stolz wir doch sein können;vielmehr müssen wir jetzt auch sagen, wie es eigentlichweitergehen soll. Die Berlin-Erklärung muss eines leis-ten: Sie muss Europa, wie wir es aufbauen wollen, neudefinieren. Wir müssen ein neues Kapitel aufschlagen.Warum müssen wir ein neues Kapitel aufschlagen? Weildas große Projekt der Vergangenheit war, Frieden inEuropa und darüber hinaus zu schaffen; dieser Teil istnun getan. Jetzt muss doch die Frage sein: Welche neuenRäume beschreiten wir?Ich möchte zwei Aspekte nennen.Erstens: die Entwicklung nach innen. Wir alle wissen,wie viele Zweifel mittlerweile bei einigen vorhandensind. Die Art und Weise, wie mit den Verfassungsrefe-renden umgegangen wurde, dass mit Nein abgestimmtwurde, offenbart diese Zweifel noch stärker. Nach innenmüssen wir jetzt eines machen: Wir müssen die Europäi-sche Union sozial und ökologisch neu definieren undweiterentwickeln. In der Europäischen Union darf esnicht mehr um kurzfristige Profitinteressen der Wirt-schaft gehen; es muss heißen: In den nächsten 50 Jahrenbauen wir das soziale und ökologische Europa. Da wol-len wir genauso strahlen, wie wir es beim Friedenspro-jekt Europa tun.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8845
(C)
(D)
Renate KünastWir wissen – ich sage das gerade angesichts mancherwirtschaftspolitischer Auseinandersetzungen –, dassÖkologie und Ökonomie nicht zwei getrennte Projektesind, sondern dass sie zwingend zusammengehören. Diebeiden Begriffe haben den Wortstamm „oikos“ gemein-sam, der die Bedeutungen „Haus“ und „Haushaltung“hat. Europa hat als Global Player die Aufgabe, anderenStaaten zu zeigen, dass Ökologie und Ökonomie zusam-mengehören, weil es gar nicht anders geht, weil es beider Ökologie um unsere Existenzfrage und um die Exis-tenzfrage vieler Menschen in anderen Ländern dieserWelt geht.
Zweitens: die Außenpolitik. Wir müssen nach demNachkriegsprojekt der europäischen Integration die He-rausforderung im Zusammenhang mit dem ThemaKlima annehmen, global Frieden stiften, die Globalisie-rung sozial gestalten und den Hunger in der Welt be-kämpfen. Diese Projekte müssen wir angehen. Die Euro-päische Union muss das Bewusstsein weiterentwickeln,dass sie ein Global Player ist. Wir haben etwas zu expor-tieren, und zwar nicht nur unsere Industriegüter, sonderndie Herrschaft des Rechts, was die Europäische Unionwie kein anderer vorgemacht hat. Es geht nicht um dieHerrschaft der Stärke, sondern um die Herrschaft desRechts, niedergeschrieben im Kopenhagener Acquis,über den sich einer nach dem anderen weiterentwickelt.Diese Herrschaft des Rechts müssen wir als EuropäischeUnion zum weltweiten Exportschlager machen. Auchdamit schaffen wir mehr soziale Gerechtigkeit.
Ich will an dieser Stelle zwei Punkte ansprechen. Se-hen wir uns einmal die jetzigen Mitglieder Europas an.Denken wir an Portugal, das noch bis in die Mitte der70er-Jahre eine Diktatur war, und an die Mitgliedstaaten,die in den letzten Jahren hinzugekommen sind und in derVergangenheit unter Diktaturen lebten. Das ist aber nichtalles. Wir werden beim Beitritt in die Europäische Unionweitere Schritte gehen. Ich möchte im Hinblick auf un-sere Strahlkraft an dieser Stelle die Türkei nennen; dennich bin mir in einem sicher: Der Europäischen Unionwird es gelingen, mit seinem Exportschlager „Herrschaftdes Rechts“ auch hinsichtlich des Beitritts der Türkei zurEuropäischen Union einen Erfolg zu erzielen.
Darauf freue ich mich, weil das ein neuer Schritt ist, umzu zeigen, dass wir diesen Exportschlager trotz unsererTraditionen auch in ein Land exportieren können, in demdie meisten Menschen dem islamischen Glauben anhän-gen. Ich glaube, dass es Ziel der EU-Außenpolitik seinmuss, diesen Brückenschlag zu wagen. Das muss manauch in einer solch feierlichen Debatte hier sagen. DieGründe, die für den Beitritt der Türkei in die NATOsprachen, sprechen auch dafür, dass die Türkei, wenn siedie Herrschaft des Rechts umsetzt, Mitglied der Europäi-schen Union wird. Das ist unser Ziel.
Für die Außenpolitik gilt an dieser Stelle, FrauMerkel und Herr Steinmeier, dass wir gerade beimThema Raketenabwehr eines zeigen: Wir in Europalassen uns nicht spalten. Wir haben unsere Vorstellungenüber eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik,die wir weiterentwickeln wollen. Wir haben unsere Vor-stellungen darüber, dass der Frieden in der Welt immernur in einem gemeinsamen Projekt zivil und militärischfortgesetzt werden kann. Wir werden nicht akzeptieren,dass ein Dritter mitten in Europa, in der EuropäischenUnion, ein Raketenabwehrsystem baut, ohne in derNATO und ohne mit der Europäischen Union darüber zudiskutieren. Ich fordere Sie auf und bitte Sie, an derStelle das Selbstbewusstsein zu haben, dieses Themanicht nur auf die Tagesordnung der NATO, sondern auchauf die europäische Tagesordnung zu setzen.
Wir wollen, dass sich die Europäische Union hin-sichtlich der Solidarität intern neu definiert, dass siezeigt, was Solidarität in Zeiten der Globalisierung seinkann und was der Sozialstaat des 21. Jahrhunderts seinkann.Ich will noch einen Punkt ansprechen, der in den letz-ten Tagen in unser aller Munde war. Ich glaube, dass wireines ganz stark herausarbeiten müssen, nämlich wie dieEuropäische Union zu einer Art Leuchtturm, Pionier undVorreiter im Bereich Klimaschutz und Energieversor-gung werden kann. Ich sage Ihnen: Gut, wenn Sie in dieBerliner Erklärung den Satz schreiben, dass unsere Auf-gabe auch der Klimaschutz ist. Wir wollen aber, dasssich die Europäische Union nicht nur den Klimaschutzund die Energieversorgung auf ihre Fahnen schreibt,sondern dass von diesen Feierlichkeiten das Signal aus-geht: Wir definieren die Europäische Union nach50 Jahren neu. Jetzt geht es darum, einen neuen Raum zubeschreiten, zu sagen, dass jetzt, nach dem großen Frie-densprojekt Europäische Union, nach der europäischenIntegration ein Projekt gestartet wird, mit dem wir aufsozialer und ökologischer Ebene die Existenzgrundlagender Bevölkerung sichern. Dies muss wie ein Leuchtfeuernach außen strahlen.Für mich gibt es heute eigentlich nur einen Wermuts-tropfen: Ich hätte mir gewünscht – Herr Steinmeier wirdja gleich reden –, dass wir hier über die Berliner Erklä-rung diskutiert hätten. Das wäre das Leuchtfeuer derTransparenz gewesen, das die Europäische Unionbraucht.
Ich will jetzt nicht zu viel Wasser in den Wein gießen.
Das geht jetzt auch schwer.
Das ist mein letzter Satz. – Herr Steinmeier, FrauBundeskanzlerin, ich möchte, dass von diesen Feierlich-keiten zwei Dinge ausgehen: In Zukunft wird transparent
Metadaten/Kopzeile:
8846 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Renate Künastdiskutiert, und die Europäische Union hat ein neues Ziel:das ökologische und soziale Europa. Wir wollen dabeiandere mitnehmen und auch das zum Exportschlagermachen. Dann hat die 50-Jahr-Feier einen Sinn.
Das Wort erhält nun der Bundesminister des Auswär-tigen, Frank-Walter Steinmeier.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist in der Tat nicht zu überhören – wenn iches richtig sehe, hat das kein einziger Redner heute Mor-gen bestritten –: Europa wird 50.
Wir haben in den letzten Wochen hier im Parlament häu-figer darüber gesprochen. Jetzt ist es so weit: In wenigenTagen begehen wir den 50. Jahrestag der Unterzeich-nung der Römischen Verträge. Ganz zu Recht haben Siedieses Jubiläum in den Mittelpunkt der heutigen Debattegestellt.Was ist das Besondere an diesem Tag? Ein Blick zu-rück sei erlaubt. Europa 1957: Der Kontinent hatte zweiverheerende Kriege hinter sich; die Menschen warennoch damit beschäftigt, die Trümmer des letzten Kriegesabzutragen. Das war die Situation, in der in Rom dieVerträge über die Europäischen Gemeinschaften unter-zeichnet wurden. Das war im Übrigen der Beginn einerEntwicklung, in der ohne Infragestellung der transatlan-tischen Partnerschaft die europäische Integration alszweite Säule unserer Identität gewachsen ist. Die Visio-nen, die den Römischen Verträgen zugrunde lagen, wa-ren erstens Aussöhnung durch Zusammenschluss, zwei-tens Frieden durch Zusammenarbeit und drittensWohlstand durch wirtschaftliche Integration.Die Weitsicht der Gründungsväter – daran haben vielehier und heute erinnert – wird wohl erst aus heutigerSicht richtig erfasst und ermessen. Vieles, was 1957 wieeine Utopie klang, ist heute in weiten Teilen politischeRealität. Europa ist heute ein Kontinent des Friedens,des Wohlstands und der Stabilität. Europäischer Eini-gungsprozess, das hieß und heißt aus meiner Sicht nochimmer vor allem friedliches Miteinander. Vor 50 Jahrengab es wohl kaum etwas, das sich die Menschen sehnli-cher gewünscht haben. Heute – Herr Westerwelle hateben darauf hingewiesen – ist das so selbstverständlichgeworden, dass sich junge Menschen etwas anderes garnicht mehr vorstellen können, und manch Ältere schüt-teln genau darüber den Kopf.Europa 1957, das war ein geteilter Kontinent. Heute,50 Jahre später, ist diese Teilung überwunden. Die Men-schen in Mittel- und Osteuropa sind fester Teil unsererGemeinschaft geworden. Vor allen Dingen war es natür-lich ihr Freiheitswille, der das alles möglich gemachthat.
Ich bin mir sicher, aus dem Blickwinkel vieler Regio-nen dieser Welt würde das ausreichen, um auf die Frage:„Ist Europa eine Erfolgsgeschichte?“, die viele Journa-listen Ihnen wie mir vor dem Plenarsaal gestellt haben,zu antworten: Ja, schon deshalb ist Europa eine Erfolgs-geschichte. Genau das muss eine der Botschaften sein,die von diesem Jubiläum ausgehen.
Wir sollten uns am 25. März selbstbewusst die Zeitnehmen, uns die Elemente dieses Erfolges noch einmalbewusst zu machen. „Europäische Union“ bedeutet mehrals nur Frieden und Einheit in Europa; das, was ich ebendargestellt habe. Das heißt auch: ein Binnenmarkt fürfast 500 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher.Das heißt: einheitliche Währung in der Eurozone. Dasheißt: Reisefreiheit von Lissabon bis nach Helsinki. Dasheißt: gemeinsame Handelspolitik für 27 Mitgliedstaa-ten. Darin drückt sich doch aus: Nur dann, wenn wir un-sere Kräfte bündeln, können wir auf Augenhöhe mit denUSA, mit China oder Indien verhandeln.
Das ist aber nicht alles. Europäische Union, das heißt– auch wenn es in diesen Tagen schwerfällt –: eine ge-meinsame europäische Außenpolitik, ein gemeinsamesWirken für Frieden und Entwicklung in der ganzen Welt.Nur als Europäische Union sind wir ein Akteur, der aufder internationalen Bühne ernst genommen wird.
Wir sind weltweit der größte internationale Geber vonEntwicklungshilfe. Beim Nahostquartett sitzen wir nichtals Deutsche, sondern als Europäische Union am Tisch.Ich glaube, unser internationaler Gestaltungsspielraumist größer, wenn wir ihn europäisch nutzen. Deshalbmüssen wir ihn ausbauen, deshalb brauchen wir einehandlungsfähige Gemeinsame Außen- und Sicherheits-politik in Europa.
Damit bin ich noch nicht am Ende. Die EuropäischeUnion ist weit mehr als ein gemeinsamer Wirtschafts-raum mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspo-litik. Zu den Erfolgen der Einigung gehören auch diePrinzipien, auf deren Grundlage wir uns immer wiederneu verständigen: Die Europäische Union gründet sichauf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, auf Freiheit undVerantwortung, auf Respekt vor der Vielfalt in Europa,auf Toleranz und natürlich auch auf Solidarität im Um-gang miteinander. Die Europäische Union steht heute fürein Gesellschaftsmodell, das – bei aller Verschiedenheit,die es nach wie vor gibt – erst recht von außen immer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8847
(C)
(D)
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeiermehr als europäisches Gesellschaftsmodell begriffenund – das darf ich nach den internationalen Konferen-zen, die ich gerade jetzt, während unserer Präsident-schaft, hinter mir habe, sagen – nicht selten bewundertwird. Sie steht für ein Modell der Zusammenarbeit, dasinzwischen auch in anderen Regionen der Welt als Vor-bild für regionale Kooperation gilt.Für eines steht Europa, glaube ich, in ganz besonderemMaße: für das Streben nach einer Gesellschaft mit wirt-schaftlicher Wettbewerbsfähigkeit – sicherlich –, abereben auch mit sozialer und ökologischer Verantwortung;beides ist miteinander verbunden und muss miteinanderverbunden bleiben.
Dieses europäische Sozialmodell ist das Bild einer Ge-sellschaft, in der unternehmerische Freiheit genauso ih-ren Platz hat wie der Schutz und die Mitwirkungsmög-lichkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,einer Gesellschaft, in der sich wirtschaftliche Leistunglohnen muss, zugleich aber auch gesellschaftliche Soli-darität eingefordert wird. Das ist die soziale Dimension;das ist eines der Markenzeichen Europas. Diese sozialeDimension weiterzuentwickeln, und zwar unter den Be-dingungen der Globalisierung, ist deshalb eine der ganzwichtigen Zukunftsaufgaben, die wir in den Mitglied-staaten, aber erst recht auf der europäischen Ebene zubewältigen haben.
Europa ist zusammengewachsen, doch gleichzeitig– Herr Schockenhoff hat darauf hingewiesen – hat sichdie Welt in atemberaubendem Tempo verändert. Wir ste-hen heute natürlich vor ganz anderen Aufgaben, als siedie Gründungsväter der EWG vor einem halben Jahr-hundert bewältigen mussten: Die Globalisierung, derAufstieg neuer Wirtschaftsmächte, das sind sicherlichHerausforderungen für die Wettbewerbsfähigkeit – da-von habe ich gesprochen –, vor allem aber Herausforde-rungen für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesell-schaft. Hinzu kommt: Die Folgen des Klimawandelssind unübersehbar geworden. Gleichzeitig müssen wiruns bei all dem auch noch darauf einstellen, dass die na-türlichen Energieressourcen knapper und teurer werden;schließlich sind sie endlich. Wachsende Migrations-ströme, die Gefahr des Terrorismus, Krisensituationen inviel zu vielen Weltregionen – wie oft müssen wir hier imHohen Hause darüber sprechen. Das sind die Fragen, aufdie wir heute Antworten finden müssen. Ich sage ganzklar: Wir müssen darauf europäische Antworten finden.
Mit anderen Worten: Im lauten Vielklang der globali-sierten Welt finden wir Europäer nur Gehör, wenn wirmit einer Stimme sprechen. Wir können unsere Interes-sen nur dann wirksam vertreten, wenn wir gemeinsamhandeln. Ich glaube, genau das erwarten auch die Bürge-rinnen und Bürger von einer verantwortlichen Politik inEuropa. Mir scheint, ein Teil der europäischen Vertrau-enskrise liegt darin begründet, dass die Menschen in denzurückliegenden zwei, drei Jahren das Gefühl hatten,Europa sei eher Teil des Problems als Teil der Lösung.Hier müssen wir gegensteuern.
Wir wollen die Menschen für Europa gewinnen. Wirwollen sie gewinnen, indem wir ihnen zeigen, dass dieeuropäische Integration und die europäische Einigungihnen auch weiterhin ganz konkrete Vorteile bringen.Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, dass gerade derletzte Gipfel der Regierungschefs gezeigt und bewiesenhat, dass Europa handeln kann, und zwar auch in den Be-reichen, in denen die Menschen mit Recht entschlosse-nes europäisches Handeln erwarten. Obwohl es keinemMitgliedstaat leichtgefallen ist – das kann ich Ihnen ausdem Vorbereitungsprozess versichern –, haben sich dieRegierungschefs letztlich auf eine sehr ehrgeizigeKlima- und Energiepolitik geeinigt. Das macht Mut.
– Ja, Herr Kuhn, ehrgeizige Ziele. – Wir haben nicht nurAnreize für die Innovationsfähigkeit der europäischenIndustrie gesetzt. Der Gipfel war aus meiner Sicht auchein Test für die Zukunftsfähigkeit unserer Zusammenar-beit. Vom Gelingen dieses Gipfels geht ein Signal aus,das über die konkreten Beschlüsse hinausreicht. Es istein Signal der Zuversicht: Ja, Europa stellt sich den Auf-gaben der Zukunft. Gemeinsam können wir sie meistern.
Das Gemeinsame sollte die weitere Botschaft deskommenden Jubiläums sein. „Europa gelingt gemein-sam“, das ist das Leitmotiv, wenn sich übermorgen dieStaats- und Regierungschefs hier in Berlin treffen wer-den. Das wird auch der Grundtenor der Berliner Erklä-rung sein, die aus diesem Anlass verabschiedet werdensoll. Denn eines – das muss ich sagen – ist ganz klar: Wirbrauchen diese Zuversicht, wir brauchen Mut, wir brau-chen Entschlossenheit, und wir brauchen etwas von dervisionären Weitsicht der Unterzeichner der RömischenVerträge, wenn wir den Erneuerungsprozess der Euro-päischen Union in der zweiten Hälfte unserer Präsident-schaft wieder in Gang setzen wollen. Meine feste Über-zeugung und die Überzeugung der Bundesregierung ist:Die Union der 27 braucht neue Arbeitsgrundlagen, undzwar in Gestalt der Verfassung. Den Schwung diesesJahrestages möchten wir dafür nutzen, die Voraussetzun-gen für den Erneuerungsprozess der Europäischen Unionzu schaffen.Meine Damen und Herren, 50 Jahre EG und EU zei-gen: Unsere Vergangenheit liegt in Europa, und – hierstimme ich all meinen Vorrednern zu, die sich so odersinngemäß ausgedrückt haben – unsere Zukunft erstrecht.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Metadaten/Kopzeile:
8848 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
Markus Löning ist der nächste Redner für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LassenSie mich zunächst meiner Freude darüber Ausdruck ge-ben, dass die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Eu-ropäischen Union hier in Berlin stattfinden und dass Sie,Herr Steinmeier und Frau Bundeskanzlerin, die Staats-und Regierungschefs nach Berlin eingeladen haben. Esgibt wohl keine Stadt in Europa, die aufgrund der Mauerso für die Teilung Europas steht und mit dem Fall derMauer auch ein Signal für die Überwindung der Teilunggesetzt hat, wie Berlin. Ich glaube, es gibt auch keineStadt in Europa, die so deutlich macht, wie das neue,moderne Europa aussehen kann, wie Berlin.Europa lebt in Berlin. Hier treffen sich die jungenLeute, die Künstler, die Studenten, Leute, die hier arbei-ten wollen, die an neuen, modernen Entwicklungen undan völkerverbindenden und völkerübergreifenden Bezie-hungen ohne Vorurteile interessiert sind. Sie arbeiten zu-sammen, und sie studieren und feiern miteinander. Ichfinde, das ist richtig. Das brauchen wir nach 50 JahrenEU hier in Berlin.
Herr Steinmeier, Sie haben gerade zum Thema Berli-ner Erklärung das eine oder andere gesagt und von ei-nem Grundtenor gesprochen. Diese Berliner Erklärungmuss ja ein schreckliches Geheimdokument sein.
Noch nicht einmal zwei Tage bevor sie verabschiedetwird, bekommen wir hier etwas davon zu hören.
Wir wünschen Ihnen von Herzen, dass das ein Erfolgwird und dass Sie einen Impuls für die Renovierung dereuropäischen Spielregeln setzen können; das ist dochselbstverständlich. Eines sage ich hier aber ganz klar unddeutlich: Dieses Verfahren der Geheimdiplomatie hinterverschlossenen Türen und unter Ausschluss nicht nur derÖffentlichkeit, sondern auch der Parlamente ist für denFortgang der Verfassungsdiskussion absolut inakzepta-bel.
Es kann nicht sein, dass Regierungen versuchen, hier et-was auszumauscheln, während der Bundestag, der dieseVerträge ratifizieren soll, an den Debatten nicht im Ge-ringsten beteiligt wird. Das ist inakzeptabel. Wir werdenmit aller Vehemenz einfordern, dass hier über den Ver-fassungsvertrag berichtet und diskutiert wird.
Sie haben unsere Unterstützung, wenn Sie einenenorm ambitionierten Zeitplan vorlegen; denn eines istklar: Unsere Partner und die Bürger erwarten von unsHandlungsfähigkeit; das ist oft angesprochen worden.Handlungsfähigkeit heißt, dass wir den Verfassungspro-zess endlich zum Abschluss bringen müssen. Wenn wirmit Partnern in Übersee bzw. außerhalb Europas reden,dann kommt doch immer dieselbe Antwort auf dieFrage, wie es mit Europa weitergeht: Meine Güte, machtendlich einmal eure Hausaufgaben! Verabschiedet zuHause endlich eure Spielregeln, damit wir wieder übersubstanzielle Politik reden können! – Herr Steinmeier,Sie haben unsere volle Unterstützung dafür, dass dasschnell über die Bühne geht. Nur so können wir als Eu-ropäer letztendlich Handlungsfähigkeit zeigen.
Wir als Liberale erwarten von Ihrer Ratspräsident-schaft, dass Sie Ihre Ziele höher stecken und im Juninicht nur sagen, dass Sie einen Zeitplan vorlegen. Esmuss mehr vorgelegt werden, zum Beispiel ein Mandatfür eine Regierungskonferenz. Es muss klargemachtwerden, dass dieser Text bis Ende des Jahres unter Dachund Fach sein muss und dass es das Ziel ist, dass dieKommission 2009 nach den neuen Spielregeln ins Amtkommt und das Parlament nach den neuen Spielregelngewählt werden kann. Das müssen wir doch von uns ver-langen; ich verlange diesen Ehrgeiz an dieser Stelle auchvon der Bundesregierung.
Ich komme jetzt zu dem, was die Bürger von uns zuRecht erwarten. Sie erwarten von uns, dass wir im Be-reich des Binnenmarktes etwas tun. Sie erwarten vonuns, dass die Europäische Union etwas tut, was ihnenpersönlich in ihrem Leben sichtbare und greifbare Vor-teile bringt. Sie erwarten von uns, dass die EuropäischeUnion etwas tut – ich nenne als Beispiel die Roaming-Gebühren –, wodurch ihr tägliches Leben besser und an-genehmer gestaltet wird, und nicht, dass wir uns hierüber Spielregeln auseinandersetzen.Ich wünsche der Bundesregierung viel Erfolg am Wo-chenende. Ich wünsche mir, dass ein Impuls für Europaund für den Verfassungsvertrag gegeben wird und dasswir uns anschließend wieder auf die Substanz europäi-scher Politik, auf eine EU, die Erfolge für unsere Bürgerproduziert, konzentrieren können.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8849
(C)
(D)
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Stübgen für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Über die Römischen Verträge ist in den vergan-genen Tagen und Wochen viel geschrieben und – auchhier im Parlament – noch viel mehr geredet worden, si-cherlich mehr als in den vergangenen 50 Jahren. Ichdenke, das ist auch richtig so; denn die Unterzeichnungder Römischen Verträge vor 50 Jahren war ein gewalti-ges historisches Ereignis, von dem wir bis heute profitie-ren. Es ist gut, dass wir dieses historische Datum amkommenden Wochenende feiern und angemessen würdi-gen. Aber – darin teile ich zu 100 Prozent die Auffas-sung der Bundesregierung – uns geht es vor dem Hinter-grund der deutschen Ratspräsidentschaft an diesemWochenende um mehr als das würdige Andenken an dieUnterzeichnung der Römischen Verträge. Die Ge-schichte hat uns immer wieder gezeigt, dass durch zufäl-liges Zusammentreffen von Sachverhalten und Ereignis-sen – wenn sie nur mutig und tatkräftig genutzt wurden –bedeutsame Veränderungen begonnen haben, die häufigeine historische Dimension entfaltet haben.Es ist zunächst ein Zufall, dass das 50-jährige Jubi-läum der Römischen Verträge mit der deutschen Rats-präsidentschaft zusammenfällt und deshalb die Feier-lichkeiten in Berlin stattfinden, der Stadt, die überJahrzehnte das Symbol für die Teilung unseres Vaterlan-des und ganz Europas war. Wir haben hier vor 17 Jahrendie Mauer niedergerissen und damit auf unserem Konti-nent und weltweit eine beispiellose Entwicklung ausge-löst. Ich glaube, Berlin ist der richtige Ort, um den fest-gefahrenen Verfassungsprozess der Europäischen Unionwieder in Gang zu bringen.
Von den Römischen Verträgen bis heute hat die Euro-päische Union immer wieder Höhen und Tiefen erlebt.Wir können uns ebenso an Bilder fröhlicher und jubeln-der Menschen erinnern wie an festgefahrene, fast aus-weglos erscheinende Situationen. Dennoch – das zeich-net die europäische Politik besonders aus – hat dieEuropäische Union es immer wieder geschafft, voranzu-kommen. Sie hat es immer wieder geschafft, die neuenHerausforderungen zu meistern.Wo stehen wir heute? Sinnbildlich passt vielleicht derVergleich mit einem etwas stotternden Motor am besten.Wir kommen zwar voran, aber mühselig. Manchmalscheint es, als ob wir stehen bleiben könnten.Die Berliner Erklärung kann die Initialzündung dafürsein, dass der europäische Motor wieder rundläuft. AllenWidrigkeiten zum Trotz möchte ich eines deutlich he-rausstellen – ich glaube nicht, dass es in diesem Haus da-gegen Widerspruch gibt –: Die Europäische Union ist al-les in allem eine Erfolgsgeschichte. Die EuropäischeUnion hat Europa zu einem Kontinent gemacht, auf demdie Menschen in Frieden, Freiheit, Demokratie undWohlstand leben können. Die Europäische Union ist daserfolgreichste Friedensprojekt der Weltgeschichte.
Wir in Deutschland sind heute von Freunden undPartnern umgeben. Wir profitieren vom freien Handel inEuropa und sichern so bei uns Wohlstand und Arbeits-plätze. Dabei war es gerade in den letzten Jahren einegewaltige Leistung, die Länder aus Mittel-, Ost- undSüdosteuropa voll in die Europäische Union zu integrie-ren. Wir sind jetzt eine Gemeinschaft, die 480 MillionenMenschen miteinander verbindet. Dabei ist die von allenMitgliedstaaten gezeigte Solidarität bei diesem Erwei-terungsprozess für mich besonders bemerkenswert. Esliegt klar auf der Hand, dass für uns Deutsche die Inte-gration unserer östlichen Nachbarn im genuinen nationa-len Interesse gestanden hat und steht. Aber diesen Er-weiterungsprozess haben auch Länder wie Spanien,Portugal und Italien mitgestaltet, die an ihren Außen-grenzen weiß Gott andere Probleme haben. Trotzdemhaben sie die Osterweiterung mitgestaltet. Das ist einBeispiel für gelebte Solidarität.
Ich will aktuell erwähnen, dass die EuropäischeUnion mit den Beschlüssen zum Klimaschutz auf demletzten Europäischen Rat weltweit eine Vorbild- undFührungsfunktion in dieser so wichtigen Menschheits-frage eingenommen hat. Es liegt jetzt an uns, sie umzu-setzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EuropäischeUnion hat sich in den letzten Jahrzehnten immer wiederdadurch ausgezeichnet, dass sie in schier ausweglosenSituationen und festgefahrenen Verhandlungen neueWege beschritten hat, um wieder voranzukommen. Sowar zum Beispiel das Modell der Regierungskonferen-zen für den Maastrichter Vertrag ausgesprochen erfolg-reich. Die darauf folgenden Regierungskonferenzen zurVertragsänderung – Amsterdam und Nizza – gestaltetensich allerdings immer schwieriger. Die entscheidendenFragen, nämlich die institutionellen Reformen, konntennicht gelöst werden und wurden jeweils verschoben.Spätestens mit dem Vertrag von Nizza wurde klar, dassdiese Methode allein nicht mehr ausreichend praktikabelist.Wir haben dann in Europa zur Erarbeitung des Grund-rechtekatalogs die sogenannte Konventsmethode ent-wickelt. Diese Methode zeichnet sich durch die Beteili-gung aller nationalen Parlamente, des EuropäischenParlaments und aller europäischen Regierungen aus. Siewar bei der Erarbeitung des Grundrechtekatalogs sehrerfolgreich. Für die Erarbeitung des Verfassungsvertra-ges wurde die Konventsmethode ebenfalls gewählt.Nach langem, zähem Ringen ist durch diesen Verfas-sungskonvent – wir haben in diesem Haus mehrfach da-rüber diskutiert und mehrere große Anhörungen dazu
Metadaten/Kopzeile:
8850 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Michael Stübgendurchgeführt – der europäische Verfassungsvertrag alsein gutes, wegweisendes, zukunftsweisendes Dokumenterarbeitet worden. Der Verfassungskonvent hat es ge-schafft, die meisten offenen Fragen, zum Beispiel dernotwendigen institutionellen Reformen, zu lösen. Daransind vorher viele Regierungskonferenzen gescheitert.Die Tatsache, dass bereits 18 Länder den Vertrag ratifi-ziert haben, ist ein Beleg für die Qualität dieses Entwur-fes. Allerdings ist der Prozess durch die gescheitertenReferenden in Frankreich und den Niederlanden ins Sto-cken geraten.Nun, nach mehr als zwei Jahren Denkpause, wird esallerhöchste Zeit, dass wir wieder handeln. Die Methodeder Bundesregierung ist, auf Grundlage der BerlinerErklärung einen Ansatz zur Lösung der Verfassungs-frage für den Europäischen Rat im Juni dieses Jahres zuerarbeiten. So werden die Verhandlungsführer der Re-gierungschefs unmittelbar nach der feierlichen Unter-zeichnung der Berliner Erklärung die notwendigen Be-schlüsse für den Rat im Juni vorbereiten. Welcher Namedann über dem Projekt steht, halte ich für zweitrangig.Wenn damit Widerstände überwunden werden können,kann eine neue Begriffsbestimmung sogar hilfreich sein.Wichtig und entscheidend ist, dass die Substanz des vor-liegenden Verfassungsvertrages erhalten bleibt. So müs-sen die Funktionsfähigkeit der europäischen Institutio-nen verbessert, die Grundrechte eingebunden und dieKompetenzen zwischen Europäischer Union und denMitgliedstaaten klar aufgeteilt sein. Wenn wir dannschlussendlich dazu kämen, dass der Text des Verfas-sungsvertrages vor allen Dingen im dritten Teil kürzerund übersichtlicher gestaltet wird, beseitigten wir damitsogar ein Defizit, wozu der Verfassungskonvent nicht inder Lage war.Meine sehr verehrten Damen und Herren, allerdingswird die Lösung der Verfassungsfrage durch die Regie-rungschefs und möglicherweise alle nationalen Parla-mente in Europa eines unserer großen Probleme in dergegenwärtigen Europapolitik nicht automatisch beseiti-gen. Weite Teile der Bevölkerung in Europa stehen dereuropäischen Integrationspolitik misstrauisch bis ab-lehnend gegenüber. So haben zum Beispiel in Deutsch-land laut einer Umfrage des Eurobarometers nur42 Prozent der Deutschen ein positives Bild von Europa.Woran liegt das? Das liegt sicherlich an der Unübersicht-lichkeit der jetzigen europäischen Strukturen und man-gelnder Kompetenzabgrenzung zwischen Europa undden Nationalstaaten. Viele Bürger fühlen sich der euro-päischen Politik ausgeliefert. Sie können nicht die Zu-sammenhänge europäischer Entscheidungen verstehen,und sie haben erst recht nicht das Gefühl, irgendeinenEinfluss darauf nehmen zu können. Das zeigen uns auchdie europaweit beängstigend niedrigen Beteiligungen anEuropawahlen.Wir müssen selbstkritisch feststellen, dass bei derFrage, ob wir genügend Überzeugungsarbeit für diesesEuropa geleistet haben, die Bilanz für uns Politiker man-gelhaft ist. Wir müssen mehr dafür tun, dass in der Be-völkerung ausreichendes Verständnis dafür gewecktwird, dass der Verfassungsvertrag nicht das Problem,sondern die Lösung vieler Probleme ist.Es gibt aber auch das objektive Problem der mangeln-den Zustimmung der Bevölkerung zu Europa, das wirmit Beschlüssen und Verträgen alleine nicht lösen kön-nen. Dafür brauchen wir Zeit. Wir sind jetzt nach einemgigantischen Erweiterungsprozess 27 Mitgliedsländerund 480 Millionen Menschen in dieser neuen Europäi-schen Union. Ich bin der festen Überzeugung, dass sichdie Bürgerinnen und Bürger an diese neue Situation ge-wöhnen müssen. Hier muss Vertrauen wachsen, dassdiese Europäische Union auch weiterhin zukunftsorien-tiert arbeiten kann. Dazu reichen zwei oder drei Jahrenicht aus.
Es darf deshalb angesichts der schnellen Erweiterungs-politik der vergangenen Jahre, zu der es in der Tat keineAlternative gab, kein einfaches „Weiter so!“ geben. Un-sere Hauptaufgabe liegt jetzt darin, die europäische Eini-gung zu vertiefen und die Arbeitsfähigkeit der europäi-schen Institutionen zu verbessern. Genau aus diesemGrund ist der vorliegende Verfassungsvertrag das besteund fortschrittlichste Dokument, das wir gegenwärtighaben.
Ich möchte noch einige Sätze zur Berliner Erklärungsagen. Sie entfaltet – das war durchaus geplant –, schonbevor es sie überhaupt gibt, eine erstaunliche Wirkung.Die Zeitungen sind voll von Veröffentlichungen zu Eu-ropa und drucken Sonderbeilagen. Die Menschen be-schäftigen sich intensiver mit der Europäischen Union.Es wäre wünschenswert, dass das so bleibt. Die Befas-sung mit der Berliner Erklärung geht sogar so weit – daskonnte ich gestern im Ausschuss hören –, dass die Frak-tion Die Linke jetzt schon an einer Berliner Gegenerklä-rung schreibt.
Ich frage mich allerdings, wogegen, da es die BerlinerErklärung noch gar nicht gibt.
Selbst Ihre Fraktion scheint der Berliner Erklärung einebesondere Bedeutung zuzumessen.Bei den anderen Fraktionen im Deutschen Bundestagfunktioniert die Arbeitsteilung nach bekanntem Muster.Die Opposition beklagt eine mangelnde parlamentari-sche Beteiligung, und es wird von Geheimniskrämereiund Geheimdiplomatie gesprochen. Das ist nachvoll-ziehbar. Aber eines ist doch sicher, und das weiß hier je-der von uns: Wenn die Berliner Erklärung von allen na-tionalen Parlamenten der Europäischen Union diskutiertund beschlossen worden wäre, hätten wir sie wenigstenszu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es geht hier auch umVertrauen. Ich vertraue darauf, dass unsere Bundeskanz-lerin Angela Merkel und ihre Verhandlungsführer einen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8851
(C)
(D)
Michael Stübgenguten und zukunftsweisenden Text aushandeln. Dass dieOpposition dieses Vertrauen nicht hat wie die Regie-rungsfraktionen, ist auch verständlich. Aber vielleichtsind auch Sie von dem Text der Berliner Erklärung über-rascht, und zwar positiv überrascht.
Sicherlich werden wir in den kommenden Wochen nochviel Gelegenheit haben, uns auch kritisch mit der Aus-wertung dieses Textes zu beschäftigen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir befin-den uns ungefähr in der Mitte der deutschen Ratspräsi-dentschaft. Schon Monate vor Beginn der deutschenRatspräsidentschaft war die Erwartungshaltung gegen-über Deutschland enorm groß, eine Erwartungshaltung,die mich anfangs beunruhigt hat. Von uns wurde – sokam es mir manchmal vor – schlichtweg erwartet, dasswir in einem halben Jahr alle offenstehenden Problemeder europäischen Politik lösen können.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.
Einen Satz noch. – Ich glaube aber, wir sollten weni-
ger besorgt, sondern eher stolz sein; denn die große Er-
wartungshaltung gegenüber der deutschen Ratspräsi-
dentschaft gründet sich darauf, dass man uns etwas
zutraut und dass man uns vertraut. Dieses Vertrauen
nicht zu enttäuschen, ist eine Herausforderung für uns
alle. Deshalb werden wir als CDU/CSU-Bundestags-
fraktion im Deutschen Bundestag Bundeskanzlerin
Angela Merkel und die Bundesregierung nach allen
Kräften unterstützen, zu einem erfolgreichen Abschluss
der deutschen Ratspräsidentschaft im Juni dieses Jahres
zu kommen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Diether Dehm,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberKollege Stübgen, Sie brauchen nicht eifersüchtig zusein: Wir sind von der Bundesregierung nicht bevorzugtworden; wir haben die Informationen über die BerlinerErklärung aus anderen Quellen in Europa bekommen.Aber sie liegen uns vor; allzu große Überraschungensind es nicht.
– Ich bitte dann herzlich, diesen Zwischenruf in das Pro-tokoll aufzunehmen. Wir haben diese Informationen imWege demokratischer Prozesse erhalten. Ich kann nurnoch einmal sagen, wenn Sie da ein bisschen eifersüch-tig sind: Wir kennen die Berliner Erklärung, überra-schend sind die Informationen nicht.
Vorgestern fand in Berlin der Rohstoffkongress desBDI unter Anwesenheit des halben Bundeskabinettsstatt. Der Spitzenfunktionär des BDI Herr Grillo appel-lierte, was die Rohstoffsicherung in Deutschland anbe-trifft, an die Wirtschafts-, Sicherheits-, Außen-, Europa-und Entwicklungspolitik. Ich zitiere Herrn Grillo wört-lich:Der größte Teil der weltweiten Rohstoffförderungfindet in ... instabilen Ländern statt. Dies ist an sichschon Grund genug zur Befassung der Außenpolitikmit den Problemen der Rohstoffversorgung.Und weiter:China hat inzwischen mit einer Reihe von durch dieinternationale Gemeinschaft geächteten Staaten inAfrika, Asien und Lateinamerika Allianzen ge-schlossen und in diesen zum Teil erhebliche Inves-titionen getätigt – unter anderem im Sudan und inAngola.Herrn Grillos Interesse an militärischen Aktivitäten derEU im Sudan hat mit Menschenrechten also wenig zutun.Die Bundesregierung kommt, so schrieb die „FAZ“ inihrer gestrigen Ausgabe, „dem Wunsch des BDI nachund gründet einen interministeriellen Ausschuss zurRohstoffpolitik“.Die Bundeskanzlerin sagte vorgestern beim BDI zumThema Rohstoffsicherung:Bei aller Unabhängigkeit zwischen Wirtschaft undPolitik müssen wir ... die strategische Herangehens-weise– das sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen –angesichts des Herangehens anderer Akteure in derWelt neu erlernen.Nein, Frau Ratspräsidentin, lernen Sie lieber nicht vomBDI und der Bertelsmann-Stiftung: Militäreinsätze fürRohstoffsicherung und Sozialkahlschlag für Konzern-chefs.
Ich weiß nicht, wann Sie zuletzt mit Kulturschaffen-den gesprochen haben, die für Europa, seine Friedens-und Sozialstaatsidee stehen und damit ein Millionenpu-blikum begeistern. Wir von der Linken haben es in denletzten Tagen auch wieder getan. Herausgekommen istdie Berliner Gegenerklärung. Ich zitiere daraus:Die „Berliner Erklärung“ ... dürfte wohl eher ein„Berliner Verschweigen“ werden. ... Die französi-sche Ratspräsidentschaft [soll] auf die Verabschie-dung des gescheiterten Verfassungsvertrages, dies-mal zerlegt in mehrere unübersichtliche Teile undVerträge, drängen. Erhalten wird ... die aufrüstungs-
Metadaten/Kopzeile:
8852 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Diether Dehmfixierte und neoliberale Substanz. Sie soll dannohne Volksabstimmungen durchgedrückt werden.Selbst in jenen Ländern, die zunächst ... zugestimmthatten, weiß die Bundesregierung: die Mehrheit istdahin. Ausgerechnet die Regierung eines Landes, indem keine Volksabstimmung über den europäi-schen Verfassungsvertrag vorgesehen ist, versucht,demokratische Referenden anderer Länder auszu-hebeln.Die Kulturschaffenden nennen dies einen kaltenPutsch der neoliberalen Eliten
und fordern:ein Ende der Geheimdiplomatie, europaweiteVolksabstimmungen über eine europäische Verfas-sung, statt Aufrüstungsgebot das Angriffskriegsver-bot des Grundgesetzes und der UN-Charta, stattNeoliberalismus im Verfassungsrang die Sozial-staatsregelung unseres Grundgesetzes und die so-zialen Menschenrechte der UN-Charta!
Nur so bekommt die EU die verfassungsrechtlichenVoraussetzungen, um aus der Sackgasse der G-8-Globalisierer herauszukommen.Diese Erklärung haben unter anderem unterschrieben:Daniela Dahn, Schriftstellerin, Katja Ebstein, Sängerin,Professor Dr. Rudolf Hickel, Wirtschaftswissenschaftler,Dr. Manfred Maurenbrecher, Liedermacher, DietherDehm,
Frau Merkel, verhelfen Sie Europa wieder zu seinerUrsprungsidee! Die ist gebaut auf Frieden in der Welt– nicht nur bei uns – und soziale Gerechtigkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Roth für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man vom heutigen Tage und von den nächsten Ta-gen mit den Feierlichkeiten zum 50. Geburtstag der Rö-mischen Verträge absieht: Unser eigenes Urteil über Eu-ropa sollte uns mitunter die Schamesröte ins Gesichttreiben; denn wir haben uns an den vielen Erfolgen of-fensichtlich sattgesehen. Wir mäkeln herum. Wir sindübellaunig.
Ich sage das vor allem deshalb, weil der Blick von außenauf die Europäische Union oftmals den Traum erkennt,den meine Kollegin Angelica Schwall-Düren beschrie-ben hat. Überall dort, wo die Menschenrechte mit Füßengetreten werden, wo Hunger herrscht, wo Unfriedenherrscht, dort glaubt man an dieses Europa; dort ist Eu-ropa Hoffnung. Man will dazugehören. Man will teilha-ben an dieser großen Idee, die uns seit vielen Jahrzehn-ten begleitet. Das sollten wir uns im politischen Alltagimmer wieder vergegenwärtigen, wenn wir anfangen,über das Wider, über die Schwierigkeiten, über die Pro-bleme zu reden.Selbstverständlich ist die Berliner Erklärung wichtig.Wir sollten denjenigen, die diese Berliner Erklärungzimmern – das ist nicht nur die Bundesregierung –, allesGute wünschen.
Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt eineganze Menge über die Berliner Erklärung hinaus zu tun.Wie könnte Europa auch in den kommenden fünf Jahr-zehnten gelingen?Eine Erkenntnis ist: Mut statt Verzagtheit. Die Er-klärung von Messina ist heute Morgen schon angespro-chen worden. Erinnern wir uns an den 30. August 1954!Damals hat die Assemblée nationale die EuropäischeVerteidigungsgemeinschaft abgelehnt – ein dramatischerRückschritt. Es hat damals aber keine Reflexionsphasegegeben. Man hat sich nicht zurückgelehnt und garnichts mehr gesagt; nein, man hat ganz beherzt die Ini-tiative ergriffen. Mit der Erklärung von Messina ist dieGrundlage für das heutige Europa, ist die Grundlage fürdie Römischen Verträge geschaffen worden. Wir könnenvon unseren Urgroßeltern und Großeltern also zumindestdieses lernen: In der Krise bewähren sich Mut, Aus-dauer, Kraft und Überzeugungsfähigkeit.
Ich komme zu einer zweiten Erkenntnis – sie magsich für den einen oder anderen etwas trivial anhören,aber sie ist nicht selbstverständlich –: Wir alle sindBrüssel. Ich weiß, dass es gerade in bayerischen Bierzel-ten dazugehört, mal richtig auf Europa draufzuhauen. Dabekommt man ordentlich Applaus. Erst sind die Berlinerdran, und dann sind die Europäer in Brüssel dran. LiebeKolleginnen und Kollegen, in Europa entscheiden nichtMarsmenschen, sondern wir entscheiden.
Die nationalen Regierungen tragen Verantwortung. DerDeutsche Bundestag trägt Verantwortung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8853
(C)
(D)
Michael Roth
Spätestens seit der zwischen Bundestag und Bundesre-gierung getroffenen Vereinbarung in Sachen Europakann niemand von uns mehr herummäkeln, er habe vonnichts gewusst, er sei überrannt worden, oder fragen,was denn da schon wieder Blödes entschieden wordensei. Nein, wir sitzen im Boot Europa. Wir gehören dazu.Auch wir sind für die guten, aber auch für manche derschlechten Entscheidungen verantwortlich, die in derEuropäischen Union getroffen wurden und getroffenwerden.
Ich will eine dritte Erkenntnis hinzufügen: Recht vorMacht. Es hat der Europäischen Union immer gutgetan,dass gerade die großen Mitgliedstaaten respektvoll mitden kleineren Mitgliedstaaten umgehen, dass wir aufAugenhöhe miteinander kommunizieren. Manche der lu-xemburgischen, belgischen oder niederländischen Initia-tiven in den vergangenen Jahrzehnten haben Europamehr vorangebracht, als das durch die großen Mitglied-staaten, die das stets für sich in Anspruch nehmen, ge-schehen ist. Diesen Respekt haben die Kleineren ver-dient. Deutschland ist stets gut damit gefahren, Anwaltder Interessen kleinerer Mitgliedstaaten zu sein.
– Der Gerhard Schröder hat eine ganze Menge gelernt.
Ich finde, er hat das im Großen und Ganzen gut gemacht.
– Frau Künast, auch Sie haben ihn gewählt, nicht nurich.
Kommen wir zu einer vierten Erkenntnis: Europabräuchte eigentlich Zeit für Konsolidierung. Das hatder Kollege Stübgen eben schon beschrieben. Ichstimme dem Kollegen im Prinzip zu. Ich frage Sie alleaber: Hat die Welt Zeit? Kann jemand auf Europa Rück-sicht nehmen? Können wir einfach sagen: „Probleme,hört jetzt mal auf, Probleme zu sein; lasst uns mal richtigdurchatmen und Kraft tanken; wir brauchen noch einbisschen Zeit und Muße für uns, und dann können wirdie Probleme der Welt lösen“?Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Welt wartetnicht auf Europa. Wir müssen das Tempo vielleicht nichterhöhen, wir müssen aber weiterhin mit großem Tempodafür sorgen, dass die Probleme der Welt gelöst werden,dass wir Globalisierung menschlich, sozial und demo-kratisch gestalten. Deswegen können wir den Bürgerin-nen und Bürgern auch nicht einreden, dass die Entwick-lung in irgendeiner Weise langsamer vonstatten gehenwird. Ich halte das für zwingend, auch wenn das für unsals politisch Verantwortliche mitunter beschwerlich seinmag.Ich komme zu einer weiteren Erkenntnis: Wer, zuRecht, die europäische Zivilgesellschaft einfordert, dermuss auch dafür sorgen, dass sich endlich Parteien, Ge-werkschaften und Verbände europäisieren. Das ist füruns alle, die wir in europäischen Parteifamilien zusam-menarbeiten, schwierig, weil wir wissen, dass es nichtimmer nur nach unserer Nase geht, sondern da unter-schiedliche Erwartungshaltungen, Traditionen und auchkulturelle Verbindlichkeiten aufeinanderstoßen. Aberohne europäische Parteien mit europäischen Spitzenkan-didaten, mit europäischem Bewusstsein und demokrati-schen Verhältnissen innerhalb dieser Parteien kann derAufbau dieser europäischen Zivilgesellschaft nicht ge-lingen. Das ist eine Aufgabe, für deren Umsetzung wiralle in unseren eigenen Parteifamilien arbeiten müssen.
Ich komme zu einer weiteren Erkenntnis: Europa lebtvon Zuwanderung und Einwanderung. Das wurde in Eu-ropa immer als eine ungeheure kulturelle und zivilgesell-schaftliche Erfolgsgeschichte wahrgenommen, auchwenn wir das oft hätten besser machen können. Wenn esuns mitunter schon nicht gelingt, Migrantinnen und Mi-granten verantwortungsvoll zu integrieren, wäre vielleichteine europäische Identität neben den anderen Identitä-ten, die wir alle in uns tragen, ein konkretes, möglicher-weise auch Erfolg versprechendes Angebot, um das Zu-sammenleben in unserer Gesellschaft zivil undrespektvoll zu gestalten. Auch das wird nicht in der Ber-liner Erklärung stehen, aber es ist dennoch notwendig.Es gilt bei uns in Deutschland die Devise: Weniger istoftmals mehr. Gilt das aber auch für die EuropäischeUnion? Ich befürchte: nein. Die Europäische Unionmuss in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eher mehrdenn weniger Verantwortung übernehmen. Da sollte esuns allen eher um das große Design gehen – klare Ziele,verbindliche Standards – und weniger um die Detailwut,die manchmal auch in Brüssel fröhliche Urständ feiert.Unser Botschafter in London, Wolfgang Ischinger, sagtekürzlich, Legitimität und Glaubwürdigkeit seien diePfunde der Europäischen Union. Ich stimme ihm zu: Wirhaben eine große Verantwortung im Bereich des Klima-schutzes, im Bereich der atomaren Nichtverbreitung undhaben die Aufgabe, dass unsere Sicherheitsstrategie, dievon ziviler Konfliktprävention ausgeht, zu einem maß-geblichen Exportschlager im globalen Maßstab wird.
Nur, dann müssen wir auch der Europäischen Union dieInstrumente in die Hand geben. Wir brauchen mehr ge-meinsame Entwicklungszusammenarbeit. Wir brauchennicht eine europäische Entwicklungspolitik und 27 wei-tere. Wir brauchen gemeinsame entwicklungspolitischeAnstrengungen. Wir brauchen ein Europa, das mit einerStimme spricht. Wir brauchen perspektivisch sicherlichauch europäische Streitkräfte. Nicht in erster Linie des-wegen, weil das Synergieeffekte hervorbringt. Nachdemwir mit den Währungen einen Kernbereich nationalerSouveränität abgegeben haben, verabschieden wir unsperspektivisch auch aus einem weiteren Kernbereich na-tionaler Souveränität, der maßgeblich für Frieden und
Metadaten/Kopzeile:
8854 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Michael Roth
Kooperation steht. Wir könnten deutlich machen: Wirwollen die Probleme dieser Welt gemeinsam lösen undgemeinsam zum Frieden in der Welt beitragen.
– Da stimme ich Ihnen zu, Herr van Essen. Die Parla-mentsbeteiligung und die parlamentarische Kontrolledes Bundestages sind etwas, worauf wir in der Europäi-schen Union stolz hinweisen sollten.Den Schutz von Umwelt, Natur und Klima habe ichschon angesprochen. Auch der Technologietransfer imBereich der erneuerbaren Energien ist etwas, was für unsin Deutschland von ganz herausragender Bedeutung ist.Bei den Umwelttechnologien sind wir Exportweltmeis-ter. Wenn es der Europäischen Union hier gelingt, ande-ren Regionen der Welt konkrete Angebote zu unterbrei-ten, wie man ohne Kernenergie und ohne fossileEnergieträger in eine gute, erfolgreiche, prosperierendeZukunft gehen kann, wäre das etwas, worauf wir zuRecht stolz sein können.
Last, but not least will ich das unterstreichen, wasauch unser Arbeits- und Sozialminister immer wieder inden Mittelpunkt seiner Bemühungen gerückt hat: guteArbeit! Faire Arbeitsbedingungen, kein Lohndumping,sondern Löhne, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer und deren Familien ernähren, kein Dumping um dieniedrigsten Unternehmensteuern, gelebte Solidarität –das ist eine zentrale Herausforderung der EuropäischenUnion.
Der Wert der gelebten Solidarität ist das, was die Er-folgsgeschichte der Europäischen Union maßgeblichausmacht. Auch andere predigen Freiheit; Freiheit ist einzentraler Begriff unserer Werte. Aber mit Solidarität ha-ben wir einen weiteren Exportschlager gestiftet, dernicht nur in die Europäische Union gehört, sondern auchglobal gesehen eine Rolle spielen muss.Es gibt zweifellos Alternativen zu dem, was ich ge-sagt habe und was der Außenminister und viele Kolle-ginnen und Kollegen heute hier erklärt haben. Politik istnie alternativlos. Aber es ist zu hinterfragen, ob es wirk-lich eine akzeptable Alternative ist, dass wir uns weiterdurchwurschteln und meinen, wir könnten mit den Re-geln von Nizza die Europäische Union und die Zukunftunserer Mitgliedstaaten gestalten. Ich halte das für einefahrlässige Strategie. Wer Differenzierung innerhalb derEuropäischen Union das Wort redet, muss akzeptieren,dass das ein Auseinanderdriften der Europäischen Unionin mehrere Klubs und Gruppen mit sich bringt und damitauch Entsolidarisierung bedeutet.Möglicherweise steht am Ende einer solchen Diskus-sion auch die Frage, ob bestimmte Länder noch bereitund in der Lage sein können, Mitglied der EuropäischenUnion zu sein. Ich wünsche mir nicht, dass sich dieseFrage stellt; auch die SPD-Fraktion wünscht sich dasnicht. Wir wünschen uns weiterhin eine EuropäischeUnion der Solidarität. Wenn man auf das zurückblickt,was meine und unsere Urgroßeltern und Großeltern ge-schafft haben, kann man nur sagen: Chapeau! Das isteine großartige Leistung. Unsere Elterngeneration mussjetzt zeigen, ob sie sich in diese erfolgreiche Tradition zustellen vermag. Das gilt im Übrigen aber auch für meineGeneration.Vor uns liegt viel Arbeit. Ich wünsche allen, die sicham gemeinsamen, solidarischen Europa mit Engagementbeteiligen wollen, alles Gute. Feiern wir am Sonntag or-dentlich! Europa hat es verdient.
Rainder Steenblock ist der nächste Redner für dieFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Na-türlich sind 50 Jahre europäische Integration gerade füruns Grüne, aber auch für uns alle ein gewichtiger Grundzum Feiern. Heute sind sehr viele Verdienste aufgezähltworden, die dieser europäische Integrationsprozess mitsich gebracht hat. Ich würde gerne zu drei Herausforde-rungen, vor denen wir stehen, etwas sagen. Denn esreicht nicht aus, an diesem Tage nur die Verdienste derVergangenheit aufzuzählen.Wenn wir uns als Politikerinnen und Politiker ernstnehmen, dann müssen wir in dieser Situation Antwor-ten auf die Zukunftsfragen finden, vor denen viele Bür-gerinnen und Bürger in Europa zurzeit kritisch bisängstlich stehen. Wenn 44 Prozent der Menschen inEuropa sagen, dass sie durch die Europäische Unionkeine Vorteile sehen, haben sie damit nicht recht. Aberdiese Einstellung der Menschen weist auch auf unsereFehler hin. Es gibt Vermittlungsprobleme, die wirselbst zu verantworten haben. Das hat auch damit etwaszu tun, dass wir an Tagen wie heute – einige Kollegenhaben es bereits gesagt – in Festlaune über Europa re-den, aber in den Wahlkreisen es viele Kolleginnen undKollegen nicht schaffen, den Herausforderungen desPopulismus zu widerstehen. Anstatt bei bestimmtenThemen die Schuld auf Europa zu schieben und inwirklich übler Polemik die Brüsseler Bürokratie anzu-greifen, müssen wir es schaffen, kohärent europa-freundlich zu argumentieren. Wenn wir es darüber hi-naus schaffen, billigem Populismus zu widerstehen,dann kommen wir, was die Vermittlung der Überzeu-gung angeht, dass Europa ein Erfolg für die Menschenist, vielleicht ein Stück weiter voran.
Es wird viel über das Thema Schule diskutiert. DieJugend in Europa ist viel europafreundlicher und offe-ner, als es den Anschein hat. Wenn wir uns aber einmalanschauen, welche Rolle Europa in den deutschen Lehr-plänen spielt – das liegt mehr in der Zuständigkeit der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8855
(C)
(D)
Rainder SteenblockLänder denn des Bundes –, dann muss man sagen: Es istbeschämend, dass in vielen Bundesländern das ThemaEuropa in den Lehrbüchern der Sekundarstufe I und derSekundarstufe II überhaupt nicht behandelt wird.
Das können wir uns nicht leisten, wenn wir in Europazusammenleben wollen.
Zu Recht erwarten die Bürgerinnen und Bürger vonEuropa weniger Bürokratie, mehr Transparenz undmehr Demokratie. Die Verfassung ist ein Ansatz, dieseErwartungen zu erfüllen.
Die Berliner Erklärung, die das krönende Elementdieses 50-jährigen Geburtstages sein soll, entstand durcheinen Prozess, der leider nicht transparent war und derkontraproduktiv zu dem ist, was wir den Menschen imRahmen der Verfassungsdebatte eigentlich versprochenhaben.
Wenn wir Europa demokratischer und vor allen Dingentransparenter machen wollen, dann brauchen wir öffent-liche Debatten. Die Bundesregierung hat leider dieChance versäumt, eine öffentliche Debatte in Europaüber den zukünftigen Weg zu ermöglichen.
Das ist bitter; denn diese Chance hätte es gegeben.Es geht nicht darum, alle europäischen Parlamente zueiner Redaktionskonferenz einzuladen; das ist nicht dasThema. Aber es geht um die Eckpunkte, über die poli-tisch diskutiert werden muss. Die Bürgerinnen und Bür-ger in Europa haben ein Recht auf Mitgestaltung. Wennwir ihnen dieses Recht nicht einräumen, dann laufen wirin die Falle von Nizza und damit in die Falle eines hand-lungsunfähigen Europas hinein. Dann wären wir nicht inder Lage, diese Zukunftsfragen positiv zu beantworten.Deshalb bedauere ich diese Entwicklung.Wenn wir die Auffassung vertreten, dass Europa nurgemeinsam gelingt – Frau Merkel, das ist ein hervorra-gendes Motto –, dann müssen sich die Regierungen unddie Parlamente anders verhalten. Wie ich heute Morgengehört habe, soll die Berliner Erklärung mit den Worten„Wir, die Völker Europas“ beginnen. Dazu sage ich, dassdas zynisch ist. Denn es waren die Regierungen Europasund nicht die Völker Europas, die diese Erklärung ver-fasst haben.Wir müssen einen Prozess starten, an dessen End-punkt die Menschen in Europa mehr mitwirken können.Unsere Kritik ist, dass die Bundesregierung dieseChance – leider – verpasst hat. Wenn wir Europa attrak-tiver machen wollen, dann sollten wir Demokratie undTransparenz ernst nehmen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Thomas Silberhorn,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! 50 Jahre Römische Verträge sind heute Anlass,auf die Geschichte der europäischen Integration zurück-zuschauen. Ich möchte dem noch einen Aspekt hinzufü-gen, nämlich einen Verweis auf die StaatsmännerKonrad Adenauer und Charles de Gaulle, die den Muthatten, aus der Idee der europäischen Einigung ein kon-kretes Projekt zu machen.Beginnend mit der Europäischen Gemeinschaft fürKohle und Stahl, die aus der Überzeugung entstandenist, dass man die Produktion von kriegswichtigen Güterngemeinschaftlich gestalten müsse, wurde der europäi-sche Gedanke mit den Römischen Verträgen um die Ideedes Gemeinsamen Marktes erweitert, die uns bis heutebeschäftigt. Wir haben 1987 mit der Einheitlichen Euro-päischen Akte das Ziel der Vollendung des Binnenmark-tes verkündet. Wir sind noch heute mit der Vollendungdes Binnenmarktes befasst.Die europäische Integration ist aber von Beginn annicht nur eine Integration in Wirtschaftsfragen gewesen,sondern hat sich von Anfang an als Wertegemeinschaftverstanden und dies auch gelebt. Die Europäische Unionsteht für die Beachtung der Menschenrechte, für Rechts-staatlichkeit und Demokratie. Das hat sich beispiels-weise darin ausgedrückt, dass die DDR de facto in die-sen Gemeinsamen Markt einbezogen worden ist. Zieldieser Integration ist es nicht gewesen, die Blockbildungzu vertiefen, sondern – im Gegenteil – selbst so starkund attraktiv zu werden, dass die Idee der europäischenIntegration auch Anreize für unsere Nachbarn setzt.Dies ist nach 50 Jahren gelungen.
Die europäische Integration ist die Grundlage für diedeutsche Einheit gewesen, die wir 1990 durch den Falldes Eisernen Vorhanges vollenden konnten, und damitfür die Überwindung der Teilung unseres Kontinents.Damit hat sich die magnetische Anziehungskraft tatsäch-lich realisiert, auf die Konrad Adenauer seinerzeit ge-setzt hatte.Meine Damen und Herren, diese Anziehungskraftder Europäischen Union wirkt bis heute ungebrochenauf unsere Nachbarstaaten. Wir stehen durchaus vorvergleichbaren Herausforderungen wie zu Gründungs-zeiten der Europäischen Gemeinschaften, allerdingsnicht in einem europäischen, sondern in einem globa-len Maßstab. Es geht darum, dass die EuropäischeUnion in der Sicherheitspolitik als globaler Akteur auf-
Metadaten/Kopzeile:
8856 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Thomas Silberhorntritt. Es geht darum, dass wir eine Weltwirtschaftsord-nung unter den Bedingungen des Klimawandels unddes Bevölkerungswachstums gestalten. Es geht weiter-hin darum, dass wir uns weltweit für die Beachtung derMenschenrechte und die Durchsetzung der Rechtsstaat-lichkeit einsetzen.Obwohl diese europäische Integration nach außen soattraktiv wirkt, ist sie nach innen einer Akzeptanzkriseausgesetzt. Es zeigen sich in unseren Bevölkerungen Er-müdungserscheinungen, die nach meiner Einschätzungdurchaus etwas mit der geschichtlichen Entwicklung undden unterschiedlichen Erfahrungswelten unserer Gene-rationen zu tun haben.Für die Nachkriegsgeneration war die europäische In-tegration vielfach ein Herzensanliegen. Meine Eltern ha-ben Bekannte, die nach dem Zweiten Weltkrieg die erstedeutsch-französische Ehe geschlossen haben. Das wardamals der „Bild“-Zeitung eine Schlagzeile auf Seite 1wert. Heute ist das alles natürlich bare Selbstverständ-lichkeit. Vieles von dem, was für die ältere Generationprägend war, ist der jungen Generation keiner Erwäh-nung mehr wert.Lassen Sie mich dazu ein weiteres Beispiel nennen.Denken Sie an Schülerinnen und Schüler, die in diesemJahr in fünfte Klassen bzw. auf weiterführende Schulenkommen. Sie haben ihr Taschengeld immer in Euro be-kommen. Das heißt, sie selbst kennen die D-Mark nichtmehr. Das zeigt, wie sich die Wahrnehmung der europäi-schen Integration in der Generationenfolge verändert.Deswegen ist es wichtig, zu sagen: Europäische Integra-tion ist nichts, was sich vererbt. Die europäische Integra-tion muss vielmehr immer wieder von neuem begründetund mit jeder Generation neu erarbeitet werden.
Heute ist es unsere Aufgabe, Antworten auf Fragen zufinden, die wir in Europa nur gemeinsam lösen können.Aber genauso wichtig ist es, dass wir uns auf diese Fra-gen beschränken und darauf achten, dass sich die euro-päischen Institutionen nicht verselbstständigen. DieseBalance zwischen Vielfalt und Einheit zu finden, ist un-sere dauerhafte Aufgabe.Es ist heute schon viel von den gemeinsamen Interes-sen gesprochen worden, die wir in der EuropäischenUnion voranbringen müssen. Ich möchte noch den Kli-maschutz erwähnen. Der europäische Gipfel am 8. und9. März dieses Jahres hat für uns in Europa tatsächlichzu einer weltweiten Vorreiterrolle auf diesem Gebiet ge-führt. Auch beim Thema Energiesicherheit haben wirmit dem Aktionsplan „Energiepolitik für Europa“ eineVorreiterrolle eingenommen. Ich möchte mich für dasumsichtige und beachtliche Engagement sowohl derBundeskanzlerin als auch der gesamten Bundesregie-rung – auch für das des Bundesministers Glos, der hierfachlich zuständig ist und noch anwesend ist – ganzherzlich bedanken.
Wir haben genauso Aufgaben bei der Bekämpfungdes internationalen Terrorismus und der Ausgestaltungder Außen- und Sicherheitspolitik wahrzunehmen. Esgeht auch darum, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäi-schen Union im internationalen Maßstab zu steigern. Ichmöchte hervorheben, dass in der deutschen Ratspräsi-dentschaft die Idee eines transatlantischen Marktplatzesneue Dynamik entfalten kann. Der Gipfel zwischen derEU und Amerika im April steht unmittelbar bevor. Dasalles sind Initiativen, die die Voraussetzungen dafürschaffen, dass wir auch in Europa mehr Beschäftigungrealisieren können.Europa muss allerdings auch seine Grenzen finden,sowohl in geografischer Hinsicht wie auch in institutio-neller Hinsicht. Was die Erweiterungspolitik angeht,müssen wir uns zunächst im Inneren konsolidieren, be-vor wir zu weiteren Erweiterungsschritten in der Lagesind. Wir müssen aber auch darauf achten, dass wir dieseErweiterungspolitik nicht nach einem Alles-oder-nichts-Prinzip gestalten, sondern dass wir den Staaten, die en-ger mit uns kooperieren wollen, realistische und erreich-bare Ziele anbieten – das können auch Zwischenschrittesein – auf dem Weg zu einer vollständigen Integration indie Europäische Union.Es gehört ferner dazu, dass wir die europäische Er-weiterungspolitik mit der Nachbarschaftspolitik engervernetzen. Egal wie weit wir die Europäische Unionnoch erweitern, es wird – so banal es auch klingen mag –immer noch einen Nachbarn geben. Wir werden also dieAufgabe haben, die europäische Peripherie eng zu ver-netzen mit den jeweils benachbarten Staaten. Dabei wer-den wir darauf achten müssen, dass wir differenziertervorgehen als bisher. Denn natürlich ist es verständlich,dass wir bei der Ukraine andere Ansätze brauchen alsetwa bei den nordafrikanischen Mittelmeer-Anrainer-staaten.Wir brauchen neben geografischen Grenzen auch eineBegrenzung der Europäischen Union in der Wahrneh-mung ihrer Kompetenzen. Der Europäische Verfas-sungsvertrag bringt dazu einige Neuerungen, die für unsbesonders wichtig sind. Die doppelte Mehrheit beispiels-weise würde in der Tat besser als bisher zum Ausdruckbringen, welche Stärke die Mitgliedstaaten in den euro-päischen Prozess der Meinungsbildung einbringen. Ichmöchte darauf hinweisen, dass sich im Zuge der Erwei-terungen in 50 Jahren die Verhältnisse grundlegend ge-ändert haben. Bei der Gründung der Europäischen Ge-meinschaften waren die großen Mitgliedstaaten in derÜberzahl. Deswegen gab es ein besonderes Interesse,dass die kleineren Staaten nicht majorisiert werden. Des-wegen hat man ihnen ein besonders starkes Gewicht ein-geräumt.Das hat sich heute völlig umgekehrt. Wir haben jetzteine Union von 27 Mitgliedstaaten mit vielen kleinenLändern, sodass wir jetzt mehr darauf achten müssen,dass in der Meinungsbildung auch die Repräsentativitätstärker zum Zuge kommt, als das bisher der Fall war.Deswegen ist es richtig, bei Mehrheitsentscheidungenauf die Mehrheit der Staaten und der Bevölkerungen zuachten.Wir brauchen daneben aber auch eine klare Abgren-zung der Kompetenzen der Europäischen Union. Dennwenn die Ausübung politischer Macht durch solche Ver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8857
(C)
(D)
Thomas Silberhornträge an das Recht gebunden wird, dann muss diesesRecht natürlich klar bestimmt sein und darf nicht der be-liebigen Auslegung anheimgegeben werden. Deswegenbrauchen wir eine klare Abgrenzung der Kompetenzenund eine Beschränkung der Europäischen Union auf ihreKernkompetenzen.Wir haben dabei als Bundestag eine wichtige Aufgabeim Rahmen der Subsidiaritätskontrolle, die wir zuneh-mend bewusster wahrnehmen.Wenn wir darauf zurückblicken, dass wir als Deut-scher Bundestag 50 Jahre gebraucht haben, bis wir eineförmliche Vereinbarung mit der Bundesregierung überdie Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäi-schen Union geschlossen und bis wir uns auf den Weggemacht haben, in Brüssel ein eigenes Büro einzurich-ten, dann sehen wir, dass manche Dinge eben eine ge-waltige Dauer brauchen und Beharrlichkeit in der Ver-folgung unserer Ziele notwendig ist.Ich möchte anfügen, dass auch die Rückverlagerungvon Kompetenzen wieder auf die Agenda der Europäi-schen Union gesetzt werden sollte. Wir haben dabei mitder Föderalismusreform in Deutschland bereits einen An-satz gemacht. Wenn ich beispielsweise an die Kompetenzder Europäischen Union zur Harmonisierung des Binnen-markts denke, könnte ich mir gut vorstellen, dass man dasein bisschen beschränkt und auf unmittelbare Wettbe-werbsbeeinträchtigungen konzentriert. Dann wäre viel ge-wonnen.Ich begrüße auch, dass die Bundesregierung sich da-für einsetzt, die Verwaltungsaktivitäten der Kommissionstärker an politische Vorgaben zu binden, indem wir dasPrinzip der Diskontinuität einführen. Ich ergänze das,was ich hier schon vorgetragen habe: Wir müssen auchdarüber reden, das Initiativmonopol der EuropäischenKommission aufzubrechen. Dort, wo Initiativen für poli-tisches Handeln unternommen werden können, muss eseine Rückbindung an demokratisch legitimierte Vertretergeben.Unser Ziel muss sein, dass wir das Vertrauen derBevölkerung – gerade das Vertrauen der jungen Genera-tion – in die europäische Integration neu gewinnen.Dazu müssen wir auf die Herausforderungen der Globa-lisierung Antwort geben. Wir müssen die Grenzen derEuropäischen Union bestimmen, in geografischer undinstitutioneller Hinsicht. Wir müssen uns auch zu unse-ren gemeinsamen Werten bekennen. Wenn wir den Blicknicht nur nach innen richten – –
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zu meinem letzten Absatz.
Nein, keinen Absatz mehr. Einen Satz noch!
Wenn wir den Blick nicht nur nach innen richten, son-
dern auch von außen auf die Europäische Union
schauen, dann stellen wir fest: Während sich im Blick
von innen die Vielfalt der Europäischen Union eröffnet,
zeigt sich von außen die Einheit. Beides müssen wir be-
wahren. Die ewige Herausforderung der Europäischen
Union wird es sein, eine Balance zwischen Vielfalt und
Einheit zu finden.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c und 19 bauf:4 a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenKornelia Möller, Katja Kipping, Dr. DietmarBartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder LINKENResultate und gesellschaftliche Auswirkungender Gesetze für moderne Dienstleistungen amArbeitsmarkt – Hartz-Gesetze –, insbesonderevon Hartz IV– Drucksachen 16/2211, 16/4210 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten DirkNiebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPNeue effiziente Strukturen in der Arbeitsver-waltung – Auflösung der Bundesagentur fürArbeit– Drucksache 16/2684 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten KorneliaMöller, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKENBezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlän-gern– Drucksache 16/3538 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie19 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinKunert, Roland Claus, Katja Kipping, weitererAbgeordneter und der Fraktion der LINKENFreigabe der im Bundeshaushalt einbehalte-nen Mittel der Arbeitsmarktpolitik für dasJahr 2007– Drucksache 16/4749 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss
Metadaten/Kopzeile:
8858 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang ThierseZur Großen Anfrage der Fraktion Die Linke liegt einEntschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile KollegenOskar Lafontaine, Fraktion Die Linke, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Bundesregierung hat umfangreich Antwort aufeine Große Anfrage der Fraktion Die Linke zur Lagederjenigen in Deutschland, die Hartz-IV-Empfängerin-nen und -Empfänger sind, gegeben. Die Aussprache lässtnur in geringem Umfang Raum, auf diese Antworteneinzugehen.Ich beginne mit zwei Zeitungsmeldungen. Heute mel-det die „Berliner Zeitung“:Preise steigen schneller als die LöhneBruttoverdienste nahmen 2006 nur um 0,7 ProzentzuDie „Süddeutsche Zeitung“ eröffnet mit der Über-schrift:Mehr Arbeitsplätze in DAX-KonzernenUnternehmen verdienen so gut wie nie zuvor/Kon-junktur treibt besonders die Gewinne der BankenWahrscheinlich ist die große Mehrheit der Auffas-sung, dass diese Meldungen wenig miteinander zu tunhaben, oder man vertritt die Auffassung, dass das Kür-zen von Arbeitslosengeld und der Druck auf die Arbeits-losen dazu geführt haben, dass die Konjunktur inDeutschland angezogen hat. Diesbezüglich möchte icheine Antwort der Bundesregierung zitieren. Frage 13 derGroßen Anfrage lautete:Welche Auswirkungen haben die Gesetze fürmoderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt nachAuffassung der Bundesregierung auf die Verhand-lungsposition der Gewerkschaften in Tarifauseinan-dersetzungen sowie auf das System der betrieb-lichen Mitbestimmung unter besondererBerücksichtigung von angedrohtem Arbeitsplatzab-bau und angekündigten Produktionsverlagerungenins Ausland sowie im Zusammenhang mit Arbeit-geberforderungen nach unbezahlter Erhöhung derArbeitszeit, unbezahlten Überstunden und Lohnver-zicht?Die Antwort der Bundesregierung ist ganz schlicht.Sie lautet:Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnissedarüber vor, ob die Gesetze für Moderne Dienstleis-tungen am Arbeitsmarkt die Verhandlungspositio-nen der Gewerkschaften und Betriebsräte beein-flusst haben.Da bleibt einem wirklich die Spucke weg.
Man stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung in denletzten Monaten jemals Gespräche mit Betriebsrätenoder Gewerkschaften geführt hat. Bei jedem Gesprächhört man, dass Hartz IV die Verhandlungsposition derBetriebsräte und der Gewerkschaften massiv untergra-ben und unterminiert hat. Die Bundesregierung sagtaber, dass ihr „keine Erkenntnisse“ vorliegen. So kannman nicht über die Köpfe der Menschen in Deutschlandhinweg regieren; so kann man nicht antworten.
Die Wahrheit ist, dass das ständige Herabsinken derLöhne in Deutschland ein Ergebnis der verfehlten Politikder Regierungen der letzten Jahre ist.
Die Rutschbahn, die eröffnet worden ist, hat Namen. Sie,meine sehr geehrten Damen und Herren, sind dafür ver-antwortlich.Auf der einen Seite ist Hartz IV zu nennen: derZwang, Beschäftigung, die deutlich unter dem Durch-schnittsniveau bezahlt ist, anzunehmen. Es ist doch klar,dass dies ein Anreiz für Unternehmerinnen und Unter-nehmer ist, Arbeitsplätze anzubieten, die deutlich unterdem Durchschnittsniveau entlohnt werden. Sie müssendie Folgen Ihrer Handlungen bedenken, wenn Sie hierGesetze beschließen!
Auf der anderen Seite ist die Leiharbeit zu nennen.Wenn Sie zulassen, dass immer mehr Betriebe in immergrößerem Umfang Leiharbeiter einstellen, die deutlichgeringer als die Beschäftigten der Stammbelegschaft be-zahlt werden, schaffen Sie einen zweiten Mechanismus,um die Löhne in Deutschland immer weiter nach untenzu bringen. Hartz IV und Leiharbeit sind zusammen Ur-sachen dafür, dass die Reallöhne in Deutschland immerweiter absinken.
– Das hängt zusammen, verehrte Frau Kollegin Nahles:Wenn man die Arbeitnehmerposition systematisch, Zugum Zug, schwächt, dann rutschen die Löhne. NehmenSie das doch bitte zur Kenntnis! Ich erzähle doch keineFabel.
Die nächste Maßnahme, die die Löhne ins Rutschenbringt, ist die Scheinselbstständigkeit. Auch hier gibt esausreichend Anhaltspunkte. Kollege Gysi hat bereits dieeuropäische Dimension dieses Problems im Hinblick aufdie Bolkestein-Richtlinie angesprochen.Die letzte Station ist die permanente Verweigerungder Mehrheit dieses Hauses, im Gegensatz zu allen ande-ren europäischen Staaten eine untere Grenze zu ziehen,also einen gesetzlichen Mindestlohn zu schaffen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8859
(C)
(D)
Oskar LafontaineDiese vier gravierenden Fehlentscheidungen in derArbeitsmarktpolitik führen dazu, dass die Löhne immerweiter nach unten rutschen.Es ist gut, dass eine Diskussion darüber eingesetzthat, ob dieser Prozess so weitergehen kann. Es ist nichtgut, dass Sie bei solchen Debatten immer die Wahrheit,die Fakten ignorieren und von Ihren eigenen Versäum-nissen ablenken. Es ist wirklich der Gipfel – das möchteich einmal sagen; vielleicht dämmert Ihnen etwas, wennich Ihnen dies mitteile –, dass heute der Betriebsratsvor-sitzende und sein Stellvertreter eines großen Betriebesan der Saar das Parteibuch zurückgegeben haben. DieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können solcherleiPolitik nicht mehr verstehen.
Sie ziehen ihre Konsequenzen. Das ist die unausweichli-che Folge solcher Fehlentscheidungen.Nun komme ich zur zweiten Frage – Frage 15 derGroßen Anfrage –, die ich ansprechen wollte:In welchem Zusammenhang steht nach Ansicht derBundesregierung die Zunahme von prekärer oderatypischer Beschäftigung – bei gleichzeitigemRückgang sozialversicherungspflichtiger Beschäfti-gungsverhältnisse …?Auch dazu sagt die Bundesregierung:Eine belastbare Aussage über mögliche Zusammen-hänge zwischen der Entwicklung der beiden Be-schäftigungstypen ist nicht möglich.Da fragt man sich, wo diejenigen, die diese Antwortgeschrieben haben, eigentlich leben. Es wird ernsthaftbehauptet, dass es nichts miteinander zu tun habe, wennman das Tor zu ungesicherten, prekären Arbeitsverhält-nissen aufstößt und gleichzeitig die Zahl der sozialversi-cherungspflichtigen, regulären Arbeitsplätze zurückgeht.Die Wahrheit ist das Gegenteil. Je mehr man die Mög-lichkeit geschaffen hat, ungesicherte, prekäre Arbeits-verhältnisse einzurichten, umso mehr geht die Zahl dernormalen Arbeitsplätze in Deutschland zurück. Das isteine völlige Fehlentwicklung und eine Konsequenz IhrerArbeitsmarktpolitik.
Dies ist für uns auch ein Abbau der Demokratie; ichmöchte das aufgrund der Knappheit meiner Redezeit nurkurz ansprechen. Niemand hat dies deutlicher gemachtals der große französische Soziologe Pierre Bourdieu.Er wies darauf hin, welche Konsequenzen es für dieMenschen hat, wenn sie am Monatsende nicht wissen,ob sie noch genug Geld haben, um zu Aldi zu gehen undLebensmittel zu kaufen. Er wies darauf hin, welche Kon-sequenzen es für die Menschen hat, wenn sie am Mo-natsende die Miete nicht zahlen können. Er wies daraufhin, welche Konsequenzen es für die Menschen hat,wenn sie nur damit beschäftigt sind, sich zu fragen, obsie die Strom- und Gasrechnung bezahlen können. SeineSchlussfolgerung war, dass diese Menschen die Zukunftnicht mehr planen können und ihnen damit die Teilhabeam gesellschaftlichen Leben verwehrt ist.
Deshalb müssten Zahlen wie die, die heute vom DIWveröffentlicht worden sind, dass die Einkommensarmutin Deutschland in den letzten Jahren von 12 auf17 Prozent angestiegen ist und dass sich die Einkom-mensarmut bei 10 Prozent der Bevölkerung verfestigthat, Sie erschüttern und dazu bringen, Ihre Handlungenzu überdenken und Ihre Politik zu revidieren.
Es ist gut, dass eine Fraktion – ich spreche jetzt dieGrünen an – zu der Einsicht gelangt ist, dass Hartz IVvielleicht doch eine gravierende Fehlentscheidung warund dass man Hartz IV reformieren sollte. Ich begrüßediese Diskussion ausdrücklich. Ich begrüße auch dieDiskussionen in der CDU/CSU, die darauf hinauslaufen,dass man die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer nicht systematisch enteignen kann. Ich sage nocheinmal: Es ist ein Skandal, wenn ein älterer Arbeitneh-mer 60 000 Euro in die Arbeitslosenkasse eingezahlt hatund im Fall der Arbeitslosigkeit nur 10 000 Euro zurück-bekommt. Korrigieren Sie endlich diese Enteignung derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer!
Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen,Hartz IV ist eine gravierende Fehlentscheidung, die zurRückentwicklung der Reallöhne führt. Die Verschlechte-rung der Lebensbedingungen für viele Menschen inDeutschland ist eine Konsequenz Ihrer verfehlten Poli-tik.
– Zum Zuruf von Ihnen in der ersten Reihe: Wenn immermehr Betriebsräte das SPD-Parteibuch zurückgeben,dann geschieht es Ihnen recht. Sie ziehen damit die Kon-sequenzen aus Ihrer verfehlten Politik.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt KollegeGerald Weiß.
Gerald Weiß (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich gehe jetzt nicht auf den gesamten linkspopu-listischen Exkurs ein, den Herr Lafontaine hier veran-staltet hat.
Er sprach vom Faktenignorieren; da hat ein Fachmanngesprochen.
Metadaten/Kopzeile:
8860 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Gerald Weiß
Ich will mich auf den Antrag der Linken, der hier vor-liegt, konzentrieren: „Bezugsdauer des Arbeitslosen-geldes I verlängern“. Diesen hat Herr Lafontaine in ei-nem Teilaspekt angesprochen. Das ist ein klassischesBeispiel dafür, wie man grundlegende Wirkungen,Wechselwirkungen und Fakten in einer Volkswirtschaftignorieren kann und eine Volkswirtschaft, eine Gesell-schaft kaputtmachen kann, was zu beweisen ist. DieserAntrag ist im doppelten Sinne verantwortungslose Poli-tik,
frei nach Shakespeares „Wie es euch gefällt“: ein Sam-melsurium populistischer Ohrwürmer, die Sie durch dieHalle treiben, ein Fesselballon, losgelöst von allen Fak-ten, Wirkungen und Wechselwirkungen.
Ich nehme als Erstes Ihre Kernforderung. Wenn derAnspruch auf Arbeitslosengeld I mit jedem Beitrags-jahr um einen Monat wachsen soll, dann ist das, HerrLafontaine, im Ergebnis ein Programm zur Zerstörungder Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer. Wer länger einzahlt, der soll auchlänger ALG I erhalten – das hört sich gut an, das ist einGedanke, der der Union sehr vertraut und nahe ist.
Man kann dieses Prinzip aber ins Groteske verkehren:30 Jahre Beitrag – 30 Monate ALG I, 35 Jahre Beitrag –35 Monate ALG I, 40 Beitragsjahre – 40 Monate ALG I.
Das wäre doch ein verlockendes Angebot für die großenKonzerne in unserem Land, um ihre Leute wieder mit-hilfe der Mittel aus den öffentlichen Kassen in den Vor-ruhestand zu schicken.
Herr Lafontaine, können Sie denn nicht aus den Feh-lern lernen? Das, was Sie veranstalten wollen, wäre einneues, gigantisches Vorruhestandsprogramm, von denBeitragszahlern bezahlt.
Vor diesem Unfug wird die Mehrheit des Hauses Sie be-wahren. Das, was Sie hier vorschlagen, wird nicht Wirk-lichkeit werden. Die Große Koalition will exakt das Ge-genteil:
Wir wollen mehr Chancen für ältere Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer und nicht weniger Chancen für ältereArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wir wissen, dass wir bei der Gestaltung der Bezugs-dauer – innerhalb der Union haben wir uns über diesenAspekt ganz schön gestritten – auf einem schmalen Gratzwischen Frühverrentungsanreizen, die wir nicht wollen,und Leistungsgerechtigkeit gehen. Mit Ihrem Antragverfallen Sie in den alten Fehler der Betonung der Früh-verrentungsanreize. Diesen Fehler dürfen wir aber nichtnoch einmal machen. Davor müssen wir diese Gesell-schaft bewahren.
Der zweite Baustein, der bei einem linkspopulisti-schen Potpourri nicht fehlen darf: das Zumutbarkeits-prinzip. Sie wollen Dämme gegen Bildungsbereitschaftund Mobilität. Das sind Dämme für starres Besitzstands-denken in dieser Volkswirtschaft und in dieser Gesell-schaft.
Ich glaube, dass die Zumutbarkeitskriterien, die jetzt imGesetz stehen, angemessen sind. Ich glaube, Sie sindnicht in der Lage, sich sachlich damit auseinanderzuset-zen. Sie wollen bei den betroffenen Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern sowie bei den Arbeitslosen auf dieganz billige Tour punkten.
Für deren Befindlichkeiten und Situation haben wirVerständnis. Wir haben auch Verständnis für die Bei-tragszahler. Wenn jemand zumutbare Arbeit ablehnt,müssen andere dafür bezahlen, nämlich die Beitragszah-ler. Wir haben ein solidarisches System. Wenn zumut-bare Arbeit abgelehnt wird, müssen die Beitragszahlersolidarisch dafür einstehen. Daher brauchen wir einevernünftige Balance zwischen den Interessen und Belan-gen der betroffenen Arbeitslosen und Arbeitnehmer, diewir ernst nehmen, und den Interessen der Beitragszahler.Das muss in einem Gleichgewicht sein. Wir sehen diesesGleichgewicht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Möller von der Fraktion Die Linke?
Gerald Weiß (CDU/CSU):
Ja.
Bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dassWidersprüche keine aufschiebende Wirkung mehr ha-ben? Ist Ihnen ferner bekannt, dass arbeitslose Menschenin Arbeit gebracht werden, die sie aufgrund ihrer körper-lichen Verfasstheit nicht ausüben können, wenn sie nicht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8861
(C)
(D)
Kornelia MöllerGesundheitsschäden davontragen wollen, diese Men-schen diese Arbeit aber so lange ausüben müssen, bisüber den Widerspruch entschieden ist?Sie sagen dann: „Jeder muss zumutbare Arbeit anneh-men.“ Doch das trifft nicht. Denn die Menschen müssenan dem Punkt auch nicht zumutbare Arbeit annehmen,wenn sie ihren Anspruch nicht verlieren wollen. Dasheißt, in der Realität – Sie müssen sich einmal an-schauen, wie die Praxis aussieht – werden sie gezwun-gen, Arbeiten auszuführen, die sie aufgrund ihrer körper-lichen Verfasstheit nicht machen können.
Darauf hätte ich gern eine Antwort.Gerald Weiß (CDU/CSU):Die können Sie haben. Im Gesetz steht: Von nieman-dem kann die Aufnahme einer Arbeit verlangt werden,durch die er in irgendeiner Hinsicht überfordert ist, be-sonders natürlich in gesundheitlich-körperlicher Hin-sicht. Ein Blick ins Gesetz hätte Sie belehrt; Sie hättensich die Antwort ganz einfach erschließen können. –Vielen Dank, Sie dürfen sich setzen.
Noch einmal: Wir meinen die Zumutbarkeitskriterienwie heute gefasst – sie sind bei der Hartz-Reform nur ge-ringfügig, im Sinne von Klarstellungen, verändert wor-den – sind in einer vertretbaren Balance zwischen denInteressen der Arbeitslosen und den Interessen der bei-tragszahlenden Arbeitnehmer.Ich will noch etwas zum Baustein Übergangsregelung,dem befristeten Zuschlag nach dem Bezug von Arbeits-losengeld I, sagen. Wir wissen, dass denjenigen, derenBezug von Arbeitslosengeld I ausläuft, befristet ein Zu-schlag gezahlt wird, der dann abgestuft wird. Sie wollenhier höhere Leistungen, Sie wollen längere Bezugsdau-ern usw.
Ich glaube, dass die Regelung, wie sie heute ist, demPrinzip der Leistungsgerechtigkeit entspricht. Es ist jadiskutiert worden, diesen Zuschlag abzuschaffen. Ichglaube, das wäre nicht gerecht: Wir dürfen denjenigen,der oft sehr lange gearbeitet hat und dann den bitterenWeg der Arbeitslosigkeit und des Bezugs vonArbeitslosengeld I geht, beim Übergang zumArbeitslosengeld II nicht so stellen wie den Kiosksteher,der sich sein Leben lang nicht für Arbeit interessiert hat.Wir müssen deshalb an diesem Übergangsgeld als Aus-druck der Leistungsgerechtigkeit festhalten.Das, was Sie zur Mindestabsicherung sagen, bewegtsich, das wissen Sie selbst, zwischen Rosstäuscherei undHochstapelei und illusorischen Vorstellungen. Sie ver-kaufen diesen Aspekt als etwas revolutionär Neues; dochim Wesentlichen – das wissen Sie – wollen Sie ein paarBezugszeiten verändern. Sie gaukeln den Leuten etwasvor. Die Mindestabsicherung, glaubt der Normalsterbli-che, ist wertdefiniert, das ist eine gewisse Mindestleis-tung, unabhängig von dem Arbeitseinkommen, das manvorher hatte, und von der Versicherungsleistung, die manvorher hatte. Im Grunde wollen Sie hier graduelle Verän-derungen. Über die kann man möglicherweise reden –sofern wir dem Beitragszahler weitere Lasten zumutenkönnen und wollen. Aber da sehen wir eine deutlicheGrenze. Wir wollen den Beitragszahler nach Möglich-keit entlasten. Deshalb treten wir auch dafür ein, den Ar-beitslosenversicherungsbeitrag noch einmal, so weit wieirgend machbar, abzusenken.
Das beste Konjunkturprogramm, das man sich vorstellenkann, Herr Lafontaine, sind nicht irgendwelche staatli-chen, großen Veranstaltungen, sondern das sind die Stär-kung der Kaufkraft der Arbeitnehmer
und die Begrenzung der Lohnnebenkosten der Unterneh-mer durch das Absenken von Sozialversicherungsbeiträ-gen, wo immer das möglich ist.
Diesen Weg müssen wir gehen und nicht den Weg, denSie uns hier aufzeigen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Dirk Niebel, FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfeund Sozialhilfe ist – das muss man nach wie vor fest-stellen – der richtige Schritt gewesen. Es war völlig un-verständlich, dass wir als wohl einziger Staat der Weltfür den gleichen Lebenssachverhalt – dass man sich vonder eigenen Tätigkeit nicht ernähren kann – zwei unter-schiedliche steuerfinanzierte Transferleistungen vorge-halten haben. Das war nicht nur unsinnig. Das war auchteuer – zum Thema „teuer“ komme ich noch – und fürdie betroffenen Menschen entwürdigend. Denn sehrviele Arbeitslosenhilfeempfänger haben gleichzeitigauch Sozialhilfe als ergänzende Leistung zum Lebensun-terhalt bekommen. Diese Personen mussten sich im Hin-blick auf ihre intimsten wirtschaftlichen Daten vor zweiwildfremden Behörden praktisch entkleiden. Das war
Metadaten/Kopzeile:
8862 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dirk Niebelunwürdig. Deswegen war die Zusammenlegung vomGrundsatz her völlig richtig.
Nichtsdestotrotz bin ich immer noch der Ansicht, manhätte es anders machen können. Es gibt die unterschied-lichsten Stilblüten, die man sich wirklich kaum vorstel-len kann.
So hat zum Beispiel ein kommunaler Träger der Hilfedie Wohnung einer kommunalen Wohnungsbaugesell-schaft, die zu groß war, dadurch „passend“ gemacht,dass ein Zimmer in der Wohnung abgeschlossen wurde.So einen Schwachsinn muss man sich erst einmal einfal-len lassen.
Ein zweites Beispiel: Der Partner in einer Bedarfsge-meinschaft, der sich in einem dauerhaften Beschäfti-gungsverhältnis befand, wurde aufgefordert, dieses zubeenden, um in einem befristeten Beschäftigungsver-hältnis eine Tätigkeit mit einem höheren Stundenlohnaufzunehmen, um dadurch kurzzeitig den Bedarf der Ge-meinschaft zu decken. Auch das ist dämlich hoch zehn.
Dennoch bleibt die Zusammenführung grundsätzlichrichtig.Wer allerdings glaubt, er könne, indem er aus zweiBehörden drei Behörden macht, Geld einsparen und da-mit die Schaffung zusätzlicher Krippenplätze finanzie-ren, der ist schlichtweg nicht in der Lebenswirklichkeitangekommen.
Wer aus zwei Behörden drei Behörden macht, kann mitSicherheit nicht Geld einsparen, sondern wird stets mehrKosten haben. Deswegen haben wir von vornherein dieeinheitliche Trägerschaft auf kommunaler Ebene gefor-dert. Das ist, wie die Fakten belegen, nach wie vor rich-tig.
Dieser Schritt ist nicht nur effizienter, sondern dadurchwird auch verhindert, dass es zu Stilblüten der eben ge-nannten Art kommt.Wenn der Main-Kinzig-Kreis als Optionskommune
– ja, der dortige Landrat ist von der SPD – vor den hessi-schen Sozialgerichten das Recht einklagen muss, auf dieStellendaten der Bundesagentur zugreifen zu dürfen,und dies sogar mit der Androhung von Beugehaft für denAnstaltsleiter in Nürnberg, Herrn Weise, verbundenwird, dann frage ich mich wirklich, in welcher Republikwir eigentlich leben.
Jeder, der vermitteln kann, sollte dies tun dürfen unddemzufolge auch Zugriff auf die Stellendaten haben. Daszeigt wieder einmal, wie richtig es wäre, die Betreuungder Arbeitslosen in einer Hand zu bündeln.
Diese Bündelung in einer Hand macht nach unseremDafürhalten nur dort Sinn, wo die Menschen und die Ar-beitsplätze sind: vor Ort auf kommunaler Ebene.
Aus diesem Grund, Herr Kollege Brandner, sind wirnach wie vor der festen Überzeugung: Weil die Bundes-agentur als Mammutbehörde in ihrer jetzigen Strukturnicht reformierbar ist, ist der beste Weg, um zu einerbesseren Betreuung von Arbeitsuchenden und Arbeitge-bern zu kommen, der Akt der Auflösung der Bundes-agentur für Arbeit.
Herr Brandner – das sage ich Ihnen, damit auch Siedas irgendwann einmal verstehen –, die Auflösung derBundesagentur bedeutet, dass es diese Behörde eine ju-ristische Sekunde lang nicht gibt. Das hat unheimlichviele Vorteile. Eine Behörde, die es nicht gibt, hat keineinternen Verwaltungsvorschriften, deren Anwendung dieArbeitszeit mehr als in Anspruch nehmen würde, son-dern sie ist an das Gesetz gebunden. Man kann zwar dieeine oder andere neue Vorschrift erlassen, aber manbraucht bei Weitem nicht mehr den Umfang von Vor-schriften, den es gegenwärtig gibt.Eine Behörde, die es nicht gibt, hat keine drittelparitä-tische Selbstverwaltung, in deren Rahmen Arbeitgeber-funktionäre, Gewerkschaftsfunktionäre und diejenigen,die ihre öffentlichen Hände meistens in den Taschen derBürger haben, die Arbeitsmarktpolitik undemokratischauskungeln.
– Lieber Herr Brandner, Ihr sozialdemokratischer Kol-lege, der ehemalige Arbeitsminister Ehrenberg, hat da-mals gesagt: Wer immer in den Vorstand der Bundesan-stalt für Arbeit gewählt wird, nimmt nach kurzer Zeit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8863
(C)
(D)
Dirk Niebelden gleichen drittelparitätischen schafsähnlichen Ge-sichtsausdruck an.
Dort wird das Geld anderer Leute auf eine Art und Weiseverwaltet, die zur Folge hat, dass die Arbeitsuchendenkeine Integrationschancen haben und die Arbeitgebernicht die passenden Arbeitskräfte bekommen.Herr Brandner, da schon der Kollege Lafontaine dieBetriebsräte im Zusammenhang mit den Hartz-Refor-men erwähnt hat – das war ein ganz besonderesBonmot –,
möchte ich auf einen weiteren entscheidenden Vorteilder Auflösung einer Behörde hinweisen. Eine solcheAuflösung bedeutet, dass die Personalräte nicht mehrjede vernünftige Veränderung blockieren und sich nichtmehr jede Mitwirkungsmöglichkeit wie auf einem arabi-schen Basar teuer erkaufen können. Nach der Auflösungder Behörde kann man für eine vernünftige Personal-struktur sorgen, indem man das Personal der Aufgabefolgen lässt: mit Änderungskündigungen, Versetzungenund gesetzlichen Betriebsübergängen. Den richtigenWeg, wie man eine vernünftige Struktur schaffen kann,haben wir in unserem Antrag auf Schaffung effizienterStrukturen in der Arbeitsverwaltung sehr dezidiert be-schrieben.
Meine Damen und Herren, es ist tatsächlich richtig,dass die Arbeitslosenversicherung eine Ausfallbürg-schaft für einen klar begrenzten Suchzeitraum ist, indem der Lebensstandard abgesichert werden soll. Mankann trefflich darüber streiten, wann dieser Suchzeit-raum beendet sein muss und wann nicht.Der Kollege Weiß hat sehr genau beschrieben, wieeine lange Arbeitslosengeldbezugsdauer auf Frühverren-tungen und auf die Initiative wirkt, wieder eine Tätigkeitaufzunehmen, wo sich doch die Leistung, die man be-zieht, an dem letzten Nettogehalt orientiert, das mit derDauer der Arbeitslosigkeit in der Regel nur geringer er-zielt werden kann. Deswegen geht es bei der Frage derGerechtigkeit nicht darum, ob man einen Monat längeroder kürzer Arbeitslosengeld I bezieht.Die Frage, die sich den Menschen unter dem Stich-wort Gerechtigkeit unmittelbar stellt, lautet, was pas-siert, wenn der Bezug des Arbeitslosengeldes wann auchimmer zu Ende ist. Wird dann die gesamte Lebensleis-tung eines Menschen zur Disposition gestellt? Wird der-jenige, der gearbeitet und vorgesorgt, also das getan hat,was Politiker zu Recht von ihm fordern, schlechter ge-stellt als derjenige, der vielleicht niemals Eigenvorsorgebetrieben hat – ob er es nicht konnte oder nicht wollte,sei völlig dahingestellt –, sondern der das Geld, das erzur Verfügung hatte, auch ausgegeben hat? Hier stelltsich die Gerechtigkeitsfrage.Deswegen glaube ich ernsthaft, dass wir zwar viel-leicht darüber reden müssen, was nach Auslaufen desBezuges von Arbeitslosengeld mit der erarbeiteten Le-bensleistung geschieht, aber wir sollten mit Sicherheitnicht den Fehler begehen, bei der Bezugsdauer vonArbeitslosengeld I als Regelsatz eine Rolle rückwärts zumachen. Nach unserem Konzept – wir fordern die Auf-lösung der Bundesagentur – ist das auch gar nicht nötig,weil wir die Arbeitslosenversicherung über den Regelta-rif hinaus nach dem Äquivalenzprinzip gestalten. Dakann jeder seinen eigenen Anspruch auf Absicherungüber Wahltarife gewährleisten und gestalten.
Das ist eine freiheitliche Lösung, mit der den Bürge-rinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben wird, beivoller sozialer Absicherung in einem solidarischen Sys-tem dafür zu sorgen, dass ihre individuellen Sicherheits-bedürfnisse ebenso Berücksichtigung finden.
Deswegen kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dassSie unserem Antrag nicht zustimmen, und ich freue michauf Ihre Zustimmung.Vielen herzlichen Dank.
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd
Andres das Wort.
G
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Was ich hier in der Hand halte, sind die Druck-sachen, die wir heute beraten.
Darunter befindet sich eine Große Anfrage der Linkenmit 125 Fragen. Die Drucksache umfasst 73 Seiten.
Allen, die sich für die Probleme der Arbeitsmarktreformund der Arbeitsmarktentwicklung interessieren, emp-fehle ich diese Drucksache sehr.
Metadaten/Kopzeile:
8864 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Gerd AndresSie gewinnt ihren Gehalt durch die Antworten der Bun-desregierung und nicht durch die Fragen der Linken.
Dass Oskar Lafontaine eine Frage daraus zitiert hat, än-dert auch nichts daran. Mit ihm beschäftige ich michgleich noch.Ich will erst einmal etwas zu Herrn Niebel sagen: Ichkenne überhaupt niemand anderen, der mit einer solchenHäme und Gehässigkeit seinen eigenen Arbeitgeber inden Debatten hier immer niedermacht. Man muss näm-lich wissen, dass für Herrn Niebel bei der Bundesagenturfür Arbeit noch ein Arbeitsplatz freigehalten wird. Mankann sich natürlich die Frage stellen, ob das Zitat vonHerbert Ehrenberg auch auf ihn zutrifft und er hier längsteinen schafsgesichtigen Eindruck macht.
Ich empfehle Herrn Niebel wirklich, dass er sich ein-mal vorstellt – er hat hier rhetorisch gefordert, man sollesich einmal eine Behörde vorstellen, die es nicht gibt –,dass es für seine Vorstellungen keine politische Mehrheitgibt. Das ist genug Antwort. Deshalb brauchen wir unsmit Ihnen nicht mehr auseinanderzusetzen. Wir werdendie BA nicht auflösen, und es wird die logische Sekundenicht geben.
Deswegen ist Ihre Drucksache damit ganz schlicht undergreifend erledigt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Niebel?
G
Nein, er kann hinterher eine Kurzintervention ma-
chen. Er hat ja gerade geredet. Jetzt rede ich meinen Teil.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch mehr
als die Antworten auf die Große Anfrage und noch deut-
lichere Antworten liefert ein Blick auf die Fakten. Da
halte ich es in der Tat mit Oskar Lafontaine. Wer sich
nämlich die Situation auf dem Arbeitsmarkt anschaut
und den Februar 2007 mit dem Februar des Vorjahres
vergleicht, der kann Folgendes feststellen: 826 000 Ar-
beitslose weniger, 535 000 Erwerbstätige und davon
452 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr,
Rückgang der Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen,
die sich im Rechtskreis des SGB II befinden, Rückgang
der Zahl der Bedarfsgemeinschaften.
Das ist eine rundherum ziemlich positive Entwick-
lung. Ich sage und füge hinzu: Dies hat auch mit den Ar-
beitsmarktreformen zu tun, die wir in den letzten Jahren
hier mühsam durchgesetzt haben. Jetzt entfalten sie ihre
Wirkungen.
Ich finde, die Bilanz kann sich sehen lassen.
Die Wende auf dem Arbeitsmarkt hat längst stattge-
funden, auch wenn Sie sie in Ihrem Entschließungsan-
trag – diesem Papier in grün – noch fordern. Ich finde,
Sie haben den Startschuss nicht gehört, sondern längst
verpennt.
Wir haben die Arbeitsmarktpolitik mithilfe der Grü-
nen kräftig umgekrempelt. Mein Blick fällt gerade auf
die Kollegin Thea Dückert, die bei den ganzen Arbeits-
marktreformen hervorragend mitgearbeitet hat.
Ich finde, dass sich das, was wir in der Arbeitsmarktpoli-
tik erreicht haben, durchaus sehen lassen kann.
Ich komme zum nächsten Punkt. Herr Lafontaine, Sie
sind für mich in sozialpolitischen Debatten – und nicht
nur darin – nicht besonders glaubwürdig. Ich kann mich
nämlich an alte Diskussionen mit Ihnen erinnern. Bei der
Regelung der geringfügigen Beschäftigung habe ich
mich seinerzeit häufiger mit den Beispielen der Firma
Wagner-Pizza und anderer aus dem Saarland beschäfti-
gen müssen.
Ich will Ihre Frage mit einer rhetorischen Frage erwi-
dern. Sie haben gefragt, wie jemand behandelt wird, der
40 Jahre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt
hat. Die Arbeitslosenversicherung ist eine Risikover-
sicherung. Was machen wir mit dem, der sein Leben
lang Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat,
ohne arbeitslos zu werden? Sollen ihm am Ende seines
Erwerbsleben seine Beiträge zurückgezahlt werden, oder
wie hätten sie es gerne?
Ihr Beispiel aus der Praxis macht deutlich, dass Sie keine
Ahnung von den Tatbeständen haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des KollegenLafontaine?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8865
(C)
(D)
G
Nein. Er hatte schon Redezeit. Er kann sich zu einer
Kurzintervention melden.
Die gute Entwicklung erfasst nicht nur die Arbeitslo-
sen, die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung er-
halten, sondern auch die Langzeitarbeitslosen profitie-
ren. Es gibt kräftig Bewegung im System. Ich sage
ausdrücklich: Fördern und fordern zahlt sich richtig aus.
Wir stempeln die Menschen nicht mehr als arbeitslos
ab, sondern helfen ihnen zurück in Arbeit. Wir bieten ih-
nen eine Perspektive und organisieren Teilhabe.
Das gilt ganz besonders für die Gruppen, die es am Ar-
beitsmarkt schwerer haben. Das bedeutet für jeden Ein-
zelfall mehr Chancen, Perspektiven und Teilhabe. Da-
rum geht es uns in der Arbeitsmarktpolitik.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Möller?
G
Die Dame kann sich ebenfalls zu einer Kurzinterven-tion melden. Das können nach meiner Rede alle machen.
Wir haben mit den Reformen am Arbeitsmarkt syste-matisch eine Grundkonzeption durchgesetzt, die nichtsmit dem Fürsorgestaat zu tun hat, der im Sozialhilfesys-tem über viele Jahre hinweg nach dem Motto „Wir zah-len den Leuten den Unterhalt; ansonsten sollen sie unsmöglichst in Ruhe lassen“ gehandelt hat, sondern bei deres um den aktivierenden Sozialstaat geht.
Ich füge hinzu: Wir arbeiten Stück für Stück denKoalitionsvertrag ab. Wir fördern mit insgesamt25 Milliarden Euro Investitionen und steigern somit dieinländische Nachfrage. Wir senken die Lohnnebenkos-ten und stärken mit der Steuerreform die Wettbewerbsfä-higkeit der Unternehmen. Das sind konkrete Ergebnisseund Maßnahmen, die sich auch mit Großen Anfragennicht wegdiskutieren lassen.In Ihren Fragen kommt ein völlig falsches Grundver-ständnis von Sozialpolitik und aktivierender Arbeits-marktpolitik zum Ausdruck. Ich empfehle Ihnen drin-gend, den Aufschwung zu nutzen, um in derArbeitsmarktpolitik weiter voranzukommen, und eineandere Grundeinstellung einzunehmen, um für mehr Be-schäftigung zu sorgen.Über die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld istbereits gesprochen worden. Ich will aber eines ausdrück-lich in Erinnerung rufen: Bis zum Jahre 1984 gab es inder Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich ein JahrArbeitslosengeld. Herr Blüm und die christlich-liberaleKoalition haben unter bestimmten Zwängen die Bezugs-dauer systematisch verlängert.Arbeitslosengeld kann jetzt ein Jahr bzw. von über55-Jährigen 18 Monate bezogen werden. Das halten wirfür richtig. Wir denken nicht daran, zu der alten Rege-lung zurückzukehren. Denken Sie daran, wie beispiels-weise große Unternehmen mit dieser Regelung umge-gangen sind: Die Zahlung des Arbeitslosengeldes wurdedazu genutzt, um wunderbare Übergänge zur Frühver-rentung oder Ähnlichem zu schaffen.
Wir halten die bestehende Regelung für richtig undvernünftig in dem Sinne, Menschen eher in Arbeit zubringen, als sie länger in Arbeitslosigkeit zu halten.
Ich will einige Punkte aus dem Entschließungsantrag,diesem grünen Papier, ansprechen. Ich kann genausowenig wie meine Vorredner auf die gesamte Große An-frage eingehen, aber ich will ein schönes Argument auf-greifen. Sie kommen immer wieder – gestern hat es imAusschuss und in der Fragestunde eine Rolle gespieltund auch jetzt ist es wieder Thema – auf die Wider-spruchsverfahren zu sprechen. Ich möchte Sie auf Fol-gendes aufmerksam machen: Sie müssen die Wider-spruchsverfahren zur Zahl der Leistungsbezieher bzw.der Personen, die das System umfasst, in Beziehung set-zen.
– Sie werden es nicht glauben, aber selbst ich habe ge-merkt, dass es zugenommen hat. Herzlichen Dank!
Aber wir haben die Zusammenführung von Arbeitslo-senhilfe und Sozialhilfe ganz bewusst auch deswegengemacht, weil wir die verdeckte Armut in diesemLande aufdecken wollten. Das haben wir mit dem neuenSystem geschafft.
Es stimmt, dass wir nun ungefähr 500 000 Personenmehr – es ist noch strittig, ob es vielleicht nur
Metadaten/Kopzeile:
8866 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Gerd Andres400 000 sind – im neuen System haben als vorher beiArbeitslosengeld II und Sozialhilfe zusammen.
Das System hat bewirkt, dass verdeckte Armut aufge-deckt wurde. Nun arbeiten wir die Zahlen Stück fürStück ab. Wir haben deutliche Erfolge und das ist auchgut so. Vergleichen Sie beispielsweise die Quote der Wi-derspruchsverfahren betreffend das Arbeitslosengeld IImit der betreffend die Arbeitslosenhilfe. Das waren imJahre 2006 hochgerecht 9,8 Prozent im Vergleich zu9,6 Prozent bei der Arbeitslosenhilfe im Jahre 2004; dasist keine wirkliche Steigerung. Mit Ihrer Großen An-frage haben Sie Alarm geschlagen. Dazu sage ich IhnenFolgendes: Sie machen Politik und fordern alle Men-schen auf, Widerspruch einzulegen, wenn es irgendwiemöglich ist. Anschließend legen Sie Anträge vor, in de-nen Sie auf die hohe Zahl der Widerspruchsverfahrenverweisen, und behaupten, da müsse etwas faul sein. Siemüssen sich schon für die richtige Melodie entscheiden.
Ich könnte jetzt Ihren wunderbaren Entschließungs-antrag Punkt für Punkt auseinandernehmen, aber nur soviel: Gemessen an der Zahl der Leistungsbezieher befin-den wir uns voll im Rahmen. Angesichts dessen, dasswir ein völlig neues Rechtssystem aufgebaut haben,nämlich das Arbeitslosengeld II, ist es nicht erstaunlich,dass es in der Anfangs- und Aufbauphase eine größereZahl von Widersprüchen gab. Es gab sicherlich Unsi-cherheiten. Die Zahlen sind aber in Ordnung. Ich bitteSie daher zur Kenntnis zu nehmen, dass das System nunläuft, dass es sich langsam settelt und dass wir alles da-ran setzen, Stück für Stück die Effizienz in diesem Sys-tem zu verbessern. Sie können sich Ihre Melodie vonden Widersprüchen und den Klageverfahren sonst wohinstecken. Mich beeindruckt das nicht besonders, genausowenig wie die Fachleute, die sich damit auseinanderset-zen.
Damit komme ich zum letzten Punkt. Wir haben inunserer Antwort auf Ihre Große Anfrage die Auswirkun-gen aller Arbeitsmarktreformen aufgezeigt, die wirdurchgeführt haben. Wir haben es geschafft, die Bun-desagentur für Arbeit deutlich umzubauen. Wir habenfür sehr viel mehr Effizienz gesorgt. Das hat sich kos-tengünstig ausgewirkt und hat uns die Möglichkeit gege-ben, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag abzusenken.
Wir haben immer dafür gekämpft, die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber bei denLohnnebenkosten zu entlasten.
Das haben wir geschafft, weil das System effizienter ge-worden ist, weil wir besser geworden sind, weil die Ver-mittlungsgeschwindigkeit höher geworden ist und weilmehr Menschen in Arbeit gekommen sind. Wir werdengenau an diesem Weg unerschütterlich festhalten und esvorantreiben. Ob das den Linken gefällt oder nicht, istdabei völlig egal.Ich empfehle Ihnen, darüber nachzudenken, wie mandas System verbessern kann, anstatt eine Linie zu verfol-gen, die von vornherein nur auf eine Ablehnung des Sys-tems hinausläuft. Ich sage Ihnen: Sie haben den Schussnicht gehört. Der Zug ist abgefahren. Es bleibt bei derZusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.Das ist gut für dieses Land. Vielleicht gewöhnen Sie sichdaran.Herzlichen Dank.
Nachdem Kollege Andres so freimütig zu Kurzinter-
ventionen eingeladen hat, gibt es nun drei davon hinter-
einander. Zuerst kommt der Kollege Niebel, dann Kol-
lege Lafontaine und Kollegin Möller.
– Mein Vorschlag ist, dass alle drei Kurzinterventionen
nacheinander gestellt werden und dass Sie dann etwas
länger Zeit zur Erwiderung haben.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun Herr
Niebel.
Der Genosse Staatssekretär hat im Parlament dieMenschen beschimpft und keine Zwischenfragen zuge-lassen. Das sagt einiges über seinen Mannesmut aus.
Aber die arrogante, oberlehrerhafte Art dieses Staatsse-kretärs zeigt natürlich, dass es politisch völlig richtigwar, dass wir bei den Haushaltsberatungen die Strei-chung exakt dieser Stelle gefordert haben.
Nichtsdestotrotz wollen wir zur Sachlichkeit zurück-kehren, Herr Kollege Staatssekretär.
Die Bundesagentur für Arbeit hatte im letzten Jahreinen eigenen Haushalt von ungefähr 53 MilliardenEuro. Das ist fast zwei Mal so viel wie der Staatshaus-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8867
(C)
(D)
Dirk Niebelhalt der Schweiz. Sie war mit diesen Mitteln, die vonden Beitragszahlern aufgebracht wurden – die Steuer-mittel kommen noch hinzu –, bei ungefähr einem Drittelaller Beschäftigungsaufnahmen beteiligt.
Ohne jedwede Art von Schaum vor dem Mund mussman ganz klar feststellen: Mitteleinsatz und Ergebnisstehen in keinem ausgewogenen Verhältnis zueinander.
Die FDP ist der festen Überzeugung, dass wir mitmöglichst vielen privatwirtschaftlichen Elementen einestaatliche Arbeitsvermittlung organisieren müssen, auchim Wettbewerb mit Privaten, aber eine staatliche Ar-beitsvermittlung, weil es immer Regionen, Menschenund Branchen geben wird, die nicht in der Lage sind, at-traktiv für einen privaten Vermittler zu sein. Es ist eineAufgabe der Daseinsvorsorge des Staates, auch diesenMenschen ein Angebot zu machen.
Weil vor dem Hintergrund dessen, was die Bundes-agentur in der Vergangenheit nicht konnte und heute im-mer noch nicht kann, früher oder später ein öffentlich-rechtliches Arbeitsvermittlungssystem zu Recht infragegestellt werden würde, muss man die Bundesagentur zu-kunftsfähig aufstellen. Das kann man nur, indem mantatsächlich radikale Veränderungen durchführt. Diesekriegen Sie angesichts der internen Strukturen nur dannhin, wenn Sie mit dem Mittel der Auflösung der Behördediese juristische Sekunde nutzen, um die Aufgaben neuzu ordnen, das Personal den Aufgaben folgen zu lassenund dadurch die Rahmenbedingungen zu schaffen, dassstaatliche Arbeitsvermittler überhaupt erst einmal in dieLage versetzt werden, erfolgreich arbeiten zu können.Das können sie nämlich, weil Sie so herumgemurkst ha-ben, heute nicht.
Wir fordern völlig zu Recht die Einführung vonmarktgerecht ausgestalteten Vermittlungsgutscheinen.Bei dem, was Sie gemacht haben, geht es nur um dieFrage, ob jemand kürzer oder länger arbeitslos ist. Fürdie Vermittlung bedarf es etwas mehr, als nur die Dauerder Arbeitslosigkeit festzustellen. Es bedarf eines umfas-senden Bildes des Menschen, den man integrieren will,und eines umfassenden Bildes der Stelle, die manbesetzen will. Wenn ich dem Arbeitssuchenden mit ei-nem marktgerecht ausgestalteten VermittlungsgutscheinNachfragemacht gebe, und zwar vom ersten Tag der Ar-beitslosigkeit an, dann geht er mit seinem Gutschein zudem Vermittler seines Vertrauens. Das kann der privatesein, das kann aber auch der staatliche sein. Der musssich zumindest in den erfolgsabhängigen Lohnkompo-nenten refinanzieren. Was meinen Sie, welche Verände-rungsbereitschaft das intern mit sich bringt, zu Struktu-ren zu kommen, die es den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern der Agentur ermöglichen, überhaupt ersteinmal erfolgreich sein zu dürfen. Das sollten Sie beden-ken. Wenn Sie weniger arrogant und weniger bräsig wä-ren, sondern die Anträge der Opposition lesen würden,dann wüssten Sie auch, was wir beantragen, und könntensachgerecht mit uns diskutieren.
Ich erteile Kollegen Oskar Lafontaine das Wort zu
seiner Kurzintervention.
Zwei Redner haben sich gegen die Verlängerung derDauer des Bezugs von Arbeitslosengeld I für ältere Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewandt. Dazumöchte ich mich zunächst äußern. Es war der KollegeWeiß, wenn ich es recht in Erinnerung habe, der gesagthat: Wir möchten die älteren Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer vor dieser Fehlentwicklung bewahren. – Wasbringt Sie, Herr Kollege Weiß, eigentlich dazu, zu sagen,Sie möchten die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer vor einer Fehlentwicklung bewahren, die diegroße Mehrheit der Bevölkerung wünscht? Glauben Sietatsächlich, Sie hätten so viel mehr Einblick in die Le-benszusammenhänge der Menschen und so viel mehrKenntnisse der Lebensbedingungen älterer Arbeits-loser?
– Ja, so arrogant und dumm sind Sie. Das muss manwirklich sagen.
Glauben Sie wirklich, Sie als Nichtarbeitsloser undnicht von diesem Schicksal Betroffener hätten mehr Ein-sicht in diese Lebensbedingungen?
Deshalb möchte ich Ihnen sagen: Der Vorwurf des Popu-lismus, der bei solchen Forderungen immer wieder erho-ben wird – Populismus kommt auch aus Ihren Reihen;ich erinnere nur an die Forderung, das Arbeitslosengeld Ilänger zu zahlen –, ist letztendlich anmaßende Dumm-heit, weil man immer wieder glaubt, man wisse besserals die Mehrheit der Menschen, was ihnen nutzt undfrommt. Schminken Sie sich eine solche Selbstgerech-tigkeit ab, Herr Kollege Weiß! Das wollte ich Ihnen hierin aller Klarheit einmal sagen.
Nun hat der Kollege Andres gesagt, beim Arbeitslo-sengeld I könne man die Bezugsdauer nicht verlängern,weil sich dann die Frage stelle, wie derjenige behandeltwerden solle, der nie arbeitslos werde. Dann müsse die-
Metadaten/Kopzeile:
8868 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Oskar Lafontaineser, so haben Sie insinuiert, nach unserer Auffassungsein gesamtes Geld zurückbekommen. Das sind logischeFehlschlüsse, die hier gezogen werden. Wenn wir ver-langen, für ältere Arbeitslose länger Arbeitslosengeld zuzahlen, dann heißt es, die Arbeitslosenversicherung seikeine Sparkasse. Wer behauptet denn, dass diese eineSparkasse sei? Wer sagt denn, dass jeder das aus einerVersicherung zurückerhält, was er eingezahlt hat? Einesolche Forderung ist niemals erhoben worden.Das zweite Argument ist, das sei nun einmal eine Ver-sicherung, und damit sei es logischerweise so. Dazumöchte ich Ihnen sagen: Nennen Sie mir doch eine Au-toversicherung, in die jemand 60 000 Euro einbezahlthat und von der er im Schadensfall nur 10 000 Euro zu-rückbekommt? Oder nennen Sie mir eine Feuerversiche-rung, in die jemand 600 000 Euro einbezahlt hat und vonder er im Schadensfall nur 100 000 Euro zurückbe-kommt? Ist Ihnen nicht klar, dass im Schadensfall eineLeistung erbracht werden muss, die mit der Summe, dieder Betreffende eingezahlt hat, um sich gegen die Risi-ken des Lebens zu versichern, nicht das Geringste zu tunhaben muss?
Ihre permanente Weigerung, das einzusehen, istschlicht und einfach nicht akzeptabel. Sie enteignen äl-tere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in doppelterForm: Im Schadensfall bekommen sie noch nicht einmaleinen Bruchteil dessen zurück, was sie eingezahlt haben,und sie werden noch gezwungen, ihre Ersparnisse zu op-fern. Das ist einfach ein gesellschaftlicher Skandal.
Kollege Lafontaine, ich bitte Sie sehr herzlich, Vor-
würfe in der Weise zu vermeiden, dass Sie jemand ande-
ren hier im Hause schlicht „dumm“ nennen. In der Kom-
bination mit dem Vorwurf der Arroganz schlägt das dann
auf Sie selbst zurück.
Ich bitte sehr darum, bei aller Schärfe der Auseinander-
setzung in der Sache persönliche Angriffe zu vermeiden.
Sie helfen niemandem.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt
Kollegin Kornelia Möller.
Herr Präsident! Erstens. Herr Andres, Sie haben da-
rauf hingewiesen, dass die Reformen am Arbeitsmarkt
greifen. Sie haben nicht darauf hingewiesen, dass die
Zahl der Langzeitarbeitslosen nicht gesunken ist. In
Frage 80 unserer Großen Anfrage haben wir Sie gefragt,
welche Schlussfolgerungen die Bundesregierung aus der
Tatsache zieht, dass die Hartz-Reform an der großen
Differenz in der Arbeitslosenquote zwischen alten und
neuen Bundesländern – rund 8 Prozent Arbeitslosigkeit
im Westen und 18 bis 20 Prozent im Osten – nichts ge-
ändert hat. Sie haben uns darauf geantwortet, dass nicht
zu erwarten war, dass diese Reformen im Osten genauso
greifen wie im Westen. Gilt also das, was Sie hier gesagt
haben, nur für den Westen?
Zweitens. Wir haben uns gestern im Ausschuss da-
rüber unterhalten, dass die Fehlerhaftigkeit der Be-
scheide auch daran liegt, dass die Zahl der Sachbearbei-
ter immer noch zu niedrig ist, dass die Anzahl der
Betreuer von Erwachsenen nicht groß genug ist und dass
es Probleme hinsichtlich der Schulungen gibt. Ich finde
es sehr interessant, dass Sie das zwar gestern im Aus-
schuss zugegeben haben, dass Sie sich heute hier im Par-
lament aber etwas populistischer äußern.
Drittens. Herr Weiß, ich finde es stigmatisierend und
unerträglich, arbeitslose Menschen als „Kiosksteher“ zu
diffamieren.
Ich muss vor dem, wie mir scheint, sehr großen Zynis-
mus gegenüber arbeitslosen Menschen warnen, der sich
hier nicht nur in Ihrer Fraktion, sondern auch in einigen
anderen breitmacht.
Ich kann Ihnen sagen: Das wird diesen Menschen nicht
gerecht; Sie diffamieren Menschen. Das macht sehr
deutlich, wes Geistes Kind Sie sind.
Das Wort zur Entgegnung erteile ich dem Parlamenta-
rischen Staatssekretär Andres.
G
Zu Herrn Niebel möchte ich sagen: So wie er für sei-nen Antrag keine Mehrheit bekommen hat, so bekommter auch keine Mehrheit für die Abschaffung der Parla-mentarischen Staatssekretäre. Um meinen Mannesmutmache ich mir keine Sorgen; auch Sie müssen sich da-rum keine Sorgen machen.Ich will auf das, was Sie zur Bundesagentur für Ar-beit gesagt haben, eingehen. Die Bundesagentur hat seit2001 einen ganz schwierigen Reformprozess durchge-macht. Ich glaube, dass die Bundesagentur mittlerweileaußerordentlich gut aufgestellt ist und dass dort vieleMenschen einen guten Job machen.
Das muss ausdrücklich einmal erwähnt werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8869
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Gerd AndresMeine Reaktion bezog sich nur auf Ihr Zitat. Ich willhier feststellen: In vielen Ihrer Reden sind Sie mit Hämeund Abstand über die Bundesagentur hergezogen.
Ich finde, das ist für jemanden, der aus genau dieser Or-ganisation kommt – Sie haben dort als Arbeitsvermittlergearbeitet –, nicht angemessen. Das will ich Ihnen nocheinmal sagen.
Zum Kollegen Lafontaine will ich einfach nur sagen:Die Arbeitslosenversicherung ist eine Risikoversiche-rung und keine Ansparversicherung. Selbstverständlichgilt das Prinzip der Beitragsäquivalenz. Als Beispiel– lesen Sie es noch einmal nach! – haben Sie dieAutoversicherung herangezogen und gesagt: Er hat60 000 Euro eingezahlt, ihm wird aber nur ein Schadenvon 10 000 Euro bezahlt.Wissen Sie, was das Problem ist? Das Problem ist,dass die Arbeitslosigkeit abgesichert wird, und zwar fürÄltere in einer anderen Art und Weise als für Jüngere.Unter 55-Jährige erhalten ein Jahr lang Leistungen, über55-Jährige 18 Monate.Dass man über Jahre hinweg darauf gesetzt hat, dieBezugsdauer des Arbeitslosengeldes immer weiter zuverlängern und damit die Probleme entsprechend zu ver-schieben, halten wir nicht für richtig.
Wir haben die Zahldauer verkürzt. Wir halten diese Ver-kürzung für richtig. Wir sind der Auffassung, dass wiralle Hebel in Bewegung setzen müssen, um Ältere wie-der schneller in den Erwerbsprozess zu bekommen.
Damit möchte ich eine Antwort auf die KolleginMöller geben, die in Ihre Kurzintervention natürlichwieder alles hineingepackt hat.
Frau Möller, ich bin ziemlich stolz auf die Entwicklung.Sie brauchen sich nur die Zahlen anzuschauen. Wir ha-ben allein im Monat Februar über 10 000 über 55-Jäh-rige in Arbeit vermittelt. Ich finde, dass das Sinn macht.Das ist richtig toll. Das widerlegt auch die Position, Äl-tere bekämen bei uns überhaupt nichts mehr. Ich weißnatürlich, dass das ein Prozess ist. Ich könnte Ihnen jetztganz viele Zahlen dazu vortragen, wie das bei Älterenund bei Jüngeren ist.Ich komme jedenfalls zu dem Ergebnis – ich sage Ih-nen das ganz ernsthaft –: Die Arbeitsmarktreformen wa-ren notwendig, und die Zusammenlegung von Arbeitslo-senhilfe und Sozialhilfe war überfällig. Es war richtig,dass wir das gemacht haben. Es macht Sinn, unsere So-zialsysteme so umzubauen, dass der Versuch unternom-men wird, die Menschen zu aktivieren, anstatt sie passivim Leistungsbezug zu halten. Die frühere Systematikwar weitgehend darauf ausgelegt, Menschen lange pas-siv im Leistungsbezug zu halten. Das wollen wir nichtmehr. Deswegen organisieren wir das um.Ich sage Ihnen: Die Reformen auf dem Arbeitsmarktwaren erfolgreich. Sie wirken, und sie werden Gott seiDank auch weiter wirken, weil wir mit entsprechenderMehrheit daran arbeiten, sie noch mehr zu verbessern.Schönen Dank.
Zu einer Antwort auf die Kurzintervention von OskarLafontaine erteile ich Kollegen Gerald Weiß das Wort.Gerald Weiß (CDU/CSU):Herr Kollege Lafontaine, Sie sind gescheit. Das wa-ren Sie in allen Phasen Ihres Lebens, auch den liberale-ren Phasen Ihres Lebens. Deshalb haben Sie mich richtigverstanden. Sie haben mich aber falsch zitiert, und zwarwider besseres Wissen falsch zitiert. Das ist sehr unred-lich. Deshalb will ich Ihnen noch einmal sagen, was ichdargelegt habe.Man kann natürlich über die Gestaltung der Bezugs-dauer von Arbeitslosengeld I diskutieren.
Man kann der Auffassung sein, das ist jetzt gut und ge-recht geregelt. Man kann auch der Auffassung sein, wirsollten dem Element der Beitragsjahre ein stärkeres Ge-wicht geben, insbesondere für diejenigen, die länger ver-sichert sind. Darüber kann man diskutieren. Ich habe ge-sagt: Man darf das Prinzip aber nicht ins Groteskeüberdehnen.Sie schlagen vor, demjenigen mit 30 Beitragsjahren30 Monate ALG I zu geben, demjenigen mit 40 Bei-tragsjahren 40 Monate. Dem 60-Jährigen wollen Sieohne entsprechende Beitragsjahre 30 Monate ALG I ge-währen. In der Wirkung – Sie sind gescheit genug, daszu erkennen – wäre das ein gigantisches Vorruhe-standsprogramm. Das würde für die älteren Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer Druck bedeuten. Sie wür-den in ihren Betrieben von Tag zu Tag höherenPressionen ausgesetzt, ihren Arbeitsplatz zu räumen. MitBeitragsgeldern Arbeitsplätze freimachen, das darf esnicht geben.
Deshalb ist das, was Sie vorschlagen, falsch. Sie habendas, was ich gesagt habe, falsch zitiert.Sie, Frau Möller, haben es nicht verstanden. Ich habedie Arbeitslosen selbstverständlich nicht diffamiert.
Ich habe von dem bitteren Weg derer geredet, die ausdem ALG-I-Bezug in den ALG-II-Bezug kommen. Ich
Metadaten/Kopzeile:
8870 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Gerald Weiß
habe gesagt: Da müssen wir aus dem Gesichtspunkt derLeistungsgerechtigkeit heraus für die Lebensleistung– zum Teil setzen sie ihre gesamten Vermögensreservenein – wenigstens übergangsweise einen Zuschlag gewäh-ren – ich verteidige einen solchen Zuschlag, was nichtalle tun –; wir dürfen sie nicht so stellen wie dieKiosksteher, die von Arbeit nichts wissen wollen. Ichmache schon einen Unterschied, auch in der notwendi-gen Solidarität, je nachdem, ob es um Leute geht, die einLeben lang Beiträge geleistet haben, oder um Leute, dienie etwas schaffen wollten. Die Differenzierung macheich allerdings.
Ich erteile das Wort Kollegin Brigitte Pothmer, Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem, was ich gerade erlebt habe, habe ich das Gefühl,hier geht es weniger um die Beantwortung der GroßenAnfrage als um Hahnenkämpfe.
Es geht auch weniger um Mannesmut als um männlicheRechthaberei.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Es wäre, wie ichfinde, zu viel Aufwand für die Erstellung von 73 SeitenText betrieben worden, wenn diese nur dazu dienten, Ih-nen eine Plattform für das Austragen Ihrer Kämpfe zugeben.
Ich würde jetzt gerne zur Sache zurückkehren.
Herr Lafontaine, wir haben nie bestritten – um das ein-mal deutlich zu sagen –, dass die Hartz-Gesetze, undzwar von Beginn an, mit Fehlern behaftet waren. Diesehat uns nämlich die schwarz-gelbe Mehrheit im Bundes-rat eingebrockt.
Nichtsdestotrotz enthalten die Hartz-Gesetze aber rich-tige Gedanken. Es war richtig, Arbeitslosenhilfe und So-zialhilfe zusammenzulegen,
weil das die Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängerdeutlich besser stellt und sie nicht länger auf dem ar-beitsmarktpolitischen Abstellgleis belässt.
Es war richtig, den Zugang zum Arbeitslosengeld II dis-kriminierungsfrei zu gestalten und damit verdeckte Ar-mut abzubauen. Es war auch richtig, den Sozialstaat ineine aktivierende Richtung umzugestalten.Ich will Ihnen noch etwas sagen: Noch nie in der Ge-schichte gab es eine so große Vielfalt und Flexibilität beider Förderung von Beschäftigung, wie jetzt im SGB IIvorgesehen. Das Problem ist, dass diese Möglichkeitenin der Praxis leider zu wenig genutzt werden.
Ein noch größeres Problem, lieber Herr Weiß, bestehtin dem, was die Koalition aus diesen Ansätzen gemachthat. Das stellt tatsächlich ein großes Problem dar. Sie ha-ben die Reform, die sehr fein ausbalanciert war, zerrupftund verbogen.
Die Maßnahmen, die als Hilfe für die Menschen gedachtwaren, empfinden die Betroffenen inzwischen als Bedro-hung. Die Harmonie zwischen Fördern und Fordern ha-ben Sie leider zerstört. Sie haben den Missklang vonDiskriminierung und Drangsalierung angestimmt.
Damit haben Sie die Akzeptanz der gesamten Reformgefährdet, Herr Weiß. Dass da eine ganze Menge falschläuft, können Sie, wenn Sie sich mit der Wirklichkeitauseinandersetzen, doch auch nicht leugnen.Wir sind von einem individuellen Fallmanagement– das haben wir damals versprochen – weit entfernt. Ein-gliederungsvereinbarungen bestehen da, wo es sie über-haupt gibt, aus standardisierten Formularen. Statt einergezielten Integrationsarbeit gibt es immer noch – da hatHerr Niebel doch nicht ganz unrecht – bürokratischesVerwaltungshandeln. Mangelhafte Software, vorgege-bene Standardinstrumente, Statistiknachweise und Con-trollingverfahren bestimmen den Alltag in den Agentu-ren. Davor können auch Sie die Augen nichtverschließen.
Deswegen müssen Sie sich für eine positive Weiterent-wicklung in einigen ganz grundsätzlichen Punkten vonHartz IV einsetzen.
Wir müssen über eine Anpassung der Leistungshöheinsoweit reden, als die eingetretenen Kostensteigerun-gen eingerechnet werden müssen.
Natürlich müssen die gestiegenen Gesundheitskostenund Energiepreise berücksichtigt werden. Sie können dieMehrwertsteuer nicht einfach erhöhen und dann den
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8871
(C)
(D)
Brigitte PothmerHartz-IV-Empfängern sagen: Seht zu, wie ihr damit fer-tig werdet. Der Satz ist dafür einfach zu eng berechnet.Wir wissen inzwischen auch, dass Kinder und Ju-gendliche über den für sie vorgesehenen Regelsatz hi-naus noch Sachleistungen benötigen. Es kann nichthingenommen werden, dass Kinder von Hartz-IV-Emp-fängern massenhaft von Schulmahlzeiten abgemeldetwerden, nicht mehr an Sportveranstaltungen teilnehmen,nicht zur Musikschule gehen und Bibliotheken nicht be-nutzen können. Wenn wir das hinnehmen und nicht än-dern, wird uns das teuer zu stehen kommen.
Die derzeitige Prüfung der Arbeitsbereitschaft läuft ineine falsche Richtung. Sie haben inzwischen eine Miss-trauenskultur geschaffen, die zur Schikanierung von Ar-beitslosen und nicht selten zu sinnloser Beschäftigungführt. Das können Sie nicht wollen, weil Sie damit dieWürde von Arbeitslosen verletzen und Ihr eigenes Pro-jekt diskreditieren. Auch das muss geändert werden.Wenn wir eine Förderung erreichen wollen, die demEinzelnen tatsächlich gerecht wird, dann brauchen wireine konsequente Dezentralisierung des SGB II. Dannmüssen wir den Argen, zu denen wir stehen, mehr Frei-heiten geben. Sie müssen die vollständige Hoheit überihr Personal und ihr Budget haben.
Sie müssen endlich eine eigene „Firma“ werden, wennsie den Aufgaben gerecht werden wollen.Außerdem müssen wir das Fördern in den Mittel-punkt stellen. In der Antwort auf die Große Anfragewird mehrfach darauf hingewiesen, dass die Hartz-Ge-setze keine Arbeit schaffen. Abgesehen davon, HerrAndres, dass das bei Herrn Clement in der letzten Legis-laturperiode immer etwas anders geklungen hat, habenSie damit recht. Aber diese Arbeitsmarktreform soll dieMenschen fit machen für die vorhandenen Arbeitsplätze.Das geschieht jedoch gänzlich ungenügend. Allein auf-grund des Konjunkturaufschwungs wird die Langzeitar-beitslosigkeit nicht abgebaut. Es ist eine schlichte Propa-ganda, wenn Sie sagen, die Langzeitarbeitslosigkeit gehezurück. In den letzten drei Monaten ist die Zahl derLangzeitarbeitslosen sogar noch einmal um 50 000 an-gestiegen. Das sind die wahren Zahlen.Wenn die Langzeitarbeitslosigkeit abgebaut werdensoll, dann ist es natürlich gänzlich falsch, dass Sie jetztbei den Integrationsmitteln 1 Milliarde Euro gestrichenhaben, statt sie der Förderung zur Verfügung zu stellen.Es ist auch gänzlich falsch, dass Sie sich in einem sogroßen Umfang auf die 1-Euro-Jobs konzentrieren. Esmuss sehr viel mehr in Bildung und Ausbildung inves-tiert werden; denn zwei Drittel der Arbeitslosen sind Ge-ringqualifizierte. Die Politik, die Sie betreiben, ist ge-rade in Bezug auf die Jugendlichen eine richtigeKatastrophe. Wenn nur 85 000 Jugendliche unter 25 Jah-ren tatsächlich ihre Arbeitslosigkeit beenden, indem sieeine schulische oder betriebliche Ausbildung beginnen,und fast 250 000 unter 25-Jährige in 1-Euro-Jobs verhar-ren, dann läuft hier doch etwas falsch.
Wenn wir das nicht ändern, dann werden wir diese Men-schen ein Leben lang alimentieren müssen – Menschen,die wir aber brauchen und die auch in die sozialen Siche-rungssysteme einzahlen sollen.Nein, der Aufschwung wird das Problem der Lang-zeitarbeitslosigkeit nicht lösen. Wenn Sie so weiterma-chen, dann werden Sie am Ende dieses Aufschwungseine höhere Sockelarbeitslosigkeit haben als zu Beginn.
Die „Süddeutsche Zeitung“ hat es Ihnen in einem Kom-mentar ziemlich gut, wie ich finde, ins Stammbuch ge-schrieben: Wenn es ins Haus hineinregnet, löst schönesWetter das Problem nur vorübergehend; wenn Sie dauer-haft im Trockenen sitzen wollen, müssen Sie das Dachschon reparieren, solange die Sonne scheint. Aber dasscheint Ihnen etwas zu anstrengend zu sein. Sie legen dieHände in den Schoß, beklatschen den Aufschwung undverwalten ihn lediglich. Das ist zu wenig. Damit lösenSie die Probleme nicht.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort Kollegen Karl Schiewerling,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeFrau Pothmer, es ist schön, dass Sie anwesend sind. Dieletzte Aktuelle Stunde haben Sie leider verpasst. Ichglaube, dadurch ist dem Parlament einiges entgangen.
Ich halte es für problematisch, wie Sie das, was wirim Rahmen des Systems SGB II weiterentwickelt haben,herunterputzen. Was Sie sagen, stimmt nicht; denn wirhaben die nötigen Konsequenzen aus dem, was nochnicht funktionierte, gezogen und mithilfe des SGB-II-Fortentwicklungsgesetzes das lernende System SGB IIverbessert, womit wir den betroffenen Menschen helfen.Auch Sie wissen das ganz genau.
Das SGB II ist seit etwas mehr als zwei Jahren inKraft. Mit der Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfeund der Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitsu-chende haben wir einen richtigen Weg eingeschlagen.Ich bin froh, dass dies von den meisten Mitgliedern desHohen Hauses – nicht nur von Mitgliedern der beidenRegierungsfraktionen, sondern auch von Mitgliedern derGrünen und der FDP – auch nach zwei Jahren noch ge-nauso gesehen wird.Ich finde es gut, dass wir diesen Weg eingeschlagenhaben. Dieser neue Weg hat alle Beteiligten viel Kraft
Metadaten/Kopzeile:
8872 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Karl Schiewerlinggekostet; das ist keine Frage. Er hat zwangsläufig zuneuen Erfahrungen geführt und wird immer noch mehrneue Erfahrungen bringen. Das SGB II ist und bleibt einlernendes System, das sich der jeweils neuen Situationanpassen muss. Es erfordert wie kaum ein anderes sozia-les System individuelle Lösungen.Mit dem Prinzip des Forderns und Förderns sindwir auf dem richtigen Weg. Dieses Grundprinzip desZweiten Sozialgesetzbuches besagt, dass Menschenohne Arbeit ihren Lebensunterhalt möglichst rasch wie-der aus eigener Kraft bestreiten sollen. Schließlich wol-len wir Menschen in Arbeit bringen und sie damit ausdem Leistungsbezug und der staatlichen Förderung he-rausnehmen. Ziel der Grundsicherung ist es unter ande-rem auch, den Menschen eine materielle Sicherung zugeben. Es ist eben ein System der Grundsicherung undkein System, in dem die Menschen auf Dauer verbleibensollen.Das SGB II macht entgegen allen Äußerungen, diewir gerade von der Fraktion Die Linke immer wieder hö-ren, nicht arm. Es fängt Menschen auf, fördert und for-dert. Das geht allerdings nur, wenn sich alle Beteiligtenin diesem System engagieren.
Das Ziel der Grundsicherung ist die schnelle undpassgenaue Integration der Betroffenen in den Arbeits-markt. Der Erfolg hängt vom Arbeitsmarkt ab, aber auchvon den Betroffenen selbst und dem engagierten Zusam-menwirken aller Beteiligten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll von der Linksfraktion?
Ich gestatte keine Zwischenfrage. Die Kollegin kann
im Anschluss eine Kurzintervention machen.
Wir wollen jetzt nicht den Brauch einführen, dass
Redner zu einer Kurzintervention einladen.
Gut. Dann gestatte ich diese eine Zwischenfrage.
Herr Kollege, Sie haben eben das Prinzip des For-
derns und Förderns erwähnt. Ich möchte Sie daher fra-
gen, wie Sie sich denjenigen Menschen gegenüber ver-
halten, die arbeitslos sind, deren Partnerinnen bzw.
Partner aber, mit denen sie in der von Ihnen konstruier-
ten Bedarfsgemeinschaft leben, Ihrer Meinung nach
ausreichend verdienen und die somit keine Leistungen
beziehen. Zum großen Teil fallen diese Menschen aus
jeglicher Förderung heraus. Ihnen werden Angebote zur
Weiterbildung verweigert. Ihnen werden auch keine Ar-
beitsbeschaffungsmaßnahmen angeboten. Davon sind
90 Prozent dieser Menschen betroffen; die meisten unter
ihnen sind Frauen. Wie passt das zu Ihrem Prinzip des
Förderns?
Sie haben zwei Punkte angesprochen. Der erste Punktumfasst den Leistungsbezug im Rahmen des SGB II. Inder Tat ist die Situation der Bedarfsgemeinschaft dieGrundlage für den Leistungsbezug. Wenn die Bedarfsge-meinschaft finanziell in der Lage ist, den Lebensunter-halt aus eigener Kraft zu finanzieren, dann braucht unddarf der Staat keine Unterstützung zu geben. Das istrichtig. Genau das ist das Prinzip des SGB II.
Der zweite Punkt. Frauen, die sich arbeitslos melden,aber keine SGB-II-Mittel bekommen – nach Ihrer Aus-sage handelt es sich ja meistens um Frauen –, stehendem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung. Ich kanndiesen Menschen nur raten, die Vermittlungsmöglichkei-ten des Arbeitsamtes zu nutzen. Die örtlichen Agenturensind beweglicher, als Sie denken.
Wie gesagt, das Ziel der Grundsicherung ist dieschnelle und passgenaue Integration der Betroffenen inden Arbeitsmarkt. Der Erfolg hängt natürlich von derEntwicklung auf dem Arbeitsmarkt ab. Da sind wir aufeinem guten Weg. Ich halte es auch heute Morgen fürnotwendig, klarzumachen: Der Aufschwung, den wirzurzeit haben, hat auch zum Abbau der Arbeitslosig-keit beigetragen.
Wir haben – das dürfen wir nicht übersehen – 520 000 Ar-beitslose weniger, die vorher Arbeitslosengeld I bekom-men haben. Wir haben 306 000 Arbeitslose weniger, dievorher Arbeitslosengeld II bezogen haben. Ich halte dasfür eine bedeutende, gute, wegweisende und sinnvolleEntwicklung.
Bei all dem, über was wir im Zusammenhang mit demSGB-II-Bereich diskutieren, ist es zwingend notwendig,nicht so zu tun, als hätten wir es mit einem statischenSystem zu tun. Das oberste Ziel muss sein, Leute zu ver-mitteln. Das geht nur, wenn die Konjunktur entspre-chend anspringt. Dann werden auch Arbeitsplätze ge-schaffen. Hier sind wir auf einem guten Weg.Ich will nicht verheimlichen, dass mir die jetzigeEntwicklung nicht ausreicht. Aber es gibt eine andereZahl, die Mut macht. Bei der Bundesagentur sind800 000 offene Stellen gemeldet. Wenn wir den Wirt-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8873
(C)
(D)
Karl Schiewerlingschaftsforschungsinstituten und den Einrichtungen derWirtschaft glauben, dann kommen noch einmal so vielenicht gemeldete Stellen hinzu, sodass wir in Deutsch-land zurzeit etwa 1,6 Millionen offene, nicht besetzteStellen haben. Ich möchte, dass ein Großteil dieserStellen von Arbeitslosen, auch von Langzeitarbeitslo-sen, besetzt wird.
Das verlangt Qualifizierung und Fördern; das ist wich-tig. Ich glaube, dass wir im Sinne aller Beteiligten keinInteresse daran haben können, dass Erwerbslose in unse-rem Land diese Stellen nicht erhalten und wir zuvörderstauf Zuwanderung schielen.Wir müssen nach vorne schauen. Natürlich könnenund müssen wir die Arbeitsabläufe vor Ort verbessern.Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich es fürwichtig halte, dass das SGB II vor Ort kundennah unddezentral umgesetzt wird. Es bleibt abzuwarten, wie dasBundesverfassungsgericht die Organisationsform derArbeitsgemeinschaften bewerten wird. Aber wir müssenden regionalen Trägern auch den Freiraum zugestehen,neue Wege auszuprobieren, nach neuen Wegen undMöglichkeiten zu suchen. Das müssen engagierte Mitar-beiter vor Ort auch tun. Dazu brauchen wir Flexibilitätund Entscheidungsfreiheit.Schon heute lässt das SGB II solche Möglichkeitenzu. Mit unkonventionellen Mitteln kann man Menschenhelfen, aus der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit he-rauszukommen. Das beweisen innovative Projekte, wiewir das in Sachsen-Anhalt erleben – Stichwort: Bür-gerarbeit in Bad Schmiedeberg. Das erleben wir zurzeitin Essen, wo es ein Bürgerjahr und Bürgerarbeit gibt –mit, wie ich meine, wegweisenden, neuen Impulsen.Diese Projekte zeigen, dass man mit Mut und KreativitätMenschen in Arbeit bringen kann.
Deshalb fordere ich, den Verantwortlichen vor Ortmehr Entscheidungsfreiheit einzuräumen. Es ist ausrei-chend, mit den regionalen Trägern eine Zielvereinbarungfestzulegen, innerhalb der sie frei entscheiden können,wie und mit welchen Mitteln sie die Menschen in Arbeitbringen, wenn denn die vorher vereinbarten Ziele erreichtwerden. Diese Ziele müssen auf die jeweilige regionaleStruktur abgestimmt werden.Die Arbeitsvermittlung muss mit anderen Bereichenverknüpft werden. Wir haben bei den Langzeitarbeitslo-sen eine in der Tat verfestigte Struktur. Deren Zahl wirdauf 2,6 Millionen geschätzt. Davon sind 600 000 allein-erziehende Frauen, die eine besondere Förderung benöti-gen; auch davor verschließen wir die Augen nicht. Esgibt auch diejenigen, die in der dritten Generation vonSozialhilfe leben. Hier helfen keine üblichen Arbeits-marktinstrumente, sondern nur individuelle Ansätze.Wir haben diejenigen mit Migrationshintergrund, dieebenfalls einer besonderen Förderung und Forderung be-dürfen. Rund 2 Millionen Arbeitslose – auch das ist dieWahrheit – haben keinen Schul- oder Berufsabschluss.Auch dem wollen und müssen wir entgegenwirken.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Haben Sie die Zeit für die Zwischenfrage, die gestellt
worden ist, abgerechnet?
Ich glaube, dies wurde nicht berücksichtigt, Herr Präsi-
dent.
Die Zeit wurde berücksichtigt.
Ich komme jetzt zum Ende.
Wir brauchen den Kombilohn. Wir brauchen einen
dritten Arbeitsmarkt für diejenigen Menschen, die ohne
Unterstützung nicht zurechtkommen, weil sie behindert
sind.
Das Ziel des SGB II ist, dass möglichst viele Men-
schen das SGB II nicht in Anspruch nehmen müssen.
Das Ziel des SGB II ist, dass Menschen in Arbeit kom-
men. Dafür wollen wir uns weiter einsetzen. Im Übrigen
gibt es zum System des SGB II keine ernst zu nehmende
Alternative.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort Kollegin Katja Kipping, Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nichts hö-ren, nichts sehen, nichts wissen wollen. So verhält sichdie Bundesregierung, wenn es um die soziale Bilanz vonHartz IV geht. Sie wissen eben nicht, wie viele behin-derte Menschen zu einem Umzug gezwungen wurden.Sie wissen nicht, wie viele Menschen aus Angst vorHartz IV in die Frühverrentung geflüchtet sind. Sie ha-ben noch nicht einmal eine Zusammenstellung aller ver-fassungsrechtlichen Bedenken.Besonders schockierend finde ich aber, Herr Andres,dass Sie noch nicht einmal in Erfahrung bringen wollen,wie sich Hartz IV auf die Gesundheit und die Bildungs-möglichkeiten der betroffenen Kinder auswirkt. Dasnenne ich wirklich skandalös!
Dabei gibt es bereits erste Untersuchungen, die deut-lich machen, wie verheerend die soziale Bilanz vonHartz IV ist. 1-Euro-Jobs verdrängen reguläre Beschäfti-gungsverhältnisse. Die gesamtgesellschaftliche Armuts-quote ist um 1 Prozent gestiegen. Bei den Sozialgerich-
Metadaten/Kopzeile:
8874 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Katja Kippingten wächst der Klageberg. Der Stapel an Klagen, dertäglich beim Landessozialgericht eingeht, ist bis zu vierMeter hoch. Ein Viertel der Arbeitslosenhilfebeziehervon früher hat den Leistungsanspruch komplett verloren.Doch mehr als alle Zahlen und Untersuchungen bele-gen Schicksale, wie verheerend die Bilanz ist. Sie erin-nern sich noch an den Dresdner, der als 1-Euro-Jobberim Winter Unkraut jäten musste. Sie, Herr Andres, ver-sprachen zu helfen. Mit einem haben Sie offensichtlichnicht gerechnet:
Der Mann hat Sie gehört, wollte Sie beim Wort nehmenund hat versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Ir-gendwann sagte er zu mir in der Bürgersprechstunde: Ichkann es mir gar nicht leisten, so oft in Berlin anzurufen,wie sich der Staatssekretär verleugnen lässt.
Seitdem hat der Mann alles Mögliche unternommen, umeinen Job zu finden.
Er hat sogar fünf Tage auf dem Bau kostenlos zur Probegearbeitet, ohne dafür auch nur einen Cent zu bekom-men. Das Ende vom Lied war, dass man ihn wieder zu-rück in Hartz IV geschickt hat. Und um noch einendraufzusetzen: Als der Mann dann wenigstens die Fahrt-kosten abrechnen wollte, sagte man ihm, dass er laut Ge-setz nur drei Tage kostenlos zur Probe arbeiten dürfe undman ihm die Fahrtkosten nur für drei Tage ersetzenkönne.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Andres?
Herr Präsident, ich lasse eigentlich immer Zwischen-
fragen zu. Aber ich finde, Herr Andres muss auch einmal
erleben, wie es ist, wenn eine Zwischenfrage abgewiesen
wird.
Das Beispiel des Dresdners ist nur eines von vielen
Beispielen, die zeigen: Hartz IV erleichtert die Ausgren-
zung und Ausbeutung. Hartz IV führt in eine Sackgasse.
Hartz IV gehört endlich abgeschafft!
Deswegen fordern wir als Linke Sie auf: Ersetzen Sie
endlich die 1-Euro-Jobs durch öffentliche Jobs, die län-
ger als sechs Monate gehen und die besser bezahlt sind!
Ersetzen Sie endlich das Arbeitslosengeld II durch eine
repressionsfreie Grundsicherung! Denn jeder Mensch
hat das Recht auf ein Leben in Würde.
Und den Menschen, die die Hartz-IV-Suppe auslöf-
feln müssen, kann ich nur empfehlen: Gehen Sie in die
Bürgersprechstunden der Abgeordneten! Konfrontieren
Sie diese mit den Problemen, die in der Praxis aus
Hartz IV entstehen! Lassen Sie sich nicht alles gefallen!
Nehmen Sie zu den Beratungsgesprächen am besten im-
mer eine zweite Person als Zeugen mit!
Bisher wurde jedem dritten Widerspruch in Gänze
stattgegeben. Das zeigt, dass es sich bei Zweifeln an der
Richtigkeit des Bescheides lohnt, Widerspruch einzule-
gen.
Deswegen können wir den Betroffenen nur empfeh-
len: Vernetzen Sie sich in Ihrer Region mit anderen Be-
troffenen und kämpfen Sie um Ihre Rechte! Es lohnt
sich. Danke.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Gerd Andres.
Tun Sie das bitte von Ihrem Platz aus.
Ich habe eigentlich nur eine Bitte und möchte eineBehauptung nicht im Raum stehen lassen. NachdemFrau Kipping diesen Fall in einer früheren Parlamentsde-batte hier schon geschildert hat, habe ich erstens mit demMann persönlich Kontakt aufgenommen. Ich habe auchlänger mit ihm telefoniert. Er hat mir erklärt, dass er vonder Situation Fotos hat. Die zuständige Abgeordnete ausdem Wahlkreis hat diese Fotos mit nach Berlin gebrachtund ich habe mir den Vorgang angesehen. Der drittePunkt ist, dass ich die Arge dazu habe berichten lassen.Deswegen würde ich die Kollegin Kipping ganz schlichtnur bitten, dass sie zur Kenntnis nimmt, dass sich umden Fall gekümmert wurde. Und ich habe eine andereBeurteilung von dem Fall, als sie sie hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8875
(C)
(D)
Gerd AndresDas Schöne ist, dass man in der Debatte immer ir-gendeinen kleinen Einzelfall bringt und dann sagt: Ar-beitslose müssen im Winter bei Schnee Unkraut jäten.Das treibt natürlich die Bevölkerung in die Irre; denn siefragt sich: Wer kommt auf die Idee, so etwas zu machen?Ich wollte sagen: Wir haben uns darum gekümmert;ich bin dem nachgegangen. Ich möchte nur, dass Sie daszur Kenntnis nehmen, mehr nicht.
Kollegin Kipping, Sie haben die Möglichkeit zur Re-
aktion.
Herr Andres, auch Sie müssen zur Kenntnis nehmen,
dass dieser Mann, bevor es zu einer Abhilfe gekommen
ist, mehrmals, immer wieder versucht hat, Sie anzurufen.
Dieser Mann hat mir auch den Briefwechsel mit Ihnen
gezeigt; es ist sehr deutlich geworden, dass der Mann an-
sonsten keine Abhilfe bekommen hat. Er hatte nach Ih-
ren Äußerungen deutlich den Eindruck gewonnen, dass
Sie in der Lage sind, zu helfen.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Es handelt sich hier-
bei nicht um einen Einzelfall; die Menschen, die zu uns
in die Bürgersprechstunde kommen, zeigen, dass das im-
mer nur ein Beispiel von vielen ist.
Darüber hinaus gibt es jede Menge Untersuchungen
– zum Beispiel von Richard Hauser und Irene Becker –,
die sehr wohl belegen, dass das ein gesamtgesellschaftli-
ches Problem ist.
Leider haben Sie jede Menge an vorhandenen wissen-
schaftlichen Untersuchungen in Ihrer Antwort ver-
schwiegen.
Nun hat das Wort Kollegin Andrea Nahles, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich erlaube mir eine kleine Warnung an meineKollegen von der Linksfraktion, die bald an einem Par-teitag teilnehmen werden. Vielleicht erleben Sie dannauch eine Überraschung mit Oskar Lafontaine, wie esmir 1998 ergangen ist.
Staunend, geradezu baff, hörte ich, wie der damaligeParteivorsitzende der SPD in seiner Rede auf dem Par-teitag am 25. Oktober 1998 Folgendes zum Besten gab:Ich lade die Partei und die Gewerkschaften ein, da-rüber nachzudenken, ob wir nicht auch bei der Ar-beitslosenversicherung Korrekturbedarf haben, obnicht auch hier eher der Fall gegeben ist, nach demSozialstaatsprinzip vorzugehen statt nach dem Prin-zip der Versicherungsleistung …
Wenn man heute hört, was Sie, lieber OskarLafontaine, hier vortragen, muss man sich wundern: Wirhören massiv, dass das Prinzip der Versicherungsleis-tung das einzige ist, das gilt. Ich warne also vor Überra-schungen auf Ihrem Parteitag. Man kann sich nämlichbei bestimmten Leuten nicht sicher sein.
Gerechtigkeit, Oskar Lafontaine, wird dann ganz schnellzu Selbstgerechtigkeit. Das haben wir hier heute wiedererlebt.
Ich habe mich heute, als ich der Opposition zugehörthabe, die ganze Zeit gefragt, ob es hier vielleicht einestarke Beeinflussung durch den indischen Kulturkreisgeben könnte. Das Rezitieren von immergleichen Wort-folgen hat nämlich einen Namen: Mantra. Man kennt esaus dem Indischen. Was sagen die Inder darüber, wasdieses Mantra – Hartz IV gehört abgeschafft, die BA ge-hört abgeschafft! –
bewirken soll? Die immergleiche Rezitation von be-stimmten Wortfolgen hat den Sinn – ich habe mir das ex-tra einmal angeschaut –, den Geist vor Störungen zuschützen, also vor Einflüssen von außen, die das Eigen-bild, die Vertiefung in das Eigene irritieren könnten. Dasdeckt sich ein bisschen mit dem Eindruck, den ich heutegewonnen habe.
Das Mantra soll im Übrigen auch als Beschwörungs-formel gegen Schlangen und Dämonen dienen. Wennman sich die Anträge durchliest, merkt man: Diese Dä-monen sind Ihnen abhanden gekommen. Dummerweiseist es tatsächlich so – man möchte es fast nicht mehr er-wähnen –, dass wir 452 000 sozialversicherungspflich-tige Beschäftigungsverhältnisse zusätzlich geschaffenhaben.
Metadaten/Kopzeile:
8876 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Andrea Nahles
Mit Ihrem ständigen Wiederholen wollen Sie die Dämo-nen austreiben.Man muss vermuten, dass Dirk Niebel der neue Vor-standsvorsitzende der Private BA AG ist. Man muss sichfragen, ob Sie, Herr Niebel, der Sie Verwaltungsinspek-tor bei der BA geworden sind, die Abschaffung, Teilpri-vatisierung und Wiedererschaffung einer neuen Behördevorangetrieben haben, um sich um diesen Job zu bewer-ben. Das wäre auch eine Möglichkeit; den Verdachtmuss man haben.
Ich komme noch zu den Grünen; danach komme ichzur Sache. Die Grünen sind klasse.
– Ja, das kann man so stehen lassen. Ich bin ja gar nichtso unfreundlich.
Die Sorge der Grünen, dass die Sockelarbeitslosig-keit in dieser Legislaturperiode noch steigen könnte, tei-len wir alle. So etwas könnte passieren. Aber wenn wiruns einmal ansehen, was im letzten Jahr passiert ist, dannstellen wir hinsichtlich der Langzeitarbeitslosigkeit – dasist der Kern der Sockelarbeitslosigkeit –
fest, dass es 200 000 Langzeitarbeitslose weniger gibt.Das ist ein großer Erfolg. Obwohl wir damit noch nichtzufrieden sind, möchte ich das hier erwähnen, damitnicht der Eindruck entsteht, das sei nicht genauso unsereSorge wie die der anderen Parteien.
Worum geht es hier eigentlich?
– Jetzt lassen Sie mich doch bitte auch einmal etwasdeutlich machen.
Sie unterstellen uns offensichtlich immer wieder, wir inBerlin seien in einem Ufo unterwegs und Sie arbeitetenhart an der Basis; nur unsereins, die Abgeordneten derSPD und der CDU/CSU, hätten Scheuklappen an.
Ich habe mit Rolf Stern gesprochen. Er ist ein Ar-beitsvermittler vor Ort, der mir in den letzten Jahrendurchaus auch Beschwerden vorgetragen hat, zum Bei-spiel über Probleme beim Computerprogramm, überProbleme vor Ort hinsichtlich der Selbstständigkeit derArgen und über Probleme, wie die BA teilweise rein-fummelt.
Es gibt Probleme. Es gibt auch Mentalitätsschwierigkei-ten zwischen den früheren Kommunalbeamten und den-jenigen, die von der Bundesagentur kommen. Wir allewissen darum. Ich habe ihn gefragt: Was ist, wenn du esdir überlegst, der größte Erfolg von Hartz IV für dich,Rolf Stern? Er hat auf die Sozialhilfeempfänger hinge-wiesen; er war früher bei der Stadt für Sozialhilfe zu-ständig. Die eine Million Sozialhilfeempfänger, die jetztvollen Zugang zu allen arbeitsmarktpolitischen Maß-nahmen haben,
erwähnen Sie nicht. Sie kommen nur mit – möglicher-weise berechtigten; das will ich gar nicht abstreiten –Einzelfällen. Aber über diese eine Million redet keinerund schon gar nicht die Linkspartei.
Was sagte mir Rolf Stern? Die haben jetzt ein ganzanderes Selbstvertrauen, weil sie wieder gefordert sindund weil sie einen geregelten Tagesablauf haben. Siewollen arbeiten. Ich sage das einmal klipp und klar:85 Prozent bis 90 Prozent dieser Menschen wollen Ar-beit; sie sind arbeitswillig. Alles andere ist eine Diffa-mierung.
Diese Leute bekommen eine Arbeitsgelegenheit. Daskann man schmähen, aber sie sind froh. Sie fragen: Gibtes noch eine Verlängerung? Sie wollen im Prinzip das,was wir ihnen anbieten können.
Ich sage Ihnen: Das führt dazu, dass sie mit mehr Zuver-sicht ihre Bewerbungen schreiben und ihre weitere Ein-bindung in den ersten Arbeitsmarkt betreiben können.Das ist ein Erfolg.Genauso ist es ein Erfolg, dass bei den jungen Men-schen ein Betreuungsschlüssel von 1 : 75 erreicht wer-den konnte. Wir haben ihn teilweise sogar unterschritten.Das kann man an den Erfolgen bei der Vermittlung vonjungen Menschen sehen. Auch hier verzeichnen wirklare Erfolge.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8877
(C)
(D)
Andrea NahlesDas hängt nicht nur mit dem Aufschwung, sondern auchmit der intensiven Betreuung in den Argen zusammen.
Damit auch das einmal ausgesprochen wird: Wir sindnicht an einem Punkt, an dem wir sagen: Das war es jetzt,wir entwickeln uns nicht weiter. Vielmehr nimmt sichdiese Bundesregierung vor, zu schauen, wo wir ergänzenund wo wir evaluieren müssen. Ich will Ihnen zwei Bei-spiele nennen. Ergänzen müssen wir da, wo es Menschenmit schweren Vermittlungshemmnissen gibt, die nichtohne Weiteres in kurzer Zeit in den ersten Arbeitsmarktvermittelt werden können. Deswegen werden wir Ihnenhier in Kürze einen Vorschlag unterbreiten, der lautet:Wir wollen einen geförderten Arbeitsmarkt für Men-schen mit schweren Vermittlungshemmnissen, und denwollen wir bundesweit organisieren.
Das heißt, dass wir sehr wohl erkennen, wo es etwas zuergänzen gibt.Wir wollen verbessern. Es kann überhaupt kein Zwei-fel daran bestehen, dass auf dem deutschen Arbeitsmarktbeim Lohngefüge einiges ins Rutschen gekommen ist.Wir haben tatsächlich das Problem der Leiharbeit. In ei-nigen Betrieben werden mittlerweile mehr als 30 Pro-zent des Personalbedarfs mit Leiharbeitern abgedeckt.Das ist eine Form von Lohndumping, die wir nicht gou-tieren. Das halten wir für ein großes Problem und füreine große Herausforderung für den deutschen Arbeits-markt.
Das hat mit Hartz IV überhaupt nichts zu tun. Gleich-wohl ist das ein Problem, um das wir uns kümmern wer-den.Wir Sozialdemokraten wollen einen Mindestlohn– das ist ganz klar; wir stehen in Verhandlungen –, undzwar in allen Branchen, wo er nötig ist. Damit fangenwir an.
Wir haben erst in der vorhergehenden Sitzungswoche– das ist ein bisschen untergegangen – für 850 000 Men-schen im Gebäudereinigerhandwerk einen Mindestlohnverabschiedet.
Dafür danke ich ausdrücklich den Kolleginnen und Kol-legen auf der Unionsseite, die dagegen vielleicht einigeEinwände hatten. Diese 850 000 Gebäudereiniger wer-den es uns danken.
Andere Bereiche müssen folgen. Das wird mit dieserKoalition möglich sein.Zum Schluss: Wir wollen, dass Hartz IV in sich bes-ser wird. Dazu wird es Vorschläge geben. Wenn Ihnenvon der Linkspartei das Thema Hartz IV demnächst aus-gehen wird, dann muss ich um Ihre Debattenbeiträgefürchten. In Ihrer Partei ist die Fixierung auf das Nega-tive, auf das Scheitern offensichtlich so groß, dass dage-gen nur eines hilft: Wir führen unseren erfolgreichenKurs in der Arbeitsmarktpolitik in den nächsten Jahrenfort, weil das der Mehrzahl der Arbeitslosen in diesemLande hilft und nicht schadet.In diesem Sinne vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
gen Oskar Lafontaine.
Ich mache es auch ganz kurz, Herr Präsident. – Frau
Kollegin Nahles, Sie haben korrekt zitiert. Das ist im-
merhin schon ein Vorteil. Ich bedanke mich dafür. Sie
haben festgestellt, dass ich schon damals eine Reform
der Arbeitslosenversicherung angemahnt habe. Das ist
auch heute noch mein Monitum. Insofern hat sich an
meiner Meinung nichts geändert.
Sie haben zum Zweiten darauf hingewiesen, dass ich
aufgefordert habe, darüber nachzudenken, ob man die
Prinzipien des Sozialstaates – Stichwort „Steuerfinanzie-
rung“ – nicht stärker betonen sollte. Das ist auch heute
noch meine Meinung. Das ändert aber nichts an dem
Sachverhalt, dass man Arbeitnehmer nicht auf die Art
und Weise enteignen kann, wie Sie es getan haben.
Kollegin Nahles, bitte.
Frau Pothmer, wenn ich auf Herrn Lafontaine ant-worte, ist es unfreundlich, dass Sie das jetzt sagen. Sa-gen Sie es später.Ich freue mich, dass die Bedürftigkeitsorientierungjetzt auch von Oskar Lafontaine anerkannt wird, weil dieLinkspartei ansonsten ein bedingungsloses Grundein-kommen fordert.
Ich persönlich freue mich darüber, dass die Bindung andie Bedürftigkeitsprinzipien hier noch einmal bestätigt
Metadaten/Kopzeile:
8878 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Andrea Nahlesworden ist. Das teilen wir nämlich im Kern. Viel Ver-gnügen, wenn Sie das in Ihrer eigenen Partei klären.Der zweite Punkt. Es geht hier schon um Redlichkeit.Von einer Autoversicherung war eben die Rede. Washeißt denn das anderes, als dass man vom Versiche-rungsprinzip wegkommen will?
In einem Interview im „Spiegel“, 2. November 1998,
kritisiert er, dass es Fälle gibt, in denen jemand hohesArbeitslosengeld bezieht, obwohl Familieneinkommenund Vermögen vorhanden sind. Das Hohe Haus mögesich bitte daran erinnern, welche Skandalisierungen dieLinkspartei im Zusammenhang mit dem Thema „Vermö-gensanrechnung“ vorgenommen hat.An dieser Stelle ist zu vermerken: Das, was von Ihnengestern gesagt wurde, gilt heute nicht mehr. Daraufwollte ich angesichts des Parteitags, den die Linksparteiam Wochenende durchführt, nur vorsichtig warnendhinweisen. Vor Überraschungen ist man bei OskarLafontaine nicht gefeit.
Ich erteile das Wort Kollegen Heinz-Peter Haustein,
FDP-Fraktion.
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damenund Herren! Wir reden heute zum x-ten Mal hier imDeutschen Bundestag über die Arbeitslosigkeit und überihre Bekämpfung. Wir geben Dutzende Milliarden ausfür ALG I und ALG II. Wir begnügen uns damit, dieWirkung zu verdrängen, wir bekämpfen nicht die Ursa-chen; das ist unser Problem. Statt dafür zu sorgen, dassmehr Arbeitsplätze entstehen, streiten wir uns, wie die-ses und jenes zu verbessern sei.Kommen wir einmal zum ALG II. Die Zusammenle-gung der Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe warrichtig; dazu steht auch die FDP.
Aber eben nur das.
Die handwerkliche Umsetzung in Form dieses Geset-zes ist so schlecht, dass man es eigentlich auflösenmüsste. Wir brauchen etwas anderes, etwas Effektiveresund Besseres. Nur zwei Beispiele: In den Argen und inden optierenden Kommunen gibt es so viele Änderungen– über 100 sind es schon –, dass keiner mehr richtigdurchblickt, wie denn was zu machen ist;
ständig neue Software, ständig „Ergänzungen“.
Die KdU werden verhandelt wie auf einem Basar:2 Milliarden im Haushalt, 5 Milliarden wollen die Kom-munen, auf 4,1 Milliarden wird sich geeinigt, nach demMotto: Pi mal Daumen mal Fensterkreuz. Das ist dochkeine Grundlage für ein Gesetz!Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit halte ich esauch nicht für günstig, wie Frau Nahles gesagt hat, dasindische Mantra hinzuzuziehen. Da gehe ich als evange-lischer Christ lieber am Sonntag in die Kirche; davonhabe ich mehr.
Es fehlt den Reformen die Richtung: Wer als unter25-Jähriger bei seinen Eltern wohnte, wurde plötzlichvom Staat ermuntert, auszuziehen und eine Bedarfsge-meinschaft zu gründen – jetzt müssen sie bei den Elternwieder einziehen; also „Rein in die Kartoffeln, raus ausden Kartoffeln“. Die Vorschriften ändern sich ständig,sodass die Kollegen in den Argen manchmal nicht wei-terwissen. Nun kommt noch das Problem hinzu, dassnächstes Jahr durch eine Kreisreform im schönsten Frei-staat der Welt, also in Sachsen,
Kreise, in denen es optierende Kommunen gibt, sich mitKreisen, in denen es Argen gibt, zusammenschließenmüssen. Wir werden sehen, wie wir dieses Problem lö-sen. Das sind nur wenige Beispiele. Das Dilemma, dasses schwierig ist, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen,bekommen wir damit nicht weg. Wir haben unheimlichviel Bürokratie; das hilft uns nicht.
Die Flut der Widersprüche und Klagen nimmt zu.Das schafft Arbeit – für Anwälte und Behörden. DiesesChaos bei der Arbeitsmarktpolitik setzt sich fort. HerrStaatssekretär, ich kann Sie beruhigen: Ich war nicht beider BA, ich bin nicht bei der BA und ich werde nicht beider BA sein.
Ich kann also frei fordern: Unterstützen Sie den Antragder Liberalen, lösen Sie die BA im jetzigen Zustand auf!
Es geht nicht um Abschaffung – wir brauchen ein ande-res System.
Ein dezentrales System wäre viel besser als das zentraleSystem, das wir jetzt haben. Lasst das die Kommunenund Landkreise machen; die wissen vor Ort viel besser,was los ist. Wir brauchen die Mammutbehörde in Nürn-berg nicht. Damit stelle ich nicht in Abrede, dass diese
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8879
(C)
(D)
Heinz-Peter HausteinLeute gute Arbeit leisten. Doch der Ansatz ist falsch,und das müssen wir ändern. Wenn ich Sie so höre, HerrStaatssekretär, wie Sie im Grunde behaupten: „Weil wirdie Macht haben, haben wir recht“, dann erinnert michdas an DDR-Zeiten. Das ist nicht gut.
Zum Antrag der Linken, das Arbeitslosengeld I zuverlängern, kann ich nur sagen: Wir sollten das Äquiva-lenzprinzip beibehalten. Man kann doch auch nicht ineine Feuerversicherung einzahlen und, nachdem es20 Jahre nicht gebrannt hat, sagen: Ich will mein Geldzurück. Das ist aber nicht das Hauptproblem. Entschei-dend – bei aller Kritik – ist, dass der Ansatz, den wir ha-ben, falsch ist: Ursache und Wirkung werden vertauscht.Man sehe einmal, wie viel Geld für die Verwaltung vonALG I und ALG II verpulvert wird! Wir sollten die Voll-beschäftigung – dass jeder eine Arbeit hat – wieder alsStaatsziel aufnehmen. Daran sollten wir arbeiten, dafürsollten wir kämpfen! Das geht aber nur, wenn man dieRahmenbedingungen für die Unternehmen verbessert,
damit sie mehr Leute einstellen. Verwalten, verwaltenund nochmals verwalten, das bringt den Leuten nichts.Wenn wir das schaffen, dann haben wir eine Chance aufeine gute Zukunft für unser schönes deutsches Vaterland.Ich freue mich über jeden Arbeitsplatz, der geschaffenwurde und wird. Ich habe selber im letzten Jahr in mei-ner Firma 43 Arbeitsplätze geschaffen; darüber freue ichmich.
Ob der Aufschwung, der anhält, etwas mit dem mil-den Winter zu tun hat oder mit der Fußballweltmeister-schaft oder mit dem charmanten Lächeln unserer FrauKanzlerin – Hauptsache, es kommt ein Aufschwung.Aber wir dürfen die Nachhaltigkeit nicht vergessen. Dieaber vergessen wir, wenn wir jetzt nichts ändern undnicht die Reformen durchführen, die wir brauchen.
Nur so kann es vorwärtsgehen.In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erz-gebirge.
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Kurth, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damenund Herren! Ich kann ja verstehen, dass das ThemaHartz IV für die beiden sozialdemokratischen Fraktio-nen in diesem Hause geradezu zur Vergangenheitsbewäl-tigung einlädt.
Dabei geht es einerseits um den Gründungsmythos derLinken und andererseits um das Trauma, das die SPDnoch zu verarbeiten hat: die Abspaltung einer zweitensozialdemokratischen Strömung. Aber ich finde, mansollte sich im Rahmen dieser Debatte eher dem zuwen-den, was in den Jobcentern tatsächlich passiert und wasden Leuten im Angesicht der Fallmanagerinnen undFallmanager widerfährt. Darum geht es!
Es geht um die Frage, ob die Potenziale, die dasSozialgesetzbuch II durchaus bietet, genutzt werden, obFallmanagerinnen und Fallmanager also zum Beispiel andie Motivation der Leute anknüpfen. Sie, Frau Nahles,haben zu Recht gesagt, dass 90, 95 Prozent der Men-schen motiviert sind. Aber diese Motivation wird nur un-zureichend genutzt. Den Fähigkeiten und Möglichkeitender Menschen muss Raum gegeben werden. Die vorhan-denen Instrumente müssen nach der Betrachtung derPersönlichkeit passend eingesetzt werden. Dabei mussman sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren,wenn man ein bestimmtes Entwicklungsziel erreichenmöchte.
Was erleben wir stattdessen? Dass man beim Einsatzder Instrumente vorwiegend fiskalischen Überlegungenfolgt. Da werden etwa die sogenannten 1-Euro-Jobsnicht nur übermäßig eingesetzt – Frau Pothmer hat dasam Beispiel der Jugendlichen verdeutlicht –, sondernauch ihre Dauer wird strikt nach formalen Kriterien aufsechs Monate begrenzt. Wenn danach noch Bedarfe vor-handen sind, die Betroffenen vielleicht eine Anschluss-qualifizierung machen wollen, dann kommt einfachnichts.Lassen Sie sich einmal von den Beschäftigungsträ-gern in den Bereichen der Jugendberufshilfe vor Ortschildern, was zum Beispiel mit jungen Erwachsenenpassiert, die langzeitarbeitslos sind und sechs Monatelang einen 1-Euro-Job gemacht haben. Ihnen wird nachsechs Monaten gesagt: Jetzt ist erst einmal Schluss. Viel-leicht kannst du in einem halben Jahr erneut einen An-trag stellen und dann wiederkommen. – Die Motivation,die sie sich mühselig erarbeitet haben, wird sozusagensofort wieder mit dem Hintern umgestoßen.
Wenn Sie auf diese Weise in einem Unternehmen inder freien Wirtschaft Personalentwicklung betreibenwürden, dann wäre Ihre Firma schnell am Ende. Ichfrage mich, warum wir die Potenziale und Möglichkei-ten der Menschen nicht nutzen und warum wir mit denInstrumenten, die zur Verfügung stehen, nicht ernsthafteine persönliche und berufliche Entwicklungspla-nung betreiben, sondern das Geld stattdessen nach for-malen Nürnberger Kriterien, nach denen das Ganze alsein Systemgeschäft betrachtet wird, verteilen.
Metadaten/Kopzeile:
8880 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Markus KurthDie Leistung muss den Menschen folgen, nicht derMensch der Leistung. Das gilt umso mehr dort, wo Job-center mit anderen Einrichtungen zusammenarbeiten,etwa in der Jugendhilfe, in der Behindertenhilfe und inanderen Bereichen. Dort finden wir tatsächlich die Situa-tion vor, dass sich die Kommunen mit Verweis auf dieJobcenter als vorrangige Leistungsträger einfach zurück-ziehen, indem sie sagen: Das ist eine vorrangige Leis-tung. Wir kommen dafür nicht mehr infrage. – Dass dasfalsch ist, legt die Bundesregierung in ihrer Antwort dar.
Die sogenannten nachrangigen bzw. ergänzenden Leis-tungen müssen von den Kommunen erbracht werden.Fakt ist aber, dass sie in vielen Fällen – nicht in allen –nicht von ihnen erbracht werden, wenn die Hilfebedürf-tigen sie nicht einklagen.
Herrn Haustein und Herrn Niebel von der FDP mussich an dieser Stelle sagen: Die miserable Zusammenar-beit zwischen Jobcentern und Kommunen und die-Leistungsverweigerung, die nicht wenige Kommunenbetreiben, werfen ein bezeichnendes Licht auf die ver-meintliche Kompetenz der Kommunen im Hinblick aufdie Leistungserbringung. Das muss an dieser Stelle ganzklar zum Ausdruck gebracht werden.
Ich hätte mir gewünscht, dass diese Aspekte in derheutigen Debatte viel umfassender analysiert und stärkerauf den Punkt gebracht worden wären, sodass dann ent-sprechend hätte gehandelt werden können. Aber hierwurde viel zu oft vor allem Vergangenheitsbewältigungbetrieben. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen jedenfallswerden die Realität genau beobachten und auch weiter-hin realitätsgenaue Vorschläge machen.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Michalk für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die wichtigste Aufgabe des Staates, der Politik, ist nicht,selbst die fehlenden Arbeitsplätze zu schaffen, sonderndie Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung aufdem ersten Arbeitsmarkt zu verbessern. Auf dieses Zielkonzentrieren sich unsere gesamten politischen Anstren-gungen.Deshalb ist es auch aus ostdeutscher Sicht richtig undwichtig, dass die Anstrengungen für mehr Arbeitsplätzeeben nicht nur in industriellen Ballungsgebieten verste-tigt werden, sondern auch in der Fläche, in strukturellbenachteiligten Regionen. Durch diesen hinter uns liegen-den erfolgreichen Arbeitsprozess in den letzten eineinhalbJahren und durch die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitikder Bundesregierung und auch der jeweiligen Bundeslän-der ist es zum Beispiel im Freistaat Sachsen zum erstenMal nach 1997 – also nach zehn Jahren – wieder gelun-gen, die Zahl der Arbeitslosen im Monat Februar auf we-niger als 400 000 zu senken, nämlich auf genau 362 800.
Wer diesen Trend nicht wahrnimmt und würdigt, ist einMiesmacher. Wir brauchen aber Optimisten.
Wirtschaftswachstum, geringe Arbeitslosigkeit, Infla-tion – das sind die wichtigsten Themen der Wirtschafts-politik in nahezu allen Ländern dieser Welt. Deshalb istdie Behauptung in der Vorbemerkung zur Großen An-frage der Linken, dass die ostdeutsche Bevölkerung be-sonders – ich zitiere – „unter den Folgen eines ökono-misch fehlgeschlagenen Einigungsprozesses leidet“,ausgesprochen falsch. Über diese Realitätsferne kannman sich nur wundern.
18 Jahre nach der Wahl der frei gewählten Volkskam-mer – diesen Tag haben wir übrigens am letzten Sonntaggefeiert; ich möchte unbedingt daran erinnern – wollenSie immer noch nicht die richtigen Beschlüsse der freigewählten Volkskammer für Einheit, für Freiheit und fürWettbewerb akzeptieren. Wir wissen, dass die materiel-len Grundlagen unseres menschlichen Daseins Einkom-men und Beschäftigung sind, durch die sehr beeinflusstwird, ob sich der Einzelne gut oder krank fühlt.Beim Bautzener Arbeitsamt ist zum Beispiel gut dieHälfte der 12 000 gemeldeten Arbeitslosen älter als50 Jahre. In anderen Ländern ist das nicht anders. DieseZahl spricht ihre eigene Sprache, die wir nicht geringschätzen dürfen. Eigentlich muss man sich doch fragen,was in der Diskussion falsch läuft. Ist es die Verwendungder Mittel, sind es zu wenige Eingliederungstitel, geht esum nicht eingesetzte Eingliederungstitel oder ist es dieöffentliche Wahrnehmung? Was ist hier falsch?Hartz IV kostete im ersten Jahr jedenfalls viel mehrGeld, als wir geplant hatten. Es gilt aber trotzdem als In-strument für gnadenlosen Sozialabbau. Diese Sicht aufstaatliche Sozialleistungen ist falsch, allerdings räumeich ein, dass sich diese Sicht auch in den neuen Bundes-ländern hier und da einschleicht. Durch die sozialenLeistungen – auch Hartz IV als Paket – soll die existen-zielle Not verhindert werden, was wirklich geschieht.Heute wird aber der Bezug der staatlichen Leistung ansich bereits als Notlage bezeichnet: Arm ist, wer Leis-tung bezieht. Das ist die öffentliche Meinung. Dagegenmüssen wir uns wenden.
In Wirklichkeit ist es für viele, die auf dem ersten Ar-beitsmarkt eine Arbeit finden, wesentlich komplizierter,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8881
(C)
(D)
Maria Michalkihren Lebensalltag zu gestalten. Ich habe jedenfalls im-mer noch Schwierigkeiten, einem Familienvater mitzwei Kindern, dessen Frau die Kinder zu Hause betreutund der einen Bruttoverdienst von 2 000 Euro hat – dasist ein Spitzenverdienst in den neuen Bundesländern –,zu erklären, warum er am Monatsende zum Teil nur ge-ringfügig mehr in der Tasche hat – manchmal sogar we-niger; je nach der Konstellation – als ein Leistungsemp-fänger. Wir müssen diese Tatsache verändern.
Nein, die Einführung der Hartz-IV-Gesetzgebung warkein Fehler. Hier stimme ich meinen Vorrednern zu. DieDoppelstruktur von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfewar intransparent und unsozial, weil Personen in glei-chen Lebenslagen unterschiedliche aktive und passiveLeistungen erhielten.Bei der Übersicht der Eingliederungsmaßnahmen fälltallerdings sofort auf, dass sich über 50 Prozent der Maß-nahmen in den neuen Bundesländern auf ein Instrument– die Vermittlung in ein Beschäftigungsverhältnis –konzentrieren, und zwar deshalb, weil keine Integrationin den ersten Arbeitsmarkt möglich ist; denn an diesemfehlt es.Dass diese einseitige Ausrichtung von den Wirt-schafts- und Unternehmensverbänden immer wieder kri-tisch hinterfragt wird, ist ein gutes Zeichen; denn dieWirtschaft kann sich nur im Wettbewerb entwickeln. Dasgilt auch für uns in den neuen Bundesländern. Solange dererste Arbeitsmarkt keine durchgehende Alternative bietet,kann – das sehe ich auch so – auf dieses Instrument nichtverzichtet werden. Die Beschäftigungsgelegenheiten sindnotwendig, um zum Beispiel der sozialen Isolation be-stimmter Bevölkerungsschichten, die nach vielen erfolg-losen Bewerbungen die Hoffnung auf einen Arbeitsplatzaufgegeben haben, vorzubeugen.Die Menschen in den neuen Bundesländern haben üb-rigens sehr genau verstanden, dass sie gegen ihre schein-bar oder manchmal auch tatsächlich unrechtmäßige Be-handlung vorgehen und ihre Rechte vor Gerichteinklagen können. Deshalb ist zwar die Zahl der Klagengestiegen, aber dies ist auch ein Zeichen dafür, dass derdemokratische Rechtsstaat funktioniert und jedem zuseinem Recht verhilft.
Im Übrigen ist in Ihrem Entschließungsantrag eineFülle von Forderungen enthalten, die allesamt auf mehrStaat und Ausgaben ausgerichtet sind. Dass aber dasVerhältnis von Eigenverantwortung auf der einen Seiteund Ausgewogenheit von Einnahmen und Ausgaben aufder anderen Seite in unserem Dasein von entscheidenderBedeutung ist, ist nichts Neues. Ich will das mit einemGleichnis von Johann Wolfgang von Goethe belegen.Ich habe dieses Gleichnis ausgesucht, weil mich vor kur-zem eine Besuchergruppe gefragt hat, was das für einekulturlose Debatte sei. Deshalb habe ich mich entschie-den, ein Gleichnis dieses ehrwürdigen Dichters vorzutra-gen, der schon zu seiner Zeit darauf hingewiesen hat,dass wir nur das ausgeben können, was wir haben, wobeiwir aber auf Ausgewogenheit achten sollten. Ich zitiere,mit Verlaub, das Gleichnis:Ein Kaiser hatte zwei Kassiere,Einen zum Nehmen, einen zum Spenden;Diesem fiel’s nur so aus den Händen,Jener wußte nicht, woher zu nehmen.Der Spendende starb; der Herrscher wußte nichtgleich,Wem das Geberamt sei anzuvertrauen.Und wie man kaum tät um sich schauen.So war der Nehmer unendlich reich:Man wußte kaum vor Gold zu leben.Weil man einen Tag nichts ausgegeben.Da ward nun erst dem Kaiser klar,Was schuld an allem Unheil war.Den Zufall wußt er wohl zu schätzen.Nie wieder die Stelle zu besetzen.Deshalb werden wir Ihrem Entschließungsantragnicht zustimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Gregor Amann für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte mich nicht mit dem Entschließungsantrag derLinken auseinandersetzen, der auf einer Großen Anfragebasiert – das haben Herr Staatssekretär Andres und an-dere Vorredner schon ausführlich getan –, aber eineFrage stellt sich mir: Warum stellen Sie eine Große An-frage, wenn Sie die Antwort der Bundesregierung garnicht zur Kenntnis nehmen?
Ich will mich in erster Linie mit der Verlängerung derBezugsdauer des Arbeitslosengelds I beschäftigen.Wenn es auch auf den ersten Blick nach mehr sozialerGerechtigkeit aussieht, so ist es dennoch eine Mogelpa-ckung. Dabei ist es völlig egal, ob diese Forderung vonIhnen oder von Herrn Rüttgers kommt; denn es ist undbleibt wahr – das konnte auch Herr Lafontaine nicht wi-derlegen –, dass die Arbeitslosenversicherung keine An-wartschaftsversicherung, sondern eine Risikoversiche-rung ist.
Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sind keineKapitalanlage, sondern eine Risikoabsicherung, die dannzum Tragen kommt, wenn Arbeitslosigkeit zu Verdienst-
Metadaten/Kopzeile:
8882 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Gregor Amannausfall führt. Das ist ähnlich wie bei der Brandschutzver-sicherung, bei der Sie nur dann Geld bekommen, wennIhr Haus abbrennt.
Vorhin wurde das Äquivalenzprinzip angesprochen.Dieses Prinzip gilt nur für die Höhe der Leistung, abernicht für die Länge der Bezugsdauer.
Mit Ihrem Antrag stellen Sie dieses bewährte System in-frage und wer sagt denn, dass ein 42-jähriger Familien-vater, dessen heranwachsende Kinder gerade eine Aus-bildung oder ein Studium beginnen, oder die 28-jährigeAlleinerziehende einen geringeren Finanzbedarf haben,wenn sie arbeitslos werden, als ein 55- oder 60-Jähriger?Soziale Gerechtigkeit ist manchmal komplexer, als esauf den ersten Blick scheint.Sie wollen das alles über eine Kürzung des Aussteue-rungsbetrags bezahlen. Worum geht es dabei? Den so-genannten Aussteuerungsbetrag muss die Bundesagenturfür Arbeit für jeden Arbeitslosen an den Bund zahlen,der länger als zwölf Monate ohne Job bleibt und damit indas Arbeitslosengeld II wechselt. Rund 10 000 Euro sindpro Arbeitslosen fällig. Da das Arbeitslosengeld I ausBeitragsmitteln der Arbeitslosenversicherung und dasArbeitslosengeld II aus Steuermitteln gezahlt wird, fin-det durch den Aussteuerungsbetrag eine Beteiligung derArbeitslosenversicherung an den Kosten der Langzeitar-beitslosigkeit statt. Über den Aussteuerungsbetrag solldie Bundesagentur für Arbeit, die heute keine Behördemehr ist, sondern nach Zielvereinbarungen arbeitet, dazumotiviert werden, die Vermittlung in Arbeit innerhalbder ersten zwölf Monate besonders intensiv zu betreiben,um so die Betroffenen erst gar nicht in Langzeitarbeits-losigkeit fallen zu lassen. Denn es ist bekannt: Je längerjemand arbeitslos ist, desto schwieriger wird die Rück-kehr in das Arbeitsleben.Man kann das Instrument des Aussteuerungsbetragsbestimmt kritisieren und wahrscheinlich noch besser jus-tieren. Es ist kein Allheilmittel oder Wundermittel. Aberwer eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes Ifür Ältere aus diesem Topf finanzieren möchte, nimmtdafür mutwillig einen Anstieg der Langzeitarbeitslosig-keit in Kauf, und nicht nur aus diesem Grund erinnernwir uns – darauf wurde vorhin hingewiesen –: Bis in die70er-Jahre hatten wir in Deutschland eine einheitlicheBezugsdauer des Arbeitslosengelds von zwölf Monaten.Mit steigender Langzeitarbeitslosigkeit hat die damaligeRegierung die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds ange-hoben, zumindest für manche. Die Folge war ein deutli-cher Anstieg der Beiträge zur Arbeitslosenversicherungauf 6,5 Prozent und ein erheblicher Anstieg der Bundes-zuschüsse. Wir haben die Bezugsdauer des Arbeitslosen-geldes von maximal 32 Monaten auf maximal 18 Mo-nate zurückgeführt, um der Frühverrentungspraxis ineiner Vielzahl von Betrieben wirksam entgegenzuwir-ken. Die Praxis gerade in vielen Großunternehmen hattein der Vergangenheit dazu geführt, ältere Menschen aufKosten der Beitragszahler der Arbeitslosenversicherungfrüher aus den Betrieben zu schicken. Wir wollen keinenRückfall in die Zeiten der Frühverrentung.
Wenn wir etwas für Arbeitslose, jüngere oder ältere,tun wollen, dann geht das nur auf einem Weg: Arbeitschaffen. Ältere Arbeitslose wollen nicht länger Arbeits-losengeld beziehen, sondern wieder in Arbeit kommenund sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Im Fe-bruar 2007 hat sich die Zahl der Arbeitslosen im Vergleichzum Vorjahresmonat um 826 000 verringert; das wurdebereits gesagt. Auch die Beschäftigungsquote der Älte-ren steigt wieder an. Erst vor wenigen Tagen war dies inder „Frankfurter Rundschau“ zu lesen. Mit der Initiative„50 plus“, die wir in der letzten Sitzungswoche verab-schiedet haben, haben wir weitere wirksame Schritte zurBeschäftigung Älterer unternommen: Eingliederungszu-schüsse, Kombilöhne, Weiterbildungshilfen. Meine Da-men und Herren von der Linken, Sie beschränken sichmit einer Verlängerung des Arbeitslosengeldbezugs fürÄltere darauf, die Symptome zu lindern.
Wir hingegen wollen die Ursachen bekämpfen. Wir wol-len wieder Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren.In der kurzen Redezeit, die mir noch verbleibt,möchte ich noch auf Ihren Antrag auf Auflösung derBundesagentur für Arbeit eingehen, meine Damen undHerren von der FDP.
Ihr Antrag von September 2006 ist heute schon veraltet.Der Eingangssatz lautet:Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich trotz der sog.Hartz-Reformen nicht grundlegend verbessert.
Er ist bereits heute überholt. Die aktuellen Zahlen wur-den bereits genannt.
Aber auch der Rest Ihres Antrages ist nicht viel besserals der Anfang. Sie wollen die Bundesagentur für Arbeitzu einer Art Privatversicherung umgestalten. Wenn es inIhrem Antrag heißt, die Gesamtäquivalenz zwischenLeistungen und Beiträgen müsse wiederhergestelltwerden – hier treffen sich erschreckenderweise die An-träge der Linken und der FDP –,
dann bedeutet das nichts anderes, als dass derjenige, deröfter arbeitslos wird, mehr Beiträge zahlt.
Das kann nicht sein. Das Prinzip mag für eine Kfz-Versi-cherung in Ordnung sein, aber es taugt nicht zur Absi-cherung des Lebensunterhalts im Falle der Arbeitslosig-keit.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8883
(C)
(D)
Gregor AmannAuch Ihr Modell eines Niedrigtarifs mit Karenzzeitgeht in die gleiche Richtung. Sie tun so, als könnten dieMenschen frei entscheiden, ob sie arbeitslos werdenoder nicht.
Wir Sozialdemokraten wollen Lebensrisiken nicht priva-tisieren, sondern wir sind für eine solidarische Risikoab-sicherung mit einer paritätischen Finanzierung durch Ar-beitnehmer und Arbeitgeber.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Aber gerne.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
men, dass wir einen solidarisch finanzierten Regeltarif in
der Arbeitslosenversicherung vorsehen und darüber hi-
naus, da der Arbeitgeberbeitrag steuerfrei an den Arbeit-
nehmer auszuzahlen ist, Anreize für zusätzliche Wahlta-
rife schaffen wollen, die jeder individuell gestalten kann,
somit also die solidarische Grundabsicherung des Le-
bensrisikos Arbeitslosigkeit entsprechend des Äquiva-
lenzprinzips erfolgt, darüber hinaus aber Wahlmöglich-
keiten geschaffen werden
und durch die Einführung möglichst vieler privatwirt-
schaftlicher Elemente in die Arbeitslosenversicherung
und in die Arbeitsvermittlung eine generelle Privatisie-
rung dieses Sicherungssystems ausgeschlossen wird?
Herr Niebel, ich danke Ihnen für die Frage. Dadurch
kann ich etwas länger reden. Sie haben vollkommen
recht.
– Nein, Sie haben nicht recht. Ich fange anders an.
Ich konnte das in Ihrem Antrag so nicht sehen. Mit
der Einführung von Wahltarifen tun Sie wiederum so,
als ob der Mensch die Wahl hätte, arbeitslos zu werden
oder nicht.
Das ist nicht richtig. Wenn Sie die Zuschüsse des Arbeit-
gebers an den Arbeitnehmer auszahlen lassen, dann ge-
hen Sie weg von der paritätischen Finanzierung. Dann
wird der Arbeitgeberbeitrag ein Teil des Arbeitslohns,
der in Tarifverhandlungen verhandelt wird. Das bedeutet
einen Schritt weg von der paritätischen Finanzierung.
Das ist nicht unser Weg.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage des Kollegen Niebel?
Aber gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Würden Sie mir zustim-
men, dass ein beitragssenkender Wahltarif, bei dem die
Hälfte der Beitragseinsparungen beim Arbeitgeber
bleibt, für den Arbeitnehmer unattraktiver ist als ein Ta-
rif, bei dem der Arbeitgeberanteil vorher zu 100 Prozent
ausgezahlt wird und der Arbeitnehmer, der über den Re-
geltarif hinaus einen Wahltarif in Anspruch nimmt, der
zu Beitragssenkungen führt, dann 100 Prozent der Bei-
tragsersparnis für sich hat?
Ich kann keinerlei Notwendigkeit sehen, in die Ar-
beitslosenversicherung Wahltarife einzuführen.
Ich komme zum Ende: In der Tat, die Reform der Ar-
beitsverwaltung ist noch nicht an ihrem Ziel, aber sie ist
auf einem guten Weg. Ihr Weg, Herr Niebel, führt in die
Irre.
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Max Straubinger für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Am Schluss dieser Debatte ist festzustellen, dass die Op-position keine Antwort auf die Frage hat, wie wir Men-schen aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit bringen.
Man kann sich trefflich über die Höhe von Leistungender sozialen Sicherung streiten. Diese Frage wird sichimmer im politischen Spannungsfeld befinden. Ich binüberzeugt, dass das nicht nur heute, sondern auch in Zu-kunft Gegenstand der politischen Auseinandersetzungsein wird.Die Politik ist aufgefordert, dafür zu sorgen, dass denbedürftigen Menschen die entsprechende soziale Unter-stützung gewährt wird. Ich glaube, dass die Große Koali-tion das gewährleistet. Es ist wichtig, darzustellen, dassgewährleistet ist, dass diese Menschen in Würde lebenkönnen.
Metadaten/Kopzeile:
8884 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Max StraubingerDie Höhe der Leistungen ist heute schon vielfach er-wähnt worden. Ich möchte darauf hinweisen, dass diesenach der Einkommens- und Verbrauchsstatistik ermitteltwird. Darin wird alles berücksichtigt, was zu einemmenschenwürdigen Leben notwendig ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin aus der Fraktion Die Linke?
Ja.
Vielen Dank. – Herr Straubinger, aus Ihrem Einstieg
schließe ich, dass Sie zum Beispiel unsere Anträge zum
Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung und
zur Verbesserung der Beschäftigungschancen Älterer
nicht kennen, obgleich wir beide Mitglied des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales sind. Wenn es so ist, dass Sie
diese beiden Anträge nicht kennen, dann lasse ich sie Ih-
nen sehr gerne zukommen. Sie müssten mir nur bestäti-
gen, dass Sie sie noch nicht kennen.
Verehrte Kollegin Möller, ich habe Ihre Anträge gele-sen. Ich werde darauf später noch zurückkommen. Esgeht doch nicht um die Beschäftigung im öffentlichenBereich. Wir wollen, dass mehr Menschen in den erstenArbeitsmarkt kommen.
Ihre Vorstellungen drehen sich immer nur um denStaat. Unsere Vorstellungen zielen letztendlich auf mehrsozialversicherungspflichtige Beschäftigung im erstenArbeitsmarkt. Dazu soll es durch die von uns gesetztenwirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen kommen.Diesbezüglich kann diese Bundesregierung auf großar-tige Erfolge verweisen.
Die beste Sozialpolitik ist eine Politik, die dafür sorgt,dass es mehr Beitrags- bzw. Steuerzahler gibt. Das erfor-dert letztendlich, dass die Eigenverantwortlichkeit derMenschen gestärkt wird. Dazu stehen wir. Darüber hi-naus ist es erforderlich, dass es effektive Strukturen gibt,zum Beispiel, um die sozialpolitischen Aufgaben zu be-wältigen. Sämtliche Anträge, die wir heute beraten, ste-hen damit im Zusammenhang.Heute wurde bereits in vielfältiger Weise dargelegt:Die Bundesregierung und diese Koalition können aufgroße Erfolge im Jahr 2006 zurückblicken. Das ist einAnsporn, den Bürgerinnen und Bürgern auch in Zukunftdie Möglichkeit zu geben, am ersten Arbeitsmarkt teil-zuhaben. Von den wirtschaftsrelevanten Daten gehen po-sitive Signale aus, dass sich der Trend einer sinkendenArbeitslosigkeit im Jahr 2007 fortsetzt – im abgelaufe-nen Jahr ist die Arbeitslosigkeit um über 600 000 gesun-ken –, sodass am Ende dieses Jahres wiederum vermel-det werden kann: 300 000 oder 400 000 Menschenhaben zusätzlich Arbeit gefunden und gehen einer so-zialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach.
Bei 1,6 Millionen offenen Arbeitsstellen muss das er-reicht werden.Es gibt verschiedene Elemente. Die Hartz-Gesetzehaben sich bisher – trotz manchem, was nachjustiertwerden musste – sehr positiv entwickelt. Der Ansatz„Fördern und Fordern“ muss und wird gleichermaßenweiterverfolgt werden.Die Anträge der Linken sind meines Erachtens kon-traproduktiv. Die Linken fordern in ihrem Entschlie-ßungsantrag zum Beispiel einen Mindestlohn von8 Euro. Das übertrifft sogar noch die Forderungen derGewerkschaften. Was würde es bedeuten, wenn man die-ser Forderung nachkäme? Es würde zuerst einmal dieAushöhlung der Tarifautonomie – Gewerkschaften undArbeitgeber verhandeln frei über die Höhe der Löhne –bedeuten; man würde also den Pfad der Tarifautonomieverlassen. Ich glaube, dass die Tarifautonomie in derVergangenheit für eine gute Entwicklung stand. Die bei-den Tarifpartner sind meines Erachtens auch in sozialpo-litischer Hinsicht verlässliche Partner, wenn es nämlichdarum geht, gute Löhne auszuhandeln, die für die Men-schen in Deutschland die Sicherung ihrer Existenzgrund-lage gewährleistet.Würde man der Forderung der Linken nachkommen,hätte dies natürlich auch die Verlagerung von Arbeits-plätzen ins Ausland zur Konsequenz. Die Einführung ei-nes Mindestlohns hätte zur Folge, dass die Schwarzar-beit zunimmt.
Es wird gefordert – für mich ist das zum Teil unver-ständlich, auch wenn es von der arbeitsmarktpolitischenSeite her nachvollziehbar zu sein scheint –, unseren Ar-beitsmarkt im Bereich der Saisonarbeit in der Landwirt-schaft abzuschotten. Die Begründung dafür lautet: DieseTätigkeiten müssen von inländischen Arbeitsuchendenausgeübt werden. Das ist an sich richtig. Der Tariflohnliegt bei 5,20 Euro. Bei einem Mindestlohn von 8 Euround vor dem Hintergrund der Arbeitnehmerfreizügigkeitin Europa ab 2009 oder ab 2011 werden nach meinerÜberzeugung vor allen Dingen diejenigen Menschen ausdem Arbeitsprozess gedrängt werden,
die am Arbeitsleben aufgrund persönlicher Einschrän-kungen nicht teilhaben können. Das wird die große Ge-fahr bei einem hohen Mindestlohn sein, werte KolleginMöller. Das sollten Sie hierbei auch bedenken.
In ihrem Antrag fordern die Linken auch, dass dieZumutbarkeitsregelungen zur Arbeitsaufnahme inmehreren Bereichen verändert werden. Vor allen Dingen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8885
(C)
(D)
Max Straubingersoll in dem Zusammenhang zukünftig die politische undreligiöse Gewissensfreiheit geschützt werden. Ich fragemich natürlich, was darunter alles zu verstehen ist. Dasbedeutet natürlich eine tolle Wandlung. Früher, als Sienoch „SED“ hießen und die SED die Verantwortunghatte, haben Sie mit dem Freien Deutschen Gewerk-schaftsbund die Leute genötigt, Arbeit aufzunehmen,ohne Bezahlung, und dafür den Sozialismus zu verbrei-ten. Heute bereiten Sie ein anderes Einstiegsprogrammvor. Da gibt es eine Partei, die zum Spruch des Tages er-hoben hat – ich zitiere –: „Lieber einen Bauch vom Sau-fen als einen Buckel vom Arbeiten“
und als Lebensweisheit verkündet: Solange der Bauchnoch in die Weste passt, wird keine Arbeit angefasst.
Das ist letztlich das Einstiegsprogramm für Faulenzerin unserem Land. Das kann meines Erachtens nicht Zieleiner Politik in diesem Land sein.
Ich darf mich ganz kurz auch noch mit dem Antragder FDP befassen. Mir ist eines aufgefallen: Sie wollendie Bundesagentur für Arbeit auflösen bzw. zerschlagen.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
der Kollegin Möller, auch wenn Ihre Redezeit dem Ende
zugeht?
Ich möchte das zu Ende führen.
Die FDP sagt also: Die Bundesagentur muss aufge-
löst bzw. zerschlagen werden. Es soll eine Agentur ge-
ben, die nur noch das Arbeitslosengeld auszahlt. Es soll
daneben Jobcenter geben. Ich lese hier – ich zitiere aus
dem Antrag –:
Die Job-Center sind Anlaufstellen für alle arbeitsu-
chenden Personen. Sie gewährleisten eine umfas-
sende Betreuung und treffen alle im Einzelfall not-
wendigen Entscheidungen. Sie koordinieren alle
Kompetenzen, die zur Eingliederung in Erwerbsar-
beit und zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit
notwendig sind.
Ich glaube, dass diese Aufgaben derzeit die BA schon
sehr gebündelt erledigt.
Deshalb wäre es Unsinn, jetzt ein neues Schild zu kreie-
ren. Sie, Herr Kollege Niebel – das gilt auch für uns –,
haben sich seinerzeit über die Umfirmierung von „Bun-
desanstalt für Arbeit“ in „Bundesagentur für Arbeit“ auf-
geregt sowie darüber, was die neuen Schilder gekostet
haben. Letztlich würde auch Ihr Vorschlag wieder nur
bedeuten, dass neue Schilder angeschafft werden müssen –
von den Wahltarifen abgesehen, die meines Erachtens
nicht sehr zielführend sein können.
Werte Frau Präsidentin, ich bedanke mich, auch dafür,
dass ich drei Sekunden überziehen durfte.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen aufden Drucksachen 16/2684, 16/3538 und 16/4749 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu über-weisen. Der Entschließungsantrag der Fraktion DieLinke auf Drucksache 16/4774 soll an dieselben Aus-schüsse wie die Vorlage auf Drucksache 16/2684 undzusätzlich an den Rechtsausschuss überwiesen werden.Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe: Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 jund 12 b sowie Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:27 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des All-gemeinen Eisenbahngesetzes– Drucksache 16/4198 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Tourismusb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fa-kultativprotokoll vom 8. Dezember 2005 zumÜbereinkommen über die Sicherheit von Per-sonal der Vereinten Nationen und beigeordne-tem Personal– Drucksache 16/4381 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Absatzfondsgesetzes und des Holzab-satzfondsgesetzes– Drucksache 16/4692 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss
Metadaten/Kopzeile:
8886 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldtd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Ersten Gesetzes zur Änderungdes Bundesgrenzschutzgesetzes– Drucksache 16/4665 –Überweisungsvorschlag:Innenausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Angelika Brunkhorst, PatrickDöring, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPSchutz und Nutzung der Meere – Für eine in-tegrierte maritime Politik– Drucksache 16/4418 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussf) Beratung des Antrags der Abgeordneten MechthildDyckmans, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPRechtssicherheit schaffen – Musterwiderrufs-belehrung für Verbraucherverträge überar-beiten– Drucksache 16/4452 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungg) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungNationales KlimaschutzprogrammSechster Bericht der Interministeriellen Ar-beitsgruppe „CO2-Reduktion“– Drucksache 15/5931 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungh) Beratung des Antrags der Abgeordneten PriskaHinz , Kai Gehring, Brigitte Pothmer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENLebenslanges Lernen fördern– Drucksache 16/4748 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendi) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Edmund Peter Geisen, Hans-MichaelGoldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPWettbewerbsnachteile der deutschen Land-wirtschaft durch EU-weite Angleichung derBesteuerung von Agrardiesel abbauen– Drucksache 16/4186 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzj) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. ChristelHappach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, JensAckermann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDPFischartenschutz fördern – vordringliche Maß-nahmen für ein Kormoranmanagement– Drucksache 16/3098 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz12 b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Wirtschaftsplans des ERP-
– Drucksache 16/4376 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für TourismusHaushaltsausschussZP 2a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zurÄnderung des Fahrpersonalgesetzes– Drucksache 16/4691 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten InaLenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPChancen für Frauen auf dem Ausbildungs-und Arbeitsmarkt verbessern– Drucksache 16/4737 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8887
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtEs handelt sich dabei um Überweisungen im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/4186 zuTagesordnungspunkt 27 i soll zur federführenden Bera-tung an den Finanzausschuss und zur Mitberatung anden Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-braucherschutz überwiesen werden. Die Vorlage aufDrucksache 16/3098 zu Tagesordnungspunkt 27 j sollfederführend im Ausschuss für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit beraten werden. Sind Sie damiteinverstanden? – Auch das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 fauf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla-gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Zunächst Tagesordnungspunkt 28 a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie
– zu der Verordnung der BundesregierungSiebenundsiebzigste Verordnung zur Ände-rung der Außenwirtschaftsverordnung– zu der Verordnung der BundesregierungEinhundertvierundfünfzigste Verordnungzur Änderung der Einfuhrliste– Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz –– Drucksachen 16/4106, 16/4248 Nr. 2.1, 16/4107,16/4248 Nr. 2.2, 16/4598 –Berichterstattung:Abgeordneter Erich G. FritzDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/4598, die Aufhebung der Ver-ordnungen auf den Drucksachen 16/4106 und 16/4107nicht zu verlangen. Wer stimmt für die Beschlussemp-fehlung? – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.Nun kommen wir zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 28 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 190 zu Petitionen– Drucksache 16/4565 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 190 ist damit mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 28 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 191 zu Petitionen– Drucksache 16/4566 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 191 ist damit bei Gegen-stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 28 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 192 zu Petitionen– Drucksache 16/4567 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 192 ist damit bei Gegen-stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenund der Fraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 28 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 193 zu Petitionen– Drucksache 16/4568 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 193 ist damit bei Gegen-stimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion DieLinke angenommen.Tagesordnungspunkt 28 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 194 zu Petitionen– Drucksache 16/4569 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 194 ist damit mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen derOppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENZustand der Deutschen Bahn AG vor demBörsengangIch eröffne die Aussprache und erteile das Wort alserstem Redner dem Kollegen Winfried Hermann aus derFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent-wicklung hat gestern gemeinsam, und zwar einstimmig,einen wichtigen Beschluss gefasst: Wir richten einen
Metadaten/Kopzeile:
8888 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Winfried HermannUnterausschuss zum Zustand des Netzes der DeutschenBahn ein. Das ist wirklich wichtig und gut.
Dass wir uns kritisch mit diesem Netz befassen müssen,ist inzwischen Konsens aller Expertinnen und Experten.Es ist eigentlich ein Skandal, dass wir drei Jahre nacheinem Beschluss des Deutschen Bundestages immernoch keinen aussagekräftigen Infrastruktur- bzw. Netz-zustandsbericht von der Deutschen Bahn vorgelegt be-kommen haben. Dieser ist höchst überfällig.
Es ist nicht nur ein Skandal, sondern auch ein Ärgernis,dass es das Verkehrsministerium in all diesen Jahrennicht geschafft hat, so etwas gegenüber seinem großeneigenen Betrieb durchzusetzen. Jetzt soll ein Text vorlie-gen, mit dem selbst das Ministerium nicht zufrieden ist.Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen istviel über den Zustand des Netzes geschrieben worden.Selbst wenn da die eine oder andere Übertreibung dabeigewesen ist, kommt man, wie ich glaube, nicht umhin,festzustellen, dass der Zustand des Netzes beklagenswertist. Es gibt viele, zu viele Baustellen. Es ist offenkundigzu lange zu wenig in die Pflege gesteckt, zu lange zu we-nig in den Erhalt investiert worden. Das muss dringendgeändert werden.
Man hat auch den Eindruck, dass sich die DB AG, umeine gute Bilanz für den Börsengang hinzubekommen,die Mittel für die Pflege spart und so lange die Streckenbefährt, bis der Schienenkörper ersetzt werden muss.Das heißt, es muss dann vom Bund bezahlt werden undnicht mehr von der Bahn. Auch das ist ein Fehlanreiz,den wir festgestellt haben, der dringend beseitigt werdenmuss.
Meine Damen und Herren, all dies zeigt, dass eshöchste Zeit wird, dass wir als Eigentümer genauer aufunser Eigentum achten und es ein Stück weit der DB AGentziehen. Ich zitiere einmal:Die Infrastrukturgesellschaften werden vor der Ka-pitalprivatisierung ins Eigentum des Bundes über-führt. Juristische Risiken für die eigentümerrechtli-che Position des Bundes müssen ausgeschlossenwerden.Das ist der Beschluss der Großen Koalition vom Novem-ber 2006.
– Der Bundestag hat mehrheitlich zugestimmt. – Ichkann nur sagen: Lassen Sie uns das umsetzen!
Was geschieht aber? Inzwischen liegt ein Entwurf zurPrivatisierung der DB AG aus dem Hause Tiefensee vor.Er beinhaltet das glatte Gegenteil von dem, was im Prin-zip damals verabschiedet wurde, das glatte Gegenteilvon allen Bedenken, die von allen Experten gegenüberden ersten Entwürfen vorgebracht worden sind. Eigent-lich wird versucht, das alte Tiefensee-Modell, das soge-nannte Eigentumssicherungsmodell – wer immer dasversteht –, wieder in Form eines neuen Gesetzentwurfesvorzulegen.Ärgerlich an der ganzen Geschichte ist, dass der Chefdes Bahnkonzerns den Entwurf kritisiert und dem HerrnMinister einen Brief geschrieben hat, den sogenanntenBömbchenbrief. Der heißt so, weil Bömbchen am Randwaren, mit denen auf das hingewiesen wurde, was ausDB-Sicht problematisch ist und geändert werden muss,weil es so nicht privatisierungsfähig ist. Und was ge-schieht? Wenige Wochen später liefert der Minister ei-nen entsprechenden Entwurf – alle Kritikpunkte besei-tigt. Man fragt sich allen Ernstes: Ist das Ministeriumeigentlich eher der DB verantwortlich oder dem Deut-schen Bundestag bzw. dem Grundgesetz?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss sichnicht wundern, dass inzwischen in manchen Medien alsNachfolger von Mehdorn Herr Tiefensee ausgerufenwird, nach dem Motto: Er bereitet sich seinen späterenPlatz schon vor. Jedenfalls kann man sich dieses Ein-drucks nicht erwehren, wenn man sieht, wie willfährigdas Ministerium alles tut, was die Bahn sagt, und wie esdie Eigenverantwortung der Politik nicht wahrnimmt.Wir haben gegenüber diesem Gesetzentwurf erhebli-che Bedenken. Diese sind, dass der Bund sein Eigentumnur formal kurze Zeit hält, um es dann der DB zu über-eignen, dass sie dieses Eigentum 15 Jahre, vielleicht so-gar 25 Jahre haben soll, dass der Bund die Stimmrechtegleich an die DB abgibt und zudem noch zusagt,37 Milliarden Euro über 15 Jahre regelmäßig zu zahlen.Da kann ich nur sagen, Genossinnen und Genossen:Über diese Zusage freuen sich die Heuschrecken.
In allen Fraktionen gibt es Abgeordnete, die darübernachdenken, wie wir mit dem Volksvermögen im Be-reich der Bahn, das in vielen Jahren angespart wordenist, verantwortungsbewusst umgehen können. DiesesGesetz ist jedenfalls in keinem Punkt eine Antwort aufdiese Frage. Im Gegenteil, es ist ein billiger Ausverkauf,eine Schenkung. Das ganze Gesetz ist extrem verquastund kompliziert. Die Politik ist weitgehend außen vor.Wir werden zukünftig vor allen Dingen einen Streit zwi-schen den Rechtsabteilungen des Ministeriums und derDB haben. Ich kann Ihnen sagen, wie das ausgeht: MitSicherheit geht es nicht gut für das Ministerium aus.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8889
(C)
(D)
Winfried HermannDenn das Ministerium ist schon heute nicht in der Lage,einem solchen Konzern Paroli zu bieten.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit!
Ich komme zum Schluss. – Der Gesetzentwurf ist
grundlegend falsch. Schmeißen Sie ihn in den Papier-
korb! Er kann auch nicht mehr verschlimmbessert wer-
den. Wir sollten uns im Unterausschuss erst einmal kri-
tisch mit dem Netzzustand befassen, dann überlegen,
wie es weitergeht, in jedem Fall sicherstellen, dass die
Infrastruktur in öffentlicher Hand bleibt, und schließlich
in einer nächsten Periode den Börsengang mit klarem
Kopf neu angehen.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter
Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Jawohl, es ist richtig, dass der Verkehrsaus-schuss mit den Stimmen aller Fraktionen diesen Unter-ausschuss eingesetzt hat, um eine stärkere Kontrolle beider Bahn bezüglich des Netzes ausüben zu können.Lieber Kollege Hermann, man muss aber schon fairbleiben: Die Deutsche Bahn AG ist 13 Jahre nach derPrivatisierung ein vorzeigbares und leistungsfähiges Un-ternehmen, das international anerkannt ist. Das verdan-ken wir den Mitarbeitern der Bahn und auch dem Steuer-zahler, der viele Milliarden Euro in die Bahn gesteckthat.
Es ist keine Frage, dass es Anlass zur Kritik am Zu-stand des Netzes gibt. Diese Kritik gab es schon seit län-gerem, inzwischen auch dokumentiert vom Bundesrech-nungshof. Nun beginnt die Ursachenforschung; auch Siebeteiligen sich daran. Die einen sagen, die DB schönedie Bilanz dadurch, dass sie Investitionen vernachläs-sige. Die anderen sagen, die Politik habe der Bahn sol-che ausufernden Aufgaben gestellt, dass sie keine finan-ziellen Spielräume mehr hatte, um ausreichend Mittel indas Netz zu stecken.Das ist ein müßiger Streit. Fest steht, dass der Bund,der Staat, einen Infrastrukturauftrag hat
und dass er mithilfe der Deutschen Bahn AG diesenAuftrag wahrnehmen will. Das ist ein Faktum. Dazu ge-hört natürlich, dass man denjenigen, den man mit derWahrnehmung seiner Aufgaben beauftragt, kontrolliert.Der Bundesrechnungshof stellt in seinen Prüfberich-ten zwischen 2001 und 2005 fest, dass die Aufwendun-gen für die Netzinstandhaltungen deutlich unter dem Be-darf lagen. Ich frage nun Sie, lieber Kollege Hermannvon den Grünen: Wer hat denn 2001 bis 2005 regiert?Wenn ich mich richtig erinnere, waren zu dieser Zeit dieGrünen in der Regierung. Das aber haben Sie wie auchwir inzwischen verdrängt.
Die Grünen stellten sogar – vielen Dank, NorbertKönigshofen – einen Aufsichtsrat. Warum hat er nicht alldie Kontrollen, die Sie jetzt fordern, vorgenommen?
Ich stelle fest, dass wir aufgrund der Mängel, die fest-gestellt worden sind, die Kontrollen verstärken werden.Wir werden das nachholen, was Sie, meine Damen undHerren von den Grünen, in Ihrer Regierungszeit ver-säumt haben.Der Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein in die-sem Zusammenhang. Denn in ihm wird festgelegt, wiediese Kontrolle vor sich gehen soll: Erstens. Wir werdenvor einem Börsengang dafür sorgen, dass der BundEigentümer des Netzes bleibt. Das ist der wichtigstePunkt in diesem Gesetzentwurf. Zweitens. Wir werdender Deutschen Bahn AG das Recht einräumen, diesesNetz zu nutzen. Sie wird 2,5 Milliarden Euro erhalten,um das Netz instand zu setzen. Die Bahn bekommt dasGeld aber nicht unkonditioniert. Wir werden ihr nämlichgenau vorschreiben – das können Sie im Gesetzentwurfnachlesen –, wie viel sie aus eigenen Mitteln investierenmuss.Wir werden ihr auch genau vorschreiben, wo sie wel-che Investitionen tätigen muss, indem wir Qualitäts-merkmale mit technischen Parametern festlegen. Wirwerden genau regeln, wie der Zustand von Brücken,Stützmauern, Entwässerungssystemen, Stromleitungenund Signalanlagen sein muss. Wenn Sie den Gesetzent-wurf lesen, dann können Sie erkennen, dass all diesePunkte aufgenommen worden sind. Deswegen kann mansagen, dass es ein sehr guter Entwurf ist. Sie könnensicher sein, dass wir peinlich darauf achten werden– auch das steht in dem Gesetzentwurf –, dass uns vonder Deutschen Bahn AG, auch nach einem nächsten Pri-vatisierungsschritt, ein jährlicher Netzzustands- und Ent-wicklungsbericht vorgelegt wird.
– Entschuldigung, das wird geltendes Recht sein.
Metadaten/Kopzeile:
8890 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Hans-Peter Friedrich
Ich denke, dass wir mit dem von dem Minister vorge-legten Gesetzentwurf auf einem guten Weg sind. Der imDezember im Deutschen Bundestag gefasste Beschlusshat leider nicht Ihre Unterstützung bekommen. Ich kannnicht verstehen, warum Sie diesem Beschluss nicht zu-gestimmt haben. Denn in ihm steht, dass der Bund Ei-gentümer der Infrastruktur der Bahn bleibt.In diesem Gesetzentwurf wird der eine oder anderePunkt noch nachgearbeitet werden; das ist überhauptkeine Frage. Entschuldigung: Dafür sind wir als Parla-ment da. Denn es ist nicht unsere Aufgabe, einen Regie-rungsentwurf eins zu eins abzunicken. Vielmehr werdenwir in den Ausschüssen mithilfe von Sachverständigenund auch mit der fachkundigen Hilfe der Opposition daseine oder andere noch korrigieren. Ich denke, dass derEntwurf eine sehr gute Grundlage ist, mit der wir gut vo-rankommen werden.Wir haben genügend Zeit. Der Bundeswirtschaftsmi-nister hat beantragt, seine Beratungszeit für die Ressort-abstimmung bis Ende April auszudehnen. Ich begrüßedas ausdrücklich, weil wir dann auch in unserer FraktionZeit haben, darüber zu diskutieren. Der Entwurf mussauch mit den Ländern diskutiert werden. Ich denke, wirkönnen froh sein, dass wir beim Thema Bahn insgesamtauf einem guten Wege sind.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Namenskollege, das ist genau das Problem derUnion: Sie glauben zu viel von dem, was Ihnen die Bahnvermeintlich zusagt,
und prüfen nicht nach, ob sie das, was sie nach den be-stehenden Gesetzen eigentlich schon jetzt machenmüsste, auch macht.
Wie soll das dann besser werden?Indem Sie jetzt einen Kunstgriff vornehmen – dies er-gibt sich aus dem Gesetzentwurf, der formal gar nichtvorliegt, weil er noch nicht in der Ministeriumsabstim-mung war –, treten Sie noch mehr Rechte an die Bahnab. Sie treten ja sogar Ihre Zustimmungsrechte, über dieSie im Aufsichtsrat verfügen, schon vorher an die Bahnab. Wie soll dann bitte schön die Kontrolle dessen, wasdie Bahn insbesondere im Infrastrukturbereich macht,besser werden? Das Parlament hat dann gar nichts mehrzu sagen. Es darf allerdings das Geld durchreichen, undzwar am besten fest verpflichtet auf zehn Jahre und ohnejede Änderung.
Sie sagen, Sie wollen Qualitätsmerkmale einführen. Wersoll denn die dann prüfen?Die Bundesregierung erklärt uns in ihrer Antwort aufeine Kleine Anfrage, sie sei nicht in der Lage, detaillierteAuskünfte über den Zustand des Netzes zu geben. Vordiesem Hintergrund wollen Sie Qualitätskriterien ein-führen, die uns weiterhelfen? Zu was das führen soll,sollten Sie mir einmal deutlich erklären. Vielleicht kön-nen Sie mich bezüglich dieses Themas dann doch nochgläubig machen.Aber nach dem, was ich bisher sehe, muss ich sagen:Sie geben noch mehr Rechte an die Bahn ab. Genau daswar die Intention des Briefes von Herrn Mehdorn. Ichbin einmal gespannt, ob ich Sie, Herr Dr. Friedrich, anIhren Aussagen, die Sie im Oktober letzten Jahres der„Welt“ gegenüber gemacht haben, messen kann odernicht. Für den Fall, dass Sie nicht mehr wissen, was Siedamals gesagt haben, lese ich Ihnen eine Ihrer Aussagennoch einmal vor:Wir wollen, dass der Bund auch künftig aus der Po-sition des Eigentümers mit der Bahn verhandelnkann.Wenn Sie das ernst meinen, können Sie dem, was dazuvorliegt, eigentlich nicht zustimmen. So können Siedann nämlich nicht mehr verhandeln. Das ist das eigent-lich Entscheidende.
Nun aber noch zu einigen anderen Punkten. Die Aktu-elle Stunde hat ja den Titel „Zustand der DeutschenBahn AG vor dem Börsengang“. Herr Kollege, es be-steht ja noch außerhalb von Aktuellen Stunden ausrei-chend Zeit, über den entsprechenden Gesetzentwurf zureden. Die Frage ist: Ist das, was uns als sogenannte Er-folgsstory vorgestellt wird, tatsächlich eine Erfolgs-story? Sind die Wirtschaftsdaten, die Wirtschaftszahlenbzw. die Kennzahlen tatsächlich so, wie sie dargestelltwerden, oder haben wir vielleicht Grund zur Annahme,dass dies nicht ganz so ist?Ich will Sie auf eines hinweisen: Die Bahn spricht seit2005 im Hinblick auf ihre Bilanzkennzahlen nur nochvom EBIT, also von den „earnings before interest and ta-xes“. Das ist also der Ertrag vor Abzug von Steuern. Sievergleicht das mit dem Betriebsergebnis II. Das Be-triebsergebnis ist aber das Ergebnis nach Steuern. Das istfür mich ein Vergleich von Äpfeln und Birnen. Ich habenichts dagegen, dass man das EBIT als Kennzahl heran-zieht. Aber dann bitte kontinuierlich, also auch in derVergangenheit!
– Das ist nicht kleines Karo, Herr Kollege Hübner. Es istschlimm, dass ein Haushälter so einen Zuruf macht. DenUnterschied sollten Sie kennen. Es ist nämlich ein Un-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8891
(C)
(D)
Horst Friedrich
terschied, ob ich als Kennzahl das EBIT mit einerSumme von 1,35 Milliarden Euro heranziehe oder ob ichdavon noch die zu zahlenden Steuern von 1,264 Milliar-den Euro abziehen muss. Dann bleiben nämlich nur rund100 Millionen Euro übrig. Und das ist schon ein Unter-schied. Wenn Sie das nicht mehr unterscheiden können –okay. Aber für mich ist es schon entscheidend, ob das sooder anders gemacht wird.
Ein anderes Thema ist natürlich: Was macht die Bahntatsächlich mit den Geldern? Wo sind sie angekommen?Ich will darstellen, was die gesetzliche Grundlage für dieFinanzierung von Schieneninvestitionen normalerweiseist. In den diesbezüglichen Regelungen steht sinngemäß:Der Bund finanziert die Fernverkehrswege der Bahn inaller Regel mit zinslosen Darlehen, in Ausnahmefällenmit verlorenen Zuschüssen.Rot-Grün hat das 1999 umgestellt. Es wird fast aus-schließlich nur noch mit verlorenen Zuschüssen finan-ziert. Ein Vorteil dieser Finanzierung ist: Die Bahn istnicht verpflichtet, diese Strecken in der Bilanz zu akti-vieren. Für Investitionen, die ich in meiner Bilanz nichtaktiviere, muss ich auch keine Abschreibungen vorse-hen. Nicht umsonst hat der Bundesrechnungshof in ei-nem anderen Bericht nachgewiesen, dass der anrechen-bare Vorteil für die Bahn allein aufgrund dieser Situationbei ungefähr 750 Millionen Euro im Jahr liegt. Bisherhabe ich noch niemanden gehört, der diese Zahl in Zwei-fel gezogen hat. Das ist nur eine Alternative, an die mandenken sollte.Am schönsten ist jetzt, dass man sagt, man müsse dasGanze machen, um der Bahn den Weg als internationaltätiger Logistikdienstleister nicht zu verbauen. Da kannich nur sagen: Wir haben schon einen international täti-gen Logistikdienstleister; er bietet weltweit Logistik an.Der finanziert das aus der kärglichen Monopolrenditebeim Briefporto.
Ich möchte nicht, dass mit dem Rückgriff auf denStaat – nämlich mit mindestens 51 Prozent Eigentümer-schaft des Bundes – ein zweiter weltweit agierenderDienstleister entsteht, der Privatfirmen Konkurrenzmacht, die in dieser Situation nicht auf den Staat zurück-greifen können.Das ist nicht nötig. Der deutsche Steuerzahler mussnicht das Risiko für Investitionsentscheidungen einge-hen, die die Deutsche Bahn in Asien, in Amerika odersonst wo in der Welt vorhat. Das ist das eigentliche Pro-blem, und das müssen wir lösen.
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentari-
sche Staatssekretär Achim Großmann das Wort.
A
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ein starker Verkehrsträger „Schiene“ mit wett-bewerbsfähigen Eisenbahnunternehmen ist ein wesentli-cher Eckpfeiler der von der Bundesregierung verfolgtenintegrierten Verkehrspolitik. Durch eine effiziente Ver-netzung der Verkehrsträger, durch die Sicherung der An-gebotsvielfalt und durch die Nutzung der neuen Logis-tikkonzepte soll ein Gesamtsystem geschaffen undoptimiert werden.Der Schiene kommt hierbei – nicht zuletzt aus um-weltpolitischen Gründen – eine besondere Bedeutungzu. Nach wie vor gilt das Ziel der Bahnreform 1994,mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen.
Bei der Fortführung der Bahnreform stehen wir jetztvor einem entscheidenden Schritt. Nach sorgfältigerAnalyse verschiedener Varianten und intensiver Prüfungder damit verbundenen Auswirkungen hat der DeutscheBundestag Eckpunkte zu einer Teilprivatisierung noch indieser Legislaturperiode beschlossen.Danach kommen die Eisenbahninfrastrukturunterneh-men in das Eigentum des Bundes. Noch einmal: Siekommen in das Eigentum des Bundes. Hier ist ja mehr-fach gesagt worden, wir hätten sie jetzt im Eigentum. Siesind jetzt im Eigentum einer Aktiengesellschaft und wirsind 100-prozentiger Eigentümer dieser Aktien.
Aber wir nehmen sie jetzt in das Eigentum des Bundes.
Damit ist klar, dass Investoren an Netz und Bahnhöfennicht beteiligt werden. Investoren werden an Netz undBahnhöfen nicht beteiligt.Ich habe diese beiden Sätze jetzt doppelt gesprochen,damit es einen Lerneffekt gibt, weil draußen – auch invielen Medien – immer wieder das Gegenteil behauptetwird. Wir müssen einmal anfangen – wir können unsauch über Argumente streiten –, uns über Wahrheitenauseinanderzusetzen, und nicht über Unterstellungen.
Die DB AG soll aber die Bewirtschaftung und Be-triebsführung des Netzes wahrnehmen und dieses auchbilanzieren. Das bedeutet, dass sie auch Verantwortungfür das Netz hat. Aber wir stellen im Gesetzentwurf– das, Herr Hermann, haben Sie alles nicht zitiert – si-cher, dass das Eigentum an der Infrastruktur vom Bundin ganz wesentlichen Positionen nicht gefährdet werdenkann.
Metadaten/Kopzeile:
8892 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Achim GroßmannDer vorzulegende Gesetzentwurf – es ist schon gesagtworden: Er ist in der Ressortstimmung – muss zum ei-nen sichern, dass der Bund seiner verfassungsrechtlichenGemeinwohlverpflichtung nachkommen kann. Zum an-deren hat er aber das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit desUnternehmens DB AG zu stärken, ihm die Bilanzie-rungsfähigkeit der Eisenbahninfrastrukturunternehmenzu erhalten und damit zusätzliche Schulden und Risikenfür den Bundeshaushalt auszuschließen, im Gegenteil:Die Bahn geht mehr Risiko ein. Wir begrenzen die finan-ziellen Mittel, die der Bund bei mehr Qualität, bei mehrTransparenz und bei mehr Wettbewerb geben muss.Gemeinwohl auf der einen Seite, ein starker Partnerauf der anderen Seite: Nur durch ein solches Konzeptkönnen wir eine effiziente, bezahlbare und kundennaheSchieneninfrastruktur auf Dauer schaffen und erhalten.Eine bereits im Gesetz strukturierte Leistungs- und Fi-nanzierungsvereinbarung gewährleistet die Definition,die Umsetzung und die Kontrolle des grundgesetzlichenInfrastrukturauftrages des Bundes. Das ist eine deutlicheVerbesserung gegenüber dem, was wir zurzeit machenkönnen.Voraussetzung für die Teilprivatisierung ist, dass dieDB AG durch die notwendigen Fortschritte bei der Un-ternehmenssanierung die Kapitalmarktfähigkeit des Un-ternehmens nachweist. Die aktuellen Ergebnisse zeigen,dass die DB AG dabei auf einem guten Weg ist. Im ver-gangenen Jahr entwickelte die DB AG sich außerordent-lich positiv. Sie hat den Wachstumstrend der letztenJahre eindrucksvoll bestätigt. Die DB AG hat die Erwar-tungen hinsichtlich Umsatz und Ergebnis übertroffen.Der Umsatz stieg im Jahre 2006 auf rund 30 MilliardenEuro. Dabei erwirtschaftete die DB AG einen Gewinnvor Steuern und Zinsen von mehr als 2 Milliarden Euro.Wichtige Finanzkennzahlen konnten deutlich verbessertwerden. Damit hat die DB AG einen sehr großen Schrittin Richtung Kapitalmarktfähigkeit getan. So haben sichUmsatz und Verkehrsleistung gut entwickelt. Anderer-seits gibt es Erfolge beim Kostenmanagement. Die posi-tive wirtschaftliche Entwicklung im vergangenen Ge-schäftsjahr vollzog sich in fast allen Geschäftsfeldern.Hierbei sind die Geschäftsfelder Railion und Fernver-kehr hervorzuheben, die im letzten Jahr die Kehrtwende,den sogenannten Turnaround, geschafft haben.Eine für die Bundesregierung wichtige Größe ist da-bei natürlich die Entwicklung der Schienenverkehrsleis-tungen. Diese konnten gegenüber dem Vorjahr sowohlim Personen- als auch im Güterverkehr deutlich gestei-gert werden. Rund 1,85 Milliarden Menschen waren inZügen der DB AG unterwegs; das sind knapp 4 Prozentoder fast 70 Millionen mehr Fahrgäste als im Jahr 2005.Im Schienenpersonenverkehr wuchs die Verkehrsleis-tung der DB AG um gut 3 Prozent auf rund 75 Milliar-den Personenkilometer. Ein wichtiger Erfolgsfaktor wardabei die Eröffnung neuer Strecken. Zudem konnte dieDB AG – das wissen wir alle – ihre gesteigerte Leis-tungsfähigkeit auch bei der Fußballweltmeisterschaft be-weisen. Die Wettbewerbsfähigkeit konnte somit gestärktwerden.Bahnfahren wird attraktiver. Beispielsweise rücktLeipzig bis auf eine Stunde an die Hauptstadt Berlin he-ran. Dank der Neubau- und Ausbaustrecke Nürn-berg–München sind diese beiden bayerischen Groß-städte nur noch rund 60 Minuten voneinander entfernt.Die Attraktivität des Bahnfahrens ist eine Voraussetzungfür die Fortsetzung des Trends.Ein außerordentliches Wachstum gibt es auch bei derVerkehrsleistung im Schienengüterverkehr. Die Railion-Gruppe konnte im Jahr 2006 um etwa 10,5 Prozent wach-sen. Nimmt man die Zahlen des gesamten Schienengüter-verkehrs, also von Railion und den Wettbewerbern – siebefördern inzwischen, wenn man den Einzelwagengüter-verkehr ausnimmt, 25 Prozent der Menge –, erkennt maneinen Zuwachs von 8 Prozent. Das ist der höchste Zu-wachs seit der deutschen Einheit. Bei der Verkehrsleis-tung wurde ein Zuwachs von 10,8 Prozent erreicht; mit105,8 Milliarden Tonnenkilometern überschritt man erst-mals die Marke von 100 Milliarden Tonnenkilometern.Ich darf Sie, Horst Friedrich, darauf hinweisen, wasSie immer wieder zum Bundesverkehrswegeplan gesagthaben. Wir haben gesagt, dass wir mit 73 MilliardenTonnenkilometern starten; für das Jahr 2015 haben wir148 Milliarden Tonnenkilometer prognostiziert. Sie ha-ben gesagt, das sei alles Schall und Rauch, wir würdendas nie erreichen. Ich nenne die Zahl noch einmal:105,8 Milliarden Tonnenkilometer im Jahre 2006.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die DB AGbefindet sich aus wirtschaftlicher Sicht auf gutem Wege;das wird durch die gute Entwicklung zum Jahresbeginnbestätigt. Wie weit die Bahn auf dem Weg zur Kapital-marktfähigkeit ist, werden die exakten Zahlen und die In-formationen zum wirtschaftlichen Ergebnis zeigen, diedie DB AG auf ihrer Bilanzpressekonferenz am 29. Märzveröffentlicht.Ich will Positives wie auch weniger Positives darstel-len. Deshalb sage ich: Wir haben noch wichtige Schrittezu tun; wir sind aber mitten bei der Umsetzung. Bei derFrage der Immobilienzuordnung haben wir die Bahn kri-tisiert. Wir befinden uns jetzt in einem Verfahren, beidem in einem ersten Schritt alle Grundstücke, die derzeitnoch bei der DB Holding angesiedelt sind, auf die DBNetz AG übertragen werden und erst in einem zweitenSchritt überlegt wird, welche von diesen Grundstückenwirklich den EVUs, also den Eisenbahn-Verkehrsunter-nehmen, zuzuordnen sind. Es geht hier um 2 bis 3 Pro-zent der Grundstücke, die wir dann bis zum 31. Dezem-ber zurückübertragen wollen. Dabei ist die Schrittfolgewichtig: Zuerst alle Grundstücke zur DB Netz AG.
Hinsichtlich des Netzzustands und der Netzentwick-lung werden wir Ihnen gegen Ende März einen Bericht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8893
(C)
Parl. Staatssekretär Achim Großmannder DB AG vorlegen können, der qualitativ wesentlichbesser als der aus dem letzten Jahr sein wird,
mit dem wir aber letztlich immer noch nicht zufriedensein können, weil er bestimmte Voraussetzungen, die wiran den Netzzustands- und -entwicklungsbericht knüpfenwollen, noch nicht erfüllt. Es handelt sich hierbei um einVerfahren, bei dem enorm viele Zahlen erhoben und um-gesetzt werden müssen, bei dem Transparenz geschaffenwerden muss, bei dem Erläuterungen gegeben werdenmüssen. Ich glaube, dass wir hier eine sehr gute Darstel-lung bekommen.Ich darf daran erinnern, dass gestern bei der Anhö-rung im Verkehrsausschuss vieles aus dem Bericht desBundesrechnungshofes erläutert und richtiggestellt wer-den konnte. Ich glaube, dass wir dabei sind, die Debattezu versachlichen.Schließlich werden wir bald die Leistungs- und Fi-nanzierungsvereinbarung vorlegen können.Ich bin sicher: Wir sichern auf Dauer das Gemein-wohl auf höherem Qualitätsniveau, in einer für den Bundund damit für den Steuerzahler günstigeren Weise. Wirholen die Schieneninfrastruktur, also Netz und Bahn-höfe, zum Bund. Wir schaffen einen starken Konzern,der uns beim Erhalt und Ausbau des Netzes finanziellunterstützen wird. Wir erhalten den konzerninternen Ar-beitsmarkt und sichern Ausbildungs- und Arbeitsplätze.Wir schaffen eine umweltfreundliche und serviceorien-tierte Bahn, die den Anforderungen der internationalenLogistik gerecht wird. Nur so bekommen wir mehr Gü-ter auf die Schiene.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Dorothée
Menzner für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden über den sehr kritischen Zustand unserer
Bahn. Es ist ein Skandal, wie die Deutsche Bahn AG un-
ser Schienennetz regelrecht hat verkommen lassen. Es
i
Genau das war nicht das Ziel der Bahnre-form von 1994. Ziel war, mehr Verkehr auf die Schienezu bringen. Das ist in Teilen gelungen. Aber wie sollnoch mehr Verkehr auf die Schiene, wenn die Gleise ma-rode sind, wenn Weichen ausgebaut und Strecken abge-baut werden?Konnte sich die Bundesbahn einst rühmen, das best-unterhaltene Gleisnetz der Welt zu besitzen, so präsen-tiert sich das Netz der Deutschen Bahn heute vielerortsauf einem sehr fraglichen Niveau. Ich sage: Das hat Me-thode. Die Koalition strebt an, Teile unserer Bahn anGroßinvestoren zu verhökern. Das Gleisnetz wird ver-nachlässigt und Personal wird abgebaut oder outge-sourct, um die Bahnbilanz zu schönen und das Unterneh-men kapitalmarktfähiger zu machen.Wir kennen die Liste der Kritiker; sie ist lang. Ver-bände, Professoren und Bahnunternehmen warnen schonseit geraumer Zeit. Erst jetzt gibt es eine Reaktion, undzwar durch den Bericht des Bundesrechnungshofs. Erscheint endlich einige wachgerüttelt zu haben. Dabeikann jeder, der mit der Bahn reist, tagtäglich erleben,wie der Zustand ist: Gleise gleichen vielerorts eherKräutergärten, und es gibt Verspätungen, die Nervenrauben. Eine ganze Menge liegt im Argen. – Ich kann Ih-nen nicht ersparen, an dieser Stelle eine ganz kurze Pas-sage aus dem Bericht des Bundesrechnungshofes zu zi-tieren. Als Hauptthema der Mängelschwerpunkte führendie EBA-Stellen für das Jahr 2005 an – ich zitiere wört-lich –:Eine unzureichende Qualifikation des eingesetztenPersonals, ein zu geringer Personalbestand sowiezu geringe Instandhaltungsbudgets ...Deutlicher kann man meiner Ansicht nach nicht sagen,dass hier zugunsten kurzfristiger Bilanzpolitik ein Unter-nehmen kaputtgespart wird.
Das ist ungefähr so, als wenn wir unser Häuschen ver-lottern ließen, die Renovierungskosten sparten und sag-ten: Wenn das Ding ganz marode ist und komplett sa-niert werden muss, zahlt das ja der Steuerzahler. – Ichsage: Das ist ein Irrwitz.
Wenn die Bahn offensichtlich schon jetzt nicht in derLage ist, das Gleisnetz in einem gebotenen Zustand zuhalten, dann sollten wir alle uns gemeinsam fragen, obdie Rechtsform der Aktiengesellschaft die geeignete istund ob das wirklich unser zukünftiger Partner für dieseAufgabe sein soll.Kolleginnen und Kollegen, ein direkter steuernderEinfluss des Bundes auf Schienen, Energieanlagen,Bahnhöfe und die Immobilien muss dringend wiederher-gestellt werden. Ich glaube, wir müssen nicht erst die Er-fahrungen machen, die England gemacht hat. Das warenschlimme Erfahrungen, aus denen sie dann gelernt ha-ben. Vielleicht werden wir ja vorher klug.Trotz allem legt uns das Verkehrsministerium jetzt ei-nen Gesetzentwurf in der denkbar aggressivsten Variantevor. Herr Staatssekretär, mit dem Gesetz wird das Wirt-schaftsrecht auf den Kopf gestellt. Ihr Modell der Eigen-tumssicherung begründet, wenn man den Entwurf genauliest, ein Scheineigentum des Bundes. Mit diesem Ge-setz geben Sie jeglichen Einfluss auf die Infrastrukturab, und zwar an eine Aktiengesellschaft, die lieber glo-baler Logistiker spielt, weltweit Logistikfirmen zusam-menkauft, Containerterminals in China baut und neuer-dings mit Germanwings im Flugverkehr kungelt, statt
Metadaten/Kopzeile:
8894 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dorothée Menznersich um das hiesige Schienennetz und den Nah- undFernverkehr zu kümmern.
Ich kann das Ministerium nur auffordern: Halten Sieinne! Mit dem Gesetz servieren Sie der DB AG dieSchieneninfrastruktur auf dem Silbertablett. Darüber pa-cken sie 37,5 Milliarden Euro in 15 Jahren als süßeSoße. Zusätzlich geben Sie noch das Stimmrecht desBundes ab. Damit es dann richtig mundet, wird auchnoch festgeschrieben, dass Sie im Zweifelsfall dasSchienennetz für weitere Milliarden als Leergut zurück-nehmen.Wir haben ein Schienennetz mit einer Gesamtlängevon 34 000 Kilometern. Wenn man genau rechnet, stelltman fest, dass der Bahn für den Unterhalt der Strecke, jenachdem, ob man die Neubau-, Ausbau- und Trassengel-der mitrechnet oder nicht, ungefähr 309 000 Euro je Ki-lometer im Jahr zur Verfügung stehen. Ich finde, das istsehr viel Geld. Damit müssten die Aufgaben zu erfüllensein. In der Vergangenheit ist das nicht geschehen. Ichmöchte wissen, wo Sie den Optimismus hernehmen,dass der Konzern seine Hausaufgaben zukünftig trotzweniger Aufsicht erledigt. Das müssen Sie mir einmalerklären. Ich rate dringend zu einer Denkpause und zueinem Neuanfang.Danke.
Nächster Redner ist nun der Kollege Enak Ferlemann
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Es ist eigentlich erfreulich, wenn man in diesemHause über Bahnpolitik reden kann, insbesondere wennder Anlass dafür von denjenigen ausgeht, die sich derBahnpolitik einmal sehr verschrieben haben; das hattenSie sich vom Bündnis 90/Die Grünen ja einmal.Wenn man aber den Titel der heutigen AktuellenStunde liest, fällt einem wieder auf, was in Deutschlandin der Politik falsch läuft. Wenn man die deutsche Ver-kehrspolitik beobachtet und sie mit der Verkehrspolitikin anderen europäischen Ländern vergleicht, dann stelltman fest, dass in allen anderen europäischen LändernVerkehrspolitiker Lobbyisten für das System Schienesind. Bei uns in Deutschland ist das anders: Pausenloswird auf dem Unternehmen herumgehackt, alles wirdbesser gewusst, alles wird schlechtgemacht.
Aus verkehrspolitischer Sicht ist das das Falsche; dennein Hauptanliegen der Verkehrspolitik ist es doch – dafürwaren auch die Grünen immer –, mehr Verkehr von derStraße auf die Schiene zu bringen.
Das erreichen Sie natürlich nicht, wenn Sie das Systempausenlos schlechtreden. Sicherlich gibt es Probleme;das ist überhaupt keine Frage. Darauf musste das Parla-ment reagieren. Das haben wir getan. Es wird ein neuerUnterausschuss gebildet, der sich speziell mit der Schie-neninfrastruktur in der Bundesrepublik Deutschland be-schäftigen wird.Warum ist die Privatisierung eine so dringliche Sa-che? Man könnte ja fragen: Warum macht die Politikdas? Wollen die Politiker die Menschen ärgern bzw. ver-ärgern? Machen sie eine Spaßveranstaltung daraus? –Nein, das ist nicht der Fall. Bahnpolitik ist heute Europa-politik. Ich denke, das muss man im Zeitalter des zusam-menwachsenden Europas, der Globalisierung einmalfeststellen. Auch im Bereich der Bahnpolitik wächst Eu-ropa zusammen: Seit dem 1. Januar dieses Jahres habenwir einen gemeinsamen europäischen Schienengüter-markt. Ab dem 1. Januar 2010 werden wir auch im Per-sonenfernverkehr einen komplett freien europäischenMarkt haben.
Darauf muss sich dieses Unternehmen einstellen kön-nen. Dafür müssen Investitionen getätigt werden. DieseInvestitionen können wir aber nicht aus dem Staatshaus-halt finanzieren, weil es nicht unsere staatliche Aufgabeist, diesen Betrieb zu finanzieren. Wenn man Investitio-nen tätigen will, muss man das Geld vom Kapitalmarktholen, und wenn man das will, muss man Kapital priva-tisieren. So einfach ist das. Deswegen unternehmen wiralle Anstrengungen, das Unternehmen darauf vorzube-reiten.Es ist unsere Aufgabe, darauf aufzupassen, dass dieInfrastruktur nicht rein betriebswirtschaftlichen Interes-sen unterworfen wird, sondern für die Allgemeinheit,vor allem für den Wettbewerb zur Verfügung steht. Des-wegen ist es Aufgabe der Politik, darauf zu achten, dassdas Netz in öffentlicher Hand bleibt.
Das werden wir auch leisten. Wir diskutieren darüber,wie wir die Kapitalprivatisierung organisieren. Es wirdAufgabe der CDU/CSU-Fraktion sein, darauf zu achten,dass das Netz öffentlich bleibt, weil nur ein öffentliches,für alle zugängliches Netz Wettbewerb garantiert. Nurwo Wettbewerb herrscht, gibt es bessere Leistungen. Nurwo bessere Leistungen vorhanden sind, wird das Ziel derBahnreform erreicht, mehr Verkehr von der Straße aufdie Schiene umzulenken. Deshalb ist es wichtig, dass wiruns um die Schieneninfrastruktur kümmern, dass wir unsdarum kümmern, dass nicht im ländlichen Raum Schie-nen abgebaut werden, dass man sich nicht nur auf denSchienenverkehr zwischen den Metropolen konzentriert,sondern Schienenverkehr in der ganzen Bundesrepublik
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8895
(C)
(D)
Enak FerlemannDeutschland möglich ist. Dafür werden wir sorgen; daswerden wir organisieren.
Die heutige Aktuelle Stunde hat sicherlich den Sinn,dass wir uns dessen noch einmal vergewissern. Wir soll-ten aber aufhören, die Deutsche Bahn AG kaputtzure-den. Eine Braut, die man zur Hochzeit führen will, mussman schmücken. Das ist doch unsere allgemeine Le-benserfahrung.
Es macht keinen Sinn, die Braut, die wir da auf denMarkt führen, so schlecht darzustellen, dass wir keinenfinden, der sie nehmen will.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Bild, das mein Vorredner gebraucht hat, ist interes-sant. Ich habe in meinem Leben allerdings gute Erfah-rungen damit gemacht, mir die Braut, bevor sie ge-schmückt wird, genau anzuschauen.
Genau darum geht es auch in dieser Debatte, Herr Kol-lege.
Ich will vorneweg sagen: Bei Ihrer Formulierung, wirsollten Lobbyisten für das System Schiene sein, habenSie uns sicher auf Ihrer Seite. Aber bei der Frage, ob dasheißt, Lobbyist für die Deutsche Bahn AG zu sein, nicht.
Denn die Politik muss schauen, dass sie allen Marktteil-nehmern den Zugang zur Schiene ermöglicht.Schauen wir uns die Braut einmal genau an: Wir ha-ben festgestellt – die Zahlen liegen vor; der Investitions-bedarf kann auch von der Bahn nicht mehr verleugnetwerden –, dass die Schieneninfrastruktur in Deutschlandsystematisch vernachlässigt worden ist, von 2001 bis2005 um 1,5 Milliarden Euro. Übrigens kam dies imBundestag – im Jahr 2004 – und auch im Aufsichtsratder Bahn immer wieder zur Sprache. Das Interessantewar, dass das Verkehrsministerium nicht in der Lagewar, präzise Auskunft zu geben, ob dieser Vorwurfstimmt oder nicht. Aber das Parlament hat an dieserStelle nicht versagt, wie Sie hier behauptet haben.Worum geht es eigentlich? Wenn es nach HerrnMehdorn gegangen wäre, wäre die Bahn längst an derBörse. Er hätte, so der Vorwurf, damit die Braut besseraussieht, den großen europäischen Wettbewerber Deut-sche Bahn gespielt und dafür das Netz verkommen las-sen. Das ist schon fast Betrug an künftigen Investoren,wenn ich das einmal wirtschaftspolitisch hart sagen darfund nicht in dieser Blümlessprache mit der Braut. Alsoaußen hui: der europäische Player, innen: das Netz ver-nachlässigt. Jeder, der Bahn fährt, sieht, wie viele Lang-samfahrstrecken es gibt. So hat die Politik nicht gewet-tet. Deswegen sage ich Ihnen: Das bisherige Modell– dass die Bahn die Investitionsentscheidungen trifft –hat versagt. Das Wichtigste, damit mehr Verkehr auf dieSchiene kommt, nämlich die Schiene, wurde vernachläs-sigt; das halten wir hier einmal fest.
Genau deswegen wird – auch mit Ihrer Zustimmung –ein Unterausschuss des Verkehrsausschusses eingerich-tet. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt. Ich will die Debatte einmal in einenanderen Zusammenhang einordnen; denn eines erstauntmich ziemlich: Wir diskutieren in Deutschland seit Mo-naten zu Recht über Klimaschutzpolitik, wir reden überdas Auto und über Details von der Steckdose bis zumStand-by. Doch darüber, was die Deutsche Bahn und diedeutsche Schienenpolitik zur Verbesserung des Klima-schutzes in Deutschland beitragen können, reden wirviel zu wenig. Da sage ich Ihnen klipp und klar: Wenndas Ziel sein soll, mehr Verkehr auf die Schiene zu brin-gen, dann müssen die Schienen in Deutschland in Ord-nung sein.
Dann braucht man Modelle, damit dies systematisch ge-schieht. Das geht aber nicht – ich sage das an dieAdresse des Verkehrsministeriums gerichtet – mit einemModell, nach dem der Bund zwar de jure der Eigentümerdes Netzes wird,
aber de facto die Bahn ziemlich uneingeschränkt dieKontrolle über das Netz inklusive der Trassenvergabehaben wird. Das ist doch der springende Punkt.
Nach dem neuen Modell kommt das Netz nicht mehran die Börse. Aber jeder, der bei der Bahn einsteigt,weiß, dass es gut ausgefütterte Investitionsgarantiengibt: 15 Jahre lang 2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Damitist die Braut an der Stelle mehr wert, ohne dass gesi-chert ist, dass auf der deutschen Schiene mehr passiertund mehr Wettbewerb möglich ist.Jetzt frage ich die Ordnungspolitiker, die hier im Saalsind, und auch die Kollegin vom Wirtschaftsministerium:Müssen wir eigentlich jeden Fehler, den wir bei Privatisie-
Metadaten/Kopzeile:
8896 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Fritz Kuhnrungen gemacht haben, zum Beispiel bei den Stromnet-zen, bei der Schiene wiederholen? Muss nicht langsamklar sein, dass es bei einem natürlichen Monopol nicht sosein darf, dass ein Wettbewerber es besitzt oder wesent-lich über es verfügt? Muss mit so etwas nicht aufgehörtwerden, wenn man die Auffassung teilt, dass nur effekti-ver Wettbewerb das Angebot verbessern kann und damitmehr Verkehr auf die Schiene kommt? Ich frage alle indiesem Haus: Warum sollten wir den Blödsinn, den wir inder Energiepolitik gemacht haben, die strukturellen ord-nungspolitischen Fehlentscheidungen, im Falle des hoch-komplizierten Eigentumssicherungsmodells der Bahnwiederholen? Ich sage klipp und klar: Wir halten das fürgrottenfalsch. Deswegen appellieren wir an alle Beteilig-ten, auch an die Wirtschaftspolitiker, über die Konsequen-zen genau nachzudenken. Sie wollen in diesem Jahr eineEntscheidung treffen, mit der wir viele Jahre lang unterordnungspolitischen Gesichtspunkten wenig Freude ha-ben werden. Das, was Sie vorhaben, kann nach unsererÜberzeugung nicht funktionieren.
Wenn das Ziel sein soll, mehr Verkehr auf die Schienezu bringen, dann brauchen wir in Deutschland einen bes-seren Zustand der Schiene, mehr Wettbewerb und einendiskriminierungsfreien Zugang zur Schiene für allepotenziellen Wettbewerber. Das bedeutet für mich eineuropäisches Bahnsystem; es geht nicht um die Domi-nanz eines Wettbewerbers. Andernfalls schaffen wir esnicht, genügend Verkehr auf die Schiene zu bringen. Dasist aus klimaschutzpolitischen Gründen aber unbedingtnotwendig.Ich danke Ihnen.
Nun hat das Wort der Kollege Uwe Beckmeyer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank. – Herr Kuhn, dieDiskussion, die wir führen, ist etwas exotisch. Diese Be-merkung ist nicht nur an Sie, sondern auch an die Kolle-gin Menzner gerichtet.Worum geht es eigentlich? Es geht um den nachhalti-gen Versuch, im Rahmen eines Auftrags und unter Be-rücksichtigung klarer Vorgaben des Deutschen Bundes-tages eine Teilkapitalprivatisierung der Deutschen BahnAG zu exekutieren. Dass ein Parlament der Regierung15 Eckpunkte für die Erarbeitung eines Gesetzentwurfsmit auf den Weg gegeben hat, das hat es lange nichtmehr gegeben. All das, was Sie gerade angesprochen ha-ben – ich nenne die Stichworte Wettbewerb, klare Kapi-talaussagen und Eigentumsfragen –, ist zu regeln, undzwar dergestalt, dass das deutsche Volk, der Steuerzah-ler, die Bundesrepublik Deutschland im Besitz des Net-zes bleibt.
– Kollege Hofreiter, machen Sie Ihren Zuruf doch in un-serem Ausschuss. – Es geht darum, dass das Netz im Ei-gentum des deutschen Volkes bleibt. Dabei muss berück-sichtigt werden, dass wir keine KapitalbeteiligungenDritter an diesem Netz wollen. Diese klare Aussage istInhalt des Auftrags des Deutschen Bundestages. Vor die-sem Hintergrund ist all das, was hier geschieht, etwasexotisch.Es wurde bereits darauf hingewiesen, was wir mo-mentan bei Telekom und Post erleben. Die Arbeitsplätze,die bei diesen beiden Unternehmen noch vorhandensind, sind durch den Wettbewerb bzw. aufgrund vonLohndrückerei gefährdet. Wir sollten aufpassen, dassuns das nicht auch bei der Bahn passiert. Unser KollegeMartin Burkert wird gleich sicherlich noch etwas zu die-sem Thema sagen, und zwar speziell aus der Sicht derArbeitnehmer.
Nun noch eine Bemerkung zum Thema „Verkehr aufdie Schiene“. Im Rahmen der Bahnreform hatten wir dieVorgabe zu erfüllen, mehr Verkehr auf die Schiene zubringen. Ein weiteres Ziel der Bahnreform im Jahre1994 war die nachhaltige Entlastung des Bundeshaus-halts.
Jetzt müssen wir aufpassen, dass wir nicht in gefährli-ches Fahrwasser geraten. Da wir sehr viel Geld in diesesUnternehmen investieren, müssen wir dafür sorgen, dassdas Bestmögliche dabei herauskommt.Seit 1994, als die Bahn in eine Aktiengesellschaft um-gewandelt wurde und der Deutsche Bundestag sie formalprivatisiert hat, sind die Möglichkeiten des Prinzipals,Einfluss auf das Unternehmen zu nehmen, zugegebener-maßen relativ gering. Die drei „schwachen“ Staatssekre-täre, die im Aufsichtsrat saßen, haben nur bedingt gehan-delt. Das ist, wie ich glaube, meine und auch IhreErkenntnis.
Wir müssen diese Struktur etwas anders organisierenund zum ersten Mal Leistung und Finanzierung mitei-nander verknüpfen.
– Sie haben schon Ihre Gelegenheit gehabt. – Die Geld-leistungen des Bundes – 2,5 Milliarden Euro pro Jahr –müssen durch einen entsprechenden Vertrag mit derDB AG mit entsprechenden technischen und investivenLeistungen verbunden werden. Diese Leistungen müs-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8897
(C)
(D)
Uwe Beckmeyersen nachweisbar sein. Das gehört endlich auf den Tischdieses Hauses, damit wir wissen, was mit dem Geld desdeutschen Steuerzahlers passiert.
Das werden wir in einem solchen Teilprivatisierungsge-setz unterbringen müssen. Einen solchen Fortschritt ha-ben wir in der Vergangenheit – in den letzten 15,16 Jahren – nie erreicht, aber er wird kommen.Ich höre immer, dass Vorurteile bedient werden.Liebe Frau Menzner, Sie waren im Ausschuss. Ich habeden Präsidenten des Eisenbahn-Bundesamtes gefragt:Herr Präsident, sind die Schienen in Deutschland sicher? –Er hat geantwortet: Jawohl, Herr Abgeordneter, dieSchienen in Deutschland sind sicher. – Um das einmaldeutlich zu sagen: Wenn Sie hier behaupten, dass dieSchienen marode sind und vernachlässigt werden, dannist das gelogen.
Ich darf an dieser Stelle einmal festhalten: Wir müssenschon bei der Wahrheit bleiben.Dass, wie in jedem Jahr, ein Unterhaltungsaufwandnotwendig ist, ist richtig. Dass das Schienennetz älterwird, ist auch richtig. Es gibt aber eine plausible Begrün-dung dafür: In den 70er- und 80er-Jahren und vor allenDingen in den neuen Ländern nach 1990/91 gab es einenInvestitionspeak. Er wandert momentan durch die Jahreund wird nicht in jedem Jahr in gleicher Höhe erneuert.Dadurch wird das Schienennetz im Gesamten betrachtetmomentan älter.Wir müssen aktuell in ganz bestimmten Bereichen zu-sätzliche Investitionen tätigen. Nach 25 Jahren sind dieHauptmagistralen zu ersetzen; das ist einfach und klar.Das ist das Problem, vor dem die Bahn momentan steht.Dafür wurde das Programm „Pro Netz“ von der DB AGals Investitionsrahmen aufgelegt. Wir sind auch bereit,Geld dafür zu geben. Das ist doch logisch und plausibel.Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Wenn wirder Bahn zusätzliche wirtschaftliche Mittel zubilligenwollen, selbst aber nicht noch mehr öffentliche Gelderdafür ausgeben können und wollen, dann muss sichdiese Aktiengesellschaft am Kapitalmarkt finanzierenkönnen – ich glaube, das ist logisch –, aber bitte so, dasswir den Zugriff auf das Netz behalten und damit Herr imHause bleiben.Schönen Dank.
Nun hat der Kollege Norbert Königshofen für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu-nächst darf ich mich bei den Grünen dafür bedanken,dass sie den Antrag gestellt haben, gibt er uns doch Ge-legenheit, Herr Hermann, zu beiden Punkten, die Sie an-gesprochen haben, etwas zu sagen, nämlich zum Erstenzum Zustand des Schienennetzes und zum Zweiten zumBörsengang der DB AG.Der Zustand des Schienennetzes war gestern im Ver-kehrsausschuss Gegenstand einer sehr intensiven De-batte. Wir haben einen Untersuchungsausschuss, Ent-schuldigung, einen Unterausschuss
eingerichtet, der aber auch ein Untersuchungsausschusssein kann – man muss immer bedenken, dass die Vor-würfe des Bundesrechnungshofs erheblich sind –, undwerden den Dingen nachgehen. Ich darf Ihnen sagen,dass ich die Fragen, die ich gestern gestellt habe – Wasist abgerufen worden? Was ist bereitgestellt worden? Wosind die Eigenmittel geblieben? Wie kommt es zu einerso hohen Verschuldung? –, auch noch einmal schriftlichgestellt habe. Ich hoffe, dass sie beantwortet werden.Darauf kommen wir noch zurück.Herr Kuhn, es ist richtig: Man muss schauen, wie dieBraut aussieht, bevor man sie zum Altare führt.
Dennoch – das will ich deutlich sagen –: Wir wollen dieBraut zum Altare führen. Wir wollen die Teilkapitalpri-vatisierung des Betriebs der Deutschen Bahn AG.
Wir wollen aber auch, dass der Bund alleiniger Eigentü-mer des Netzes bleibt; das ist gesagt worden. Wir sindeinverstanden, dass die DB AG die Infrastruktur für einebegrenzte Zeit bewirtschaftet. Das ist der Preis der Ko-alition. Eine große Mehrheit von uns ist für die sofortigeTrennung von Netz und Betrieb.
Aber – das sage ich in aller Offenheit – wir müssen dasgemeinsam stemmen.
Ich bin froh, dass Herr Staatssekretär Großmann, der imMinisterium für diese Fragen zuständig ist, persönlichanwesend ist.Die Eigentumsfrage ist entscheidend. Das haben wirimmer wieder gesagt. Ich darf auf den bereits erwähntenEntschließungsantrag verweisen. Wir werden den ge-samten Gesetzentwurf darauf abklopfen, ob sich das,
Metadaten/Kopzeile:
8898 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Norbert Königshofenwas wir gemeinsam beschlossen haben, darin wiederfin-det.
– Was sich nicht wiederfindet, Herr Kollege Friedrich,wird nachträglich mit aufgenommen. Sonst wird dieUnion dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Auch da-rauf können Sie sich verlassen.
Warum sind wir dafür, dass die Eisenbahninfrastruk-tur im Eigentum des Bundes verbleibt? Nach Art. 87 edes Grundgesetzes hat der Bund die Infrastrukturverant-wortung. Das entspricht auch unserer Erfahrung: Wennetwas mit der Bahn ist, dann gehen die Leute nicht zumBahn-Tower, sondern sie kommen zu uns. Wir gebenauch das Geld dafür. Wie bereits erwähnt wurde, zahltder Bund 15 Jahre lang 2,5 Milliarden Euro pro Jahr.Das sind insgesamt 37,5 Milliarden Euro. Wie bereitsangekündigt wurde, ist damit noch nicht das Ende derFahnenstange erreicht. Sie können davon ausgehen, dasswir angesichts dieser gigantischen Summe darauf ach-ten, dass das Geld nicht sachfremd ausgegeben wird,sondern der Infrastruktur zugutekommt. Das wird unseroberstes Bestreben bleiben.
Wir sind für eine kurze Bewirtschaftungszeit durchdie Bahn mit der Möglichkeit des Rückfalls an denBund, weil wir den Wettbewerb im Blick haben. Es istnämlich ein Problem, dass derjenige, dem das Netz ge-hört und der es selbst befährt, kein großes Interesse da-ran hat, dass es von anderen genutzt wird. Es wird im-mer wieder darüber geklagt, dass auf Strecken, die vonanderen befahren werden, plötzlich Instandhaltungsar-beiten notwendig sind. Ich will das jetzt nicht vertiefen.Aber wir werden darauf achten müssen, dass wirklichWettbewerb stattfindet; denn nur durch Wettbewerb er-zielen wir die notwendigen Effizienzgewinne, um mehrVerkehr auf die Schiene zu verlagern.Wichtig wird auch sein, dass nach Ablauf der zehnJahre – wir verhandeln noch über die Frist –, sofern derBundestag keine Verlängerung beschließt, das Eigentumohne Wenn und Aber an uns zurückfällt, und zwar nichtzu gigantischen Preisen, sondern mit einer angemesse-nen Entschädigung der Aufwendungen der DB AG auseigenen Mitteln und keinen Cent mehr. Wir wollen näm-lich das Netz nicht zweimal bezahlen: zunächst über dieJahrzehnte durch den Steuerzahler und dann später nocheinmal.
Auch für die Arbeitnehmer ist das ein wichtigesThema. Das Eigentum des Bundes am Netz bedeutet zu-mindest für die Kollegen, die in diesem Bereich arbeiten,sehr komfortable Bedingungen im Vergleich zu denen,die sich nach der Privatisierung im freien Wettbewerbbewegen.
Das zeigt schon ein Blick in die jüngere Wirtschaftsge-schichte. Insofern liegt es im Interesse der Arbeitneh-mer, dass unsere Vorhaben umgesetzt werden.Die Präsidentin mahnt mich zu Recht. Es soll schließ-lich keiner länger reden als der andere.Wir sind zuversichtlich. Ich hoffe, dass wir gemein-sam einen vernünftigen Weg finden, das Ganze auf dieSchiene zu bringen. Ich hoffe, dass wir am Ende feststel-len können, dass wir etwas geleistet haben, was derWirtschaft und den Menschen in Deutschland dient.
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Worum geht es eigentlich heute in dieser AktuellenStunde? Beim Lesen Ihrer Presseerklärung habe ichmich gefragt: Was wollen Sie von den Grünen erreichen,und passt das eigentlich zum Titel dieser AktuellenStunde?Wir wollen, dass die Bundesregierung endlich vordem Plenum des Deutschen Bundestags Auskunftüber die Pläne zum Börsengang der DB AG gibt.Wozu eigentlich? Sie wissen doch schon alles. Sie sindauch mit Ihrer Bewertung schon fertig. Herr Kuhn hatgeschrieben: „ein Skandal“! In der Presseerklärung heißtes:Mit dem bekannt gewordenen Gesetzentwurf derBundesregierung droht der Staat seinen Einfluss aufdas Schienennetz als Teil der öffentlichen Daseins-vorsorge vollständig preiszugeben. Es geht um dieKernfrage, ob die umwelt- und klimafreundlicheBahn gestärkt wird oder ob das Schienennetz zumRenditeobjekt wird
und daher Bahnstrecken im ländlichen Raum ausKostengründen stillgelegt werden.Direkt danach ist aber von Wettbewerb und privaterKonkurrenz die Rede, man beklagt den Netzzustand unddie unterlassene Instandhaltung. Damit sind alle Ihre Wi-dersprüche und die Ihrer Freunde, die Sie argumentativunterstützen, benannt: Warum ist der Netzzustand soschlecht? Sie sagen: Das Netz muss in staatlicher Handbleiben. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. Nur, war dasNetz bislang nicht staatlich? Wir tragen dafür gemein-sam Verantwortung. Die entscheidende Frage ist alsonicht, ob das Netz staatlich ist oder nicht. Vielmehr gehtes um die Steuerungsfunktion. Hierfür muss eine Lösunggefunden werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8899
(C)
(D)
Klaus Barthel
Aber es genügt nicht, das Netz in öffentlichem Eigentumzu belassen. Vielmehr geht es um die Kriterien, nach de-nen dieses öffentliche Eigentum bewirtschaftet wird. Ge-nau dieses Problem lösen Sie mit Ihrem Ansatz, demTrennungsmodell, nicht.
– Hören Sie doch einmal zu!Was nutzt Ihnen eine noch so gute staatliche Infra-struktur mit einem klimafreundlichen Verkehrssystem inöffentlichem Eigentum, wenn nach Wettbewerbsge-sichtspunkten, nach privaten Gewinninteressen kein Un-ternehmen Strecken im ländlichen Raum befahren will?
Wie wollen Sie denn das Problem lösen? Wenn dasBahnnetz die Börsenreife verhindert, weil der Netzzu-stand so schlecht ist, wollen Sie dann noch mehr Staats-knete in das Netz stecken, damit die Wettbewerber derPrivatwirtschaft umso gewinnbringender auf dem Netzfahren können?
– Ich kann verstehen, dass Sie unruhig sind.
Nach welchen Kriterien soll denn ein staatliches Netzbewirtschaftet werden, das isoliert einer Vielzahl vonprivaten Wettbewerbern gegenübersteht? Was hilft Ihnendenn ein staatliches Netz, auf dem alle Kosten und Las-ten liegen und auf dem der Kampf der privaten Wettbe-werber um dieselben umsatzstarken Strecken stattfindet,während die Nebenstrecken nur betrieben werden kön-nen, wenn Sie zu den Trassenentgelten noch etwasdrauflegen?
Ihre Kritik am Gesetzentwurf, eine rechtlich starkePosition des Bundes als Eigentümer der Infrastruktur seinicht gewollt, ist also unredlich. Wo ist denn die Stärkedieses staatlichen Netzes, wenn Sie es vom Betrieb ab-trennen und den Betrieb allein dem privaten Wettbewerbausliefern? Alle Welt spricht davon, dass die Verkehrs-träger von Luft, Straße, Wasser und Schiene verzahntwerden müssen, und zwar gerade im Interesse derSchiene. Alle Welt spricht von der Globalisierung derVerkehrssysteme. Was ist denn falsch daran – genau dasbeklagen Sie –, wenn sich die Bahn auch auf der Straße,in der Luft und bei den Schnittstellen zwischen den Ver-kehrssystemen engagiert? Was ist denn falsch daran,wenn sich die Bahn international aufstellt? Das kannman doch nicht allen Ernstes beklagen, wenn man etwasvon Verkehrspolitik im wirtschaftlichen Sinn versteht.Man kann sicherlich viele Zweifel daran haben, obsich die Widersprüche zwischen privaten Gewinninte-ressen und öffentlichen Interessen im Sinne des Grundge-setzes mit einer Teilprivatisierung ausbalancieren lassen.Die Erfahrungen, die wir in anderen Bereichen gemachthaben, sind durchaus ambivalent. Aber eines muss allenTrennungsfans, ob sie bei der FDP, der Straßenver-kehrslobby oder den Grünen sind, klar sein: Diese Di-vergenz von Interessen und Mechanismen kann mannicht auflösen, indem man den Staat das Netz im Sinnedes Gemeinwohls betreiben lässt, während man denFahrbetrieb nach privaten Gewinninteressen organisiert.Wir werden sicherlich noch über vieles diskutierenmüssen. Aber eine Zerschlagung der Bahn als Ganzes,als gemeinsames Verkehrssystem, bei dem Bestandteileder Infrastruktur und der Fahrbetrieb miteinander abge-stimmt und verzahnt werden, ist mit uns nicht zu ma-chen, genauso wenig wie die Zerschlagung des internenArbeitsmarktes. Wir werden die Bahn nicht auf den Pfaddes Niedriglohnsektors schicken. Deswegen sind wirsehr gespannt, liebe Kolleginnen und Kollegen von denGrünen und von der FDP, wie Sie diesen Widerspruchauflösen wollen, der in Ihrem Denkansatz steckt.
Nun hat der Kollege Dirk Fischer für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir diskutieren heute – so ist das Thema angemel-det worden – über den Zustand der DB AG vor dem Bör-sengang. Wir diskutieren nicht über einen endgültigen,ressortabgestimmten Gesetzentwurf; denn den gibt esnoch gar nicht. Bekanntlich hängt aber alles mit allemzusammen. Deswegen will ich mich dem Kernthema,das angemeldet wurde, zuwenden.13 Jahre Bahnreform haben durchaus positive Ergeb-nisse gebracht. Insbesondere ist durch erhebliche An-strengungen die Produktivität des Unternehmens ständiggesteigert worden. Die interne Strukturreform hat dieKundenorientierung deutlich verbessert. Insgesamt istder Schienenverkehr in Deutschland viel moderner,schneller und attraktiver geworden. Dies ist das Ver-dienst der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der je-weiligen Unternehmensleitung der DB AG, wofür wirals Gesetzgeber insgesamt sehr dankbar sein dürften.
Metadaten/Kopzeile:
8900 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dirk Fischer
Ich will aber darauf hinweisen, dass sich der Bund andieser Entwicklung erheblich beteiligt hat. Das belegendie enormen finanziellen Mittel, die bereitgestellt wor-den sind. Allein für den Schienenpersonennahverkehrwerden Regionalisierungsmittel in Höhe von rund 7 Mil-liarden Euro jährlich an die Länder überwiesen. ImZeitraum 1994 bis 2006 wurden den Ländern rund71 Milliarden Euro zur Bestellung von Zugleistungenzur Verfügung gestellt.
Insgesamt hat der Bund seit 1994 rund 232 MilliardenEuro zur Optimierung des Systems Schiene in unseremLande eingesetzt, eine gewaltige Summe, die ihren Nie-derschlag in der Verbesserung der Lage gefunden hat.Wenn wir heute diesen Zustand kritisch debattieren– wir müssen uns als Gesetzgeber bewusst sein, auf wel-chem Weg wir uns befinden –, müssen wir feststellen,dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Was am meistenglänzt, ist oftmals die Eigenpropaganda der DB AG, diemit den Tatsachen nicht im Einklang steht.
Die zwei entscheidenden Ziele der Bahnreform sindlängst noch nicht verwirklicht. Wir hatten uns eine stär-kere Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße aufdie Schiene vorgenommen. Das Verkehrsaufkommen inTonnenkilometern – nur dieser Leistungsbegriff ist wirk-lich relevant – im Schienengüterverkehr konnte nicht ge-steigert werden, und er liegt heute immer noch unterdem Wert von 1994. In der gleichen Zeit hat der Lkw imModal Split 1994 64,6 Prozent gehabt und im Jahr 2005– die letzte offizielle Zahl in den Unterlagen des Minis-teriums – 69,7 Prozent. Absolut war das eine Steigerungvon 272 Milliarden Tonnenkilometern auf 404 Milliar-den Tonnenkilometer. Hier müssen noch gewaltige An-strengungen im System unternommen werden, um denTrend, dass der Verkehr ungehemmt auf die Straße geht,abzubremsen und eine Umkehr in die andere Richtungzu erreichen.
Allerdings muss man darauf hinweisen, dass die Ent-wicklung bei der DB AG in den letzten zwei bis dreiJahren, auch gemessen in Tonnenkilometern, die Hoff-nung genährt hat, dass wir dies in der Zukunft schaffenkönnen.Eine nachhaltige Entlastung des Steuerzahlers – dashaben meine Zahlen dokumentiert – wurde ebenfallsnicht erreicht.
Wenn wir uns fragen, wo die Deutsche Bahn tatsächlicheigenständig Geld verdient, dann muss man sagen, dassdies beim Schienenverkehr im Personenverkehr der Fallist, wo der Bund den Regionalverkehr subventioniert.
Sie verdient im Bereich Transport und Logistik ihr Geldnicht mit dem Verkehr auf der Schiene, sondern – viaSchenker, dem größten europäischen Lkw-Carrier – mitdem Verkehr auf der Straße, und das deutlich. Auch dasmuss man wissen.
Bezogen auf die Schiene werden rund 60 Prozent derUmsätze der DB AG nicht vom Markt, sondern vomBundeshaushalt generiert.
Damit besitzt die Deutsche Bahn im Bereich Schienen-verkehr in Wahrheit keine unternehmerische Eigenwirt-schaftlichkeit,
da sie nicht in der Lage ist, mit Fahrkartenumsätzen, denUmsätzen im Schienengüterverkehr und den Nutzerent-gelten aus dem Netz die Kosten für Netz und Betrieb zuerwirtschaften.Die Neuverschuldung des Unternehmens ist nach wievor beträchtlich: 1993/94 hat der Bund die Bahn voll-ständig entschuldet; damals ging es um 34,3 MilliardenEuro. Der Konzern hat bis Ende 2006 einen neuenSchuldenberg von über 20 Milliarden Euro aufgetürmt.Diese Dinge darf man nicht ausblenden, wenn man denZustand des Unternehmens objektiv bewerten möchte.
Ich will nur summarisch sagen: Letztlich müssen er-hebliche weitere Anstrengungen vorgenommen werden,um die Kennzahlen, die der Kapitalmarkt für einen er-folgreichen Börsengang verlangt, zu erreichen. Hierzugehören – Kollege Friedrich hat das angesprochen –: dasEBIT, Betriebsergebnis vor Zinsen, das BE II, das Be-triebsergebnis nach Zinsen, der ROCE, die Kapitalren-dite, das Gearing, das Verhältnis der Nettofinanzschul-den zum Eigenkapital.Wie vom Gesetzgeber beschlossen, ist die Kapital-marktreife dem Deutschen Bundestag vor einer Teilpri-vatisierung der DB AG durch die Bundesregierung dar-zulegen. Wir werden auch an dieser Stelle unsererVerantwortung nachkommen müssen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8901
(C)
(D)
Dirk Fischer
Meine Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion, bekennt sichzu einer Teilprivatisierung der DB AG und wird diesenÜbergang auch weiterhin positiv begleiten. Vorausset-zung ist allerdings, dass dauerhaft gesichert ist, dass derBund Eigentümer der Infrastruktur bleibt, und dass sichdie weiteren Reformschritte am Ende vorteilhaft auf denBundeshaushalt auswirken.
Herr Kollege, ich erinnere Sie an Ihre Redezeit.
Es ist nicht sinnvoll, Ergebnisse zu erzielen, die
schlechter sind als der Status quo. Wir sollten uns ge-
meinsam anstrengen, an dieser Reform weiterzuarbeiten;
denn wir alle haben hier eine wichtige Aufgabe zu erfül-
len.
Nächster Redner ist nun der Kollege Martin Burkert
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte darüber reden, wie die Deutsche Bahn AGaus Sicht der Beschäftigten vor der notwendigen Teilpri-vatisierung dasteht. Die 230 000 Beschäftigten diesesUnternehmens waren in den letzten Jahrzehnten der Ga-rant des Erfolgs.
Der Produktivitätszuwachs der Mitarbeiterinnen undMitarbeiter lag allein in den letzten zehn Jahren bei180 Prozent. Das heißt, heute arbeitet jeder nahezu dop-pelt so viel wie noch vor zehn Jahren. In diesem Unter-nehmen ist viel passiert.Die Kunden sind laut Kundenbarometer – das zeigenin dieser Woche veröffentlichte Umfragen – hochzufrie-den und voll des Lobes für die Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind moti-viert und gut ausgebildet. Grund dafür ist auch, dass wir,der Bundestag, folgenden Beschluss gefasst haben – ichdarf zitieren –:Es wird sichergestellt, dass der konzerninterne Ar-beitsmarkt der DB und das Beschäftigungsbündnisfortgeführt werden können.Was ist dann passiert? Die Gewerkschaft Transnetund die Bahn haben für diese 230 000 Beschäftigten einBeschäftigungsbündnis bis 2010 geschlossen. AndereUnternehmen in diesem Land verkünden Rekordge-winne – auch bei der Bahn haben wir etwas von 2 Mil-liarden Euro gehört – und im gleichen Atemzug den Ab-bau von Arbeitsplätzen. Das ist der Unterschied zu demUnternehmen Deutsche Bahn AG, das mehrheitlich demStaat gehört.Was heißt denn jetzt Beschäftigungsbündnis? DBJob-Service, ein bahninternes Arbeitsamt, ist ein Er-folgsmodell in Deutschland. Wenn heutzutage neueStellwerkstechnik angewandt wird, wenn dadurch dieArbeitsplätze von Schrankenwärtern wegfallen, wenn eszu Arbeitsplatzverlusten durch Modernisierung kommt,dann bildet die Bahn aus. Jeder Mitarbeiter wird flexibeleingesetzt. Versetzungen bis 200 Kilometer und eine ma-ximale Heruntergruppierung um zwei Lohnstufen sindmöglich. Entscheidend ist dabei, dass keine betriebsbe-dingten Kündigungen ausgesprochen werden und dassder Steuerzahler kein Arbeitslosengeld zahlen muss. Dasmuss man einmal so deutlich sagen.Ich komme auf das Schlagwort „Trennung von Fahr-weg und Betrieb“ zu sprechen. Herr Königshofen, ichbin fast entsetzt, heute hören zu müssen, dass Teile derCDU dafür sind. Was wollen denn die Liberalen:Catch-as-catch-can – der Markt regelt alles? Sie setzen– ich sage das hier einmal so deutlich – 50 000 Arbeits-plätze aufs Spiel.
Ich sage Ihnen nur ein Beispiel – man kann das aberanhand eines jeden Unternehmens in diesem Konzernzeigen –: Es gibt 11 000 Wagenreiniger bei der Deut-schen Bahn, bei DB Services. In Karlsruhe verdient einWagenreiniger 7,84 Euro, in Regensburg bei gleicherTätigkeit 8,23 Euro. Auch das ist moderne Tarifpolitik:sich den Lebensverhältnissen in diesem Land anpassen.Wenn es keinen Kontrahierungszwang gäbe – „Kontra-hierungszwang“ heißt hier, dass die Auftragsvergabe in-nerhalb des Unternehmens erfolgen muss –, dann könntedie Bahn diese Leistung draußen am freien Markt wirt-schaftlich einkaufen, für 4,03 Euro zum Beispiel in Bay-ern, und viel Geld sparen. Aber zu welchen Qualitäts-standards, zu welchen Sozialstandards und zu welchenLohnbedingungen? Ich sage Ihnen: Wir Sozialdemokra-ten wollen solche Verhältnisse nicht.
Dieser integrierte Konzern muss bleiben. Dafür gibtes eine Reihe von Gründen:Die Sicherheit bei der Beförderung von Personen undGütern muss gewährleistet bleiben. – Erster Punkt.Zweiter Punkt. Die Daseinsvorsorge für die Bürger inunserem Land muss erhalten bleiben.
Drittens. Die Bahnindustrie braucht einen verlässli-chen Auftraggeber. Im Übrigen habe ich am Wochen-ende gelesen: Die größten Gewinne in dieser Branchegab es 2006. Ich frage mich, woher dann ständig Kritikkommt.
Metadaten/Kopzeile:
8902 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Martin BurkertZum vierten Punkt, dem Güterverkehr. Ich sage Ih-nen: Es wird in Deutschland keinen gewinnbringendenEinzelwagengüterverkehr geben. Wenn der Einzelwa-gengüterverkehr aber wegfällt, weil dieses Unternehmenallein dasteht und in die Insolvenz geht, haben wir überNacht 40 000 Lkws mehr in diesem Land. Das ist ver-kehrspolitischer Unsinn. Hier sind im Übrigen 9 000 Ar-beitsplätze gefährdet.Der Konzern muss sich auch im europäischen Wettbe-werb behaupten können. Schauen Sie sich in Europa um!Geschätzter Kollege Königshofen – ich darf noch einmalauf Sie zurückkommen –, nennen Sie mir ein Land, womehr Eisenbahnverkehrsunternehmen zugelassen sindals in Deutschland! In Deutschland sind es gegenwärtig360. – Nur so viel zur Kritik an der Wirksamkeit der Re-gulierung. Versuchen Sie einmal, in Frankreich ein Ei-senbahnverkehrsunternehmen zu eröffnen!Frau Präsidentin, ich bin gleich fertig.Zur Frage der Ausbildungsplätze will ich deutlich sa-gen: Die Bahn ist der vielleicht größte Ausbildungsplatz-anbieter in diesem Land. Es gibt über 7 000 Ausbil-dungsplätze. Hier sind wir gemeinsam mit der Bahn inder Verantwortung. Dagegen bilden die Privatbahnen,die hier gefordert sind, nicht mal zwei Hände voll aus.Ich sage jetzt nichts mehr zu den wichtigen Beamtenbei der Bahn,
zur Pünktlichkeit und zum Netz. Aber ich sage noch ein-mal deutlich, in der Eisenbahnersprache: Das Abfahrtsi-gnal bei der Bahn lautet: Zp 9. Grüne Kelle, grünesLicht.
HP 1 – Eisenbahnersprache –, zwei grüne Lichter – Siekennen das, Herr Hermann –, an der nächsten Weichelinks. Und dann immer geradeaus in eine zuverlässige,sichere und kundenfreundliche Bahnzukunft.Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Klaas Hübner für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Der Titel der heutigen Aktuellen Stunde ist: Zu-stand der Deutschen Bahn AG vor dem Börsengang. Da-rum müssen wir jetzt einmal zurückschauen. Was war1993 der Anlass für die Organisationsprivatisierung derBahn? Man hat damals erstens prognostiziert, dass imJahre 2003 ohne Bahnreform die Schulden der Deut-schen Bahn auf 195 Milliarden Euro anwachsen würden.Wir haben heute ein Zehntel dieser Schulden bei derDeutschen Bahn AG. Insofern ist das ein Erfolg dessen,was wir bisher hinter uns gebracht haben.
Zweitens ist seinerzeit prognostiziert worden, dassohne Bahnreform der jährliche Finanzbedarf der Deut-schen Bahn bei 32,5 Milliarden Euro liegen würde. Defacto geben wir heute 19,4 Milliarden Euro pro Jahr aus.Das sind 13 Milliarden Euro weniger, als wir ohneBahnreform hätten ausgeben müssen. Auch das ist eindeutlicher Vorteil, ein deutlicher Erfolg der bisherigenPolitik.
Einer der Hauptpunkte bei den Zuschüssen sind natür-lich die Regionalisierungsmittel. An der Stelle gestattenSie mir als Haushälter ein kritisches Wort an die Länder.Die Transparenz der Verwendung der Regionalisierungs-mittel ist in unseren Augen deutlich verbesserungswürdig.Der Bundesrechnungshof hat das mehrmals zu Recht an-gemahnt. Es hat ein Schreiben gegeben, auch an die Lan-desregierungen. Einige von denen haben gar nicht geant-wortet. Ich glaube, wir werden uns im Haushaltsausschussund im Parlament damit auseinandersetzen müssen, wiewir mehr Transparenz in die Verwendung der Regionali-sierungsmittel bringen.
Insgesamt gesehen ist bisher der Werdegang derDeutschen Bahn nach der Privatisierung ein positiver.Die Züge sind schneller, moderner und pünktlicher ge-worden. Die Deutsche Bahn schreibt heute schwarzeZahlen und hat sich zu einem international tätigen Logis-tikkonzern entwickelt. Die Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter sind extrem engagiert – mein Vorredner hat daraufhingewiesen –; sie tragen einen deutlichen Anteil an derguten Performance der Deutschen Bahn AG. Vor diesemHintergrund ein Wort an die Linke, die die DeutscheBahn immer wieder als Versager darstellt: Sie werdenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei der Deut-schen Bahn eine exzellente Arbeit leisten, überhauptnicht gerecht mit Ihrer Kritik. Sie sollten sich genauüberlegen, ob Sie zum Bahnfeind werden wollen oderBahnfreund bleiben wollen.
Vor uns liegt nun die Aufgabe, die Parameter für eineTeilprivatisierung der Deutschen Bahn AG festzulegen.Wir haben ja einige aufgestellt. Genau an diesen Punktenwird sich der Gesetzentwurf messen lassen müssen. Wirwollen das auch tun; denn der Deutsche Bundestagselbst hat ja beschlossen, unter welchen Kriterien dieTeilprivatisierung vorangebracht werden soll. Ich willdie in meinen Augen wesentlichen Punkte noch einmalhervorheben:Wir wollen keine zusätzlichen Risiken für den Bun-deshaushalt haben; als Haushälter sei mir gestattet, da-rauf hinzuweisen. Das wird ein wesentliches Kriteriumsein.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8903
(C)
(D)
Klaas HübnerDas Schienennetz wird nicht an private Investoren gege-ben, sondern soll im Eigentum des Bundes bleiben.Auch an diesem Punkt werden wir den Gesetzentwurfmessen.
Das Beschäftigungsbündnis – der Kollege Burkert hatdarauf hingewiesen – und der konzerninterne Arbeits-markt müssen fortgeführt werden.
Die Regulierungsinstrumente der Bundesnetzagentursollen fortentwickelt werden. Der entscheidende Punktwird aber sein, wie die Leistungs- und Finanzierungsver-einbarung zwischen Bund und Bahn ausgestaltet wird.Zunächst einmal soll die Substanz des Netzes erhal-ten bleiben. Ebenso wichtig wie der langfristige Sub-stanzerhalt ist die kontinuierliche Instandhaltung desNetzes. Hier hat es in der Vergangenheit ganz offen-sichtlich – ich stimme hier der Opposition zu – Mängelgegeben. Ich gebe auch zu, dass es im Moment einigeFehlanreize gibt: Während die Instandhaltung von derBahn zu bezahlen ist, sind nämlich Ersatzinvestitionen,selbst solche, die dadurch entstehen, dass nicht laufendinstandgehalten wurde, vom Bund zu bezahlen. Dasmüssen wir korrigieren. Auch ich bin dafür – daswurde ja auch im Primon-Gutachten festgestellt –, ei-nen Betrag festzuschreiben, den die Deutsche Bahn sel-ber für Investitionen in die Infrastruktur aufzubringenhat.Der entscheidende Punkt bei der Leistungs- und Fi-nanzierungsvereinbarung wird aber sein – ich glaube,das ist ein echter Quantensprung –, dass wir versuchen,von einer inputorientierten Analyse, wie welches Geldwofür ausgegeben wird, hin zu einer outputorientiertenAnalyse, also inwieweit das Netz wirklich in einem Zu-stand ist, dass Pünktlichkeit und Schnelligkeit gewähr-leistet sind, zu kommen. Wir haben schon im Bundes-haushalt Vorsorge dafür getroffen, dass der Bund, dassder Bundestag unabhängig von der Deutschen Bahn die-ses Jahr eine Eigenbewertung des Schienennetzes vor-nehmen kann. Anhand der Ergebnisse kann dann festge-stellt werden, ob die Deutsche Bahn mit den Mitteln, diewir ihr zur Verfügung stellen, ordentlich umgeht. Wirwerden in dieser Leistungs- und Finanzierungsvereinba-rung auch festhalten müssen, dass die Deutsche Bahn,wenn sie unseren Anforderungen nicht gerecht wird, ent-sprechende Pönalen zu zahlen hat. Ich glaube, dieserSystemwechsel, den wir vorhaben, ist auch ein entschei-dender Schritt zur Verbesserung des Verhältnisses zwi-schen Bund und Deutscher Bahn AG.
Gestatten Sie mir noch eine persönliche Bemerkungzum Schluss: Ich habe aus allen Fraktionen Gratulatio-nen für die Wahl in mein neues Amt entgegennehmendürfen. Ich freue mich darauf, mit allen Fraktionen in derneuen Funktion vertrauensvoll zusammenarbeiten zukönnen.Herzlichen Dank.
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform der Führungsaufsicht
– Drucksache 16/1993 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 16/4740 –
Berichterstattung:
Joachim Stünker
Jörg van Essen
Sevim Dağdelen
Jerzy Montag
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
Wenn diejenigen, die der weiteren Debatte nicht fol-
gen wollen, ihre Gespräche draußen fortsetzen würden,
könnten wir uns auf die Debatte konzentrieren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Die Zahl der Schwerverbrechen in Deutschlandsinkt, und zwar seit Jahren. Der Bundesinnenministerund ich haben vor kurzem unseren Sicherheitsberichtvorgestellt. Daraus ergibt sich: In den vergangenenzwölf Jahren ist die Zahl der Tötungsdelikte um fast30 Prozent zurückgegangen. Auch die Zahl der schwe-ren Sexualstraftaten wird geringer.
Beim sexuellen Missbrauch von Kindern betrug derRückgang gut 10 Prozent.Umfragen zeigen jedoch, dass, quasi umgekehrt pro-portional dazu, bei einem Großteil der Bevölkerung dasBedrohungsgefühl zunimmt. Viele Menschen haben denEindruck, die Kriminalität werde immer schlimmer.Nach der Ansicht von Fachleuten hat dies vor allen Din-gen etwas mit den Medien zu tun. Die Zahl der Verbre-chen sinkt zwar; die Berichterstattung wird aber intensi-ver und stärker aufgemotzt. Das führt, wie wir wissen,dazu, dass ältere Frauen besonders große Angst vorÜberfällen haben, obgleich sie zu der mit Abstand
Metadaten/Kopzeile:
8904 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Bundesministerin Brigitte Zyprieskleinsten Gruppe gehören, während die jungen Männer,die sich für stark halten und keine Ängste haben, amhäufigsten Opfer von Raubüberfällen werden.Die gefühlte Unsicherheit hat aber gewiss auchGründe jenseits der Kriminalität. Arbeitslosigkeit, sozia-ler Abstieg oder bestimmte Aspekte der Globalisierung,auch das empfinden viele Menschen als Existenzbedro-hungen, denen sie hilflos gegenüberstehen. Wenn wiralso wollen, dass die Menschen in Deutschland nicht nursicher sind, sondern sich auch sicher fühlen, dann dürfenwir diese Tatsachen nicht ausblenden.
Tatsache ist aber auch: Jede Straftat ist eine Straftat zuviel. Unsere Aufgabe ist es, den besten Schutz vor Kri-minalität zu schaffen, der im freiheitlichen Rechtsstaatmöglich ist. Gerade in Bezug auf den Schutz vor Sexual-straftätern und Wiederholungstätern haben wir in derVergangenheit eine Menge getan. Ende der 90er-Jahrewurden die Vorschriften bezüglich der Sicherungsver-wahrung in verschiedenen Schritten verschärft. 2004wurde die Strafandrohung für den sexuellen Missbrauchbei Kindern erhöht. Vor zwei Jahren haben wir denDNA-Test als Ermittlungsinstrument ausgeweitet, insbe-sondere um Sexualstraftätern schneller habhaft zu wer-den.Die Reform der Führungsaufsicht, die heute be-schlossen werden wird, ist eine weitere Maßnahme, umRückfällen besser vorzubeugen. Führungsaufsicht dientvor allem der Betreuung und Überwachung von Ver-urteilten, die eine längere Freiheitsstrafe verbüßt ha-ben oder aus einer Klinik entlassen werden. In Zukunftkönnen ihnen mehr und differenziertere Weisungen er-teilt werden. Wir verschärfen den Strafrahmen bei Ver-stößen gegen diese Weisungen, und wir verbessern dieBefugnisse, um die Einhaltung dieser Weisungen auchwirksam kontrollieren zu können.Vorgesehen ist unter anderem ein Kontaktverbot. Ver-urteilten kann künftig untersagt werden, sich nach derEntlassung dem einstigen Opfer zu nähern. Demjenigen,der sich schon einmal an einem Kind vergangen hat,kann verboten werden, Kontakt mit fremden Kindernaufzunehmen, beispielsweise Spielplätze oder Freibäderzu besuchen. Wird gegen diese Auflagen verstoßen, istdas ein eigenständiger Straftatbestand, was hoffentlichals hinreichend abschreckendes Signal wirkt. Der ein-zelne Betroffene merkt deutlich: Der Staat hat mich wei-ter im Visier; ich muss darauf achten, dass ich michwohlverhalte.Darüber hinaus ist es möglich, Entlassenen die Auf-lage zu erteilen, sich regelmäßig bei einem Therapeutenoder einer forensischen Ambulanz zu melden. Die Ein-nahme von Medikamenten kann auf diese Weise kontrol-liert werden; es ist auch im Interesse des Betroffenen,sich einmal in der Woche zu einer kontrollierten Medi-kamenteneinnahme einzufinden, statt in einer Haftan-stalt zu verbleiben.Außerdem sorgen wir für eine rasche stationäre Kri-senintervention. Täter, deren Unterbringung in einempsychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung ausgesetztist, können in Zukunft bei akuten Krisen schneller statio-när untergebracht und behandelt werden.Mit diesem Gesetz haben wir nach meiner Meinungeine gute Chance, die Zahl der Rückfalltäter weiter zuverringern. Ob es tatsächlich in der Praxis wirksam ist,hängt ganz entscheidend davon ab, wie die Länder esausfüllen.
Sie sind nämlich dafür zuständig, die Infrastruktur zuschaffen, die für eine straffe Handhabung der Füh-rungsaufsicht, die wir uns in vielen Fällen wünschen,notwendig ist. Sie müssen Ambulanzen fördern und dieEinrichtung von Krisenbetten in der Psychiatrie sicher-stellen. All das kostet eine Menge Geld. Wenn es umden Ruf nach härteren Gesetzen geht, dann gehen ei-nige Landespolitiker gerne vorneweg. Aber durch ver-bale Kraftmeierei wird Deutschland nicht sicherer.
Mein Appell an die Länderminister lautet deshalb:Zeigen Sie bitte auch dann Härte, wenn es um die Finan-zierung geht! Dann wird die Reform der Führungsauf-sicht ganz gewiss ein Erfolg.
Lassen Sie mich noch kurz auf den zweiten Komplexdieses Gesetzesvorhabens eingehen. Wir erleichtern mitdiesem Gesetz die nachträgliche Verhängung derSicherungsverwahrung in sogenannten Altfällen. Beiden Verhandlungen zur Wiedervereinigung hatte sich dieDDR gegen die Einführung einer Sicherungsverwahrungin Ostdeutschland entschieden. Das ist zwar inzwischengeändert worden. Aber für die Taten, die vor 1995 be-gangen wurden, gibt es noch immer Klarstellungsbedarf.Das hängt auch mit der Rechtsprechung des Bundesge-richtshofs zusammen.Diesen unbefriedigenden Zustand werden wir mitdem jetzt zu verabschiedenden Gesetz ändern. Wir er-möglichen künftig auch für diese sogenannten Altfälledie nachträgliche Sicherungsverwahrung, wenn sich dieGefährlichkeit des Täters schon bei dessen Verurteilunggezeigt hat, aber zu diesem Zeitpunkt noch keine Siche-rungsverwahrung möglich war. Natürlich bleibt es dabei,dass eine Einschätzung der Gefährlichkeit des Täters er-folgen muss und dass bewertet werden muss, welcheFortschritte er bei der Resozialisierung gemacht hat. Esbleibt auch dabei, dass unabhängige Gutachter ein psy-chologisches Gutachten hinsichtlich der Frage erstellenmüssen, ob eine Sicherungsverwahrung angemessen ist.Es bleibt ebenfalls dabei, dass alle zwei Jahre dieseGutachten überprüft werden. Für die Täter besteht alsonach wie vor eine echte Chance der Resozialisierung.Die Sicherungsverwahrung muss nämlich das bleiben,was sie nach Ansicht dieses Hauses sein soll: eine Aus-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8905
(C)
(D)
Bundesministerin Brigitte Zypriesnahme für extreme Einzelfälle, eine Ausnahme für au-ßergewöhnlich gefährliche Täter.Beide Instrumente dienen dem Ziel, in unserer Gesell-schaft einen besseren Schutz vor Rückfalltätern zu ga-rantieren, auch wenn es eine totale Sicherheit in einemfreien Land natürlich niemals geben kann. Wir sindschon heute eines der sichersten Länder der Welt; wirwollen es auch gerne bleiben.
Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch bemer-ken, dass wir nicht nur ein Land sein wollen, das sicherist, sondern dass wir auch ein Land sein wollen, in demgeschiedenen Ehefrauen und nicht verheirateten Mütternder Unterhalt ermöglicht wird. Deswegen möchte ich umNachsicht bitten, dass ich jetzt zu einem Gespräch überdie Unterhaltsrechtsreform gehen muss.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Ministerin, ich habe hier schon mehrfach betont,dass es Aufgabe der Opposition ist, dann zu kritisieren,wenn etwas zu kritisieren ist. Aber die Opposition musssich auch dann zu Wort melden, wenn etwas gut ist. Ichglaube, dass das, was wir heute beraten, grundsätzlichgut ist.
Aber ich bin der Auffassung, dass wir die Verantwor-tung für das Gefühl der Menschen nicht allein bei denMedien abladen dürfen. Auch wir als Politiker sind inder Verantwortung; denn jedes Mal, wenn etwas passiert,findet in der Politik ein Überbietungswettbewerb dahingehend statt, was alles geändert werden soll. Ich finde,gerade als Rechtspolitiker sind wir aufgerufen, Vor-schläge zu machen, wie sich etwas wirklich vernünftigändert, damit sowohl die Rechte der Betroffenen alsauch die der Opfer in ein vernünftiges Verhältnis zuein-ander gebracht werden.Ich denke, dass deshalb die Führungsaufsicht eineganz wichtige Funktion hat. Es muss einen nachdenklichmachen, dass die Zahl der Sicherungsverwahrten, alsoderjenigen, die praktisch in Haft bleiben, in den letztenzehn Jahren um 120 Prozent gestiegen ist. Diese Zahl hatsich enorm erhöht. Gleichzeitig ist die Führungsaufsichtein Mittel, das eigentlich sehr ideal ist. Auf der einenSeite kann man Weisungen erteilen, die verhindern, dasses zu Rückfalltaten kommt. Auf der anderen Seite wirddemjenigen, der schwere Straftaten begangen hat, dieChance der Resozialisierung gegeben. Ich glaube, dassdeshalb die Führungsaufsicht ein ganz wichtiges Instru-ment ist und es ein richtiger Ansatz ist, deren Möglich-keiten zu verbessern.Als jemand, der sich immer wieder sehr viele Gedan-ken um den Opferschutz macht, gefällt es mir ganz be-sonders, dass es jetzt ein Kontaktverbot gibt. Das warder Vorschlag, den wir bei der rechtlichen Ausgestaltungdes Stalkings gemacht hatten, dass es nämlich klare Wei-sungen an den Betroffenen gibt, was er nicht tun darf,und es dann, wenn er dagegen verstößt, entsprechendestrafrechtliche Konsequenzen gibt.
Ich will damit gleich zu einem aus unserer Sicht be-stehenden Kritikpunkt kommen. Wir halten nichts da-von, dass der Strafrahmen bei solchen Verstößen aufdrei Jahre angehoben wird; denn die Anhörung hat ge-zeigt, dass von der schon bestehenden Möglichkeit bis-her kaum Gebrauch gemacht wird. Das ist zwar alleinfür sich kein Argument. Aber mich hat sehr überzeugt,dass in dem Land, in dem diese Strafvorschrift beispiels-weise dadurch zur Anwendung kommt, dass man dasGanze zentral organisiert, bisher ausschließlich Geld-strafen verhängt worden sind, die in diesem Zusammen-hang aus Sicht der Richter ganz offensichtlich ausrei-chen. Bisher sieht das Gesetz auch eine Freiheitsstrafevon bis zu einem Jahr vor. Das scheint uns ausreichendzu sein.Ein weiterer Aspekt – auch dies möchte ich kritischanmerken – ist die Frage, welche Auflagen, welche An-forderungen wir an die Therapeuten stellen. Auf der ei-nen Seite kann eine Therapie nur dann erfolgreich sein,wenn es ein Vertrauensverhältnis gibt; das ist ganz wich-tig. Es kann sich nur etwas bessern, wenn der Therapeutauf denjenigen, den er behandeln muss, auch einwirkenkann. Auf der anderen Seite kann es nicht sein, dass derTherapeut, wenn er mitbekommt, dass eine Person, dieunter Führungsaufsicht steht, wieder schwerste Strafta-ten plant und diese unmittelbar bevorstehen, davon keineNachricht gibt, sodass das unterbunden werden könnte.Von daher muss das miteinander abgewogen werden.
Metadaten/Kopzeile:
8906 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Jörg van EssenWir machen Ihnen einen Vorschlag, wie das aus unse-rer Sicht besser geschehen kann. Die Anhörung hat ge-zeigt, dass uns insbesondere die Praktiker aus dem Be-reich der Therapie darum bitten, zu einer engerenFassung zu kommen. Deshalb ist das unser Vorschlag.Die Ministerin hat einen weiteren Punkt angespro-chen, der heute ebenfalls Gegenstand der Debatte ist: dienachträgliche Sicherungsverwahrung für in der frühe-ren DDR Verurteilte und für Taten bis 1995. Dass dorteine praktische Notwendigkeit besteht, sehen wir geradein Sachsen-Anhalt, wo die Polizei rund um die Uhr einePerson, die weiter als gefährlich eingeschätzt wird, be-wacht. Von daher gibt es also diese Notwendigkeit. Dashat sich im Übrigen auch bei der Anhörung gezeigt; dasbelegt, dass Anhörungen durchaus vernünftig sind. Dennsowohl der Generalstaatsanwalt aus Thüringen als auchder Generalstaatsanwalt aus Sachsen-Anhalt haben be-richtet, dass voraussichtlich für jeweils fünf Personen inihren Ländern nachträgliche Sicherungsverwahrung inBetracht kommt. Das sind Zahlen, die man nicht unter-schätzen darf. Allein zehn Personen in diesen beidenLändern sind offensichtlich so gefährlich, dass sie nichtwieder auf die Menschheit losgelassen werden können.Deshalb haben wir die Verpflichtung, hier eine Regelungzu treffen.Aber wir haben auch die Verpflichtung, unsere Ver-fassung zu beachten.
Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht,dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur unterganz engen Voraussetzungen verhängt werden darf.Auch da hat die Anhörung ergeben, dass der Gesetzes-text, so wie er von der Koalition und ursprünglich vonder Bundesregierung vorgeschlagen worden ist, zu weitgefasst ist.Wir teilen diese Kritik. Wir schlagen Ihnen deshalbvor, eine Regelung, eine Formulierung zu finden – wirhaben sie gefunden –, die ganz speziell auf die Fälle inder früheren DDR zugeschnitten ist. Wir bitten aus-drücklich um Ihre Zustimmung.Es gibt noch einen weiteren Punkt, bei dem wir eben-falls anderer Auffassung sind als Sie. Es soll eine Erwei-terung im Bereich des Jugendstrafrechts geben. AlleSachverständigen – einschließlich des angehörten Bun-desanwalts, einschließlich der angehörten Generalstaats-anwälte – haben kein Bedürfnis für diese Regelung gese-hen. Wenn meine staatsanwaltschaftlichen Kollegen daserklären, dann sollten wir das auch ernst nehmen. Des-halb sind wir der Auffassung, das sollte nicht so geregeltwerden, wie es der Gesetzentwurf vorsieht.Insgesamt aber ist das – das möchte ich zum Schlussnoch sagen – ein richtiger Schritt in die richtige Richtung.Die Länder sind – die Ministerin hat das ausdrücklich ge-sagt, und ich unterstreiche das – in der Verantwortung, an-stelle von Überbietungswettbewerben der Innenministerdie notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Das heißt,mehr Bewährungshelfer, aber auch die entsprechendenAmbulanzen – –
Herr Kollege!
Frau Präsidentin, Sie weisen mich zu Recht auf die
Zeit hin.
Deshalb will ich damit schließen: Wir sollten darauf
achten, dass die Länder ihrer Verantwortung auch ge-
recht werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion.Siegfried Kauder (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!Immer wieder reagiert die Bevölkerung fassungs- undverständnislos darauf, dass Straftäter, gerade aus derHaft entlassen, schon wieder ein kleines Kind schnap-pen, es sexuell missbrauchen und töten.Wegsperren! Und zwar für immer! – Das ist die For-derung, die man da in der Bevölkerung hört. Aber soeinfach ist das nicht. Ein Wegsperren – und insbesonderefür immer – ist menschenverachtend, und deswegen lässtdas unsere Verfassung zu Recht nicht zu. Aber dennoch– daran ändert auch eine Statistik nichts – hat die Bevöl-kerung einen Anspruch darauf, sicher vor Straftätern le-ben zu können.Vor besonders gefährlichen Straftätern schützt dieAllgemeinheit die Sicherungsverwahrung, die sich andie Haft anschließt. Aber die juristische Hürde für dieVerhängung einer Sicherungsverwahrung ist außeror-dentlich hoch. So gibt es immer wieder die Fälle, dassein Strafhäftling nach Verbüßung der Endstrafe – Voll-verbüßer genannt – aus der Haft entlassen werden muss,ohne dass sich in seinem Kopf in der Haft auch nur diegeringste Kleinigkeit geändert hat. Die kriminelle Ener-gie ist noch so groß wie am Anfang.Einen solchen dürfen wir nicht einfach unkontrolliertin die Freiheit entlassen.
Wir dürfen auch nicht jeden, der aus dem Maßregelvoll-zug kommt – sprich: aus der Psychiatrie oder aus einerEntziehungsanstalt –, ohne Begleitung frei in die Gesell-schaft entlassen. Dafür gibt es seit 1975 das Rechtsinsti-tut der Führungsaufsicht. Führungsaufsicht heißt, dassdem entlassenen Strafhäftling oder dem aus dem Maßre-gelvollzug in die Freiheit Gelangten zum einen ein Be-währungshelfer beigeordnet wird, der ihm in der Lebens-führung hilft. Zum anderen untersteht er der Aufsichteiner Führungsaufsichtsstelle.Dieses Institut heißt Führungsaufsichtsstelle. Es istalso nicht damit getan, zu sagen: Ein Therapeut braucht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8907
(C)
(D)
Siegfried Kauder
ein Vertrauensverhältnis zu einem psychisch Kranken,und deswegen muss er nicht berichten. Wir haben in un-serem neuen Gesetz eine sogenannte Nachsorgeweisungeingebaut. Das ist sicherlich etwas, das von allen alssinnvoll erachtet wird. Der psychisch kranke Straftäterhat sich regelmäßig in einer forensischen Ambulanz vor-zustellen. Aber was ist, wenn er nicht kommt? Muss derTherapeut die Verpflichtung haben, die Führungsauf-sichtsstelle und den Richter zu informieren, dass derStraftäter die Therapie nicht begleitet?Was ist, wenn dieser zu Therapierende seinem Thera-peuten eröffnet: „Ich habe schon wieder Lust auf kleineKinder“?
Auch das dürfen wir nicht zulassen. Da geht – das hatKollege van Essen zu Recht gesagt – der Opferschutzeindeutig vor. Die Führungsaufsicht ist ein hervorragen-des Instrumentarium für aktiven Opferschutz. Deswegenstanden wir vor der Frage, in welchem Umfang wir dieSchweigepflicht eines Therapeuten lockern. Der Erst-entwurf war zugegebenermaßen etwas weit gefasst. Inder rechtspolitischen Debatte haben wir eine sehr diffe-renzierte Lösung gefunden, die in erster Linie dazudient, den in psychiatrischer Behandlung Befindlichenanzuhalten, sich der Therapie zu unterziehen.Wenn das aber nicht geht, muss der Richter die Mög-lichkeit haben, entsprechende Weisungen zu treffen. Esgab dazu eine Sachverständigenanhörung. Ich habe sehrwohl noch die Ausführungen des Herrn Dr. Wolf, Vorsit-zender Richter am Landgericht Marburg, in Erinnerung,der sagte:Ich muss als Richter jemanden entlassen und ichtrage die Verantwortung und nicht irgendein Thera-peut … Ich muss den Leuten … hinter die Stirn gu-cken …Er müsse wissen, was im Kopf des Täters vorgehe. – Wirhaben deswegen die Schweigepflicht des Psychothera-peuten, die sich aus § 203 des Strafgesetzbuches ergibt,moderat gelockert.Was machen wir mit einem Vollverbüßer – also mitjemandem, der seine Endstrafe verbüßt hat –, der, weil ereine Sexualstraftat begangen hat, eine Weisung be-kommt, sich von Kinderspielplätzen fernzuhalten, wenner sich nicht daran hält? Ich spreche ganz bewusst vomVollverbüßer, der die Endstrafe verbüßt hat; da gibt eskein anderes Zwangsmittel mehr, als zu sagen: Dann be-strafen wir dich, weil du diese Weisung nicht einhältst,erneut. Wenn man sich dieses Beispiel vor Augen führt,dann weiß man auch, wovon wir reden. Für einen Sexu-alstraftäter, der wieder an Kindergärten und Spielplätzenherumschleicht, genügt die einjährige Höchststrafe nach§ 145 a StGB möglicherweise nicht. Aus genau diesemGrund haben wir gesagt: Wir müssen die Höchststrafevon einem Jahr auf drei Jahre erhöhen. Es gilt aber das,was Frau Justizministerin Zypries gesagt hat: Da gibt esin den Ländern Vollzugsdefizite. Vielleicht müssen wirdoch einmal ein offenes Wort mit den Landesjustizmi-nistern und den Staatsanwälten reden.Wir haben auch festgestellt, dass die Höchstdauerder Führungsaufsicht von fünf Jahren vielleicht dochetwas knapp bemessen ist. Es ist doch besser, jemanden,von dem eine latente Gefährdung ausgeht, länger alsfünf Jahre – wenn es sein muss, auch ein Leben lang – zukontrollieren, als andere Maßnahmen zu treffen. Deswe-gen haben wir mit diesem Gesetz die Möglichkeit ge-schaffen, in bestimmten Fällen die Dauer der Führungs-aufsicht über fünf Jahre hinaus zu verlängern.Sie sehen also: Bei diesem Gesetz ist alles sehr wohlbedacht und abgewogen. Wir haben auch Änderungs-wünsche der Sachverständigen in diesen Gesetzentwurfeingebaut. Wer für Opferschutz ist, kann diesem Gesetznur zustimmen.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKauder, ich möchte nicht versäumen, vorwegzustellen,dass dieser Gesetzentwurf heute hier im wahrsten Sinnedes Wortes durchgepeitscht wird.
Erst am Montag fand eine Sachverständigenanhörungstatt; wegen der Einspruchsfrist mussten am Dienstagvorgezogene Sitzungen des Innen- und des Rechtsaus-schusses stattfinden.
Wir haben bis heute nicht einmal ein Protokoll der Sach-verständigenanhörung vorliegen.
Die Mehrheit von Ihnen hat es offenbar trotzdem schonausgewertet. Ich möchte Ihnen jedenfalls deutlich sagen,dass das uns, der Opposition, nicht möglich gewesen ist.
Ich halte es vor dem Hintergrund, dass die potenziel-len Opfer von sexualisierter Gewalt wirklichen Schutzesbedürfen – das ist überhaupt keine Frage –, für einenSkandal, wenn man nur einzelne Punkte herausgreift undvor allen Dingen darauf setzt, wegzuschließen. Sie, HerrKauder, haben das zwar eben hier dementiert; ich binaber der Meinung, dass genau das jetzt passiert: Vor al-len Dingen will man die Leute wegschließen, sie zu im-mer längeren Haftstrafen verurteilen. Über wirklicheAbhilfe wird aber nicht ernsthaft diskutiert und schongar nicht beraten, auch aufgrund der Fragestellung beider Anhörung am Montag, die leider sehr eingeengt war.
Metadaten/Kopzeile:
8908 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Ulla Jelpke
– Sie wissen selber, dass es nur einzelne Punkte gab, dieangesprochen werden konnten.Wir reden hier über 40 bis 50 Personen, bei denendurch eine nachträgliche Sicherungsverwahrung dieZeit des Freiheitsentzugs verlängert werden könnte. Obdamit erreicht wird, dass es auch nur ein Opfer sexuali-sierter Gewalt weniger gibt, ist pure Spekulation. Dennim Gegensatz zu Deutschland gibt es in anderen Staaten,wie zum Beispiel den USA, Forschung und qualifizierteStudien darüber – davon kann man bei uns kaum spre-chen –, wie mit Sexualstraftätern im Vollzug umgegan-gen wird. Es gibt bei uns auch nur wenige Studien überTherapien.Das sage ich Ihnen übrigens als Strafvollzugshelferin,die 22 Jahre für Gefangene und mit Gefangenen gearbei-tet hat. Fragt man die Anstaltsleiter, wer denn vom Rich-ter im Urteil eine Therapie verschrieben bekommen hat,erfährt man, dass es fast alle sind. Aber nur ein Bruchteildavon bekommt wirklich eine Therapie. Ich meine, esgehört dazu, dass ein Resozialisierungsprogramm dieseDinge bewertet, von der Forschung ausgewertet wirdund Veränderungen aufzeigt.Eine Auswertung der Rückfallquote therapierterStraftäter zeigt ganz deutlich, dass sie signifikant sinkt.
Sie könnte weiter sinken, wenn der Strafvollzug bei sei-nen Aufgaben andere Schwerpunkte setzen würde. Dasser das nicht kann – Sie wissen, dass der Strafvollzug imMoment auf der Länderebene verantwortet wird –, wis-sen Sie. Hier muss man ganz deutlich sagen: Psychothe-rapie und ähnliche Dinge fallen dem Rotstift zum Opfer.Das kann nicht im Sinne der Sache sein.
Statt hier gegenzusteuern, betont der Gesetzentwurfeinseitig die Kontrollfunktion der an die Haft anschlie-ßenden Führungsaufsicht. Dadurch werden andere, sinn-volle Neuerungen konterkariert. Sie heben die Schwei-gepflicht der Therapeuten zum Teil auf. Sie schaffenohne sachlichen Grund die Möglichkeit lebenslangerFührungsaufsicht. Sie verschärfen auf absurde Weise dasSonderstrafrecht des § 145 a Strafgesetzbuch.Die Koalition will nachträgliche Sicherungsverwah-rung auch dann ermöglichen, wenn sie zum Zeitpunktder erstmaligen Verurteilung eines Straftäters noch nichtmöglich war. Damit hebeln Sie den verfassungsrechtli-chen Vertrauensschutz auf und verstoßen gegen elemen-tare Rechtsgrundsätze.
Ich fasse zusammen: Während sich der Strafvollzugweiter verschlechtert, werden Sicherungsverwahrungund eine rein kontrollierende Führungsaufsicht ausge-weitet. Mit anderen Worten: Es geht im Strafvollzugschon längst nicht mehr um Resozialisierung, sondernum Wegsperren und Kontrolle. Es geht nicht um psycho-soziale Betreuung und therapeutische Angebote, sondernum noch mehr und immer längeren Freiheitsentzug. Da-mit nimmt man den Betroffenen noch die letzte Perspek-tive, die sie haben: eines Tages wieder in Freiheit undselbstbestimmt leben zu können.
Diesem wichtigen Resozialisierungsauftrag haben Siehier zugestimmt; diesen muss man einklagen.Das Prinzip „wegsperren statt resozialisieren“ ent-springt im Übrigen der Ideologie einer konflikt- und kri-minalitätsfreien Volksgemeinschaft. Die geistigen Urhe-ber der Sicherungsverwahrung – das wissen Sie; das hatauch ein Sachverständiger gesagt – waren die Nazis. Ausgutem Grund hat die DDR diese Sonderregelung damalsabgeschafft.
– Ja, so ist es.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme gleich zum Schluss. –
Im Einigungsvertrag wurde geschrieben, dass es andere
Wege geben muss, als einen Menschen lebenslang hinter
Gitter zu sperren.
Ich sage noch einmal: Wegsperren bringt nichts, son-
dern resozialisieren.
Frau Kollegin, Sie wollten zum Schluss kommen.
Ja, das ist mein letzter Satz. – Schaffen Sie Therapie-
plätze. Dann wird sich einiges ändern.
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKollegin Jelpke, meine Redezeit ist zu kurz, als dass ichdarauf eingehen könnte, wie Sie die Zustände in derDDR geschildert haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8909
(C)
(D)
Jerzy Montag
Das überlasse ich den nachfolgenden Rednern; sie habendafür mehr Zeit.Führungsaufsicht ist ein Instrument des Staates, mitdem Straftätern, die zur Bewährung oder nach Vollver-büßung in die Freiheit entlassen werden, zuallererst ge-holfen werden soll. Es ist eine Hilfe für sie, in Zukunftstraffrei zu sein. Es ist aber auch ein Instrument des Staa-tes, mit dem er dafür sorgen kann, dass, wenn es notwen-dig ist, potenzielle Opfer in einer Übergangszeit vor die-sen Menschen, die sich wieder in Freiheit befinden,geschützt werden. Das Instrument der Führungsaufsichtist notwendig und hat sich bewährt.Seit langem ist eine Reform in der Diskussion. Wir,die Grünen, begrüßen die Änderungen, die jetzt im Ge-setz vorgesehen sind und über die wir schon lange disku-tiert haben. Wir sind froh darüber und unterstützen dieseÄnderungen.Bei dem Gesetzentwurf gibt es positive Aspekte:
Der Ausbau und die Stärkung der Führungsaufsichtsstel-len sind richtig. Die Einrichtung von psychiatrischenAmbulanzen und die Möglichkeit einer Kriseninterven-tion – statt sofort wieder ins Gefängnis oder in den Maß-regelvollzug – sind richtig. Auch die Ausweitung desWeisungskatalogs ist richtig; denn er hat sich in der Pra-xis als lückenhaft erwiesen. Wenn gesagt wird, dass dieneue Weisung, die ganz explizit auf den Opferschutzausgerichtet ist, völlig richtig ist, kann ich dem nur zu-stimmen.
Die Große Koalition wäre aber nicht die Große Koali-tion, wenn in der Rechtspolitik die rechte Hand nicht im-mer wieder das, was die linke Hand mühsam aufgebauthat, wieder einreißen würde. So hat dieser Gesetzent-wurf neben den positiven Aspekten natürlich etliche ne-gative, die wir benennen müssen:Über den § 145 a StGB und die Ausdehnung derHöchststrafe für Weisungsverstöße auf drei Jahre istschon gesprochen worden. Herr Kollege Kauder, wennSie uns nur einen einzigen Fall nennen könnten, bei demein Gericht die Höchststrafe von einem Jahr verhängtund sich dies als zu kurz erwiesen hat, würde ich sofortmit Ihnen in eine Diskussion darüber einsteigen, ob wireventuell eine Erweiterung brauchen. Die Fakten bele-gen das genaue Gegenteil. Die Gerichte machen von die-ser Vorschrift überhaupt keinen Gebrauch. Es gibt ganzwenige Verurteilungen. Diese Vorschrift hat sich alsSchutzvorschrift und Ultima Ratio als nicht effektiv er-wiesen. Es gibt gewichtige Stimmen, die sagen, mansollte sowieso damit aufhören und auf ein anderes Sys-tem umsteigen. Diese Stimmen überhören Sie. Stattdes-sen erweitern Sie lediglich den Strafrahmen auf dreiJahre. Das lehnen wir ab.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kauder?
Gerne.
Bitte.
Siegfried Kauder (CDU/
CSU):
Herr Kollege Montag, ich würde Ihnen Ihre Frage, ob
ein Jahr zu kurz ist, sehr gerne beantworten. Können wir
uns aber darauf einigen, dass eine Antwort nicht möglich
ist, weil es bisher rechtstechnisch gar nicht umsetzbar
war? Da die Höchststrafe ein Jahr betrug, konnte ein
Richter nicht mehr verhängen und prüfen, ob mehr bes-
ser ist.
Sie sollten in der Situation, in der Sie jetzt sind, ei-gentlich Fragen stellen und nicht meine Frage beantwor-ten.
Das können wir später tun.Auf Ihre Frage, wenn es denn eine war, will ich Ihnensagen: Sie haben es nicht verstanden. Wenn wir in unse-rem Land tatsächlich Menschen unter Führungsaufsichthätten, die Weisungsverstöße begingen, die deswegenals Vollverbüßer vor dem Strafrichter landeten, die Straf-richter mehrmonatige, achtmonatige, zehnmonatige oderFreiheitsstrafen von einem Jahr verhängen würden unddiese Täter nach einem Jahr lachend aus dem Gefängnisherauskämen, um dann Straftaten zu begehen, wenn wiralso eine Situation hätten, in der wir evident darüber dis-kutieren müssten, ob nicht eine längere Strafe erforder-lich ist, dann würde ich mich auf die Diskussion einlas-sen. Solche Fälle gibt es aber überhaupt nicht.
Wir haben ganz wenige Verurteilungen, alles Geldstra-fen. Es gibt also kein Bedürfnis nach einer Änderung.Das, was Sie machen, Herr Kollege Kauder, istSchaufensterpolitik. Das, wozu Sie die MinisterinZypries in der Großen Koalition zwingen, hat sie als un-ter ihrer Würde bezeichnet. Das ist das, was ich mit „Dieeine Seite baut auf, und die andere Seite reißt ein“ be-zeichnet habe.
Zu den Offenbarungspflichten, die Sie einführen.Herr Kollege Kauder, es geht nicht an, dass Sie hier im
Metadaten/Kopzeile:
8910 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Jerzy MontagBundestag das Problem beschönigen, indem Sie sagen,Sie würden in Ihrem Gesetzentwurf lediglich die Ver-schwiegenheitspflichten des § 203 StGB öffnen. Das istnicht wahr. Die Wahrheit ist, dass Sie darüber hinauseine Offenbarungspflicht für Ärzte, für Psychiater, fürPsychologen – auch für frei arbeitende Psychiater undPsychologen – schaffen,
nicht nur das Recht, nicht schweigen zu müssen, sondernauch die Pflicht, etwas zu sagen. Das ist viel mehr. Da-von haben Sie nicht gesprochen. Deswegen sage ich Ih-nen: Sie dürfen auch nicht verschweigen, was Sie in Ih-ren Gesetzentwurf geschrieben haben.Sie haben in ihren Gesetzentwurf geschrieben, dass eseine Benachrichtigungspflicht geben soll, wenn der Wei-sung, sich bei einem Psychiater vorzustellen oder an einerBehandlung teilzunehmen, nicht nachgekommen wird.Das unterschreiben wir; wir haben auch gesagt, dass wirdas mittragen.Sie haben geschrieben, dass es eine Pflicht zur Offen-barung geben wird, wenn unmittelbare schwere Gefah-ren für Dritte drohen. Auch das unterschreiben wir, auchdas haben wir gesagt.Aber über den streitigen dritten Punkt, von dem wirdringend abgeraten haben, haben Sie hier im Plenum ge-schwiegen: Sie wollen die Therapeuten – die Psycholo-gen, die Psychiater, die Ärzte – verpflichten, in unge-nannten Fallgestaltungen mit hochkomplexen Folgenwie der Rücknahme einer Aussetzung oder einer unbe-fristeten Führungsaufsicht, wo im Einzelnen überhauptnicht klar ist, welche Elemente zu dieser gerichtlichenHandlung führen werden, Angaben über ihre Patientenzu machen. Dazu haben alle Sachverständigen in derAnhörung gesagt: Das geht zu weit, das wollen wirnicht.Zur Sicherungsverwahrung ist hier schon etwas ge-sagt worden. Meine Zeit erlaubt mir nicht, dazu Stellungzu nehmen. Ich verweise auf das, was ich im Rechtsaus-schuss ausführlich gesagt habe. Ich sage Ihnen nur Fol-gendes: Wir haben uns an dieser Debatte konstruktiv be-teiligt. Heute liegen Ihnen zwei Änderungsanträge vor;diese Änderungsanträge betreffen die wirklich streitigenDinge.
Herr Kollege Montag!
Wenn Sie uns in diesen Änderungsanträgen folgen,
dann werden wir Ihrem Gesetz zustimmen. Da Sie es
aber nicht tun wollen, werden wir das Gesetz ablehnen
müssen.
Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zum Themenbereich der Führungsaufsicht ist eigentlichalles gesagt, was zu sagen war. Aber lassen Sie michnoch einmal darauf hinweisen, dass es letzten Endes umMenschen geht, um Täterinnen und Täter geht, derenWiedereingliederung in die Gesellschaft nach Verbü-ßung ihrer Haft uns gefährdet erscheint. Es geht um ei-nen Personenkreis, der gefährdet ist, erneut Straftaten zubegehen. Da müssen wir das Sicherheitsinteresse derAllgemeinheit und die Freiheitsrechte des Einzelnen im-mer sehr sorgfältig gegeneinander abwägen.Ich denke, wir haben dafür mit dem Gesetz zur No-vellierung der Sicherungsverwahrung eine gute Rege-lung geschaffen. Bei der Anhörung haben uns die Sach-verständigen ja durch die Bank gesagt: Jawohl, das isteine gute Regelung. Man kann an dem einen oder ande-ren Punkt möglicherweise noch etwas verbessern; aberinsgesamt ist die Regelung gut. Wenn ich die Reden hierhöre, habe ich allerdings gelegentlich den Eindruck, ichwar auf einer anderen Veranstaltung.
Ich denke, die gefundene Regelung wird sich jetzt inder Praxis bewähren müssen. Jetzt müssen die Länderdas Personal zur Verfügung stellen, das notwendig seinwird, damit die Führungsaufsicht, deren Parameter wirteilweise neu geregelt haben, in der Praxis genau so um-gesetzt werden kann; Frau Ministerin Zypries hat zuRecht darauf hingewiesen. Das bedarf schon der einenoder anderen Aufwendung. Wir werden sehr genau be-obachten, ob die Länder den Weg, den wir mit diesemGesetz vorgezeichnet haben, denn auch wirklich mitge-hen. Ich denke schon, wir werden da aufpassen müssen.Wir wissen ganz genau, dass wir als Gesetzgeberauch durch diese Regelungen keine absolute Sicherheitgewährleisten können. Wir können nicht ausschließen,dass es trotzdem zu schlimmen Straftaten kommt unddass Strafentlassene erneut schlimme Straftaten bege-hen. Auch in einer solchen Debatte muss man bekennen:Der demokratische Rechtsstaat wird in einer pluralisti-schen Gesellschaft niemals absolute Sicherheit gewähr-leisten können. Wir können nur das tun, was vor demHintergrund unserer Verfassung und unter Beachtungder Freiheitsrechte sowie der Sicherheitsinteressen desEinzelnen möglich ist. Aber man muss immer deutlichmachen – das sei manchen Medien, aber auch manchenSonntagsrednern gesagt –: Wir werden nie ganz aus-schließen können, dass es hier Rückfalltäter gibt.Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zur Regelung imHinblick auf die Sicherungsverwahrung sagen, die schon
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8911
(C)
(D)
Joachim Stünkerangesprochen worden ist. Frau Kollegin Jelpke, Sie ha-ben sich damit gerühmt, dass die DDR die Sicherungs-verwahrung abgeschafft hat.
Wenn ich bösartig wäre, würde ich sagen: Wenn man einVolk von 16 Millionen Menschen bereits sicherungsver-wahrt hat,
dann braucht man keine individuelle Sicherungsverwah-rung mehr, Frau Kollegin Jelpke.
Dem Kollegen Montag möchte ich bei dieser Gele-genheit sagen: Bei dieser Regelung geht es darum, dievorhandenen Lücken zu schließen, um die sogenanntenAltfälle erreichen zu können. Es geht nicht darum, dieFreiheits- und Bürgerrechte dem Sicherheitsstaat unter-zuordnen, wie Sie in einer Pressemitteilung vom20. März dieses Jahres geschrieben haben. Ich fordereSie freundschaftlich, aber bestimmt auf: Unterlassen Siebitte solch diffamierende Unterstellungen gegenüber derKoalition.
Bei jeder Gelegenheit, auch in der Rede, die Sie geradegehalten haben, unterstellen Sie uns, wir würden dieFreiheitsrechte des Einzelnen nicht respektieren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Ja, von Herrn Montag immer. – Bitte schön.
Danke, Frau Präsidentin. – Ich danke auch Ihnen,
Herr Kollege Stünker, dass Sie mir gestatten, eine Frage
zu stellen, nachdem Sie mich persönlich angesprochen
haben. Ich möchte Sie fragen, ob Sie bereit sind, zur
Kenntnis zu nehmen, dass sich meine Kritik, die ich öf-
fentlich geäußert habe, nicht gegen das Ansinnen rich-
tete, die im Recht der Sicherungsverwahrung aufgetrete-
nen Sicherheitslücken zu schließen, die es in den
Zeiträumen von 1990 bis 1995, von 1995 bis 1998 und
von 1998 bis 2004 gab.
Wir selbst haben einen Vorschlag gemacht, um diese
Lücken zu schließen. Sie allerdings wollen mit Ihrem
Gesetzentwurf eine Regelung einführen, die nicht nur
die Lücken aus der Vergangenheit schließt – Lücken, die
seit 2004 geschlossen sind –, sondern der auch unser ge-
meinsames rot-grünes Gesetz aus dem Jahre 2004 auf-
bohrt. Sie bohren das strikte Novenrecht der nachträgli-
chen Sicherungsverwahrung, nach dem neue Tatsachen
notwendig sind, um nachträglich eine Sicherungsver-
wahrung anzuordnen, auf. Dies habe ich als einen Ver-
stoß gegen die Grundregeln unseres Rechtsstaates kriti-
siert.
Natürlich nehme ich das zur Kenntnis, Herr KollegeMontag. Warum sollte ich das nicht zur Kenntnis neh-men? Aber Sie haben Ihre Frage wieder verwandt, umIhre Meinung deutlich zu machen,
die Sie vorhin in Ihrer Rede nicht mehr bringen wollten.
– Herr Beck, Sie werden ertragen müssen, dass ich zuEnde rede. Sie mit Ihrem Handy hören ja sowieso nichtzu.
Herr Kollege Montag, ich will dazu nur eines sagen:Über dieses Thema können wir uns akademisch langestreiten. Für mich gilt nach wie vor: Durch die Regelung,die wir getroffen haben – diese Einschätzung ist von denSachverständigen in der Anhörung geteilt worden –,wird das gesamte Instrumentarium der Sicherungsver-wahrung nicht so stark aufgebohrt, wie Sie es befürch-ten. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn es wirklich sokommen sollte, dass die Rechtsprechung Ihre Schluss-folgerungen zieht, dann müssten wir in der Tat etwas än-dern. Aber ich bin ganz sicher: Mit der Regelung, diewie im Gesetzentwurf getroffen und in der Begründungdargelegt haben, regeln wir nur die Altfälle, die wir da-mit auch regeln wollten.
Wir müssen uns bei der Diskussion auch immer wie-der klarmachen, worüber wir eigentlich reden. Wir reden
Metadaten/Kopzeile:
8912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Joachim Stünkerhier über gefährlichste Straftäter, die wegen grauenvollerund grauenvollster Straftaten, wegen Verbrechen, lang-fristige Freiheitsstrafen verbüßt haben und über die unsdie Sachverständigen prognostisch sagen, dass die Ge-fahr besteht, dass sie nach der Haftentlassung erneut ingleicher Weise straffällig werden. Der Rechtstaat mussdort handeln und ein Instrumentarium schaffen, um demSicherheitsinteresse der Allgemeinheit zu genügen.Ich weise immer wieder darauf hin, dass wir diesesInstrumentarium bereits in der letzten Legislaturperiodedadurch geschaffen haben, dass wir den nötigen Grund-rechtsschutz, den Freiheitsschutz, über das Verfahrengewährleisten. Das heißt, es muss eine neue Hauptver-handlung mit allen rechtsstaatlichen Sicherungen undMöglichkeiten für denjenigen stattfinden, der weiterhinin Sicherheitsverwahrung belassen werden soll. Es musseine öffentliche Beteiligung und Möglichkeiten der Re-vision sowie alles, was dazugehört, geben. In diesemvöllig rechtsstaatlichen Verfahren müssen uns zweiSachverständige sagen: Jawohl, hier ist eine entspre-chende Gefährlichkeit gegeben.Ich kann nur sagen: Dann kann man es verantworten,auch solche Regelungen zu treffen; denn bei jedem Fall,wie dem von Mitja in Leipzig oder anderen, stehen wirauch immer vor der Öffentlichkeit und müssen sozusa-gen bekennen, was wir getan haben, um die notwendigeVorsorge zu treffen. Ich meine, wir haben das hier getan.Das heißt, das, was rechtsstaatlich möglich und vertret-bar ist, ist immer die Grenze. Über diese Grenze sind wirauch in diesem Fall nicht hinausgegangen.Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Ich mussallerdings auch bekennen, dass die Regelungen zur Si-cherungsverwahrung, die seit Ende der 90er-Jahre Stückfür Stück verändert worden sind, mittlerweile in der Tatein Paragrafenwerk darstellen, das nur noch schwerdurchschaubar ist. Auch für den Fachmann, den Straf-rechtler, der jeden Tag damit zu tun hat, ist das nur nochschwer überschaubar. Von daher sind wir in der Koali-tion übereingekommen, das Gesamtpaket neu zu über-arbeiten. Dieser Aufgabe stellen wir uns.Herr Kollege Montag, nehmen Sie uns doch beimWort, dass wir in dieser Legislaturperiode noch etwasNeues dazu vorlegen.Schönen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Jürgen Gehb.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die De-batte hat moderat angefangen, aber die letzten Beiträge,Herr Montag, verleiten mich doch zu einer Bemerkung.Sie alle wissen, was man sich unter einem Montags-auto vorzustellen hat. Das sind reparaturanfällige Autos,mit denen man unzufrieden ist. Es sind also quasi Murks-autos. Herr Montag, diese Metapher haben Sie nun durcheine weitere Variante bereichert:
Auf Ihrer Homepage wird nämlich von „Montags Ge-spräch“ berichtet, welches Sie zwei Tage vor Nikolaus,am 4. Dezember letzten Jahres, mit der bayerischen Jus-tizministerin Beate Merk geführt haben. Eine Zwischen-überschrift lautet: „Sicherungsverwahrung ist keine Lö-sung“.Sie haben das in der Debatte am 14. November 2002gegeißelt wie kein Zweiter. Noch vorgestern haben Siein Ihrer Presseerklärung geschrieben, wir würden dortgaloppartig durchgehen und Sie bräuchten alle Zeit undallen Raum, um das zu diskutieren. Kurz vor Tores-schluss haben Sie dann allerdings noch die Kurve ge-kriegt und selbst zwei Anträge vorgelegt. Na, besser spätals nie. Wir brauchen Ihre Belehrungen aber nicht, wirbringen unsere eigenen Anträge durch, Herr Montag.
Alle Debatten über die Sicherungsverwahrung – ob esdie originäre, die vorbehaltene oder die nachträglicheist – haben gezeigt, dass das ein von vielen ungeliebtesKind ist. Auch mein Kollege Stünker hat nie einen Hehldaraus gemacht, dass er nicht ein glühender Verfechterder Sicherungsverwahrung ist. Das ist übrigens niemand.Wenn ich daran denke, was Frau Laurischk am14. November 2002 in diesem Haus gesagt hat – übri-gens in ihrer Jungfernrede –, dass nämlich diese Siche-rungsverwahrung gegen das Verbot der Doppelbestra-fung verstößt, muss ich sagen: Inzwischen dürfte dochwirklich klar sein, dass das nicht so ist.Das Bundesverfassungsgericht hat sowohl am5. Februar 2004 als auch am 10. Februar 2004 Entschei-dungen dazu getroffen. Beide Entscheidungen sind abge-druckt und nachzulesen im 109. Band, und zwar nichtauf Seite 109, sondern auf Seite 190 – das ist also einkleiner Dreher in der Begründung, Alfred – und aufSeite 133. Es hat festgestellt, dass sie weder gegen denGrundsatz „ne bis in idem“ noch gegen den Grundsatz„nulla poena sine lege“ oder irgendeinen anderen Verfas-sungsgrundsatz verstößt. Das hat das Bundesverfas-sungsgericht übrigens in seiner Entscheidung vom8. Dezember 2005 noch einmal zusammengefasst. Dasheißt, die Schlachten von gestern über die Verfassungs-mäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit brauchen wir inder jetzigen Situation nicht mehr zu schlagen.
Nachdem das feststeht und die Landesunterbrin-gungsgesetze durch die Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts aufgehoben wurden, war die damaligeBundesregierung geläutert und hat die nachträgliche Si-cherungsverwahrung ins Gesetzblatt gebracht. Dabei istsie davon ausgegangen, dass nunmehr nahezu alle Lü-cken geschlossen sind und dass solche Straftäter, bei de-nen sich im Verlaufe des Vollzuges ergibt, dass sie ge-fährlich sind, nicht mehr aus dem Vollzug entlassen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8913
(C)
(D)
Dr. Jürgen Gehbwerden dürfen und die alle zwei Jahre vorzunehmendeÜberprüfung nach wie vor aufrechterhalten wird.Allerdings ist diese Intention des Gesetzgebers durcheine Entscheidung des Bundesgerichtshofs sozusagenkonterkariert worden. Ich will keine Gerichtsschelte be-treiben. Wenn man den Wortlaut betrachtet, kann mandies sogar verstehen. Denn der Bundesgerichtshof hatfestgestellt, dass die Fälle, um die es geht – die soge-nannten Altfälle –, nicht unter die Vorschrift des § 66 bStrafgesetzbuch fallen, in der es um die nachträgliche Si-cherungsverwahrung bei Vorliegen neuer Tatsachengeht.Wegen des medialen Echos und des Hilferufs derLandesjustizministerinnen Frau Kolb und Frau Blechingerund des Generalstaatsanwalts Rautenberg mussten wir inder Tat schneller, als es vielleicht sonst notwendig ge-worden wäre, dafür Sorge tragen, dass ein entsprechen-der Gesetzentwurf bis zum 30. März im Bundesrat vor-liegt. Unser Gesetzentwurf unterscheidet sich nichtwesentlich von Ihrem Änderungsantrag.Was Ihre Äußerung angeht, der Gesetzentwurf bohreviel auf, will ich auf den Wortlaut verweisen. Es geht nurdarum, dass neue Tatsachen im Sinne dieses Gesetzesauch solche sind, die bei der Erstverurteilung erkennbarwaren, zum Teil sogar zur Sicherungsverwahrung ge-führt haben, aber aus den schon mehrmals genanntenGründen – Einigungsvertrag – nicht haben verhängt wer-den dürfen. Nur das wird jetzt geregelt. Das wollen wirmit unserem Gesetzentwurf, das wollen Sie mit IhremAntrag, und das will die FDP.Wir haben – was nicht weiter verwunderlich ist – un-serem eigenen Vorschlag zum Erfolg verholfen, nämlichdem Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Vielleicht stellt er wirklich einmal eine Frage.
Danke, Frau Präsidentin. Ich danke auch Ihnen, Herr
Kollege Gehb, dass Sie diese Frage gestatten. Natürlich
wird in diese Frage meine Position einfließen.
Wie könnte es anders sein?
Natürlich, sonst würden Sie die Frage gar nicht ver-
stehen.
Meine Frage lautet: Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass der Änderungsantrag zu dem Gesetzent-
wurf, den die Grünen im Rechtsausschuss und auch
heute im Plenum vorgelegt haben, nach seinem Wort-
laut, der Begründung und seinem Sinngehalt die Lücken,
die sich bis zum Jahr 2004, als der Art. 1 a des EGStGB
aufgehoben worden ist, auftaten, schließt, und zwar ex-
plizit bezogen auf Zeiträume in der Vergangenheit, wäh-
rend Sie mit Ihrem Gesetzentwurf, den Sie inhaltlich
richtig wiedergegeben haben, ein Gesetz formulieren,
das nicht nur für die vergangenen Fälle gilt, sondern
auch für alle zukünftigen Fälle gelten wird, in denen
keine neuen Tatsachen gelten, sondern alte Tatsachen zu
einer neuen Entscheidung nachträglicher Sicherungsver-
wahrung verwendet werden können?
Ich nehme zur Kenntnis, dass Ihr Änderungsantragzwar dem Petitum, diese Lücke schließen zu wollen,Rechnung trägt – das habe ich eben bereits konzediert;man könnte noch die eine oder andere Formulierung fin-den; es gibt auch einen Formulierungsvorschlag desBundesrates –, aber in einem Punkt teile ich Ihre Auffas-sung, die Sie schon im Rechtsausschuss vertreten haben,nicht, Herr Montag, nämlich dass mit unserer Formulie-rung nicht nur die Altfälle gelöst werden, sondern dasswir zu einer solchen Auffächerung kommen, dass sozu-sagen jede rechtliche Unmöglichkeit die Anwendung er-lauben würde. Das hieße – überspitzt gesagt –, da esunmöglich ist, wegen Ladendiebstahls in Sicherungsver-wahrung zu kommen, könnte jemand bei sophistischerBetrachtung sagen: Da das unmöglich ist, verhängen wirnachträglich Sicherungsverwahrung. Glauben Sie ei-gentlich, dass die Richter oder wir verrückt gewordensind? Das ist doch überhaupt nicht gemeint. Nur bei bös-williger, sophistischer Auslegung unseres Gesetzent-wurfs kann man uns unterstellen, dass wir sozusagenmehr Fälle regeln wollen als diejenigen, die aus der Be-gründung deutlich erkennbar werden.
Herr Montag, es nutzt Ihnen gar nichts, mich in dieBredouille zu bringen. Ich hätte Ihre Frage verstanden,auch wenn Sie nicht ein eigenes Statement abgegebenhätten, anders als viele andere, die es zunächst akustischhören müssen. Wenn sie diese Hürde überwunden haben,haben sie als Nächstes Schwierigkeiten, es intellektuellzu verstehen.
Selbst wenn sie das geschafft haben, haben sie nochlange kein Verständnis. – So, nun können Sie sich set-zen.
Ich will zur nächsten Frage kommen. Was in diesemZusammenhang geradezu schofel ist, ist das, was heutebei Ihnen, Frau Jelpke, angeklungen ist, genauso wie inder Sachverständigenanhörung. Sie tun so, als wäre dieDDR ein größerer Rechtsstaat gewesen, als es die Bun-desrepublik Deutschland ist.
Metadaten/Kopzeile:
8914 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Jürgen GehbDazu kann ich nur eines sagen: Bei so schillernden Ge-stalten wie der früheren Justizministerin Hilde Benjamin,auch „Bluthilde“ genannt, uns zu unterstellen, dass wirsozusagen nationalsozialistisches Gedankengut oderRechtsgut in unserem Strafgesetzbuch haben – Sie soll-ten die Geschichte einmal genau nachlesen; diese Dingekamen vom Kaiserreich über die Weimarer Republikund fanden 1933 in einem Gesetz gegen Gewohnheits-verbrecher ihren Niederschlag –, und so zu tun, als hättedie DDR aus dem Grund, nicht nationalsozialistisch seinzu wollen, das verhindert, während die Bundesrepublikdas völlig unreflektiert übernommen hätte, ist ein dickerHund. Das kann das ganze Haus nicht auf sich sitzen las-sen. Das sage ich, glaube ich, im Namen aller Kollegin-nen und Kollegen.
Ich hoffe, dass wir uns nicht noch 15-mal zur Nach-besserung von Regelungslücken betreffend die Proble-matik der Sicherungsverwahrung treffen werden. Wirwerden uns sicherlich noch einmal treffen, wenn es umdie nachträgliche Sicherungsverwahrung von nach Ju-gendstrafrecht Verurteilten geht, allerdings zu einemZeitpunkt, wenn die Betreffenden schon längst erwach-sen sind, zum Beispiel den Fall, in dem ein 17-Jährigerwegen Mordes verurteilt wird und dann, wenn er 27 ist,die Prognose gestellt wird, ob man ihn herauslassenkann oder nicht; das will ich nur ankündigen. Ansonstenhoffe ich, dass wir unseren Gesetzentwurf auch ohneIhre Zustimmung mit der notwendigen Mehrheit ins Ge-setzblatt bringen, damit am 27. April nicht der hochgra-dig gefährliche Sexualstraftäter in Brandenburg wiederherauskommt. Ich bitte diejenigen, die mehr Zeit undRaum verwenden wollen, zu den Eltern der Opfer zu ge-hen und diesen zu erklären, warum wir mehr Zeit undRaum brauchen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurReform – –Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion DieLinke bezweifelt die Beschlussfähigkeit des Hauses.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns imSitzungsvorstand beraten. Der Sitzungsvorstand bejahtdie Beschlussfähigkeit.
Deshalb kommen wir zur Abstimmung über den vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge-setzes zur Reform der Führungsaufsicht. Der Rechtsaus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/4740, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 16/1993 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Hierzu liegen zwei Änderungsan-träge der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor,über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Än-derungsantrag auf Drucksache 16/4775? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag istmit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD undder CDU/CSU bei Gegenstimmen der Grünen und Ent-haltung der FDP abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-sache 16/4776? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Dieser Änderungsantrag ist ebenfalls mit den Stimmender Fraktionen Die Linke, der SPD und der CDU/CSUbei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Ent-haltung der Fraktion der FDP abgelehnt.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmenvon SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bünd-nis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke und beiEnthaltung der FDP angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stim-menergebnis wie in zweiter Beratung angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines DrittenGesetzes zur Änderung des Künstlersozialver-sicherungsgesetzes und anderer Gesetze– Drucksachen 16/4373, 16/4419 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 16/4648 –Berichterstattung:Abgeordnete Angelika Krüger-LeißnerHierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktiondes Bündnisses 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8915
(C)
(D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Angelika Krüger-Leißner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich möchte es ganz deutlich am Anfang mei-ner Rede sagen: Die dritte Novelle der Künstlersozial-versicherung ist ein großer Wurf. Damit stellen wir diesoziale Absicherung für freiberufliche Künstler und Pu-blizisten auf eine solide Grundlage. Lassen Sie mich dasan fünf Punkten belegen:Erstens lösen wir das Finanzierungsproblem, dasdie KSV hat, aus dem System heraus. Das heißt, wederdie Versicherten noch die abgabepflichtigen Unterneh-men noch die Steuerzahler werden zusätzlich belastet.Zweitens schaffen wir Abgabe- und Beitragsgerechtig-keit auf beiden Seiten, bei den beitragszahlenden Künst-lern und Publizisten und auch bei den abgabepflichtigenVerwertern. Drittens sind eine stabile Finanzierung undeine breite Akzeptanz die Garantie für eine gesicherteZukunft der Künstlersozialversicherung, und das wollenwir alle.
Viertens. Wir geben damit auch eine schlüssige Ant-wort auf die wachsende Bedeutung einer Branche, undzwar der Kulturwirtschaft.Fünftens. Wir stärken die Basis für die kulturelleVielfalt in Deutschland.Ich finde, diese fünf Punkte sprechen für sich und fürdiese Novelle.
Die Kritik an der Novelle, die in den letzten Wochenlaut geworden ist, konnten wir nachhaltig entkräften.Das betrifft zum Beispiel die Forderung nach einer ge-setzlichen Definition des Künstlerbegriffs, um mehrRechtssicherheit erreichen zu wollen. Dieses Ansinnenhalte ich schlicht für eine Illusion. In § 2 des Künstlerso-zialversicherungsgesetzes sind die Definitionen von„Künstler“ und „Publizisten“ ganz bewusst sehr allge-mein gehalten. Auf dieser Grundlage ist ein Katalog er-stellt worden, der die von der Künstlersozialkasse aner-kannten künstlerischen und publizistischen Berufebenennt. Das ist ein Katalog, der vom Beirat der KSKimmer wieder überarbeitet und ergänzt wird. In diesemBeirat sitzen Vertreter aller beteiligten Verbände. Des-halb halte ich gerade dieses Gremium für am besten ge-eignet, um hier immer wieder einen breiten Konsens zufinden.
– Besser. Denn Arbeitswelt und Berufsbilder, insbeson-dere der Kulturschaffenden, unterliegen einem ständigenWandel. Darauf jedes Mal gesetzgeberisch reagieren zuwollen, wäre ein viel zu schwerfälliges Verfahren.Sicherlich wird es immer wieder Fälle geben, dienicht eindeutig zuzuordnen sind. Im Zweifelsfall müssendie Sozialgerichte entscheiden und den Künstlerbegriffeingrenzen.
Ich kann darin – im Gegensatz zu dem einen oder ande-ren Kollegen hier – keinen Mangel erkennen.
Im Gegenteil: Über die Jahre hat sich in der Praxis dasZusammenwirken von Künstlersozialkasse, ihrem Beiratund den Sozialgerichten bewährt und eingespielt. Wa-rum sollten wir das, was gut ist, infrage stellen?
Lassen Sie mich dazu noch einen Hinweis geben.Schauen Sie einfach einmal über die Grenzen unseresLandes hinweg! In Österreich gibt es ein ganz ähnlichesVersicherungssystem für Künstler. Auch in der Alpenre-publik bemüht man sich derzeit um eine Novellierung.In einem zentralen Punkt – man höre und staune – willman sich am deutschen System orientieren. Die bishe-rige Orientierung an Kriterien der künstlerischen Quali-tät soll wieder abgeschafft werden und unter ausdrückli-cher Bezugnahme auf die bewährte Praxis inDeutschland ausgestaltet werden. Ich glaube, dazu brau-che ich jetzt nichts weiter zu sagen.
Zurückweisen möchte ich auch die Auffassung eini-ger Kollegen, dass die Versicherten mit der verstärktenÜberprüfung unter den Generalverdacht des Miss-brauchs gestellt werden. Schauen Sie einmal genau hin:Überprüft werden soll eine Stichprobe von 5 Prozent.Bisher sind es jährlich 2,5 Prozent der Versicherten, dieNachweise vorlegen müssen. Auf der Verwerterseitesind es demnächst aber annähernd 100 Prozent, die wirmithilfe der Deutschen Rentenversicherung auf ihreMelde- und Abgabepflicht überprüfen werden.Ich möchte an dieser Stelle auch daran erinnern, dasses sich bei der Künstlersozialversicherung um eine be-sondere Begünstigung freiberuflicher Künstler und Pu-blizisten gegenüber sonstigen Selbstständigen handelt.
Neben Versichertenbeiträgen und der Künstlersozialab-gabe werden 20 Prozent der Einnahmen durch Steuergel-der finanziert. Gegenüber dem Steuerzahler halte ichKontrollen schlicht für ein Gebot der Transparenz.
Gegenüber den Versicherten ist es ein Gebot der Fair-ness, dass wir dafür sorgen, dass der Ehrliche den Un-ehrlichen nicht mitfinanziert.
Metadaten/Kopzeile:
8916 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Angelika Krüger-Leißner
Im Hinblick auf die Zugangsberechtigung von frei-beruflichen Künstlern und Publizisten zur KSV gilt eineEinkommensgrenze von jährlich 3 900 Euro. Umge-rechnet auf den Monat muss ein Selbstständiger alsoüber ein Einkommen aus künstlerischer und publizisti-scher Tätigkeit von mindestens – man höre und staune –325 Euro verfügen. Das halte ich für vertretbar. Wernoch geringere Einkünfte hat, kann nur schwerlich alshauptberuflich tätiger Künstler und Publizist bezeichnetwerden. Da handelt es sich eher um einen Nebenerwerb.Hierfür haben wir die KSV nicht ins Leben gerufen. Da-für ist sie nicht zuständig. Im Falle von Bedürftigkeitgreifen in solchen Fällen nachgeordnete Sicherungssys-teme unseres Sozialstaates.
Ich möchte in diesem Zusammenhang aber sagen,dass die genannte Einkommensgrenze nicht starr ge-handhabt wird. Das ist auch in der Praxis heute nicht derFall. Gerade bei jüngeren Nachwuchskünstlern wird da-rauf Rücksicht genommen, dass sie eine gewisse Anlauf-zeit brauchen, um sich als Selbstständige in ihrem Berufzu etablieren. Deshalb haben wir geregelt, dass sie in denersten drei Jahren dieses Mindesteinkommen nicht errei-chen müssen. Zudem kann die Berufsanfängerzeit ohneNachteile unterbrochen werden: durch Erziehungszeiten,Wehr- und Zivildienst oder auch vorübergehend abhän-gige Beschäftigung.Wir wissen, dass das Einkommen freiberuflich tätigerKünstler großen Schwankungen unterliegt. Das hat dieKSK bisher auch immer berücksichtigt. Innerhalb vonsechs Jahren darf die Einkommensgrenze zweimal unter-schritten werden, ohne dass jemand aus dieser Versiche-rung ausgeschlossen wird. Das ist meines Erachtens sehrausgewogen und auch sehr solidarisch. Dabei bleibenwir.
Ich möchte noch auf zwei Dinge hinweisen. Ungeach-tet der großen Freude über das in dieser Novelle Er-reichte bleiben uns einige Aufgabenfelder, die sich alleinaus der Veränderung der Arbeitswelt, der Produktionsbe-dingungen sowie der Erwerbs- und Beschäftigungsfor-men gerade in der Kulturwirtschaft ergeben. Wir sehenmit eigenen Augen, dass es immer schwieriger wird, densozialversicherungsrechtlichen Status von Kultur-schaffenden eindeutig zu bestimmen. Das führt in derPraxis oftmals dazu, dass ein und dieselbe Person imLaufe ihrer Erwerbsbiografie zwischen den Sicherungs-systemen hin- und herspringen muss. Dass es dabei zuteilweise massiven Nachteilen gegenüber eindeutig alsabhängig Beschäftigte oder als Selbstständige definier-ten Gruppen kommt, möchte ich an dieser Stelle nur an-deuten. Von diesem Problem ist natürlich auch die KSVbetroffen. Dem müssen wir uns zuwenden.Es gibt ein weiteres Problem, das wir genau beobach-ten müssen; da müssen wir in den nächsten Jahren gege-benenfalls auch Veränderungen in Angriff nehmen. Dassind die sogenannten Ein-Personen-GmbHs. Statt ihreAufträge wie bisher an Freiberufler zu vergeben und da-für die anfallende Abgabe zu entrichten, drängen zumBeispiel Verlage ihre Auftragnehmer dazu, eine GmbHzu gründen. Hintergrund ist, dass Zahlungen an eineGmbH nicht der Künstlersozialabgabe unterliegen. Sol-che Umgehungsversuche entsprechen natürlich nicht denIntentionen der Künstlersozialversicherung und müssenkünftig ausgeschlossen werden.
Das heißt, wir werden mit dem heutigen Beschlussüber die dritte Novellierung die Hände nicht in denSchoß legen; denn die Künstlersozialversicherungbraucht für die freiberuflich tätigen Künstler und Publi-zisten eine stabile und finanzierbare Grundlage; nur sokann sie nämlich wirksam werden.
Diese Novelle ist für mich ein klarer kultur- und so-zialpolitischer Fortschritt.
Frau Kollegin, ich möchte Sie an Ihre Redezeit erin-
nern. Das wäre ein gutes Schlusswort gewesen.
Oh ja, ich sehe ein Minus. Ich wollte eigentlich noch
einen Dank aussprechen. Darf ich das?
– Nein, das tue ich nicht. Haben Sie den nicht mitbe-
kommen?
Lassen Sie mich zum Schluss einen Dank ausspre-
chen.
Ich glaube, dass es in allen Fraktionen überwiegend Zu-
stimmung zu dieser Novelle gibt. Sie ist auch gut vorbe-
reitet worden, und zwar durch den runden Tisch. Da
möchte ich auch einen Dank an das Ministerium richten
sowie an die Enquete-Kommission. Die Enquete-Kom-
mission hat vor zwei Jahren die Anhörung durchgeführt.
Frau Kollegin, das ist ein langer Dank. Es ist auch
schön, dass Sie danken, aber Ihre Zeit ist deutlich über-
schritten. Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Okay. – Danke.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8917
(C)
(D)
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich greife natürlich gern die Worte meiner Vorrednerinauf,
dass die Künstlersozialversicherung eine Daueraufgabedieses Hauses ist. Ich will die Gelegenheit nutzen, daranzu erinnern, dass es die FDP gewesen ist,
die in den 80er-Jahren diese soziale Sicherung vonselbstständigen Künstlern und Künstlerinnen mit be-gründet hat. Man kann gar nicht oft genug sagen: DieseKünstlersozialversicherung hat kulturpolitische wie auchsozialpolitische Bedeutung.
Es war einfach so, dass vor der Einführung der Künstler-sozialversicherung viele Künstlerinnen und Künstlerkeinerlei soziale Absicherung hatten. Das war nicht ak-zeptabel. Deswegen bekennen wir uns dazu, dass diesesInstrument so wie in der Vergangenheit auch heute undin Zukunft leistungsfähig erhalten bleibt.
Im Übrigen, Herr Kollege Tauss, darf ich sagen, dassder Gesetzgeber manchen, wenn auch nicht allen Forde-rungen entspricht, die die FDP-Bundestagsfraktion vo-rausschauend bereits Anfang 2005 in ihrem Antrag „Fi-nanzierung der Künstlersozialversicherung sichern“erhoben hat.
Deswegen fällt es uns heute auch leicht, Herr Tauss, demvorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen. Ich sage esnoch einmal: Wir sehen in der Künstlersozialversiche-rung ein passendes Instrument, das für die Zukunft er-halten und weiterentwickelt werden soll.
Mit dem Gesetzentwurf wird auch die Finanzierungs-grundlage gesichert und Beitragsgerechtigkeit herge-stellt. Trotz der in der jüngeren Vergangenheit zugegebe-nermaßen positiven Entwicklung müssen weitereAnstrengungen zur Stabilisierung der Finanzen derKünstlersozialversicherung unternommen werden, umden Kostendruck auf Künstler und Verwerter im Rahmenzu halten. Das geschieht durch eine verstärkte Kontrolleder Verwerter von künstlerischen und publizistischenLeistungen. Diese wird den Prüfdiensten der DeutschenRentenversicherung übertragen, eine – das habe ich auchschon im Ausschuss gesagt – Lösung mit Augenmaß.Dass die Prüfung der Versicherten künftig durch einedauerhafte, jährliche Befragung in einer wechselndenStichprobe erfolgen soll, ist auch ein Punkt, der hilft, dieBeitragsgerechtigkeit zu stärken.Auch wenn wir zustimmen, will ich hier trotzdem sa-gen, dass es aus unserer Sicht einige Aspekte gibt, diebesser und klarer hätten gefasst werden können. Diesebleiben deshalb für uns auch weiter auf der Agenda. Somuss neben der Stärkung der Einnahmeseite auch dieAusgabenseite stärker kontrolliert werden, besondersdeshalb, weil die Zahl der Versicherten in der Künstler-sozialversicherung in den letzten Jahren stetig zugenom-men hat, um circa 5 Prozent pro Jahr.
Das ist eine, wie ich finde, enorme Ausweitung des Ver-sichertenkreises. Es geht nun darum, dieses besondereInstrument denen zu erhalten, die tatsächlich der solida-rischen Sozialkasse bedürfen,
also den Fördergedanken, der ja in dieser Konstruktionliegt und der FDP auch immer am Herzen lag, zu beto-nen.Nun muss ich doch meiner Vorrednerin Frau Krüger-Leißner widersprechen:
Wir sind schon der Meinung, es muss bei der Fassungdes Versichertenbegriffs noch ein Zwischending geben.Der Verweis auf den Katalog, der regelmäßig dadurcherweitert wird, dass sich Versicherte sozusagen in dieseListe einklagen, ist nicht der Weisheit letzter Schluss.Hier muss der Gesetzgeber schon seine Verantwortungwahrnehmen.
Wenn das nicht durch eine Rahmenformulierung für denBegriff des Versicherten möglich ist, dann muss ebenvon Zeit zu Zeit eine Aktualisierung bzw. Fortschrei-bung vorgenommen werden. In einem Rechtsstaat kannes nicht sein, dass sich die Betroffenen selber darumkümmern müssen. Hier ist also der Deutsche Bundestaggefordert.
Natürlich müssen wir dabei offen für neu entstehende,künstlerisch geprägte Berufsformen sein. Das habe ichauch bereits in der ersten Lesung gesagt.Zum Schluss noch zum Entschließungsantrag derGrünen. Herr Kurth, Sie verfahren da wieder so ein biss-chen nach dem Motto: Alles muss geregelt sein, mindes-tens aber vieles.
Metadaten/Kopzeile:
8918 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Heinrich L. Kolb
– Ja, aber dabei handelt es sich um eine Rahmenrege-lung, Herr Kollege Tauss. Im Antrag der Grünen dage-gen geht man vom Hölzchen zum Stöckchen und fordert,dass für sehr detailliert beschriebene Fälle geprüft wer-den soll, ob es Doppelzahlungen gibt, also ob Verlegerund künstlerische Funktion in einer Hand sind.Diese Abgrenzungsprobleme, Herr Kurth, mögen inder Praxis in dem einen oder anderen Fall vorkommen.
Ob die Größenordnung dieser Fälle aber tatsächlich denAufwand rechtfertigt, den eine Annahme Ihres Ent-schließungsantrages zur Folge hätte, bezweifle ich.
Das kann es eigentlich nicht sein. Das Anliegen, das Siein Ihrem Antrag formuliert haben, ist nicht ganz ver-kehrt. Deswegen werden wir uns bei der Abstimmungenthalten.Insgesamt tragen wir aber das Anliegen Fortentwick-lung der Künstlersozialversicherung im Herzen und wer-den auch in der Zukunft gerne bereit sein, an dieserwichtigen Aufgabe mitzuarbeiten.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gitta Connemann,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! AmEnde der Dreigroschenoper heißt es: „Was ist die Ermor-dung eines Mannes gegen die Anstellung eines Man-nes?“
Wie die Zeiten sich ändern: Heute ist eine FestanstellungWunsch und nicht mehr Schreckgespenst und im Kultur-bereich manchmal eher die Ausnahme.Mit diesen Worten von Brecht beginnt übrigens auchdas Buch „Wir nennen es Arbeit“. In diesem Buch wirddie digitale Boheme ausgerufen und werden die Freiheitund Zukunftsaussichten selbstständiger Kulturschaffen-der gefeiert.
Kritiker dagegen sehen darin Opfer von prekären Ar-beitsverhältnissen und eine Arbeitsplatzmisere. Die„FAZ“ hat es so zusammengefasst: Früher gab es dieanaloge Boheme,
das heißt Menschen in Cafés ohne Festanstellung undohne Internetzugang; heute gibt es die digitale Boheme,
das heißt Menschen in Cafés ohne Festanstellung, abermit Internetzugang.Alles vielleicht nur ein launiges, neues Etikett; aberdie Beobachtungen zum Wandel in der Kulturszenestimmen in jedem Fall. Denn Tatsache ist: Der Wandelim Kultur- und Kunstbereich ist greifbar. Er ist in rasan-ter Bewegung. Es gibt immer mehr Selbstständige indieser Kreativbranche, aus welchem Grund auch immer.Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Künstlerso-zialversicherung wider durch eine steigende Zahl vonVersicherten auf der einen Seite und den Streit um dieAnerkennung neuer Berufsgruppen auf der anderenSeite. Während früher in manchen Bereichen der Kunstdie Frage nach Geld verpönt war und die Frage nach derRente häufig gar nicht gestellt wurde, lesen wir bei derdigitalen Boheme – ich zitiere –:… die Frage nach der eigenen Altersvorsorge, nachetwaiger Arbeitsunfähigkeit und Pflegebedürftig-keit wird ohne staatlich-strukturelle Hilfe und Insti-tutionen nicht zu lösen sein. Mit 35 lässt sich sehrgut von der Hand in den Mund leben, mit 75 wirddas zum Problem …
Die Autoren, beide selbst Kreative und Anfang 30,würdigen den Wert der sozialen Sicherung von Kultur-und Medienschaffenden durch die Künstlersozialversi-cherung. Auch aus diesem Vertrauen junger Kreativerbegründet sich aus meiner Sicht unser politischer Auf-trag, nämlich Bestand und Funktionsfähigkeit der Künst-lersozialversicherung zu stärken.Die erste Lesung hat gezeigt, dass sich die Fraktionenim Grundsatz einig sind: Die Künstlersozialversicherungist unverzichtbar.
Sie ist auch Baustein dafür, dass sich künstlerische Frei-heiten entfalten können. Denn vor ihrer Einführung hat-ten selbstständige Künstler und Publizisten häufig keinesoziale Absicherung; heute sind sie gegen die Risikenvon Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Alter geschützt.Das Instrument hat sich bewährt. Aber auch eine erfolg-reiche Sicherung braucht eine rechtzeitige Erneuerung,um leistungsfähig zu bleiben. Wir sehen es bei der all-jährlichen Haushaltsdebatte um den Bundeszuschuss;denn die Versichertenzahlen steigen und damit der Fi-nanzbedarf.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8919
(C)
(D)
Gitta ConnemannDie von der Künstlersozialkasse erfassten Honorarekönnen diesen Bedarf bislang kaum ausgleichen. So istder Abgabesatz für die Verwerter gestiegen. Leider er-füllt nicht jeder Unternehmer diese Abgabepflicht, man-cher aus Unkenntnis nicht. Wir brauchen deshalb einebessere Überprüfung der Abgabepflicht. Die Künst-lersozialkasse kann dies nur eingeschränkt leisten. Des-halb wird die Aufgabe zukünftig von der DeutschenRentenversicherung wahrgenommen werden.Dabei ist unstrittig auch die Aufklärung über die Ab-gabepflicht wichtig. Diese Information, Herr KollegeKurth, wird von der KSK heute schon gegeben. Ich emp-fehle Ihnen insoweit den geneigten Blick auf die Inter-netseite der Künstlersozialkasse.
Dort finden Sie auf sehr viele Fragen eine Antwort undHinweise auf eine mögliche Abgabepflicht.Die KSK will dieses Angebot übrigens noch aus-bauen und befindet sich insoweit bereits im Gesprächmit der Rentenversicherung. Ihr Entschließungsantragist also bereits heute überholt.Auch die Angaben der Versicherten zum Arbeitsein-kommen müssen systematisch überprüft werden. Das istAufgabe der KSK, ebenso die Abklärung von Abgren-zungsfragen bei den Begrifflichkeiten des Künstlers unddes Publizisten.Stichprobenartig werden zukünftig Versicherte aus-gewählt, die ihre tatsächlichen Arbeitseinkommen derletzten vier Jahre offenlegen müssen. Das ist richtig so.Denn anders, als es der Antrag der Linken vermutenlässt, ist nicht Ziel dieser Prüfung, die Berechtigten aus-zuschließen. Es geht vielmehr darum, nur den wirklichBerechtigten den Zugang zu diesem Sondersystem zu er-möglichen. Darum handelt es sich. Denn selbstständigeKünstler und Publizisten sind privilegiert.
Für eine dauerhafte Akzeptanz eines solchen Sonder-systems ist es deshalb zwingend erforderlich, dass nichtder Hauch des Eindrucks entsteht, Künstler und Publi-zisten würden sich nicht derselben Überprüfung stellenmüssen wie alle anderen Versicherten in allen anderenSozialversicherungssystemen. Deshalb ist Ihr Antrag,meine Damen und Herren von der Linken, vollkommenabsurd.Es war auch ein Wunsch der Künstler und Publizis-ten. Sie waren wie die Verwerter Partner des bereits er-wähnten runden Tisches. Sie haben diesen Gesetzent-wurf beraten und befürwortet. Das Ziel muss sein, dassdie Künstlersozialversicherung weiter handlungsfähig istund günstige Versicherungsbeiträge bieten kann.Das heißt nicht, dass mittelfristig nicht weiterer Dis-kussionsbedarf gegeben wäre. Damit meine ich – wieauch der Kollege Kolb – übrigens auch nicht die vomBündnis 90/Die Grünen angesprochenen Doppelzahlun-gen. Es gibt im Kultur- und Medienbereich – sicherlichunstrittig – hybride Strukturen. Aber dem von Ihnen ge-nannte Fall lässt sich heute bereits mit einem klugen Ver-tragsmanagement begegnen, bei dem übrigens auch dieKSK beratend zur Seite steht.
Handlungsbedarf gibt es auch nicht in dem von denLinken aufgeworfenen Sinne. Die Forderung, dass zu-künftig vermutet werden soll, Künstler und Publizistenseien selbstständig, ist, wie ich finde, hanebüchen. Diesverstößt nicht nur gegen alle Regelungen des geltendenSozialversicherungsrechts, sondern auch gegen dasSchutzbedürfnis der Künstler und Publizisten.
Deshalb hat sich die Enquete-Kommission „Kultur inDeutschland“ bereits in der letzten Legislaturperiodeeinstimmig dagegen ausgesprochen, ein solches Wahl-recht einzuführen. Diese Empfehlung, verehrte Kollegender Linken, ist mit den Stimmen Ihrer Fraktion in dieserLegislaturperiode bestätigt worden.
Das haben Sie bei der Formulierung Ihres Antrages viel-leicht übersehen.Die Enquete-Kommission prüft aber zurzeit weiterenHandlungsbedarf. Denn dazu ist sie mit den Stimmen al-ler Fraktionen des Hauses eingesetzt worden. Der Be-richt wird im Herbst dieses Jahres vorliegen und Hand-lungsempfehlungen an den Gesetzgeber enthalten. Dasind wir uns sicherlich einig, Herr Kollege Otto. DieseEmpfehlungen können dann Grundlage einer Nachjus-tierung sein.Es gibt offene Fragen, so im Zusammenhang mit derBeendigung von Versicherungsverhältnissen oder mitder Höhe der Mindesteinkommensgrenze. Der Kreis derVersicherten wirft immer neue Probleme auf, da der Ge-setzgeber bewusst eine offene Definition von Künstlernund Publizisten gewählt und keine abschließende Listean Berufen erstellt hat. Damit ist weiter Raum für dieSozialgerichte geschaffen worden. Die Kollegen Kurthund Kolb haben in der letzten Debatte vollkommen zu-treffend auf das Trauerrednerurteil hingewiesen.Am Anfang dieser Rede stand die Boheme. Balzachat einmal über sie gesagt:
Alle diese jungen Menschen sind größer als ihr Un-glück, sie befinden sich unterhalb des Reichtums,aber stehen immer über ihrem Geschick.
Für den Reichtum bleiben auch heute die Künstlerselbst verantwortlich. In einer Welt aber, in der die Krea-tivität die Zukunftsreserve dieses Landes darstellt, ist esmehr als eine gesellschaftliche Frage, ja es ist unser poli-tischer Auftrag, die Entfaltung künstlerischer Kreativität
Metadaten/Kopzeile:
8920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Gitta Connemannmit geeigneten sozialen Rahmenbedingungen abzusi-chern. Fangen wir heute damit an!
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istsehr erfreulich, dass wir alle fraktionsübergreifend dieBedeutung der Künstlersozialkasse anerkennen und wür-digen.
Ich denke, wir sind uns auch darin einig, dass dieKünstlersozialkasse vor enormen Herausforderungensteht. Neue Technologien führen zu neuen Berufsbil-dern. Die von Ihnen angesprochene digitale Boheme istdafür nur ein Beispiel und Ausdruck dafür, dass es neueBerufsbilder im Bereich der Kreativbranche gibt.Der Kunstbegriff verändert sich und obliegt einerständigen Debatte. Die Zahl der über die Künstlersozial-kasse Versicherten hat sich in den Jahren seit ihrer Grün-dung deutlich erhöht. Das führt natürlich zu einem finan-ziellen Mehrbedarf. Insoweit sind wir uns einig.Wenn es jedoch um die Frage geht, wie man dieKünstlersozialkasse weiterentwickeln soll, dann gehenunsere Vorstellungen offensichtlich auseinander. Mitdem vorliegenden Gesetzentwurf soll nun die Über-prüfung der verwertenden Unternehmen sowie dieÜberprüfung der versicherten Künstler und Publizistenausgeweitet werden. Bei der ersten Lesung habe ich dieSorge geäußert, dass diese verschärfte Überprüfungwomöglich zu einer Bestandsreinigung führen soll, dieweniger den reichen und prominenten Künstlern undPublizisten schaden kann. Sie trifft vor allen Dingendiejenigen Künstler und Publizisten, deren Einkommenaus selbstständig ausgeübter künstlerischer Tätigkeitunter der Mindesteinkommensgrenze von 3 900 Europro Jahr liegt.
Es hat mich stutzig gemacht, dass Sie in den bisherigenDebatten immer im Zusammenhang mit finanziellenEngpässen über eine Überprüfung diskutiert haben. In-sofern fühle ich mich in meinen Befürchtungen, die auchVerdi geäußert hat, eher bestärkt. Deswegen können wirdem jetzigen Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Wir von den Linken meinen, die Verschärfung derÜberprüfung ist nicht notwendig, und das aus folgendenGründen: Zum Ersten gab es, historisch gesehen, einZweischrittverfahren zur Ermittlung der Beiträge. Daswurde dann komplett in ein Schätzverfahren umgewan-delt. Diese Umwandlung erfolgte aber nicht auf Wunschder Künstler und Publizisten, sondern deswegen, weildie Verwaltung der KSK es so gefordert hat. Ihr war derAufwand zu groß.Zum Zweiten gibt es bereits heute Überprüfungen.Die zeigen sehr eindeutig, dass die Fehlerquoten sehr ge-ring sind.
Zum Dritten gibt es für diese geringen Fehlerquoteneinen Grund. Vom geschätzten Einkommen ist natürlichdie Höhe der Beiträge zur Krankenkasse und zur Renten-versicherung abhängig. Wer nun zu hohe Einkommenangibt, muss zu hohe Beiträge zur Krankenkasse zahlen.Wer aber wiederum zu niedrige Einkommen angibt, be-kommt geringere Zuschüsse zur Rentenversicherung underwirbt damit auch niedrigere Ansprüche im Hinblickauf die Rentenversicherung. Insofern gibt es strukturellgar keinen Anreiz für die Versicherten, ihr Einkommenniedriger oder höher anzugeben.Zum Vierten bedeutet eine Überprüfung immer einenenormen Mehraufwand für die Künstler und Publizisten,den wir für unverhältnismäßig halten.
Anstatt die Überprüfung auszuweiten, sollte dieKünstlersozialkasse, die KSK, weiterentwickelt werden.Dazu haben wir im Ausschuss verschiedene Änderungs-vorschläge unterbreitet; ich möchte hier nur auf einenverweisen. Gegenwärtig führt die Aufnahme eines ge-ringfügigen und befristeten Beschäftigungsverhältnisseszum Ausschluss aus der Künstlersozialkasse. Dasmuss man sich einmal vorstellen: Ein Künstler findet ge-rade partout keinen Auftraggeber für seine Kunst, hätteaber zum Beispiel im Rahmen eines Filmprojektes dieMöglichkeit, für – sagen wir einmal – zwei Monate einegeringfügige Beschäftigung von weniger als 15 Stundenpro Woche aufzunehmen. Das kann er nach jetziger Ge-setzeslage nicht. Er muss sich also entscheiden, weiterohne Geld dazusitzen oder kurzfristige Mehreinnahmenzu haben und dafür aus der Künstlersozialkasse hinaus-zufliegen. Ich finde, wenn eine geringfügige Beschäfti-gung nicht mehr als 15 Stunden pro Woche umfasst undsich nicht über mehr als zwei Monate erstreckt, danndarf das nicht zu einem Ausschluss aus der Künstlerso-zialkasse führen. Alles andere entspricht einfach nichtder Realität in der heutigen Kreativbranche.
Es ist ein Armutszeugnis für eine Kulturnation, wennihre Künstlerinnen und Künstler in Unsicherheit und Ar-mut leben müssen. Die Statistiken zeigen, dass mit zu-nehmendem Alter auch die materielle Not zunimmt. DieLösung dieses Problems wird mit dem hier vorliegendenGesetzentwurf nicht in Angriff genommen. Aber genauder Lösung dieses Problems werden wir uns zukünftigintensiv widmen müssen.Besten Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8921
(C)
(D)
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr verehrte Damen und Herren! Die Rednerin der SPDhat im Hinblick auf diesen Gesetzentwurf von einemgroßen Wurf gesprochen.
Ich muss Ihnen sagen: Ein großer Wurf sähe anders aus.
Natürlich ist es – deswegen stimmen wir auch zu –
ganz sinnvoll und vernünftig, Abgabenpflichten und Ver-werterpflichten stärker zu überprüfen. Aber ein großerWurf – der in der Tat auch notwendig wäre – würde sichdem von Frau Connemann angesprochenen Wandel vielintensiver zuwenden. Er würde einmal analysieren, wiesich die Produktionsstrukturen und -bedingungen ei-gentlich verändert haben. Wenn ich Ihnen das jetzt dar-lege, Herr Kolb, dann werden Sie auch sehen, warum un-ser Entschließungsantrag nicht obsolet ist.
Ich habe mir einen Satz aus Ihrer Rede, FrauConnemann, direkt aufgeschrieben. Sie sagen, die Zahlder selbstständigen Künstler steigt, warum auch im-mer. Ich sage Ihnen einmal warum: Hauptursache sindOutsourcing-Strategien der verschiedenen Unternehmenin der Kulturwirtschaft, um Personalkosten zu senken.
Wir haben weiterhin einen Kostensenkungsdruckdurch sinkende öffentliche Kulturausgaben; von 2001auf 2004 sind das minus 6,2 Prozent. Auch da wird ver-stärkt auf Auslagerungen zurückgegriffen. Zum Beispieldie festen Ensembles in den Theatern schrumpfen aufein Minimum, da diese verstärkt auf Gastspiele zurück-greifen, die dann wiederum mit freien Schauspielern ar-beiten.Im Entschließungsantrag ist auch noch einmal die be-sondere Entwicklung im Verlagswesen erwähnt, woLeute ausgegliedert werden, die als unabhängige Pro-duktions- und Produzentenleiter weitere Produzenten be-schäftigen, sich also in dieser Doppelrolle als Subunter-nehmer und Auftraggeber und Auftragnehmer befinden.
Das ist auf jeden Fall – Sie streiten das nicht ab, HerrTauss – die Ursache dafür, warum sich die Versicherten-zahlen in den letzten Jahren verdreifacht haben und wa-rum die Verwerterzahlen sich nur in etwa verdoppelt ha-ben.
An dieser Stelle geht die Schere auseinander. Auf dieseEntwicklung geben Sie absehbar keine Antwort.
Wir versuchen mit unserem Entschließungsantrag,wenigstens eine dieser Fehlentwicklungen anzuspre-chen.
Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger, als dassdiese Regierung ihre Kapazitäten und Möglichkeitennutzt,
um das Problem einmal zu erheben und für diese Ent-wicklung eine Lösung vorzuschlagen.
Wir sind schon sehr bescheiden. Da hat nun die Regie-rung bei diesem Gesetzesvorhaben – es ist ja ein relativkleines Gesetz – schon allein zu dem Entwurf ein Büch-lein – recht stabil, Hardcover – mit 250 Seiten herausge-bracht.
Wenn man dann nach Daten sucht in diesem Buch, diedie von mir beschriebenen Veränderungen in den Pro-duktionsstrukturen beschreiben könnten, findet mannichts. Der Teil zum Arbeitsmarkt umfasst circa sechsSeiten, ist sehr allgemein, und es fehlt jegliche Daten-basis. Das trifft auch genau das, was das WZB in derAnhörung im Jahr 2004 vor der Enquete-Kommission„Kultur in Deutschland“ gesagt hat. Frau Connemann,Sie sind da ja die Vorsitzende. Da hat das WZB schonbeklagt, dass es eine mangelhafte Datenlage gibt unddass man die Funktionsweisen und Mechanismen aufden Arbeitsmärkten nicht so analysieren kann, wie es fürdie selbstständigen Künstlerinnen und Künstler erforder-lich wäre.
Unser Entschließungsantrag ist mithin überhauptnicht überholt, sondern deutet an dieser Stelle auf eineLücke im Regierungshandeln hin, die in der letzten Le-gislaturperiode, aber auch jetzt mit der breiten Mehrheitder Großen Koalition bei weitem nicht geschlossen wird.Deswegen kann man von einem großen Wurf wahrlich
Metadaten/Kopzeile:
8922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Markus Kurthnicht sprechen, wohl aber von einem vernünftigen Ge-setz.
– Und jetzt, Frau Connemann, rufen Sie mir hier zu, ichsolle auf die Ergebnisse der Enquete-Kommission war-ten.
Ja, die Veränderungen im Künstlergewerbe vollziehensich schneller, als die Enquete-Kommission mit ihrenBeratungen nachkommen kann. Darauf kann man nichtwarten. Handeln sollte, Herr Thönnes, die Regierung.Sie sollte relativ schnell auf diese drängenden Problemeeine Antwort geben.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab-stimmung über den von der Bundesregierung einge-brachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desKünstlersozialversicherungsgesetzes und anderer Ge-setze. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4648,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache16/4373 und 16/4419 anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Ge-genstimmen der Fraktion die Linke angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit mit demselben Stimmenergebnis wie in zweiterLesung angenommen.Abstimmung über den Entschließungsantrag derFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksa-che 16/4778. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerEntschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPDund CDU/CSU bei Gegenstimmen der Grünen und Ent-haltung der Fraktion Die Linke und der FDP abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenKerstin Müller , Volker Beck (Köln),Marieluise Beck , weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNENHumanitäre Katastrophe in Darfur– Drucksachen 16/3526, 16/4616 –Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktiondes Bündnisses 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minutenerhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann istdas so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nicht zum ersten Mal reden wir heute über den schlei-chenden Völkermord in Darfur. Die Fakten sind be-kannt: Der blutige Bürgerkrieg der sudanesischen Regie-rung gegen ihre eigene Bevölkerung in Darfur hat bereitsüber 300 000 Menschen das Leben gekostet. Über zweiMillionen Menschen sind vertrieben. Hunderttausende– so die Antwort der Bundesregierung – sind von huma-nitärer Hilfe abgeschnitten. Vor allen Dingen sind dieMassaker an der Zivilbevölkerung dramatisch. Zudemdauern die Luftangriffe an.Die UNO hat mit der Resolution 1706 bereits eine ro-buste Friedensmission zum Schutz der Menschen inDarfur beschlossen. Dass sich aber die sudanesische Re-gierung immer noch weigert, diese UN-Mission insLand zu lassen, und jetzt auch eine gemeinsame Missionvon UNO und Afrikanischer Union sabotiert, dient inEuropa leider oft dazu, wortreich die eigene Ohnmachtzu beklagen. Tatsächlich hat der Sudan mit seinenSchutzmächten China und Russland wichtige Trümpfein der Hand. Diese Trümpfe kann der Sudan aber nurdeshalb ausspielen, weil der Rest der Welt keine ent-schlossene Initiative ergreift. Das muss sich ändern.
Ich möchte hier auf die Antwort auf unsere GroßeAnfrage eingehen. Ausführlich zählen Sie die geleistetehumanitäre Hilfe auf, die zweifelsfrei von großer Be-deutung ist. Ich möchte an dieser Stelle – ich denke,auch in Ihrem Namen – ausdrücklich allen immer nochvor Ort tätigen humanitären Organisationen für ihrenmutigen Einsatz danken. Die Situation wird immerschwieriger; umso beachtlicher ist es, dass die Organisa-tionen dort weiterhin den Menschen helfen.
Allerdings – da komme ich zu einem entscheidendenPunkt – verstecken Sie sich bei der Frage von Sanktio-nen der Europäischen Union hinter der Feststellung,UN-Sanktionen seien effektiver. Das ist zwar theoretischrichtig, praktisch bedeutet das aber leider Untätigkeit;denn wie wir alle wissen, blockieren China und Russ-land zurzeit im UN-Sicherheitsrat.Daher ist es an der Zeit, dass die Europäische Unionendlich vorangeht. Sie muss gezielte, personenbezogeneSanktionen verhängen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8923
(C)
(D)
Kerstin Müller
Wir machen das ja schon im Fall Belarus, im Fall Sim-babwe. Ich hoffe, dass es uns ähnlich wie dem Men-schenrechtsausschuss – seine interfraktionell vereinbarteEntschließung enthält das nämlich auch – gelingt, dieseForderung mit einer gemeinsamen Entschließung desBundestages zum Ausdruck zu bringen.Wichtig wäre auch, den Vereinten Nationen und derAfrikanischen Union demonstrativ eine Unterstützungder gemeinsamen Mission – wie auch immer sie ausse-hen mag – anzukündigen. Es muss bei dieser Unterstüt-zung gar nicht um größere Truppenkontingente gehen.An dieser Stelle wird gern die Debatte geführt – soauch in der Diskussion um Afrika –, ob eine Militärinter-vention gegen den Willen der sudanesischen Regierungzu befürworten ist oder nicht. Das ist – ich will es hiersehr deutlich sagen – gegenwärtig eine Scheindebatte.Es kommt jetzt darauf an, effektiven Druck auf die Re-gierung in Khartoum auszuüben, damit sie die Umset-zung der bereits beschlossenen Mission nicht weiter sa-botiert.
Das ist das Gebot der Stunde. Darum muss es uns ersteinmal gehen.Wir müssen für die sudanesische Regierung den Preisihrer Katz-und-Maus-Politik endlich gemeinsam in dieHöhe treiben. Wir brauchen sofortige gezielte Sanktio-nen der EU. Dafür sollte sich die Bundesregierung ein-setzen. Sie sollte den Sicherheitsrat dazu drängen – auchdas ist bereits beschlossen –, ein Verbot militärischerFlüge über Darfur durchzusetzen, damit das sudanesi-sche Militär nicht mehr ungehindert eine Offensive ge-gen die Bevölkerung in Darfur fliegen kann, also keineBomben mehr mit den Antonows auf die Dörfer abwer-fen kann. Das darf nicht mehr passieren.Ich fände es sehr wichtig – auch das steht übrigens inder interfraktionellen Entschließung des Menschen-rechtsausschusses –, dass die EU-Ratspräsidentschaftund der G-8-Vorsitz genutzt werden, Russland, Chinaund den Staaten der Arabischen Liga klarzumachen,dass es auch in ihrem Interesse ist, dass die sudanesischeRegierung dieser Friedensmission endlich zustimmt.Das Jüdische Museum in Berlin – das ist ja nicht ir-gendeine Adresse – beendet heute seine Darfuraktions-woche, die hochrangig besetzt war. Dort hat der sudane-sische Parlamentarierkollege Salih Mahmoud Osmanaus Darfur noch einmal an uns, also an alle Bundestags-abgeordneten, appelliert: Nehmen Sie Ihre Verantwor-tung im Rahmen der EU-Präsidentschaft wahr, sorgenSie für den Schutz der Menschen in Darfur!Der Menschenrechtsausschuss hat bereits im Novem-ber die interfraktionelle Erklärung beschlossen. Es gibteine Erklärung des Europäischen Parlaments. Es ist Zeit,dass auch wir, dass der Deutsche Bundestag ein ent-schlossenes Handeln zum Schutz der Menschen in Dar-fur einfordert. Die politischen Mittel sind noch nichtausgeschöpft. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingt,hier eine gemeinsame klare Erklärung zustande zu brin-gen. Das wäre ein starkes Signal an die Menschen inDarfur.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In den letzten zehn Jahren konnte man feststellen, dassAfrika positive Schlagzeilen macht. Aber es gibt Aus-reißer. Denken wir an Somalia, an Simbabwe und vor al-len Dingen an Darfur. Herrscher wie Mugabe oder HerrBaschir helfen dem afrikanischen Kontinent nicht. Wirhaben im Menschenrechtsrat im letzten Jahr erlebt, dassein Teil der afrikanischen Staaten die Ereignisse in Dar-fur immer noch nicht verurteilen. Das ist falsch verstan-dene Solidarität.
Die Antwort auf die Große Anfrage der Grünen beur-teile ich außerordentlich positiv, weil sie in sich ge-schlossen die Leistungen und die Bemühungen der Bun-desregierung in diplomatischer und materieller Hinsichtdarstellt. Dies kann für die Präsidentschaft weitergenutztwerden.Wenn wir eine Kanzlerin haben, die in Russland, inChina und den USA Menschenrechtsverletzungen an-spricht, dann wird damit die Bedeutung untermauert, dieMenschenrechte für uns haben und die wir auch in die-sem Fall gemeinsam einfordern. Ich danke auch demAußenminister und Frau Wieczorek-Zeul, dass sie dieseThemen im Rahmen der G-8-Präsidentschaft und derEU-Ratspräsidentschaft auf verschiedenen Ebenen deut-lich ansprechen.
Ich habe die letzten 15 UN-Resolutionen bei mir, diein dieser Sache verabschiedet worden sind. Da siehtman, dass es diplomatische Bemühungen gegeben hat.Aber wir sind mit den diplomatischen Bemühungen fastam Ende. Wenn China, Russland und die arabischenLänder nicht erkennen, was in Darfur passiert, ist die UNam Ende.Ein komplettes Flugverbot muss eingefordert wer-den. Sanktionen von Im- und Exporten müssen durch-gesetzt werden. Das Waffenembargo darf nicht mehrunterlaufen werden.
Metadaten/Kopzeile:
8924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Hartwig Fischer
China hat dies getan und in den vergangenen drei Jahrenfür 65 Millionen Dollar Waffen geliefert.Darfur sollte – das ist eine Bitte von mir ans Auswär-tige Amt – eine Sonderseite im Internet bekommen, wodie Entwicklungen der Flüchtlingslager und der Dörferständig aktualisiert gezeigt werden, damit die Bevölke-rung in Deutschland aktuell über das informiert werdenkann, was sich in diesem Land abspielt. Denn wir müs-sen die Menschen darauf vorbereiten, dass dort unterUmständen ein Blauhelmeinsatz stattfinden wird.Mehrere von uns sind in Darfur gewesen. Wir habendas menschliche Leid erleben können. Wir sind das Ri-siko eingegangen, auch in Krisenregionen zu gehen. Wirhaben die menschliche Situation von Kindern erlebt. Wirwissen, dass Kindersoldaten jetzt wieder verstärkt einge-zogen werden. Ich zitiere aus der Resolution 1714 derUN:... mit dem Ausdruck seiner ernsten Besorgnis überdie Einziehung und den Einsatz von Kindern imKonflikt in Sudan, insbesondere durch andere be-waffnete Gruppen in Südsudan ... Ich zitiere noch einen Satz, der sich in einer ganzenReihe von Resolutionen aus den letzten zwei Jahren wie-derfindet:... feststellend, dass die Situation in Sudan nach wievor eine Bedrohung des Weltfriedens und der inter-nationalen Sicherheit darstellt ...Das ist die Situation.Über 2 Millionen Vertriebene, Einbeziehung desTschad und der Zentralafrikanischen Republik in diesenBürgerkrieg, über 200 000 Tote, Massenvergewaltigun-gen, von denen Zehntausende von Frauen und Mädchenbetroffen sind, all dies bedeutet die Destabilisierung ei-ner gesamten Region. Wir wissen aus der letzten De-batte, dass allein in der Region Kutum 400 000 bis500 000 Menschen seit Juni vergangenen Jahres fürkeine Organisation mehr zugänglich sind.Ich weiß nicht, ob das nach der Geschäftsordnung er-laubt oder nicht erlaubt ist.
Herr Kollege, Sie müssten eigentlich die amtierende
Präsidentin fragen.
Frau Präsidentin, ich frage Sie.
Da das keinen Demonstrationszweck hat, erlaube ich
es.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele von Ihnen
sind noch nicht in Darfur gewesen. Manche sagen, es ist
der Vorhof zur Hölle. Dies ist das Foto einer Mutter, die
in einem Dorf gelebt hat, das überfallen wurde. Dieses
Foto habe ich in Kalma bei Nyala im Juni 2004 gemacht.
Dieses Kind hat die Strapazen von 14 Tagen Flucht über-
lebt, ist aber am Abend nach der Entstehung dieses Fotos
gestorben, weil ihm mehr nicht geholfen werden konnte.
So sehen die Kinder aus, die im Flüchtlingslager unter
Hunger leiden.
Wenn es uns nicht endlich auf diplomatischem Wege
gelingt, dass diesem Morden Einhalt geboten wird, dann
bin ich persönlich der festen Überzeugung: Da drei Jahre
Diplomatie die Regierung Baschir nicht zum Einlenken
bewogen haben, brauchen wir einen Blauhelmeinsatz,
wenn die Bemühungen in den nächsten Wochen und
Monaten nicht zum Erfolg führen. Das Sterben dort
muss ein Ende haben.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marina Schuster,
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich möchte zunächst dem Kollegen HartwigFischer dafür danken, dass er das Plakat gezeigt hat;denn die Situation ist furchtbar. Den Mitgliedern diesesHohen Hauses ist sie seit Jahren bekannt, aber es ist gut,dass er damit auch die Öffentlichkeit angesprochen hat.Ich möchte noch einmal ganz klar den Adressaten derheutigen Debatte nennen: die sudanesische Zentralre-gierung in Khartoum, die die Übergriffe der Dschan-dschawid gegen die Rebellengruppen und gegen die Zi-vilisten in Darfur veranlasst oder zumindest duldet.In der „SZ“ von heute ist ein Artikel von Chris Pattenzu lesen, in dem steht, dass auch einzelne Mitglieder derRegierung in Khartoum eine persönliche Verantwor-tung für die Menschenrechtsverletzungen in Darfurtragen. Vor diesem Hintergrund ist es erschütternd undwirklich unglaublich, was Baschir Anfang dieser Wochein Richtung USA geäußert hat – ich zitiere –:Ja, dort wurden Dörfer abgebrannt, aber nicht indem Ausmaß, wie Sie behaupten. Die Menschendort sind im Krieg getötet worden. Vergewaltigun-gen gehören nicht zur sudanesischen Kultur oderder Kultur der Menschen in Darfur. Sie existierennicht. Bei uns gibt es das nicht.Genau diese Existenz von Vergewaltigungen wird unsaber in einem Kommuniqué der sudanesischen Botschaftbestätigt. Das zeigt die zynischen Verharmlosungen unddie Widersprüchlichkeit. Sie sind unerträglich und zei-gen, welch Geistes Kind das Regime ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8925
(C)
(D)
Marina SchusterVerschärft wird die Lage dadurch – meine Vorrednerhaben das angesprochen –, dass der Konflikt auf die Re-gion, auf den Tschad übergreift. Über die Verschlep-pung der Hybridmission von AU und UN und desDreiphasenplans hinaus weigert sich das Regime inKhartoum, mit dem Internationalen Strafgerichtshof inDen Haag zusammenzuarbeiten. Das alles ist nur mög-lich, weil die internationale Staatengemeinschaft nichtmit einer Stimme spricht. Da liegt die Krux.So üben China und Russland zurzeit Druck auf denUN-Menschenrechtsrat aus, um zu verhindern, dass dieMenschenrechtsverletzungen in Darfur verurteilt werdenund dass Konsequenzen folgen. Dabei wissen wir alle:China kann und muss mit seinem politischen und wirt-schaftlichen Gewicht im Sudan wesentlich mehr zu einerLösung beitragen. Die Bundeskanzlerin hat Meldungenzufolge am Montagabend mit Wen Jiabao telefoniert unddabei auch über Darfur gesprochen. Das begrüßen wirsehr. Nur, wir müssen fragen: Welche konkreten Schrittesind vereinbart worden? Welche Initiativen will dieBundesregierung im Rahmen der doppelten Präsi-dentschaft auf den Weg bringen? Ich habe an dieserStelle mehrmals erwähnt, dass wir es begrüßen, dass imRahmen unserer G-8-Präsidentschaft Afrika auf dieAgenda gesetzt wurde. Aber wir müssen dann auch einverstärktes Engagement in Richtung Darfur erkennenkönnen, und das sehen wir noch nicht.In der Beantwortung der Großen Anfrage der Grünenverweist die Bundesregierung sowohl in der Frage nachSanktionen als auch in der Frage eines Flugverbots überDarfur auf die Zuständigkeit der Vereinten Nationenund darauf, dass eine entsprechende Rechtsgrundlagenoch zu schaffen sei. Das ist ja per se richtig. Nur, wieist die Bundesregierung denn inhaltlich zu diesen Forde-rungen positioniert? Ich freue mich, dass der KollegeHartwig Fischer schon etwas dazu gesagt hat; aber ichsehe noch keine einheitliche Position der Bundesregie-rung.Die Bundesregierung propagiert bei vielen Gelegen-heiten als Allheilmittel das Konzept der „vernetztenSicherheit“, auch im Hinblick auf Afghanistan. In derAntwort der Bundesregierung auf eine Anfrage meinerFraktion heißt es – ich zitiere –: Im Sinne einer Verbin-dung ziviler und militärischer Instrumente sowie des Zu-sammenspiels verschiedener Akteure entspricht das Vor-gehen der AU in Darfur durchaus dem Konzept dervernetzten Sicherheit. – Das ist entweder zynisch, oderes ist mit diesem Konzept doch nicht so weit her.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in diesemHaus das gemeinsame Ziel, die Katastrophe in Darfur zubeenden. Wir alle kennen den Sachstand, wir alle kennendie Analysen. Wir müssen uns dabei noch einmal vorAugen führen, wie der Friedensprozess in Darfur innen-politisch tragfähig begleitet werden kann. Wir wissen,wie es um das Darfur Peace Agreement steht. Ohne ei-nen politischen Prozess werden wir keinen dauerhaftenFrieden bekommen. Unsere Debatten hier im HohenHaus sind zwar wichtig; aber wir wissen doch genau,dass sie auf Baschir wahrscheinlich keinen Eindruck ma-chen. Baschir muss endlich spüren, dass er die interna-tionale Gemeinschaft nicht länger entzweien und gegen-einander ausspielen kann. Weitere Erklärungen derBesorgnis der Außenminister der EU-Länder werden da-ran nichts ändern. Deshalb appelliere ich an FrauMerkel. Sie hat das Heft in der Hand, gerade währendunserer doppelten Präsidentschaft. Sie muss sich an dieSpitze stellen und seitens der EU und der Vereinten Na-tionen die Initiative ergreifen.
Das ist umso dringender, als wir in Simbabwe und amHorn von Afrika die nächsten Konfliktherde haben. Esgilt unbedingt zu verhindern, dass die hochgelobte „Res-ponsibility to protect“ zu einer Phrase verkommt, dassdie AU nachhaltig an Glaubwürdigkeit verliert und dassdas Prinzip Baschir Schule macht. Dazu bietet die EU-Ratspräsidentschaft eine einmalige Chance, und sie hatdie Verpflichtung dazu.
Das Wort hat die Kollegin Brunhilde Irber, SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Regierungschefs aus aller Welt haben sichim Jahre 2005 auf das Prinzip der „Responsibility to pro-tect“ – Kollegin Schuster hat es gerade erwähnt –, derVerantwortung zum Schutz, verständigt. Worum es beidieser Verantwortung genau geht, hat Kofi Annan in sei-nem Grußwort zur Aktionswoche Darfur im JüdischenMuseum so formuliert:Sie bedeutet im Kern, dass der Respekt vor der na-tionalen Souveränität keine Entschuldigung mehrsein kann für Tatenlosigkeit im Angesicht von Völ-kermord und Kriegsverbrechen, von „ethnischenSäuberungen“ und Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit.Tatsache ist jedoch, dass die seit drei Jahren stattfin-dende Katastrophe derzeit einen grausamen Höhepunkterreicht hat. John Prendergast von der InternationalCrisis Group hat einmal gesagt: „Sudan ist Ruanda inslow motion.“ Jeder weitere tote Darfuri, jeder weitereFlüchtling im Westsudan ist eine Anklage an die interna-tionale Staatengemeinschaft, die sich eigentlich ge-schworen hatte, es niemals mehr so weit kommen zu las-sen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-rung unterstützt die bestehenden VN-Sanktionen in Be-zug auf Reisebeschränkungen, das Einfrieren von Gut-haben und das Waffenembargo für Darfur. Deutschlandhat sich im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaftbereits erfolgreich für die Fortsetzung der finanziellen
Metadaten/Kopzeile:
8926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Brunhilde IrberUnterstützung der Afrikanischen Friedensfazilität durchdie EU eingesetzt und angekündigt, bilaterale Mittel vonbis zu 25 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Da-rüber hinaus hat die Bundesministerin für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung Mittel für die weitereUnterstützung eines Projektes des Roten Kreuzes inMukjar in Darfur freigegeben. Danke, Frau Ministerin,und danke, Bärbel Kofler, die sich dafür eingesetzt hat.
Aber das genügt nicht. Wir erleben derzeit eine völlighilflose und weitestgehend wirkungslose Friedensmis-sion der Afrikanischen Union. Die chronische Unterfi-nanzierung einerseits und die Blockadehaltung des suda-nesischen Präsidenten Baschir andererseits sind dieGründe dafür. Hier kann und muss sich die EuropäischeUnion stärker engagieren. Derzeit gibt es zu wenige kon-krete Signale unserer europäischen Nachbarn, sich auffreiwilliger Basis finanziell zu beteiligen.
Deshalb erwarte ich, dass die Bundesregierung die ver-bleibenden Monate der deutschen Ratspräsidentschaft indiesem Sinne effektiv zu nutzen weiß.Der VN-Sicherheitsrat diskutiert derzeit die Auswei-tung von Sanktionen. Auch wenn Deutschland nicht imSicherheitsrat vertreten ist, so sollte es doch alle diplo-matischen Hebel in Bewegung setzen, damit umgehendein wirksamerer Sanktionsmechanismus eingeleitetwird. Dabei müssen alle Optionen berücksichtigt wer-den, ob es sich nun um die Einhaltung eines Flugverbo-tes über Darfur, Reisebeschränkungen oder das Einfrie-ren der Konten der maßgeblichen Akteure handelt.Im Übrigen halte ich die Verfahren des Chefermittlersdes Internationalen Gerichtshofs im Zusammenhang mitdem sudanesischen Staatsminister für humanitäre Ange-legenheiten Harun und dem Dschandschawid-FührerKushayb für einen wichtigen Hoffnungsschimmer.
Das ist auch ein Signal an Herrn Baschir, der begreifenmuss, dass er sich ein Hin und Her wie im Falle der hy-briden AU-VN-Mission nicht mehr lange leisten kann.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, derzeit ver-handelt der VN-Sondergesandte für Darfur, JanEliasson, mit der sudanesischen Regierung. Nach dieserVerhandlungsrunde kann die internationale Gemein-schaft keine weiteren Verzögerungen und Ausredenmehr hinnehmen, sollte Baschir keine wirklichen Zuge-ständnisse machen. Jan Eliasson wird am 11. April die-ses Jahres im EU-Außenministerrat zur aktuellen Lageberichten. Ich habe dieser Tage vorgeschlagen, dass erauch uns im Auswärtigen Ausschuss berichten soll. Wirwerden ihn dazu einladen.
Alles, was dazu führt, das politische Bewusstsein in Eu-ropa für die menschenunwürdigen Vorgänge im Sudanzu sensibilisieren und dafür zu sorgen, dass daraus poli-tischer Wille entsteht, sollte jetzt getan werden.Noch ein Wort zu China und Russland. Ohne Ent-haltung dieser Länder im UN-Sicherheitsrat hätte es dieResolution 1706 nicht gegeben. Mit ihrer Zustimmungwäre der Druck auf Baschir allerdings erheblich größer.
Der Dialog mit China und Russland muss deshalb inten-siviert werden. Solange trotz der Krise die Energiege-schäfte uneingeschränkt gut abgewickelt werden kön-nen, werden viele diplomatische Gespräche wirkungslosenden.
Aber auch die afrikanischen Staaten und die ArabischeLiga stehen in der Pflicht, hier ihrer Verantwortungnachzukommen.
Ich setze meine Hoffnungen auf VN-GeneralsekretärBan Ki Moon, der sich der Darfurkrise, die im Grundebereits eine Menschheitskrise ist, intensiv widmen will.Ich setze meine Hoffnungen aber auch auf die Bundesre-gierung; denn sie hat durch die EU-Ratspräsidentschaftund den G-8-Vorsitz die Möglichkeit, ein deutliches Zei-chen zu setzen.Der Herr Präsident klingelt schon. Darum komme ichzum Schluss. – Ich bin dankbar dafür, dass wir hier heuteaufgrund der Großen Anfrage der Grünen über die Situa-tion in Darfur diskutieren können. Ich freue mich darauf,dass wir einen gemeinsamen Antrag zustande bringen.Ich glaube, das können alle Fraktionen dieses Hausesmittragen, damit wir gemeinsam ein Zeichen für die Be-endigung dieses Dramas in Darfur setzen. Die Welt darfnicht mehr länger tatenlos zusehen.Danke sehr.
Das Wort hat der Kollege Dr. Norman Paech von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inzwei Dingen sind wir uns offensichtlich einig:
Erstens. In Darfur wird ein Krieg geführt, in demnach dem jüngsten Report des UN-Menschenrechtsratsschwere systematische Verbrechen gegen die Menschen-rechte und das humanitäre Völkerrecht – sprich: Kriegs-verbrechen – begangen werden. Wie in dem Bericht her-vorgehoben wird, geschieht dies auf allen Seiten:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8927
(C)
(D)
Dr. Norman Paechaufseiten der Regierung und aufseiten der zahlreichenRebellengruppen.Zweitens. Die bisherigen Versuche, die Tragödie zustoppen, sind gescheitert. Die Fronten der kämpfendenParteien sind so unübersichtlich wie nie zuvor, und dieAU ist mit der von ihr geführten AMIS-Mission bisherauch gescheitert.Die Grünen bezeichnen diesen Konflikt in ihrem Ent-schließungsantrag als die zurzeit „weltweit größte hu-manitäre Katastrophe“. Das mögen Sie so sehen.
– Sie tun das. Ich zitiere Sie. – Seien Sie aber vorsichtigmit solchen Superlativen. Schauen Sie auf den Irak, umeine humanitäre Katastrophe zu finden, deren Ausmaßmindestens ebenso katastrophal ist wie in Darfur.
Der Krieg im Irak hat bisher weit über 600 000 Toteund mehrere Millionen Flüchtlinge gekostet.
Schlimmer noch: Das alles wurde durch einen völker-rechtswidrigen Krieg und eine anschließende Besatzungausgelöst, an der noch heute gerade die Staaten beteiligtsind, die jetzt am stärksten für eine weitere Interventionim Sudan plädieren. Die Katastrophe im Irak wäre auf-zuhalten, wenn man die Truppen zurückziehen würde.Selbst die Demokraten im Kongress fordern das jetzt.
Wir müssen uns aber wohl auch eingestehen, dass esKatastrophen gibt, denen wir trotz unserer historischenkolonialen Verantwortung weitgehend machtlos gegen-überstehen. Denken Sie daran, was die Staaten unter-nommen haben, um 4 Millionen Tote Ende der 90er-Jahre im Kongo zu verhindern.
Hätten Sie das Massenmorden wirklich verhindern kön-nen? Wir müssen uns eingestehen, dass es Katastrophengibt, für die wir nicht immer eine Lösung haben.
Wir unterhalten uns jetzt über einen Weg, um aus die-ser verzweifelten Situation herauszukommen. Es bestehtkaum Dissens über die verschiedensten Vorschläge, dieauch Sie gemacht haben, um die sudanesische Regierungzur Einstellung ihrer militärischen Angriffe zu zwingen,die Dschandschawid zu stoppen, den Waffenhandel zustoppen und vor allen Dingen die Regierung wieder anden Verhandlungstisch zu bringen, der viel zu früh ver-lassen worden ist. An diesen Tisch gehören auch Chinaund Russland. Aber derzeit ist aufseiten der Regierungenkeinerlei Initiative erkennbar. In der Antwort auf dieGroße Anfrage der Grünen sehen wir auch keine konkre-ten Ansätze seitens der Bundesregierung.Wir unterstützen die Forderung nach stärkerem Druckauf die sudanesische Regierung, aber wir warnen davor,zur Lösung aller dieser Schwierigkeiten immer mehr Mi-litär zu fordern und sich an die Hoffnung auf eine neueUN-Mission zu klammern, um dort zu intervenieren. Siewürde in jedem Fall – ob es eine Schutztruppe oder eineKampftruppe ist – als Militärintervention verstanden undden Konflikt immer weiter verschärfen.
Dafür gibt es auch in Afrika Beispiele.Wir halten diese Forderung geradezu für kontrapro-duktiv, weil sie nur mit Gewalt droht, keine Perspektiveanbietet und die Fantasie für politische Alternativen ge-radezu lähmt. Wir müssen gerade diejenigen stärken, diebereit sind, eine politische Lösung auf beiden Seiten her-beizuführen. Das ist unserer Ansicht nach der einzige re-alistische Ansatz.
Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass Darfureine seit Jahrzehnten völlig vernachlässigte Region mitextremen sozialen, ökonomischen und ökologischen De-fiziten ist. Darauf sollten wir unsere ganze Aufmerksam-keit richten. Darin liegen die Stärken unserer Solidaritätfür dieses Land.Danke sehr.
Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Strässer von
der SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich möchte kurz auf den Beitrag des KollegenNorman Paech eingehen. Wenn wir heute über Darfur re-den – und zwar bisher sehr sachlich und konstruktiv –,dann bleibe ich bei der Position, dass dies die größte hu-manitäre Katastrophe ist, die sich derzeit weltweit ab-spielt. Ich finde es geradezu zynisch, das damit aufzu-rechnen, dass es in einem anderen Land viel mehr Totegibt. So kann man, denke ich, nicht glaubwürdig Politikbetreiben.
Metadaten/Kopzeile:
8928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Christoph SträsserIch möchte kurz auf die Expertenkommission desUNO-Menschenrechtsrates eingehen, die, wie wir allewissen, trotz vorheriger Zusage der sudanesischen Re-gierung nicht direkt in den Sudan einreisen durfte undihre Ermittlungen in den Grenzregionen durchführenmusste. Ich zitiere aus dem vorliegenden Bericht:Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen dieMenschlichkeit dauern in Darfur an. Wir kommenzu dem Schluss, dass die Regierung des Sudan of-fensichtlich darin versagt hat, die Bevölkerung Dar-furs zu schützen, und dass sie diese Verbrechenselbst orchestriert und daran teilgenommen hat.Ich glaube, dem ist zunächst einmal nichts hinzuzufü-gen.Für gut und wichtig halte ich – es gibt mir aber auchzu denken –, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaftfür die westliche Staatengruppe im Menschenrechtsratdurchgesetzt hat, dass der Bericht dort debattiert wird.Es ist aber ein Skandal, dass man dafür kämpfen muss,dass solche Berichte in diesem Gremium zur Kenntnisgenommen werden.
Ich meine, dass diese Debatte nicht folgenlos blei-ben darf. Deshalb ist meine Bitte an die Bundesregie-rung – ich weiß, dass sie bereits aktiv ist –, dass auf derGrundlage dieses Expertenberichts für die Sitzung desMenschenrechtsrates bis zum 30. März zumindest einResolutionsantrag der sogenannten westlichen Gruppevorgelegt wird, der eine klare Verurteilung der Men-schenrechtsverletzungen und der dafür Verantwortli-chen beinhaltet.
Ich weiß um die Schwierigkeiten, auch was die Zu-sammensetzung dieses Rates angeht. Aber wenn manhört – diese Informationen kommen bei uns an –, dassselbst innerhalb der Regierungen der 27 EU-Staatennicht klar ist, dass es zu einem solchen Entwurf kommenwird, dann wäre das angesichts der Werte, für die dieseStaaten stehen und die sie repräsentieren wollen, meinerMeinung nach eine menschenrechtliche und humanitäreBankrotterklärung.
Das Europäische Parlament hat in einer Entschlie-ßung vom 15. Februar in, wie ich finde, wünschens-werter Deutlichkeit Position bezogen und insbesondereauch die EU-Organe aufgefordert, Sanktionen anzu-wenden, die sich gegen alle Parteien – einschließlichder sudanesischen Regierung – richten, die den Waf-fenstillstand verletzen oder Zivilpersonen, Angehörigevon Friedensmissionen oder Mitarbeiter humanitärerOrganisationen angreifen, sowie alle nötigen Maßnah-men zur Beendigung des Zustandes der Straffreiheit zuergreifen, indem sie durch – ich zitiere – „gezielte wirt-schaftliche Sanktionen“ unter Einschluss von Reisever-boten und des Einfrierens von Vermögen die Verhän-gung von Sanktionen durch den VN-Sicherheitsratstärken und zu ihrer Umsetzung beitragen. Ich glaube,diese Position ist klar und deutlich. Ich halte sie fürrichtig.Es wurde schon angesprochen, dass es19 Erklärungen im EU-Rat der Außenminister gegebenhat. In dem heute erschienenen Artikel der „Süd-deutschen Zeitung“ wird darauf hingewiesen, dass dabei53-mal in verschiedener Intensität die Besorgnis zumAusdruck gebracht wurde. Wir wissen, dass die sudane-sische Regierung einem konsequenten Druck nicht aus-weichen kann. Das zeigen die Schritte hin zum Compre-hensive Peace Agreement, zum Friedensschlusszwischen dem Norden und dem Süden. Deshalb findeich es richtig, dass Lord Patten, der amtierende Vorsit-zende der International Crisis Group, die Außenministerauffordert – ich denke, unser Außenminister unterstütztdas –, statt einer 54. Betroffenheitserklärung nunmehrdem Ruf des Europäischen Parlamentes nach Sanktionenzu folgen. Dem sollten wir uns hier anschließen.
Ich hoffe auf einen interfraktionellen Antrag dazu.Ich schließe mit einem Zitat aus Goethes „Faust“, dasman in einer solchen Debatte vielleicht nicht vermutet,das aber passt: „Der Worte sind genug gewechselt, lasstmich auch endlich Taten sehn!“Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Es ist beantragt worden, den Entschließungsantragder Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-sache 16/4777 zur federführenden Beratung an denAuswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an denAusschuss für Wirtschaft und Technologie, den Vertei-digungsausschuss, den Ausschuss für Menschenrechteund Humanitäre Hilfe, den Ausschuss für wirtschaftli-che Zusammenarbeit und Entwicklung sowie den Aus-schuss für Angelegenheiten der Europäischen Union zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das istder Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten AntjeBlumenthal, Thomas Bareiß, Thomas Dörflinger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten MarleneRupprecht , Ingrid Arndt-Brauer,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8929
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsClemens Bollen, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDGesundes Aufwachsen ermöglichen – Kinderbesser schützen – Risikofamilien helfen– Drucksache 16/4604 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Gesundheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MiriamGruß, Ina Lenke, Sibylle Laurischk, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPSchutz und Chancen für die Kinder inDeutschland– Drucksache 16/4415 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin das Wort der Kollegin Katharina Landgraf von derCDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Esist vollbracht.“ Diese berühmten Worte sind im Blick aufden vorliegenden fraktionsübergreifenden Antrag viel-leicht etwas zu hochgestochen. Ich sage lieber: Es ist ge-schafft. Nach einem langen Denk- und Meinungsbil-dungsprozess haben wir endlich eine gute Vorlage. Zielwar und ist, mehr für das Wohl der Kinder zu tun, sievor allem vor Gewalt und Vernachlässigung zu schützen.Ich wiederhole mich gern, wenn ich – wie bei meinerletzten Rede zu diesem Thema am 26. Oktober 2006 –heute sage: Der beste Schutz sind mündige, bewussteund starke Eltern. Dieser Antrag gibt der Bundesregie-rung den erforderlichen Handlungsrahmen und Hand-lungsspielraum im Interesse der Kinder und deren Fami-lien. Er ist eine Anleitung für die Zusammenarbeit mitden Bundesländern, mehr für das gesunde Aufwachsender Kinder und bei der Unterstützung von Risikofami-lien zu tun.Familie kann sowohl größte Nähe und Geborgenheitbedeuten, aber leider auch größte Not. Familie kann imschlimmsten Fall auch Gewalt oder Vernachlässigungbedeuten, in bildungsfernen Schichten beispielsweise,wo die Zeit nicht mit Reden und Spielen, sondern mitFernsehen verbracht wird, wo keine Mutter als Hilfsleh-rerin und kein Nachhilfelehrer zur Verfügung stehen, wokein Buch und kein Musikinstrument dem Kind in dieHand gegeben werden, wo eine Kindheit verschwendetwird, wenn niemand hilft. Wenn also die Eltern ihrenAufgaben nicht gewachsen sind, brauchen sie Zielvorga-ben und Hilfe vom Staat.Das besagt im Übrigen auch Art. 6 unserer Verfas-sung, der vom staatlichen Wächteramt handelt. Ichselbst bin recht zufrieden mit dem zwischen den Koali-tionsfraktionen erreichten Kompromiss. Der Antrag istinsgesamt ein guter Wurf.
Mir persönlich fehlen aber einfache und sehr direkt for-mulierte Regelungen, die säumige Eltern auf den richti-gen Kurs bringen sollen.
Mögliche Lösungen werden durch unseren Antrag aller-dings nicht verhindert. In der künftigen Praxis wird sichzeigen, ob nicht doch auch Sanktionen helfen. Das wirdvon vielen Fachleuten erwartet, so zum Beispiel dieKoppelung von Vorsorgeuntersuchungen an die vollstän-dige Kindergeldzahlung. Das wäre auch künftig noch re-gelbar. Da müssen nur die entsprechenden Verordnungenmodifiziert werden. Der Gesetzgeber – wir – ist derzeitdazu noch nicht bereit. Aber das ist heute nicht dasThema. Vieles von dem, was ich damals gefordert habe,findet sich in unserem Antrag heute wieder. Ich nennenur einige Punkte:Erstens wird zur Steigerung der Teilnahmerate anFrüherkennungsuntersuchungen ein Bonussystem insAuge gefasst.
Zweitens soll geprüft werden, wie die Teilnahme anKinderuntersuchungen durchgesetzt werden kann, zumBeispiel bei Nichtteilnahme durch Einschaltung des öf-fentlichen Gesundheitsdienstes.Drittens verweise ich auf eine bessere Förderung vonHilfsangeboten von Familienhebammen. Es muss inDeutschland zur Normalität werden, dass in allen Eltern-häusern Familienhebammen akzeptiert und anerkanntsind, auch als Vertrauenspersonen, die in guten wie inschlechten Tagen Eltern wie Kindern zur Verfügung ste-hen. Das begrüßt im Übrigen auch unsere Ministerin.Viertens soll im Rahmen des Aktionsprogramms„Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Früh-warnsysteme“ eine systematische Vernetzung von Ge-sundheits- und Kinder- und Jugendhilfe erfolgen.
Der Antrag folgt sehr genau der aktuellen Entwick-lung in der Lebenswirklichkeit. Immerhin ist es Ziel derKoalition, die Bedeutung der Kinderrechte stärker in dieÖffentlichkeit zu transportieren.Der Antrag der FDP enthält auch sehr viel Richtigesund Gutes. Er umfasst unter anderem viele Forderungen,die nahezu deckungsgleich mit denen aus unserem An-trag sind. Zum Beispiel ist Punkt 2 d zum Berufsbild derFamilienhebamme wichtig. Besonders hervorzuheben istdie Förderung der Einhaltung von Vorsorgeuntersuchun-gen und die Vernetzung von Ärzten, Jugendamt usw. Au-
Metadaten/Kopzeile:
8930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Katharina Landgrafßerdem begrüße ich, dass auch Sie sich mit der Stärkungder Elternkompetenz befassen, so in Punkt 2 b und 2 c.Das alles zeigt letztendlich, dass Sie von der FDP auchhier Ihr neues soziales Gesicht präsentieren wollen. Be-merkenswert.
Der Antrag ist allerdings weniger ausführlich und enthältzum Beispiel keine praktikablen Vorschläge zur Durch-setzung von Vorsorgeuntersuchungen. Das ist uns zu we-nig. Es muss schon über die Konsequenzen der Nicht-teilnahme an den Untersuchungen nachgedacht werden.Noch einmal an Ihre Adresse, verehrte Kolleginnen undverehrter Kollege von der FDP: Die frühe Förderung vonKindern, also die frühkindliche Bildung, und der Ausbauder Tagesbetreuung von unter Dreijährigen werden inunserem Antrag aus guten Gründen nicht behandelt.Diese Themen müssen extra und umfassend ausgearbei-tet und dürfen nicht nur so nebenbei diskutiert werden.Dazu sind sie zu wichtig, und sie enthalten im Übrigengenug Stoff für einen eigenen Antrag.
Wir werden unser Ziel, mehr für das Wohl unsererKinder zu tun, nur erreichen, wenn Bund, Länder undKommunen kooperativ handeln. Ich bin sicher: Zustim-mung und Umsetzung aus Ländersicht fielen leichter,wenn alle Forderungen, die die Kompetenzen der Ländertangieren, jeweils mit dem Zusatz „gemeinsam mit denLändern“ verknüpft wären. Eine Verzahnung von Ju-gend- und Gesundheitshilfe gelingt ohnehin nur zusam-men mit den Ländern. Abgesehen von der Kompetenz-verteilung im Grundgesetz ist für mich entscheidend,dass sich viele Probleme aufgrund ihrer in Deutschlandregional sehr unterschiedlichen Ausprägung nur sehrschwer zentral steuern lassen. Wir brauchen einfacheLösungen, die sich in unserem Antrag auch bereits an-deuten. Wir brauchen Partner der Eltern, die mit hoherFach- und Sachkenntnis sowie mit der erforderlichenGüte die Familien und Kinder durch den Alltag beglei-ten.Ich sage es noch einmal: Das Beste für das gesundeseelische und körperliche Aufwachsen der Kinder sindkompetente und bewusste Eltern.
Wir, die Union, stehen mit unserem Koalitionspartnernach wie vor für die Wahrung der Elternrechte und El-ternfreiheiten sowie für die umfassende Erfüllung derElternpflichten.
Das heißt ganz konkret, dass wir in Deutschland zukünf-tig mehr für Eltern- und Familienbildung tun müssen.Wir brauchen eine neue Generation von spezialisiertenPädagogen, die diesem Anspruch gerecht werden kön-nen.Müssen wir da nicht auch die berufliche und universi-täre Bildung auf den Prüfstand stellen? Es ist durchausSache der Bundesebene, hier die entsprechenden Richt-linien und Vorgaben zu entwickeln. Außerdem ist es eineFrage der sozialen Nachhaltigkeit, die wir für den Fort-bestand unserer Gesellschaft schnellstens beantwortenmüssen. Der vorliegende Antrag muss eine Fortsetzungin diesem Sinne finden.Es gibt also weiterhin viel zu tun. Ich danke den Kol-leginnen der SPD für die Zusammenarbeit. Der FDPgebe ich mit auf den Weg: Weiter so! Dann nähern Siesich unserem gemeinsamen Standpunkt an.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Miriam Gruß von der
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Der Präsident des Deut-schen Familienverbandes hat gestern davor gewarnt,die Familienpolitik allein auf das Problem der Kinder-betreuung zu reduzieren. Damit hat er natürlich recht.Deshalb freue ich mich, dass wir uns heute im Plenummit einer ganzen Reihe von Themen beschäftigen, dieim weiteren Sinne Teil der Familienpolitik sind: derSchutz von Kindern in Deutschland – darüber sprechenwir jetzt –, Sprache als Schlüssel zur Integration vonKindern und Jugendlichen und die UN-Kinderrechts-konvention, worüber wir später hoffentlich noch spre-chen werden.Zunächst zum Schutz von Kindern in Deutschland.Diese Woche erschüttert uns wieder der Fall eines neu-geborenen Mädchens, das in Hamburg aus dem10. Stock eines Hochhauses geworfen wurde und nurnoch tot aufgefunden werden konnte. Wieder musste einBaby in Deutschland qualvoll sterben, weil seine Elternmit der Situation anscheinend überfordert waren.Die Statistiken hierzu sind tatsächlich unzureichend.Ich freue mich über die Passage in Ihrem entsprechendenAntrag, in der gefordert wird, diese Statistiken auszu-bauen. Ob die Anzahl der misshandelten oder vernach-lässigten Kinder zugenommen hat, lässt sich kaum bele-gen. Aber die Aufmerksamkeit für solche Fälle hat – daswissen wir alle – deutlich zugenommen. Ich hoffe, dasswir dadurch alle sensibler für Familien werden, dass wiralle genauer hinschauen, ob es einem Kind wirklich gutgeht, und dass wir das Signalisieren von Hilfsbedürftig-keit auch in Zukunft richtig zu deuten wissen.
Je direkter wir an den Kindern dran sind, desto besser.Deshalb sind hier vor allen Dingen die Kommunen ge-fragt. Natürlich geht das nicht alles ohne ein entspre-chendes Konzept zur Finanzierung. Ich persönlich bingespannt, wie Sie, verehrte Damen und Herren der Gro-ßen Koalition, diese Problematik lösen wollen, die Siesich durch die Föderalismusreform in Teilen selbst ein-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8931
(C)
(D)
Miriam Grußgebrockt haben. Ich meine, mittelfristig müssen wir neueAkzente in der Gesellschaftspolitik setzen und neueWege der Finanzierung finden. Das Wohlergehen unse-rer Kinder sollte uns jede Kraftanstrengung wert sein.
Wir können nicht immer erst dann eingreifen, wennes zu spät ist. Deshalb sind in dem Antrag der FDP-Frak-tion zwei Forderungen enthalten: zum einen die nachdem vorsorgenden Schutz – Prävention geht nämlichvor Reha –, zum anderen die nach der – ich halte das fürsehr wichtig – frühen Förderung von Kindern. Ich darfSie aber beruhigen: Ein entsprechender eigener Antragzu dem Thema, das Sie vorhin angesprochen haben, wirdnoch vorgelegt werden.Zum ersten Punkt. Wenn wir Kinder besser schützenwollen, müssen wir dorthin schauen, wo die Ursachenfür die verschiedenen Formen von Kindesvernachlässi-gung liegen. Insbesondere wenn das individuelle Versa-gen innerhalb einer Familie auf soziale oder ökonomi-sche Schwächen trifft, ist Schlimmes zu befürchten. Diebetroffenen Menschen dürfen wir nicht vergessen undauch nicht alleinlassen. Das Wohl des Kindes ist nämlichdirekt mit der Situation der Eltern verbunden. Wenndiese überfordert sind, leiden die Kinder. Deshalb müs-sen wir auch die Eltern stärken.Angebote für Schwangere und junge Eltern sind ele-mentar wichtig. Das kann ganz banale Dinge wie dasFühren eines Haushalts oder den Umgang mit Geld um-fassen. Elternbildung und mehr Elternkompetenz bedeu-ten auch, die Kinder zu stärken.
Zu späte Intervention, mangelnde Vernetzung der ver-antwortlichen Stellen oder auch Überforderung derFachkräfte sind die häufigsten Ursachen, wenn Fälle vonKindesvernachlässigung nicht rechtzeitig bekannt wer-den.Deshalb ist die Aus-, Fort- und Weiterbildung derFachkräfte ein weiterer wichtiger Baustein. Die Fach-kräfte sind es, die den Familien stützend zur Seite ste-hen. Hier können wir auch neue Potenziale erschließen,zum Beispiel die Hebammen, die helfen können undwollen, für ihre Arbeit dann aber auch eine sichere ge-setzliche Grundlage brauchen.Gefordert ist auch das Umfeld: Familienmitglieder,der Freundeskreis, die Nachbarschaft, Ärzte, Mitarbeiterder Jugendhilfe, aber auch Familiengerichte. Sie alle ha-ben durch ihren Blickwinkel eine individuelle Sicht aufdas einzelne Kind und können Veränderungen schnellerbemerken.„Hinsehen und handeln“ – das muss das Motto sein.
Der Pfad zwischen Unterstützung der Eltern und Kon-trolle im Sinne des Kindeswohls ist eng, aber lebens-wichtig.Neben dem Schutz ist die Unterstützung von Kindernwichtig, um sie für die Welt stark zu machen. Zur frü-hen Förderung gehört zum Beispiel, Kindern aus soge-nannten anregungsarmen Elternhäusern durch Bildungund Erziehung Perspektiven zu eröffnen. Herr Munñozhat uns gestern wieder einmal unmissverständlich vorAugen geführt, was Chancengleichheit in Deutschlandbedeutet.Dazu gehört auch – der Familienverband möge es mirverzeihen – die Betreuung von Kindern. In Zeiten, in de-nen sich die Ansprüche an das Modell Familie verän-dern, wächst die Bedeutung der frühkindlichen Bil-dungseinrichtungen. Auf ihre Qualität ist deshalbbesonderes Augenmerk zu legen. Bindung und Bildungsind ausschlaggebend für jedes Kind.Ich komme zum Schluss. – Kinder heute zu schützen,ist unsere ureigene Pflicht. Kinder heute zu fördern, istunser oberstes Gebot. Kinder zu achten und für ihre Zu-kunft zu denken, muss gesamtgesellschaftliche Prämissesein, und zwar nicht nur für uns Familienpolitikerinnenund Familienpolitiker.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht
von der SPD-Fraktion.
Da weiß man, wie sich ein Kind fühlt, wenn es an ei-nen Tisch tritt. Bei meiner Größe geht mir das hier amPult immer so. Das ist immer etwas zu hoch. Vielleichthabe ich deshalb viel Verständnis für Kinder. Vielleichtist in mir wegen meiner Größe auch noch viel Kind vor-handen.Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Wir haben heute ein Thema auf der Tagesordnung, dasmeist nicht sehr positiv besetzt ist. Es wird uns immer inErinnerung gerufen, wenn irgendwelche tragischenDinge passieren. Aber dann, wenn es funktioniert, wennalles klappt, redet man nicht darüber. Das ist wie in derVerkehrspolitik. Da redet man nicht über die Straßen,wenn man gut durchfahren kann, aber man redet da-rüber, wenn es einen Stau gibt, wenn ein Unfall passiertist oder wenn genau dort, wo man eine Straße braucht,keine ist.In der Kinder- und Jugendpolitik benötigen wir einesolche Struktur wie in der Verkehrspolitik. Wir brauchenRahmen, in denen Kinder aufwachsen können, und zwarschon sehr früh. „Sehr früh“ heißt: Eigentlich schon fürdie Zeit im Mutterleib brauchen wir Rahmenbedingun-gen, damit Schädigungen, die möglicherweise ein Lebenlang anhalten, nicht passieren. Wir müssen Eltern mög-lichst frühzeitig einen solchen Rahmen geben, dass sieihre Kinder gesund aufwachsen lassen können.Goethe hat einmal gesagt: Eltern haben ihren Kindernzwei Dinge mitzugeben: Wurzeln und Flügel. – Ichfinde, das ist ein wunderschöner Spruch. Er hat übrigens
Metadaten/Kopzeile:
8932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Marlene Rupprecht
noch nichts von Bindungsforschung gewusst, aber trotz-dem gewusst, wie wichtig es ist, verwurzelt zu sein undgleichzeitig die Fähigkeit zu haben, die Welt zu entde-cken, abzuheben, den Größenwahn zu besitzen, alles,was um einen herum ist, für sich in Anspruch zu neh-men. Dazu brauchen wir Rahmenbedingungen.Wir haben versucht, das abzuprüfen, und gefragt: Wasgibt es denn schon an Rahmenbedingungen? Mich er-staunt immer, dass das, was vorhanden ist, kaum beach-tet wird. Wie unter rot-grüner Regierung ist es jetzt auchunter schwarz-roter Regierung: Wir machen Aktions-pläne. Wir fordern zu bestimmten Dingen auf. Wir habenbei den Vereinten Nationen einen wunderbaren Vertragfür ein kindgerechtes Deutschland unterschrieben. Dagibt es sechs Themenfelder, darunter Gesundheit, Schutzvor Gewalt, Bildung und Beteiligung. Wenn ich vor Ortbin und Kommunalpolitiker frage: „Wie sieht es dennmit dem kindgerechten Landkreis aus?“, dann sagen sie:„Womit?“; daraufhin erläutere ich: Zu einem kindge-rechten Landkreis gehört es, dass Rahmenbedingungengeschaffen werden, dass Kinder nicht von Gewalt be-droht werden.Wenn tragische Fälle passieren, wachen wir zwar auf,aber deren Zahl ist in den letzten Jahren nicht gestiegen.
– Nein, nach der Statistik, die ich extra noch einmal he-rausgesucht habe, nicht. – Angestiegen ist aber die Zahlder Kinder, die keine Wurzeln schlagen konnten, denenalso Bindung fehlt, die vernachlässigt werden oder diekeine Bildung im weitesten Sinne bekommen, das heißtlebenstüchtig gemacht werden, damit sie ihren Willenäußern, ihn gegen andere durchsetzen und sich auch un-ter Kindern behaupten können. Uns um all das zu küm-mern, haben wir, wie ich glaube, in den letzten Jahren inder Politik vergessen. Wir haben immer nur gespart.Bei den meisten im Parlament eingebrachten Anträ-gen ging es nur darum, wie die Ausgaben noch weiter re-duziert werden können, nicht darum, wie die zur Verfü-gung stehenden Gelder – es geht mir gar nicht um mehrGeld – gezielt eingesetzt werden können. Das geht zumBeispiel – die Frau Kollegin Landgraf hat es gesagt –über frühe Hilfen für Eltern und Kinder, über Familien-hebammen und über verstärkte Zusammenarbeit. Seit1991 gilt das Kinder- und Jugendhilfegesetz. Darinwird Zusammenarbeit verordnet. Ich frage mich, ob dadraußen nur Analphabeten sitzen. Die müssten doch ge-lesen haben, dass es eine Pflicht für Ärzte zur Zusam-menarbeit mit Jugendhilfe, Polizei, Gerichten und ande-ren Institutionen gibt. Alle müssen endlich das magischeDreieck, das Kinder brauchen, um gut aufwachsen zukönnen, nämlich Schutz bzw. Fürsorge, Förderung undBeteiligung, ernst nehmen. Dies ist der Rahmen, in demKinder stabil aufwachsen.Vor diesem Hintergrund hat die Kinderkommissioneinstimmig beschlossen – Beschlüsse können da ja nureinstimmig gefasst werden –, die Kinderrechte in derVerfassung zu verankern und das dort ganz eindeutigfestzulegen.
– Herr Singhammer, auch Sie ziehen wir noch auf unsereSeite. – Durch die Niederlegung dieser Rechte imGrundgesetz würde klargemacht: Dieser Gesellschaftsind Kinder ganz, ganz wichtig. Erst 1967 hat ja dasBundesverfassungsgericht festgestellt, dass auch KinderMenschen und damit Grundrechtsträger sind. Dass dasso lange gedauert hat, zeigt, dass schon damals irgendet-was im Argen lag. Bis dahin hat man Kinder nämlichimmer noch als Defizitwesen angesehen.Ich hoffe nun, dass Sie alle mitziehen, wenn wir inAnträgen den gesellschaftlichen Willen zum Ausdruckbringen, Kinder so gut zu schützen, dass sie wirklichWurzeln und Flügel haben, sie diese Welt erobern kön-nen und aus ihnen vernünftige, verlässliche und verant-wortliche Erwachsene werden.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Diana Golze von der Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen An-trag aus den Reihen der Koalition, dessen Stoßrichtungwir – auch das kommt vor – grundsätzlich teilen.
Nichts wäre schlimmer, als ausgerechnet den Schutz vonKindern vor Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigungzum Gegenstand eines langwierigen parteipolitischenHickhacks zu machen. Gerade deshalb freue ich michüber den relativ sachlichen und differenzierten Ton desKoalitionsantrags,
der sich von der überhitzten Debatte der letzten Monateabhebt. Wer das von uns allen geteilte Anliegen, denKinderschutz zu verbessern, auf die populistische De-batte um verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen fürKinder und die Sanktionierung bei Nichtteilnahme redu-ziert, der findet vielleicht seinen eigenen Namen in denSchlagzeilen, verfehlt aber den Kern des Problems.
Deshalb freut mich ebenfalls, dass nunmehr die Wei-terentwicklung von Inhalt und Wirksamkeit der Vorsor-geuntersuchungen angeregt wird. Dieser neue, integrie-rende Ansatz, in dem mehr Verbindlichkeit bei denVorsorgeuntersuchungen mit präventiven und helfendenAngeboten gekoppelt wird, findet unsere vollste Zustim-mung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8933
(C)
(D)
Diana GolzeIch möchte aber auch daran erinnern, dass keineKindheit im luftleeren Raum stattfindet. Jedes Eltern-haus, jede Kinderkrippe, jeder Kindergarten und jedeSchule ist Teil dieser Gesellschaft. Deshalb ist es auchrichtig, nach der gesellschaftlichen Verantwortung fürdas gesunde Aufwachsen von Kindern zu fragen. Nurnach der Verantwortung der Eltern zu fragen, ist zu we-nig.
Zur gesellschaftlichen Verantwortung gehört aberauch der Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedin-gungen. Dazu findet sich leider im Antrag der Koalitionkein Wort. Das wundert mich auch nicht; waren Sie esdoch, die in den letzten Jahren zum Beispiel mit IhrerHartz-IV-Politik die Lebensbedingungen von vielenKindern und Familien verschlechtert haben.
Es ist daher im Grundsatz zynisch, wenn Sie das Pro-blem auf „Risikofamilien“ fokussieren, was auch immerdiese Definition beinhalten mag. Damit leisten Sie derStigmatisierung von Familien Vorschub, deren Lebens-situation durch, wie Sie es bezeichnen, „vielfältige bzw.schwerwiegende Risiken“ gekennzeichnet ist. Wenn einumfassender Begriff der Kindesvernachlässigung zu-grunde gelegt wird, dann wird schnell deutlich, dass wires mit einem schichtenübergreifenden Problem zu tunhaben. Für Vernachlässigung ist eine Vielzahl von Risi-kofaktoren verantwortlich. Die Ursachen liegen nur zumTeil in den Elternhäusern; viel öfter liegen sie in gesell-schaftlich zu verantwortenden Defiziten.Die Gefahr der Stigmatisierung besteht gerade dann,wenn der Umgang mit Sozialdaten nicht auf die fachlichbefassten Krankenkassen und Jugendämter beschränktbleiben soll, wie Sie vorschlagen. Das ist nicht nur da-tenschutzrechtlich sehr problematisch. Neben dem Ge-sundheitsdienst hätten dann praktisch alle Ämter Zugriffauf die kindesschutzbezogenen Daten.
Ich glaube nicht, dass es die Kooperationsbereitschaftvon Familien erhöht, wenn wir die sozialstaatlich ausge-richtete Jugendhilfe durch ein kontrollierendes Fürsorge-system ersetzen.
Ich befürchte vielmehr, dass Sie so einen Prozess auslö-sen, bei dem Einzelne sich noch mehr als jetzt dem Blickder Öffentlichkeit entziehen.Wer den Kinderschutz stärken will, sollte nicht dieAufgaben der Jugendämter beschneiden und diese anPolizei und Gesundheitsdienst delegieren. Das geht ander Realität vorbei.
Seit Jahren ist die Kinder- und Jugendhilfe massivenKürzungen ausgesetzt. Das verheerende Ergebnis sehenwir heute: Den Anlaufstellen fehlen die Mittel, um quali-fizierte Angebote machen zu können und schnell und ge-zielt einzugreifen. Wenn Sie ein System aufbauen wol-len, das einen effektiven Schutz von Kinderngewährleistet, dann müssen Sie da anfangen, wo Sie inden vergangenen Jahren Rotstiftpolitik betrieben haben.
Länder und Kommunen müssen finanziell in die Lageversetzt werden, eine handlungsfähige Kinder- und Ju-gendhilfe vorzuhalten. Die Jugendämter müssen so aus-gestattet sein, dass sie die treibende Kraft für eine Ver-netzung der verschiedenen Akteure sein können. Wirbrauchen eine starke Jugendhilfelandschaft, ein Netz-werk aus Vereinen, Verbänden, Kinderärzten, Betreu-ungseinrichtungen, Polizei und Gesundheitsamt.Ein besserer Kinderschutz muss her, und das schnell.Wir dürfen es nicht bei einer Schaufensterpolitik belas-sen, aber auch nicht in blinden Aktionismus verfallen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inden letzten Jahren und Monaten haben uns viele schreck-liche Fälle, in denen Eltern ihre Kinder vernachlässigthaben, verfolgt. Sie haben zu hitzigen Diskussionen inder Öffentlichkeit, aber auch hier im Parlament geführt.Immer wieder schwang dabei die Frage mit, inwieweitdas staatliche Wächteramt in die Familien eingreifendarf oder gar muss. In diesen Debatten war immer vonverpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen die Rede.Manche sprachen von Kindergeldkürzung; manche gin-gen sogar noch weiter und sprachen von einer frühenHerausnahme der Kinder.Seit wir uns näher mit diesem Thema beschäftigen,wissen wir – auch wenn wir kaum auf statistisch belast-bare Zahlen zurückgreifen können, sondern eine Viel-zahl von dramatischen, schrecklichen Einzelfällen vorAugen haben –, dass es an der Zeit ist, zu handeln. Des-halb haben die Grünen bereits im Oktober letzten Jahreshier einen Antrag eingebracht. Ich freue mich, dass dieKoalitionsfraktionen viele Punkte aus diesem Antrag fürgut befunden und in ihren heute vorliegenden Antragübernommen haben.
Vor allem aber freue ich mich, dass eine gewisse Serio-sität in das Thema eingekehrt ist und dass Sie sich inzwi-schen von all den Vorschlägen distanzieren, die ich vor-hin erwähnt habe und die uns nicht weitergebracht ha-ben.An diesem Punkt möchte ich noch etwas zur aktuellenDebatte sagen. Sie suchen zurzeit nach Gründen für denAusbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur. Man siehtdoch: Die beste Form der Prävention ist immer noch hin-
Metadaten/Kopzeile:
8934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Ekin Deligözsehen und den Kindern Gelegenheiten bieten. Genau daskönnen wir am besten in Kindergärten, Kinderkrippenund Ganztagsschulen. Gerade deshalb brauchen wir fürunsere Kinder diese Einrichtungen.
Wir müssen an dieser Stelle eines festhalten: Wirmüssen Kinderrechte stärken und die Kinder in den Mit-telpunkt stellen. Ich bedauere sehr, dass Sie die Veranke-rung der Kinderrechte in der Verfassung nicht in IhrenAntrag aufgenommen haben. Es wäre für die Koalitioneine gute Gelegenheit gewesen, sich eindeutig dazu zubekennen und es nicht bei Sonntagsreden zu belassen.Das fehlt mir in diesem Antrag. Sie sollten nicht nurüber diese Punkte reden, sondern sie auch in Ihren An-trag aufnehmen.
Kommen wir zu dem Verhältnis zwischen Kindern,Eltern und Staat. Wir müssen Vernachlässigung früherund lückenloser aufdecken. Wir brauchen eine Vernet-zung. Frau Golze, es geht nicht darum, dass wir die ein-zelnen Elemente gegeneinander ausspielen; vielmehrbrauchen wir sie alle, und zwar vernetzt. Wir brauchendie Ressourcen der Kinder- und Jugendhilfe. Außerdemdürfen wir nicht erlauben, dass die freiwilligen Leistun-gen, die aufsuchenden Leistungen der Kinder- und Ju-gendhilfe dem Sparen zum Opfer fallen und dass sie so-zusagen zur Sparbüchse der Nation werden.Wir müssen die Häufigkeit der Kontakte zu den Fami-lien erhöhen. Wir brauchen mehr verbindliche Ange-bote. Es ist ganz wichtig, im Rahmen der Vorsorgeun-tersuchungen nachzuschauen. Es wird über denzeitlichen Abstand dieser Untersuchungen debattiert.Außerdem stellt sich die Frage, ob die Vorsorgeuntersu-chungen geeignet sind, Vernachlässigungen aufzude-cken. Daran haben Kinderärzte ganz große Zweifel.Diese Zweifel müssen wir ernst nehmen. Sie geben inIhrem Antrag vor allem keine Antwort auf die zentraleFrage, wie der Datenabgleich vonstatten gehen soll. Wirmüssen diesbezüglich auch die Probleme des Daten-schutzes lösen. An diesem Punkt gibt es also noch Defi-zite.Wir müssen die bestehenden Regelungen evaluierenund besser bekannt machen. Rot-Grün hat zuletzt dieKinder- und Jugendhilfe dahin gehend reformiert, dassdie Schutzmöglichkeiten weiter ausgebaut werden.Der letzte Punkt. Wir brauchen Familienhebammen.Für die eine Familie sind acht Wochen mehr als genug,und für die andere Familie fangen nach acht Wochen dieProbleme erst an. Wir müssen mutig sagen, dass wir zuunseren Hebammen stehen, und wir müssen Arbeits-möglichkeiten für sie schaffen. Das festzuschreiben, isteine Aufgabe der Politik auf Bundesebene. Es ist aberauch eine Aufgabe der Kinder- und Frauenärzte, für eineVernetzung zu sorgen.Sie sehen: Es gibt noch viel zu tun. Wir stehen erst amAnfang. Seien Sie mutig in der Koalition! Wir sind esauf jeden Fall. Ich kann Ihnen aus Schleswig-Holsteinberichten, dass die Große Koalition dort einen Antragder Grünen zu diesem Thema einstimmig angenommenhat und jetzt in Gesetzesform gießt.Danke.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erhält jetzt die Kollegin Kerstin Griese von der SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirwollen und wir müssen mehr dafür tun, dass Kinder ge-sund aufwachsen. Wir wollen und wir müssen mehr da-für tun, dass Kinder besonders aus Risikofamilien bessergeschützt werden. Deshalb müssen wir schnell handeln,was auch durch die aktuellen Fälle unterstrichen wird.Wir müssen mehr tun, um deutlich zu machen, dassder Staat eine Verantwortung hat. Art. 6 des Grundgeset-zes besagt:Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürli-che Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen ob-liegende Pflicht.Aber es sagt auch deutlich:Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemein-schaft.Dieses Wächteramt müssen wir mehr und besser aus-füllen, damit alle Kinder die Chance haben, gesund auf-zuwachsen.
Dazu gehört, die Erziehungskompetenz der Eltern zustärken. Dazu gehört aber auch, mehr zu tun, um die me-dizinische Versorgung zu verbessern. Es muss überprüftwerden, ob die Intervalle der Vorsorgeuntersuchungenrichtig gewählt sind, ob die Qualität stimmt und ob nichtnoch anderes untersucht werden muss, um Misshandlun-gen und Vernachlässigungen früher zu erkennen.Ich bin überzeugt, dass Sanktionen nicht helfen wer-den. Ich glaube aber sehr wohl, dass Bonusmodelle hel-fen werden. Wir sehen das am Beispiel von Finnland, woes das Neuvola-System gibt. Eltern bekommen einenBonus dafür, dass sie mit ihren Kindern regelmäßig anUntersuchungen teilnehmen.
Was wir erreichen wollen und ganz dringend errei-chen müssen, ist ein verbindliches Einladewesen zurVorsorgeuntersuchung und die Teilnahme aller Kinderdaran. Es sollen nicht irgendwelche Statistiken erhöhtwerden. Vielmehr soll die Teilnahme tatsächlich allerKinder erreicht werden. Denn die 5, in manchen Stadt-teilen auch 25 und in manchen Stadtteilen sogar50 Prozent der Kinder, die nicht mehr zu Vorsorgeunter-suchungen gehen, sind die Problemfälle. Hier muss das
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8935
(C)
(D)
Kerstin Griesestaatliche Wächteramt ausgefüllt werden. Wir müssenuns darum kümmern, warum diese Kinder nicht zur Vor-sorgeuntersuchung kommen. Für sie müssen wir etwastun.
Ich will ausdrücklich sagen: Es gibt sehr viele sehrgute Ansätze. Die Bundeszentrale für gesundheitlicheAufklärung macht ganz tolle Arbeit. Die Aktion „Ichgeh’ zur U! Und Du?“, die in vielen Kindergärten durch-geführt wird, ist wirklich klasse.Ich sage aber auch ganz deutlich, Frau Golze: DerDatenschutz kann und darf kein Argument sein, um denSchutz von Kindern zu verhindern.
Der Datenschutz darf nicht dafür herhalten, dass Datennicht weitergegeben werden. Jugendämter, Gesundheits-ämter, Sozialämter, Krankenhäuser und der Kinder-schutzbund – sie alle müssen zusammenarbeiten können,damit solche schlimmen Fälle wie in der Vergangenheitnicht wieder passieren. Wir müssen uns dort kümmern,wo sich nicht genügend um Kinder gekümmert wird.Das hat auch etwas mit sozialer Integration, mit Bil-dungschancen und Gesundheitschancen für alle Kinderzu tun. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt auf Bundesebenemit dem Programm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinderund soziale Frühwarnsysteme“ damit beginnen, zuschauen, was in den Ländern und Kommunen eigentlichpassiert. Es werden Modellprojekte gestartet, um dieVersorgung von Kindern zu verbessern und zu fördern.Ich will deutlich sagen: Es gibt ein paar sehr gute An-sätze. Ich komme aus dem Landkreis Mettman, wo fürdie U 8, die etwa im Alter von dreieinhalb Jahren statt-findet, ein solches Einladewesen praktiziert wird. DasGesundheitsamt schreibt alle Eltern an. Dort, wo keineRückmeldung erfolgt, wird nachgehakt. Wir haben dorteine tatsächlich höhere Beteiligung an diesen Vorsorge-untersuchungen als woanders.In Düsseldorf wird mit dem Düsseldorfer Modell di-rekt nach der Geburt in den Geburtskliniken begonnen,um die Eltern abzuholen und denjenigen, die Hilfe brau-chen, zu helfen. In Dormagen – ich will dies ausdrück-lich erwähnen, weil es ein ganz toller Ansatz ist – begrü-ßen der Bürgermeister sowie seine Mitarbeiterinnen undMitarbeiter aus den Sozialämtern jedes Kind. Das istkeine Stigmatisierung. Jede Familie wird im Rahmendes Programms „Willkommen im Leben, willkommenals Familie in Dormagen“ aufgesucht und erhält Hilfs-maßnahmen. Das brauchen wir; so füllen wir das staatli-che Wächteramt aus.
Mein Fazit ist:Erstens. Wir dürfen kein Kind zurücklassen. Wir müs-sen uns um jedes Kind kümmern.Zweitens. Es ist unsere staatliche Verantwortung, unsum alle Kinder zu kümmern, auch um diejenigen, derenEltern ihnen nicht helfen.Drittens. Wir brauchen Chancen auf Bildung und ge-sundes Aufwachsen für alle Kinder.Ich ende mit einem schönen Zitat von RudolfVirchow. Er hat gesagt: Die Freiheit hat zwei Töchter:die Bildung und die Gesundheit. – Damit unsere Kinderall das, nämlich Bildung und Gesundheit, bekommen,müssen wir uns einsetzen und mehr als bisher tun. Daswollen wir auch. Die Koalition hat dazu Vorschläge vor-gelegt. Ich hoffe, dass wir sie gemeinsam unterstützenund durchsetzen können.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4604 und 16/4415 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Hartfrid Wolff , Michael
Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Sprache schafft Identität und ist Schlüssel zur
Integration
– Drucksache 16/2092 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Sibylle Laurischk von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die GroßeKoalition ringt um das Bleiberecht. Trotz der absehbarendemografischen Entwicklung besteht in der Union dieAuffassung, dass wir keine Zuwanderung mehr bräuch-ten.
Der Entwurf zum Zuwanderungsrecht sieht Verschärfun-gen vor. Da ist es an der Opposition in diesem Hause,
Metadaten/Kopzeile:
8936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Sibylle Laurischkendlich wieder über Integration zu reden und den Mi-grantinnen und Migranten in Deutschland zu sagen, dasssie bei uns willkommen sind.
Dazu müssen wir einander verstehen. Deshalb be-schreibt der Titel unseres Antrags „Sprache schafft Iden-tität und ist Schlüssel zur Integration“ haargenau die not-wendige Schwerpunktsetzung in der Integrationspolitik.Sprache ist das zentrale Kommunikationsmittel in einerGesellschaft.Ohne eine gemeinsame Sprachbasis ist ein Kennen-lernen nicht möglich. Es gibt keinen Austausch unterei-nander und damit auch keine Integration in das Gemein-wesen, in unsere Gesellschaft. Es gibt dann auch keineIntegration in der Arbeitswelt, wo die Nachfrage nacheinfachen Tätigkeiten immer mehr zurückgeht und in derder Weg ohne entsprechende Sprachkenntnisse schnur-stracks in die Sozialhilfe führt.
Die oft deutlich schlechteren Schulabschlüsse vonjungen Migrantinnen und Migranten sind eben auch aufunzureichende Deutschkenntnisse zurückzuführen. Dersoziale Sprengstoff, der aus solcher Perspektivlosigkeitentstehen kann, wird uns an der Situation in Frankreichdeutlich. Wir wollen die Integration von Migrantinnenund Migranten. Deshalb müssen wir die auch inDeutschland absehbare Entwicklung von sozialemSprengstoff mit aller Kraft verhindern.
Frühe Sprachstandstests mit anschließender individuel-ler Förderung schon ab dem dritten Lebensjahr, kosten-freies letztes Kindergartenjahr, Ganztagsschulen vor al-lem in Brennpunktgebieten und ein viel stärkeresZugehen auf die Eltern sind nötig.Ohne die Einbeziehung der Eltern ist ein Integrations-erfolg nur schwer möglich; und diese profitieren ja selbstvon Sprachkursen. Das Angebot ist vielfältig. Mutter-Kind-Kurse, Rucksackprojekte und spezielle Elternbil-dungsprogramme sind Projekte, die den Erwerb derdeutschen Sprache fördern. Ich rufe die Länder undKommunen auf, verstärkt solche Maßnahmen anzubie-ten, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: frü-hestmögliche Integrationsanstrengungen bei den Kin-dern und der Beginn einer nachholenden Integration fürdie Eltern.Daher ist es besonders zu begrüßen, wenn Zuwande-rinnen und Zuwanderer bereits bei der EinwanderungDeutschkenntnisse besitzen. Kann man sie aber zurPflicht machen? Der Ehegattennachzug ist neben derfast bedeutungslosen Zuzugsberechtigung von Hochqua-lifizierten und den Spätaussiedlern die einzige legale Zu-wanderungsmöglichkeit nach Deutschland. Wenn die zu-ziehenden Ehepartner bereits Deutschkenntnisse haben,erleichtert das nicht nur den Spracherwerb bei den Kin-dern, sondern natürlich auch die Integration des Zuzie-henden in Deutschland.
Daher sind Sprachkurse im Herkunftsland als erwei-tertes Angebot immer zu begrüßen.
Doch ob nun das Nachzugsrecht eines türkischen, chine-sischen oder amerikanischen Ehepartners zu einem deut-schen Partner oder zu einer deutschen Partnerin unterHinweis auf fehlende Sprachkenntnisse verweigert wer-den kann, erscheint mir mit Blick auf Art. 6 des Grund-gesetzes doch sehr fraglich.
Und was soll denn passieren, wenn das Testniveaunicht erreicht wird? Gibt es dann keinen Nachzug? Oderreicht ein minimaler Wortschatz aus, etwa für einen Su-permarkteinkauf, also Wörter, die man im türkischen La-den sowieso nicht braucht und mit denen man keineEmanzipation aus den sogenannten Parallelgesellschaf-ten erreicht?Mit diesen Beispielen wird klar, dass Sie das Druck-mittel, das Sie hier aufbauen wollen, doch gar nichtdurchhalten können.
Es geht hier nicht um Integration; es geht möglicher-weise sogar um Abschreckung. Warum gehen wir nichtden einfachen Weg und sorgen für einen massiven Aus-bau von verpflichtenden Sprachkursen für die Zuwan-derer hier bei uns in Deutschland?
Zusätzlich benötigen wir größere Anstrengungen zur Be-kämpfung beispielsweise von Zwangsverheiratungen.
Dies bringt mich zu dem Instrument, das durch dasZuwanderungsgesetz eingeführt wurde und dessen Fort-entwicklung nun dringend erfolgen muss: den Integra-tionskursen. Man kann den Eindruck gewinnen, dassman bei der Einführung der Integrationskurse nicht sorecht wusste, welche Ziele man eigentlich verfolgen willund welche Anstrengungen dafür nötig sind.
Nur so kann ich mir erklären, dass die Defizite derKurse, die doch klar auf der Hand liegen, überhaupt ent-standen sind.Die Evaluierung hat einige Zeit gekostet und die er-warteten Ergebnisse gebracht. Mir fehlt aber eine klareAussage zur Ausweitung der Stundenzahl. Da muss einedeutliche Flexibilisierung erfolgen, sodass schwierige
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8937
(C)
(D)
Sibylle LaurischkFälle auch mehr Stunden in Anspruch nehmen können.Allerdings halte ich weitere Verbesserungen gerade beiden Rahmenbedingungen der Teilnahme für erforder-lich: bessere Kinderbetreuung, möglichst zügige Teil-nahme an den Kursen nach der Einreise, Abschaffungder verwaltungsintensiven Teilnehmerbeiträge, vorge-schaltete Angebote der Alphabetisierung und vor allemeine größere Orientierung auf Jugendintegrationskurse.Bis September 2006 begannen über 5 000 allgemeineIntegrationskurse, aber nur 51 Jugendintegrationskurse.Wenn ich Ankündigungen des Bundesamtes für Migra-tion und Flüchtlinge über neue Konzepte für bessere Ju-gendintegrationskurse lese, dann kann ich nur sagen:Bitte schnell umsetzen!
Die Beherrschung der deutschen Sprache bietet Chan-cen, was Schülerinnen und Schüler mit Migrationshin-tergrund zunehmend verstehen. Als Beispiel nenne ichdie Hoover-Schule mit dem Stichwort „Deutsch auf demSchulhof“. Die Kenntnis weiterer Sprachen, gerade auchder Muttersprache, ist dann ein Wettbewerbsvorteil,weshalb der sogenannte muttersprachliche Unterrichtverstärkt in die Integrationsanstrengungen eingebundenwerden sollte.Ich halte aber nichts von Eingriffen in die Religions-freiheit und von der Forderung nach Deutsch in der Mo-schee. Die katholische Kirche denkt über einen stärkerenEinsatz der lateinischen Sprache im Gottesdienst nach.Haben Sie hier etwa auch Bedenken?Heute vor 175 Jahren starb Johann Wolfgang vonGoethe. Gegen Ende seines Lebens beschäftigte er sichmit dem Islam und mit östlichen Kulturen. Er verstanddie Notwendigkeit des Ost-West-Dialogs, wozu es ebenauch der Sprachkompetenz bedarf.Migration bringt Vielfalt. Vielfalt braucht eine Basiszur Verständigung, die durch den Erwerb der deutschenSprache geschaffen werden kann. Das Gegenteil vonVielfalt ist Einfalt; dies sollten wir bedenken.
Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Grindel von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Laurischk, wenn Sie nicht eine solche Rede gehal-ten hätten, wie Sie sie gehalten haben, würde ich IhnenFolgendes nicht entgegenhalten: Wir haben uns im In-nenausschuss anhand des Rambøll-Gutachtens zweiein-halb Stunden lang intensiv mit den Integrationskursenbeschäftigt; Sie waren bei dieser Sitzung nicht einmalda. Sie sollten dann auch nicht so viel Unsinn zu diesenIntegrationskursen sagen, wie Sie es getan haben, zumTeil ohne jegliche Kenntnis der Gesetzeslage.
Es wäre schön, wenn Sie zumindest bei den Sitzungen,in denen wir über diese Fragen intensiv reden, dabei wä-ren; das muss ich Ihnen deutlich sagen.
Das Rambøll-Gutachten geht in seinen Erkenntnissenfachlich weit über das hinaus, was Sie in Ihrem Antragniedergeschrieben haben. Wir werden schnell die not-wendigen politischen Konsequenzen daraus ziehen, undzwar mit der Novelle des Aufenthaltsgesetzes, das amkommenden Mittwoch im Kabinett verabschiedet wird.Darin haben wir bereits eine Reihe von wesentlichenÄnderungen mit dem Ziel der qualitativen Verbesserungder Integration, vor allen Dingen auch der Integrations-kurse vorgesehen.
Die Arbeitsgruppe eins des nationalen Integrationsgip-fels hat inzwischen umfangreiche Empfehlungen zurWeiterentwicklung der Integrationskurse erarbeitet.Deshalb stellt sich schon die Frage, warum Sie über-haupt den Antrag stellen. Man kommt der Wahrheit et-was näher, wenn man die Stellen betrachtet, wo Sie kon-kret werden. Ich muss deutlich sagen: Es ist schonbemerkenswert, was Sie da verlangen. Sie verlangeneine Verdoppelung der Kursstunden von jetzt 600 auf1 200 Stunden. Sie wollen eine Erhöhung des Stunden-satzes pro Tag und Teilnehmer von 2,05 Euro auf min-destens 3 Euro. Sie verlangen eine Abschaffung der Ei-genbeiträge bei Geringverdienern – was immer man inder FDP unter Geringverdienern verstehen mag.
Sie wollen umfangreiche Fahrtkostenzuschüsse sowieeine umfangreiche qualifizierte Kinderbetreuung. Wennich das zusammenzähle, dann komme ich bei konserva-tiver Berechnung auf einen dafür erforderlichenFinanzaufwand von 450 Millionen Euro anstelle der140 Millionen Euro, die derzeit dafür im Haushalt zurVerfügung stehen und die im Jahre 2006 nicht einmalabgerufen wurden.Ich sage Ihnen ganz deutlich: So geht das nicht. Esgeht nicht an, dass die FDP bei Haushaltsberatungen mitdicken Sparbüchern herkommt und uns vorwirft, wirwürden nicht ausreichend sparen, wir würden uns zusehr verschulden, und hier bei einem Einzelthema völligunbegründet eine Verdreifachung des Etatpostens bean-tragt. Das ist unseriös, das ist Populismus. Schon ausdiesem Grund disqualifiziert sich Ihr Antrag von selbst.
Sie wollen sich bei Kursträgern, bei Sprachschulen,bei freien Wohlfahrtsverbänden lieb Kind machen; dassteckt dahinter. Ich kann Ihnen aber in aller Deutlichkeit
Metadaten/Kopzeile:
8938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Reinhard Grindelsagen: So kann man an der fachlichen Debatte nicht teil-nehmen.Sie reden hier über die identitätsstiftende Wirkung derSprache, über die Bedeutung von Sprache. Dann solltenSie auch konsequent sein. Natürlich ist es richtig, dasswir vor dem Familiennachzug von Ehegatten einfacheDeutschkenntnisse verlangen, Deutschkenntnisse, dieausreichen, um jedes FDP-Plakat zu verstehen.
Dies setzt nämlich gerade in Migrantenfamilien, die bis-her nicht besonders integrationsbereit sind, ein richtigesSignal: Man hat in dieser Gesellschaft als Ausländeroder als Aussiedler keine gute Zukunft, insbesondere imHinblick auf die Kinder, wenn man nicht der deutschenSprache mächtig ist. Es geht um dieses Signal; Sie wol-len uns dabei nicht unterstützen. Deswegen ist Ihre Hal-tung hier inkonsequent, wenn Sie nicht zumindest einfa-che Deutschkenntnisse als Voraussetzung für denFamiliennachzug akzeptieren.
Es ist auch nicht so – das haben Sie in Ihrem Antragbehauptet und hier wiederholt –, dass wir nachholendeIntegration vernachlässigt haben. Kein Altzuwandererist aus Geldmangel bei Integrationskursen abgelehntworden. Das zentrale Problem der nachholenden Inte-gration ist ein ganz anderes. Es ist die Frage: Wie errei-chen wir noch besser als bisher Ausländer, die schon seitvielen Jahren bei uns leben und gleichwohl dringendenIntegrationsbedarf haben, der sich zum Beispiel nachtei-lig auf hier aufwachsende Kinder auswirkt, weil imHaushalt dieser Ausländer Deutsch praktisch keine Rollespielt? Die Frage ist also: Wie bringen wir Integrations-angebote in die Parallelwelt?Hier haben wir uns in der Koalition darauf verstän-digt, dass die Behörden der Grundsicherung, also dieOptionskommunen und Argen, durch ihre Vermittler undFallmanager ausländische Langzeitarbeitslose künftigdirekt und ohne Umweg über die Ausländerbehörde zumBesuch eines Integrationskurses verpflichten können,wenn der Ausländer oder Aussiedler schon deshalbkeine Arbeit findet, weil er nicht ausreichend Deutschspricht.
Das ist ein praktischer Beitrag zur Verbesserung dernachholenden Integration. Davon ist in Ihrem Antragnichts zu finden. Im Gegenteil: Sie fordern in Ihrem An-trag die konsequente Anwendung der bestehenden so-zialrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten. Sie übersehenaber, dass diese ins Leere laufen, wenn Zuwanderernicht zum Besuch von Integrationskursen verpflichtetwerden. Durch unsere Gesetzesänderung wird die Zahlder Verpflichtungen zunehmen, und damit werden dievon Ihnen angesprochenen Sanktionen eine größere Be-deutung bekommen.Da ich bei einigen der Grünen schon ein Zucken derAugen sehe: Es geht uns im Kern nicht um die Sanktio-nen, sondern darum, dass bisher nichtintegrationsbereiteAusländer diese Integrationskurse besuchen, und zwarvon der ersten bis zur letzten Stunde. Darum geht es unsin erster Linie, nicht um Sanktionen, um das noch ein-mal klar zu sagen.Ihre Forderung, hinsichtlich des Leistungsvermögensder Teilnehmer möglichst homogen besetzte Kurse zuschaffen, geht an der Realität vorbei.
Das würde im ländlichen Raum oder in Gegenden mitniedrigem Migrantenanteil nur dazu führen, dass dieKurse nie oder zu spät beginnen.
Prüfstein aller Verbesserungen müssen das Aufrecht-erhalten und der Ausbau eines zeitnahen und flächende-ckenden Angebots an Integrationskursen sein. Dazu ge-hören enge Netzwerke in den Kommunen und dieVerpflichtung der Kursträger, Teilnehmer an einen ande-ren Kursanbieter abzugeben, wenn Kurse so schnellerbeginnen können.Nicht homogene Kurse sind das Gebot der Stunde,sondern flexible Kursangebote. Generell 1 200 Stundenanzubieten, ist abwegig; denn immerhin erreichen40 Prozent der Teilnehmer das Sprachniveau B1 schonnach 600 Stunden. Teilnehmern, die nach 600 Stundennur das Niveau A2 erreichen, muss man in der Tat, aberflexibel auf den Einzelnen zugeschnitten, die Möglich-keit eröffnen, weitere 300 Stunden Unterricht zu erhal-ten.
Eines ist ganz klar – darüber sind wir uns mit den So-zialdemokraten einig –: An der Zielstellung „Sprach-niveau B1“ wollen wir auf keinen Fall rütteln.
Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir noch mehrqualifizierte Lehrkräfte und einen Qualitätswettbewerbzwischen den einzelnen Kursträgern brauchen. Wir brau-chen mehr zielgruppenorientierte Angebote, das heißt,spezielle Jugend- und Frauenkurse mit einer qualifizier-ten Kinderbetreuung und der Möglichkeit, Betriebsprak-tika oder eine Ausbildung am Ende des Kurses zu ma-chen.
Richtig ist – es wäre ganz schön, wenn Sie einmal zu-hören würden – die Forderung nach einer Aufwertungder Orientierungskurse, die Grundkenntnisse zurRechtsordnung, Geschichte und Kultur Deutschlands
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8939
(C)
(D)
Reinhard Grindelvermitteln. Ich stimme zu, dass wir hier das Stundenkon-tingent erhöhen sollten.Lassen Sie mich aus Aktualitätsgründen eine persön-liche Anmerkung machen: Mein Eindruck ist, dass esauch mancher Familienrichterin nicht schaden würde,einen solchen Orientierungskurs zu besuchen,
in dem man lernt, dass in Deutschland das Grundgesetzund nicht der Koran gilt. Das musste ich dazu einmal sa-gen.
Die Koalition nimmt die Empfehlungen der vielenExperten der entsprechenden Arbeitsgruppe des Inte-grationsgipfels sehr ernst. Wir werden sie im Rahmender Möglichkeiten des Haushalts umsetzen. Wenn wireine qualitative Verbesserung der Integrationskurse er-reichen wollen, dann wird das haushaltswirksame Kon-sequenzen haben. Das müssen wir bei der Aufstellungdes Haushalts 2008 thematisieren.
Ich sage an dieser Stelle aber auch: Integration ist eineQuerschnittsaufgabe. Angesichts dessen wäre es unfair,allein den Haushalt des Bundesinnenministers damit zubelasten. Für Integrationskurse muss insgesamt mehrausgegeben werden.
Herr Kollege Grindel, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Gruß von der FDP?
Ja.
Frau Gruß, bitte.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie uns zustimmen, dass
wir immerhin Einsparvorschläge gemacht haben, mit de-
nen man solche sinnvollen Konzepte finanzieren könnte,
während Sie keine Einsparvorschläge gemacht haben.
Ich weiß jetzt nicht, in welchem Bereich Sie von Ein-
sparvorschlägen sprechen: im Bereich der Integrations-
kurse? Ich bin da etwas ratlos.
Sie wollen den Haushaltsansatz für den Bereich, über
den wir hier reden, verdreifachen. Das ist nicht nötig. Ich
habe das bereits an einem Beispiel dargelegt und gesagt,
dass etwa 40 Prozent der Teilnehmer an diesen Integra-
tionskursen das Sprachniveau B1 nach 600 Stunden er-
reichen. Insofern ist eine Ausweitung auf 1 200 Stunden,
wie Sie es fordern, nicht nötig.
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Wir müssen uns
sehr genau anschauen, wie sich die Zahl der Zuwande-
rer, die momentan sinkt – Frau Laurischk hat das ange-
sprochen –, entwickelt. Wir müssen auch abwarten, ob
wir nicht durch die Verpflichtung für Altzuwanderer
mehr Kursteilnehmer haben werden. Ich kann für mich
persönlich und, wie ich denke, im Namen aller Innenpo-
litiker sagen: Wir wollen an dieser Stelle eine qualitative
Verbesserung, und zwar so, wie wir es mit den Experten
auf dem Integrationsgipfel besprochen haben. Für mich
heißt das auch, dass etwas mehr Mittel erforderlich sind,
insbesondere um die Jugend- und Frauenkurse zu ver-
bessern und die Stundenanzahl hierfür zu erhöhen.
Ich werde mich dafür einsetzen, dass hier mehr Mittel
zur Verfügung gestellt werden.
Ich habe aber auch gesagt, dass man nicht allein den
Haushalt des Bundesinnenministers damit belasten darf.
Wenn man Integration als Querschnittsaufgabe versteht,
müssen Mittel „on top“ kommen. Ich hoffe in diesem
Sinne, dass uns der Bundesfinanzminister bei den Inte-
grationsbemühungen helfen wird.
Herr Präsident, ich komme zur Schlussbemerkung.
Wir wollen viel fördern. Es geht aber nicht allein um das
Fördern, sondern auch um das Fordern. Integration ist
nicht nur eine Bringschuld des Staates; sie ist auch eine
Holschuld des Zuwanderers. Wer auf Dauer in der Auf-
nahmegesellschaft leben will, der muss auch einen akti-
ven Beitrag leisten, damit aus dem Nebeneinander, das
noch viel zu häufig besteht, ein Miteinander wird.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sevim Dağdelen von
der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Spracheschafft Identität und ist Schlüssel zur Integration“ würdein diesem Fall heißen: Deutsche Sprache schafft deut-sche Identität. Ich möchte gerne wissen, auf welche Be-standteile der deutschen Identität hier so großer Wert ge-legt wird.Zu Ihrem Antrag, liebe Frau Laurischk. Dieser Antragenthält zwar sehr viele Vorschläge, denen wir uns durch-aus anschließen könnten, doch in seiner Grundintentionkönnen wir ihm nicht zustimmen. Sie reduzieren Inte-gration auf den Spracherwerb. Was Sie allerdings vonden Regierungsfraktionen unterscheidet, ist, dass Siewenigstens die Rahmenbedingungen für den Sprach-
Metadaten/Kopzeile:
8940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Sevim DaðdelenSevim Dağdelenerwerb im Rahmen der Integrationskurse verbessernwollen.Einig sind Sie sich aber mit den Regierungsfraktionenwieder, wenn es um sozialrechtliche Sanktionen geht.Ich frage mich: Warum eigentlich? Erstens sind sozial-rechtliche Sanktionen bereits vorgesehen, und zweitenswollen die meisten Migrantinnen und Migranten an denKursen teilnehmen. Der Präsident des Bundesamtes fürMigration und Flüchtlinge, Herr Schmid, hat im Innen-ausschuss festgestellt, dass bei den alteingesessenen Mi-grantinnen und Migranten eine große Integrationsbereit-schaft vorliegt. Ihr Anteil liegt bei 60 Prozent, ohne dassWerbung gemacht wird, ohne dass sie einen Rechtsan-spruch auf diese Kurse haben. Angesichts dessen frageich mich, was die Propaganda unter dem Stichwort „not-wendige sozialrechtliche Sanktionsmöglichkeiten“ ei-gentlich soll.Irritiert war ich auch, als ich las, dass die identitäts-stiftende Integrationswirkung der deutschen Sprache bis-her unterschätzt worden sei. Genau das Gegenteil warund ist der Fall. Sehr verkürzt und einseitig gilt die Mo-nolingualität eben noch als wichtigste Voraussetzung fürdie Integration. Nicht ohne Grund steht der Sprachkursauch im Mittelpunkt des aktuellen Integrationspro-gramms und der aktuellen Integrationsdebatte. Die Inte-grationskursverordnung lässt sich eindeutig als ein natio-nalpädagogisches Mittel beschreiben, das Migrantinnenund Migranten die deutsche Kultur- und Werteordnungbeibringen soll.Das Erlernen der deutschen Sprache ist wichtig fürdas Berufsleben, für die Teilhabe an Bildung und Kultursowie an gesellschaftlichen und politischen Entschei-dungsprozessen; das bestreitet hier niemand. Aber feh-lende oder unzureichende Deutschkenntnisse dürfennicht zu Ausgrenzung führen oder zur Ausgrenzung be-nutzt werden.
Wer die Bildungs- und Berufschancen der Migrantin-nen und Migranten wirklich verbessern will, muss sichzum Beispiel für einen Rechtsanspruch auf kostenloseKita- und Kindergartenplätze einsetzen,
und zwar nicht nur für das letzte Jahr. Darüber hinausbedarf es der Abschaffung des dreigliedrigen, selektivenSchulsystems und der Einführung von Gesamt- und Ge-meinschaftsschulen.
Aktuell wird der Bericht des Sonderberichterstatters derUN für das Recht auf Bildung, Herrn Muñoz, diskutiert,in dem er die soziale Ungleichheit des deutschen Bil-dungssystems scharf kritisiert und sagt, da sei Hand-lungsbedarf angezeigt.
Ausgrenzung und Diskriminierung beruhen nichtnur auf sprachlichen Missverständnissen. Wie wollenSie sonst erklären, dass Migrantinnen und Migranten beigleichem Schulabschluss bei der Ausbildungsplatzver-gabe systematisch benachteiligt und diskriminiert wer-den oder dass Kinder nichtdeutscher Herkunftssprachein der Grundschule und bei der Empfehlung für denÜbergang in die Sekundarstufe I grundsätzlich schlech-ter bewertet werden?Die Linke vertritt nicht die verkürzte und antirepubli-kanische Auffassung, dass Sprache Schlüssel zur Inte-gration ist. Für die Linke ist der Schlüssel zur Integrationin diese Gesellschaft die Teilhabe, die Partizipation anallen gesellschaftlichen Ressourcen.
Da reicht es eben nicht, das ehrenamtliche Engagementals Instrument zum Erlernen der deutschen Sprache vor-zuschieben, wie es in diesem Antrag gemacht wird. Ge-rade weil wir der Meinung sind, dass Integration nurüber politische und soziale Rechte erfolgreich seinkann, ist für uns weder der Integrationskurs im Allge-meinen noch der Orientierungskurs im Konkreten dererste Schritt zur Eingliederung, wie es in diesem Antragheißt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Einbürgerungträgt durch die Anerkennung der Person und ihrer Aus-stattung mit Rechten den entscheidenden Teil zur Inte-gration bei.
Wenn Sie erlauben, Herr Präsident, möchte ich, dawir uns noch in der Antirassistischen Aktionswoche be-finden, abschließend sagen: Es gilt den gesellschaftli-chen Realitäten wie dem strukturellen Rassismus, der in-stitutionellen Diskriminierung und den soziokulturellenAusgrenzungen zu begegnen. Sie tun in diesem Zusam-menhang immer so, als müssten die aufgeklärten undzivilgesellschaftlich voll entwickelten Deutschen diePrinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, derGleichberechtigung, der Toleranz und der Religionsfrei-heit gegen die Migrantinnen und Migranten verteidigen.Das ist ein Hohn. Sie, insbesondere die Große Koalition,die CDU/CSU und auch die SPD, sollten selbst erst ein-mal einen Orientierungskurs zu den Menschenrechtenbesuchen.
Was Sie von den Menschenrechten halten, haben Sie mitder unsäglichen sogenannten Bleiberechtsregelung, dieSie getroffen haben, erst kürzlich bewiesen.Danke sehr.
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Bürsch vonder SPD-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8941
(C)
(D)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich erinnere an das Thema, das heute auf der Tagesord-nung steht, nämlich Integration. Als Positivdenker sageich zur FDP: Willkommen im Klub! Sie haben offenbarauch entdeckt, dass Integration eine wichtige Aufgabeist, und zwar eine Aufgabe, die auch staatliche Unter-stützung verlangt. Eine neoliberale Lösung – jeder sollsich selber helfen – ist hier nicht angesagt. Sie schreibenselbst in Ihrem Antrag: Wir brauchen einen aktivieren-den, unterstützenden Staat. Das ist erstaunlich für dieFDP. Deshalb will ich das positiv festhalten.Ansonsten erinnert mich Ihr Antrag an Hase und Igel.Nicht nur weil er schon ein halbes Jahr alt ist, entdecktman darin Dinge, die im Grunde überholt sind. Insge-samt haben wir uns mit dem, was der Antrag zum Inhalthat, im Innenausschuss und an verschiedenen anderenStellen bereits befasst. Aber ich will heute Abend gerneein bisschen Volkshochschule spielen und darstellen,was wir alles schon auf den Weg gebracht haben. Das istvielleicht auch für die FDP ein Anlass, zu begrüßen, wasdie Regierung macht.Natürlich, Frau Laurischk, da gibt es keinen Zweifel:Die Sprache schafft Identität und ist deshalb eine derwichtigsten Säulen der Integration. Das ist allerdingsnicht neu. Hier kann ich an das erinnern, was die rot-grüne Koalition vor einigen Jahren auf den Weg ge-bracht hat.
Im Zuwanderungsgesetz ist Integration zum ersten Malausdrücklich als Aufgabe vorgesehen, und mit diesemGesetz wurden Sprachkurse mit staatlicher Finanzierungeingeführt. Das Bundesamt für Migration und Flücht-linge hat, seit das Zuwanderungsgesetz in Kraft ist, her-vorragende Arbeit geleistet. Es gibt jetzt ein flächen-deckendes Angebot von zugelassenen Trägern;
insgesamt handelt es sich um die wirklich vorzeigbareund nennenswerte Zahl von 1 800. Das allein ist in diesenzwei Jahren schon ein großer Erfolg. Es gibt gegenwärtig16 815 Kurse und rund 250 000 Teilnehmer. Von diesenTeilnehmern – das sage ich, um die Statistik an dieserStelle zu ergänzen – sind 60 Prozent Frauen; auch das istein wichtiger Erfolg. Wir sind uns einig: Frauen haben,was die Sprachentwicklung der Kinder betrifft, eine be-sondere Verantwortung. Nur mit diesen Sprachkursenkann Integration auch längerfristig gelingen.Nach Schätzungen der Träger erreicht allerdings nurknapp die Hälfte der Teilnehmer das angestrebte Sprach-niveau B1. Insofern besteht kein Zweifel, dass es Ver-besserungsbedarf gibt. Wir haben allerdings schon imInnenausschuss deutlich gemacht, dass wir wesentlicheVerbesserungsvorschläge aus dem zitierten Rambøll-Gutachten übernehmen wollen.Um es deutlich zu sagen, Frau Laurischk: Wir brau-chen einen verbindlichen Abschlusstest, mit dem sichdie unterschiedlichen tatsächlich erreichten Sprachni-veaus nachvollziehen lassen. Ein solcher Test wird ent-wickelt. Derzeit kann in der Tat nur festgestellt werden,wie viele der Teilnehmer, die sich zur Prüfung angemeldethaben, den Test bestanden haben. Diese Situation befriedigtauch uns nicht. Es werden längst nicht alle Teilnehmeran den Sprachkursen zum Test angemeldet, sei es, weildas Niveau B1 nicht erreichbar scheint, sei es, weil demTest von den Kursträgern mitunter sogar zu geringe Be-deutung beigemessen wird. Bislang meldet nur knappein Viertel der Kursträger alle Teilnehmer zum Ab-schlusstest an. Circa 10 Prozent der Träger melden kaumoder gar keine Teilnehmer an. Das bedeutet, von einemgroßen Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wissenwir nichts über das Sprachniveau, das sie nach immerhin600 Stunden Sprachunterricht erreicht haben.Auch im Hinblick auf das erreichte Sprachniveau der-jenigen, die am Abschlusstest teilnehmen, ihn aber nichtbestehen, gibt es bisher keine Aussagen. Das ist in derTat unbefriedigend. Daran wollen wir etwas ändern. DieVerabredungen dazu sind schon getroffen.
An dieser Stelle kann ich auf das verweisen, was wir imInnenausschuss hinlänglich besprochen und schon aufdie Schiene gebracht haben.Die SPD-Fraktion schlägt vor: Jeder Teilnehmer sollam Ende des Kurses eine Urkunde in der Hand halten,aus der hervorgeht, was er kann und was er erreicht hat.Das ist ein wichtiger Anreiz. Es ist außerdem eineErfolgskontrolle für die Teilnehmer und die Träger. DieTeilnehmer sollen und müssen ihren Sprachstand erfahren;denn ihre Sprachkenntnisse sind nicht nur für das täglicheLeben wichtig, sie können auch, wie wir wissen, einewichtige rechtliche Voraussetzung für die Erteilung einerNiederlassungserlaubnis oder für eine spätere Einbürgerungsein. Für die Träger sind die zertifizierten Erfolge bzw.Teilerfolge ihrer Schüler natürlich auch eine Art Bestäti-gung und ein Anreiz, den Unterricht an den Stellen, andenen es nötig ist, zu verbessern.Die Ergebnisse sind aus meiner Sicht aber noch auseinem anderen Grund wichtig – das hat der KollegeGrindel erwähnt –: Sie sind eine Voraussetzung für denQualitätswettbewerb unter den Trägern. Auch das gehörtzur Marktwirtschaft; hier soll durchaus Wettbewerbstattfinden. Konkurrenz belebt auch auf diesem Feldnicht nur das Geschäft, sondern sie verbessert auch dieErgebnisse.
– Damit müsste man bei der FDP eigentlich eine offeneTür einrennen. Wenn Sie hierbei mitmachen wollen, sindSie willkommen.Schließlich sind die Ergebnisse des Abschlusstestsnatürlich ein wichtiges Kontrollelement für den Bund.Der Bund zahlt hierfür, wie wir alle wissen,140 Millionen Euro. Daher wollen wir auch erfahren,was dabei herauskommt.
Metadaten/Kopzeile:
8942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Michael BürschJa, Frau Laurischk, wir brauchen – das wurde schonfestgestellt – eine Flexibilisierung der Stundenzahl.Ein Sprachkurs im Umfang von 600 Stunden reicht nichtfür jeden Teilnehmer aus. Die Gutachter schätzen, dassetwa 40 Prozent der alphabetisierten Teilnehmer wegengeringer sprachlicher Vorkenntnisse oder einer einfachenVorbildung schlicht keine Chance haben, innerhalb dervorgesehenen 600 Stunden das Sprachniveau B1 zu er-reichen. Das müssen wir unbedingt ändern. Wir müssenjedem die Chance geben, sich im täglichen Leben in seinerUmgebung selbstständig sprachlich zurechtzufinden undseinem Alter und Bildungsstand entsprechend ein Ge-spräch zu führen und sich schriftlich auszudrücken. Dasist die Rahmenbedingung, die in der Integrationskurs-verordnung definiert ist, das heißt die Voraussetzung, dieerfüllt werden muss. Dahinter dürfen wir nicht zurück-bleiben. Das ist sicherlich keine einfache Aufgabe.Im Umgang mit der deutschen Sprache hatten schonganz andere, auch hochmögende Menschen ihre Schwie-rigkeiten. Der österreichische Schriftsteller AlfredPolgar zum Beispiel hat einmal gesagt:Ich beherrsche die deutsche Sprache, aber sie ge-horcht nicht immer.Wichtig ist vor allem eines: Wir dürfen nicht das Kurs-ziel den Fähigkeiten der Teilnehmer anpassen, sondernumgekehrt. Wir müssen die Stundenzahl den Fähigkeitendieser Teilnehmerinnen und Teilnehmer anpassen.Frau Laurischk, auch an einer anderen Stelle habenSie unsere Zustimmung: Wir brauchen einen besserenOrientierungskurs. Wenn wir die Integration als ver-stärkte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichenund kulturellen Leben in Deutschland ernst nehmen,dann müssen wir diesen Orientierungskurs aufwerten.Durch den Kurs sollen Kenntnisse der Rechtsordnung,Kultur und Geschichte Deutschlands vermittelt werden.Das ist aus meiner Sicht eine Grundvoraussetzung, umsich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. DiesenAnforderungen wird der Orientierungskurs bisher unbe-stritten kaum gerecht. Insofern brauchen wir ein ver-bindliches und möglichst praxisorientiertes Curriculumfür den Orientierungskurs. Nur so kann der Kurs wirk-lich eine zusätzliche Hilfe bei der Aufnahme in unsereGesellschaft sein.Fazit: Manches ist richtig. Herr Grindel hat aberschon sehr viel ausführlicher darauf hingewiesen: Wirals Regierung, die wir Verantwortung tragen, können esuns nicht erlauben, im Wolkenkuckucksheim Vorschlägezu machen. In aller Freundschaft, liebe FDP: Wir müssendarauf achten, ob das finanzierbar und machbar ist.Natürlich wären 1 200 Stunden Deutschunterricht fürbestimmte Zielgruppen schön. Aber wie, werte Kolle-ginnen und Kollegen von der FDP, wollen Sie das bitteschön finanzieren?
Ich habe einmal einen Ihrer Vorschläge durchgerechnet,nämlich den Vorschlag, den Stundensatz von derzeit2,05 Euro auf mindestens 3 Euro anzuheben. Allein daswürde eine Anhebung der Gesamtkosten um80 Millionen Euro bedeuten.
Ich frage Sie: Wo ist von Ihrer Seite ein Deckungsvor-schlag für diesen Vorschlag?
Utopien helfen uns nicht weiter. Wir sind gehalten,hier praxisorientiert vorzugehen.
Ich appelliere nochmals an Sie: Wir reden hier übereine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir werden dieIntegration nur dann zu einem Erfolg bringen, wenn wirdas gesamtgesellschaftlich angehen, wenn alle Fraktio-nen möglichst an einem Strang ziehen und wenn wir dieVorschläge, die wir machen, am Ende auch darauf abklop-fen, ob sie finanzierbar und realitätsbezogen sind. WennSie das für die künftige Zusammenarbeit in Ihren Vor-schlägen beachten, dann können wir daraus vielleicht einGesamtkunstwerk machen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Josef Winkler vom Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Bevor ich auf den Antrag der FDP eingehe, willich auf die Redner der Regierungskoalition eingehen.
– Die vier Minuten werde ich ausnutzen.Herr Kollege Grindel,
ich halte es erstens für uncharmant und zweitens für derSache nicht angemessen, wenn Sie mit dem Holzknüppelzurückschlagen, während eine Dame, Frau KolleginLaurischk, gegen Sie mit dem Florett ficht.
Herr Dr. Bürsch, wir brauchen keine Volkshochschul-kurse, wie Sie eben gesagt haben, sondern endlich eineRegierungsvorlage, in der steht, was Sie an diesen Kursenändern wollen. Die Probleme sind im Prinzip seit einein-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8943
(C)
(D)
Josef Philip Winklerhalb Jahren bekannt. Sie haben aber immer noch nichtsvorgelegt.
Das, was Sie jetzt eben abgeliefert haben, fasse ich einmalunter dem Begriff „Arroganz der Macht“ zusammen.
Die Kollegin Laurischk hat Ihren Antrag vorgestellt.Ich will mich jetzt gar nicht allzu sehr darüber aufregen,sondern mich eher darüber freuen, dass die Forderungenzu einem überwiegenden Teil aus unserem ein Vierteljahrvorher vorgelegten Antrag „Zwischenbilanz für Integra-tionskurse des Jahres 2005 vorlegen“ übernommen wor-den sind. Wir freuen uns ja immer, wenn unsere Arbeitnicht völlig umsonst war.Wichtige gesellschaftspolitische Weichenstellungenin der Integrationspolitik – zum Beispiel gleichrangigeberufliche Eingliederungsmaßnahmen, Einbürgerungs-politik oder Ähnliches – finden sich im FDP-Antrag leidernicht. Dass Deutschlernen wichtig ist, ist sicherlich einewichtige Botschaft – das respektieren wir auch –, aberals alleiniges Heilmittel greift es wohl zu kurz. Ich kannaber auch Ihre Einschätzung, Frau Kollegin Dağdelen,dass eine solche Forderung antirepublikanisch sei, nichtteilen. Das sehen wir als Grüne anders.Ziel der Integration muss die Chancengleichheit fürMigrantinnen und Migranten bei der Bildung, auf demArbeitsmarkt und in allen anderen gesellschaftlichen Be-reichen sein. Instrumente dafür können zum Beispiel dieGleichstellung des Islam mit den Kirchen – die dies imÜbrigen auch fordern – und die Vermittlung unsererWerte in Schulen und in den bereits erwähnten Orientie-rungs- und Integrationskursen sein.Zugleich müssen wir aber auch die Stimmung in derBevölkerung ernst nehmen – dass wir gerade die Interna-tionale Woche gegen Rassismus begehen, wurde bereitserwähnt –, die sich in der wachsenden Ablehnung allesFremden oder auch auf der konservativen Seite diesesHauses durch ein ständiges Wiederauflebenlassen derLeitkulturdebatte zeigt. Unserer Meinung nach lautet dierichtige Antwort allerdings nicht „Deutsche Leitkulturqua Gesinnungstest“, sondern „Chancengleichheit durchAnerkennung“. Deshalb haben wir als grüne Bundestags-fraktion im letzten Jahr ein umfassendes Integrationskon-zept vorgelegt, das viele Punkte enthält, die Sie auf derRegierungsseite meines Erachtens schon längst hättenumsetzen können.
Ich will jetzt nicht auf die einzelnen Punkte eingehen.Wie gesagt, wir stimmen mit vielen Punkten überein, dieFrau Laurischk vorgetragen hat. Ich habe sie in diesemHause schon wiederholt vorgestellt; zum Beispiel ist füruns klar, dass der Spracherwerb sehr früh einsetzenmuss.Für uns ist es offensichtlich, dass das Bildungssystem,das wir in der Föderalismusreform fahrlässigerweisevöllig aus der Hand des Bundes gegeben haben, einenSchlüssel darstellt. Es ist unserer Auffassung nach nichtbesonders intelligent, vor einer Tür zu stehen und zu be-klagen, dass sie verschlossen ist, aber gleichzeitig denSchlüssel wegzuwerfen bzw. dem Nachbarn zu geben.Diese Unlogik in Ihrer Politik müssen Sie erst einmalaufdecken.Was Sie in dem Riesenpaket zum Ausländerrecht,das demnächst im Kabinett beschlossen werden soll, zurIntegrationsförderung planen, fördert unserer Meinungnach Integration nicht, sondern schadet ihr sogar. Daswerden wir in den nächsten Wochen noch lang und breitzu diskutieren haben.Ich freue mich auf die Debatte in den Ausschüssen.Vielleicht sehen wir uns tatsächlich dort, Frau Laurischk.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache16/2092 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend im Innenausschuss beraten werden soll.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 14:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
11. Sportbericht der Bundesregierung
– Drucksache 16/3750 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
tem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatsse-
kretär Dr. Christoph Bergner.
D
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habedie Freude, Ihnen nunmehr schon den 11. Sportberichtder Bundesregierung vorzulegen. Dieser Bericht istnaturgemäß ein Rückblick auf die sportpolitischenSchwerpunkte der vergangenen Wahlperiode. Er ist abergleichzeitig als Einladung an die Ausschüsse zur sport-politischen Diskussion über zukünftige Schwerpunkteund Akzente zu verstehen.
Metadaten/Kopzeile:
8944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Dr. Christoph BergnerDabei ist auf eine Besonderheit aufmerksam zu machen.Der Sportbericht wird üblicherweise in einem vierjährigenTurnus vorgelegt. Die vergangene Wahlperiode dauerteallerdings nur drei Jahre,
sodass wir es uns erlaubt haben, in diesen Bericht gleich-zeitig Ereignisse wie die Olympischen und Paralympi-schen Winterspiele und die Fußballweltmeisterschaft mitaufzunehmen und auch schon ansatzweise einige Ausfüh-rungen über die sportpolitischen Schwerpunkte dieserWahlperiode zu machen. Ich gebe zu: Im Bereich derSportpolitik fällt eine solche legislaturperiodenübergrei-fende Kontinuität – zumindest in vielen sportpolitischenFörderbereichen – nicht schwer. Es hat sich gezeigt, dassin diesem Sektor immer wieder eine große, fraktions-übergreifende Kontinuität festzustellen war. Kontinuitätherrscht jedenfalls bei den Bemühungen um die entspre-chenden Haushaltsansätze, von denen der Bericht inbesonderer Weise Kenntnis gibt. Die Sportförderung desBundes hat in dem Berichtszeitraum insgesamt920 Millionen Euro betragen, davon allein 700 Millio-nen Euro im Bereich der Spitzensportförderung desBMI.Der Berichtszeitraum stand im Zeichen der Vorberei-tung der Fußballweltmeisterschaft und ihrer erfolgrei-chen Durchführung, wozu eigenständige Berichte gege-ben wurden. Aber im Schatten dieses Großereignissesgeschah die Förderung vieler Bereiche des Spitzensportsdurch den Bund – davon wird Zeugnis abgelegt – immerunter dem Gesichtspunkt der internationalen Leistungs-fähigkeit. Die Förderhöhe wurde – darauf lohnt es sichzu verweisen – annähernd konstant gehalten. Die108 Millionen Euro, die uns in diesem Haushaltsjahr zurVerfügung stehen, sind zwar nominell 16,6 MillionenEuro weniger als 2006. Diese Verringerung der Ausga-ben ist mit dem Wegfall der durch die Fußballweltmeis-terschaft im Vorjahr bedingten Kosten zu erklären. DiePosition „Zentrale Maßnahmen“ mit reichlich 70 Millio-nen Euro zur Förderung der Sportverbände und derOlympiastützpunkte stellt nach wie vor einen konstantenFörderschwerpunkt dar. Dabei ist mit Blick auf das ge-genwärtige Haushaltsjahr und die Veränderungen durchden Wechsel der Legislaturperiode auf die Einführungvon Verpflichtungsermächtigungen hinzuweisen, diedem Sport erhebliche Planungssicherheit geben. So vielin groben Zügen zu dem sicherlich wichtigen Berichts-schwerpunkt Haushalt.Die Spitzensportförderung braucht wissenschaftlicheBegleitung; auch davon weiß der Bericht Kenntnis zugeben. Die Bundesregierung hat deshalb im Berichts-zeitraum die Leistungsfähigkeit der von ihr gefördertensportwissenschaftlichen Institute durch eine Erhöhungder Fördermittel gestärkt. Die Optimierung des wissen-schaftlichen Verbundsystems und im Zusammenhangdamit die Erhöhung des Praxisbezuges werden – darüberkönnen wir im Ausschuss noch ausgiebig diskutieren –ein wichtiges Aufgabenfeld künftiger Sportpolitik sein.Dabei werden wir natürlich die Anregungen des Wissen-schaftsrates, die in jüngster Zeit eingegangen sind, be-rücksichtigen, soweit sie nicht bereits umgesetzt wurden.In den Berichtszeitraum fällt das von den VereintenNationen ausgerufene Jahr des Sports und der Leibeser-ziehung, das 2005 begangen wurde und im Zeichen vonVölkerverständigung, Frieden und Integrationsförderungstand. Die Bundesregierung hat – auch mit massiver fi-nanzieller Unterstützung des Parlamentes und des zu-ständigen Ausschusses – zahlreiche Projekte unterstützt,die möglichst nachhaltig eine breitgestreute Teilhabe anden sozialen Chancen, die der Sport bietet, schaffen sol-len. Dazu ist im Bericht Näheres zu lesen.
Das herausragende Ereignis für den Sport selber undfür die Sportpolitik, das in den Berichtszeitraum fällt,war – dies sollte noch einmal hervorgehoben werden –der Fusionsprozess von DSB und NOK, der im Mai2006 mit dem Zusammenschluss zum Deutschen Olym-pischen Sportbund endete. Die Bundesregierung hat inder vorangegangenen wie in dieser Wahlperiode diesenProzess begleitet und, wo immer möglich und vom Sportselbst gewünscht, unterstützt. Gemeinsam mit demDOSB als nun größerer und stärkerer Dachorganisationgilt es für uns als Haushaltsgesetzgeber in der Zukunft,die Eigenverantwortung des Sports zu stärken und diePlanungssicherheit so weit wie möglich zu erhöhen.Ein weiterer Schwerpunkt des Berichts, den ich kurz– auch aus aktuellem Anlass – ansprechen will, ist dieDopingbekämpfung. Es bedarf keiner besonderen Er-wähnung, dass der gemeinsame Kampf gegen Dopingdurch Sport, Politik und Wirtschaft ein wichtiges Anlie-gen der Bundesregierung ist und der Gesundheit derSportlerinnen und Sportler, aber auch der Fairness derWettkämpfe, die die Substanz des Sportes ausmachen,dient. An den Anfang des Berichtszeitraums fällt dieGründung der unabhängigen Nationalen Anti-Doping-Agentur, NADA – es war am 15. Juli 2002, wenn Siesich daran erinnern –, die insbesondere durch dieBeisteuerung des Stiftungskapitals in Höhe von5,1 Millionen Euro durch den Bund möglich wurde. WieSie sich vielleicht erinnern können, haben wir im letztenJahr die Einlage – auch auf Betreiben des Parlamentes –erhöht. Wir appellieren im Zusammenhang mit der Vor-stellung des Sportberichts noch einmal an die Wirtschaft,den Sport und die Länder, ihren Finanzierungsbeitrag zuleisten, damit die NADA ihre wichtige Aufgabe erfüllenkann.
Im Zusammenhang mit der Dopingbekämpfung ist imBerichtszeitraum das Dopingopfer-Hilfegesetz hervor-zuheben. Die Einrichtung eines Hilfsfonds in Höhe von2 Millionen Euro ermöglicht es, Dopingopfer zu unter-stützen und Dopingpräventionsprojekte zu finanzieren.Ich will nur am Rande darauf eingehen, dass vor zweiWochen der Entwurf eines Anti-Doping-Gesetzes imKabinett behandelt wurde und dieses in Kürze hier imParlament eingebracht werden kann. Es ist ein Gesetz,das im Wesentlichen die Effektivität der Dopingbekämp-fung durch staatliche Maßnahmen erhöhen soll. Wir wis-sen, dass diesem Gesetz schwierige Gespräche in derKoalition vorausgingen, die zu einem Konsens geführthaben, der nunmehr mit Leben gefüllt werden sollte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8945
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Dr. Christoph BergnerDopingbekämpfung hat – auch da will ich einen aktu-ellen Bezug herstellen – im Rahmen der EU-Ratspräsi-dentschaft eine entscheidende Rolle gespielt. In der letz-ten Woche fand, wie wir feststellen konnten, eine sehrerfolgreiche EU-Sportministerkonferenz statt. Einer derwichtigen Tagesordnungspunkte, die in Stuttgart behan-delt wurden, betraf die Frage der Vernetzung der natio-nalen Antidopingagenturen, was die einstimmige Unter-stützung der EU-Sportminister gefunden hat. Es lassensich überhaupt viele Verbindungslinien von dem Sport-bericht zu der europäischen Ebene und zu den auf derSportministerkonferenz behandelten Themen ziehen.
Herr Kollege Bergner, kommen Sie bitte zum
Schluss.
D
Ich muss zum Schluss kommen.
Die Handball-WM hat uns gezeigt, dass die erfolgrei-
che Geschichte der Sportpolitik auch über den Berichts-
zeitraum hinausgeht. Ich freue mich auf die Diskussion
im Sportausschuss, und ich bin sicher, wir werden, wenn
wir uns gemeinsam als Parlament weiter zu den sportpo-
litischen Leitlinien bekennen und sie kreativ fortschrei-
ben, auch weiterhin in der Bundesrepublik Deutschland
auf sportlichem Gebiet Sommer- und Wintermärchen er-
leben können.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Detlef Parr von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sport-bericht der Bundesregierung ist kein Märchen, sonderneine Bilanz der letzten drei Jahre, die sich in vielen Be-reichen sehen lassen kann. Die Krönung waren sicher-lich die Fußball-WM, die in allen bundespolitisch rele-vanten Bereichen den Ansprüchen mehr als genügte,
und die Olympischen Winterspiele in Turin, die ein ein-drucksvoller Beweis für die Leistungsfähigkeit der Win-tersportnation Deutschland waren.
Hier bedankt sich artig die größte Oppositionspartei indiesem Bundestag bei der Bundesregierung, sowohl beiOtto Schily als auch bei Wolfgang Schäuble und beiHerrn Dr. Christoph Bergner. Ich glaube, hier ist gut ge-arbeitet worden.
Jetzt ist wieder Alltag angesagt. Als größte Heraus-forderung steht Peking vor der Tür. Die Rückschläge beiden letzten Sommerspielen haben zwar ein neues Den-ken eingeleitet; das Ziel liegt aber doch in erklecklicherFerne. Beginnen wir bei dem Dreiklang der Spitzen-sportförderung: Stützpunktsystem, Sportwissenschaf-ten und Talentsuche/Talentförderung. Ist das Zusammen-spiel wirklich harmonisch? Kann es bei 20 Olympia-stützpunkten mit 14 Sportfördergruppen der Bundes-wehr und 138 Bundesstützpunkten zu einer reibungs-losen Vorbereitung unserer Spitzenathletinnen undSpitzenathleten, zu Trainingsabläufen aus einem Gusskommen? Ist die Sportwissenschaft in Deutschland soaufgestellt, dass die Vielzahl der Erkenntnisse der Hoch-schulinstitute, des Bundesinstituts für Sportwissenschaf-ten, des IAT, des FES und des neugeschaffenen Projekts„Momentum“ an der Sporthochschule Köln effizient indie Praxis umgesetzt werden kann?Die Präsentation des Sportentwicklungsberichtes ges-tern im Sportausschuss beweist eher das Gegenteil. MitZahlenfriedhöfen ist wenig Staat zu machen. Die Win-tersportverbände haben gezeigt, dass durch Konzentra-tion und Bündelung aller Kräfte die Synergieeffekte ent-stehen, die national und international zum Erfolg führen.Es ist gut, dass wir uns in Kürze mit dem Verteilerstromder Sportfördermittel etwas detaillierter auseinanderset-zen werden.Bei der Talentsuche und Talentförderung gehören dieEliteschulen des Sports auf den Prüfstand. Sie wartenmit höchst unterschiedlichen Ergebnissen in den Bun-desländern auf. Es ist zum Beispiel nicht zu verstehen,dass Schülerinnen und Schüler, die den Leistungsansprü-chen nicht mehr genügen, in einzelnen Bundesländerndiese Schulen weiter besuchen dürfen. Ein Schulwechselmuss in solchen Fällen bundeseinheitlich die Regel sein,um das Profil der Eliteschulen nicht zu verwässern. Dasgilt auch für die Nichtaufnahme von anderen Schülerin-nen und Schülern. Eigentlich sollte es selbstverständlichsein, dass in Eliteschulen des Sports wirklich nur sportli-che Leistungsträger aufgenommen werden.
Kommen wir zum Sportstättenbau. Auch wenn derBund, seinen Aufgaben entsprechend, den Bau vonSportstätten für den Spitzensport zum Schwerpunkt hat,so ist doch richtig, sich ebenfalls um den Neubau, dieErweiterung und den Umbau von Sportstätten derGrundversorgung zu kümmern. Das hat er über das In-vestitionsprogramm und den Goldenen Plan für den Os-ten unseres Landes zu Recht getan. Die Sportplätze, dieSporthallen und Schwimmbäder schaffen bundesweit dieVoraussetzungen nicht nur für den Breiten-, sondernauch für den Leistungssport. Deswegen freuen wir uns,dass die FDP-Forderung nach einer Neuauflage des Gol-denen Planes für Gesamtdeutschland auf wachsendes In-teresse stößt. Wenn wir ein Ganztagsschulprogramm mit50 Millionen Euro anschieben können, dann müssen wirauch zu entsprechenden Vereinbarungen mit den Län-
Metadaten/Kopzeile:
8946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Detlef Parrdern und Kommunen zugunsten des Sports kommenkönnen.
Daraus könnten dann auch unsere Hochschulen Nut-zen ziehen. Der Sportbericht widmet dem Bereich desHochschulsports gerade einmal eine Viertelseite unddokumentiert damit eine Bedeutung, die dringend größerwerden muss. Wenn wir die Universiaden besuchen,stellen wir immer wieder fest, dass andere, zum Teilkleinere Nationen mit größeren Mannschaften vertretensind. Sie verstehen die studentischen Weltspiele als Vor-bereitung von jüngeren Athletinnen und Athleten auf an-dere sportliche Großveranstaltungen. Das sollten auchwir verstärkt tun. Der Allgemeine Deutsche Hochschul-sportverband leistet zum Beispiel mit den Partnerhoch-schulen des Spitzensports eine hervorragende Arbeit, diemehr Unterstützung verdient. Die FDP hat deshalb eineStudie beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestagesin Auftrag gegeben, die den Stellenwert des Hochschul-sports im internationalen Vergleich zum Inhalt hat. Wirerhoffen uns neue Aufschlüsse und Konsequenzen ausdiesen Ergebnissen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Rede zumSportbericht der Bundesregierung kann das ThemaDoping natürlich nicht aussparen. Die FDP-Fraktion hatnoch in dieser Woche einen eigenen Antrag zu diesemThema eingebracht. Wir sind in den meisten Bereichenmit den Vorstellungen der Bundesregierung und der Ko-alitionsfraktion einig. Aber müssen wir zum Beispiel dieMöglichkeiten der Telefonüberwachung, die in unsererGesellschaft ohnehin schleichend ein besorgniserregen-des Ausmaß angenommen hat, erweitern, bevor eine ge-nerelle Neuregelung vorliegt? Hier sollte der Sport nichtvorpreschen!
Zum Thema „Strafverfolgung der einzelnen Sportler“möchte ich noch einmal auf die Mogelpackung der Be-sitzstrafbarkeit hinweisen. Sportler im Besitz einernicht geringfügigen Menge von Dopingsubstanzen sol-len künftig strafrechtlich verfolgt werden. Welch einegesetzgeberische Großtat!
Der Besitz einer großen Menge solcher Substanzen istgleichzusetzen mit Handel. Das banden- oder gewerbs-mäßige Inverkehrbringen steht bereits unter Strafe. Einbisschen Flunkern mag man noch hinnehmen, liebe Kol-leginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen,aber das ist eine handfeste Verdummbeutelung der Öf-fentlichkeit.
Der Sportminister hat zu Recht lange gezögert, eine sol-che Verfälschung der Tatsachen ins Gesetz zu schreiben.Auch der Staatssekretär hat den Gesetzentwurf nur sehrzurückhaltend angekündigt. Herr Dr. Bergner, die Be-denken, die Sie in der Bundesregierung hatten, teilenwir. Wir werden alles daransetzen, das auch immer wie-der öffentlich zu machen und aufzudecken.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Sportbericht der Bundesregierung bilanziertdie erfolgreiche Sportpolitik des Bundes vor allem in derletzten Legislaturperiode. Ich könnte nun über die rot-grüne Regierungszeit schwärmen.
Aber das hat der Staatssekretär schon ausreichend getan.Meine Redezeit ist dafür zu knapp.Im Übrigen habe ich auch nicht genügend Redezeit,um auf das einzugehen, was der Kollege Parr zuletztsagte. Ich denke, mein Kollege Danckert wird zumThema Doping noch einiges sagen.Ich will mich der Zukunft zuwenden und möchte hierdeutlich machen: Sport hat eine herausragende Bedeu-tung. Sport erhöht die Lebensqualität. Und: Investitionenin Sport zahlen sich aus. Immense Kosten im Bildungs-wesen, bei der Jugendhilfe, bei der Kriminalitätsbe-kämpfung, beim Strafvollzug sind vermeidbar, wenn dieKinder und Jugendlichen mit der Hilfe des Sportsrechtzeitig auf die richtige Bahn gebracht werden. Sportist Vorsorge, und die ist allemal besser als Nachsorge.
Bewegung und Sport haben auch positive Auswirkun-gen auf die geistige Entwicklung. Kinder, die nicht rück-wärts gehen können, haben Schwierigkeiten in der Ma-thematik, beim Subtrahieren. Ist es nicht irre, wie dasGehirn funktioniert? In Schulen, wo mehr Sport getrie-ben wird, verbessern sich die Leistungen auch in ande-ren Schulfächern. In Berlin hat die Sportjugend Kinder-tagesstätten übernommen. Mit großem Erfolg werdenBewegung und Spracherwerb miteinander verknüpft.Als Bundestag sind wir nicht für die Lehrpläne zu-ständig. Wir müssen trotzdem immer wieder sagen:Lasst den Sport nicht ausfallen! Führt die dritte Sport-stunde ein, besser noch die tägliche Sportstunde! Daswird am Ende auch die Eltern überzeugen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8947
(C)
(D)
Swen Schulz
Der Sport leistet großartige Beiträge für die Gesell-schaft. Das ist in allererster Linie dem großen Engage-ment von Millionen Ehrenamtlichen geschuldet. Sie ha-ben wirklich Anerkennung und Dank verdient.
Darum ist auch die Initiative „Hilfen für Helfer“ vonBundesfinanzminister Steinbrück sehr zu begrüßen, dieeine zusätzliche Unterstützung für das Ehrenamt bringenwird.Ein weiterer wichtiger Aspekt im Sport ist die Inte-gration; ich meine das jetzt im allgemeinen, im sozialenSinn. Mancherorts sind dem Ehrenamt Grenzen gesetzt.Bei allem Engagement: Es gibt Probleme, die man nichtin der Freizeit klären kann. Wir müssen darüber nach-denken, ob wir Vereinen professionelle Hilfe an dieHand geben können, Profis, die die Ehrenamtlichen ent-lasten und sich verstärkt um die Kinder und Jugendli-chen kümmern.Aber es gibt noch andere Schwierigkeiten, auf dieman so schnell nicht kommt. Ich war neulich in Kreuz-berg bei einem Fußballverein. Er hat ein paar HundertKinder und Jugendliche als Mitglieder, auch viele Mäd-chen; das ist in dem Zusammenhang ganz wichtig. Diekommen aus 25 oder 30 verschiedenen Nationen. DerVerein hat mitten in einem Wohnviertel einen großenPlatz und dann noch einen kleinen Trainingsplatz, woauch die Kids spielen können.In der Nachbarschaft sind Mietshäuser entstanden. Eshat sich dann eine Mietpartei über den Lärm aufgeregt.Wenn man irgendwo wohnt und dann sozusagen unterdem Schlafzimmerfenster ein Sportplatz neu gebautwird, dann habe ich Verständnis für so etwas. Da kannman mal nachfragen: Was passiert denn da? Aber wennman neu hinzieht, weiß man doch eigentlich, was mantut. Es kam in dem Fall zur Gerichtsverhandlung. Ergeb-nis: Die Spiel- und Trainingszeiten auf dem großen Platzmussten erheblich eingeschränkt werden, und das kleineFeld darf gar nicht mehr bespielt werden.Auf der anderen Seite des Geländes sollen jetzt Ei-gentumswohnungen entstehen. Der Verein erwartet wei-tere Klagen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde,das kann doch eigentlich nicht wahr sein.
Zig Kinder und Jugendliche stehen auf der Wartelistedieses Vereins. Aber sie dürfen keinen Sport machen,weil nicht genügend Platzzeiten zur Verfügung stehen.Die Anwohner wollen aber in der Nachbarschaft auchkeine Kriminalität, keine Gewalt und keine Drogen ha-ben. Da weiß man nicht, ob man lachen oder weinensoll. In meinem jugendlichen Leichtsinn sage ich: Dasmüssen wir ändern. Die Mittagsruhe darf im Zweifelsfallnicht wichtiger sein als die Zukunft unserer Kinder.
Herr Kollege, kommen Sie dann auch zum Schluss.
Meine Redezeit ist ausgeschöpft. Ich wollte nur an ei-
nigen Stellen deutlich machen, wie wichtig der Sport ist
und was wir besser machen können. Darum will ich zum
Schluss appellieren: Lassen Sie uns, liebe Kolleginnen
und Kollegen, den Sport ins Grundgesetz aufnehmen. Es
wäre ein gutes Zeichen, eine Unterstützung für eine ge-
sunde und lebendige Gesellschaft.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch
von der Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Als gute Sozialistin lese ich dieZeitschrift „Capital“. Dort sind die Ergebnisse einerUmfrage unter Deutschlands Führungsspitzen nachzule-sen: 78 Prozent dieses Führungspersonals befürchten,dass sich zunehmend eine Unterschicht herausbil-det, die sich sozial und wirtschaftlich vom Rest derGesellschaft abkoppelt.Mal abgesehen davon, dass sich diese Menschen nichtselbst abkoppeln, sondern abgekoppelt werden, ist dieseAbkopplung Ergebnis konkreter Politik der Bundesre-gierung und des befragten Führungspersonals.
Diese Gesellschaft wird durch die Politik der Bundes-regierung auseinandergetrieben, sie wird unsozialer undunsolidarischer. Der Sport kann Politik nicht ersetzen,doch Sport hat Potenzial, die Gesellschaft zusammenzu-halten. Leider hat auch das die Bundesregierung nochnicht ausreichend verstanden.Ein Beispiel aus dem Leistungssport: Ein Internats-platz auf einer Sportschule in Halle kostet im Monat230 Euro – nicht viel, werden die Menschen hier im Saalsagen. Meine Kollegin Katrin Kunert, die heute bei derEuropameisterschaft der Leichtathleten der Senioren inHelsinki um eine Medaille kämpft,
sponsert einen Internatsplatz für eine Sportlerin, derenEltern Arbeitslosengeld II bekommen. Da sind 230 Euroschon sehr viel Geld. Zur Erinnerung, meine Damen undHerren, falls Sie vergessen haben, was Sie beschlossenhaben: Arbeitslosengeld II beträgt maximal 345 Euro imMonat. Davon sind 230 Euro für ein Sportinternat nichtso einfach aufzubringen.
Metadaten/Kopzeile:
8948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Gesine LötzschSchauen wir uns einmal die soziale Herkunft vonSpitzensportlern in Deutschland an: Nur 9,5 Prozentsind Arbeiterkinder, die große Mehrheit stellen Kindervon höheren Angestellten. Es werden also nicht nurHartz-IV-Empfänger vom Leistungssport abgekoppelt.
Der Leistungssport in der Bundesrepublik ist eben einesehr elitäre Veranstaltung. Die Erfahrung zeigt, dass esauch anders gehen kann: Diese sozialen Schranken gabes im DDR-Sport nicht.
Unser Ex-Kollege Täve Schur hatte vier Geschwister,sein Vater war Tankwart und seine Mutter Hausfrau. Erhätte heute wohl kaum eine Chance, Radrennweltmeisterzu werden.
Meine Damen und Herren, ich will aber nicht nurüber den Leistungssport sprechen. Uns liegt viel an demweiteren Ausbau des Breitensports. 70 Prozent derSportanlagen im Osten und 40 Prozent der Sportanlagenin den alten Bundesländern sind sanierungsbedürftig.
Der Sanierungsaufwand wird auf 40 Milliarden Euro be-ziffert. Hier muss in den nächsten Jahren mehr investiertwerden. In den ostdeutschen Ländern hat der Bund von1999 bis 2006 65 Millionen Euro für den Goldenen PlanOst ausgegeben. Wir als Linke sind in Anbetracht dervielbeschworenen sprudelnden Steuereinnahmen unbe-dingt dafür, den Goldenen Plan Ost als Infrastrukturpro-gramm auf die alten Bundesländer auszudehnen – derKollege von der FDP hat das ja auch schon angespro-chen – und die Mittel zusammen mit den Ländern erheb-lich aufzustocken.
Hartz IV ist auch in den Sportvereinen angekommen.Ich habe in der letzten Woche eine Beratung mit Vertre-tern von Sportvereinen in meinem Wahlkreis durchge-führt. Da wurde mir berichtet, dass immer mehr Men-schen aufgrund der miserablen finanziellen Situation nurnoch ermäßigte Vereinsbeiträge bezahlen können. DenVereinen brechen dank Hartz IV die Einnahmen weg.
Sie haben Schwierigkeiten, die Angebote dauerhaft ab-zusichern. Das große ehrenamtliche Engagement kanndiese finanziellen Schwierigkeiten nicht ausgleichen.Hier ist eine weitere Folge von Hartz IV zu erkennen,die unbedingt bekämpft werden muss.
Abschließend ein Wort zur Förderung des Frauen-sports. Ich unterstütze eine Fußballmädchenmannschaftin meinem Wahlkreis, weil es ganz offensichtlich ist,dass Mädchen und Frauen auch im Breitensport wenigerChancen haben, wenn es um Hallenzeiten oder die Nut-zung von Sportplätzen geht.
– Das ist richtig. Aber auch diese Frauen haben sehrkämpfen müssen, um diesen Platz zu erringen. Auch dasist eine Wahrheit.
Ich denke, wir sollten alle gemeinsam mehr für denFrauensport tun; denn im Frauensport – das gilt auch fürdie Weltmeisterinnen – sind weniger Sponsoren zu fin-den als im Männersport. Lassen Sie uns das gemeinsamändern!Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katrin Göring-Eckardt von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-nen.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber HerrSchulz, natürlich würde auch ich jetzt am liebsten vonalten Zeiten schwärmen, aber das erspare ich mir; ichfinde, das ist hier ausreichend geschehen. Ich stimme Ih-nen ausdrücklich zu bei dem Thema soziale Kompo-nente des Sports, gerade in Bezug auf Kinder und Ju-gendliche. Ich finde, Sie haben hier sehr deutlichgemacht, wie wichtig das ist.Liebe Frau Lötzsch, ich finde richtig, dass Sie daraufaufmerksam gemacht haben, dass die soziale Förderungdes Sports, gerade des Leistungssports, und die Talente-sichtung in der DDR nicht ganz dumm gewesen sind.Aber ich finde, Sie können es sich nicht leisten, hier im-mer die negative Seite wegzulassen. Das machen Sieauch, wenn es um das Bildungssystem geht.
Wenn ich an Freunde von mir denke, die mit Medika-menten vollgepumpt wurden und dann, weil sie nach derPubertät nicht die nötige Leistung gebracht haben, ir-gendwo abseits gelandet sind, dann muss ich einfach sa-gen, dass diese andere Seite dazugehört.
In dieser Europawoche ist es aber angesagt, sich nocheinmal der Frage zuzuwenden, wie es eigentlich mit derEU-Ratspräsidentschaft und dem Sport ist. Ich finde esschade, dass der Bundesinnenminister in seinem Ar-beitsprogramm dazu nichts ausgeführt hat. Besondersder Sport hätte von den Regelungen in der EU-Verfas-sung profitiert. Notwendige Initiativen für Zwischenlö-sungen sind erst gar nicht vorgelegt worden. Auch beidem informellen Sportministertreffen in der letzten Wo-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8949
(C)
(D)
Katrin Göring-Eckardtche in Stuttgart hat die Bundesregierung dazu keinenVorschlag gemacht. So haben wir jetzt die Situation,dass es bei der EU vor allem um den kommerziellenSport und nicht um den Breitensport geht. Das finde ichsehr schade.Die EU-Sportminister haben das Thema vor allem un-ter Sicherheitsaspekten definiert, beispielsweise mitBlick auf die Krawalle bei den Fußballspielen. Wasfehlt, ist besonders ein Konzept zu der Frage: Wie kannman Europa durch den Sport zusammenbringen? Dassdas möglich ist, werden die hier Anwesenden wahr-scheinlich überhaupt nicht bezweifeln. Aber ich glaube,dass wir gut daran täten, wenn wir dazu auch Konzepteauf den Tisch legen würden. Vereinspartnerschaften, ge-meinsame europäische Mannschaften und gemeinsamesTraining, das sind viele erprobte Maßnahmen, die es be-reits gibt, die aber gebündelt und auf eine andere Ebenegehoben werden müssen.Es ist richtig, Herr Kollege Parr, dass man eine solcheDebatte nicht vorbeigehen lassen kann, ohne über dasThema Doping zu reden. Ich glaube, dass wir mit demReferentenentwurf, den die Bundesregierung jetzt vorge-legt hat, weit hinter den Erfordernissen zurückbleiben.
– Diese Diskussion haben wir hier schon ganz oft ge-führt, auch mit dem Kollegen Hermann. Da geht es nichtum „verdrängt und vergessen“; dafür haben wir auchfrüher schon gekämpft. Das können Sie an vielen Stellennachlesen.Ich glaube, dass der Ansatz der Bundesregierung– damit müssen wir uns jetzt auseinandersetzen – inRichtung Besitzstrafbarkeit bei Dopingmitteln in die-ser Form eher eine Mogelpackung ist, weil der vorlie-gende Gesetzentwurf nicht vorsieht, den Besitz deutlichunter Strafe zu stellen, sondern beabsichtigt, die Straf-barkeit des Handelns mit Dopingmitteln zu präzisieren.Das ist nicht der richtige Weg. Gleichzeitig sind die Mit-tel für die Dopingprävention im Haushalt gekürzt wor-den. Auch das ist beim Thema Gesundheitspräventionnatürlich nicht das richtige Signal. Wir brauchen kon-krete Schritte, um Wirtschaft, Sport und Medien, aberauch die Bundesländer zu einer Aufstockung des Stif-tungskapitals zu bewegen. Dieses Kapital wird heute im-mer noch fast vollständig vom Steuerzahler aufgebracht.
Frau Kollegin Göring-Eckardt, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Riegert?
Bitte schön.
Frau Kollegin, ich würde gerne eine Frage zur Do-
pingbekämpfung stellen: Können Sie uns bestätigen,
dass in Ihrem Gesetzentwurf keine Besitzstrafbarkeit
von Dopingmitteln enthalten ist? Ich wundere mich et-
was, wie Sie die Präzisierung der nicht geringen Menge
beim Handel gerade kritisieren konnten, wenn der Besitz
nicht strafbar sein soll. Können Sie mir diesen Wider-
spruch erklären?
Ich kann Ihnen den Widerspruch erklären: An dieser
Stelle bin ich einig mit meinem Kollegen Hermann; wir
gehören zu einer Minderheit in unserer Fraktion, erlau-
ben uns aber trotzdem, hier unsere Meinung zu sagen.
Das habe ich an dieser Stelle getan.
Herzlichen Dank für die Frage, die es mir erlaubte, das
zu präzisieren.
Ich will gerne noch ganz kurz auf das Thema „Fuß-
ball und Gewalt“ eingehen. Ich glaube, auch hier haben
wir eine besondere Verantwortung, weil es um die Frage
geht, wie wir langfristig dafür sorgen, dass Fußball als
Mannschaftsspiel, als Fairnessspiel und auch als Mög-
lichkeit verstanden wird, Fairness und Gemeinschafts-
geist zu verbreiten. Ich glaube, dass das kein Selbstläufer
ist, sondern dass wir pädagogische Konzepte brauchen.
Ich finde die Initiative für Bolzplätze an Schulen absolut
richtig; aber dafür brauchen wir auch Fortbildung von
Übungsleitern, Trainern, Schiedsrichtern etc. Es ist
schlecht, dass die Mittel für Fußballfanprojekte gekürzt
worden sind, und zwar nicht nur im Bund, sondern auch
in einigen Ländern. Das Land Sachsen hat sich seit 1993
nicht zur Drittelfinanzierung bekannt. Das halte ich für
ein ganz dramatisches Signal. Die Ergebnisse sind eben
genau so, wie sie nicht sein dürfen. Auch hier haben wir
eine wichtige Aufgabe.
Meine Damen und Herren, ich grüße Sie an dieser
Stelle noch von meinem Kollegen Winfried Hermann,
der heute leider nicht hier sein darf – nicht hier sein
kann, darf schon.
– Genau. – Wir haben es jetzt einmal andersherum aus-
probiert. Das ist wie dieses Jahr in der Bundesliga: Da
wird auch einmal Schalke Meister.
Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hatdas Wort der Kollege Dr. Peter Danckert von der SPD-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
8950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku-
tieren hier heute zum ersten Mal den 11. Sportbericht,
den die Bundesregierung uns vorgelegt hat. Herr Parla-
mentarischer Staatssekretär, bitte grüßen Sie den Sport-
minister, der offensichtlich heute leider nicht anwesend
sein kann, und richten Sie ihm aus, dass ich es zumindest
bemerkenswert finde, dass in seinem Vorwort auch das
Parlament mit einem Satz erwähnt wird. Dies geschieht
allerdings in einer etwas seltsamen Akzentuierung; denn
dieser Sportbericht betrifft die Jahre 2002 bis 2005 und
somit in erster Linie die Regierungszeit der rot-grünen
Koalition, der Minister bezieht sich aber auf die Große
Koalition. Er ist der Zeit in diesem Punkt sozusagen et-
was voraus und hat andere Akzente gesetzt. Aber im-
merhin wird an dieser Stelle einmal das Parlament er-
wähnt.
Ich will ganz deutlich machen, was ich mit diesem
kurzen Hinweis meine: Der Bericht liest sich so, als sei
nur die Bundesregierung für den Sport zuständig.
An dieser Stelle möchte ich einmal als Parlamentarier
sagen: Wir sind diejenigen, die der Bundesregierung
– welcher Couleur auch immer – die Möglichkeit geben,
im Spitzensport tätig zu werden.
Mir wäre sehr daran gelegen, wenn im Sportbericht der
Bundesregierung zum Ausdruck kommen würde, dass es
nicht das Bundesinnenministerium, das Außenministe-
rium und das Verteidigungsministerium sind, sondern
dass die Haushälter – unter uns sind ja einige; jedenfalls
waren eben einige da – es sind, die Mittel zur Verfügung
stellen, damit die Bundesregierung erfolgreich agieren
kann.
Ich habe neulich bei einem persönlichen Besuch in
dem renommierten FES-Institut deutlich gemacht, dass
deren Mittel durch das Parlament bereitgestellt werden.
Das Institut hat dann in einem Entwurf, der Ihrem Hause
zugeleitet worden ist, darauf verwiesen und dem Parla-
ment für diese Bereitstellung der Mittel gedankt. Was ist
dann passiert? Ein Mitarbeiter Ihres Hauses hat diesen
Satz herausstreichen lassen, sodass niemand auf die Idee
kommt, das Parlament wäre daran beteiligt. Ich bitte Sie
– ich glaube, im Namen vieler hier – sehr herzlich, dafür
zu sorgen, dass das Parlament in der nächsten Debatte
über den Sportbericht gewürdigt wird.
Denn wie hat Herr Kollege Lammert, unser Präsident,
gesagt: Wir sind der Auftraggeber und nicht derjenige,
der alles nur absegnet.
Lassen Sie mich in den letzten Minuten meiner Rede-
zeit noch ein paar Stichworte ansprechen. Wenn wir Mit-
tel bereitstellen, dann müssen wir sehen, wie sie einge-
setzt werden. Hier ist darüber debattiert worden – ich
finde, das sollten wir einer gründlichen Debatte unterzie-
hen –, wie wir in Zukunft die Bundesleistungsstütz-
punkte bzw. die Stützpunkte überhaupt in Deutschland
organisieren sollten. Es ist der Hinweis gegeben worden,
dass die Wintersportler in diesem Zusammenhang sehr
fortschrittlich sind. Wir müssen zu einer Konzentration
kommen, damit die Mittel effektiver eingesetzt werden.
Herr Kollege Danckert, würden Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Ilja Seifert zulassen wollen?
Herr Seifert, gerne.
Bitte schön.
Lieber Kollege Danckert, Sie sind jetzt der letzte Red-
ner in dieser Debatte. Deswegen trifft Sie diese Frage;
aber vielleicht sind Sie gar nicht zuständig. Ich möchte
sie trotzdem loswerden.
Niemand hat bis jetzt ein Wort darüber verloren, dass
es in dem Sportbericht auch einen Abschnitt über den
Behindertensport gibt. Ich finde, das ist ein ganz wich-
tiger Teil, der das Zusammenleben von Menschen mit
und ohne Behinderungen betrifft. Es ist sehr erfreulich,
dass die Olympiastützpunkte inzwischen für Menschen
mit Behinderungen zugänglich gemacht worden sein sol-
len. In dem Bericht steht aber nicht, ob Barrierefreiheit
im umfassenden Sinne, also auch für Blinde usw., vorge-
sehen ist.
Noch viel schlimmer ist – das ist meine Frage an Sie –:
Warum kommt in diesem Bericht und in Ihrer Politik
nicht vor, dass der Breitensport im Hinblick auf Men-
schen mit Behinderungen ganz anders gefördert werden
müsste, nämlich so, dass sowohl auf der Seite der Zu-
schauerinnen und Zuschauer als auch auf der Seite der
Sportlerinnen und Sportler Sport integrativ betrieben
werden kann? Lieber Kollege, sagen Sie mir doch bitte
einmal, warum dieser Aspekt in so einer Debatte und
auch im richtigen Leben keine große Rolle spielt. Der
Behindertensport spielt im Rahmen der Paralympics, wo
wir viele Medaillen gewinnen, eine Rolle, aber nicht im
Zusammenhang mit dem Breitensport und auch nicht in
diesen Debatten.
Herr Kollege, ich bin Ihnen sehr dankbar für dieseZwischenfrage; denn sie gibt mir die Gelegenheit, deut-lich zu machen, dass die Regierungskoalition großenWert darauf legt, dass der Sport für Menschen mit Be-hinderungen einen hohen Stellenwert hat. Wir sind sehrdarauf bedacht, dass gerade bei Menschen mit Behinde-rungen der Sport im Mittelpunkt steht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8951
(C)
(D)
Dr. Peter DanckertSie fragen mich, warum der Behindertensport hier nureinen geringen Stellenwert einnimmt. Ich muss Sie da-rauf verweisen, dass das ein Bericht der Bundesregierungist und kein Bericht des Parlamentes oder der Regie-rungskoalition.Die Wertschätzung des Behindertensports wird zumBeispiel dadurch deutlich, dass eine immer gleich großeDelegation des Sportausschusses zu den OlympischenSpielen und den Paralympics fährt; denn wir wollen andieser Stelle verdeutlichen, dass wir keine Unterschiedemachen wollen.Ich bin sehr mit Ihnen einig, wenn Sie fordern, dassan dieser Stelle mehr Mittel zur Verfügung gestellt wer-den; das ist wichtig. Der Breitensport – auch darübermüssten wir natürlich diskutieren – liegt sozusagen au-ßerhalb der Kompetenz des Bundes. Vielleicht würdensich die Dinge verändern – da sehen wir durchaus dieUnterstützung Ihrerseits –, wenn wir die Forderung, denSport in das Grundgesetz aufzunehmen, umsetzen könn-ten. Dann würde das Bewusstsein dafür noch effektiver.Natürlich würden dann die Menschen mit Behinderun-gen von unseren gesetzlichen und haushaltsmäßigen Ak-tivitäten profitieren. Also, an dieser Stelle gibt es keinenDissens.
Lassen Sie mich in der mir verbleibenden kurzen ZeitFolgendes sagen: Das FES habe ich vorhin angespro-chen. Wenn wir davon ausgehen – das wird in dem Be-richt deutlich –, dass zehn der 29 in Turin gewonnenenMedaillen unmittelbar mit diesem Institut zusammen-hängen, dann müssen wir auch bereit sein, dem FES zu-sätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen und nicht im-mer gerade so viele Mittel, dass die Gehälter ohne eineLohnerhöhung gezahlt werden können. Das ist ein ganzwichtiger Teil. Wir müssen uns entscheiden: Wollen wirdas Institut mit seinen herausragenden wissenschaftli-chen Erkenntnissen? Wenn ja, dann müssen wir mehrGeld zur Verfügung stellen.Zum Thema Doping und NADA. Bei der NADA istes so ähnlich. Wenn wir den Kampf gegen Doping wirk-lich führen wollen, dann müssen wir bereit sein, als Ge-sellschaft und nicht nur als Parlament – denn hier tun wireine ganze Menge – finanzielle Mittel für die NADA zurVerfügung zu stellen. Ich erinnere an dieser Stelle nocheinmal an den Vorschlag von mir, eine Dopingabgabeeinzuführen, mit der wir von allen Sponsoringmitteln,die in den Bereich des Sportes fließen, 1 Prozent für dieNADA bereitstellen, damit der Kampf gegen Doping er-folgreich bestanden wird.Herr Kollege Parr, weil Sie nun wieder einmal diesesThema zur Sprache bringen:
Wir haben in sorgfältigen Verhandlungen – das ging überWochen und Monate – einen sehr vernünftigen Kompro-miss zum Thema bessere Bekämpfung von Doping imSport erzielt. Dieser Vorschlag – das ist Ihnen vielleichtentgangen und hat Ihnen vielleicht auch nicht so gepasst –ist vom Deutschen Olympischen Sportbund und von dergesamten Öffentlichkeit positiv aufgenommen worden.
Die einzigen, die an dieser Stelle meckern und immerwieder mit Zwischenrufen auffallen, ohne dass sie selberetwas Gescheites vorlegen,
sind leider diejenigen von der FDP. Wenn Sie einen kon-kreten Vorschlag machen würden, dann könnte man inZukunft auch einmal darüber diskutieren.Unser Vorschlag, der jetzt in die parlamentarische De-batte kommt, ist von allen beteiligten Kräften – bis aufdie FDP – begrüßt wordenund das finden wir gut. Wirfühlen uns in Übereinstimmung mit dem DeutschenOlympischen Sportbund, mit seinem Präsidenten Bachund Herrn Vesper. Wir sind auf dem richtigen Wege.Deshalb ist das ein richtiger Ansatz, den wir in dennächsten Wochen hier diskutieren werden. Wir habendazu ja noch Gelegenheit.
Aber Sie, Herr Kollege Parr, sollten sich – weil Sie sichvon uns immer so schlecht behandelt fühlen – doch ein-mal die Mühe machen, das, was wir hier auf den Tischgelegt haben und was von der gesamten Sportöffentlich-keit begrüßt wird, sorgfältig anzusehen, und sollten nichtimmer wieder mit den alten Kamellen kommen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Kollege Parr, die Kooperation setzt voraus, dass
Sie sich mit unseren Vorschlägen sachlich auseinander-
setzen.
Wenn Sie dazu bereit sind, können wir mit Ihnen darüber
diskutieren.
Ich sage noch einmal Dank für diesen Sportbericht.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Er ist ein Kaleidoskop von allem, was mit dem deut-schen Sport zu tun hat, und ist deshalb ein wertvoller Be-richt, wenn ich mir auch in einzelnen Punkten wünschenwürde, –
Metadaten/Kopzeile:
8952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Herr Kollege!
– dass die Mitarbeit des Parlaments mehr herausge-
stellt wird, Herr Bergner.
Vielen Dank.
Ich erteile jetzt das Wort zu einer Kurzintervention
dem Kollegen Abgeordneten Christoph Bergner.
Herr Kollege Danckert, möglicherweise ist es nur ein
Missverständnis. Vielleicht war es aber tatsächlich als
Vorwurf gemeint im Hinblick auf die Frage zur Rolle des
Behindertensports im Bericht der Bundesregierung. Sie
haben darauf hingewiesen – es ist ja ein Bericht der Re-
gierung – und damit ein bisschen unterstellt, dieser Sek-
tor finde in der Politik der Bundesregierung keine ange-
messene Berücksichtigung.
Ich glaube, es ist außerordentlich wichtig – gerade
wegen der Bedeutung des Sports für Menschen mit Be-
hinderungen –, darauf hinzuweisen, dass er erstens im
Bericht eine angemessene Berücksichtigung findet.
Zweitens gehört es zu den grundsätzlichen Zielen der
Bundesregierung – der Vorgängerregierung wie dieser
Bundesregierung –, im Rahmen der Sportförderung in
der Zuständigkeit des Bundes – was den Breitensport
nicht betrifft – den Sport für Menschen mit Behinderun-
gen bezüglich der Förderung möglichst gleich mit dem
Sport für Menschen ohne Behinderungen zu behandeln.
Dies ist ein allgemeiner Grundsatz. Ich fände es sehr
schade, wenn aus der Debatte der Eindruck entstünde,
als spielte der Sport für Menschen mit Behinderungen in
der Förderung der Bundesregierung nur eine marginale
Rolle. Deshalb habe ich mich noch einmal zur Erwide-
rung gemeldet. Möglicherweise war es nur ein Missver-
ständnis, Herr Danckert.
Aber ich wollte es nicht so im Raume stehen lassen.
Herr Kollege Danckert, wenn Sie jetzt antworten,
dann müssen Sie bitte für die Dauer Ihrer Antwort be-
rücksichtigen, dass Sie eben über eine Minute überzogen
haben und deswegen jetzt höchstens zwei Minuten ant-
worten können.
Gut. – Ich will noch einmal kurz Folgendes sagen: Ich
weiß, dass die Bundesregierung sich in diesem Bereich
auch Gedanken darüber macht, wie Menschen mit Be-
hinderungen, die im sportlichen Bereich tätig sind, un-
terstützt werden sollen. Wenn man diesen Bericht sieht
– ich glaube, darauf zielte die Frage des Kollegen ab –,
dann stellt man ein Ungleichgewicht fest: Es gibt zwei
Absätze darüber. Vielleicht ist es einfach eine Anregung,
im nächsten Bericht dem Deutschen Behindertensport-
verband mit seinem Präsidenten, Herrn Haack, mehr
Raum zu geben. Dann ist, glaube ich, allen gedient.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3750 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der LINKEN
Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus er-
stellen
– Drucksache 16/4201 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren,
wobei der Fraktion Die Linke fünf Minuten zuerkannt
werden. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Sevim Dağdelen von der Linksfraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wieder ist ein Jahr um. Gestern ist wieder einInternationaler Tag gegen Rassismus vorübergegangen.Wieder ist eine Aktionswoche gegen Rassismus so gutwie vorüber. Wieder bleibt die Kritik an der Bundesre-gierung bestehen – leider; ich wünschte es wäre nicht so.Auf der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus 2001in Afrika, in Durban, hatte sich die damalige rot-grüneBundesregierung, die ja so antirassistisch war, verpflich-tet, bis Ende 2003 unter Einbeziehung der Zivilgesell-schaft einen nationalen Aktionsplan gegen Rassismus zuverabschieden. Dies ist bis heute, bis 2007, nicht gesche-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8953
(C)
(D)
Sevim DaðdelenSevim Dağdelenhen. Wie schon im letzten Jahr steht also der Vorwurf,dass die Koalition nichts Substanzielles im Kampf gegenRassismus zu bieten hat.
Der britische Soziologe und Begründer der CulturalStudies, Stuart Hall, sagte einmal:Wenn man in einer Gesellschaft ohne antirassisti-sche Politik lebt, ist man dazu verurteilt, in einerrassistischen Gesellschaft zu leben …Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, in was füreiner Gesellschaft wir leben. Täglich werden Menschenwegen ihrer Herkunft oder ihres Aussehens bedroht, dis-kriminiert, tätlich angegriffen. Rassistische Übergriffeund Propaganda gehören zum Alltag dieser Republik.Doch das ist nicht alles: Unabhängige Stellen gehen vonmehr als 130 Todesopfern rassistischer Gewalt seit 1990aus.Laut dem Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyerund laut einer Studie der Herren Brähler und Decker fürdie Friedrich-Ebert-Stiftung ist Rassismus ein gesamt-gesellschaftliches Problem. Zwischen 30 und 40 Pro-zent der Gesellschaft stimmen ausländerfeindlichenStatements zu. 15 Prozent meinen, die Deutschen seienanderen Völkern von Natur aus überlegen. Noch10 Prozent sind der Ansicht, dass es „wertes und unwer-tes Leben“ gibt. Für die Bundesregierung ist dies offen-sichtlich kein hinreichender Grund, die Bekämpfung desRassismus zu einer Priorität ihrer Arbeit zu machen.Rassismus wird zu einem Randproblem gemacht. Doch,meine Damen und Herren von der Großen Koalition, Siemüssen endlich wissenschaftliche Analysen zur Kennt-nis nehmen.Brecht hat einmal in „Leben des Galilei“ treffend for-muliert:Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß einDummkopf. Wer die Wahrheit kennt und sie eineLüge nennt, der ist ein Verbrecher.
Ich denke, dass in diesem Sinne der Umgang der Bun-desregierung mit dem Thema Rassismus schlampig ist.Die Linke ist der Überzeugung, dass ein großer Teil derUrsachen des Rassismus in der Politik liegt, nicht, wie inder gestrigen Presseerklärung der deutschen Ratspräsi-dentschaft behauptet, in der Globalisierung und Entste-hung multiethnischer GesellschaftenWir sehen die Ursachen in der gesellschaftlichenUngleichverteilung sozialer Ressourcen und politi-scher Rechte, die gezielt und gewollt Menschen aus derGesellschaft ausgrenzt und diskriminiert. Das sind dieUrsachen! Bestes und jüngstes Beispiel dafür – ich er-wähne es hier noch einmal – ist die sozialchauvinistischgeführte Debatte zum Bleiberecht. Ein weiteres Beispielist, wie Sie immer wieder Verschärfungen im Zuwande-rungsrecht gegenüber der Öffentlichkeit begründen.
– Man kann es nicht oft genug sagen, Herr Grindel.
Der Umgang mit Flüchtlingen in der BundesrepublikDeutschland, etwa im Aufnahmeverfahren, bei der so-zialen Versorgung und im gesamten System der Ab-schiebepraxis ist ein Spiegelbild des gesellschaftlichweitverbreiteten und akzeptierten Rassismus. Soge-nannte Ausreisezentren und Abschiebeknäste sind Aus-druck einer rassistischen Asyl- und Immigrationspolitik.
Eine Sondergesetzgebung für Flüchtlinge, zum Beispieldas Asylbewerberleistungsgesetz, legitimiert diskrimi-nierende und rassistische Praktiken in diesem Land: Hin-dernisse und Ausschlussmechanismen, beispielsweiseauf dem Wohnungsmarkt, auf dem Ausbildungsmarktund am Arbeitsmarkt. Es ist zu hoffen, dass der nationaleAktionsplan gegen Rassismus dank unserer zwei Klei-nen Anfragen, die wir im Herbst letzten Jahres gemachthaben, und dank unseres Antrag endlich umgesetzt wird.
Doch mehr als Lippenbekenntnisse erwarten wirnicht. Warum wurde es tunlichst vermieden, Nichtregie-rungsorganisationen einzubeziehen? Das Scheitern derDurban-Follow-Up-AG im Forum gegen Rassismus istder Bundesregierung zuzuschieben. Für einen transpa-renten Prozess fehlten verbindliche Absprachen, mein-ten die Nichtregierungsorganisationen. Die einzelnenSchritte auf dem Weg zu einem Aktionsplan waren über-haupt nicht definiert. Gerade kleinen Organisationenfehlte die finanzielle Unterstützung für eine ehrenamtli-che Arbeit, die sich über Jahre hinzog. Die Organisatio-nen wurden mit Terminzusagen immer wieder hingehal-ten, ohne dass ein Entwurf vorgelegt wurde.Ich muss an dieser Stelle sagen: Es war eine Dreistig-keit, auf die erste Kleine Anfrage zu diesem Thema zuantworten, dass die Durban-Follow-Up-AG arbeitenwürde. Bei der zweiten Anfrage haben wir ganz neben-bei festgestellt, dass sie seit zwei Jahren überhaupt nichtexistiert.Hinsichtlich des Aktionsplans gegen Rassismus ge-hört Deutschland zu den Schlusslichtern in der EU.15 Länder haben längst einen Aktionsplan vorgelegt.Darunter sind sehr viele Länder, die Sie vielleicht garnicht einmal so toll finden, zum Beispiel Irland, Tsche-chien, Belgien und Zypern. Wir hinken hinterher.Die Linke fordert in ihrem Antrag von der Regierung,dass sie die Verpflichtung zu einem Aktionsplan nichtweiter aussitzt. Unter anderem fordern wir auch, dass ervor der Verabschiedung im Parlament in die Öffentlich-keit getragen wird
und dass zu diesem Thema eine Expertenanhörung statt-findet.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
8954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Jetzt hat Kristina Köhler das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlichsollte man meinen, dass es nichts Einfacheres gibt, alseinen Antrag gegen rassistische Diskriminierung zu ver-fassen. Denn welcher vernünftige Mensch zweifelt auchnur eine einzige Sekunde daran, dass keine ethnischeGruppe auf dieser Welt einer anderen überlegen ist? DieEthnie macht aus uns keinen guten oder bösen Men-schen, sie macht uns nicht besonders schlau, besondersgefährlich oder was auch immer. Dies steht vollkommenaußer Diskussion.Gerade weil diese Frage so eindeutig ist, sind undbleiben mir die Anträge der Linksfraktion ein ewigesMysterium.
Wie gelingt es Ihnen immer wieder, selbst solche einfa-chen Anträge in den Sand zu setzen?Ich bin Ihnen in einem anderen Sinne wiederumdankbar. Denn damit geben Sie mir die Möglichkeit, klaraufzuzeigen, wo die Unterschiede zwischen unseren Par-teien in den Konzepten zur Rassismus- und Extremis-musbekämpfung liegen.Ich möchte das an zwei Punkten festmachen:Erstens. Wir haben offensichtlich unterschiedlicheVorstellungen darüber, wo der Rechtsextremismus undwo der Rassismus beginnen.Zweitens. Wir wollen jeglichen Rassismus bekämp-fen, Sie nur den, der Ihnen ins Weltbild passt.
Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben sich eben wiederauf diese fragwürdigen Studien von Heitmeyer und dieder beiden Leipziger Medizinpsychologen berufen.Wenn deren Ergebnisse stimmen, dann wären in der Tatdie Hälfte bzw. zwei Drittel der Deutschen ein Volk vonfremdenfeindlichen, antisemitischen und islamophobenlatenten Rechtsextremisten.Ich rate jedem, der diese Zahlen verwendet, sich dieseStudien und vor allen Dingen die Methodik dieser Stu-dien einmal anzuschauen. Da gibt es etwa die Frage, obman folgender Aussage zustimmt:Was unser Land heute braucht, ist ein hartes undenergisches Durchsetzten deutscher Interessen ge-genüber dem Ausland.Wer von Ihnen dem jetzt innerlich zustimmt, hat soebennach Ansicht der Verfasser dieser Studie eine rechts-extreme Einstellung gezeigt.
Jeder, der gegen den Irakkrieg war, hätte hier schonseine Probleme.Ein weiteres Beispiel. Dem Rassismus wird ebenfallszugerechnet, wer folgender Aussage zustimmt:Aussiedler sollten bessergestellt werden als Auslän-der, da sie deutscher Abstammung sind.Dieser Aussage zuzustimmen ist kein Rassismus. Das istdeutsche Gesetzeslage, die aus unserem Grundgesetz ab-geleitet ist.
Wenn Sie der Frage, ob der Islam eine bewunderns-werte Kultur hervorgebracht hat, nicht zustimmen, dannsind Sie islamfeindlich und damit auch schon ziemlichrechtsextremistisch.Mich würde einmal interessieren, wie man in diesemHohen Hause reagieren würde, wenn in dem Gesprächs-leitfaden für Neubürger die Frage gestanden hätte:„Stimmen Sie zu, dass die Deutschen eine bewunderns-werte Kultur hervorgebracht haben?“ Daran sehen Sie,dass Sie mit der Heitmeyer-Studie und der LeipzigerStudie niemanden beeindrucken können, der diese Stu-dien gelesen hat.Fakt ist: Rechtsextremismus und Rassismus sindgroße und ernst zu nehmende Gefahren für die Men-schen in unserem Land. Fakt ist aber auch – das wirdvon vielen seriösen Studien bestätigt –, dass die Rechts-extremisten eine Minderheit in Deutschland darstellen.Diese Rassisten vertreten eben nicht den Volkswillen,was immer das sein soll. Das behaupten die Rechtsextre-misten aber gerne und stützen sich dabei auf genau diesefragwürdigen Studien, auf die auch Sie sich stützen. Ge-nauso gefährlich wie die Verharmlosung der Zahl derRechtsextremisten ist deshalb auch ihre künstliche Über-höhung.
Die Rechtsextremisten sind eine gefährliche Minderheit,die die Axt an die Wurzeln unserer freiheitlich-demokra-tischen Grundordnung legt. Sie haben in Deutschlandaber keine Mehrheit, auch keine heimliche. Es ist schä-big und dumm, aus politischen Gründen einen anderenEindruck erwecken zu wollen.
Kommen wir zu einem anderen Unterschied. Wirwollen jeglichen Rassismus bekämpfen, und zwar unab-hängig von der Ethnie des Täters. Das ist bei Ihnen nicht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8955
(C)
(D)
Kristina Köhler
der Fall. Wenn man sich Ihren Antrag – vor allem dieBegründung – durchliest, stellt man fest, dass die Fragedes Rassismus in Deutschland hier allein auf die Kon-stellation „Täter Deutscher, Opfer Migrant“ herunterge-brochen wird.
Gehen Sie einmal auf die Straße, und machen Siebeide Augen auf. Sie werden sehen, dass dies nicht dieeinzige Konstellation ist, in der rassistische Gewalt ver-übt wird. Ich weiß, dass dies ein sensibles Thema ist unddass dieses Thema missbraucht werden kann. Ich weiß,dass es Gewalttaten von rechtsextremistischen Rassistengibt und dass jede eine zu viel ist. Das darf uns abernicht davon abhalten, endlich auch den zunehmend ge-walttätiger werdenden deutschenfeindlichen Rassis-mus anzusprechen und auch dagegen vorzugehen; denndiesen Rassismus weiter zu ignorieren, heißt, Wasser aufdie Mühlen der Rechtsextremisten zu schütten.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Dağdelen zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Welches? Das von Frau Köhler oder von mir? – Vie-
len Dank für die Zulassung der Zwischenfrage, Frau
Köhler.
Die Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskri-
minierung, Fremdenfeindlichkeit und damit einherge-
hender Intoleranz hat festgestellt, dass es bei Rassismus
nicht nur um Rechtsextremismus geht. Der Rassismus ist
ein sehr weit verbreitetes Phänomen. Der Begriff
schließt auch die Ausgrenzung von Menschen ein, die
bestimmten Normen nicht entsprechen, die zum Beispiel
bestimmten Leistungsnormen oder dem Mainstream in
unserer Gesellschaft nicht entsprechen, die zum Beispiel
obdachlos sind. Da Sie über die Begrifflichkeiten „Ras-
sismus“, „Rechtsextremismus“ und „Weltbild“ streiten
möchten, möchte ich Sie als Mitglied der Regierungsko-
alition fragen: Was tun Sie gegen den Rassismus? 2001
wurde eine Selbstverpflichtung unterzeichnet. Jetzt ha-
ben wir 2007. Was tun Sie konkret gegen Rassismus?
Frau Kollegin Dağdelen, ich freue mich zunächst ein-mal, dass Sie mir darin zustimmen, dass Rassismus vonjeder Ethnie ausgehen kann und in Deutschland von je-der Ethnie verübt wird und jede Gruppe Opfer und Tätersein kann.
– Nein. Es wäre ja schön, wenn das so in Ihrem Antragstünde. In der Begründung Ihres Antrags werden Mi-grantinnen und Migranten aber ausschließlich als Opferbezeichnet. Sie brechen den Sachverhalt auf diese Kon-stellation und auf diese Definition von Rassismus herun-ter. Ich wäre sehr froh gewesen, wenn ich in Ihrem An-trag ein einziges Mal die Erkenntnis gelesen hätte, dasses zunehmend auch einen deutschenfeindlichen Rassis-mus gibt. Ich habe das in der Begründung nicht gefun-den. Vielleicht können Sie mir das ja zeigen. Ich glaubeaber nicht, dass Sie mir das zeigen können.
Vielleicht wollen Sie meinen Ausführungen nicht zu-hören, oder Sie halten sie von vornherein für problema-tisch. Vielleicht hören Sie aber auf die Erfahrungen einerSchülerpraktikantin der Amadeu-Antonio-Stiftung, dieeine Plattform gegen Rechtsextremismus betreibt. Einjunges Mädchen, das sich selbst als links bezeichnet,schreibt dort in ihrem Erfahrungsbericht – er ist im Inter-net veröffentlicht ist; Sie können ihn nachlesen –:
vor allem von einer Reihe Jugendlicher türkischerHerkunft ausgeht. So wurde vor kurzem eine sehrgute Freundin von mir auf Grund ihrer blondenHaare als „deutsche Kartoffel“ bezeichnet, ihr aufdem Schulweg aufgelauert und umringt von mehre-ren Personen wurde ihr ins Gesicht geschlagen.Mit sich reden ließen diese Jugendlichen nicht. Da-ran sieht man unter anderem mal wieder, dass Ras-sisten nicht allzu viel im Kopf haben.Meine Damen und Herren, ich verrate Ihnen sicher-lich kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass linkeGruppen dieses Mädchen anschließend als Rassistin be-schimpft haben. Ich verrate Ihnen aber auch kein Ge-heimnis, wenn ich Ihnen sage, dass die CDU/CSU unddie Bundesregierung auch gegen diese Form des Rassis-mus vorgehen werden.
Die Bundesregierung hat angekündigt, dass der Ent-wurf für einen nationalen Aktionsplan gegen Rassismusim ersten Halbjahr 2007 vorgelegt werden soll. Wir ge-hen davon aus, dass rassistische Diskriminierung dortvollumfänglich angesprochen werden wird. ZentraleElemente dieses Aktionsplans wurden bereits umge-setzt, etwa das neue Programm „Jugend für Vielfalt, To-leranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus,Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. Der Innen-minister hat zu Recht wiederholt erklärt, dass es derKombination verschiedener Maßnahmen bedarf, um denExtremismus und den Rassismus zu bekämpfen, vor al-lem aber der Stärkung der Zivilgesellschaft und der Zi-
Metadaten/Kopzeile:
8956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Kristina Köhler
vilcourage. Die CDU/CSU wird den Innenminister dabeimit voller Kraft unterstützen.
Jetzt hat Miriam Gruß das Wort für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen, die die Grund-
lage für den Antrag bilden, über den wir heute reden,
sind erschütternd: Der Verfassungsschutz zählt in sei-
nem jüngsten Bericht für das Jahr 2005 bundesweit
15 361 rechtsextreme Straftaten. Ein Jahr zuvor waren es
„nur“ gut 12 000 Straftaten. Damit nicht genug: Bis zum
Ende des Jahres erwarten Wissenschaftler den stärksten
Anstieg der Zahl rassistischer Straftaten in Deutschland
seit Beginn ihrer Erfassung.
Die Zahlen zeigen: Anders als vielfach behauptet, rei-
chen mehr Wirtschaftswachstum und mehr Arbeits-
plätze nicht aus, um einen Rückgang von Rassismus und
Antisemitismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeind-
lichkeit zu erreichen. Umso wichtiger ist es, genau hin-
zuschauen, wie rassistische und rechtsextreme Einstel-
lungen und Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft
eigentlich entstehen. Die Motive rassistischer Einstel-
lungen sind vielschichtig. Um gezielt handeln zu kön-
nen, müssen wir sie sorgfältig entschlüsseln. Sehr ge-
ehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu
diesem Zweck auf den berühmten und nach wie vor ak-
tuellen Erklärungsansatz der Soziologen Scheuch und
Klingemann hinweisen: Je komplexer das Umfeld eines
Menschen wird, desto eher ist er bereit, sich pauschalen
und oberflächlichen Einstellungen anzuschließen. Ex-
treme Parteien und Bewegungen bieten diesen Men-
schen einfache Botschaften an, die leichter zu verstehen
sind als komplizierte Zusammenhänge. Die unübersicht-
liche Alltagswirklichkeit wird auf wenige Parolen redu-
ziert. – So viel zum Grundsätzlichen.
Neu ist, dass sich diese Unwahrheiten und Vorurteile
in zunehmendem Maße auch in der Mitte unserer Ge-
sellschaft ausbreiten. Die Gründe dafür sind verzweig-
ter, als es dem einen oder anderen lieb sein mag: In
Situationen wie der Angst vor dem Verlust des Arbeits-
platzes, fehlender Lebensperspektiven oder des Gefühls,
in seinem eigenen Alltag machtlos und ausgeliefert zu
sein, suchen Menschen nach Hilfe. An diesen Punkten
setzen die vereinfachenden Botschaften der Rassisten
systematisch an. An dieser Stelle tragen wir Politiker
eine große Verantwortung: Wir müssen den potenziell
gefährdeten oder für solch platte Parolen anfälligen
Menschen Alternativen bieten und um ihre Akzeptanz
für demokratische Politik werben.
Wie gesagt, es reicht nicht aus, sich allein auf den
wirtschaftlichen Aufschwung zu verlassen. Lösungen
bestehen eben nicht in eindimensionalen Dämonisierun-
gen, sondern in der offensiven Konfrontation. Es ist die
Zivilgesellschaft, die in der Auseinandersetzung mit
Rassismus und Rechtsextremismus zuerst und vor allem
gefragt ist.
Damit diese Begründungen nicht Stückwerk bleiben
und damit diese Bemühungen nicht deshalb ins Leere
laufen, weil sie beziehungslos nebeneinanderstehen,
brauchen wir – das hat auch die Anhörung gezeigt – ei-
nen integrativen Ansatz. Eine reine Krisenintervention
reicht nicht aus. Wie ein solch integrativer Ansatz aus-
sehen könnte, hat die FDP-Bundestagsfraktion in ihrem
Antrag „Konkretes und tragfähiges Konzept zur Be-
kämpfung von Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und
Antisemitismus vorlegen und zeitnah umsetzen“ vom
September 2006 aufgezeigt.
Es ist nun an der Bundesregierung, Wege aufzuzeigen,
wie die Erklärung von Durban umgesetzt und wie ein na-
tionaler Aktionsplan ausgestaltet werden kann. Dafür
wird es allerdings höchste Zeit.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Linken, die
Begründung Ihres Antrags war für Ihren Antrag insge-
samt leider nicht sehr hilfreich. Dennoch ist er als Bera-
tungsgrundlage gut geeignet. Die FDP wird sich in je-
dem Fall konstruktiv und aktiv in diesen Prozess
einbringen.
Wir brauchen Haltung und Erziehung. Wir brauchen
langfristige Programme zur Bekämpfung von Gewaltbe-
reitschaft, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Extre-
mismus. Wir brauchen eine Intensivierung der Pro-
gramme für gewaltbereite und gefährdete Jugendliche.
Wir brauchen mehr Angebote für Aussteiger aus der
rechten Szene; ihnen müssen wir die Chance geben, zum
Beispiel einen Schulabschluss nachzuholen oder sich
beruflich zu qualifizieren. Wir brauchen Gewaltpräven-
tionsprogramme an den Schulen und in der Jugendarbeit.
Wir brauchen eine Stärkung der ehrenamtlichen Tätig-
keit und ein attraktives und modernes Angebot der Ver-
eine in den Bereichen Sport, Kultur und gesellschaft-
liches Engagement. Und wir müssen die Familien der
Betroffenen stärken, damit sie ihnen Rückhalt bieten
können.
Montesquieu erkannte schon Anfang des
18. Jahrhunderts: Ohne Familie gibt es keine wirksame
Erziehung, ohne Erziehung keine Persönlichkeit und
ohne Persönlichkeit keine Freiheit.
Springen wir also über unseren parteipolitischen Schat-
ten, und begreifen wir die Bekämpfung des Rassismus
als Herausforderung für unsere Demokratie und für un-
sere Freiheit.
Gabriele Fograscher spricht jetzt für die SPD.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8957
(C)
(D)
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Frau Gruß, ich begrüße, was Sie eben gesagt haben:dass der wirtschaftliche Aufschwung allein das Pro-blem des Extremismus bzw. des Rechtsextremismusnicht lösen wird. Ich erinnere mich aber sehr gut an dieAussage Ihres Kollegen Herrn Burgbacher, der in derletzten Debatte zu diesem Thema genau dies zur Voraus-setzung dafür gemacht hat, dass die Probleme gelöstwerden können.Rassismus ist in unserem Land leider traurige Reali-tät. Ich könnte eine ganze Menge Beispiele für Über-griffe und Gewalttaten mit rassistischem Hintergrundanführen, auch aus jüngster Zeit. Die letzte Meldungstammt vom 11. März 2007: Zwei Männer haben in Lud-wigsfelde, in Brandenburg, einen Mann aus Sierra Leonebeschimpft, ihn mit Bier überschüttet und auf die Bahn-gleise gestoßen. Viele dieser Meldungen tauchen in derbreiten Berichterstattung der Medien überhaupt nichtmehr auf, sondern finden nur noch als Randnotiz Ein-gang in Lokalzeitungen.Die Zahlen des Bundesamtes für Verfassungsschutzsind schon genannt worden. Der vorläufige Bericht fürdas Jahr 2006 umfasst lediglich die ersten acht Monatedes Jahres. Allein in dieser Zeit waren schon325 Menschen durch Übergriffe aus rassistischen Moti-ven verletzt worden. Besorgniserregend ist, dass dieBrutalität in der Szene steigt. Aber man muss davon aus-gehen, dass die rassistischen und fremdenfeindlichenEinstellungen auch in der Bevölkerung zunehmen. Auchdas muss uns große Sorgen machen.Frau Köhler, die Ergebnisse von Studien kann mannatürlich anzweifeln. Aber die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist repräsentativ. Sie fußt auf empiri-schen Erkenntnissen. Die Ergebnisse, die sie zeigt, soll-ten uns dazu motivieren, gegen Fremdenfeindlichkeit,Rassismus und Rechtsextremismus vorzugehen undnicht die Studie anzugreifen.
Die Linksfraktion fordert in ihrem Antrag die Bun-desregierung auf, diesen Nationalen Aktionsplan zu er-stellen. Die Bundesregierung arbeitet daran. Ende diesesMonats wird sie die Ressortabstimmungen beenden. DieDiskussion mit den Nichtregierungsorganisationen unterEinbeziehung des Deutschen Instituts für Menschen-rechte findet statt. Nach der Kabinettsbefassung wirddiese Bundesregierung den Nationalen Aktionsplan nochweit vor dem von Ihnen genannten Datum vorlegen.Sie unterstellen in Ihrem Antrag, dass die Bundesre-gierung – sowohl die aktuelle als auch die ehemalige –untätig gewesen ist. Ich weise das zurück. Diese Be-hauptung ist nicht richtig. Auch ohne den NationalenAktionsplan haben wir bereits zahlreiche Maßnahmenergriffen. Dazu gehören repressive Maßnahmen, die wirin der letzten Legislaturperiode ergriffen haben: ZumBeispiel haben wir das Versammlungsrecht verschärft,aufgrund dessen es gelungen ist, Demonstrationen undAufmärsche zu verhindern. Daneben wurde die Strafbar-keitsschwelle für den Tatbestand der Volksverhetzungangehoben. Zahlreiche Innenministerien der Länder undauch das Innenministerium des Bundes haben Vereineund Organisationen verboten. Dadurch werden dieseVereine natürlich erst einmal verdrängt, aber die Men-schen und die Einstellungen ändern sich dadurch nicht.Zumindest für einige Zeit wird dadurch deren Aktions-radius aber eingeschränkt.Das sind Instrumente, deren sich eine wehrhafte De-mokratie bedient. Wir setzen aber natürlich auch und vorallen Dingen auf präventive Maßnahmen im Kampfgegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechts-extremismus.Ich möchte jetzt doch einige Beispiele nennen, diesich quer durch die Ressorts der Bundesregierung unddes Bundes ziehen.Zunächst nenne ich das 19-Millionen-Euro-Bundes-programm „Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokra-tie …“, das auf den früheren Programmen Civitas undEntimon basiert. Uns, der SPD-Bundestagsfraktion, istes gelungen, jetzt zusätzlich 5 Millionen Euro für dasProgramm „Förderung von Beratungsnetzwerken – Mo-bile Intervention gegen Rechtsextremismus“ im Haus-halt einzustellen.
Ich danke unseren Haushältern, Berichterstattern undauch Kerstin Griese, der Vorsitzenden des Familienaus-schusses, wo diese Programme angesiedelt sind.
Sie haben hier wirklich eine gute Arbeit geleistet, sodassdie Konzeption jetzt dem entspricht, was wir erreichenwollen.Im Bundesinnenministerium ist das „Bündnis für De-mokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Ge-walt“ angesiedelt. Es wurde 2000 vom BMI und vomBMJ ins Leben gerufen. Auch hier gelang es uns, dieMittel – um 300 000 Euro auf 1 Millionen Euro – aufzu-stocken.Genannt werden muss natürlich auch die Arbeit desBundesamtes für Verfassungsschutz, die der Öffent-lichkeit auch Informationen zur Verfügung stellt undAufklärung betreibt. Ausstellungen können dort ange-fordert werden, und dort wird auch ein Aussteigerpro-gramm angeboten.Auch bei der Bundeszentrale für politische Bildunghaben wir uns für eine gleichbleibende Finanzierung undAusstattung eingesetzt. Auch ihr kommt eine wichtigeInformations- und Aufklärungsfunktion zu.Als nationaler runder Tisch im Sinne der Grund-sätze der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Ras-sismus und Fremdenfeindlichkeit fungiert das „Forumgegen Rassismus“. Es umfasst inzwischen rund80 Organisationen, darunter 60 bundesweit und überre-gional tätige Nichtregierungsorganisationen. Auch dortwird eine wichtige Arbeit gegen Fremdenfeindlichkeit,Rassismus und Gewalt geleistet.
Metadaten/Kopzeile:
8958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Gabriele FograscherDas Bundesarbeitsministerium hat zusammen mitdem Bundesverkehrsministerium ein Programm auf-gelegt. Es hat zum Ziel, Beschäftigung, Bildung undTeilhabe vor Ort zu sichern. Mit dieser Maßnahme wer-den das Programm „XENOS – Leben und Arbeiten inVielfalt“ und das Programm „Soziale Stadt“ verbunden.Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Unterstützung desEngagements für mehr Toleranz und Integration und derFörderung zivilgesellschaftlicher Strukturen und bürger-schaftlichen Engagements vor Ort in den Kommunen.Auch dieses Programm wird vielfach angefordert undgut angenommen.
Auch in anderen Ressorts gibt es Initiativen gegenRassismus. Ich will nur das Auswärtige Amt nennen.Wir haben heute bereits eine sportpolitische Debattegeführt. Das Auswärtige Amt hat die FIFA bei der Fuß-ballweltmeisterschaft in der Kampagne gegen Rassismusunterstützt.Nicht zu vergessen ist die derzeitige deutsche EU-Ratspräsidentschaft, die den Rahmenbeschluss von2005 zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeind-lichkeit erneut auf die politische Agenda gesetzt hat. Erist darauf ausgerichtet, eine Mindestharmonisierung derVorschriften über die Strafbarkeit des Verbreitens vonrassistischen und fremdenfeindlichen Äußerungen zu er-reichen. Dabei geht es zum Beispiel um die öffentlicheAufstachelung zu Gewalt und Hass und das Leugnenoder Verharmlosen von Völkermord aus rassistischenoder fremdenfeindlichen Motiven. Wie Sie sehen, setztsich die Bundesregierung auch auf europäischer Ebenefür die Bekämpfung des Rassismus ein.Wir – die Bundesregierung und die sie tragendenFraktionen – betrachten das Engagement gegen Rassismusals wichtige Querschnittsaufgabe und haben, wie icheben darzustellen versucht habe, in unterschiedlichenRessorts Maßnahmen ergriffen. Allerdings ist das nichtAufgabe des Bundes allein; auch die Bundesländer, dieKommunen und die Zivilgesellschaft sind gefordert.Als Beispiel aus der Zivilgesellschaft lassen sich auchan dieser Stelle Initiativen aus dem Bereich des Sportsanführen. Die Deutsche Fußball-Liga und der DeutscheFußball-Bund mit seinen Fanprojekten haben konkreteSignale gegen Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Rassis-mus auf dem Fußballplatz gesetzt. Viele andere wie derNordostdeutsche Fußballverband haben Aktionswochengegen Rassismus gestartet. Der Bayerische Fußball-Verband und die Bayernligavereine haben eine Arbeits-gruppe „Stadionsicherheit“ gegründet, um gemeinsamGewalt und Rassismus im Stadion zu bekämpfen.Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt ausdrück-lich die Bundesregierung bei ihrem Engagement gegenRassismus und Rechtsextremismus. Wir begrüßen, dassdie erfolgreichen Bundesprogramme fortgeführt werden.Wir werden die Umsetzung konstruktiv begleiten undda, wo es notwendig ist, für Verbesserungen kämpfen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank.
Monika Lazar hat jetzt das Wort für das Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Rassismus ist ein wachsendes Problem in unserem Land,
wie die Sozialforschung eindeutig belegt. Insofern ver-
stehe ich nicht, Frau Köhler, wie Sie zu dem Schluss
kommen können, dass die Studien fragwürdig sind, ob
es nun die Studien oder die Wissenschaftler betrifft.
Gerade diese Studien haben doch einen sehr breiten
Ansatz, der Ihnen theoretisch nahestehen sollte.
Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Köhler
zulassen?
Ja.
Die Antwort heißt Ja. Bitte schön.
Frau Kollegin, Sie haben meine Bewertung der Studien
angegriffen. Vermutlich haben Sie auch nicht mitbekom-
men, dass es in der Wissenschaft eine sehr breite Debatte
gibt und dass sehr viele Wissenschaftler diese Studien
angreifen. Aber lassen wir das jetzt beiseite.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie wirklich der Auffas-
sung sind, dass jeder, der dem Statement „Was unser
Land heute braucht, ist ein hartes und energisches
Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Aus-
land“ überwiegend zustimmt, bereits ein potenzieller
Rechtsextremist ist. Ich frage Sie nicht, ob Sie dieser
Aussage zustimmen – das ist nicht der Punkt –, sondern
ich frage Sie, ob Sie es wirklich für richtig halten, dass
jeder, der bei dieser Aussage ankreuzt „Ich stimme über-
wiegend zu“ schon als möglicher Rechtsextremist klassi-
fiziert wird.
Ist das aus der Heitmeyer-Studie oder von Brähler?
Nein, das ist aus einer Studie der Friedrich-Ebert-Stif-tung aus Leipzig.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8959
(C)
(D)
Heitmeyer hat einen ähnlich breiten Ansatz. – Nicht
jeder, der diesem Satz und vielleicht noch einigen anderen
Sätzen zustimmt, ist automatisch ein Rechtsextremist.
Vielmehr geht es um eine starke Menschenfeindlichkeit
insgesamt, das heißt um eine Anerkennungskultur oder
eine Abwertungskultur. In diese Richtung gehen die Fragen.
Sie haben sich eine einzige Frage herausgegriffen. Es
gibt aber immer mehrere Fragen zu einem bestimmten
Komplex.
– Wahrscheinlich.
Es geht darum, dass sich bestimmte Menschen als etwas
Besseres fühlen. Beispielsweise wertet ein Mann, weiß
und heterosexuell, das Gegenteil – weiblich, dunkelhäutig
und homosexuell – ab. Wissenschaftler würden in einem
solchen Fall von Abwertungstendenzen sprechen – der
Betreffende stellt sich über andere –, die in Richtung
Rassismus gehen; denn bei Rassismus handelt es sich
um eine Kultur, in der man sich über andere stellt. Herr
Heitmeyer hat in seiner letzten Studie zur Fußballwelt-
meisterschaft – dieses Beispiel wird Ihnen wahrscheinlich
nicht so gefallen – Umfragen zum Thema Patriotismus
durchgeführt. Dabei kam genau das Gleiche zum Aus-
druck. Natürlich ist es völlig normal, wenn sich jemand
darüber freut, dass die deutsche Mannschaft gewonnen
hat. Bis dahin ist es okay. Es ist aber ein feiner Unter-
schied, wenn jemand sagt, dass die Polen schlecht spielen
oder gar keine Chance haben, zu gewinnen; darauf
kommt es an. Man darf aber nicht eine bestimmte Frage
herausgreifen und denjenigen, der diese Frage bejaht, als
Rechtsextremisten bezeichnen. Das macht kein Wissen-
schaftler. Das können Sie aus der Beantwortung der von
Ihnen angeführten Frage nicht herauslesen.
Wir alle wissen: Es gibt großen Handlungsbedarf,
breit angelegt gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus vorzugehen. Dazu gehört, dass sich
die Politik klar und eindeutig dagegen positioniert. Ein
nationaler Aktionsplan hätte eine solche Signalwirkung.
Doch bevor wir eine neue Baustelle namens nationaler
Aktionsplan eröffnen, möchte ich an die Bundespro-
gramme gegen Rechtsextremismus erinnern. Bis Ende
letzten Jahres hießen sie Civitas und Entimon. Sie waren
wirklich innovativ. Heute gibt es Fachwissen zivil-
gesellschaftlicher Initiativen vor Ort. Wir können auf
praxiserprobte Kompetenzen von Opferberatungsstellen,
mobilen Beratungsteams und Aussteigerinitiativen wie
EXIT zurückgreifen. Wir hatten gutfunktionierende Pro-
gramme, die demokratieförderndes Engagement vor Ort
stärkten. Sie waren auf lokale Projekte zugeschnitten,
wurden individuell vergeben und hatten die Zivilgesell-
schaft als wichtigsten Akteur im Blick.
Die neuen Bundesprogramme erwecken manchmal den
Eindruck: Hauptsache etwas anderes als die Vorgänger-
regierung! Denn praktische Erfahrungen und wissen-
schaftliche Evaluationen werden nicht immer sehr ernst
genommen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Ausgestal-
tung des 5-Millionen-Euro-Programms für Beratungs-
netzwerke. Zum Glück hat es sich in den letzten Wochen
in eine für uns angenehmere Richtung entwickelt. Aber
einige Sachen haben wir zu kritisieren, zum Beispiel
dass nur noch zeitlich befristete Interventionen gefördert
werden. Dass die Bundesregierung nur Geld bereitstellen
will, wenn eine örtliche Krise bereits im Gang ist, ist
einfach zu kurz gedacht. Ein „Feuerwehreinsatz“ reicht
eben nicht.
Die Evaluation hat gezeigt, dass es darum gehen muss,
präventiv und kontinuierlich zu beraten.
Wenn man diese Entwicklungen betrachtet, dann
kommt man zu dem Schluss, dass ein nationaler Aktions-
plan sinnvoll sein könnte. Man müsste sich auf einen
gemeinsamen Weg einigen und hätte dann die Chance,
dem Rechtsextremismus mit langfristigen Konzepten
entgegenzutreten. Zu überlegen wäre, ob zur Ausarbeitung
eines solchen Plans ein völlig neues Gremium zu bilden ist
oder ob zum Beispiel das bestehende, beim Bundesinnen-
ministerium angesiedelte Bündnis für Demokratie und
Toleranz befristet mit weiteren NGOs aufgestockt werden
könnte. Aber zusätzlich zu den Diskussionen in unseren
Reihen müssen wir die gesamte Gesellschaft ansprechen.
Alle Ebenen sind dabei gefragt. Wir dürfen nicht in Zu-
ständigkeiten, sondern müssen in Verantwortlichkeiten
denken.
Wir brauchen zum Beispiel auch mehr politische
Partizipationsmöglichkeiten für Menschen mit Migrations-
hintergrund. Wir brauchen Gesetze, die unsere Zivil-
gesellschaft aktivieren. Rechtsextreme und rassistische
Diskriminierungen finden nach wie vor statt, täglich in
Ost und West. Deshalb setzen wir Grünen in erster Linie
ganz stark auf eine aktive Zivilgesellschaft. Aber wie errei-
chen wir dieses Ziel? Ein Aspekt ist, dass man erfahrenen
Akteuren vor Ort keine Steine in den Weg legen darf.
Das Vorbild der Engagierten ist wichtig, damit sich wei-
tere Menschen anschließen. Wenn wir uns alle für eine
tolerante und demokratische Gesellschaft einsetzen und
auch die Politik auf allen Ebenen – Bund, Länder und
Kommunen – moralische und finanzielle Unterstützung
anbietet, kann der Nationale Aktionsplan gegen Rassis-
mus eine sinnvolle Ergänzung sein.
Schönen Dank.
Jetzt hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
8960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Bereits 2001 verpflichtete sich die Bundesregierung, einen
Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus zu erstellen.
Diese auf der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus im
südafrikanischen Durban eingegangene Verpflichtung ist
bis heute nicht eingelöst. Das ist ein Skandal.
Unser Land braucht diesen Aktionsplan dringend. Bis Ende
2007 erwarten Wissenschaftler den stärksten Anstieg
rassistischer Straftaten seit ihrer Erfassung. Heute
wurde der feige Brandanschlag auf das Baugelände einer
Moschee in Berlin-Pankow bekannt. Für das Jahr 2005
verzeichnet der Verfassungsschutz eine Zunahme rechts-
extremer Delikte, die immer auch einen rassistischen
und fremdenfeindlichen Hintergrund haben, um fast
30 Prozent gegenüber 2006. Diesen Tendenzen muss
dringend und unverzüglich etwas entgegengesetzt werden.
Die Bundesregierung ist hier in der Pflicht.
Wo liegen die Gründe, dass der Nationale Aktions-
plan gegen Rassismus seit sechs Jahren auf sich warten
lässt? Befürchtet die Bundesregierung, man wolle das
Problem des Rassismus künstlich herbeireden? Es hilft
wenig, ungeliebte Wahrheiten reflexhaft abzuwehren
oder zu bagatellisieren.
Dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserem
Land ausgeprägt sind, hat aktuell die Studie „Vom Rand
zur Mitte“ der Ebert-Stiftung eindringlich belegt. Fast
40 Prozent aller Befragten halten Deutschland für in ge-
fährlichem Maß überfremdet. Das ist keine Tendenz
mehr am rechten Rand, Fremdenfeindlichkeit und Ras-
sismus haben sich längst in der Mitte der Gesellschaft
etabliert.
Gerade deshalb ist es wichtig, sowohl Nichtregierungs-
organisationen als auch Opfer einzubeziehen, wenn ein
Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus erarbeitet
wird.
Der Sachverstand von außen, die Erfahrungen der Opfer
müssen Grundlage für das sein, was künftig in diesem
Land gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus getan
wird. Die Bundesregierung hat seit Januar ein Programm
„Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie – gegen
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Anti-
semitismus“ aufgelegt. Das ist auch gut so. Sie sollte
darüber hinaus sehr schnell ein ähnliches Programm
starten, das die gesamte Bevölkerung unseres Landes an-
spricht. Es muss ein Programm für Toleranz und
Menschlichkeit her. Von diesem Programm müssen
Kommunen profitieren, damit ihre Aktivitäten zur Inte-
gration vor Ort eine neue Qualität bekommen.
Am Samstag fing die Internationale Woche gegen
Rassismus an. Sie erinnert traditionell an das Massaker
von Sharpeville in Südafrika am 21. März 1960. Frau
Köhler, eine Bemerkung zu Ihnen: Wenn Sie sagen, Sie
wollten Rassismus bekämpfen, dann sage ich Ihnen an
dieser Stelle: Eines Ihrer politischen Vorbilder hatte vor-
zügliche Kontakte zum Apartheidregime in Südafrika.
Ich meine Franz Josef Strauß. Diese Internationale Woche
gegen Rassismus bietet die Gelegenheit, die Debatte in
der Öffentlichkeit zu führen, und dies ist auch notwendig.
Ein Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus könnte zu
einer Bewusstseinsschärfung der Öffentlichkeit beitragen.
Er wäre zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
Rassismus ist
die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung
tatsächlicher oder fiktiver biologischer Unter-
schiede zum Nutzen des Anklägers und zum Scha-
den seines Opfers …, mit der eine Aggression ge-
rechtfertigt werden soll.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – Das ist zitiert nach Albert
Memmi, einem französischen Schriftsteller und Wissen-
schaftler, der zu Rassismus, Emigration und dem
Lebensgefühl der Entfremdung geschrieben hat. Denken
wir bitte immer an Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte:
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und
Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewis-
sen begabt –
Herr Kollege!
– und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit
– heute würden wir auch sagen: der Schwesterlichkeit –
begegnen.
Vielen Dank.
Ich schließe hiermit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/4201 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 bauf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausBrähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-PeterFriedrich , weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenAnnette Faße, Reinhold Hemker, Elvira
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8961
(C)
(D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-EckardtDrobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDZukunftstrends und Qualitätsanforderungenim internationalen Ferntourismus– Drucksache 16/4603 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth , Ute Koczy, Kai Gehring,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENTourismus zur Armutsbekämpfung und zursozialen und ökologischen Entwicklung in denPartnerländern nutzen– Drucksache 16/4181 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussZwischen den Fraktionen ist verabredet, hierüber einehalbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wi-derspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demKollegen Jürgen Klimke, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Syltstatt Seychellen, Borkum statt Bali – das war eine vielzi-tierte, provokante Forderung der letzten Wochen. Sparenwir uns das klimaschädliche Herumfliegen! Bleiben wirzu Hause, und nutzen wir obendrein dem Wirtschafts-standort Deutschland! Wer so etwas ernsthaft fordert, derbehindert nicht nur den technischen Fortschritt im Luft-verkehr, sondern er schadet auch der Bekämpfung derArmut in der Dritten Welt und reiht sich in die Phalanxder Globalisierungsgegner ein.Natürlich wollen wir die Energieeffizienz steigern,und wir wollen den CO2-Ausstoß vermindern, auch imTourismus und ganz besonders im Luftverkehr. Reise-verbote tragen wir jedoch nicht mit. Wir halten sie fürunrealistisch und für kontraproduktiv. Lassen Sie michein Beispiel nennen: Wenn wir die Fernreisen abschaffenwürden, dann könnten die meisten Nationalparks in denEntwicklungsländern ihre Pforten schließen. Viele Wäl-der würden dann abgeholzt werden. Dort würden Felderentstehen, was erhebliche Folgen hätte, auch für dieCO2-Bilanz.Sollte unser Ziel nicht sein, den Menschen auch durchden Tourismus ein Auskommen zu bieten, damit sie ihreRessourcen schonen, statt die Tropenwälder für neueWeideflächen abzuholzen? Das würde auch der CO2-Bilanz nutzen; denn derzeit wird durch Brände in denTropen und in den Subtropen mehr Energie verschleu-dert, als wir in Deutschland insgesamt überhaupt umset-zen.
Energiesparen im Tourismus ist richtig und wichtig.Das sollte jedoch durch einen permanenten Wettbewerbum effiziente Technik geschehen und nicht durch ideolo-gische Verbote bestimmter Technologien.
Wir brauchen mehr Ökowettbewerb in der Flugzeug-industrie, und wir müssen auch den Ökowettbewerb inder Reiseindustrie fördern. Dies erreichen wir, indemwir die Touristen für Umweltfragen stärker sensibilisie-ren, damit sie nicht nur auf den Preis achten, sondernauch auf das Umweltengagement des Unternehmens, beidem sie buchen. Ich plädiere ganz eindeutig dafür, dassdie Selbstregelungsmechanismen innerhalb der Touris-musbranche gestärkt werden, damit der geforderte Bei-trag zum Umweltschutz auch nachhaltig umgesetzt wer-den kann.Generell begrüßen wir das Wachstum im Tourismusin den Tourismusländern. In den letzten 15 Jahren ist ervon 28 auf fast 40 Prozent gestiegen. Die UNWTO – dasist die Welttourismusorganisation – erwartet auch in Zu-kunft überdurchschnittliche Wachstumsraten. Das be-deutet, dass der Stellenwert des Tourismus für die Ent-wicklungsländer immer wichtiger wird. Der Tourismushat sich in diesen Ländern teilweise als wichtigste Ein-nahmequelle etabliert. Er leistet einen Beitrag, Armut zubekämpfen und – ganz banal – den Hunger zu stillen.Gleichzeitig führt das Kennenlernen von Touristenund Einheimischen zu einer stärkeren gegenseitigenAkzeptanz, zu einem Vertrauen der Kulturen. Es gibt na-türlich auch Auswüchse des Tourismus; das ist ganz ein-deutig so.Mit dem Antrag der Regierungskoalition werden wireinen guten Beitrag leisten, weil er entscheidende Ver-besserungen bei der Information deutscher Touristenvorsieht und den Weg für die Etablierung des Tourismusals Schwerpunkt im Rahmen der Entwicklungsarbeit mitden Entwicklungsländern ebnet.Lassen Sie mich, bevor ich zu einigen Punkten unse-res Antrags komme, einige Worte zum Antrag der Grü-nen sagen. Der Antrag zielt generell in die gleiche Rich-tung. Deswegen werden die Anträge auch unter einem
Metadaten/Kopzeile:
8962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Jürgen KlimkeTagesordnungspunkt behandelt. Er greift einige Punkteunseres Antrags auf. In zwei Punkten muss ich Ihnenaber eindeutig widersprechen.Erstens. Die Durchsetzung internationaler Sozial-standards für die Beschäftigten der Tourismusbranchehalte ich für unrealistisch, und sie würde in verschiede-nen Bereichen auch kontraproduktiv sein. Wir könnennicht überall Lohnniveaus und Sozialsysteme erreichen,die mit denen bei uns vergleichbar sind. Das ist völligunrealistisch.Der zweite Punkt ist der Klimawandel, der hier imZusammenhang mit der Kerosinsteuer angesprochenwird. Die von den Grünen als überfällig angemahnte Ke-rosinsteuer halten wir zumindest auf nationaler und eu-ropäischer Ebene für falsch, weil sie zu Wettbewerbsver-zerrungen zulasten unserer Anbieter führt. Es kann nichtsein, dass die Kerosinsteuer dadurch, dass Landungendann in Zürich oder in Oslo erfolgen, unsere Luftdreh-kreuze, meinetwegen Frankfurt oder Bremen, beschädigtund diese Marktanteile verlieren.Lassen Sie mich drei Punkte unseres Antrags anspre-chen: den Nutzen der Fernreisen für Deutschland, dieBekämpfung der negativen Aspekte im Tourismus unddie Partizipation der Einheimischen.Deutschland profitiert als einer der größten Quell-märkte von der Zunahme der Reisen in die Entwick-lungsländer. Reisebüros, Reiseveranstalter spezialisie-ren sich auf diese Reisen und schaffen dadurch auchArbeitsplätze in Deutschland. Deutsche Unternehmeninvestieren in die Infrastruktur dieser Staaten. Dadurchwerden nicht nur in den Entwicklungsländern, sondernauch bei uns neue Arbeitsplätze geschaffen. Das ist eineklassische Win-win-Situation. Wir profitieren davon, dieEntwicklungsländer profitieren davon.
Wir unterstützen diese Entwicklung mit unserem An-trag; denn wir schaffen zukünftig zum Beispiel durch dieAufnahme von mehr Tourismusinformationen auf denLänderseiten des Auswärtigen Amtes eine zusätzlicheMarketingplattform auch für diese Länder. Dadurch wer-den die Reisen in die Entwicklungsländer gefördert.Zu den negativen Aspekten. Zum einen leiden insbe-sondere die ökologischen Ressourcen unter dem stetigenWachstum – das muss man eindeutig sehen –; zum ande-ren mangelt es vielen Reisenden einfach an Informatio-nen über kulturelle, soziale und ökologische Gegeben-heiten der Regionen, in die sie reisen. Dem möchten wirabhelfen oder es jedenfalls versuchen.Gleichzeitig wollen wir die Ausbeutung von Kindernund Jugendlichen durch Sextourismus durch weitereVerbindungsbeamte und durch andere Grundsätze straf-rechtlicher Verfolgung bekämpfen. Das ist ein ganzwichtiger Punkt in diesem Zusammenhang.Wir streben eine Verbesserung der Aufklärung derReisenden an, auch zum Artenschutz und zur Nachhal-tigkeit im Tourismus, und setzen uns für eine stärkereBerücksichtigung des Tourismus zum Beispiel in denLehrplänen unserer Schulen, unserer Universitäten undvor allen Dingen der Einrichtungen ein, die sich mitTourismus beschäftigen, zum Beispiel der Fachhoch-schulen und der Fortbildungseinrichtungen.Das dritte Thema liegt mir besonders am Herzen:Partizipation der Einheimischen. Dem Tourismuswird immer wieder vorgeworfen, er grenze sich von denEinheimischen ab, das sei sozusagen eine Closed-Shop-Situation, es gebe nur wenig Wertschöpfung vor Ort. Einweiterer englischer Begriff macht das deutlich: all inclu-sive. Alles das, was man in einem Hotel bekommenkann, ist im Preis inbegriffen. Meist wird es eingeführtund nicht in dem Entwicklungsland selbst produziert.Von daher meinen auch wir, dass zu hinterfragen ist, obdas sinnvoll ist. Eine Studie zu den ökonomischen, so-ziokulturellen und ökologischen Folgen dieser Reisensoll vorgelegt werden, damit wir zukünftig auch das aufeiner solideren Basis beurteilen können.Untersuchungen des Studienkreises für Tourismusund Entwicklung am Starnberger See haben ergeben,dass die Reisenden in Entwicklungsländer durchaus be-reit sind, die Gegebenheiten vor Ort in Augenschein zunehmen, in Gespräche mit der Bevölkerung einzutretenund stärkeren Kontakt zu ihr aufzunehmen, um so ihreDestination sozusagen besser kennenzulernen. „Landund Leute“-Programme gibt es relativ selten. Solchesollten unserer Meinung nach die Anbieter ins Leben ru-fen und auch stärker gegenüber ihren Kunden bewerben;denn damit wird der berühmte Lerneffekt beim Reisenerzielt und Sensibilität für die sozialen und ökologischenRealitäten der Reiseländer geweckt sowie ein stärkeresMiteinander zwischen Touristen und Einheimischen ge-knüpft.
Ein letzter Punkt, meine Damen und Herren: Wirmöchten gerne, dass Tourismus in den Entwicklungs-ländern zum Bestandteil der Entwicklungspolitik wird.Das ist, wie ich glaube, ein ganz wichtiger Punkt. Damitwürden wir zugleich eine Kehrtwendung vollziehen:Nicht nur Gesundheitsförderung und Armutsbekämp-fung, sondern auch Tourismus- und damit Wirtschafts-förderung sollen zu einem wichtigen Bereich werden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Mit Tourismus als sektoralem Schwerpunkt für die
Entwicklungszusammenarbeit fördern wir nicht nur die
Wirtschaft im Entwicklungsland, sondern auch unsere
eigene Wirtschaft profitiert davon. Genau das wollen wir
ja mit Entwicklungspolitik erreichen: nicht nur einseitig
Gelder geben, sondern fördern und auch für uns etwas
erreichen.
Herr Kollege!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8963
(C)
(D)
Herzlichen Dank. – Insofern ist
Tourismus als Wirtschaftsfaktor auch ein wesentlicher
Bereich für die Entwicklungsländer.
Danke sehr.
Ernst Burgbacher hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Lieber Kollege Klimke, nach Ihrer Rede lege ichmein Manuskript zur Seite, weil ich fast alles unter-schreiben kann, was Sie gesagt haben.
Sie haben ja völlig recht: Natürlich bietet die Entwick-lung von Tourismus hervorragende Chancen für Ent-wicklungsländer. Da können wir eine ganze Menge tun.Viele der Forderungen, die wir diesbezüglich erhebenmüssen, sind berechtigt. Das gilt übrigens für die Forde-rungen in Ihrem Antrag wie für die im Antrag der Grü-nen. Viele können wir unterschreiben. Die Beratungenim Ausschuss werden, wie ich denke, zeigen, dass anvielen Punkten absoluter Konsens besteht.Ich stehe genauso wie Sie dazu, dass es sinnvoll ist,den Tourismus in unterentwickelten Ländern weiterzu-entwickeln. Das ist für viele dieser Länder heute fast dieeinzige Chance. Bei der Frage, wer die Chancen nutzensoll und wer das Geld ins Land bringen soll, gehen un-sere Meinungen allerdings ein wenig auseinander.Hierzu finde ich in den Anträgen keine Aussage.Ich möchte einmal einen Passus aus dem Antrag derKoalitionsfraktionen zitieren. Da heißt es:Weitere negative ökologische Auswirkungen resul-tieren aus der auch durch den Anstieg des Ferntou-rismus erfolgten starken Zunahme des Flugver-kehrs. Die Verringerung der Emissionen durch einedeutlich verbesserte Energieeffizienz der Trieb-werke und die erhöhten Transportkapazitäten derFlugzeuge in den kommenden Jahren wird durchdie weitere Zunahme des Flugverkehrs überkom-pensiert.Das war es. So steht es wörtlich in Ihrem Antrag. Abermehr steht nicht drin. Was wollen Sie jetzt eigentlich?
Wollen Sie den Tourismus ausbauen? Man kommt wedermit dem Fahrrad noch mit dem Paddelboot in diese Län-der. Natürlich muss man fliegen. Dann sollte man aberauch dazu stehen
und nicht so tun, als könnte man das irgendwie vereinba-ren und durch irgendwelche Zaubereien alle Ziele errei-chen. Das geht nicht.
Das sollte man auch sehr deutlich sagen.Vor diesem Hintergrund haben wir die ganze Diskus-sion im Umfeld der ITB nicht verstanden: Plötzlich ka-men jeden Tag zwei, drei selbst ernannte Spezialisten– einige übrigens auch von Ihrer Seite – und haben ge-sagt: Wunderbar, dann sollen eben mehr Leute inDeutschland bleiben. Wie Sie das mit den ForderungenIhres Antrags zusammenbringen wollen, würde michschon sehr interessieren. Man sollte also ehrlich die ent-sprechende Position vertreten: Damit das, was in denAnträgen steht, umgesetzt werden kann, müssen dieMenschen noch mehr fliegen. Das ist eine Tatsache.
Das Zweite – auch Sie haben darauf hingewiesen –:Man sollte nicht so tun, als gebe es eine heile Welt, dieman am besten dadurch schützt, dass man sie unberührtlässt. Man sollte übrigens auch nicht so tun, als könntenwir von hier aus sagen, wie es richtig geht. Auch das isteine Position, die ich einfach nicht nachvollziehen kann.Wir verdienen in Deutschland eine ganze Menge Geldim Tourismus. Gerade wir Mitglieder des Tourismusaus-schusses betonen immer wieder, dass Tourismus einerder wichtigsten Wirtschaftsfaktoren ist. Wir betonen dieZahlen der Arbeitsplätze und die 8 Prozent Anteil amBruttoinlandsprodukt. Das hängt mit vielen Maßnahmenzusammen. Dann können wir aber doch nicht mit Blickauf die Entwicklungsländer sagen, sie müssten das an-ders machen. Das ist unehrlich, und das sollten wir nichtmitmachen.
– Entschuldigung, wenn Sie sagen, dass irgendwo etwasanderes steht, dann zeigen Sie mir das. In den Forderun-gen, die ohnehin vage genug sind, ist von allen mögli-chen Auflagen und verschiedenen Dingen, die berück-sichtigt werden müssen, auch im Zusammenhang mitNachhaltigkeit, die Rede.
Welche Folgen das hat, auch mit Blick auf die Bürokra-tie, steht übrigens nirgends. Das gilt für den Antrag derGrünen noch viel mehr.Ich bin davon überzeugt, dass viele Projekte in diesenLändern, gerade im Naturschutz, überhaupt nur möglichsind, weil durch den Tourismus Geld in das Land fließt.Viele Naturschutzprojekte erfordern geradezu die touris-tische Nutzung. Das gilt in diesen Ländern, aber übri-gens auch bei uns sehr häufig.Ich sage ja gar nicht, dass das in dem Antrag steht. Ichwerfe Ihnen aber Folgendes vor – da hoffe ich, dass wirin der Beratung ein Stück weiterkommen –: In den An-
Metadaten/Kopzeile:
8964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Ernst Burgbacherträgen werden hehre Ziele formuliert und wird beschrie-ben, was alles gemacht werden soll;
aber wie daraus ein schlüssiges Konzept werden soll undwie wir erreichen, dass die Entwicklungsländer tatsäch-lich am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben, steht indiesen beiden Anträgen nicht.
Solange das dort nicht steht, haben Sie auch kein Kon-zept, wie es weitergehen soll.Wir werden unseren Beitrag leisten.
Vielleicht kommen wir zu einem gemeinsamen Antrag,der mehr wert ist. Wenn nur schöne Aussagen aneinan-dergereiht werden, führt uns das nicht weiter.Herzlichen Dank.
Jetzt hat Gabriele Groneberg das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eswürde mich natürlich reizen, Herrn Burgbacher direkt zuantworten; aber ich werde mir jetzt erst einmal ein paarandere Punkte herausgreifen, von denen ich denke, dasssie ein bisschen interessanter sind. Dann werden wir unsspäter mit Herrn Burgbacher beschäftigen.Warum machen wir uns eigentlich Sorgen um denTourismus? Wir freuen uns doch, wenn wir, auch nochkostengünstig, Urlaub an schneeweißen Palmensträndenmit kristallklarem Wasser und unter einem makellosblauen Himmel machen können. Die Länder, die wir be-suchen, freuen sich über Einkommen, Herr Burgbacher,und Arbeitsplätze; denn in vielen Entwicklungsländernhat sich der Tourismus zu einem der wichtigsten Wirt-schaftszweige entwickelt, wenn nicht sogar zum einzi-gen.
Gerade für Länder ohne Rohstoffe und mit schlechtenlandwirtschaftlichen Bedingungen bietet der Tourismusdie einzige Möglichkeit zur Devisenbeschaffung; lassenSie uns das einmal festhalten.
Experten schätzen die Nettodeviseneinnahmen der Ent-wicklungsländer und der am wenigsten entwickeltenLänder auf 60 bis 80 Prozent.Aber der Tourismus, vor allem in seiner rücksichtslo-sen Form, schafft auch Probleme.
Unkontrollierte Infrastrukturentwicklung wie zum Bei-spiel auf Mallorca – man sieht jetzt an den Protesten,dass das nicht mehr akzeptiert wird – zerstört nicht nurFlora und Fauna, sondern auch die Kulturlandschaft, undvor allen Dingen traditionelle Werte leiden beträchtlich.All das beeinträchtigt den Lebensraum der Menschenvor Ort. Die negativen Auswirkungen führen letztend-lich dazu, dass das, was den Reiz der Region ausgemachthat, verschwindet und die Touristen wegbleiben. Zielmuss es daher sein, einen nachhaltigen Tourismus zu er-reichen. So ist das, Herr Burgbacher.Ich denke, es ist nur schlüssig und konsequent, wennwir uns im Bereich der Entwicklungshilfe nicht nur mitden Chancen, die durch den Tourismus für Entwick-lungsländer bestehen, beschäftigen, sondern auch ganzkonkrete Projekte mitfinanzieren.
Ich möchte zur Verdeutlichung einige Beispiele nennen.Ein gelungenes Beispiel ist das Projekt „Akha Expe-rience“ in Laos, das im Rahmen einer Public PrivatePartnership – zu Deutsch: in Zusammenarbeit von öf-fentlicher Hand und privater Wirtschaft – entwickeltwurde. Das Bergvolk der Akha hat kaum Zugang zu so-zialer Grundversorgung wie Gesundheit und Bildungund ist weitgehend von der wirtschaftlichen Entwick-lung des Landes ausgeschlossen. Mit der Unterstützungdurch die GTZ und in Zusammenarbeit mit einem Reise-veranstalter wurden in acht Dörfern lokale Akha-Guidesausgebildet, die auch Englischunterricht erhielten. DasProjekt trägt durch die Entwicklung der touristischen In-frastruktur zur Gemeindeentwicklung und Armutsbe-kämpfung bei – die Menschen profitieren also direkt da-von – und hat als erstes PPP-Projekt in LaosModellcharakter für weitere Projekte.In Montenegro zum Beispiel hat die positive Ent-wicklung in der Tourismusbranche den Bedarf an quali-fiziertem Fachpersonal steigen lassen. Allerdings stelltder nationale Arbeitsmarkt trotz hoher Arbeitslosigkeitnicht genügend Fachkräfte zur Verfügung. Die GTZ leis-tet hier vor allem bei der Reform des Berufsbildungssys-tems und durch die Ausbildung von Fach- und Füh-rungskräften Unterstützung. Ziel des Vorhabens ist es,das touristische Angebot in Montenegro langfristig aufhohem Niveau sicherzustellen.In Uganda beispielsweise haben wir über die GTZund die KfW die nationale Naturschutzbehörde beimAufbau des Murchison Falls National Park unterstützt.Bis zum Bürgerkrieg – das ist das Traurige an der gan-zen Geschichte – in den 70er- und 80er-Jahren war die-ser Park mit den weltberühmten Wasserfällen eine be-deutende Touristenattraktion. Doch während desBürgerkriegs wurde die Infrastruktur fast vollständigzerstört. Der Wildtierbestand von Elefanten und Nashör-nern hat sich erheblich verringert. Ziel war es hier, nachdem Krieg wieder ein funktionsfähiges Schutzgebiet
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8965
(C)
(D)
Gabriele Gronebergaufzubauen und den Tourismus zu fördern. Indem wirAus- und Fortbildungsmaßnahmen für Wildhüter durch-geführt haben und die Infrastruktur wieder instand ge-setzt haben, konnten wir die wirtschaftliche Grundlagefür den Tourismus wiederherstellen.Was ist an diesen Maßnahmen bitte schön verkehrt?Wir helfen doch direkt, explizit den Menschen vor Ort.Ich sehe aber ein, dass das nicht reicht, auch wenn dasgute Beispiele sind. Wir sehen weiteren Handlungsbe-darf und vor allen Dingen weiteren Diskussionsbedarf.Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir in un-serem Antrag deutlich. Zum Antrag selbst wird der Kol-lege Hemker nachher noch einiges ausführen.Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.
Jetzt hat der Kollege Ilja Seifert das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren auf der Tribüne! MitIhrer gütigen Erlaubnis, Frau Präsidentin, darf ich zuerstFrau Mortler und Herrn Hinsken herzlich dafür danken,dass sie mir von diesem Pult aus beste Genesungsgrüßegesendet haben. Ich finde, das war sehr freundlich. Vielevon Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben dasauf andere Weise auch getan. Vielen Dank. Sie sehen,ich bin wieder da.Nun zum Thema. Wir hatten gerade die Gelegenheit,mit dem Ausschuss eine Fernreise zu unternehmen. Da-bei haben wir zum Beispiel erlebt, wie schwer es ist,wenn man behindert ist. Ich wundere mich sehr, dass inkeinem Ihrer Anträge – weder von den Grünen noch vonder Koalition – der Begriff barrierefreier Tourismusauch nur auftaucht, geschweige denn, dass Sie vernünf-tige Forderungen stellen, um ihn zu gewährleisten. Ichbitte Sie, dass wir das in den Ausschussberatungen nochaufnehmen, damit etwas Sinnvolles dabei herauskommt.
– Das ist ein Antrag zu einem anderen Thema. Aber wa-rum fehlt es hier?Wenn wir über Ferntourismus reden, möchte ichschon einmal darauf hinweisen, dass es verschiedeneFormen von Tourismus gibt. Es gibt die Urlaubsreisen-den, es gibt die Geschäftsreisenden, es gibt die Privatrei-senden, die Verwandte besuchen, es gibt Städtepartner-schaften und andere Formen von Kultur-, Sport- undJugendaustausch. Es gibt auch die Fernreisen von Solda-tinnen und Soldaten, also den Kriegstourismus. Den wirvollkommen ablehnen, und dabei bleiben wir auch.Wo sind denn eigentlich die Stellschrauben für diePolitik? Bei den Urlaubsreisen und bei dem Geschäfts-tourismus sind die Stellschrauben hinsichtlich der Fern-reisen gar nicht so groß.Bei den Städtepartnerschaften und bei den verschie-denen Formen von Kultur-, Sport- und Jugendaustauschhaben wir als Politikerinnen und als Politiker ganz an-dere Möglichkeiten, einzugreifen. Hier können wir di-rekt fördern, was von allen Seiten gefordert wird – dassman Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung auf-nimmt, dass man wirklich die Kultur des Landes, dasman besucht, kennenlernt und dass man wirklich erfährt,wie es dort zugeht. Das ist in diesen Formen des Touris-mus am ehesten möglich. Vor allen Dingen haben wirhier die größten Möglichkeiten, einzugreifen. Also las-sen Sie uns nicht so weiche, schwammige Formulierun-gen wie „Wir wirken darauf hin“ und „Wir versuchen,darauf Einfluss zu nehmen“ finden. Lasst uns dort för-dern, wo wir fördern können. Lasst uns etwas Konkretesmachen.Ein Reiseziel war zum Beispiel Cancún. Niemandvon uns hat sich in den 50 nebeneinanderstehendenFünfsternehotels – mehrere noch mit eigenen Golfplät-zen – wirklich wohlgefühlt. Man hat dort von der einhei-mischen Bevölkerung nichts gesehen, außer dann, wennsie als dienstbare Geister die Räume saubergemacht ha-ben. In den oberen Etagen übrigens war die einheimi-sche Bevölkerung, zum Beispiel die Nachfahren der Ma-jas, nicht mehr zu sehen.Was haben wir erfahren? Jeden Tag produziert Can-cún 700 Tonnen Müll. Dieser Müll wird in die Land-schaft geschüttet. Die Mangrovenwälder, die durch ei-nen Hurrikan und die Umweltbelastungen zerstörtworden sind, werden nicht aufgeforstet. Dafür ist keinGeld da.Wenn wir die dortige Infrastruktur stärken und derdortigen Bevölkerung wirklich nützlich sein wollen,dann muss man sagen, wo die Probleme wirklich liegen.Wir haben durchaus gesehen, wo sie liegen. Dort müssensie gelöst und muss die Situation geändert werden.Deshalb lassen Sie uns die Anträge nicht so halbher-zig formulieren. Lassen Sie uns im Ausschuss daran ar-beiten, damit herauskommt: An dieser und an jenerStelle kann die Politik tatsächlich eingreifen. Das mussdann auch Hand und Fuß haben, und dafür müssen wirauch ein bisschen Geld in die Hand nehmen. Ich denke,da sollte man etwas investieren. In diesem Zusammen-hang können wir zum Beispiel darüber reden, dass wireine Kerosinsteuer brauchen, aus deren Einnahmen wirdas bezahlen.Wir wollen an Ort und Stelle Menschen zusammen-bringen, zum Beispiel Jugendliche, die an einem Jugend-austausch teilnehmen. Nicht nur unsere Jugendlichensollen in ferne Länder fahren. Wir sollten auch den Men-schen dort die Möglichkeit geben, zu uns zu kommen,uns kennenzulernen. Wenn diese weniger Geld haben alswir, dann müssen wir ihnen Geld zur Verfügung stellen.Das ist die Form von Tourismus, die wir unterstützen.Lasst uns nicht nur daran denken, dass die Gutbetuch-ten in die Fünfsternehotels fahren, sondern auch dafürsorgen, dass sich Menschen kennenlernen und eine
Metadaten/Kopzeile:
8966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Ilja SeifertWeltanschauung durch das Anschauen der Welt ent-wickeln können!Danke schön.
Jetzt hat Undine Kurth das Wort für Bündnis 90/DieGrünen.Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Liebe Gäste auf den Rängen! Wir sprechen hierüber Chancen und Risiken des Ferntourismus, darüber,wie er qualitätsmäßig organisiert sein soll, darüber, wel-che Chancen zur Armutsbekämpfung er bietet.Es ist schon ausführlich darüber gesprochen worden:Wir wissen, wie viele positive Chancen im Tourismusliegen. Wir wissen, dass weltweit 235 Millionen Arbeits-plätze durch den Tourismus gesichert werden. Das sindungefähr 9 Prozent aller Arbeitsplätze, die es weltweitgibt. Es gibt also vor allem für Entwicklungs- undSchwellenländer eine Menge Chancen, aus dem Touris-mus wirtschaftlichen Gewinn zu ziehen. Übrigens, auchin Deutschland zieht man guten Gewinn aus der Touris-muswirtschaft. – Das ist die eine Seite des Unterneh-mens.Auf der anderen Seite wissen wir aber auch – das istebenfalls schon gesagt worden –, dass es eine MengeVerwerfungen, eine Menge Risiken und eine MengeUmweltbelastungen geben kann, die besonders durcheine nicht kluge Tourismusentwicklung produziert wer-den können. Jetzt kommt es also darauf an, abzuwägen,den richtigen Mittelweg zu finden, um aus den Vorteilenauf der einen Seite und den Risiken auf der anderen Seiteeinen vernünftigen Schluss zu ziehen und genau dasRichtige zu tun.Herr Burgbacher, ich verstehe wirklich nicht, dass Siesagen, Sie hätten überhaupt nicht begriffen, worüber aufder ITB geredet worden ist. Natürlich spielen die Touris-muswirtschaft und das Verhalten der Touristen eineRolle im Hinblick auf den Klimawandel. Das ist dochvöllig normal; denn wir alle wissen, dass das Fliegen mitseiner ganz besonders schädlichen Emissionswirkung zudem großen Problem des Klimawandels beiträgt. Dasheißt aber nicht, dass nie mehr geflogen werden soll. Dasist Unsinn. Wer in dieser Debatte behauptet, es gehe da-rum, Fernreisen zu verbieten, der verkennt wissentlichdie Bedeutung dieser Debatte.
So schlecht informiert kann niemand sein, um das, wasauf der ITB gesagt wurde, so falsch zu interpretieren.Wenn der Generalsekretär der Weltorganisation fürTourismus auf der ITB-Eröffnungsfeier sagt, wir brauch-ten einen sparsameren Umgang mit Energie, dann hat erdurchaus Recht. Noch in dieser Woche hat er auf derMadrider Klimakonferenz gesagt, die Maßlosigkeitdes Tourismus sei ein Problem. Wir müssen darauf hin-wirken, dass es bei dieser Maßlosigkeit nicht bleibt.
Seit Marco Polo wissen wir alle: Reisen macht schlau,Reisen macht Spaß und Reisen ist hilfreich bei der Ver-ständigung der Völker. Aber vor lauter Spaß und Ver-gnügen dürfen wir nicht darüber hinwegsehen, dass wiruns en passant unsere eigene Erde kaputtmachen. Daskann nicht Ziel der Entwicklung sein. Es ist also richtig,zu sagen: Lasst uns überlegen, was man unternehmenmuss, um bessere Wege zu finden. Demzufolge ist es fürmich gar nicht schlimm, wenn zwei Drittel der Deut-schen momentan überlegen, ob sie vielleicht einmal öf-ter im Lande bleiben. Ich verstehe auch nicht, warum wirTouristiker das nicht gut finden sollten. Denn derDeutschlandtourismus kann ruhig von dieser neuenEntwicklung profitieren. Das Schlechteste ist es ja nicht,im eigenen Land Urlaub zu machen.
Es ist doch richtig, wenn wir vorschlagen, dass eseine ressortübergreifende Arbeitsgruppe zur Erarbei-tung und zur Umsetzung von Strategien zur Reduzierungklimaschädlicher Emissionen geben soll. Es ist doch derrichtige Ansatz, zu schauen, was man auf diesem Gebietmachen kann. Es geht nicht darum, etwas komplett zuverbieten.Es geht aber auch nicht darum, zu sagen: Dummgelaufen; das passiert eben dabei. Wir wollen gern dasGeschäft machen.
Wir wissen, was für ein großes Potenzial in der Tou-rismusentwicklung steckt. Deshalb glauben wir, dassman richtigerweise schauen muss, in welche Richtungwir uns zusammen mit den Zielländern entwickeln wol-len. Die Entwicklungszusammenarbeit, die wir inDeutschland auf den Weg gebracht haben, beschäftigtsich erfreulicherweise sehr erfolgreich mit touristischenProjekten.Zu den Anträgen. Wir wollen jetzt nicht davon reden,welcher Antrag früher oder später eingebracht wurdeund wer von wem abgeschrieben hat. Wir hatten unserenAntrag, weil wir diesen Bereich so wichtig finden, An-fang des Jahres eingebracht. Dann haben Sie gesagt:Lasst uns warten, bis auch der Antrag der Koalition fer-tig ist, damit wir die Anträge zusammen besprechenkönnen. Das machen wir herzlich gerne. Wir werden inden Ausschüssen weiter darüber reden. Denn es ist jarichtig, dass man versucht, gemeinsam etwas zu machen.Lassen Sie uns darauf achten, dass der Antrag an dierichtige Adresse gerichtet wird, nämlich an die Bundes-regierung, damit wir etwas ausrichten können! Da liegtunser Arbeitsfeld. Lassen Sie uns nicht immer an andereappellieren, dass sie etwas tun sollen. Wir selber müssenetwas tun. Lassen Sie uns deshalb darüber reden und aufdiese Weise weiterkommen.Danke schön.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8967
(C)
(D)
Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Reinhold
Hemker für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Ernst Burgbacher, wir sind eigentlich schon mit-
ten in der Ausschussberatung. Aber wenn Sie genau hin-
geschaut hätten – wahrscheinlich haben Sie das getan;
aber das hätten Sie schon aufgrund Ihrer Funktion zum
Ausdruck bringen müssen –, dann hätten Sie sehen kön-
nen, dass wir unter den 14 im Antrag aufgeführten Punk-
ten Trends angeben und einige Qualitätsanforderungen
formulieren. Uns ist aber klar, dass die Situation noch
längst nicht so ist, wie sie teilweise auf der ITB von den
Veranstaltern gelobt worden ist. Denn es gibt noch
Schwächen.
Nehmen wir das Beispiel der Verbindung von Nut-
zung der Naturparks durch Menschen, die in der Nähe
wohnen – nicht nur in Entwicklungsländern –, mit der
Gestaltung solcher Räume. Das führt zu einem qualita-
tiven Naturschutz. Wenn man sich vor Augen führt,
dass das beispielsweise im Zusammenhang steht mit ei-
ner nachhaltigen Nutzung von Senken, dann ist natürlich
klar, dass Menschen dorthin fahren, die Naturerlebnisse
im Urlaub erfahren und auch einen Beitrag zur Entwick-
lung dieser Länder leisten wollen.
Dabei geht es nicht nur um Entwicklungsländer. Es
gibt eine ganze Reihe von Ländern, die mittlerweile die
Schwelle zu Industrieländern erreicht haben. Dazu ge-
hört zum Beispiel Brasilien. Auch Südafrika ist in man-
chen Bereichen eines der führenden Industrieländer
Afrikas. Es wird klar: Wir brauchen diese Verbindung,
und wir müssen uns – das hat die diesjährige ITB ein-
deutig gezeigt – den Herausforderungen bei der Weiter-
entwicklung in bestimmten Bereichen stellen.
Ich möchte auf ein Heft hinweisen, das mir zum ers-
ten Mal die große Bedeutung dieser Entwicklung aufge-
zeigt hat. Es hat den Titel „Lo’Nam“. Dieser Name
kommt aus einer Volkssprache Kameruns, Feefee, und
bedeutet „Sonnenaufgang“. Das Heft beschäftigt sich
mit dem Traum, in exotischen Ländern etwas zu erleben.
Gleichzeitig werden die Investitionen von Migranten aus
Afrika, die hier in Europa und in Deutschland leben, auf-
gezeigt. Diese Migranten helfen mit, dass der Tourismus
naturnäher wird, und unterstützen Infrastrukturmaßnah-
men. Zudem organisieren sie – es ist eben schon ange-
sprochen worden – Meet-the-People-Programme, also
Begegnungen von unterschiedlichen Kulturen und von
Menschen mit unterschiedlichen Religionen.
Diese Form des Tourismus birgt die Möglichkeit, zum
Abbau von Vorurteilen beizutragen. Ich habe noch im
Ohr, was eben in der Debatte zum Rassismus gesagt
worden ist. Menschen, die im Urlaub andere Menschen
kennengelernt und als gleichberechtigte Partner wahrge-
nommen haben, ändern ihre Einstellung und sagen bei
ihrer Rückkehr: Das sind wertvolle Menschen; es ist be-
wundernswert, was in diesen Ländern geleistet wird.
In dem Heft „Lo’Nam“, das ich eben erwähnt habe
und das von Afrikanern und ihren Freunden gemacht
wird, findet sich ein Zitat eines Reisenden aus früherer
Zeit, nämlich ein Zitat von Goethe, der schon damals
festgestellt hat: „Die beste Bildung findet ein gescheiter
Mensch auf Reisen.“ Das trifft für Reisen zu, die richtig
organisiert sind. Genau das wollen wir mit den Quali-
tätsanforderungen, über die wir sprechen, erreichen: Wir
möchten, dass die Bundesregierung in Gesprächen mit
den Veranstaltern deutlich macht, dass im Vorfeld ge-
nauere Informationen gegeben werden müssen.
Das bezieht sich zum Beispiel auf die Sympathiemaga-
zine, deren Erstellung immer wieder von der Bundesre-
gierung unterstützt worden ist. Dort kann man den Rei-
senden entsprechende Informationen anbieten; sie
bekommen ein positives Bild von den Menschen in den
Ländern, in die sie reisen.
Wir können nichts versprechen. Es geht auch nicht
darum, die Bundesregierung in diesem Antrag zu loben.
Wir wollen vielmehr deutlich machen, welche Zukunfts-
trends es gibt und welche Qualitätsanforderungen ge-
stellt werden sollten. An den Qualitätsanforderungen
wollen wir – zunächst einmal in den Fachberatungen –
weiterarbeiten.
Ich komme auf die ITB in diesem Jahr zurück. Ich er-
kenne einen beachtlichen Fortschritt gegenüber dem,
was dort im letzten Jahr gezeigt wurde. Man hat sehr ge-
nau geschaut, was die Menschen eigentlich wollen, die
in diese Urlaubsgebiete fahren, wo sie etwas Neues erle-
ben können. Man hat sehr stark darauf geachtet, welche
Zielgruppen es dort gibt. So gibt es eine große Zahl von
Menschen, die bereit ist, für die Erweiterung ihres Hori-
zontes in ökologischer, kultureller und religiöser Hin-
sicht Geld auszugeben. Darauf sollte man in den Fachbe-
ratungen im Ausschuss eingehen. Ich hoffe, dass wir
dann ein gutes, weiterführendes Gespräch mit den betei-
ligten Ressorts der Bundesregierung führen können.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Es ist verabredet, die Vorlagen auf Drucksa-chen 16/4603 und 16/4181 an die Ausschüsse zu über-weisen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. – Siesind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 sowie Zu-satzpunkt 4 auf:13 Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenEkin Deligöz, Grietje Bettin, Volker Beck ,
Metadaten/Kopzeile:
8968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardtweiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENRücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinder-rechtskonvention– Drucksache 16/4205 –ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten MiriamGruß, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDPRücknahme der Vorbehaltserklärung derBundesrepublik Deutschland zur Kinder-rechtskonvention der Vereinten Nationen– Drucksache 16/4735 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAuswärtiger AusschussAuch hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debat-tieren, wobei vorgesehen ist, dass die Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten Redezeit er-hält. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann istes so beschlossen.Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile der Kolle-gin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! 1992 hat die Bundesrepublik Deutschland dieUN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Ich denke, wiralle hier im Hause sind uns einig, dass dies ein sehr gro-ßer Erfolg für die Stärkung der Kinderrechte war.
Die Konvention hat in sehr vielen Bereichen den Hand-lungsdruck erhöht. Das haben wir an vielen Stellen ernstgenommen. In Art. 2 werden allen Kindern, die sich inder Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates befinden, diegleichen Rechte zugestanden.Nun erfolgte die Ratifizierung in Deutschland abernicht ohne Vorbehalte. Einige dieser Vorbehalte habenwir bereits abgearbeitet. Aber noch heute gibt es einenPunkt, der sehr sensibel ist und bei dem die Vorbehaltegelten. Es geht um die unbegleiteten minderjährigenFlüchtlingskinder in Deutschland. Das betrifft insbe-sondere die 16- und 17-jährigen Jugendlichen, die nachDeutschland flüchten. Dies sind Kinder und Jugendliche,die oftmals eine Odyssee an dramatischen Erlebnissenhinter sich haben, die unter Armut gelitten haben, die alsKindersoldaten eingesetzt wurden, die Kriege erlebt ha-ben, die sexuell ausgebeutet und versklavt wurden, dietraumatisiert sind und unsere Hilfe brauchen. Obwohlwir uns in Art. 3 der Konvention dazu verpflichtet ha-ben, das Wohl der Kinder vorrangig zu berücksichtigen,verweigern wir ihnen noch heute die Hilfe, die zur Ver-arbeitung dieser Erlebnisse notwendig wäre. Wir behan-deln 16- und 17-Jährige wie Erwachsene und gestehenihnen keinerlei Rechte zu, die wir Kindern und Jugendli-chen zubilligen sollten.
Nun diskutieren wir im Bundestag nicht das erste Malüber die Rücknahme dieser Vorbehaltserklärung. Dennder Bundestag hat bereits viermal die Rücknahme derVorbehalte beschlossen; viermal haben wir hier unserenWillen dazu bekundet. Bekanntlich wurde keiner dieserBeschlüsse umgesetzt.Natürlich stellt sich die Frage: Woran liegt es? Liegtes daran, dass die Bundesregierung das nicht will? Oderliegt es daran, dass die Koalition sich in diesem Punktnicht einig wird? Bis jetzt wurde von der Bundesregie-rung immer das Argument genannt, sie könne die Vorbe-halte nicht zurücknehmen, weil die Länder ein Mitspra-cherecht hätten. Wir haben bereits mehrfach in diesemHause deutlich gemacht, dass dies nur eine Rücksicht-nahme auf die Länder ist, die in der Form aber nicht not-wendig ist. An diesem Punkt muss man festhalten, dassdie Bundesregierung zwar rücksichtsvoll gegenüber denBundesländern ist, aber gleichzeitig rücksichtslos gegen-über den Flüchtlingskindern.
Wir diskutieren aktuell ganz viel über Familienpoli-tik. Wir diskutieren über die Vereinbarkeit von Berufund Familie und über Wahlmöglichkeiten. Wir diskutie-ren über die Finanzierung von Kinderbetreuung und überall das, was dazugehört. Gleichzeitig ist mir aber zu Oh-ren gekommen, dass sich die Große Koalition bereits inder Debatte über die Stärkung der Kinderrechte in derVerfassung nicht einig werden konnte.
– Wir sind uns einig; das ist ganz sicher. – Das heißt,dass es Ihnen bei all den Debatten überhaupt nicht umdie Kinder geht. Es geht Ihnen nicht um das Kindeswohl.Es geht Ihnen um ideologische Debatten. Die Kinderbleiben bei all den Debatten auf der Strecke.
Wenn Ihnen das Kindeswohl so wichtig wäre, wennes für Sie so ein wichtiges Thema wäre, dann müssen Siesich fragen lassen: Warum lassen wir noch immer zu,dass Kinder in Sammelunterkünften wie Asylbewer-berheimen untergebracht werden? Warum verweigernwir ihnen die notwendigen Jugendhilfemaßnahmen?Warum verweigern wir ihnen die gesundheitlicheGrundversorgung und Präventionsmöglichkeiten? Wa-rum geben wir ihnen nicht einfach die Chance, Fuß zufassen, eine Ausbildung zu machen oder die Schule zubesuchen?Ein Letztes – das entsetzt mich besonders –: Den An-trag auf Rücknahme der Vorbehalte haben wir in diesem
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8969
(C)
(D)
Ekin DeligözHaus vor genau einem Jahr eingebracht. Seit einem Jahrhören wir in jeder Ausschusssitzung, dass die Beratungdarüber um noch eine Woche, um noch einen Monat undnoch weiter verschoben werden soll. Sie drücken sichvor der Verantwortung, und Sie drücken sich vor derEntscheidung.
Stehen Sie zu Ihrer Entscheidung! Entweder Sie wollendie Rücknahme der Vorbehalte, dann stimmen Sie ein-fach zu, oder Sie wollen es nicht, dann haben Sie denMut, dazu zu stehen. Diesen Mut haben Sie aber nicht.Auch diese Debatte wird zeigen, dass Sie nicht den Muthaben, sich zu den Kindern in diesem Land zu bekennen.
Jetzt möchte ich der Kollegin Ute Granold für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort erteilen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin, ich muss doch einiges von dem, was Siegerade gesagt haben, zurechtrücken. Was die von Ihnenangesprochene unendliche Geschichte in diesem Hausbetrifft, muss ich Ihnen recht geben: Es gibt einen Antragvon Bündnis 90/Die Grünen aus dem letzten Jahr. Esgibt eine Kleine Anfrage der Grünen aus dem Jahr zuvor.Mittlerweile gibt es einen ganz neuen Antrag der FDP.Es gibt eine Große Anfrage der Grünen vom Januar diesesJahres, die noch nicht beantwortet ist. Heute debattierenwir wieder über dieses Thema. Ich denke trotzdem, es isteine Scheindebatte.Wenn Sie hier reklamieren, wir würden das Themaimmer wieder behandeln, aber zu keinem Ergebnis kom-men, muss ich Ihnen vorhalten, dass auch die rot-grüneRegierung keine Notwendigkeit gesehen hat, dieseVorbehaltserklärung zurückzunehmen, weil das einenreinen Symbolcharakter hätte.
Lassen Sie mich zunächst sagen: Die Bundesregierungund das Parlament – ich denke, darin sind wir uns in diesemHause einig – tun alles für das Kindeswohl. Das hat diejüngste Debatte über die Reform des Unterhaltsrechts– heute wurde eine Einigung erzielt – gezeigt. Wir habensehr viel getan, und wir werden Weiteres tun, wennHandlungsbedarf besteht. Ich denke, wir drehen uns hierim Kreis.
Wir haben – ich denke, auch das ist unstrittig – dieUN-Kinderrechtskonvention mittlerweile voll und ganzerfüllt. Ich möchte die Reform des Kindschaftsrechtsin Erinnerung rufen – das gemeinsame Sorgerecht wardas Herzstück dieser Reform –, die wir 1998 auf denWeg gebracht haben. Jetzt beraten wir koalitionsinterndie FGG-Reform. Im Scheidungsverfahren haben wirElemente vorgesehen, die das Kindeswohl wesentlichstärken. Ich denke, der Staatssekretär kann nachher daseine oder andere dazu sagen.Wir haben einen Nationalen Aktionsplan, den wirbis zum Jahr 2010 – das haben wir bekräftigt – fortführenwollen. Dazu stehen wir. Dieser Aktionsplan sieht vor – dasist die Perspektive –, dass wir uns auch um die Rücknahmedieser Vorbehaltserklärung kümmern werden. Auch dashaben wir in unserer Koalitionsvereinbarung aufgeführt.Ich möchte einmal klar und deutlich sagen, worum esüberhaupt geht: Die UN-Kinderrechtskonvention ausdem Jahr 1989 ist in Deutschland 1992 in Kraft getreten.Diese Konvention begründet keinerlei materielles Recht,keinen einklagbaren Anspruch auf ein Aufenthalts- oderBleiberecht in Deutschland oder ein Recht auf Einreisenach Deutschland. Das ist ein völkerrechtlicher Vertrag.Die Vorbehaltserklärung bedeutet keinen Vorbehalt imvölkerrechtlichen Sinn, dass wir also Vorbehalte gegenden Inhalt der Konvention hätten, sondern sie stellt nureine Interpretationsklausel dar. Frau Kollegin, das warvöllig zu Recht die Argumentation der Grünen, als sienoch in der Regierungsverantwortung standen.
Über diese Interpretationsklausel sollte, so meine ich,noch einmal diskutiert werden, weil Vorbehalte bestehen.Das ist lediglich eine Klarstellung. Die Frage, ob wirdiese Vorbehaltsklausel zurücknehmen oder nicht, hatbloß Symbolcharakter. Es besteht grundsätzlich keineNotwendigkeit dazu.
Lassen Sie mich bitte etwas Inhaltliches zu den Minder-jährigen sagen, die nach Deutschland einreisen. Sie stellenuns als Barbaren und Unmenschen dar.
Das ist nicht der Fall. Tatsache ist, dass die deutsche Ge-setzgebung mit dem internationalen Recht konform ist.
Sie wissen sehr wohl, warum eine Rücknahme der Vor-behalte bislang noch nicht möglich war. Sie wissen sehrwohl, dass wir zwar formal zuständig sind, wenn es darumgeht, völkerrechtliche Verträge abzuschließen, dass die
Metadaten/Kopzeile:
8970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Ute GranoldLänder aber einzubeziehen sind, falls diese betroffensind; ich verweise auf Art. 32 unseres Grundgesetzes.Sie wissen auch, dass Bund und Länder 1957 das soge-nannte Lindauer Abkommen geschlossen haben, in demgenau vereinbart ist, wie in solchen Fällen verfahrenwird.Solange die Zuständigkeit der Länder betroffen ist
– lassen Sie mich doch bitte ausreden; ich habe Sie dochauch ausreden lassen –, was hier der Fall ist – ich erwähneals Beispiel den Strafvollzug –, müssen wir das gemeinsammit den Ländern machen. Die FDP hat in ihrem Antrag,der jetzt eingegangen ist, völlig zu Recht geschrieben,der Bundestag solle die Bundesregierung auffordern,diese Vorbehaltserklärung „zurückzunehmen und auf dieLänder hinzuwirken, die Voraussetzungen hierfür zuschaffen“.Ich denke, dass wir die inhaltliche Diskussion, dieDiskussion über die Notwendigkeit der Interpretations-klausel, dort führen müssen, wo sie hingehört, nämlichin den Ausschüssen.
Wir Rechtspolitiker sind heute erstmals damit befasst;bislang waren es die Familienpolitiker. Aber auch wirRechtspolitiker setzen uns für die Rechte der Kinder einund werden darüber, wie es sich gehört, diskutieren.
– Frau Kollegin, allein dadurch, dass Sie schreien, wirdIhre Argumentation nicht besser.
Es ist eine Tatsache, dass das hier eine reine Symbol-diskussion ist und dass Sie uns mit dieser öffentlichenDebatte – die eine rein formale Debatte ist – in die Eckestellen wollen, indem Sie den Eindruck erwecken,Deutschland tue nichts für die ausländischen Kinder. Dabeigibt es in keinem Staat der Welt ein aus der Kinder-rechtskonvention abgeleitetes Aufenthaltsrecht oderBleiberecht. Wir gehen hier konform mit Ländern in derganzen Welt und lassen uns auch von Ihnen in dieser De-batte nicht den Vorwurf anhängen, dass es anders wäre.
Lassen Sie uns dort darüber reden, wo das Thema hin-gehört, nachdem Ihre Große Anfrage beantwortet ist;dann können wir die Punkte in Ruhe abarbeiten. Ichdenke, wir sollten in diesem Hause nicht darüber streiten,ob wir Kinderrechte umsetzen oder nicht. Wir kämpfenschließlich alle zusammen dafür, und so soll es auchsein.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Haßelmann zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin. Sie haben gerade gefordert,
dass diese wichtige Debatte nicht hier im Plenum, sondern
in den Fachausschüssen geführt wird. Deshalb möchte ich
Sie fragen, ob Sie eigentlich wissen, dass diese Debatte seit
ungefähr einem Jahr in den Fachausschüssen eingefordert
wird und dass wir im Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, in den diese Debatte neben dem
Rechtsausschuss sicherlich gehört, seit einem Jahr mit
Anträgen konfrontiert werden, diesen Tagesordnungs-
punkt zu vertagen. Wenn wir dem nicht stattgäben, würde
abgestimmt. Deshalb ist Ihr Hinweis reine Verzögerungs-
taktik.
Wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich zu diesen Fragen
äußern und nicht hier im Plenum auf die Fachberatungen
verweisen. Wir haben die Debatte in den Fachausschüssen
führen wollen; doch das ist von der Großen Koalition
verhindert worden.
Wussten Sie das eigentlich? Oder warum verweisen Sie
in dieser Debatte auf die Fachausschüsse?
Frau Kollegin, ich gehöre ja dem Rechtsausschuss an.Die Diskussion im Familienausschuss kenne ich nur ausden Protokollen. Aber ich kann Ihnen sagen: Was Siejetzt reklamieren, war unter Rot-Grün auf Jahre ebensoim Stau, wie das jetzt vielleicht im Stau ist.
Wenn Sie die Protokolle lesen, können Sie das nachvoll-ziehen.
Aber lassen Sie mich jetzt einfach sagen, ohne dassich mich auf Formalien zurückziehen möchte: Es gibtdieses Abkommen zwischen dem Bund und den Ländern.Es gibt kein einheitliches Votum der Länder dahin gehend,die Vorbehaltserklärung zurückzunehmen. Ich denke,wir sollten diese Vereinbarung, die wir als Bund mit denLändern getroffen haben, einhalten bzw. klären, wie wirweiter verfahren können. Bis zum heutigen Tage ist diesesEinvernehmen mit den Ländern nicht da. Schon von daherkommen wir nicht weiter. Aber da diese Vorbehalts-erklärung rein symbolischen Charakter hat, ist es keinProblem, dass sie nach wie vor besteht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8971
(C)
(D)
Ute Granold
Ich verweise nochmals auf den Antrag der FDP:Wenn man der Auffassung ist, man solle sie zurücknehmen– wie gesagt, sie hat Symbolcharakter –, dann sollte dasin den Ausschüssen diskutiert werden, und zwar mit denen,die zuständig sind. Es wurden schon mehrere Gesprächemit den Ländern geführt. Aber wir haben nun einmal einenföderalen Staat, wir haben verschiedene Zuständigkeiten,wir haben 16 Länder, die man unter einen Hut bringenmuss. Ich kann nur das sagen, was derzeit Fakt ist. So istdie Situation, die sich aus formalen und aus inhaltlichenGründen ergibt. Was die Kollegin hier vorgetragen hat,ist materiell und formell einfach nicht richtig.
Frau Kollegin, möchten Sie jetzt noch eine Zwischen-
frage der Kollegin Deligöz zulassen?
Nein. Sie hatten die Möglichkeit für eine Zwischenfrage;
ich denke, das reicht. Sie haben so viel dazwischengeredet,
dass es nicht unkollegial ist, keine weitere Zwischen-
frage zuzulassen.
Ich bin damit auch am Ende. Mehr brauchen wir nicht
zu sagen, weil wir uns mittlerweile im Kreis drehen.
Vielen Dank.
Jetzt hat Miriam Gruß das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich bin noch nicht so lange hier im Bundestag.Aber das, was wir hier in Sachen UN-Kinderrechtskon-vention erleben, ist – das muss ich leider sagen – Politikzum Abgewöhnen. Es tut mir leid, dass die Zuschauerauf den Rängen das miterleben müssen.Wir debattieren hier im Plenum zum wiederholtenMale über die Rücknahme der Vorbehalte. Das Themawird bei uns im Familienausschuss in der Tat mit Vorliebevon der Tagesordnung abgesetzt, im Plenum auch gerneauf die Abendstunden verlegt. Heute gab es wieder dieDiskussion, ob wir die Reden nicht einfach zu Protokollgeben sollten. Alles wird hin- und hergeschoben, und dieBeschlüsse dieses Hohen Hauses werden schlichtwegignoriert. Dadurch bestätigen wir meines Erachtens dievorherrschenden Klischees von der Politik. Die Rück-nahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonventionist ein anderes Thema als die Verkehrsfähigkeit vonKräutern, Tees und Gewürzen; auch dieses Thema standschon einmal auf unserer Tagesordnung. Es geht um dieRechte von Kindern in Deutschland.Aber Sie können mir nicht erklären, warum Sie sichso verhalten. Das können Sie keinem Bürger erklären,erst recht nicht den betroffenen Kindern. Egal, wen manfragt – ob die betroffenen Fachpolitiker, die Verantwort-lichen in den Ländern oder die Ministerin selbst –, allesind sich scheinbar darin einig, dass die Vorbehaltezurückgenommen werden müssen. Dazu haben wir imÜbrigen auch innerhalb der Kinderkommission eineneinstimmigen Beschluss gefasst. Deswegen darf FrauNoll heute wahrscheinlich nicht reden. Ich frage mich:Wo liegt das Problem?
So machen wir uns auf dem internationalen Parkettnur lächerlich. Irritationen und Zweifel am WillenDeutschlands, die UN-Kinderrechtskonvention uneinge-schränkt umzusetzen, sind derzeit mehr als berechtigt.Was für ein Licht wirft das auf Deutschland? Zusätzlichliefern wir mit dieser Haltung anderen Staaten nochmehr Munition, selbst Vorbehalte anzumelden. Ist diesdas Bild, das wir nach außen abgeben wollen? Ichmeine, nein.Inhaltlich – das ist mehrfach gesagt worden – disku-tieren wir über Menschenrechte, und zwar im Hinblickauf die Situation unbegleiteter minderjähriger Flücht-linge. Diese Instrumentalisierung hat zur Folge, dassFlüchtlingskinder ab 16 Jahren im Asylverfahren wieErwachsene behandelt werden – Frau Deligöz hat dasschon angesprochen – und keinen juristischen Beistandbekommen. Ihre Asylanträge werden häufig abgelehnt,weil das Schicksal keine politische Verfolgung im Sinnedes deutschen Asylrechts darstellt.
Sie sind beim Schulbesuch, bei der medizinischen Versor-gung und bei der Berufsausbildung schlechter gestellt alsdeutsche Kinder und können in Abschiebehaft geraten.Meine Damen und Herren, Kinderrechte sind Men-schenrechte. Aber mittlerweile habe ich Zweifel, wieernst es diesem Land mit diesem Thema wirklich ist.Immer, wenn es um die Rechte der Kinder geht und ih-nen mehr Ansprüche eingeräumt werden sollen, stoßenwir auf Widerstände.Zum Inhalt möchte ich noch eine kurze Bemerkungmachen. Da ich heute bereits zu zwei anderen Tagesord-nungspunkten gesprochen habe, weiß ich, dass wir auchüber das Thema Kinderschutz diskutiert haben. Indiesem Zusammenhang haben Sie die Bundesregierungaufgefordert, Art. 24 der UN-Kinderrechtskonventionumzusetzen. Wie schön, dass Sie einerseits die Forderungerheben, einen einzelnen Artikel der UN-Kinderrechts-konvention umzusetzen, obwohl Sie es andererseits nochnicht einmal schaffen, die Vorbehalte gegen die Konventionzurückzunehmen!
Metadaten/Kopzeile:
8972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Miriam GrußAbschließend möchte ich auf unseren Antrag eingehen– das tue ich, damit Sie mich in Zukunft richtig zitieren –:Wir fordern die Bundesregierung zunächst einmal auf,unverzüglich die Vorbehalte gegen die UN-Kinder-rechtskonvention zurückzunehmen – das ist der ersteTeil des Satzes, der für sich steht – und in einem zweitenSchritt auf die Länder hinzuwirken, die Voraussetzungenhierfür zu schaffen.In Zeiten, in denen die Themen Kinder, Familie undFamilienfreundlichkeit eine solche Renaissance erfahren,wie wir es gerade erleben, darf sich Deutschland nichtdermaßen blamieren. Die Rücknahme der Vorbehalts-erklärung stellt ein dringend notwendiges und überfälligesSignal für ein kinderfreundliches Deutschland dar. An-gesichts der Absurdität der bisherigen Debatte erübrigtsich eigentlich schon fast meine Bitte an Sie, unseremAntrag zuzustimmen. Denn das Votum dieses Hausesscheint hier leider nicht zu zählen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
A
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! LiebeKollegen! Die Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention beschäftigt seit Jahren nicht nuralle Fraktionen des Deutschen Bundestages und dieKinderkommission. Auch die Bundesregierung hat sichwiederholt mit den Möglichkeiten zur Rücknahme dieserErklärung auseinandergesetzt.
Ich sage Ihnen allen eines – hören Sie gut zu –: Allein diesem Hause vertretenen Fraktionen waren daranbeteiligt. Selbst die Linken waren in mindestens zweiLänderparlamenten vertreten – Frau Jelpke, hören Siemir bitte zu – und hätten entsprechende Anträge einbringenkönnen. Dadurch hätte die Regierung unter Druck gesetztwerden können.
– Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den erstenStein! Ich habe einmal Theologie studiert.
– Jetzt seid doch einmal still.Wir wissen heute, dass die Erklärung nicht notwendiggewesen wäre. Die Kinderrechtskonvention würde ohnedie Erklärung genauso ausgelegt werden, wie wir sieheute mit der Erklärung auslegen. Es handelt sich imWesentlichen um Erläuterungen, die man damals, 1992,meinte, zu brauchen, um Fehl- oder Überinterpretationenzu vermeiden. Dies spricht auf den ersten Blick natürlichfür eine Rücknahme der Erklärung. Sie wissen aberauch, dass die Erklärung zur UN-Kinderrechtskonven-tion vom 20. November 1989 auf Wunsch der Länderaufgenommen worden ist. Die Länder waren nur unterdieser Bedingung mit der Ratifizierung der Konventioneinverstanden.Nun ist eine Rücknahme der Erklärung durch dieBundesregierung allein, das heißt ohne Einbeziehungder Länder, natürlich rein rechtlich möglich. Ein derarti-ges Vorgehen kommt für uns aber nicht in Betracht. Soll-ten sich die Länder also gegen eine Rücknahme der Er-klärung aussprechen – es sieht genau so aus –, dann wirddiese Bundesregierung Rücksicht darauf nehmen. FrauGruß, Sie haben hier Krokodilstränen geweint. Ihre Par-tei ist in mindestens drei Länderregierungen. Stellen Siedoch einmal einen Antrag im Bundesrat, dass hier dieRücknahme der Erklärung beschlossen wird, und fangenSie nicht an, hier Tränen zu weinen.
– Ich bin sonst nicht so aggressiv, aber das hat michheute Abend gereizt.
Wir sollten uns hier doch alle eines klarmachen: DieRücknahme der Erklärung wäre natürlich ein politischesSignal mit symbolischer Bedeutung, mehr allerdingsnicht. Es existiert ja verbreitet die irrige Vorstellung,Deutschland habe sich mit seiner Erklärung den Ver-pflichtungen aus der Kinderrechtskonvention entziehenwollen. Es wird auch behauptet, dass durch die Erklä-rung ein angemessener und völkerrechtlich verbürgterSchutz für die Flüchtlingskinder verhindert wird. Alldies ist falsch.
Das deutsche Recht steht mit oder ohne Erklärung imEinklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen, diesich aus der Kinderrechtskonvention ergeben. Keines-falls wird durch die Erklärung aber verhindert, dass dierechtliche und tatsächliche Situation von Flüchtlingskin-dern verbessert wird. Ein Beispiel dafür sind die von Ih-nen eben kritisierten Asylbewerberunterkünfte, wo manvieles getan hat, um die Situation der Flüchtlingskindererheblich zu verbessern. Mit der Erklärung wird derHandlungsspielraum der Politik und der Rechtsetzungalso nicht eingeengt. Es hängt letztlich vom politischenWillen aller ab – auch in den Ländern –, nicht aber vonder Rücknahme der Erklärung, ob man vernünftige undaltersangemessene Bedingungen für Flüchtlingskinderschafft.Nun noch ganz kurz zur Großen Anfrage: Es ist natür-lich richtig, dass Sie solche Anfragen stellen. Wir bemü-hen uns auch sehr, vernünftige Antworten zu geben. Esdauert aber seine Zeit. Sie wird in naher Zukunft beant-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8973
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbachwortet werden. Ich glaube, dass das noch vor der Som-merpause der Fall sein wird.Sie werden dann sehen, dass diese Bundesregierungalles getan hat und dass kein Flüchtlingskind darunterleiden muss, dass dieser Vorbehalt bisher nicht zurück-genommen worden ist.Kommen Sie also bitte auf den Boden der Tatsachenzurück und lassen Sie uns gemeinsam das tun, was getanwerden kann.Ich danke Ihnen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vor-
behaltserklärung der Bundesrepublik zur UN-Kinder-
rechtskonvention ist symptomatisch für den Umgang
mit Schutzbedürftigen in diesem Land.
Schon der Wortlaut verrät einiges über das Denken
seiner Autoren. In der Konvention heißt es nämlich: Alle
Kinder haben die gleichen Rechte. – Demgegenüber
steht im Vorbehalt der Bundesregierung – ich zitiere –:
Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern müs-
sen gemacht werden. Mit anderen Worten: Kinderrechte
sollen nur die Rechte deutscher Kinder sein. Das wider-
spricht aber dem Grundgedanken der Konvention, dem
besonderen Schutzbedürfnis von Kindern universell
Gültigkeit zu verschaffen. Diese Diskriminierung trifft
in besonderer Weise Kinder, die besonders schutzbedürf-
tig sind – meine Kollegin von den Grünen hat es schon
angesprochen –, zum Beispiel die unbegleiteten min-
derjährigen Flüchtlinge. Im Alter von 16 und
17 Jahren gelten sie nach dem Asylverfahrensgesetz
schlichtweg als Erwachsene. Um ihr Alter bestimmen zu
können, werden sie nicht einfach gefragt; vielmehr wer-
den sie entwürdigenden Behandlungen und fragwürdi-
gen medizinischen Untersuchungen unterzogen. Davon
sind selbstverständlich auch Kinder betroffen, die noch
nicht einmal 16 Jahre alt sind.
Eine weitere Konsequenz der unvollständigen Umset-
zung der Konvention ist, dass auch Minderjährige in
Abschiebehaft genommen werden. Das wurde eben be-
reits angesprochen. Herr Staatssekretär, allein im Jahr
2004 saßen in zwölf Bundesländern 240 Minderjährige
zwischen 16 und 17 Jahren in Abschiebehaft. Auch für
unbegleitete 16- und 17-jährige Flüchtlinge gilt das soge-
nannte Flughafenverfahren, das an sich schon eine sehr
fragwürdige und zweifelhafte Einrichtung ist.
Schließlich sind alle diese Jugendlichen von den Leis-
tungen der Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII aus-
geschlossen. Alle bisherigen Bundesregierungen – darin
muss man den Kollegen recht geben, die das kritisiert
haben – einschließlich der SPD-Grüne-Bundesregierung
haben diesen Vorbehalt trotz vieler Anträge nicht zu-
rückgenommen.
Es wird im Übrigen auch ignoriert, dass das UN-Komi-
tee für die Rechte der Kinder noch im Jahr 2004 zahlrei-
che Kritikpunkte am deutschen Asyl- und Flüchtlings-
recht äußerte.
– Ich kann es Ihnen gerne geben, wenn Sie es nicht glau-
ben.
Diese Beispiele zeigen: Der Vorbehalt ist die eine
Seite des Skandals; die entsprechenden Bestimmungen
im deutschen Asyl- und Flüchtlingsrecht sind die andere
Seite. Ich nehme Sie gerne beim Wort, Herr Staatssekre-
tär, wenn Sie sagen, dass die geltenden Gesetze im Ein-
klang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen.
Wir werden auf jeden Fall darauf zurückkommen. Denn
tatsächlich müssten Sie sämtliche Gesetze im Aufent-
halts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht ändern, wenn der Vor-
behalt zurückgenommen wird.
Wir fordern die tatsächliche Gleichberechtigung aller
Kinder und den umfassenden Schutz minderjähriger
Flüchtlinge. Deswegen muss der Vorbehalt zurückge-
nommen und müssen vor allen Dingen die Gesetze den
internationalen Verpflichtungen angepasst werden.
Danke.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Christoph Strässer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich denke, ich habe die Erlaubnis, an dieser Stelle Klar-text zu reden.
Dieser Klartext lautet, dass die SPD-Bundestagsfraktionwie schon in der 14. und 15. Legislaturperiode klar unddeutlich die Rücknahme des letzten noch bestehendenVorbehaltes zur VN-Kinderrechtskonvention verlangtund darauf hinarbeiten wird, dass es in den nächsten Mo-naten und Jahren dazu kommt. Das ist die klare Positionunserer Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
8974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Christoph SträsserIn Bezug auf das, was wir heute diskutiert haben,möchte ich einige Fragen stellen. Ich bin nur Jurist. Viel-leicht habe ich das eine oder andere nicht richtig verstan-den.Es gibt Feststellungen, dass die Erklärung nur derKlarstellung dient, dass sie die Konvention inhaltlichnicht berührt und keine eigene Regelungswirkung entfal-tet. Wenn das so ist, dann frage ich Sie, wer in diesemLand irgendeinen Schaden erleidet, wenn wir die Erklä-rung endlich zurücknehmen. Das ist doch die Realität,und so müsste man, glaube ich, die politische Diskussionführen.
Ich weiß auch – das ist ebenfalls ziemlich klar –, dassdabei die Länder involviert sind. Darüber müssen wiruns nicht den Kopf zerbrechen; das ist so. Ich will nichtauf juristische Feinheiten eingehen. Ich bin aber nachwie vor der Meinung, dass dann, wenn der politischeWille gegeben ist – wir sollten darauf hinwirken –, dieRücknahme der Erklärung allein durch die Bundesregie-rung theoretisch möglich wäre.
Denn bei der Ratifizierung der Kinderrechtskonventionmussten die Länder mit im Boot sein – das ist völligrichtig –, weil Bereiche wie die Bildung davon berührtwaren. Aber alle Vorbehalte sind beseitigt, bis auf einen:das Ausländer- und Asylrecht. Das liegt trotz Föderalis-musreform weiterhin in der ausschließlichen Gesetzge-bungskompetenz des Bundes. Daher könnte man, wennman wollte, diesen Vorbehalt gegen die UN-Kinder-rechtskonvention unter gegebenen Umständen zurück-nehmen.
Darum geht es mir aber gar nicht. Ich will hier keinFass aufmachen, das nicht aufgemacht werden sollte. Sosind wir über Jahrzehnte mit dem Lindauer Abkommengut gefahren. Deshalb sollten wir diese Fragen politischklären. Nach meiner Meinung ist es eine politische Ent-scheidung. Wenn die Große Koalition – genauso wieRot-Grün – die Kinder- und Familienpolitik in den Mit-telpunkt stellt – ich stehe dahinter; es stimmt auch –,wenn wir darüber diskutieren, Kinderrechte in dasGrundgesetz aufzunehmen – was gut und richtig ist –,und wenn wir an vielen Stellen die Kinderrechte stärkenwollen, dann passt es nicht dazu und schadet der Glaub-würdigkeit aller, die das betreiben, wenn wir uns an ei-ner Stelle, an der es nichts kostet, querstellen und denVorbehalt weiter existieren lassen. Das geht meines Er-achtens nicht.
Als Menschenrechtspolitiker kommt man viel in derWelt herum. Wir fordern von vielen Regierungen in Län-dern, die völlig andere Strukturen haben, zu Recht, sichan die VN-Konvention zu halten, sie zu unterzeichnen,zu ratifizieren und zu implementieren. Wenn ich inChina bin und von der chinesischen Regierung zu Rechtfordere, endlich den WSK-Pakt oder den InternationalenPakt über bürgerliche und politische Rechte zu unter-zeichnen und zu ratifizieren, dann fragen mich die chine-sischen Vertreter kalt lächelnd, was wir mit der UN-Kin-derrechtskonvention machen. Die Tatsache, dassDeutschland neben Österreich das einzige Land ist, dasdiesen Vorbehalt noch hat, schadet seinem internationa-len Ansehen und gibt ihm kein gutes Renommee. Dahersollten wir alles daransetzen, um diesen Vorbehalt end-lich zu beseitigen.
Ich weiß, dass zu den Bundesländern, die sich gegeneine Beseitigung des Vorbehalts stellen, sozialdemokra-tisch geführte Bundesländer und Bundesländer mit frei-demokratischen Innenministern gehören. Wir schreibensie an und fordern sie dort auf, wo es uns möglich ist, zu-zustimmen, damit dieser familienpolitische und interna-tionale Skandal, den wir in Deutschland zu beklagen ha-ben, endlich beseitigt wird. Der Vorbehalt muss weg.Dafür sollten wir gemeinsam in diesem Hause streiten.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4735 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Zollfahndungsdienstgesetzes und an-
derer Gesetze
– Drucksache 16/4663 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Karl Diller.
K
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Zoll-fahndungsdienstgesetzes wurde die Befugnis des Zoll-kriminalamtes zur präventiven Telekommunikations-und Postüberwachung im Außenwirtschaftsbereich bis
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8975
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Karl Dillerzum 30. Juni dieses Jahres befristet. Bis zum Auslaufendieser Frist gilt es also, die Vorgaben des Bundesverfas-sungsgerichts zum Schutz des Kernbereichs privaterLebensgestaltung umzusetzen. Die Bundesregierunghat ein Gesamtkonzept erarbeitet, um die Vorgaben desBundesverfassungsgerichts zum Schutz des Kernbe-reichs privater Lebensgestaltung bei allen Maßnahmen,die Eingriffe in das durch Art. 10 des Grundgesetzes ge-schützte Fernmeldegeheimnis in Form einer Telekom-munikationsüberwachung vorsehen, umzusetzen.Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desZollfahndungsdienstgesetzes und anderer Gesetze wirddieses Gesamtkonzept nun in einem ersten Schritt fürden Bereich der präventiven Telekommunikations- undPostüberwachung im Außenwirtschaftsbereich umge-setzt. Ich weise ausdrücklich auf die Bedeutung diesesGesetzes hin. Ohne eine fristgerechte Anschlussregelungentfiele die Befugnis des Zollkriminalamtes zur präven-tiven Telekommunikations- und Postüberwachung imAußenwirtschaftsbereich. Zu diesem Zeitpunkt mögli-cherweise laufende Überwachungsmaßnahmen müsstendann abgebrochen werden.Der hier in Rede stehende Bereich ist außenpolitischbesonders bedeutsam. Die präventive Telekommunika-tions- und Postüberwachung dient dazu, die unzulässigeAusfuhr hochsensibler Güter zu verhindern. Die Bun-desregierung verfolgt eine sehr restriktive Exportkon-trollpolitik unter anderem mit dem Ziel, der Weiterver-breitung von Massenvernichtungswaffen wirksam zubegegnen. Hierzu haben wir uns in vielen internationa-len Vereinbarungen verpflichtet. Beispielhaft erwähneich die jüngste Resolution des Weltsicherheitsrats zumIran. Die präventive Telekommunikations- und Post-überwachung im Außenwirtschaftsbereich dient dazu,den durch unzulässige Ausfuhren sensibler Güter entste-henden außenpolitischen Schaden für die Bundesrepu-blik Deutschland bereits im Vorfeld abzuwenden. Mitdem Regierungsentwurf werden weitere Regelungen desZollfahndungsdienstgesetzes an die sich aus dem Urteildes Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohn-raumüberwachung ergebenden Anforderungen ange-passt. Beispielhaft sind die Befugnisse zur Durchfüh-rung von Eigensicherungsmaßnahmen für verdeckteErmittler innerhalb von Wohnungen zu erwähnen.Die im Gesetzentwurf enthaltenen Maßnahmen sehenim Wesentlichen Folgendes vor: Der Schutz des Kernbe-reichs privater Lebensgestaltung greift bereits auf derAnordnungsebene. Es ist unzulässig, Telekommunika-tionsüberwachung anzuordnen, wenn erkennbar ist, dassallein Gespräche, die den Kernbereich privater Lebens-gestaltung betreffen, Gegenstand der Maßnahme seinwerden. Dennoch erlangte Erkenntnisse dürfen nichtverwertet und müssen unverzüglich gelöscht werden.Die vorgeschlagene Regelung gewährt in verfassungs-konformer Weise den Schutz des Kernbereichs privaterLebensgestaltung und trägt zugleich den Besonderheiteneiner Telekommunikationsüberwachung Rechnung.Der Schutz von Berufsgeheimnisträgern wird ge-stärkt. Zielgerichtete Telekommunikationsüberwachungs-maßnahmen gegen Seelsorger, gegen Verteidiger und auchgegen Abgeordnete sind grundsätzlich unzulässig.
Ausgenommen hiervon sind lediglich die Fälle, in denendie genannten Personen selbst an der Vorbereitung einerin § 23 a Abs. 1 oder 3 des Zollfahndungsdienstgesetzesgenannten Straftat – dies sind Verstöße gegen das Gesetzüber die Kontrolle von Kriegswaffen – beteiligt sind.Dem Datenschutz dient die Einführung einer Kennzeich-nungspflicht für Daten, die aus verdeckten Maßnahmenerlangt werden.
Dies gewährleistet, dass die Daten ordnungsgemäß undzweckgebunden genutzt werden.Der Gesetzentwurf beinhaltet neben den Änderungendes Zollfahndungsdienstgesetzes auch Änderungen desZollverwaltungsgesetzes, des Außenwirtschaftsgesetzesund des Bundesbesoldungsgesetzes. So werden zumBeispiel die Befugnisse der Zollverwaltung zur Überwa-chung des grenzüberschreitenden Bargeldverkehrs zumZwecke der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terro-rismusfinanzierung an die einschlägige EU-Verordnungangepasst.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf Sieherzlich bitten, im Ausschuss zielgerichtet zu beraten,damit wir rechtzeitig vor diesem genannten Termin die-ses Gesetz in Kraft setzen können.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen undKollegen! Die bisherige Bilanz zu diesem Gesetzge-bungsvorhaben ist leider eine eher traurige; denn Aus-gangspunkt war eine Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts aus dem Jahr 2004, das genaue Vorgabengemacht hat, wie die präventive Telekommunikations-und Postüberwachung durch das Zollkriminalamtüberhaupt geregelt werden könnte. In der damals vorlie-genden Form war sie verfassungswidrig. Dann ist dasZollfahndungsdienstgesetz, das angeblich eine solcheNeuregelung enthielt, verabschiedet worden, das – dashaben wir oft hier im Bundestag debattiert – gerade nichtdie Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsurteils, undzwar unter Berücksichtigung des Art. 10 des Grundge-setzes, ausreichend enthalten hat. Seine Geltungsdauerwar deshalb auch nur befristet. Diese Geltungsdauer ist
Metadaten/Kopzeile:
8976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Sabine Leutheusser-Schnarrenbergeraber zu Beginn dieser Legislaturperiode – dies war Ge-genstand der letzten Debatte, die wir hierzu geführthaben – bis Juni dieses Jahres verlängert worden. Eswaren schon wieder eineinviertel Jahre vergangen, bisein Gesetzentwurf vorgelegt worden ist. Der Zeitrah-men, in dem der Entwurf behandelt werden soll, istziemlich begrenzt. Bis Mitte Juni dieses Jahres soll einverfassungskonformer Zustand hergestellt sein.Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtssteht in einem Zusammenhang: zum einen mit der amselben Tag im Jahre 2004 verkündeten Entscheidungzum Großen Lauschangriff, zum anderen – gerade wasdie präventive Telekommunikationsüberwachung angeht –mit der Entscheidung zum niedersächsischen Polizeige-setz im Jahre 2005. Auch im Lichte dieser Entscheidun-gen gilt dennoch bis Mitte dieses Jahres diese Regelung,die aus unserer Sicht nicht verfassungskonform ist, waswir immer wieder angemahnt haben.Wenn man den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf liest,hat man den Eindruck, dass er vielleicht eine Verbesse-rung ist. Man macht deutlich: Man will Bedenken, diegeäußert worden sind, aufgreifen. Wir als FDP sind derMeinung, dass sehr gründlich geprüft werden muss, obdie Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts – ihr Zielist, den Kernbereich privater Lebensgestaltung mit denVorgaben für die Telekommunikationsüberwachung,also nicht nur für das Abhören in Wohnungen, in Ein-klang zu bringen – in angemessener, richtiger und geeig-neter Weise umgesetzt werden. Ich möchte beispielhaftzwei Punkte dieses Gesetzentwurfs herausgreifen, dienach unserer Auffassung in dieser Form nicht beibehal-ten werden können – ich kann hier nicht abschließendauf sämtliche infrage kommende Punkte eingehen –:Erstens. Die Eigensicherung durch den Einsatztechnischer Mittel außerhalb von Wohnungen soll auchzur Aufdeckung unbekannter Straftaten möglich sein;ich beziehe mich auf den neuen § 22 dieses Gesetzent-wurfs. Man lehnt sich damit an eine entsprechende Re-gelung in der Abgabenordnung zur Erforschung unbe-kannter steuerlicher Sachverhalte an. Ich will nurandeuten, dass schon das Ziehen dieser Parallele etwasabwegig ist. In der Begründung heißt es ausdrücklich,dass man Initiativermittlungen ohne Anfangsverdachtwolle. Allerdings besagt sogar die Abgabenordnung,dass zumindest abstrakte Anhaltspunkte dafür vorliegenmüssen, dass es sich überhaupt um ein entsprechendesVerhalten, um einen entsprechenden Tatbestand handelt.Wenn man eine Parallele zur Abgabenordnung zieht,dann sollte man erkennen, dass allein schon diese Vorga-ben in diesem Gesetzentwurf nicht eingehalten wordensind.Herr Staatssekretär, Sie haben hier die Regelung zumSchutz von Berufsgeheimnisträgern ausgeführt. Ge-rade der unterschiedliche Schutz von Berufsgeheimnis-trägern – sie werden hier in zwei Gruppen aufgeteilt – istin dieser Form nicht gerechtfertigt. In meinen Augenentspricht diese Regelung mit dieser Begründung unddieser Aufteilung nicht den Vorgaben des Bundesverfas-sungsgerichts. Ich denke dabei insbesondere an das Ur-teil zur akustischen Wohnraumüberwachung.Gerade in der Begründung dieser Bestimmungen indiesem Paragrafen wird auf die Entscheidung zum nie-dersächsischen Polizeigesetz Bezug genommen: Es lassesich nach der Erfahrung bei der Telekommunikations-überwachung nicht ausschließen, dass kernbereichsrele-vante Inhalte, also auch solche Gespräche, die derStaat – auch nach Abwägung – nicht abhören darf, er-fasst werden. Es wird aber nicht ausgeführt, dass dasBundesverfassungsgericht festgestellt hat: Nur in Aus-nahmefällen, nur dann, wenn konkrete Anhaltspunktewirklich einen Bezug auf die unmittelbar bevorstehendeBegehung einer Straftat nahelegen, ist diese Form derErfassung von Telekommunikationsinhalten zulässig.Wir haben im Rechtsausschuss bereits beschlossen, eineAnhörung durchzuführen. Es gibt mehr als genugGründe, um sich mit diesem Stoff zu befassen.Eine letzte Bemerkung. Der Rechtsausschuss kanndem, was der Bundesrat zur Nichtlöschung von beweis-relevantem Material zum Teil ausführt, nicht zustimmen.Ein einziger Blick in die Rechtsprechung des Bundes-verfassungsgerichts zeigt nämlich, dass es den im Bun-desverfassungsgerichtsurteil gemachten Vorgaben ekla-tant widerspricht. Wir wollen eine rechtsstaatlicheinwandfreie Regelung; dem haben wir uns nie ver-wehrt. Hier haben wir noch ausreichend Beratungsbe-darf.Vielen Dank.
Der Kollege Siegfried Kauder, CDU/CSU, hat seineRede zu Protokoll gegeben.1)Deswegen ist der nächste Redner Hans-ChristianStröbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir müssen hierüber diskutieren, weil die FDP dasgesprochene Wort haben wollte; das kann sie haben.Das ist jetzt der dritte Versuch, ein verfassungsge-mäßes Zollfahndungsdienstgesetz auf den Weg zu brin-gen.
– Doch, der dritte Versuch. – Beim zweiten Versuch wa-ren wir dabei. Danach, bei dem halben Versuch imDezember 2005, waren wir schon nicht mehr dabei. Jetztsind wir jedenfalls so auch nicht dabei, obwohl wireinsehen – das haben wir immer gesagt; wir halten dasfür richtig und notwendig –, dass der Zoll damit zu be-auftragen ist, zu verhindern, dass von deutschen Firmenetwa Teile ins Ausland geliefert werden, aus denen manGiftgasfabriken oder Ähnliches herstellen kann. Das istnicht reine Fantasie, sondern das war Realität, beispiels-weise in Libyen in den 80er-Jahren. Ähnliche, vielleicht1) Anlage 2
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8977
(C)
(D)
Hans-Christian Ströbelenicht ganz so bekannte und dramatische Beispiele gibt esauch aus der Zeit danach. Wir sind uns einig: Das darfnicht sein. Da muss man in Deutschland rechtzeitig Vor-sorge treffen, und zwar nicht in erster Linie deshalb, weilsonst der Ruf der Bundesrepublik Deutschland im Aus-land beschädigt werden könnte – das ist ein Nebenaspekt –,sondern weil es völlig unerträglich ist, wenn wir nicht al-les tun, um zu verhindern, dass Menschen in anderenLändern gefährdet werden.
Nun haben Sie einen neuen Entwurf vorgelegt. HerrKollege Stünker, ich darf Sie an all die Diskussionen er-innern, die wir geführt haben. Sie hätten sich diesenneuen Gesetzentwurf ersparen können – das muss manhier einmal ganz klar sagen –, wenn Sie damals auf unsgehört hätten.
Wir haben damals nach langem Hin und Her ein Gesetzverabschiedet, das wirklich sehr viel besser ist als das,was vorher da war, vor allen Dingen sehr viel schlankerund ein bisschen verständlicher, wenn auch nicht vollverständlich. Das war ein großer Fortschritt. Wir warenauch stolz darauf, dass wir das geschafft haben. Aberwas fehlte, war eine ausreichende datenschutzrechtli-che Regelung.Wir haben eine solche Regelung immer angemahnt.Wir haben gesagt: Gerade der Kernbereich privater Le-bensführung muss tabu sein. Uns wurde dann immer ent-gegengehalten: Wenn die vom Zoll losgehen, dann wol-len die sowieso nicht in Wohnzimmer oder inSchlafzimmer, sondern in Fabriken; deshalb ist da derSchutz nicht notwendig. – Das haben wir schon damalsnicht eingesehen. Wir haben dem Gesetz dann aber zu-gestimmt, um keine Schutzlücke entstehen zu lassen.Wir waren uns darüber einig, dass da nachgebessert wer-den muss, um eine bessere allgemeine datenschutzrecht-liche Regelung für die Telekommunikationsüberwa-chung zu erlangen.Was Sie jetzt vorgelegt haben, ist aus mehreren Grün-den nicht ausreichend:Erstens fehlt – das haben wir immer wieder ange-mahnt – das Zahlenmaterial darüber, welche Erfahrun-gen mit dem Gesetz in der letzten Fassung eigentlich ge-macht worden sind. Sie sind verpflichtet, das bis zumJahr 2008 vorzulegen. Das könnten Sie jetzt vorlegen.Die datenschutzrechtlichen Regelungen, die Sie hiervorsehen, werden durch eine massive Ausweitung derÜberwachung der Bürgerinnen und Bürger bzw. derMöglichkeiten dazu eigentlich völlig aufgehoben. Siewollen jetzt nicht nur den Großen Lauschangriff einfüh-ren, sondern auch den großen Guckangriff. Es steht imEntwurf: In Zukunft soll es möglich sein, heimlich nichtnur abzuhören, sondern auch in Wohnungen, in Ge-schäftsräume, in Büros usw. zu sehen, das aufzunehmenund festzuhalten. Das ist ein riesiger Schritt. Dazu hatsich das Bundesverfassungsgericht noch gar nicht ver-halten können, weil es so etwas in anderen Bereichenbisher noch gar nicht gibt.Auf einen zweiten erheblichen Mangel ist bereits hin-gewiesen worden. Im Gesetz steht: Geschützt werdensollen die Zollfahnder, die unterwegs sind, wenn sie inerhebliche Lebensgefahr oder so etwas kommen. AberSie schränken überhaupt nicht ein, wann denn dann ab-gehört oder geguckt werden darf, ob das schon Wochenvorher, einen Tag vorher, danach noch oder nur dann,wenn die Zollfahnder in den jeweiligen Räumen sind,möglich sein soll. Uns reicht das nicht aus.Wir wollen mit Ihnen darüber diskutieren. Wir wollendas Urteil des Bundesverfassungsgerichts in vollem Um-fang umsetzen. Deshalb muss im Kernbereich mehr ge-tan werden. Deshalb muss vor allen Dingen für dieBerufsgeheimnisträger viel mehr gemacht werden. Esist überhaupt nicht einsichtig, warum Verteidiger ge-schützt sind, aber Rechtsanwälte weniger und Journalis-ten noch weniger. Dafür gibt es keine ausreichende sach-liche Begründung.
Herr Kollege Ströbele!
Das machen wir nicht mit. Wir sind aber bereit, bei
der Novellierung dieses Gesetzes mitzuwirken, weil
auch uns der Schutz der Bevölkerung in anderen Län-
dern, möglicherweise auch im eigenen Land, vor den
Folgen unerlaubter Exporte –
Herr Kollege Ströbele! Ich erinnere Sie jetzt an Ihre
Zeit.
– von Waffenfabriken genauso wichtig ist wie Ihnen
allen.
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zwei Anmerkungen, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger: Erstens. Die erste Verfassungswidrig-keit, die wir zu beheben hatten, betraf ein Gesetz, das zuIhrer Amtszeit erlassen wurde. Zweitens. Machen SieIhre Ausführungen zur Verfassungsgemäßheit im Zu-sammenhang mit Bürgerrechten bitte auch in Nieder-sachsen und Nordrhein-Westfalen, wo Ihre Kolleginnenund Kollegen an den Landesregierungen beteiligt sind.
Metadaten/Kopzeile:
8978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Joachim StünkerAm 15. Dezember 2005 habe ich hier in diesem Ho-hen Hause das Versprechen abgegeben, dass wir binnen18 Monaten eine verfassungskonforme Regelung imBundesgesetzblatt stehen haben werden. Wir legen Ih-nen daher heute den Entwurf vor, mit dem wir die Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juli2005 umsetzen wollen. Wir folgen damit dem Gebot desGerichtes, dass auch bei Telekommunikationsüberwa-chungsmaßnahmen Regelungen zum Schutz des Kern-bereiches der privaten Lebensgestaltung erforderlichsind, Herr Kollege Ströbele.Als Neuregelung haben wir folgenden Satz vorge-sehen: Abhörmaßnahmensind unzulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunktefür die Annahme vorliegen, dass durch sie alleinKommunikationsinhalte aus dem Kernbereich pri-vater Lebensgestaltung erlangt würden.
– Genauso ist das. – Ich bin ganz sicher, über das Wört-chen „allein“, Herr Kollege Ströbele, werden wir langein der Sachverständigenanhörung und bei den Beratun-gen im Ausschuss diskutieren. Wir haben bereits denTermin für die Anhörung festgelegt: Sie findet am25. April statt. Ich freue mich mit Ihnen allen auf einezügige Beratung.Schönen Dank.
Der Kollege Wolfgang Nešković, Fraktion Die Linke,
hat seine Rede ebenfalls zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/4663 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestal-
ten – Subsidiarität sichern, Verhältnismäßig-
keit wahren
– Drucksache 16/4736 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
1) Anlage 2
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Angelika Brunkhorst, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ummeinem Unverständnis hier gleich vorab Luft zu ma-chen: Es ist mir wirklich schleierhaft, warum sich nurmeine Fraktion, die FDP, hier aktiv mit der Boden-schutzrichtlinie auseinandersetzt. Alle anderen Fraktio-nen sind ja scheinbar abgetaucht.
Weder die Bundesregierung noch die Koalitionsfraktio-nen haben sich bisher dazu schriftlich oder auf andereWeise irgendwie öffentlich geäußert. Ich denke, esscheint Ihnen ein wenig gleichgültig zu sein.
Man muss sehen: Sie tragen mit dazu bei, dass die euro-päische Richtlinie jetzt überreguliert wird. Das wird unsirgendwann noch einmal auf die Füße fallen.
In der Orientierungsdebatte des Europäischen Ratesam 20. Februar konnte sich die Bundesregierung nichtzur Sache äußern, da sie ja derzeit den Ratsvorsitz inne-hat. Alle anderen Mitgliedstaaten haben sich aber mehr-heitlich für rechtsverbindliche Vorgaben zum Boden-schutz unter Wahrung von Subsidiarität undVerhältnismäßigkeit ausgesprochen. Es ist sehr schade,dass es im Umweltausschuss des Deutschen Bundesta-ges, obwohl wir zunächst auf einem guten Wege waren,nicht möglich war, einen interfraktionellen Entschlie-ßungsantrag zum Richtlinienentwurf auf den Weg zubringen. Genau das hätte der europäische Bodenschutzgebraucht.
Es ist bekannt – das ist ja kein Geheimnis –, dass dervorliegende Antragstext von den Kollegen Petzold undMüller auf den Weg gebracht wurde. Sie müssen jetztdieses Desaster miterleben. Mein herzliches Beileid,liebe Kollegen!Insbesondere die Bedenken des Bundesrates sind inden Antrag mit eingeflossen, vor allem – das richte ichbesonders an die Kollegen von der CSU – die Bedenkendes Freistaats Bayern.
Ich weiß nicht, warum dieser Antrag nun am Veto derCSU scheitert; ich bin völlig irritiert.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8979
(C)
(D)
Angelika Brunkhorst
– Ich weiß auch nicht, was in Bayern los ist.Der Umweltausschuss hat dieses EU-Dokument nurzur Kenntnis genommen. Das heißt, dass das Thema vonder Tagesordnung verschwunden ist. Wir haben damiteine wichtige Gelegenheit verpasst, mitzubestimmen,wie diese EU-Richtlinie ausgestaltet wird. Mit diesemVersäumnis lassen wir auch die Unternehmen, die aufWettbewerbsgleichheit hoffen, im Prinzip im Stich.Meine Damen und Herren, der vorliegende Antragder Liberalen ist Ihre letzte Chance, die Bundesregie-rung aufzufordern, im Sinne der deutschen Interessenbeim europäischen Bodenschutz aktiv zu werden. Ichhoffe sehr, Sie sind sich Ihrer Verantwortung bewusst.Wir haben in Deutschland einen sehr hohen Standardim vor- und nachsorgenden Bodenschutz. Es ist nicht er-forderlich, dass die auf EU-Ebene geplanten Regelungenüber die in Deutschland vorhandenen Vorleistungen hi-nausgehen.Der geforderte integrative Ansatz, wie er in Art. 3 derEU-Richtlinie verlangt wird, wird in Deutschland durchnationales und auch durch EU-Recht schon heute prakti-ziert. Weitere europäische Vorgaben sollten auf das not-wendige Mindestmaß beschränkt werden.Insbesondere – das wurde auch vom Bundesrat, ins-besondere von Bayern, betont – ist uns wichtig, dass dieSubsidiarität und der Erhalt des in Deutschland erreich-ten Bodenschutzstandards gewahrt bleiben.
Wir meinen, dass die Standards und Berichtspflichten soausgestaltet werden sollen, dass zum Beispiel aus-schließlich Tätigkeiten, nicht aber pauschal Anlagenty-pen berichtspflichtig werden. Denn sonst würde das überdas hinausgehen, was sinnvoll ist.Wichtiger Maßstab sollten in Zukunft einzig und al-lein die zu erzielenden Erfolge beim Zustand der Bödensein. Gerade im Hinblick auf die östlichen und südlichenLänder der Europäischen Union ist die Verbesserung derBodenpolitik insgesamt wünschenswert. Hier kann dieBundesregierung auf Basis der in Deutschland gewonne-nen Erfahrungen konstruktiv auf den weiteren Verhand-lungsprozess und den Gesetzgebungsprozess Einflussnehmen. Dazu fordern wir Sie mit unserem Antrag heuteauf. Unsere Vorschläge – ich kann es nicht oft genugwiederholen – entsprechen dabei dem Beschluss desBundesrates; das ist nahezu identisch.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beklagen unsals Parlamentarier oft genug darüber, dass wir auf dieEU-Vorlagen mitunter nur noch reagieren können unddass wir hinterhergaloppieren. Diesmal hätten wir wirk-lich agieren und aktiv Einfluss nehmen können. Wir ha-ben diese Chance wahrscheinlich verpasst. Ich appellierean Ihre Verantwortung, sich den Aufgaben des Boden-schutzes in Europa zu stellen und die Verpflichtung ge-genüber den betroffenen Unternehmen und Betriebenwahrzunehmen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Liebe Frau Brunkhorst, es ist jetzt 21.38 Uhr, undwir debattieren über das Thema. Von Gleichgültigkeitkann also keine Rede sein.Es geht hier aus unserer Sicht vielleicht gar nichtschwerpunktmäßig um die Frage des Bodenschutzes,sondern um ein sehr viel wichtigeres Thema, nämlichdie Zuständigkeit der Europäischen Union. Die Poli-tik der Europäischen Union leidet in besorgniserregen-der Weise unter einem Demokratiedefizit und einer fak-tischen Aufhebung der Gewaltenteilung. Das sage nichtich, sondern das sagt kein Geringerer als der ehemaligeBundespräsident Roman Herzog. Ich meine, er hat damitrecht.
Die EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie ist ein Nährbo-den für ebendiese Analyse, für ebendiesen Eindruck. Esist bodenlos, wenn 84 Prozent unserer Rechtsakte imZeitraum von 1998 bis 2004 substanziell aus Brüsselstammen. Es ist bodenlos, wenn wir der parlamentari-schen Demokratie mehr und mehr den Boden entziehen.Die Bodenschutzrahmenrichtlinie ist ein Musterbeispielund bester Beleg dafür, dass Roman Herzog recht hat.
Es ist doch unstrittig, dass die EU jedenfalls nichtausschließlich zuständig ist. Jetzt ist die Frage: Ist dieEuropäische Union überhaupt zuständig? Wenn sie nichtausschließlich zuständig ist, dann gilt das Subsidiari-tätsprinzip: Die Gemeinschaft wird nur tätig, sofern dieZiele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf derEbene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreichtwerden können. Die Bundesrepublik Deutschland – dageben Sie mir hoffentlich recht – hat doch gezeigt, dasswir das Thema Bodenschutz selber in nationaler Zustän-digkeit – und zwar vorbildlich – regeln können.
Das, meine ich, sollte unstrittig sein. Deshalb ist die Eu-ropäische Union an der Stelle nicht zuständig; da kannman Anträge formulieren, soviel man will.
– Aber Ignoranz vonseiten der Europäischen Union,nicht von uns; denn sie sagt, sie sei für Dinge zuständig,für die sie faktisch nicht zuständig ist.Man muss sich einmal fragen, wo an dieser Stelle dasEinfallstor für die Europäische Union ist. Als die De-batte losging, habe ich scherzhaft gesagt: Wahrschein-
Metadaten/Kopzeile:
8980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Georg Nüßleinlich wird eine grenzüberschreitende Bodenerosionbehauptet. Da haben alle gelacht. Als ich das entspre-chende Dokument aufgeschlagen habe, habe ich nichtgelacht; denn genau das wird darin behauptet: Es gebeeine grenzüberschreitende Bodenerosion durch Flüsse.Das ist vollständig lächerlich.
Wo ist denn das Realität, wo spielt denn das eine Rolle?Nirgends, meine Damen und Herren! Offensichtlich ha-ben auch die Kollegen auf der europäischen Ebene, diedas geschrieben haben, gemerkt, dass das hanebüchenist. Daher haben sie dann natürlich das angehängt, wasimmer das generelle Einfallstor für die EuropäischeUnion ist, nämlich das Thema Binnenmarkt und Wettbe-werbsverzerrungen.
Damit können sie letztendlich jede Kompetenz, die sievon der nationalen Seite holen wollen, an sich ziehen.An dieser Stelle sollte man aber bitte nicht ansetzen; dagibt es ganz andere, besser geeignete Baustellen, zumBeispiel im Bereich des Steuerrechts und im Bereich desSozialrechts.Jedenfalls bin ich der Meinung, dass man den Boden-schutz subsidiär in nationaler Zuständigkeit und indivi-duell regeln kann. Es macht einen Unterschied, ob es umBoden in Spanien oder um Boden bei uns geht. Auch dassollten wir an dieser Stelle einmal sagen.Ihrem Antrag – in dem viel Gutes steht, nämlich das,was Sie vom Bundesrat und von der bayerischen Seiteabgeschrieben haben – kann man unter dem Strich des-halb nicht zustimmen, weil darin steht, die Subsidiaritätsei gewahrt, wenn man eine solche Rahmenrichtlinie be-schließt, und weil der Brüsseler Allmachtsanspruch da-rin ausdrücklich begrüßt wird.Wir müssen uns aber natürlich auch überlegen, wasnun passieren wird und wie es jetzt weitergeht. Der Ein-fluss des Parlaments wird nicht so sein, wie er an derStelle sein müsste. Wir werden erleben, dass sich dieFachminister einig sind und dass sie auf die Gewaltentei-lung, auf die parlamentarische Demokratie und auf dieSubsidiarität schlichtweg pfeifen werden. Wir werdenauch erleben, dass es eine Illusion ist, zu glauben, wirkönnten den deutschen Standard vorgeben und sagen:Über das hinaus, was wir schon haben, darf nichts ge-schehen. – Wir werden erleben, dass es eine Illusion ist,zu glauben, dass die EU nicht über das Ziel hinaus-schießt.Betroffen werden am Ende die Landnutzer sein, dieLand- und Forstwirtschaft, diejenigen, bei denen ein Ei-geninteresse des Eigentümers vorliegt und bei denenman auf Eigenverantwortung setzen kann – zu Recht,wie ich meine.
G
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir werden wieder einmal Bürokratie statt Ei-
genverantwortung als neue Perspektive erleben. Die
Bürgerinnen und Bürger in diesem Land spüren das ganz
genau. Deshalb geht die Akzeptanz der Europäischen
Union auch permanent zurück. Bevor jemand schreit, ich
sei ein Europagegner – das versucht man ja, der CSU all-
enthalben in die Schuhe zu schieben –, sage ich: Nein,
ganz im Gegenteil, wir sind glühende Verehrer des euro-
päischen Gedankens. Aber wir erleben in den letzten
Jahren, dass das Pferd Europa, das uns zu Frieden und
Wohlstand getragen hat, von den Brüsseler Bürokraten
nach und nach zu Tode geritten wird.
– Eine bayerische Bundespolitik wollen Sie nicht, weil
dann die FDP keine Rolle spielen würde;
das ist mir schon klar. Denn dann hätten wir auch hier
natürlich eine klare Mehrheit.
Wir wollen ein Europa der Bürger, ein Europa der
Nationalstaaten und der Parlamente. Ich kann an die
Kolleginnen und Kollegen Umweltpolitiker nur appel-
lieren: Lassen Sie sich nicht vom Charme europäischer
Umweltpolitik blenden! Wenn die EU auch noch beim
Thema Bodenschutz, bei einem Thema, das keinerlei
grenzüberschreitende Bedeutung hat – außer einer, die
an den Haaren herbeigezogen ist –, an Boden gewinnt,
dann können wir in der Konsequenz die komplette Um-
weltpolitik sofort nach Brüssel abgeben und brauchen uns
jedenfalls mit diesem Thema nicht mehr zu beschäftigen.
Wir können dann Voten abgeben, die lauten: Kenntnis-
nahme und Übernahme. Das wäre die Konsequenz dessen.
Ich kann an dieser Stelle, wenn wir, wie Sie vorhin
gesagt haben, im Boot bleiben wollen, nur eines tun,
nä
Rede von: Unbekanntinfo_outline
DieEuropäische Union ist nicht zuständig. Das ist und bleibtein nationales Thema.Ich kann an die Kolleginnen und Kollegen hier imDeutschen Bundestag nur appellieren: Hier geht es dochnicht um irgendein umweltpolitisches Randthema. Hiergeht es doch um unser Selbstverständnis im DeutschenBundestag,
darum, dass uns, so wie es das Bundesverfassungsgerichtim Maastrichturteil formuliert, letztendlich substanzielleRechtssetzungskompetenz verbleiben muss. Das istdoch unser Anspruch. Da geht es doch an erster Stelleum uns und darum, dass wir das tun, was die Bürgerinnenund Bürger von uns verlangen, wofür wir uns letztendlichparlamentarisch-demokratisch verantworten müssen.Ich meine, es geht nicht allein um den Bodenschutz.Es geht um den Boden unserer Demokratie und um denBoden des Deutschen Bundestages. Den würde ich mirganz ungern einfach von der EU entziehen lassen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8981
(C)
(D)
Dr. Georg NüßleinVielen herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva Bulling-
Schröter, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bodenschutzstrategie und der Entwurf der Rahmen-
richtlinie werden nicht nur von der FDP kritisiert. Auch die
Umweltverbände sind unzufrieden, allerdings auf andere
Weise. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen
verrate, wessen Kritik wir im Wesentlichen teilen.
Das Europäische Umweltbüro stellt fest, dass die
Rahmenrichtlinie kaum konkrete Ziele oder einheitliche
Qualitätsstandards festschreibt. Auch wir meinen, durch
ihre Unbestimmtheit wird das Tor für Ausweichmanöver
jener Mitgliedstaaten geöffnet, die momentan wenig
Interesse an einem EU-koordinierten Bodenschutz
zeigen, beispielsweise Großbritannien oder auch Öster-
reich. Wien will nicht einmal Risikogebiete ausweisen,
weil dies den Bodenwert negativ beeinflussen könne und
damit ein Eingriff in das Eigentum sei. Das befürchtet
offensichtlich auch die FDP. Sie will ja mit ihrem Antrag
die Richtlinie auch in diesem Punkt verwässern.
Die Linke begrüßt dagegen ein europäisches Gesetz
für den Bodenschutz.
Denn bisher werden die Böden in der EU nur lückenhaft
und indirekt über EU-Rechtsakte mit anderen Grundzielen
geschützt.
Es stimmt, Deutschland hat mit der Verabschiedung des
Bundes-Bodenschutzgesetzes für dieses Umweltmedium
bereits einen Rechtsrahmen geschaffen; da stimmen wir
der FDP zu. Die Liberalen übersehen jedoch, dass die
Richtlinie nicht für Deutschland, sondern für alle Mit-
gliedsländer gemacht wird. Manche davon haben hier
größere Defizite. Das spricht unserer Ansicht nach für
eine europäische Gesetzgebung. Wir wollen eine mit Biss.
Zudem ist auch der deutsche Bodenschutz nicht der
Gipfel der Nachhaltigkeit. Zwar haben wir auf dem Gebiet
der Altlastenerfassung und -sanierung einige Fortschritte
gemacht. Allerdings sind die meisten davon im Osten
erzielt worden. Die neuen Grundstückseigentümer wurden
nach der Wende ja nur dann von der Treuhand von der
Sanierung der Altlasten befreit, wenn diese zuvor in einer
bestimmten Frist ermittelt wurden. Das hatte eine hektische
Altlastensuche großen Umfangs zur Folge. Schließlich
hat der Staat ja allen Investoren und auch Spekulanten
die Sanierung bezahlt.
Im Westen – machen wir uns nichts vor – liegen noch
jede Menge unentdeckter Altlasten in den Böden, von
denen wir noch gar nichts oder nur wenig wissen. Bei
der Sanierung wird im Bundes-Bodenschutzgesetz das
jeweilige Sanierungsziel abhängig gemacht von der jeweils
nachfolgenden Nutzung. Wir haben das damals schon
kritisiert. Dieses Vorgehen hat nur wenig mit vorsorgendem
Bodenschutz zu tun. Denn so wird der Boden nur als
Wirtschaftsgut und nicht in seiner Funktion als Lebens-
raum und Wasserspeicher begriffen.
Die neue Bodenschutzstrategie könnte also auch
Deutschland auf die Sprünge helfen. Leider sind die viel-
fach unpräzisen Formulierungen des Richtlinienentwurfs
da wenig hilfreich. Bleibt es dabei, dann wird tatsächlich
nur jene Bürokratie erzeugt, die die FDP befürchtet.
Noch zum Schluss. Wir hatten im Umweltausschuss
eine Diskussion über eine Veränderung beim Boden-
schutzgesetz. Die Linke hatte das beantragt. Es ging um
den Standort Schonungen bei Schweinfurt.
Dort wurden Menschen ins Elend getrieben und mussten
für Dinge bezahlen, die sie nicht verursacht hatten. Es
ging um Arsen, um tausendfach höhere Werte als erlaubt.
Damit so etwas nie mehr passiert und damit die Menschen
gesund leben können, brauchen wir eine gute Boden-
schutzrahmenrichtlinie. Das ist dringend notwendig. Ich
appelliere an Sie: Da muss wirklich etwas passieren, damit
sich so etwas wie in Schonungen an anderen Altlasten-
standorten nie mehr wiederholen kann.
Das Wort hat der Kollege Detlef Müller von der SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Brunkhorst, ich muss und ich will Ihnenein Kompliment aussprechen: Sie haben die gute Qualitätdes ursprünglichen Entschließungsantrages der Koalitions-fraktionen nicht nur erkannt. Nein, Sie haben den Antragsogar noch konstruktiv weiterentwickelt. Sie, verehrteKollegen der FDP, haben im Vergleich zur ursprünglichenFassung unter anderem die Zeile „fordert der Ausschussauf“ durch die Zeile „fordert der Deutsche Bundestagauf“ ausgetauscht. Für diese inhaltliche Mitarbeit habenSie Respekt verdient.Nein, Spaß beiseite, es soll nur gezeigt werden, worumes Ihnen wirklich geht: nicht um die wichtige SacheBodenschutz an sich, sondern nur um Populismus unddie Vorführung der Koalitionsfraktionen.
Metadaten/Kopzeile:
8982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Detlef Müller
Sie haben sich gar nicht erst an die Arbeit gemacht,konstruktiv an unserem Antrag mitzuarbeiten. Da hilftIhnen im Übrigen auch Ihre eigene Pressemitteilungvom 7. März nicht unbedingt weiter, wenn Sie da aus-führen – ich zitiere –:… dass sich Rot, Schwarz und Gelb nach intensivenVorgesprächen in dieser Problematik einig waren.Wann war denn Gelb eigentlich dabei? Sie haben im Forde-rungsteil unseren Antrag eins zu eins übernommen, kurzgesagt: abgeschrieben. Sie haben dafür aber im Feststel-lungsteil unterschiedlichste Positionen der Koalition, derAgrarlobby und des Bundesrates zusammengetragen undden eigentlichen Zielansatz vollkommen verkleistert. Siebenutzen den Antrag heute nur als Werkzeug, um einenKeil zwischen die Koalitionsfraktionen zu treiben.
Ich muss zugeben, dass es wegen des Entschließungs-antrages Differenzen zwischen den Umwelt-Arbeits-gruppen der SPD und der Union gab, vor allem deshalb,weil Herr Petzold und ich lange konstruktiv über diesenAntrag beraten haben
und uns nach wochenlangen Verhandlungen endlich amZiel wähnten. Leider hat die Union dann kurz vor derAusschusssitzung ihre Zustimmung zurückgezogen.Dadurch wurde die Chance verpasst, schon im Vorfeldder Beratungen in Brüssel eine Stellungnahme desDeutschen Bundestages abzugeben. Das war und das istbedauerlich.Unser Boden erfüllt eine ganze Reihe lebenswichtigerFunktionen für Mensch und Umwelt. Er ist Lebensrauman sich und dient zur Erzeugung von Lebensmitteln, istTeil der Landschaft und des kulturellen Erbes und nichtzuletzt auch Rohstofflieferant. Er erfüllt damit unverzicht-bare ökologische, wirtschaftliche, soziale und kulturelleFunktionen und soll somit auch als Lebensgrundlage fürkünftige Generationen dienen.Etwas ganz Wichtiges muss in diesem Zusammenhangnoch einmal gesagt werden: Weil der Boden eben keineerneuerbare Ressource darstellt, kommt seinem Schutzeine herausragende Bedeutung zu. Wenn es auch manch-mal auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist, könnenVerschlechterungen der Bodenqualität gravierende Aus-wirkungen auf andere Bereiche wie Wasser, Gesundheit,Klimawandel, Naturschutz oder unsere Artenvielfalt haben.
Es steht außer Frage, dass die Böden in Europa einervielfachen Beanspruchung und Belastung ausgesetztsind. Aus Sicht der Europäischen Kommission gilt esdeshalb, alle Anstrengungen zu unternehmen, um dieBöden vor Überlastung zu schützen, insbesondere weilin letzter Zeit viele ost- und südosteuropäische LänderMitgliedstaaten der Europäischen Union geworden sind,die sich noch mit den Hinterlassenschaften aus vergan-genen Zeiten herumschlagen müssen. Außerdem sindzunehmend auch in Europa Überschwemmungen, Erd-rutsche und Versteppungen zu beobachten, die ernsteHinweise auf negative Veränderungen darstellen.Die Europäische Kommission verfolgt mit ihremVorschlag für eine europäische Bodenschutzrichtliniehauptsächlich das Ziel, dass es zu einer Harmonisierungdes europäischen Bodenrechtes kommt. Der Vorschlagder Kommission hat in den meisten Mitgliedstaatengrundsätzliche Zustimmung erfahren: Für viele Mit-gliedstaaten ist es nachvollziehbar, dass der Bodenschutzeiner europäischen Regelung bedarf; daher unterstütztauch die Bundesregierung grundsätzlich den Richtlinien-vorschlag.Allerdings formierte sich im Bundesrat, hier vor allemim Agrarausschuss, erheblicher Widerstand gegen denEntwurf der Kommission. Der Bundesrat argumentierte,diese Richtlinie sei überflüssig, da in Deutschland imBereich des Bodenschutzes in Gesetzgebung und Praxisbereits seit Jahren ein hoher Standard existiere. In derTat gibt es in Deutschland bereits nationale und regionaleBodenschutzkonzepte. So haben die Bundesländer eigeneBodenschutzgesetze. Der Bund hat seit 1998 ein eigenesBodenschutzrecht. Nach Auffassung des Bundesratesrechtfertigt das Argument, dass einzelne Mitgliedstaatennoch kein entsprechend hohes Schutzniveau vorweisenkönnen, nicht das Harmonisierungsbestreben der Kom-mission. Der Bundesrat lehnte die von der Kommissionbeabsichtigten Regelungen auch aus Furcht vor einemMehr an Bürokratie ab.Zwar muss man die Einwände des Bundesrates ernstnehmen – die Kritik am ersten Entwurf war zum Teilgerechtfertigt –, aber man muss auch festhalten, dasssich der Richtlinienvorschlag der Kommission dafürausspricht, bereits bestehende, bewährte nationale oderregionale Bodenschutzkonzepte und gesetzliche Rege-lungen nicht infrage zu stellen sowie den Spielraum derMitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Bodenschutz-politik zu wahren. Die Richtlinie steht eben nicht imGegensatz zum deutschen Bodenschutzrecht und siehtauch keine Verschärfung vor. Im Gegenteil: Das deutscheBodenschutzrecht könnte vielmehr als Grundlage fürnationale Bestrebungen im Bereich des Bodenschutz-rechtes anderer Mitgliedstaaten dienen.
Das Bundesumweltministerium und die Koalitions-fraktionen im Bundestag haben nach mehreren Verhand-lungsrunden die Änderungswünsche des Bundesratesakzeptiert; zum Teil wurde sogar eine Verschärfung derBundesratsempfehlungen vorgenommen, zum Beispiel imBereich des Bergbaurechtes. Weil wir als Berichterstatterder Koalitionsfraktionen die Kritik des Bundesrates ernstgenommen und die Änderungswünsche aufgegriffen ha-ben, spricht nach meiner Ansicht, Herr Dr. Nüßlein,nichts für eine generelle Ablehnung der Bodenschutz-strategie.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8983
(C)
(D)
Detlef Müller
Sowohl das BMU als auch die SPD-Fraktion imBundestag gehen weiterhin von der Notwendigkeit eineseuropäischen Rechtsrahmens für den Bodenschutz aus;denn eine wirklich durchdachte Bodenschutzstrategiekann nicht an den Grenzen enden. Deutschland brauchtdoch gar keine Furcht vor einer europäischen Boden-schutzstrategie zu haben; denn Deutschland ist – daswurde schon festgestellt – gewissermaßen Vorreiter fürein gut funktionierendes Bodenschutzrecht.Deutschland ist durch seine Gesetzgebung und vor allemdurch seine erfolgreiche Altlastensanierung seit 1991 einMusterbeispiel. Wir sind mit unserem Bodenschutzrechtgut aufgestellt und können den Anforderungen gerechtwerden. Wir brauchen eine europäische Bodenschutz-richtlinie, weil wir nur in einem größeren Rahmen diemassiven Umweltherausforderungen bewältigen können.Eine europäische Richtlinie ist notwendig, weil bishernur neun von 27 Mitgliedstaaten ein eigenständiges Boden-schutzrecht haben. Durch die europäische Rahmenricht-linie werden endlich auch die anderen Mitgliedstaatenaufgefordert, eigene nationale Regelungen zum Schutzdes Bodens zu schaffen. Ein einheitlicher Rechtsrahmenstärkt somit den Bodenschutz auf EU-Ebene und wirdihm mehr Bedeutung verleihen.Für Deutschland ist auch aus Wettbewerbsgründenein europäischer Rechtsrahmen im Bereich des Boden-schutzes notwendig. Für deutsche Unternehmen ist esnämlich gerade wegen des vergleichsweise hohen Stan-dards der deutschen Gesetzgebung wichtig, dass in denanderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ebenfallsentsprechende Vorsorgemaßnahmen veranlasst werden.Angeglichene Umweltvorschriften verhindern Wettbe-werbsverzerrungen durch Umweltdumping und helfen,zum Beispiel die landwirtschaftliche Produktion amStandort Deutschland zu erhalten und sie vor Wettbe-werbsverzerrungen durch Mitgliedstaaten mit niedrigerenAnforderungen zu schützen. Eine europäische Lösungist besser als eine Vielzahl zersplitterter Einzellösungenin den Mitgliedstaaten.
Wie man das Blatt auch dreht und wendet: Es zeigtsich, dass wir eine europäische Bodenschutzrichtliniebenötigen. Deutschland kann viel zum europäischen Bo-denschutz beitragen. Wir sollten uns daher konstruktivfür ein schlankes und effektives EU-einheitliches Bo-denschutzrecht einsetzen und damit einen zukunftsorien-tierten Beitrag zur Behebung der absehbaren europäi-schen Bodenprobleme leisten.Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionenwar ein guter Kompromiss. Meine Fraktion und ich sindim Rahmen der parlamentarischen Beratung weiterhindaran interessiert, den Entwurf der europäischen Boden-schutzrichtlinie aktiv mitzugestalten.Wir brauchen eine kritische Prüfung der Regelungen,die über den deutschen Standard hinausgehen. Aber dasgeht nur gemeinsam mit den Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union, im europäischen Rahmen, und eben nichtim Alleingang.
Was wir nicht brauchen, ist eine pure Ablehnung derRichtlinie, weil bestimmte Lobbygruppen unbegründeteÄngste verbreiten, und Populismus, wie wir ihn auchheute hier im Deutschen Bundestag erlebt haben.Vielen Dank.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Worte des Kollegen Müller habe ichgerne gehört. Denn wir Grünen begrüßen das Vorhabeneiner EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie und die Vorlageeiner Bodenschutzstrategie durch die EU-Kommission.Das hat nicht nur umweltpolitische Gründe.Ein europäischer Bodenschutzstandard ist auch wirt-schaftspolitisch sinnvoll; denn unsere deutschen Unter-nehmen müssen das deutsche Bodenschutzrecht einhalten.Das heißt, dass sie im Fall notwendiger Altlastensanie-rungen häufig mit Kosten belastet werden. Wenn in an-deren EU-Mitgliedstaaten keine solchen Verpflichtungenbestehen, dann profitieren die Unternehmen dort von ei-nem Ökodumping, welches deutsche Unternehmen imWettbewerb benachteiligt. Das kann nicht im InteresseDeutschlands sein.Vor diesem Hintergrund, Kollege Nüßlein, ist es kurz-sichtig, dass Unions-, SPD- und FDP-Politiker das Pro-jekt Bodenschutzrahmenrichtlinie in den letzten Mona-ten vollständig abgelehnt haben. Jetzt höre ich hierandere Töne, was mich, wie gesagt, sehr freut. Beson-ders kurzsichtig ist es, dass Sie diese Ablehnung mitdem Verweis auf das aus Ihrer Sicht ausreichende deut-sche Bodenschutzrecht begründen. Wie kann eine EU-Regelung verzichtbar sein, nur weil Deutschland bereitsein Bodenschutzgesetz hat?
Es geht doch darum, wie es um den Bodenschutz in Eu-ropa steht.
– Ja, ja, Sie wollen immer eins zu eins umsetzen; dasweiß ich.Die EU-Kommission weist darauf hin, dass sich derZustand der Böden europaweit seit Jahren verschlech-tert: Die Flächenversiegelung konnte nicht eingedämmtwerden. Die Erosion durch Wasser betrifft 12 Prozentder Böden. 45 Prozent weisen einen abnehmenden Ge-
Metadaten/Kopzeile:
8984 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Cornelia Behmhalt an Humus auf. Geschätzte 3,5 Millionen Hektar sindkontaminiert. – Auch Deutschland hat trotz Bundes-Bo-denschutzgesetzes mit diesen Problemen zu kämpfen.Bisher haben nur neun Mitgliedstaaten – das sagteKollege Müller schon – Maßnahmen zum Bodenschutzergriffen. Wer auch nur im Ansatz ein umweltpolitischesInteresse hat, der kann nicht ernsthaft dagegen sein, dassdie restlichen Länder endlich nachziehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war positivüberrascht, dass sich die FDP in ihrem Antrag zur Verab-schiedung einer Richtlinie bekennt. Sehr erfreut war ichauch, dass die FDP es als im deutschen Interesse liegendbewertet, wenn in allen EU-Staaten ein angemessenesBodenschutzrecht gilt, damit deutsche Unternehmen imStandortwettbewerb keine Nachteile erleiden.
Aber zu früh gefreut: Die FDP hält über das deutscheBodenschutzrecht hinausgehende Anforderungen fürnicht erforderlich. Schlimmer noch: Der gesamte Antragmacht klar, dass die FDP den EU-Bodenschutzstandarddeutlich unter das von der Kommission vorgeschlageneNiveau senken will. Das ist mehr als bedauerlich.
Ist es denn so, dass Deutschland bereits alle Zielebeim Bodenschutz erreicht hat? Nein. Ich als Branden-burgerin kann ein Lied, ein Klagelied davon singen. Alt-lasten werden noch lange Risiken für Menschen undUmwelt sowie wirtschaftliche Hemmnisse bleiben. Oftwerden Flächen in Deutschland deswegen nicht recycelt,weil Investoren nach wie vor die mit Altlasten verbunde-nen Kosten scheuen.
So wird weiter auf der grünen Wiese gebaut. Deswegenmüssen wir Flächenrecycling zukünftig attraktiver ma-chen.
Wir müssen dafür sorgen, dass Altlasten nicht nur zurakuten Gefahrenabwehr, sondern systematisch beseitigtwerden, wohl wissend, dass es viel Geld kostet, solltenwir diesen Punkt in unsere Bodenschutzstrategie aufneh-men. Erfolgreiche Modellprojekte belegen, dass dasvolkswirtschaftlich sinnvoll ist.Wir Grüne plädieren dafür, die Richtlinie ambitionier-ter auszugestalten. Vor allen Dingen ist es notwendig,konkrete Zielvorgaben, also einen EU-Bodenschutz-standard, festzulegen. Der fehlt im Entwurf bisher. Die-ser Mangel hätte zur Folge, dass allein die Nationalstaa-ten festlegen, welche Ziele sie erreichen wollen. Dannbliebe auch die Harmonisierung der Wettbewerbsbedin-gungen Stückwerk. Hier muss dringend nachgebessertwerden.
Frau Kollegin!
Alles in allem bin ich entsetzt darüber, wie national
zentriert die Debatte über diese Richtlinie hierzulande
geführt wird. Noch entsetzter bin ich aber über den Man-
gel an umweltpolitischen Ambitionen, den ich dabei ins-
besondere bei der Union zutage treten sehe.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/4736 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. DietherDehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder LINKENKosovo-Verhandlungen – für eine neutraleModeration und eine eigenverantwortlicheund einvernehmliche Lösung zwischen Ser-bien und den Kosovo-Albanern– Drucksachen 16/3093, 16/3707 –Berichterstattung:Abgeordnete Eckart von KlaedenGert Weisskirchen
Dr. Rainer StinnerKerstin Müller
Dr. Norman Paechb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Dr. Karl Addicks, ChristianAhrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPKosovo-Statusverhandlungen noch 2006 zu er-folgreichem Abschluss bringen– Drucksachen 16/588, 16/3708 –Berichterstattung:Abgeordnete Karl-Theodor Freiherr zuGuttenbergMarkus MeckelDr. Werner HoyerDr. Norman PaechMarieluise Beck
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten MarieluiseBeck , Rainder Steenblock, Volker Beck
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8985
(C)
(D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENEine europäische Perspektive für das Kosovo– Drucksachen 16/3520, 16/3830 –Berichterstattung:Abgeordnete Eckart von KlaedenGert Weisskirchen
Dr. Rainer StinnerDr. Norman PaechKerstin Müller
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Rainer Stinner, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Einigevon den Kollegen, die heute Abend hier sitzen, wissen esvielleicht, die Kollegen, die nicht hier sind, das Bundes-tagspräsidium und die Öffentlichkeit wissen es sicher-lich nicht: Im Kosovo stehen wir bezüglich der europäi-schen Außen- und Sicherheitspolitik vor einer Situation,gegenüber der das, was wir bei der Raketendiskussionerlebt haben, Peanuts sind. Uns stehen erhebliche Gefah-ren bevor, auf die ich hinweisen möchte. Deshalb redeich in dieser Debatte.Angesichts der dramatischen Situation im Kosovo– ich werde gleich sagen, warum ich das so sehe – binich erstaunt, dass die Debatte über das Kosovo, wenn wirschon einmal darüber sprechen, an den Rand der Tages-ordnung geschoben wird und ich mir als Einziger dieFreiheit nehme, dazu zu reden. Ich finde das sehr be-denklich, sehr bedeutsam und sehr interessant.Die Anträge, über die wir heute diskutieren, spiegelndie Dramatik nicht wider; sie sind einige Tage alt. DerAntrag der Linken besagt im Prinzip, dass alles so wei-tergeht wie bisher. Es wird bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag weiterverhandelt, dann werden wir alle schwarz seinund wissen genau, dass die beiden Seiten auch in120 Jahren keine einvernehmliche Lösung zustandebringen werden.Unser Antrag ist auch schon etwas älter. Wir sagen:zügig verhandeln und Ende 2006 bzw. jetzt Anfang 2007zum Ende kommen. Unser Antrag liegt voll auf der Li-nie von Herrn Ahtisaari. Wir haben ihn schon geschrie-ben, bevor Herr Ahtisaari seine zeitlichen Vorstellungenvorgebracht hat. Wir liegen voll auf seiner Linie. Wirmeinen nämlich, dass weiteres Verhandeln nichts bringt.Die internationale Gemeinschaft hat die Aufgabe, jetztzu entscheiden, damit der Status endlich definiert wirdund wir im Kosovo weiterkommen.
Der Antrag der Grünen fasst vieles Richtige und vie-les Wichtige zusammen.
Aber, sehr verehrte Frau Kollegin, er hat einen Riesen-haken. Es wird nämlich vorgeschlagen, dass wir unmit-telbar mit SAA-Verhandlungen beginnen. Das halte ichangesichts der völlig unklaren Situation im Kosovo imAugenblick für völlig unmöglich, weil wir gar nicht wis-sen, wie es in der nächsten Woche aussieht.
Die Anträge, die uns vorliegen, spiegeln also die ak-tuelle Gefahr nicht wider. Die Gefahr ist nämlich: DerSicherheitsrat findet zu keiner gemeinsamen Resolution,das Kosovo erklärt sich für unabhängig, die USA erken-nen dies an, einige europäische Länder machen mit, an-dere europäische Länder machen nicht mit.
Damit würde ein weiteres Mal bewiesen, dass die Euro-päische Union in außen- und sicherheitspolitischen Fra-gen völlig zerstritten, nicht handlungsfähig ist. Doch dieRegion, über die wir sprechen, ist bedeutsam; denn dasist unsere Region, das ist nicht weit weg, das ist mittenin Europa. So etwas hätte dramatische Folgen.
– Russland könnte ich auch noch erwähnen; ich kann diehalbe Stunde ja ausnutzen, wenn die Präsidentin es er-laubt.
Meine Damen und Herren, ohne Sicherheitsratsreso-lution gibt es auch keine europäische Mission im Ko-sovo; das hat Solana in den letzten Tagen noch einmalsehr deutlich klargemacht. Das heißt, es gibt dann keineAblösung der Resolution 1244, sondern es bleibt beidieser Resolution. Damit sind UNMIK und KFOR ver-pflichtet, bei Verstößen gegen die Resolution 1244 ein-zuschreiten. Das kann zu der absurden Situation führen,dass, wenn das Kosovo sich einseitig für unabhängig er-klärt und die Amerikaner und einige Europäer dies aner-kennen, die Soldaten ebendieser Länder, die den Kosovoanerkennen, also gegen die Resolution 1244 verstoßen,im Auftrage von KFOR und UNMIK gegen die Unab-hängigkeit vorgehen müssten, die kosovarische Regie-rung und vielleicht sogar die Botschafter festnehmenmüssten. Auch wenn ich jetzt ein bisschen übertreibe:Das ist eine kafkaeske Situation, die wir unter allen Um-ständen vermeiden müssen.
Ich frage die Bundesregierung, ob sie die Dramatikder Situation erkannt hat und was sie zu tun gedenkt, da-mit es nicht dazu kommt. Denn tatsächlich hat Russlandin der Kontaktgruppe angedeutet, dass man einer sol-chen UN-Resolution eventuell nicht zustimmen wird.
Metadaten/Kopzeile:
8986 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(C)
(D)
Dr. Rainer StinnerDann wird genau die Situation eintreten, die ich aufge-zeichnet habe. Ich frage, ob die Bundesregierung, auchim Rahmen ihrer EU-Präsidentschaft, die Gefahr er-kennt, die eine europäische Sicherheitspolitik mit sichbringen würde, die das nicht verhindert. So etwas hättedie Spaltung der Europäischen Union zur Folge.Wir alle wissen: Korruption und organisierte Kri-minalität sind im Kosovo ein Riesenproblem. Wir ken-nen viele Studien, auch neuere Studien, die sehr deutlichdarauf hinweisen, dass dieses Problem völlig ungelöstist. Wenn ich mir dann vorstelle, dass es keine internatio-nale Präsenz im Kosovo mehr gäbe, dass der Kosovo ge-zwungen würde, solche Dinge alleine zu regeln, dannwäre das eine Horrorvision. Damit wäre für den Kosovoder Weg nach Europa meines Erachtens versperrt. Wirhaben ihm aber in Thessaloniki die europäische Perspek-tive eröffnet, und an dieser Perspektive wollen wir arbei-ten. Deshalb ist nach meinem Dafürhalten eine europäi-sche Präsenz, eine internationale Präsenz im Kosovounbedingt notwendig. Ich fordere die Bundesregierungauf, alles dafür zu tun, damit das erreicht werden kann.Schönen Dank und einen schönen Abend.
Die Kolleginnen Uta Zapf, Monika Knoche,Marieluise Beck sowie der Kollege ManfredGrund und der Staatsminister Gernot Erler haben ihreReden zu Protokoll geben.1)
Deswegen schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linkemit dem Titel „Kosovo-Verhandlungen – für eine neu-trale Moderation und eine eigenverantwortliche und ein-vernehmliche Lösung zwischen Serbien und den Ko-sovo-Albanern“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/3707, den An-trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3093 ab-zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen derFraktion Die Linke angenommen.Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusseszu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Ko-sovo-Statusverhandlungen noch 2006 zu erfolgreichemAbschluss bringen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 16/3708, den Antrag der Fraktion derFDP auf Drucksache 16/588 abzulehnen. – Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD und der1) Anlage 3CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktionen desBündnisses 90/Die Grünen und der FDP angenommen.Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusseszu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-nen mit dem Titel „Eine europäische Perspektive für dasKosovo“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/3830, den Antrag derFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-sache 16/3520 abzulehnen. – Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmender Grünen und Zustimmung der anderen Fraktionen an-genommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten BrigittePothmer, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNENIndividuell fördern und regional gestalten –Handlungsfreiheit der Arbeitsgemeinschaftenstärken– Drucksache 16/4612 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussDie Redner Karl Schiewerling, Rolf Stöckel, JörgRohde und der Parlamentarische Staatssekretär GerdAndres sowie die Kolleginnen Kornelia Möller undBrigitte Pothmer haben ihre Reden zu Protokoll gege-ben.2)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/4612 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Birgitt Bender, Dr. TheaDückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENEinheitlicher europäischer Zahlungsverkehrs-raum – Einfach, schnell und günstig für Ver-braucherinnen und Verbraucher sowie Unter-nehmen– Drucksache 16/4611 –Die Redner Georg Fahrenschon, Frank Schäffler,Dr. Gerhard Schick sowie die Kolleginnen Nina Hauerund Dr. Barbara Höll haben ihre Reden zu Protokoll ge-geben.3)Wir kommen zum Antrag der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4611 mit2) Anlage 43) Anlage 5
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8987
(C)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastnerdem Titel „Einheitlicher europäischer Zahlungsver-kehrsraum – Einfach, schnell und günstig für Verbrau-cherinnen und Verbraucher sowie Unternehmen“.Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wünschtAbstimmung in der Sache. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung, und zwar feder-führend an den Finanzausschuss und mitberatend an denRechtsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft undTechnologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz sowie an den Ausschussfür die Angelegenheiten der Europäischen Union.Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschuss-überweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich fragedeshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist dieÜberweisung so beschlossen. Damit stimmen wir heutenicht über den Antrag auf Drucksache 16/4611 ab.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Birgitt Bender, Kai Gehring, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNENWeitere Verschlechterung der Rechtssituationvon Homosexuellen in Nigeria verhindern– Drucksache 16/4747 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungDie Redner Hartwig Fischer , FlorianToncar, Michael Leutert, Volker Beck sowie dieKollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin haben ihre Reden zuProtokoll gegeben.1)Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 16/4747 zur federführenden Beratung anden Ausschuss für Menschenrechte und HumanitäreHilfe und zur Mitberatung an den Auswärtigen Aus-schuss sowie an den Ausschuss für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung zu überweisen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 23. März 2007, 9 Uhr,ein.Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen sowieden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Zuschau-ern auf der Tribüne einen schönen Abend.Die Sitzung ist geschlossen.