Protokoll:
16088

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 16

  • date_rangeSitzungsnummer: 88

  • date_rangeDatum: 22. März 2007

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: None Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:18 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 16/88 Tagesordnungspunkt 3: Vereinbarte Debatte: 50. Jahrestag der Rö- mischen Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Neue effiziente Strukturen in der Arbeitsverwaltung – Auflösung der Bundesagentur für Arbeit (Drucksache 16/2684) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Kornelia Möller, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Bezugsdauer des Arbeitslo- sengeldes I verlängern (Drucksache 16/3538) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 8836 B 8836 B 8838 B 8840 C 8842 B 8844 A 8846 A 8848 A 8857 C 8857 D Deutscher B Stenografisc 88. Sit Berlin, Donnerstag, I n h a Wahl der Abgeordneten Renate Blank, Petra Weis, Joachim Günther (Plauen), Heidrun Bluhm und Undine Kurth (Quedlinburg) als Mitglieder in den Stiftungsrat der Bundes- stiftung Baukultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Kerstin Andreae als ordentliches Mitglied in den Beirat der Bun- desnetzagentur für Elektrizität, Gas, Tele- kommunikation, Post und Eisenbahnen . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 8, 12 a und 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glückwünsche zum 80. Geburtstag des ehe- maligen Vizekanzlers und Bundesaußenminis- ters Hans-Dietrich Genscher . . . . . . . . . . . . 8835 A 8835 B 8835 B 8835 D 8836 A Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 8849 A 8851 B undestag her Bericht zung den 22. März 2007 l t : Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Große Anfrage der Abgeordneten Kornelia Möller, Katja Kipping, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Resultate und ge- sellschaftliche Auswirkungen der Ge- setze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt – Hartz-Gesetze –, insbe- sondere von Hartz IV (Drucksachen 16/2211, 16/4210) . . . . . . . 8852 B 8854 C 8855 C 8857 C Tagesordnungspunkt 19: b) Antrag der Abgeordneten Katrin Kune Roland Claus, Katja Kipping, weiter rt, er II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 Abgeordneter und der Fraktion der LIN- KEN: Freigabe der im Bundeshaushalt einbehaltenen Mittel der Arbeitsmarkt- politik für das Jahr 2007 (Drucksache 16/4749) . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) . . . . Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Gerd Andres (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Andrea Nahles (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Andrea Nahles (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gregor Amann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Allgemeinen Eisenbahnge- setzes (Drucksache 16/4198) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Fakultativprotokoll vom 8857 D 8858 A 8859 D 8860 D 8861 D 8863 D 8866 D 8867 C 8868 B 8868 D 8869 C 8870 A 8871 D 8872 B 8873 D 8874 D 8875 A 8875 B 8877 C 8877 D 8878 B 8879 B 8880 B 8881 D 8883 A 8883 D 8884 A 8885 D 8. Dezember 2005 zum Übereinkommen über die Sicherheit von Personal der Vereinten Nationen und beigeordnetem Personal (Drucksache 16/4381) . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Absatzfondsge- setzes und des Holzabsatzfondsgesetzes (Drucksache 16/4692) . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundes- grenzschutzgesetzes (Drucksache 16/4665) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Angelika Brunkhorst, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Schutz und Nutzung der Meere – Für eine integrierte mari- time Politik (Drucksache 16/4418) . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Rechtssicherheit schaffen – Musterwiderrufsbelehrung für Verbraucherverträge überarbeiten (Drucksache 16/4452) . . . . . . . . . . . . . . . g) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Nationales Klimaschutzprogramm Sechster Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe „CO2-Reduktion“ (Drucksache 15/5931) . . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Kai Gehring, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Lebenslanges Lernen fördern (Drucksache 16/4748) . . . . . . . . . . . . . . . i) Antrag der Abgeordneten Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Wett- bewerbsnachteile der deutschen Land- wirtschaft durch EU-weite Angleichung der Besteuerung von Agrardiesel ab- bauen (Drucksache 16/4186) . . . . . . . . . . . . . . . j) Antrag der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Fischarten- schutz fördern – vordringliche Maß- nahmen für ein Kormoranmanagement (Drucksache 16/3098) . . . . . . . . . . . . . . . 8885 D 8885 D 8886 A 8886 A 8886 A 8886 B 8886 B 8886 C 8886 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 III Tagesordnungspunkt 12: b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Wirt- schaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2007 (ERP-Wirtschafts- plangesetz 2007) (Drucksache 16/4376) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- ten Gesetzes zur Änderung des Fahr- personalgesetzes (Drucksache 16/4691) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Chancen für Frauen auf dem Ausbil- dungs- und Arbeitsmarkt verbessern (Drucksache 16/4737) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie – zu der Verordnung der Bundesregie- rung: Siebenundsiebzigste Verord- nung zur Änderung der Außenwirt- schaftsverordnung – zu der Verordnung der Bundesregie- rung: Einhundertvierundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Ein- fuhrliste – Anlage zum Außenwirt- schaftsgesetz – (Drucksachen 16/4106, 16/4248 Nr. 2.1, 16/4107, 16/4248 Nr. 2.2, 16/4598) . . . . . b) – f) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 190, 191, 192, 193 und 194 zu Petitionen (Drucksachen 16/4565, 16/4566, 16/4567, 16/4568, 16/4569) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zu- stand der Deutschen Bahn AG vor dem Börsengang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8886 D 8886 D 8886 D 8887 A 8887 B 8887 D 8887 D 8889 A Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) . . . . . . . . . Achim Großmann, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . Enak Ferlemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Königshofen (CDU/CSU) . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) . . . . . . Martin Burkert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaas Hübner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht (Drucksachen 16/1993, 16/4740) . . . . . . . . . . Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Stünker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Künst- lersozialversicherungsgesetzes und anderer Gesetze (Drucksachen 16/4373, 16/4419, 16/4648) . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8890 B 8891 C 8893 B 8894 B 8895 A 8896 B 8897 C 8898 C 8899 D 8901 A 8902 B 8903 C 8903 D 8905 A 8906 C 8907 C 8908 D 8909 C 8910 C 8911 B 8912 B 8913 B 8914 D 8915 A 8917 A 8918 B 8920 A 8921 A IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 Tagesordnungspunkt 7: Große Anfrage der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Humanitäre Katastrophe in Darfur (Drucksachen 16/3526, 16/4616) . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brunhilde Irber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norman Paech (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Abgeordneten Antje Blumenthal, Thomas Bareiß, Thomas Dörflinger, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Ingrid Arndt- Brauer, Clemens Bollen, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Gesundes Aufwachsen ermöglichen – Kinder besser schützen – Risikofami- lien helfen (Drucksache 16/4604) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Miriam Gruß, Ina Lenke, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Schutz und Chancen für die Kinder in Deutschland (Drucksache 16/4415) . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Landgraf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Sprache schafft Identität und ist Schlüssel zur Integration (Drucksache 16/2092) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8922 B 8922 C 8923 C 8924 C 8925 C 8926 D 8927 D 8928 D 8929 A 8929 B 8930 C 8931 C 8932 C 8933 C 8934 C 8935 C 8935 D 8937 B Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Michael Bürsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Unterrichtung durch die Bundesregierung: 11. Sportbericht der Bundesregierung (Drucksache 16/3750) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlef Parr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus erstellen (Drucksache 16/4201) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- ordneten Annette Faße, Reinhold Hemker, 8939 B 8939 D 8941 A 8942 D 8943 C 8943 D 8945 B 8946 C 8947 C 8948 C 8949 C 8950 A 8950 C 8952 A 8952 C 8952 C 8952 D 8954 A 8955 B 8956 A 8957 A 8958 A 8958 D 8960 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 V Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Zukunfts- trends und Qualitätsanforderungen im internationalen Ferntourismus (Drucksache 16/4603) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Ute Koczy, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Tourismus zur Armutsbekämpfung und zur sozialen und ökologischen Entwick- lung in den Partnerländern nutzen (Drucksache 16/4181) . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Groneberg (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhold Hemker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Große Anfrage der Abgeordneten Ekin Deligöz, Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Rück- nahme der Vorbehalte zur UN-Kinder- rechtskonvention (Drucksache 16/4205) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Miriam Gruß, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Rücknahme der Vorbehaltserklärung der Bundesrepublik Deutschland zur Kinder- rechtskonvention der Vereinten Nationen (Drucksache 16/4735) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 8960 D 8961 A 8961 B 8963 A 8964 B 8965 A 8966 A 8967 A 8967 D 8968 A 8968 A 8969 A 8970 C 8971 B 8972 B 8973 A 8973 D Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer Gesetze (Drucksache 16/4663) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Diller, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Stünker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitge- stalten – Subsidiarität sichern, Verhältnis- mäßigkeit wahren (Drucksache 16/4736) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) . . . . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Kosovo-Verhandlungen – für eine neutrale Moderation und eine eigenverantwortliche und einvernehm- liche Lösung zwischen Serbien und den Kosovo-Albanern (Drucksachen 16/3093, 16/3707) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Kosovo-Statusverhandlungen noch 2006 zu erfolgreichem Abschluss bringen (Drucksachen 16/588, 16/3708) . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck (Bre- men), Rainder Steenblock, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der 8974 D 8974 D 8975 D 8976 D 8977 D 8978 B 8978 C 8979 C 8981 A 8981 D 8983 C 8984 C 8984 D VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Eine europäische Perspektive für das Kosovo (Drucksachen 16/3520, 16/3830) . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: a) Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN : Indi- viduell fördern und regional gestalten – Handlungsfreiheit der Arbeitsgemein- schaften stärken (Drucksache 16/4612) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Birgitt Bender, Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Einheitlicher europäischer Zahlungsverkehrsraum – Ein- fach, schnell und günstig für Verbrauche- rinnen und Verbraucher sowie Unterneh- men (Drucksache 16/4611) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, Kai Gehring, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN: Weitere Verschlech- terung der Rechtssituation von Homosexu- ellen in Nigeria verhindern (Drucksache 16/4747) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 18) Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 8984 D 8985 A 8986 C 8986 D 8987 A 8987 C 8989 A 8989 B 8990 C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Ko- sovo-Verhandlungen – für eine neutrale Moderation und eine eigenverantwortliche und einvernehmliche Lösung zwischen Serbien und den Kosovo-Albanern – Beschlussempfehlung und Bericht: Ko- sovo-Statusverhandlungen noch 2006 zu erfolgreichem Abschluss bringen – Beschlussempfehlung und Bericht: Eine europäische Perspektive für das Kosovo (Tagesordnungspunkt 17 a bis c) Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gernot Erler, Staatsminister AA . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Individuell fördern und regional ge- stalten – Handlungsfreiheit der Arbeitsgemein- schaften stärken (Tagesordnungspunkt 19 a) Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Rolf Stöckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Einheitlicher europäischer Zah- lungsverkehrsraum – Einfach, schnell und güns- tig für Verbraucherinnen und Verbraucher so- wie Unternehmen (Tagesordnungspunkt 20) Georg Fahrenschon (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Nina Hauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8991 B 8992 B 8993 C 8994 C 8995 B 8996 C 8997 C 8998 A 8999 A 9000 A 9000 C 9001 A 9002 A 9002 C 9003 B 9004 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 VII Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Weitere Verschlechterung der Rechtssituation von Homosexuellen in Nige- ria verhindern (Tagesordnungspunkt 21) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) . . . . . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9005 A 9006 A 9006 C 9007 C 9008 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8835 (A) (C) (B) (D) 88. Sit Berlin, Donnerstag, Beginn: 9
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    1) Anlage 6 (B) (D) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8989 (A) (C) (B) (D) beendet. Mitte Dezember 2005 haben wir, kurz nach der Bundestagswahl und wegen des drohenden Endes zukommen müssen, die sichern, dass die Kommuni- kationsinhalte des höchstpersönlichen Bereichs nicht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 18) Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ CSU): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Ände- rung des Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer Ge- setze wird ein verfassungsrechtlicher Schwebezustand Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bismarck, Carl Eduard von CDU/CSU 22.03.2007 Dr. Bunge, Martina DIE LINKE 22.03.2007 Ernst, Klaus DIE LINKE 22.03.2007 Friedhoff, Paul K. FDP 22.03.2007 Gabriel, Sigmar SPD 22.03.2007 Heilmann, Lutz DIE LINKE 22.03.2007 Hilsberg, Stephan SPD 22.03.2007 Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 22.03.2007 Lehn, Waltraud SPD 22.03.2007 Lopez, Helga SPD 22.03.2007 Merten, Ulrike SPD 22.03.2007 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22.03.2007 Dr. Paziorek, Peter CDU/CSU 22.03.2007 Dr. Reimann, Carola SPD 22.03.2007 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22.03.2007 Runde, Ortwin SPD 22.03.2007 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 22.03.2007 Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 22.03.2007 Anlagen zum Stenografischen Bericht der Befristung, eine Verlängerung des Zollfahndungs- dienstgesetzes um 18 Monate beschlossen, die ange- sichts der hohen Rechtsgüter, um die es in diesem Be- reich geht – wichtige sicherheitspolitische Interessen und die Abwendung von außenpolitischem Schaden durch illegale Ausfuhren von Rüstungsgütern –, verant- wortungsvoll war. Eine Regelungslücke wäre ange- sichts der Gefahren, die durch die mögliche Verbrei- tung von Massenvernichtungswaffen und des Exports von Rüstungsgüter in Kriegs- und Krisengebiete dro- hen, nicht zu akzeptieren gewesen. Die damit gewonnene Zeit wurde von der Bundesre- gierung genutzt, um einen unter den beteiligten Ressorts abgestimmten und ausgewogenen Entwurf vorzulegen, mit dem die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Schutz des Kernbereichs der privaten Lebensgestal- tung umgesetzt werden und gleichzeitig ein effektives Arbeiten der Zollbehörden auch in Zukunft gewährleis- tet wird. Konkreter Anlass für die hier zu diskutierenden Ge- setzesänderungen war das Urteil des Bundesverfas- sungsgerichts vom 27. Juli 2005 zum Niedersächsischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Die damalige landesrechtliche Regelung zur präventiven Te- lekommunikationsüberwachung war, so befand das Bun- desverfassungsgericht, wegen fehlender Erfüllung ver- fassungsrechtlicher Vorgaben mit dem Grundgesetz unvereinbar und daher nichtig. Ausdrücklich machten die Verfassungsrichter in ihrer Entscheidung deutlich, dass auch im Bereich des von Art. 10 Abs. 1 Grundgesetz geschützten Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses Vorkehrungen zum Schutz individueller Entfaltung im Kernbereich privater Le- bensgestaltung erforderlich sind. Dies liegt auf einer Linie mit dem Beschluss des Ers- ten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 zum Außenwirtschaftsgesetz. Darin haben die Karlsruher Richter deutlich gemacht, dass der Gesetzge- ber bei einer Neuregelung im Außenwirtschaftsrecht die Grundsätze zu beachten hat, die das Bundesverfassungs- gericht in seinem Urteil vom gleichen Tag zur akusti- schen Wohnraumüberwachung niedergelegt hat. Darin wurde die Bedeutung des absolut geschützten Kernbe- reichs privater Lebensgestaltung hervorgehoben. Ausdrücklich heißt es dann in der Entscheidung vom 27. Juli 2005: Bestehen im konkreten Fall tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme, dass eine Telekommu- nikationsüberwachung Inhalte erfasst, die zu diesem Kernbereich zählen, ist sie nicht zu rechtfertigen und muss unterbleiben. Weiter heißt es für den in der Praxis nicht zu verhindernden Fall, dass bei einer Telekommu- nikationsüberwachung doch der Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst wird, dass Vorkehrungen hin- 8990 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 (A) (C) (B) (D) gespeichert und verwertet werden dürfen, sondern un- verzüglich gelöscht werden. Damit sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben deut- lich. Wer den Gesetzentwurf mit dem Urteil des Bundes- verfassungsgerichts vor Augen liest, sieht, wie in der zentralen Vorschrift des Gesetzentwurfs, dem § 23 a des Zollfahndungsdienstgesetzes, diesen Vorgaben Rech- nung getragen wird. So wird in § 23 a Abs. 4 a Satz 1 Zollfahndungsdienstgesetz ein ausdrückliches Erhe- bungsverbot von Kommunikationsinhalten normiert, die allein aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung stammen würden. Mit dieser Beschränkung des Erhe- bungsverbots auf Fallgestaltungen, in denen die Pro- gnose ergibt, dass allein Erkenntnisse aus dem Kernbe- reich privater Lebensgestaltung anfallen werden, bleibt weiterhin eine effektive Durchführung von Telekommu- nikationsüberwachungsmaßnahmen durch das Zollkri- minalamt möglich, um so schwere Straftaten zu verhin- dern. Wurden ausnahmsweise dennoch solche Daten erho- ben – was in der Praxis regelmäßig nicht auszuschließen ist –, folgt daraus in Satz 2 ein absolutes Verwertungs- verbot. Zudem sind sie unter Aufsicht eines Bedienste- ten, der die Befähigung zum Richteramt hat, unverzüg- lich zu löschen, was zu dokumentieren ist. Wer nun wie Bündnis 90/Die Grünen darauf hinwei- sen wird, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung vom 3. März 2004 auf die Telefonüberwachung auszudehnen ist, sei auf eine gründliche Lektüre des Urteils des Bundesver- fassungsgerichts vom 27. Juli 2005 verwiesen. Darin nimmt das Verfassungsgericht eine am Wortlaut und Sinn und Zweck der Art. 10 und 13 Grundgesetz orien- tierte Differenzierung der verschiedenen Eingriffe vor. So führt das Gericht aus, dass bei Eingriffen in den durch Art. 10 Grundgesetz geschützten Telekommunika- tionsvorgang geringere Anforderungen zu stellen sind, als dies bei Eingriffen in den Schutzbereich von Art. 13 Grundgesetz der Fall ist, der dem Bürger als letztes Re- fugium die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert. Insofern lässt sich die abgestufte Regelung gegenüber § 100 c StPO rechtfertigen. Der Gesetzentwurf sieht weitere Rechtsänderungen vor, mit denen verfassungsgerichtliche Entscheidungen umgesetzt werden, Klarstellungen erreicht werden und auch eine Stärkung der Position zeugnisverweigerungs- berechtigter Berufsgeheimnisträger wie Seelsorger, Ver- teidiger und Abgeordnete verfolgt wird. Darüber hinaus werden innerstaatliche Regelungen zur Überwachung des grenzüberschreitenden Bargeldverkehrs an eine am 15. Dezember 2005 in Kraft getretene EU-Verordnung, die ab Mitte Juni 2007 Anwendung findet, angepasst. Im Rechtsausschuss werden wir den Gesetzentwurf fachkundig beraten. Angesichts der hohen Rechtsgüter, um die es im vorliegenden Gesetzentwurf geht – Schutz der Bürgerrechte einerseits und die Gewährleistung einer möglichst effektiven Arbeit des Zollkriminalamts zur Verhinderung illegaler Rüstungsexporte andererseits – ist eine fundierte parlamentarische Beratung notwendig. Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Für diesen Ge- setzentwurf kann es keinen Beifall geben, und das ob- wohl er einiges regelt, das durchaus zu begrüßen ist. Ich will Ihnen diesen scheinbaren Widerspruch gerne erläu- tern: Stellen Sie sich vor, Sie hätten zum Ende der 15. Wahlperiode irgendwo in Berlin eine Dachmansarde angemietet. Schöner Blick. Ruhige Lage. Nette Nach- barn. Als aber der erste Regen über die Stadt kam, er- fasst Sie echtes Ungemach. Denn Sie bemerken, es reg- net durch das Dach, und nicht zu knapp. Sofort mahnen Sie ihren Vermieter, das Dach zu schließen – und das bitte eilig. Der aber bleibt tatenlos. Er unternimmt nichts im Jahre 2005. Auch im Jahre 2006 geschieht nichts. Sie ärgern sich und hören es trop- fen. Erst im Frühjahr 2007 bequemt man sich und schickt die Handwerker. Würden Sie in diesem Falle Beifall spenden? Sicher nicht. Aller Wahrscheinlichkeit sind Sie längst fortgezogen. Aus einer Wohnung kann man ausziehen. Aus der eigenen Heimat jedoch nur schwer. Seit April 2005 lebten die Menschen dieses Landes unter einem undichten Staatsdach. Denn Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, haben es seit dem Beginn dieser Wahlperiode nicht vermocht, das Zollfahndungsdienst- gesetz verfassungsdicht zu bekommen. Die Menschen dieses Landes lebten daher in einer Rechtslage, die die Zollfahndung zu unzulässigen Ein- griffen in den Kernbereich der privaten Lebensgestal- tung ermächtigte, in einer Rechtslage, die ich Ihnen ge- nau von dieser Stelle am 15. Dezember 2005 in aller Breite schon einmal darlegte, in einer Rechtslage, deren Verfassungswidrigkeit Ihnen vor allem aufgrund der Ent- scheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 27. Juli 2005 zweifelsfrei und hinlänglich bekannt war, in einer verfassungswidrigen Rechtslage, die Sie am 15. Dezem- ber 2005 weiter aufrecht hielten, als Sie das alte Gesetz ungerührt bis zum 30. Juni 2007 in die Verlängerung schickten. Es ist die vornehmste Aufgabe des Staates, insbeson- dere die der Legislative, die Grundrechte der Bürgerin- nen und Bürger zu achten und zu schützen. Diese Aufgabe war zur Problematik überschaubar und leicht. Man kannte den Standort des Loches im Rechtsstaat. Man hatte eine präzise Bauanleitung zur Behebung des Mangels vom Bundesverfassungsgericht erhalten. Es herrschte auch kein Mangel an Baumaterial, denn kon- struktive Hinweise und gut begründete Mahnungen gab es reichlich. Doch erst am 16. Februar 2007 kamen die Handwerker aus dem Justizministerium vorbei, um zu erklären, das lecke Staatsdach jetzt endlich flicken zu wollen. Die Entwurfsbegründung liest sich wie ein spätes Eingeständnis verfassungsrechtlicher Versäumnisse. Es brauchte also ein Jahr und drei Monate und genau acht- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8991 (A) (C) (B) (D) zig Sitzungen des Deutschen Bundestages bis zur heuti- gen Beratung dieses Entwurfes. Man weiß nicht, ob man Tränen lachen oder weinen soll, wenn man den Bearbeitungsvermerk zum Entwurf der Bundesregierung liest: „Besonders eilbedürftig“ lau- tet der Hinweis für die parlamentarische Befassung. Nie gab es eine besondere Eilbedürftigkeit, die so besonders lange angedauert hätte. Was würde wohl geschehen, wenn sich Rettungssani- täter, Feuerwehrmänner oder Polizisten Ihr Verständnis von besonderer Eilbedürftigkeit zu eigen machten? Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Kosovo- Verhandlungen – für eine neutrale Modera- tion und eine eigenverantwortliche und ein- vernehmliche Lösung zwischen Serbien und den Kosovo-Albanern – Beschlussempfehlung und Bericht: Kosovo- Statusverhandlungen noch 2006 zu erfolgrei- chem Abschluss bringen – Beschlussempfehlung und Bericht: Eine eu- ropäische Perspektive für das Kosovo (Tagesordnungspunkt 17 a bis c) Manfred Grund (CDU/CSU): Die vom UN-Sonder- gesandten Martti Athisaari geleiteten serbisch-albani- schen Gespräche über den künftigen Status des Kosovo sind vor kurzem in Wien ohne Einigung zu Ende gegan- gen. Athisaari sagte nach dem Scheitern der Gespräche, dass die Positionen der beiden Seiten keinerlei Gemein- samkeiten enthalten. Die serbische Delegation mit Präsident Boris Tadic, Regierungschef Vojislav Kostunica und Außenminister Vuk Draskovic lehnte Athisaaris Entwurf mit der Be- gründung ab, er laufe auf die Unabhängigkeit der formal noch zu Serbien gehörenden Provinz hinaus. Die Kosovo-Albaner unter Präsident Fatmir Sejdiu und Regierungschef Agim Ceku sprachen von einem schmerzhaften Kompromiss, der jedoch die Unabhän- gigkeit des Kosovo bringen werde. Der Streit um die Zukunft der Region geht jetzt vor den UN-Sicherheitsrat. Es ist unwahrscheinlich, dass bi- laterale oder neue Verhandlungen irgendeinen Ausweg aus der Sackgasse eröffnen, für einen Kompromiss gibt es nicht das geringste Anzeichen. Dabei folgt Athisaaris Vorschlag einer Erkenntnis aus dem Zerfallsprozess Jugoslawiens: Was nicht zusam- mengehört, fällt auseinander und ist auch nicht durch in- ternationalen Druck zusammenzuhalten. Das Kosovo ist faktisch seit acht Jahren nicht mehr unter serbischer Kontrolle. 1999 marschierte die NATO ein. Das Kosovo bekam den Status eines autonomen Territoriums und steht seither unter UN-Verwaltung. Der Vorschlag Athisaaris zeigt klare Tendenzen hin zur Unabhängigkeit der früher serbischen Albanerpro- vinz, einer Unabhängigkeit, die von der Europäischen Union überwacht werden soll. Für Athisaari gab es klare Vorgaben. Gemäß einer Richtlinie der Kosovokontaktgruppe, der neben den USA und vier westeuropäische Staaten auch Russland angehört, sollte das Ergebnis für die Bevölkerung des Kosovo annehmbar sein; sie besteht zu 90 Prozent aus Albanern. Die Kosovo-Albaner verlangen die Unabhän- gigkeit des Kosovo, die serbische Seite bietet lediglich eine weitreichende Autonomie an. Doch nicht nur in Serbien stößt der Athisaari-Vor- schlag auf Ablehnung. Aus russischen Diplomatenkrei- sen ist seit Monaten zu hören, dass nur ein von Serbien akzeptierter Vorschlag den UN-Sicherheitsrat passieren wird. Zudem wird darauf hingewiesen, dass die Koso- vofrage nur anhand allgemein gültiger Prinzipien ent- schieden werden dürfe. Mit anderen Worten: Wer die Unabhängigkeit des Kosovo zulässt, muss dies auch für Transnistrien gelten lassen oder auch für die anderen „eingefrorenen“ Konflikte im Kaukasus. Die Verfechter der Unabhängigkeit des Kosovo halten dem entgegen, dass das Kosovo ein Sonderfall sei. Doch warum dies so sein soll, konnte bislang nicht überzeu- gend dargelegt werden. Die Unabhängigkeit des Kosovo könnte zur Rutschbahn werden. So denkt Spanien sofort an das Baskenland und Katalonien, Rumänien an Sie- benbürgen, und auch in Bosnien-Herzegowina dürfte das Kosovo ein besonderes Augenmerk erfahren. Eine Aufwertung des Status des Kosovo wird auch Konsequenzen auf die von Albanern bewohnten Gebiete der Region haben. Es gibt Vorstellungen, die historische Zerstückelung der albanischen Nation rückgängig zu machen. Niemand weiß, wie groß die Anziehungskraft eines unabhängigen Kosovo auf die Albaner Mazedo- niens ist; diese stellen im Nachbarland 25 Prozent der Einwohner. Man muss nicht alle Befürchtungen teilen, so bleibt doch die Frage, wie ein Gebilde, herausgeschnitten aus dem Territorium Serbiens, lebensfähig, überlebensfähig sein kann. Unabhängigkeit hin oder her, das Kosovo war in Jugoslawien ohne Finanzhilfe aus Belgrad nicht le- bensfähig und hängt seit nunmehr acht Jahren am inter- nationalen Tropf. Etwa zwei Drittel der rund 2 Millionen Einwohner Kosovos sind von Erträgen aus der Landwirtschaft ab- hängig. Laut offiziellen Angaben sind 44 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter ohne geregelte Be- schäftigung, bei den Jugendlichen sind es 70 Prozent. Es fehlte und fehlt an Arbeit. Die Folge waren Emigration, Arbeitsaufnahme im Ausland und in Serbien. Rücküber- weisungen von Emigranten betrugen im vergangen Jahr rund 375 Millionen Euro und machten damit nahezu 20 Prozent des Provinzetats aus. 8992 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 (A) (C) (B) (D) Das Kosovo ist die ärmste Region Europas und die mit der höchsten Arbeitslosigkeit. Internationale Organi- sationen klagen über Korruption, Mafiastrukturen, ille- gale Geschäfte. Von ziviler Normalität kann keine Rede sein. Das sind alles Dinge, mit denen kein Staat gemacht werden sollte. Und doch gibt es zum Athisaari-Vorschlag keine Al- ternative oder eine, die nicht wünschenswert ist: die ein- seitige Unabhängigkeitserklärung mit anschließend be- ginnendem diplomatischen Anerkennungswettlauf. Denn dann würden die jetzt mit den Kosovoverantwort- lichen ausgehandelten Schutz- und Autonomierechte für die im Nordkosovo wohnenden Serben kaum Realität werden und der Vertreibungsdruck wachsen. Eine Ab- trennung des Nordkosovo könnte folgen. Die Entwick- lung würde aus jeder Kontrolle gleiten. Der Athisaari-Vorschlag hat ein multiethnisches und demokratisches Kosovo zum Ziel. Wenn man ausweis- lich der Erfahrungen im zerfallenen Jugoslawien mit derlei Zielen vorsichtig sein sollte – und eine fortge- setzte zivile und militärische Präsenz der internationalen Gemeinschaft voraussetzt –, mehr Sicherheit als durch diesen Vorschlag kann der Kosovo-serbischen Minder- heit bei weitgehender lokaler Selbstverwaltung nicht ge- boten werden. Es sei zum Abschluss an die Leitprinzipien der Kon- taktgruppe, einschließlich Russlands, erinnert: Kein Zu- rück zur Situation vor 1999, keine Teilung Kosovos und auch keine Vereinigung mit Albanien. Und die Lösung muss so sein, dass die Menschen im Kosovo Ja sagen können. Insbesondere für die EU stellt sich die Frage, ob die Konflikte in und um das Kosovo mit ökonomischen Lockmitteln dauerhaft entschärft werden können. Im Kosovo erhofft sich ein Heer junger Arbeitsloser, dass sich mit der Unabhängigkeit der wirtschaftliche Auf- schwung einstellt. Zukunftsvisionen gaukeln ein Kosovo als Energie- und Rohstofflieferant vor. Nichts aber ist in einem Nachkriegsgebiet gefährlicher als die enttäusch- ten Hoffnungen auf eine Wende. Auf absehbare Zeit bleibt das Kosovo ein wirtschaftliches Notstandsgebiet. Wenn die EU zu Athisaaris Vorschlag Ja sagt, muss in der Konsequenz ein Arbeitsabkommen für die Beschäfti- gungssuche der Kosovaren im europäischen Ausland folgen und ein konkreter Zeitrahmen für die Annäherung an die EU. Gleiches gilt auch für Serbien. Wer dauerhaft Frieden und Stabilität auf dem Balkan will, kann sich eine Aufnahmemüdigkeit nicht leisten. Allerdings muss man sich über eine derart verursachte Erweiterungsrunde auch nicht besonders freuen. Pro Einwohner gerechnet hat die internationale Staa- tengemeinschaft bereits jetzt im Kosovo 25-mal so viel Geld investiert und 50-mal so viel Truppen entsandt wie im Fall Afghanistan. Das zeigt, wie viel im Kosovo auf dem Spiel steht und was in Afghanistan noch notwendig wird. Uta Zapf (SPD): In diesem hohen Hause herrscht über fast alle Fraktionen hinweg in Bezug auf die Lö- sung des Kosovo-Problems die – fast – einhellige Mei- nung: Die Lösung muss möglichst schnell erfolgen, wei- teres Verschieben über einen längeren Zeitraum ist gefährlich, die Lösung muss durch Sicherheitsratsbe- schluss erfolgen und den von der Kontaktgruppe festge- legten drei Neins genügen: erstens keine Rückkehr zum Status vor 1999, zweitens keine Teilung des Kosovo und drittens kein Anschluss an ein anderes Land. Der Vorschlag von Martti Ahtisaari ist ein kluger Vor- schlag. Das Verhandlungspotenzial ist nach 14 Monaten erschöpft. Nach 17 Verhandlungsrunden konnte keine Einigung zwischen den Kosovaren und Serben erzielt werden. Der Vorschlag liegt jetzt beim Sicherheitsrat. Dieser muss entscheiden. Am 3. April wird der Sicherheitsrat sich mit dem Vorschlag befassen. Der Vorschlag Russ- lands, den Verhandlungsprozess erneut aufzunehmen, womöglich mit einem neuen Sonderbeauftragten, ist nicht akzeptabel. Warum ist dies nicht akzeptabel? Eine neue Verhand- lungsrunde wird kein neues Ergebnis bringen. Serbien wird und kann den Vorschlag der Abtrennung Kosovos vom serbischen Territorium nicht annehmen. Keine ser- bische Regierung könnte dies, es sei denn, sie wollte Selbstmord begehen. Der Vorschlag Ahtisaaris enthält weitgehende Rechte für die im Kosovo lebenden Serben und andere Minderheiten und darüber hinaus Möglich- keiten für Serbien, die Serben im Kosovo weitgehend zu unterstützen: im Bildungsbereich und im Gesundheits- bereich etwa. In der Verfassung sollen die parlamenta- rischen Rechte der nichtalbanischen Bevölkerung in hohem Maße geschützt werden, indem sie durch die so- genannte doppelte Mehrheit bei der Gesetzgebung bei einigen Gesetzen ein Quasivetorecht bekommen. Eine angemessene Vertretung der Volksgruppen in wichtigen öffentlichen Einrichtungen ist gewährleistet, ebenso der Schutz des kulturellen und religiösen Erbes. Dennoch gibt es keine Chance der Zustimmung der Serben. Die Kosovaren haben den Vorschlag Ahtisaaris ak- zeptiert, aber ganz sicher nicht mit Freude. Wer kürzlich wie einige von uns die Gelegenheit hatte, die Delegation des kosovarischen Parlaments unter Leitung des Parla- mentspräsidenten Berisha zu treffen, hat deutlich sehen können, dass dies ein fast unverdaulicher Brocken ist, der nicht recht den Hals hinunter will. Die Botschaft ist glasklar: Es kommt nichts anderes als Unabhängigkeit infrage, sonst gilt auch der Vorschlag Ahtisaaris für uns nicht mehr! Was dies bedeutet, wissen wir: Kosovo wird einseitig seine Unabhängigkeit erklären. Was dann? Was ist mit der internationalen Präsenz? Was mit KFOR? Werden einige Staaten, zum Beispiel die USA, Kosovo anerken- nen? Unruhen sind nicht ausgeschlossen, die latente Dro- hung ist spürbar. Uns allen ist noch der März 2004 in schlechter Erinnerung. Einzelne militante Gruppen, die schon jetzt für Beunruhigung sorgen, könnten Zulauf finden; Waffen sind ja noch genug vorhanden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8993 (A) (C) (B) (D) Die geplante Lösung der „überwachten und einge- schränkten Souveränität“ darf nicht aufs Spiel gesetzt werden, weil sonst eine gewünschte Umsetzung der Standards auf dem Spiel steht. Wer mit dem „Plan B“ rechnet, spielt mit dem Feuer. Wir alle wissen, wie notwendig eine schnelle Lösung der Statusfrage für die gesamte Region ist. Wir alle wis- sen, dass ohne Einsetzung eines internationalen Len- kungsausschusses, ohne internationalen zivilen Reprä- sentanten mit weitgehenden Eingriffsbefugnissen die Standardimplementierung und das Heranführen Kosovos an europäische Standards unmöglich ist. Dies ist im Übrigen eine gigantische Aufgabe für Eu- ropa. Die ESVP-Rechtsstaatsmission überwacht, betreut und berät in allen Fragen der Rechtsstaatlichkeit; so ist es geplant und darauf bereitet sich Europa vor. Der internationale zivile Repräsentant soll Befugnisse erhalten, auch Beschlüsse und Gesetze der kosovari- schen Behörden außer Kraft zu setzen und Amtsträger, deren Verhalten dem Wortlaut und Geist der Statuslö- sung zuwiderläuft, abzusetzen. Dass wir auf die interna- tionale Sicherheitspräsenz noch lange nicht verzichten können, ist klar. Der Sicherheitsrat muss entscheiden und den Ahtisaari-Plan in Kraft setzen. Russland, das bisher in der Kontaktgruppe alle Be- schlüsse mitgetragen hat – auch die drei Neins – mag sich enthalten. Jedenfalls haben wir das bisher gehofft. Die Bedingung, nur bei Zustimmung der Serben Ja zum Ahtisaari-Plan zu sagen, ist unhaltbar und gefährlich. Aber es geht auch nicht an, dass wir Serbien vor den Kopf stoßen. Serbien und seine zukünftige Entwicklung in Richtung demokratischer Reformen sind zu wichtig für die ganze Region. Die Serben fühlen sich gedemütigt und ausgegrenzt. Was tun wir, was tut die internationale Gemeinschaft, was tut Europa, um ein Signal zu geben? Ein Signal, das lautet: Ihr gehört zu uns, zu Europa, ihr seid willkommen in der europäischen Familie. Dieses Signal ist bitter nötig und sollte schnell kom- men. Das Angebot der NATO, an der Partnerschaft für den Frieden teilzunehmen, ist nicht ausreichend. Wir haben ja die Signale von Kostunica und Tadic, dass sie eine Regierung bilden wollen und dass diese Regierung die Kooperation mit dem Internationalen Strafgerichts- hof in Den Haag als oberste Priorität setzen wird und dass die Reform des Sicherheitsapparates Priorität haben soll. Warum gibt Europa nicht seinerseits ein Signal und sagt jetzt die Aufnahme der Verhandlungen zum Stabili- täts- und Assoziationsabkommen zu? Dieses Signal könnte die Wunden nicht heilen, aber doch schließen. Dieses Signal könnte die Bildung einer stabilen Regie- rung in Serbien fördern. Dies ist in unserem und Europas Interesse. Drängen wir Kostunica und Tadic zu der mög- lichen Regierungsbildung mit Kostunica als Premier und Tadic als Präsidenten, dann haben wir die Chance einer stabilen Regierung als Partner im Reformprozess. Und warum geben wir nicht den jungen Menschen, den Schülern und Studenten, den Wissenschaftlern und Künstlern die Chance, Europa mit eigenen Augen zu sehen und kennenzulernen, indem wir das Visaregime lockern? Wer sich eingesperrt, isoliert, Chancen- und perspek- tivlos fühlt, wird kein Vertrauen in Demokratie und europäische Werte fassen. Strecken wir den Serben be- herzt die europäische Hand entgegen, dann werden die radikalen und nationalistischen alten Kräfte ihre Anzie- hungskraft verlieren. Monika Knoche (DIE LINKE): Die Statusverhand- lungen über den Kosovo sind gescheitert. Der UN-Gene- ralsekretär Ahtisaari ging mit einem Plan in die Verhand- lungen, der sich inhaltlich nicht mit der UN-Resolution 1244 deckt. Die in seinem Plan gemachte Vorgabe nach einer eigenen Verfassung, Nationalhymne und Flagge für das Kosovo stellt für sich genommen noch nicht eine rechtliche Grundlage für eine Unabhängigkeit dar. Aber die Maßgabe, dass das Kosovo internationalen Organisa- tionen, also auch der UN, beitreten könne, das Kosovo über eigene militärische Strukturen verfügen solle, be- deutet neben zum Beispiel der existierenden Euro-Wäh- rung, de facto die Voraussetzungen für eine Unabhängig- keitserklärung zu schaffen. Vollkommen nachvollziehbar ist daher, dass Serbien dem Vorhaben, ein unabhängiges Kosovo unter EU-Pro- tektorat zu stellen, eine Absage erteilt. Die Tatsache, dass die politische Führung in Pristina eine solch einsei- tige Parteinahme Ahtisaaris für das Ziel, eine staatliche Unabhängigkeit zu erlangen, prinzipiell begrüßt, aber als noch nicht weit genug gehend erachtet, kann im Ergeb- nis nicht gegen die serbische Position ins Feld geführt werden. Denn schließlich ist nach der UN-Resolution 1244 der Status des Kosovo als autonomer, aber integra- ler Bestandteil Restjugoslawiens bzw. seines internatio- nal anerkannten Rechtsnachfolgers Serbiens, festgelegt. Was hat sich seit 1999 entwickelt? An den zentralen Aufgaben, die durch Resolution 1244 definiert wurden, wie zum Beispiel diskriminierungsfreie Rückführung der Flüchtlinge, der Schutz der ethnischen Minderheiten, zu denen neben der serbischen auch die bosniakischen, türkischen und anderen Volksgruppen gehören sowie dem wirtschaftlichen Aufbau des Landes, ist die interna- tionale Gemeinschaft, repräsentiert durch UNMIK und KFOR, gescheitert. Heute sind eine Arbeitslosigkeit von fünfzig Prozent und das Vorherrschen von Korruption und Drogenhan- del, das Fehlen einer funktionierenden Justiz maßgebli- che Faktoren für das erstarkte ethnisch-nationalistische Gebaren in der Provinz Kosovo. Sie zeugen davon, dass eine Parteinahme Deutschlands für die kosovo-albani- schen Unabhängigkeitsforderungen dem europäischen Geist und der gelebten Praxis multiethnischen und gleichberechtigten Zusammenlebens in Europa wider- spricht. Es ist der europäische Gedanke der Integration, der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit, der vor dem Hin- tergrund der nationalistisch-ethnisch geleiteten Position der kosovo-albanischen Führung eben nicht garantiert wird, und dies ausgerechnet als Ergebnis eines Krieges 8994 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 (A) (C) (B) (D) gegen Jugoslawien, dem eine moralische Legimitation wegen des notwendigen Erhaltes multiethnischer Identi- täten des Balkans gegeben wurde. Das Staatlichkeitsver- ständnis, das dem Ahtisaariplan innewohnt, reproduziert das in Westeuropa längst überlebte nationalstaatliche Muster. Eine Wiederbelebung dieses Prinzips kann in Europa nicht ernsthaft vertreten werden. Überdies lässt es auch keine neue Sicherheit in der Region entstehen. Im Gegen- teil: Schon heute zeigt sich, dass mit Gewaltausbrüchen mit nationalistischem Impetus im Kosovo zu rechnen ist. Gewaltausübung zur Erzwingung von Eigenstaatlichkeit wird in Europa nirgends akzeptiert. Ein emanzipatori- sches, gerechtes und friedliches Kosovo ist als Ergebnis einer so betriebenen Unabhängigkeit nicht zu erwarten. Befremdend wirkt auf uns Linke, dass von deutschen Po- litikern und Politikerinnen die Option ins Spiel gebracht wird, man könne analog der Anerkennung Kroatiens die Staatlichkeit des Kosovo herbeiführen, um die nach dem Völkerrecht unmögliche Staatenteilung durch den UN- Sicherheitsrat zu umgehen. Einer solchen Außenpolitik widersprechen wir Linke ganz entschieden. Russland hat in letzter Zeit in der Kontaktgruppe und im UN-Sicherheitsrat überaus deutlich seine Ablehnung zu einem solchen Vorgehen zum Ausdruck gebracht. Spanien und vor allem die Anrainerstaaten Ex-Jugosla- wiens sehen darin ebenfalls große Gefährdungen für den weiteren friedlichen Verlauf ihrer eigenen Konflikte, die aus der multi-ethnischen Zusammensetzung ihrer Bevöl- kerungen resultieren. Diese Befürchtungen sind ernst zu nehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob bei einem Vorgehen, wie beschrieben, die Haltung der Bundesregierung belastbar ist, keine Bereitschaft zu Grenzveränderungen im Bal- kan zu dulden. Denn letztlich bedeutet bereits die Unab- hängigkeit des Kosovo eine staatliche Grenzverschie- bung. Folgt man dem Wunsch der US-Amerikaner, die eine schnelle Lösung herbeiführen wollen, dann muss man die damit verbundenen Risiken nennen. Wir Linke sind der Meinung, die Sache braucht mehr Zeit und ei- nen Perspektivwechsel. Vor allem bedarf es einer pragmatischen Herange- hensweise. So können wir uns sehr gut vorstellen, dass der Gedanke weitgehender Autonomie in einem födera- len System unter Wahrung der Minderheitenrechte für das Kosovo im Rahmen der territorialen Integrität Serbiens eine Zukunftsperspektive eröffnen könnte. Eine Aufnahme der aus Jugoslawien entstandenen Staaten in die EU auf der Grundlage der Staatlichkeit, wie sie die Resolution 1244 für Serbien vorsieht, kann sich befrie- dend für den derzeitigen Konflikt auswirken, wenn Eu- ropa bereit ist, sich dafür zu engagieren. Als zwingend erforderlich sehen wir an, „Druck aus dem Kessel“ im Kosovo zu nehmen. Eine großzügige Migrationsregelung, vor allem eine Arbeitsmigration in die EU brächte den durch soziale und wirtschaftliche Depression perspektivlosen und national verführbaren Menschen im Kosovo eine neue Option zur Lebensge- staltung. Denn in die EU wollen sie. Die Menschen in der Provinz Kosovo genauso wie die in Serbien. Wenn selbst für Südafrika, das derzeit den Vorsitz im Sicher- heitsrat hat, und Indonesien der Ausgang der Statusfrage von großem Interesse ist, dann sollte das Anlass für Deutschland sein, mit hohem Verantwortungsbewusst- sein eine neutrale Moderation für eine eigenverantwort- liche und einvernehmliche Lösung zwischen Serbien und den kosovo-albanischen Repräsentanten zu finden. Eine Lösung, die mit der multi-ethnischen Identität Europas konform ist, ist zu unterstützen. Ein „Groß- mächte-Skat“ zulasten eines emanzipatorisch-europäi- schen Staatsverständnis darf Deutschland nicht mittra- gen. Die Menschen vor Ort und nicht die Großmächte müssen mit einer Entscheidung leben können. Daher kann eine Lösung nur durch Verhandlungen zwischen den beiden Konfliktparteien ohne Parteilichkeit zu einem tragfähigen Ergebnis führen. Die internationale Gemein- schaft muss sich auf die Moderationsrolle beschränken und die EU den Menschen eine EU-Integrationsperspek- tive bieten. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Klärung des Status für das Kosovo nä- hert sich nun hoffentlich endlich ihrem Ende. Jetzt liegt die Entscheidung über den Ahtisaari-Plan beim UN-Si- cherheitsrat. Dieser ist allerdings – zumindest momentan – blockiert durch Russland. Von dort wird öffentlich gefor- dert, einen neuen, fähigeren Vermittler zu benennen und die Verhandlungen neu zu beginnen. An dieser Stelle muss klar gesagt werden: Martti Ahtisaaris Arbeit verdient es ausdrücklich, gelobt zu werden. Auf ihn die Schuld daran schieben zu wollen, dass die Vermittlung zwischen Kosovo-Albanern und Serbien gescheitert sind, ist unlauter. Jede und jeder konnte sehen, welche Anstrengungen er machen musste und gemacht hat. Ebenso erkennbar war die vollständige Unvereinbarkeit der Positionen. Und hinzugefügt wer- den sollte auch, welcher Anstrengung es aufseiten der kosovo-albanischen Regierung bedurfte, die Einschrän- kungen der ersehnten Unabhängigkeit hinzunehmen, mittels derer Ahtisaari nicht zuletzt Serbien zum Einlen- ken bewegen wollte. Die Position Serbiens, eines Staates, der Jahrzehnte finsterer Repression gegen die Kosovo-Albaner vertre- ten muss, ganz abgesehen von den zwei schrecklichen Kriegen der 90er-Jahre, ist bis heute geprägt von Unein- sichtigkeit in diese Fehler und davon, die Niederlage des großserbischen Nationalismus nicht einzugestehen. Auf einer solchen Grundlage sind einvernehmliche Verhand- lungen schwierig. Natürlich wäre es schöner, ein einver- nehmliches Ergebnis vorweisen zu können. Dennoch: Ich meine, es sollte einmal ausgesprochen werden, dass der Anspruch des aggressiven serbischen Nationalismus auf Berücksichtigung seiner Ziele nicht zu akzeptieren ist. Das Angebot einer Kompromisssuche war so gese- hen ein großzügiges Angebot. Mehrmals wurde oben- drein Rücksicht auf die Zeitpläne der serbischen Innen- politik genommen. Sogar das Referendum, in dem unter Ausschluss der Kosovo-Albaner über sie verfügt wurde, hat die internationale Gemeinschaft hingenommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8995 (A) (C) (B) (D) Wenn solche Angebote ausgeschlagen werden, liegt die Verantwortung nicht bei dem, der sie unterbreitet, son- dern bei dem, der sie verwirft. Die Situation im Kosovo selbst ist noch ruhig. Aber auch dort gibt es verhandlungs- und kompromissunwil- lige Gruppen. Zum Glück – und bis jetzt – sind sie zwar laut und aktiv, aber nicht mehrheitsfähig. Aber das kann sich ändern, wenn der Prozess weiter verschleppt wird. Trotzdem muss auch an die Adresse der Kosovo-Alba- ner gesagt werden: Nationalismus kann nicht mit Natio- nalismus begegnet werden. Rache an den Serben wird weiter bekämpft werden, und wie in jedem Land hat auch im Kosovo die Mehrheit nicht das Recht, die Min- derheit zu unterdrücken. Einzig richtiges Ziel ist deshalb auch hier das friedliche Zusammenleben und der privile- gierte Schutz der Minderheitenrechte. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, bleibt die internationale Präsenz im Kosovo notwendig. Und dazu gehören auch weiter- hin Soldaten. Aber der Druck im Kessel Kosovo wird größer, die Entwicklung stagniert seit langem ohne die Klärung der Zukunftsperspektive. Ganze Generationen sind dort schon ohne Chancen aufgewachsen. Vor dem Krieg gab es noch das Ventil der Wirtschaftsemigration, das Hun- derttausende genutzt haben. Dies ist jetzt nicht mehr möglich, obwohl sich für die wirtschaftliche Perspektive faktisch wenig verbessert hat. Damit dieser Kessel nicht platzt, brauchen die Menschen dringend eine reale Hoff- nung. Diese kann auch unter günstigen Bedingungen al- lenfalls langfristig im Land allein erfüllt werden. Wir sind es uns und besonders der jungen Generation im Ko- sovo schuldig, klar zu sagen: Nicht nur Hilfe im Kosovo selbst ist nötig, sondern auch das Öffnen des Ventils nach außen. Junge Leute aus dem Kosovo müssen ins Ausland reisen dürfen, sie müssen im Ausland studieren und auch arbeiten dürfen. Noch einmal zurück zum UN-Sicherheitsrat: Was will Russland? Will es einen Präzedenzfall verhindern, weil es befürchtet, jemand könnte auf die Idee kommen, ihn auch auf Tschetschenien anwenden zu wollen? Denn nicht nur außerhalb Russlands gibt es sezessionistische Ansprüche. Vielleicht sollte daran erinnert werden, dass Russland als langjähriges Mitglied der Kontaktgruppe die Prämissen der Verhandlungsoptionen für den UN- Beauftragten Martti Ahtisaari mitgetragen hat. Dazu ge- hörte, nicht zum Status quo vor dem Krieg zurückzukeh- ren. Es ist zu hoffen, dass es Russland mit seiner Verzö- gerungsforderung nicht auf einen neuen Gewaltausbruch in Südosteuropa ankommen lassen will. Denn der droht, wenn Ahtisaaris 120-Tage-Plan nicht umgesetzt werden kann. Europa steht in der Verantwortung für die Zukunft des Kosovo, nicht nur, weil das Kosovo ein Teil Europas und irgendwann auch der EU ist. Wir haben sie übernom- men, als wir den flüchtenden Albanern zu Hilfe kamen. Jetzt müssen wir sie einlösen. Gernot Erler, Staatsminister beim Bundesminister des Äußeren: Der Prozess zur Bestimmung des künfti- gen Status des Kosovo – das momentan drängendste po- litische Problem auf dem westlichen Balkan – tritt in seine letzte und entscheidende Phase. Am 26. März wird der VN-Sondergesandte, Präsident Ahtisaari, seinen Sta- tusvorschlag an den Sicherheitsrat der Vereinten Natio- nen in New York übermitteln. Einige Worte zu dem Statusvorschlag: Präsident Ahtisaari hat den Statusvorschlag Belgrad und Pristina am 2. Februar übergeben. In den vorausgegangenen, na- hezu einjährigen Direktgesprächen des vergangenen Jah- res sind beide Seiten nicht in der Lage gewesen, sich ge- meinsam auf einen tragbare Kompromisslösung zu einigen. Gleichwohl baut der Vorschlag auf diesen Ge- sprächen auf, schlägt die Brücke über die entgegenge- setzten Positionen oder spiegelt Einigung in den Berei- chen wider, wo dies möglich war. Der Vorschlag ist ausgesprochen ausgewogen, fair und vorwärtsschauend. Er stellt den einzig möglichen Kom- promiss dar zwischen den kosovarischen Forderungen nach sofortiger und unbeschränkter Unabhängigkeit einer- seits und dem Belgrader Beharren auf „mehr als Autono- mie und weniger als Unabhängigkeit“ andererseits. Er trägt dem Wunsch der überwältigenden Mehrheit der Be- völkerung im Kosovo – der Kosovo-Albaner – Rechnung, berücksichtigt gleichzeitig aber die legitimen Interessen Belgrads sowie der nichtalbanischen Volksgruppen, insbe- sondere der Kosovo-Serben. Die Bestimmungen zu deren Schutz sind sehr weitgehend – Präsident Ahtisaari hat mehrfach darauf hingewiesen, dass rund zwei Drittel des Statuspaketes sich mit der Absicherung der nichtalbani- schen Volksgruppen und ihrer Rechte befassen. Diese Rechte werden nicht lediglich auf dem Papier bestehen. Zwar werden eine Reihe der bisher von den Vereinten Nationen ausgeübten Zuständigkeiten auf die kosovarischen Behörden übergehen – nach nahezu acht Jahren internationaler Verwaltung ein längst überfälliger Schritt. Die Kompetenzen der internationalen Gemeinschaft werden aber auch nach der Statuslösung beträchtlich bleiben, und dies in dreifacher Hinsicht: Ein internatio- naler ziviler Repräsentant, der in Personalunion EU- Sondergesandter sein wird, wird die oberste und endgül- tige Instanz bei der Auslegung der Statuslösung sein. Er wird hierzu über weitgehende exekutive und korrektive Befugnisse verfügen. KFOR wird im Kosovo verbleiben und weiterhin für ein sicheres Umfeld sorgen. In der Zeit unmittelbar nach der Statuslösung wird es zu keinen Truppenreduzierungen kommen. Und schließlich wird die EU Kosovo bei dem Aufbau von Polizei und rechts- staatlichen Strukturen nachhaltig unterstützen. Eine ESVP-Rechtsstaatsmission, die über nicht unmaßgebli- che Zuständigkeiten verfügen wird, ist hierzu in Vorbe- reitung. Mit rund 1 500 internationalen Mitarbeitern wird es sich dabei um die bisher größte zivile ESVP- Mission handeln. Die Bundesregierung ist überzeugt: Nur auf Grund- lage des von Präsident Ahtisaari vorgelegten Lösungsan- satzes wird eine längerfristige Stabilisierung der Region erreichbar sein. 8996 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 (A) (C) (B) (D) Diese Auffassung wird von unseren EU-Partnern ge- teilt. So haben sich die Außenminister der Union auf dem Rat vom 12. Februar eingehend mit dem Lösungs- vorschlag beschäftigt. Sie haben Präsident Ahtisaari ihre volle Unterstützung ausgesprochen. Und sie haben die Überzeugung geäußert, dass die Statusvorschläge die Grundlage für eine nachhaltige wirtschaftliche und politische Entwicklung des Kosovo legen sowie zur Sta- bilisierung der Region beitragen werden. Im Anschluss an die Übergabe des Statusvorschlags an Belgrad und Pristina haben hierüber erneute Ge- sprächsrunden zwischen beiden Seiten stattgefunden, zunächst auf Expertenebene, am 10. März auch auf höchster politischer Ebene. Auch diese erneuten Gesprächsrunden haben gezeigt, dass die Divergenzen zwischen beiden Seiten unüber- brückbar sind. Pristina hat dem Statuspaket zugestimmt. Belgrad hat es abgelehnt und zum Teil Forderungen er- hoben, die es bei den Verhandlungen im vergangenen Jahr bereits aufgegeben hatte. Im Anschluss an diese letzte Runde der Gespräche hat Präsident Ahtisaari den Entwurf des Statuspaketes über- arbeitet und einige der bereits sehr weitgehenden Be- stimmungen zum Schutz der nichtalbanischen Volks- gruppen sowie der serbisch-orthodoxen Kirche weiter ausgedehnt. Diesen Statusvorschlag wird er nunmehr an den Si- cherheitsrat der Vereinten Nationen zu überweisen. Völlig zu Recht! Denn auch wenn die Verhandlungen noch Wochen, Monate oder gar Jahre andauern würden – die bisherige Verhandlungsgeschichte hat gezeigt, dass eine gemeinsam getragene Kompromisslösung nicht nä- her rückt. Die jüngste Gesprächsrunde hat dies noch ein- mal deutlich vor Augen geführt. Im Übrigen haben weder Belgrad, noch Pristina, noch etwa einzelne Mitglieder der Kontaktgruppe einer Über- weisung des Statuspakets an den Sicherheitsrat wider- sprochen. Aus Sicht der Bundesregierung wird es nunmehr ent- scheidend darauf ankommen, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen seiner Verantwortung gerecht wird und das Statuspaket zügig und ohne Abstriche billigt. In unzähligen Gesprächen mit ihren Partnern hat die Bundesregierung dabei keinerlei Zweifel gelassen, dass die Kosovostatuslösung – der Endpunkt der Auflösung des ehemaligen Jugoslawiens – eine Grundvorausset- zung für die Stabilisierung Kosovos, Serbiens und der gesamten Region ist. Und dass dauerhafte Stabilität auf dem westlichen Balkan – die Konflikte der 90er-Jahre haben dies belegt – eine zentrale, ja vitale Frage deut- scher und europäischer Sicherheit ist. Die Einigkeit der EU – für uns als Präsidentschaft von besonderer Bedeu- tung – ist dabei der Schlüssel zu einer dauerhaften Lö- sung. Ich bin überzeugt: Eine Kosovostatuslösung wird auch die Annäherung Serbiens an die EU erleichtern. Serbien wird sich nämlich dann mit viel mehr Energie der EU-Annäherung widmen können. Der Ball liegt al- lerdings weiterhin bei Serbien. Die EU jedenfalls wird die SAA-Verhandlungen dann wieder aufnehmen, so- bald eine neue Regierung uns davon überzeugt, dass sie willens und in der Lage ist, endlich die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehema- lige Jugoslawien zu verbessern. Es wäre zu wünschen, wenn dies schon sehr bald der Fall sein könnte. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Individuell för- dern und regional gestalten – Handlungsfrei- heit der Arbeitsgemeinschaften stärken (Ta- gesordnungspunkt 19 a) Karl Schiewerling (CDU/CSU): Mit der Einführung des SGB II ist die Arge zum gesetzlichen Regelfall ge- worden. Hier werden die Kompetenzen der Agentur für Arbeit und die der ortsnah tätigen Kreise und kreisfreien Städte gebündelt. Für erwerbsfähige Hilfebedürftige und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen ist die Arge Anlaufstelle und Ansprechpartner. Mit dem Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe sollen die Be- troffenen möglichst rasch wieder in den Arbeitsmarkt in- tegriert und aus dem Leistungsbezug staatlicher Mittel herausgeführt werden. Im Mittelpunkt der Arbeit vor Ort steht eine schnelle und passgenaue Integration. Dabei ist entscheidend, dass die örtlichen Akteure des Arbeitsmarktes in den Einglie- derungsprozess miteinbezogen werden. Denn nur die Verbände, Kirchen, sozialen Einrichtungen und Kreis- handwerkerschaften vor Ort kennen die lokalen Gege- benheiten und wissen, wie sie mit den einzelnen Betrof- fenen umzugehen haben. Denn eines ist gewiss, nur durch individuelle Betreuung und individuelle Lösungs- konzepte kann den Menschen geholfen werden. Neben der unmittelbaren Integration in Arbeit ist auch der sozialpolitische Auftrag der Leistungsträger des SGB II zu betonen. Dieser besteht darin, die Integra- tionshemmnisse langzeitarbeitsloser Personen schritt- weise, aber kontinuierlich abzubauen und ihre Einglie- derung in den Arbeitsmarkt gegebenenfalls auch durch die Erzielung von Integrationsfortschritten zu befördern. Ich denke, allen Verantwortlichen ist klar, dass das SGB II möglichst kundennah, dezentral und eigenver- antwortlich umgesetzt werden muss. Ein geeignetes Instrument zur Verwirklichung dieser Ziele ist der Abschluss von Zielvereinbarungen. In den lokalen Zielvereinbarungen zwischen den Leistungsträ- gern und den Arbeitsgemeinschaften vor Ort werden bundesweite Zielvereinbarungen konkretisiert, Ziele der kommunalen Träger festgelegt und regionalen Gegeben- heiten Rechnung getragen. Mit der Rahmenvereinbarung zur Weiterentwicklung der Arbeitsgemeinschaften gemäß § 44 b SGB II wurde Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8997 (A) (C) (B) (D) festgelegt, dass die Trägerversammlung eine Zielverein- barung mit dem Geschäftsführer der Arbeitsgemein- schaft abschließen kann. In der Praxis hat sich der Ab- schluss der Zielvereinbarung mit dem Arge- Geschäftsführer durch die Trägerversammlung als best- möglichster Weg aufgezeigt, die Ziele und Interessen beider Leistungsträger angemessen zu berücksichtigen. Nichtsdestotrotz müssen wir den regionalen Trägern den Freiraum zugestehen, neue Wege ausprobieren zu können. Nach neuen Wegen und Möglichkeiten suchen, das ist es, was engagierte Helfer vor Ort machen müssen. Dazu brauchen sie noch mehr Flexibilität und Entschei- dungsfreiheit. Wir kennen Zielvereinbarungen auch heute schon, mir geht es aber nicht um vorgefertigte Formulare, son- dern um grundsätzliche Vereinbarungen für einen be- stimmten Zeitraum mit klar gemeinsam abgestimmten Zielvorgaben hinsichtlich des Erfolges, den man mit den zugewiesenen Integrationsmitteln erreichen will. Wenn eine Arbeitsgemeinschaft meint, Arbeitslosen damit helfen zu können, allen einen Führerschein finan- zieren zu müssen, dann soll sie dies tun dürfen. Wenn sie denn damit ihre Ziele erreicht. Diese Entscheidungsfrei- heit kann aber nur mit Verantwortung einhergehen. Die muss dann vor Ort auch mit allen Konsequenzen gegen- über den Geldgebern übernommen werden. Nur das Ziel, zum Beispiel die vorher vereinbarte Zahl von Langzeit- arbeitslosen in ein auf Dauer angelegtes sozialversiche- rungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zu bringen, muss erreicht werden. Meines Erachtens ist es vollkommen ausreichend, den regionalen Trägern Rahmenbedingungen zu setzen, in- nerhalb derer sie frei entscheiden können, wie und mit welchen Mitteln sie die Menschen in Arbeit bringen, wenn denn die vorher vereinbarten Ziele erreicht wer- den. Diese Ziele müssen auf die jeweilige regionale Situation abgestimmt sein. Denn in Mecklenburg-Vor- pommern findet man andere Bedingungen als in Bayern und am Bodensee. Ich fasse zusammen. Mit dem Instrument klarer Ziel- vereinbarungen können Arbeitslose besser und effekti- ver gefördert werden. Durch Zielvereinbarungen zwi- schen den regionalen Trägern und der Bundesagentur für Arbeit kann die Förderung in den verschiedenen Regio- nen zielgerichteter umgesetzt werden. Innerhalb der Zielvereinbarungen haben die örtlichen Ebenen freie Hand und wesentlich mehr Gestaltungsmöglichkeiten – und zwar orientiert am echten Bedarf und den örtlichen Gegebenheit. Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fehlt eine Gesamtstruktur. Wir sind strikt gegen eine Ver- rechtlichung der Argen in Form einer Rechtsperson, ob als e. V., GmbH oder Anstalt des öffentlichen Rechts. Das führt nur zu einer zusätzlichen Behörde, die dann die Neigung hat, ein Eigenleben zu entwickeln ohne Rücksicht auf arbeitsmarktpolitische und kommunale Gegebenheiten. Die Gefahr, dass dann Kommunen und Agenturen sich aus einer verpflichtenden Mitverantwor- tung herausziehen, ist nicht zu unterschätzen. Im Übri- gen würde das SGB-II-System dann als weitere institu- tionalisierte Form der Sozialgesetzgebung aufgebaut. Es bleibt abzuwarten, wie die Entscheidung des Bun- desverfassungsgerichtes über die Organisationsform der Arbeitsgemeinschaften ausfällt. Rolf Stöckel (SPD): Die Zielsetzung des hier zu Rede stehenden Antrags der Grünen, nämlich den örtlichen Akteuren in den Arbeitsgemeinschaften mehr Hand- lungsspielräume zu schaffen und die individuelle Förde- rung im Rahmen des Fallmanagements weiter zu verbes- sern, unterstützen wir Sozialdemokraten ausdrücklich. Dennoch bleibt eine gesamtstaatliche Verantwortung für die Umsetzung der Arbeitsmarktmaßnahmen not- wendig. Nicht nur der Bundesregierung und der Bun- desagentur für Arbeit, die die Arbeitgeber und Gewerk- schaften im Boot hat, sondern auch die Verantwortung des Deutschen Bundestages. Wir stellen im Bundeshaushalt erhebliche Mittel für die Grundsicherung der Arbeitsuchenden im SGB II und die von den Kommunen zu tragenden Unterkunftskosten der Bedarfsgemeinschaften zur Verfügung. Die Grünen selbst fordern in ihrem Antrag, dass die Argen weiterhin der Aufsicht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales unterliegen sollen. Andererseits sollen zentrale steuernde Vorgaben unterbleiben. Wie beide Ziele konkret umgesetzt werden sollen, sagt ihr Antrag nicht. Zielvereinbarungen, die ja bereits eingeführt sind, können die Spannungsverhältnisse die in der Rechtskon- struktion als Ergebnis des Vermittlungsausschusses und in den Grenzen der föderalen Verfassung angelegt sind, nicht allein auflösen. Gemeinsam wollen wir die Umsetzung des SGB II optimieren und haben in der Koalition deshalb mit der AG Arbeitsmarkt einen intensiven Arbeitsprozess mit dem Ziel von mehr Effizienz im SGB II begonnen. Wir werden zum Beispiel für besonders gehandicapte Langzeitarbeitslose eine Job-Perspektive schaffen, die weitgehend vor Ort gestaltet werden kann. Der gesetzli- che Evaluierungsauftrag und ein ausstehendes Urteil des Bundesverfassungsgerichtes über die Organisations- form der Argen werden hoffentlich zusätzliche Klarheit schaffen. Mit den Ergebnissen und den örtlichen Praxis- erfahrungen werden wir uns im Ausschuss intensiv zu beschäftigen haben. Die Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen, sind, wie ich selbst im Kreis Unna, im intensiven Kontakt mit den örtlichen Argen und Optionskommunen in den Wahlkreisen. Bereits unter der rot-grünen Bundesregie- rung, war es möglich, dass die Kommunen die Ge- schäftsführung der Argen übernehmen, Beiräte gründen und so eine regional zugeschnittene Umsetzung in Gang setzen. Im Kreis Unna wurden die Spielräume unverzüglich genutzt und auch entsprechende Fortschritte und Erfolge bei der Beratung und Vermittlung erzielt. Dass die 8998 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 (A) (C) (B) (D) gesamte Umsetzung nach gut zwei Jahren noch nicht überall optimal läuft, ist bei einer „lernenden Gesetzge- bung“ und nach allen internationalen Erfahrungen selbstverständlich. Die Eingliederungstitel sind ja noch gar nicht ausgeschöpft worden. Das wird sich ändern. Die Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch unsere gemeinsamen Reformen sind aber auch nicht wegzureden. Wenn sich alle Beteiligten auf die Förderung der Be- troffenen konzentrieren und ihren gesetzlichen Auftrag ernst nehmen, wird das SGB II, da bin ich mir sicher, eine Erfolgsgeschichte. Jörg Rohde (FDP): Unsere heutige Debatte führt auf einen Antrag der Grünen zurück, der feststellt, dass die Zuständigkeiten der örtlichen Arbeitsgemeinschaften beim Arbeitslosengeld II klarer geregelt werden müssen. Bevor ich auf die inhaltlichen Aspekte eingehe, möchte ich aber kurz an die Vorgeschichte des SGB II erinnern: Die FDP-Bundestagsfraktion hat 2004 als ein- zige Fraktion gegen das Optionsgesetz gestimmt. Schon damals hat Ihnen genau an dieser Stelle hier mein Kol- lege Dirk Niebel erklärt, warum nur selbstbestimmte Kommunen erfolgreich Arbeitsuchende in Arbeit ver- mitteln können. Wir haben Ihnen schon damals erläutert, dass wir am Erfolg der Argen zweifeln. Union, SPD und auch die Grünen, die heute Verbesserungsvorschläge vorlegen, haben diesem Gesetzesmurks – der übrigens schon sehr häufig nachgebessert wurde – damals zuge- stimmt. Wäre man den schon 2003 von den Liberalen vorge- legten Vorschlägen zur Kommunalisierung gefolgt, so wären viele der heute in diesem Antrag angemahnten Verbesserungen bei den Arbeitsgemeinschaften gar nicht erst nötig. Die geteilte Trägerschaft zwischen BA, den Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen ist der zentrale Systemfehler von Hartz IV. Mit den Arbeits- gemeinschaften wurde eine zusätzliche Verwaltungs- ebene eingeführt, in der die Verantwortlichkeiten nicht geklärt sind. Konsequenz sind die von den Grünen heute angeprangerten Doppelzuständigkeiten, Kompetenzge- rangel, Verwischung finanzieller Verantwortlichkeiten und hohe Verwaltungskosten. Die Verantwortlichkeiten für die Grundsicherung für erwerbsfähige Langzeitarbeitslose sollten daher auf einen Träger konzentriert werden. Dies können aufgrund ihrer Erfahrungen aus der Sozialhilfe und ihrer Nähe zum Bürger nur die Kommunen sein. Der Antrag der Grünen geht von richtigen Prämissen aus, fordert aber keine geeigneten Konsequenzen. Die Probleme der Ar- beitsgemeinschaften sind nicht durch Korrekturen zu beheben, sondern nur durch deren Abschaffung. Ich begrüße es ausdrücklich, dass durch Ihren An- trag das Scheitern der rot-grünen und später dann schwarz-roten Arbeitsmarktpolitik mal wieder Gegen- stand einer Bundestagsdebatte wird. Völlig zurecht stellen Sie fest, dass die Arbeitsweise der Argen im Wi- derspruch zu den Anforderungen an ein individuelles Fallmanagement stehen. Umgekehrt legen Vermitt- lungserfolge vieler Optionskommunen nahe, dass die alleinige Verantwortung der Kommunen der geeigne- tere Weg der Arbeitsvermittlung ist. Mehr Autonomie für die Arbeitsgemeinschaften – das ist zweifellos gut für die Argen. Für die Arbeitsuchenden allerdings wäre es noch besser, wenn ihre Betreuung ganz in den Hän- den der Kommune läge. Es ist auch absolut richtig, dass die Eingriffsmöglich- keit der Regionaldirektionen und des BA-Vorstandes die Aufgabenwahrnehmung durch die Argen behindern. Die Grünen fordern deshalb die völlige Freiheit der Argen im Einsatz der SGB-II-Instrumente. Wir von der FDP haben einen besseren Vorschlag: Auflösung der zentra- listischen Bundesagentur für Arbeit in ihrer jetzigen Form und Abschaffung der Regionaldirektionen. Die Grünen haben die Probleme doch erkannt, warum bleiben sie bei ihren Lösungsvorschlägen dann auf hal- bem Wege stehen? Bei der A2LL-Software muss etwas passieren, das ist völlig richtig. Wir haben eine schlecht funktionierende Software bei der Bundesagentur und den Argen. Eine Überarbeitung von A2LL kann aber so lange nicht gelin- gen, wie durch ständige Gesetzeskorrekturen ununter- brochen Anpassungen der komplexen Software erzwun- gen werden. Hier muss nüchtern gerechnet werden, welche Lösung langfristig günstiger ist: Schaffen wir die Möglichkeiten für eine generelle Überarbeitung von A2LL, oder suchen wir nach einem Neuanfang für die nötige Software? Ich möchte die Debatte aber auch nutzen, um noch ein Wort zum leider nun jährlich wiederkehrenden Zirkus um die Haushaltsmittel für Eingliederungsmaßnahmen nach SGB II zu verlieren: Was im vergangenen Jahr „Haushaltssperre“ hieß, heißt dieses Jahr „Deckungsver- merk“. Im Ergebnis ist es das gleiche: Unzählige Träger von Eingliederungsmaßnahmen haben keine Planungssi- cherheit für das gesamte Jahr, weil sie nicht sicher wis- sen, wie viel Geld ihnen für Eingliederungsmaßnahmen zur Verfügung steht. Hauptleidtragende werden die Ar- beitsuchenden sein, die auf diese Maßnahmen angewie- sen sind. Für die Arbeitsvermittlung braucht man einen langen Atem, nicht nur, aber vor allem auch finanziell. Dazu gehört absolute Planungssicherheit. An die Kolle- ginnen und Kollegen der Regierungskoalition appelliere ich daher dringend: Geben Sie allen Trägern der Arbeits- losenvermittlung die Planungssicherheit, die sie für eine erfolgreiche Arbeit brauchen! Die FDP fordert eine grundlegend andere Arbeits- marktpolitik, unter anderem die Auflösung der Bundes- agentur für Arbeit und einer Übertragung der Zuständig- keiten für die Arbeitsvermittlung an die Kommunen. Deshalb lehnt die FDP-Fraktion diesen Antrag der Grü- nen ab, der zwar in weiten Teilen der Diagnose richtig ist, aber zur Lösung des Problems nicht weit genug reicht. Wir Liberale haben dem Parlament weiterge- hende Vorschläge unterbreitet. Schließen Sie sich uns an, wir holen Sie da ab, wo Sie stehen bleiben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8999 (A) (C) (B) (D) Kornelia Möller (DIE LINKE): Das Thema, das von Bündnis 90/Die Grünen mit dem Antrag 16/4612 in den Bundestag gebracht wird, ist hochaktuell, weil am Ende dieses Jahres für mehrere tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Argen und Agenturen mit getrennten Trägerschaften die befristeten Arbeitsverträge auslaufen und viele Beschäftigte noch mit Sorge in die Zukunft bli- cken. Dies ist genauso auf den Reformmurks der Hartz- Gesetze zurückzuführen wie die Gründe für dringend notwendige Veränderungen in der Arbeitsweise der Ar- gen, die im vorliegenden Antrag genannt werden. Inzwischen ist längst sichtbar geworden, dass die übereilte Verabschiedung des Hartz-IV-Gesetzes nach dem unsäglichen Tauziehen im Vermittlungsausschuss Ende 2004 äußerst schädliche Folgen, vor allem für die Betroffenen – mit sich bringt, ganz abgesehen von der völligen sozialen Schieflage dieses „Reformwerks“. Bündnis 90/Die Grünen ist daran, wie Sie selbst wissen, nicht ganz unschuldig. Denn die Hartz-Gesetze sind auch von Ihnen mitzuverantworten. Ihren heutigen An- trag betrachten wir deshalb als so etwas wie den verspä- teten Versuch der Wiedergutmachung infolge schlechten Gewissens. Den Betroffenen allerdings werden Ihre Re- paraturvorschläge wenig nutzen. Ihre soziale Situation wird sich damit kaum verbessern. Dass die Arbeitsfähigkeit vieler Argen nach wie vor nicht den Erwartungen und Erfordernissen entspricht, hängt nicht allein damit zusammen, dass ihre Hand- lungsfreiheit eingeschränkt ist, dass die fachliche Zu- ständigkeit für ihre Arbeit bei den Kommunen und gleichzeitig der BA liegt und dass die BA ihre Verant- wortung für Sparsamkeit zu eng sieht, sondern es liegt an der generellen Fehlkonstruktion der gesamten Hartz- Gesetze, am Nicht-zu-Ende-Denken der Folgen dieser Reformen und am viel zu hohen Tempo, mit dem sie in Angriff genommen und umgesetzt wurden. Es ist eben „Reformmurks“! Die im Antrag aufgeführten Konstruktionsmängel in der Organisation zur Bewältigung der 2005 in Gang ge- setzten Veränderungen, die sich zuallererst nachteilig für die Arbeitssuchenden auswirken, sind nur eine Seite. Und angesichts der nach wie vor zu hohen Massenar- beitslosigkeit und der Notwendigkeit, sie – und vor al- lem die Langzeiterwerbslosigkeit – als grundlegendes gesellschaftliches Problem mit höherem Tempo zurück- zudrängen, setzt sich Die Linke nicht für eine totale De- zentralisierung der Arbeitsmarktpolitik nach dem Mo- dell der FDP ein, sondern für ein optimales Verhältnis zwischen grundsätzlichen gesellschaftlichen Entschei- dungen und einen möglichst großen Spielraum der regio- nalen Arbeitsmarktakteure. Insofern unterstützen wir die im Antrag gestellten Forderungen nach eindeutigen Auf- gabenzuordnungen für die Argen. Die notwendige ge- setzliche Klarstellung der Trägerschaft im SGB II muss die vollständige Hoheit über Personal und Eingliede- rungsbudget sichern. Eine „völlige Freiheit“ jedoch, auch bei den Instrumenten, wie von den Grünen gefor- dert, kann es jedoch nicht geben, weil die Schwankun- gen des Arbeitsmarktes durchaus zum Beispiel finanzi- elle Eingriffe durch die öffentliche Hand erforderlich machen können, dies vor allem so lange, wie es keine nachhaltige Beschäftigungspolitik gibt. Mehr Gestal- tungsspielraum vor Ort – auch dieser Notwendigkeit stimmen wir zu. Richtig ist auch die obligatorische Ein- richtung von Beiräten, in denen die gewählten kommu- nalen Vertreterinnen und Vertreter sowie die örtlichen Arbeitsmarktakteure vertreten sind. Wir denken, dass in ihnen zwingend auch die Betroffenenorganisationen ver- treten sein sollten. Das könnte viele Konflikte verhin- dern. Wenn notwendige Veränderungen in der Arbeitsweise und Effektivität der Argen auf die Tagesordnung kom- men, dann möglichst im Komplex. Deshalb möchten wir die Aufmerksamkeit auf einige Faktoren lenken, die die gegenwärtige Arbeitsfähigkeit der Argen ebenfalls er- heblich beeinträchtigen. Zunächst ist das nach wie vor die Sicherung des bis- her festgelegten Betreuungsschlüssels. Sicher würde ihn die Bundesregierung am liebsten heruntersetzen, um auf Kosten der Erwerbslosen noch mehr zu sparen, zumal immer noch nicht klar ist, welche Perspektive auf die be- fristet eingestellten 4 000 Beschäftigten zukommt, für die noch keine Lösung gefunden wurde, wie die Bundes- regierung in der vergangenen Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales eingestehen musste. Leider konnte die Bundesregierung nicht einmal Auskunft da- rüber erteilen, wie weit man inzwischen an den geplan- ten Betreuungsschlüssel herangekommen ist. Hier ist noch viel zu tun – und dies nicht allein auf dem Wege der Stärkung der Handlungsfreiheit der Argen. Zum Zweiten geht es darum, die Eignung der Be- schäftigten in den Argen für ihre verantwortungsvolle Arbeit deutlich zu verbessern. Es wird immer deutlicher, dass es hier riesige Lücken, vor allem in der Qualifika- tion gibt, die nicht zuletzt mit dazu beigetragen haben, dass die Zahl der Sozialgerichtsverfahren ins Unermess- liche gestiegen ist. Das werden Sozialrichter und An- wälte sicher bestätigen können. Notwendig ist ein nach- holendes Qualifizierungsprogramm vor allem für diejenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unmit- telbar mit Eingliederungsaufgaben betraut sind, wie zum Beispiel Fallmanagerinnen und Fallmanager. Wie drin- gend das ist, darauf weist eine Antwort der Bundesregie- rung auf die Große Anfrage der Linksfraktion zu den Folgen der Hartz-Gesetze hin. Dort wird nachgewiesen, dass die Qualifizierung von 800 ehemaligen Telekom- und Postmitarbeiterinnen und -mitarbeitern – von insge- samt 3 240 Mitarbeiterinnen und -mitarbeitern –, die nach der Privatisierung dieser ehemals öffentlichen Un- ternehmen ihren Arbeitsplatz verloren und befristet für neue Aufgaben in der BA sowie den Argen eingesetzt wurden, lediglich 100 000 Euro gekostet haben soll. Welches Niveau diese Weiterbildung wohl gehabt haben mag, kann sich jeder selbst ausrechnen! Wir vertreten also die Auffassung: Zusätzlich zu den meisten im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen enthalte- nen Forderungen sind jene personellen Voraussetzungen zu schaffen, die genannt wurden, um die Arbeitsfähig- keit der Argen im Interesse der Langzeiterwerbslosen zu stärken. 9000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 (A) (C) (B) (D) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wollen mehr Freiheit für die Arbeitsgemeinschaften. Denn nur so ist eine bessere Betreuung von Langzeitar- beitslosen möglich! Wir haben ein breites Instrumenta- rium und geben viel Geld für aktive Fördermaßnahmen aus, aber all das nützt nichts, wenn die Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden können. Das Konzept „Hilfe aus einer Hand für Langzeitarbeitslose unter dem Dach der Argen“ ist richtig. Die Realität sieht aber anders aus. Sie geht auf Kosten der Arbeitssuchenden und sorgt letztlich auch dafür, dass die Kosten für Arbeitslosigkeit nicht heruntergehen. Denn eine regional ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik und ein individuell zugeschnittenes Fallmanagement verträgt sich nicht mit zentralistischen Vorgaben von der Stange! Die Arbeit der Argen leidet unter den Kompetenz- streitigkeiten zwischen der Bundesagentur für Arbeit und den Kommunen, unter unklaren Aufgaben, unter un- nötigen Controlling- und Statistikaufgaben und unter der Anwendung bürokratischer Regeln und Instrumente. Die Argen brauchen eine eigene Identität und mehr Autono- mie. Sie müssen endliche eine eigene „Firma“ werden können. Die fachlichen Zuständigkeiten sind jetzt zwi- schen Kommunen und Agenturen für Arbeit aufgeteilt und liegen nicht bei den Arbeitsgemeinschaften selbst – das muss sich ändern, zuallererst beim Bereich der Ar- beitsförderung. Die Verantwortung hierfür gehört direkt zu den Argen. Im Moment laufen die Argen am Gängelband des Bundes und der BA. Sie haben keine Personalhoheit. Es kann nicht sein, dass der Geschäftsführer einer Arge mit 17 Personalräten verhandelt, nur um ein Referat neu zu besetzen. Deshalb wollen wir, dass die Argen in Zukunft eigenverantwortlich über ihr Personal bestimmen kön- nen. Gleiches gilt für die Verwendung ihres Budgets. Auch über die Verwendung des Eingliederungsbudgets muss vor Ort entschieden werden können! Augenblick- lich wird die Kreativität und Innovationsfreude der Ar- gen durch den Bund und die BA behindert. Die interpre- tieren nämlich ihre Verantwortung für Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit so eng, dass die Argen die Instrumente und Verfahren des SGB II nur in standardisierter und vorgeschriebener Form einsetzen können. Das ist aber genau das Gegenteil von individueller Förderung, und entsprechend sind die Ergebnisse dieser Politik. Ich habe angesichts der detaillierten und zahlreichen Vorgaben häufig den Eindruck, dass die BA ihren eige- nen Leuten vor Ort nicht traut. Aber wir haben kompe- tente und motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Argen, bei der BA und in den Kommunen, die mit mehr Handlungsspielraum auch mehr für die Langzeitar- beitslosen erreichen können. Selbstverständlich sollen die Argen auf der Grundlage des SGB II arbeiten. Und selbstverständlich muss der Bund als Hauptkostenträger kontrollieren dürfen, ob das funktioniert und über Ziele steuern dürfen. Aber das doch bitte mit Augenmaß und Köpfchen. Eine gute Steu- erung setzt auf Anreize und nicht auf Dauerkontrolle. Mit Zielvereinbarungen lässt sich vortrefflich steuern. Es kommt dabei auf das Ergebnis an und nicht auf den Weg dahin. Der kann nämlich je nach Ausgangslage ganz un- terschiedlich aussehen. Ein gutes Benchmarking sorgt dafür, dass erfolgreiche Beispiele und Ideen sich verbrei- ten und die Argen voneinander lernen können. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass durch detaillierte Vorgaben Kosten gespart werden können. Hier werden Arbeitskräfte durch stupides Zählen, Wiegen und Mes- sen gebunden, die besser mit der Betreuung eines Lang- zeitarbeitslosen betraut worden wären. Nur die erfolg- reiche Integrationsarbeit vor Ort wird letztlich Langzeitarbeitslosigkeit reduzieren, und nur dann wer- den auch die Kosten sinken. Das erfordert aber aufseiten der Argen einen gehörigen Gestaltungsspielraum bei der Wahl ihrer Mittel. Der Kollege Brandner von der SPD hat das erkannt und bereits öffentlich mehr Entschei- dungsfreiheit für die Argen gefordert. Auch der Kollege Schiewerling von der Union hat sich heute Morgen in der Debatte ähnlich geäußert. Meine Herren, Sie haben es begriffen, und ich hoffe, dass mit Ihrer Unterstützung unser Antrag erfolgreich die Beratungen überstehen wird. Die Argen und die Arbeitssuchenden werden es Ih- nen danken. Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- nister für Arbeit und Soziales: Die Umsetzung der Grundsicherung für Arbeitssuchende weiter zu optimie- ren, ist ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung. Dies wird mit dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufgegriffen. Bündnis 90/Die Grünen schlagen vor, der örtlichen Ebene, also den Arbeitsgemeinschaf- ten größere Handlungsfreiheit zu geben. Sie sollen frei über die Haushaltsmittel disponieren können. Steuernde Vorgaben „von oben“, also von der Bun- desagentur für Arbeit, sollten unterbleiben. Der Bund solle seine Verantwortung für Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit ausschließlich im Rahmen der jährlichen Zielvereinbarungen wahrnehmen. Ich gebe zu: Das klingt zunächst einleuchtend. Wer, wenn nicht die Praktiker vor Ort, weiß, was nötig ist, um die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen einzugliedern? Da- bei wird aber eines übersehen: Wenn die Arbeitsgemein- schaften frei und nach eigenem Ermessen über die Ver- wendung des Geldes entscheiden können, wem wären sie dann verantwortlich? Das Geld, das die Arbeitsge- meinschaften für die Eingliederung ausgeben, kommt vom Bund. Haushaltsgeber sind Sie, der Deutsche Bun- destag. Wer den Arbeitsgemeinschaften freie Hand bei der Ausgabe der Mittel einräumt, entzieht dem Deutschen Bundestag die Kontrolle über deren Verwendung. Das bedeutet, dieses Parlament könnte eine seiner ureigens- ten Aufgaben nicht mehr wahrnehmen. Das kann doch nicht im Ernst als Ziel angestrebt werden. So kann es also nicht funktionieren. Wie man die Effi- zienz des SGB II steigern kann, ist eines der Themen, die in der Arbeitsgruppe Arbeitsmarkt unter der Leitung von Bundesminister Franz Müntefering behandelt wer- den. In diesem Zusammenhang werden auch die Aufga- ben und Rollen der Beteiligten, also der Bundesagentur Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 9001 (A) (C) (B) (D) für Arbeit, der Kommunen, der Arbeitsgemeinschaften und der Länder erörtert. Eine Zielsetzung ist es, die Ver- antwortlichkeiten und Handlungsmöglichkeiten klar zu benennen. Ich will mögliche Ergebnisse der Arbeitsgruppe nicht vorwegnehmen, aber wichtig ist aus meiner Sicht, dass jeder dieser Beteiligten seine Aufgabe und ihre Grenzen kennt. Dabei müssen sich meines Erachtens Durchfüh- rung und Finanzierung ganzheitlich zusammenfügen. Wer den Finanzrahmen bestimmt, trägt Verantwortung. Die kann er nicht „wegdezentralisieren“. Wenn es gelingt, dass alle Beteiligten ihre Rolle und die der anderen akzeptieren, sind wir auf dem Weg zu mehr Effizienz im SGB II ein großes Stück vorwärtsge- kommen. Hierzu kann unsere Debatte heute auch einen Beitrag leisten. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Einheitlicher euro- päischer Zahlungsverkehrsraum – Einfach, schnell und günstig für Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Unternehmen (Tagesord- nungspunkt 20) Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Ein einheitli- cher Rechtsrahmen für den europäischen Zahlungsver- kehr ist ein wesentlicher Bestandteil für den europäi- schen Binnenmarkt. Bei dem Ziel, einen europäischen Zahlungsverkehrsraum zu erreichen, in dem Bürger wie Unternehmen grenzüberschreitende Zahlungen genauso einfach, sicher, effizient und kostengünstig ausführen können wie auf nationaler Ebene, sind wir uns im Grundsatz einig. Daher haben wir als Koalitionsfraktio- nen bereits am 31. Mai 2006 den Antrag „Grenzüber- schreitender Zahlungsverkehr im europäischen Binnen- markt“ im Deutschen Bundestag verabschiedet. Dieser Antrag enthält die wesentlichen Leitlinien des deutschen Parlaments, die wir der Bundesregierung für die Ver- handlungen auf EU-Ebene frühzeitig mit auf den Weg gegeben haben. Diesen Antrag wollten Sie damals leider nicht unterstützen. Stattdessen legen Sie heute einen Antrag auf den Tisch, der ein Sammelsurium an unkoordinierten Vor- schlägen darstellt und sich in keinem Fall gründlich mit der Problemlage befasst. Sie fordern einen einheitlichen Zahlungsverkehrsraum für Verbraucher und Unterneh- mer und vermischen dabei wild die verschiedenen The- menbereiche. Sie fordern auf knappen zwei Seiten – al- lein das ist schon Indiz dafür, dass Sie sich nicht intensiv mit dem Themengebiet auseinandergesetzt haben – so ganz nebenbei, den Anwendungsbereich der EU-Richtli- nie auch auf Drittstaaten zu erweitern – völlige Utopie, da der EU-Gesetzgeber hierfür gar keine Kompetenz be- sitzt –, ein Recht auf ein Girokonto auf Guthabenbasis, und Sie verknüpfen SWIFT mit der Einführung von SEPA, was wir grundsätzlich nicht für zielführend hal- ten. Aber wir werden noch genügend Zeit haben, uns da- mit detailliert im Finanzausschuss zu beschäftigen. Für CDU und CSU ist in Sachen Zahlungsverkehr im- mer klar: Im Zentrum unseres Interesses stehen nicht nur die Bedingungen für die Wirtschaft, sondern insbeson- dere die Möglichkeiten der Privatkunden in ganz Eu- ropa. Unserer Auffassung nach ist für sie eine unkompli- zierte und kostensparende Handhabung aller Systeme eine der wesentlichsten Voraussetzungen, damit alle An- gebote, die der europäische Binnenmarkt anbietet, auch genutzt werden können. Deshalb unterstützen wir einen Rechtsrahmen, der effizient, sicher und kundengerecht die Zahlungsverfahren für alle Mitgliedstaaten der Euro- päischen Union unterstützt. Dabei allerdings auf ein vollkommen neues europaweites System zu setzen, das die bestehenden innerstaatlichen Zahlungssysteme ablö- sen und darüber hinaus auch noch zusätzlich weltweite Anforderungen aufbauen soll, halten wir für falsch. In diesem Sinn entspricht der Ende 2005 von der Kommis- sion vorgelegte Richtlinienvorschlag über Zahlungs- dienste im Binnenmarkt nicht unserer Auffassung. Wir haben daher – wie bereits erwähnt – die Bundes- regierung mit unserem Antrag vom Mai letzten Jahres aufgefordert, die Vorlage der Kommission in einer Reihe von Punkten zu ändern. Der Wirtschafts- und Währungs- ausschuss des Europäischen Parlaments hat uns dabei im Übrigen mit einem eigenen Vorschlag zur Änderung der Kommissionsrichtlinie weitgehend unterstützt. Entgegen Ihrer Aussage in Ihrem Antrag stellen die nationalen Zahlungssysteme kein Hemmnis für einen ef- fizienten grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr dar. Etwa 98 Prozent aller Zahlungen in den Mitgliedstaaten haben heute keinen grenzüberschreitenden Hintergrund, und das wird sich sicherlich auch in Zukunft nicht än- dern. Das liegt nicht an irgendwelchen künstlichen Bar- rieren – wie Sie behaupten –, sondern das liegt schlicht und ergreifend an der Tatsache, dass kein erheblicher Bedarf an grenzüberschreitenden Zahlungen vorhanden ist. Unserer Auffassung nach müssen daher Verfahren für rein nationale Zahlungsvorgänge, die sich heute be- währt haben und auch kostengünstig angeboten werden, deshalb auch in einem einheitlichen Zahlungsverkehrs- raum erhalten bleiben. Sie bedürfen keiner europaweiten neuen Regulierung. In diesem Sinne fordern CDU/CSU und SPD in ihrem Antrag vom letzten Jahr die Bundesregierung auf, die laufenden Ratsverhandlungen kritisch zu begleiten und alle Vorschläge der Europäischen Kommission, bezogen auf den europäischen Zahlungsverkehr, genau zu prüfen. Der neue Rechtsrahmen soll innerstaatliche Zahlungs- vorgänge und -systeme nicht beeinträchtigen und die Grenzen des EU-Rechtsraumes einhalten. Darüber hi- naus gilt es, sich in der weiteren Regulierung alleine auf die Harmonisierung des unbaren Zahlungsverkehrs zu konzentrieren und gegenüber der Verwendung von Bar- geld stets den Grundsatz der Neutralität des Zahlungs- mittels zu wahren. Diese Forderungen sind heute genauso aktuell wie im Mai letzten Jahres. 9002 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 (A) (C) (B) (D) Nina Hauer (SPD): Liest man den Antrag der Frak- tion Die Grünen zum einheitlichen europäischen Zah- lungsverkehrsraum, kommen einem die Forderungen und Vorschläge sehr bekannt vor. Und das aus gutem Grund: Am 31. Mai 2006 beschloss der Bundestag be- reits den Antrag „Grenzüberschreitender Zahlungsver- kehr im europäischen Binnenmarkt“ der Koalitionsfrak- tionen SPD und CDU/CSU. Da die Grünen diesen Antrag offenbar verpasst haben, bin ich gerne bereit, hier noch einmal die wichtigsten Eckpunkte aufzuführen. Die Koalitionsfraktionen forderten die Bundesregie- rung auf, in den Verhandlungen darauf hinzuwirken, dass ein einheitlicher EU-Zahlungsverkehrsraum ver- braucherfreundlich ausgestaltet wird. Gleichzeitig sollte die heimische Kreditwirtschaft nicht überfordert werden. Daher waren die Koalitionsfraktionen der Meinung, die Richtlinie solle nur für Zahlungsvorgänge in der EU gel- ten, nicht aber für Zahlungen nach oder von Drittlän- dern. Für die Verbraucher stellten wir mit unserem An- trag sicher, dass innerstaatliche Zahlungsvorgänge, die im Alltag der Verbraucher auch weiterhin eine bedeuten- dere Rolle einnehmen als europäische Zahlungsvor- gänge, nicht durch die Neuregelungen auf EU-Ebene be- einträchtigt werden. Sprich, sie sollten nicht teurer, weniger zuverlässig oder langsamer werden. Wichtig war uns zudem, dass kein Aufsichtsgefälle zwischen Kreditinstituten und Zahlungsdienstleistern entsteht, das die Kreditinstitute benachteiligt und die Sicherheit von Zahlungsvorgängen gefährdet. Diese Forderungen sind auch im vorliegenden Antrag zu finden. Nun ist es ja im Prinzip erfreulich, dass auch die Fraktion Die Grünen letztendlich die Wichtigkeit dieses EU-Projektes für die Verbraucher erkannt hat. Es reicht aber nicht, ein hübsches Hochzeitskleid zu ha- ben – wichtig ist, das Kleid am richtigen Tag anzuzie- hen. Und da liegt der gewichtige Unterschied zwischen unserem Antrag vom Mai 2006 und dem hier vorliegen- den: Unser Antrag teilte der Bundesregierung zu einem frühen Zeitpunkt der Verhandlungen auf EU-Ebene mit, wie der Deutsche Bundestag dieses wichtige Thema sieht. Zu diesem Zeitpunkt war ein solcher Antrag sinn- voll, da er von der Bundesregierung forderte, sich für Verbraucherschutz und die heimische Kreditwirtschaft einzusetzen. Die Bundesregierung hat diese Leitlinien des Bundestages in die Verhandlungen der letzten zehn Monate einfließen lassen. Inzwischen jedoch sind die Gespräche zwischen den EU-Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament sehr weit fortgeschritten. In den Zeitungen war in den letzten Wochen zu lesen, dass die Verhandlungen in einigen Streitpunkten festge- fahren zu sein scheinen. Die deutsche Ratspräsident- schaft setzt sich trotzdem mit viel Engagement für eine Einigung in diesem wichtigen Projekt ein. Am 27. März 2007, also nächste Woche, soll nach einer abschließen- den Einigung im Ministerrat gesucht werden. Ein sinn- voller Kompromiss wird wohl nötig sein, um den Start- termin 2008 einhalten zu können. Daher ist es unnötig und kontraproduktiv, jetzt durch einen Antrag mit detail- lierten Forderungen den Handlungsspielraum der Bun- desregierung einzuschränken. Schließlich gab bereits der Antrag der Koalitionsfraktionen die wesentliche Aus- richtung der deutschen Position – also Verbraucher- schutz und keine Überbelastung der Kreditwirtschaft – vor. Angesichts des fortgeschrittenen Verhandlungsstatus und dem bereits seit langem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen stellt sich also die Frage, was die Grünen mit diesem Antrag zu erreichen hoffen. Dieser Antrag bringt nichts Neues und kommt zu spät – daher wird er keine Wirkung entfalten und wird von uns abge- lehnt. Frank Schäffler (FDP): Nach aktuellen Meldungen ist es auf europäischer Ebene gelungen, eine Einigung über den einheitlichen europäischen Zahlungsverkehrs- raum, SEPA – Single Euro Payments Area, herbeizufüh- ren. Das ist eine gute Nachricht für den Finanzplatz Deutschland. Damit ist dem vorliegenden Antrag die Geschäfts- grundlage entzogen. Im Grunde ist auf höherer Ebene schon alles entschieden. Das ist aber auch kein Problem, da der Bundestag mit der Verabschiedung des Antrags „Grenzüberschreitender Zahlungsverkehr im europäi- schen Binnenmarkt“, Drucksache 16/1646, am 1. Juni vergangenen Jahres bereits seine Position deutlich ge- macht hat. Der vorliegende Antrag der Grünen ist Stückwerk und wiederholt nun einige Punkte aus diesem Antrag. Dane- ben stellen die Grünen einige unklare Forderungen und schießen völlig über das Ziel hinaus. Eine Wiederholung der Position des Bundestages fin- det sich bei den angemessenen Eigenkapitalanforderun- gen für Zahlungsinstitute. Hier vertreten auch wir die Auffassung, dass das Prinzip „gleiche Risiken, gleiche Vorschriften“ gelten muss. Nur so können gleiche Wett- bewerbsbedingungen herrschen. Unklar ist zum Beispiel, was Sie in Ihrem Antrag un- ter Punkt 1 meinen, wenn Sie fordern, dass der Anwen- dungsbereich der Richtlinie „langfristig“ auch auf Dritt- staaten ausgeweitet werden soll. In der Debatte am 1. Juni 2006 hatte Herr Dr. Schick für die Grünen auch noch ausgeführt, dass „die Ausweitung des EU-Zah- lungsverkehrs auf Drittstaaten und die USA“ „zu weit“ gehe. Was ist der Sinneswandel? Heute so, morgen so? Das müssen Sie uns schon erklären. Zu weit gehen Ihre Vorschläge, wenn Sie in Ihrem Antrag fordern, die Haftung der Kreditinstitute auf den Eingang auf dem Empfängerkonto auszudehnen. Das Kreditinstitut des Auftraggebers kann den Zahlungsweg nur bis zum Institut des Empfängers beeinflussen. Wie schnell dieses den Betrag dem Empfängerkonto gut- schreibt, kann es jedoch nicht beeinflussen. Die Haftung für das Verhalten Dritter, auf die man keinen Einfluss hat, entspricht nicht dem rechtsstaatlichen Verständnis der FDP-Fraktion. Ziel der FDP ist es, bei der Verwirklichung von SEPA eine Balance zu finden zwischen den Verbraucherinte- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 9003 (A) (C) (B) (D) ressen und den Belastungen für die Kreditwirtschaft. Das heißt konkret, dass die Ausführungsfrist nicht ohne Übergangsfrist auf einen Bankarbeitstag begrenzt wer- den darf, wie dies die Kommission ursprünglich vorge- schlagen hat. Dies führt zu zusätzlichem Aufwand, den am Ende doch der Verbraucher bezahlen muss. Wir den- ken, dass der Europäische Wirtschafts- und Währungs- ausschuss dazu vernünftige Kompromissvorschläge ge- macht hat. Zur Rolle der öffentlichen Hand: Das ist wirklich ein Armutszeugnis. 50 Prozent des Zahlungsverkehrs wird durch die öffentliche Hand verursacht. Wenn die Kredit- wirtschaft die gewaltige Kraftanstrengung bei der Ein- führung von SEPA bewältigt, ist es verständlich, dass sie als Gegenleistung eine Zusage erwartet, dass die öffent- liche Hand SEPA auch nutzt. Völlig am Thema vorbei geht jedoch die Forderung nach einem europaweiten „Girokonto für jedermann“. Wir sollten die Reform des Kontenpfändungsrechts ab- warten. Nach Auffassung der FDP brauchen wir in Deutschland keine gesetzliche Regelung für ein „Giro- konto für jedermann“, und damit brauchen wir es auf eu- ropäischer Ebene erst recht nicht. Allenfalls die Länder können das Girokonto für jedermann einführen, wenn sie das für sinnvoll halten. Schon heute haben zehn von 16 Bundesländern dies in ihren Sparkassengesetzen ge- regelt, sodass das vermeintliche Problem zumindest in diesen Ländern gar nicht vorhanden sein kann. Lassen Sie uns die Chancen des europäischen Bin- nenmarktes auch beim Zahlungsverkehr nutzen! Der Verbraucher wird es uns danken. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Berlin wird an diesem Wochenende Gastgeberin eines großen Fests sein – 50 Jahre Römische Verträge, 50 Jahre Europäi- sche Gemeinschaft werden quasi vor unserer Haustür gefeiert. Übersehen werden kann jedoch auch nicht in der Eu- phorie dieses Jahrestages, dass nicht wenige Menschen in dieser Gemeinschaft leben, die sie noch nicht als ihr Zuhause empfinden, die soziale existenzielle Ängste he- gen und das entstandene EU-Regelwerk als intransparent und bürgerfern bewerten. Fakt ist, dass Kapital und Markt längst europäisiert sind, nicht aber soziale, ökologische und auch steuerli- che Gesetze. Es gibt viel zu tun hinsichtlich einer Har- monisierung und Transparenz von jetzigen und zukünfti- gen EU-Richtlinien. Die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Gemeinschaft wollen in ihren Rechten und Bedürfnissen wahrgenommen werden, nur dann können und werden sie sich auch identifizieren und einbringen. Das trifft auch auf die Anforderungen an den europäi- schen Zahlungsverkehrsraum zu, dessen Vereinheitli- chung wir ausdrücklich begrüßen, aber auch kritisch be- gleiten werden. Dieser Zahlungsverkehrsraum betrifft vorrangig die Tätigkeit der Banken, die elektronische Zahlungen wie Lastschriften und Überweisungen euro- paweit nach einheitlichen Regeln abwickeln müssen. Die EU-Richtlinie bildet hierzu den rechtlichen Rah- men für die Kreditwirtschaft im einheitlichen Zahlungs- verkehrsraum (EPA). Die Richtlinie regelt Fristen zur Abwicklung für Finanztransaktionen und umfasst Vor- schriften zum Verbraucherschutz. Das Ziel des einheitlichen Zahlungsverkehrsraums in Europa besteht in einem stärkeren Wettbewerb zwischen den Anbietern. Kunden sollen künftig auf einem europa- weiten Markt günstige und sichere Leistungen erhalten. Das ist das Ziel oder die Vision. In der Gegenwart sieht es so aus, dass beispielsweise elektronische Zahlungen in jedem Land anders geregelt sind, Bezahlungen per Lastschrift gestalten sich grenzüberschreitend schwierig. Das sind ganz offensichtlich Kinderkrankheiten eines zukünftigen einheitlichen europäischen Zahlungsver- kehrsraums, die es zu überwinden gilt. Die Gestaltung des SEPA (Single Euro Payments Area) des europäischen Zahlungsverkehrsraums, ver- langt eine stärkere politische und staatliche Reglemen- tierung von Zahlungsinstituten ohne Banklizenzen, ver- langt Angleichung einzelstaatlicher Rechtsordnungen, verlangt eine verbesserte Informationspflicht der Anbie- ter der Kreditwirtschaft und eine hohe technische Sicher- heit des Zahlungsverkehrs. Eine Harmonisierung darf je- doch nicht zulasten bestehender bewährter Regelungen erfolgen. Hier ist das deutsche Lastschriftverfahren zu nennen. Es sollte nicht durch Überregulierung geopfert werden. Umgekehrt wirken die Praktiken der britischen Kreditwirtschaft im Bereich von Finanzdienstleistungen, besonders bei Verbraucherkrediten, disharmonierend. Sie tragen nicht zu einem verbraucherfreundlichen ein- heitlichen europäischen Zahlungsraum bei. Die EU-Richtlinie umfasst zudem noch nicht alle Zahlungen mit außereuropäischen Partnern und in Nicht- EU-Währungen. Das halten wir für ein Problem, weil Europa keine weltenferne Insel ist. Probleme ergeben sich so beim Einsatz von Kreditkarten, da die Gefahr be- steht, dass Daten ausspioniert und kopiert werden kön- nen und außerhalb der EU betrügerisch eingesetzt wer- den können. Es ist vor allem im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn sie zukünftig in ihrem Verkehrs- zahlungsraum von der Kreditwirtschaft mit vorvertragli- chen, vergleichbaren und verständlichen Informationen kostenlos versorgt werden. Der vorliegende Antrag der Bündnisgrünen fordert Einzelmaßnahmen zur besseren Regulierung des Zah- lungsverkehrs auf dem europäischen Binnenmarkt und fordert die Bundesregierung auf, im Rahmen der Bera- tungen zur EU-Richtlinie im ECOFIN Einzelforderun- gen einzubringen. Schon heute ist es doch alltäglich, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger, insbesondere jedoch junge Leute, in Europa mobiler werden und zeitweise oder für immer ihr Geburtsland verlassen. Studium, Arbeit und Bildung erfordern heute ein hohes Maß persönlicher Mobilität. Für ein solches bewegtes Leben müssen auch entsprechende schnelle und sichere Zahlungsverkehrsre- geln geschaffen werden. Es kann also nicht sein, dass 9004 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 (A) (C) (B) (D) Zahlungsüberweisungen von Berlin nach Barcelona sechs Tage brauchen. Im Antrag wird eine Ausführungs- frist von zwei Tagen gefordert. Das halten wir für ange- messen und zeitgemäß. Wir stimmen dem Antrag zu, weil wir politische Re- gulierungen, wie die einer Einschränkung der Monopoli- sierung von SWIFT (Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication), für dringend geboten halten. Sie wissen, dass meine Fraktion einen Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über das Kreditwesen einge- bracht hat. So halten auch wir die EU-weite Ausdehnung des Rechts auf ein eigenes Girokonto als Voraussetzung für eine diskriminierungsfreie Teilnahme am einheitli- chen europäischen Zahlungsverkehr für geboten. Die Orientierung auf dem Marktplatz des europäi- schen Zahlungsverkehrsraums wird für Verbraucher nicht einfacher, wir stehen erst am Anfang einer Ent- wicklung. Auch von einem effektiven, verbraucher- freundlichen, transparenten einheitlichen europäischen Zahlungsverkehrsraum wird zukünftig abhängen, wie die Menschen Europa wahrnehmen werden. Hier stehen wir in gemeinsamer Verantwortung. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit einem einheitlichen europäischen Zahlungsver- kehrsraum sollen grenzüberschreitende Zahlungsströme einfach, schnell und günstig werden, und zwar sowohl für Bürgerinnen und Bürger als auch für Unternehmen. In der EU wird über die konkreten Inhalte zwischen EU- Kommission, EU-Parlament und EU-Mitgliedstaaten im Rahmen eines EU-Richtlinienentwurfs aktuell noch hef- tig und im Detail gestritten. Am 27. März 2007 – also schon nächste Woche Dienstag – soll der Europäische Rat für Wirtschaft und Finanzen entscheiden. Das ist eine wichtige Gelegenheit, dass wir uns aktiv einmi- schen. Oft hatten wir in der Vergangenheit das Problem, dass wir uns als nationales Parlament nicht rechtzeitig in die Positionsfindungen in Brüssel einbringen konnten, weil wir uns zu sehr auf den Informationsfluss über die deut- sche Regierung verlassen haben. Um diesen Informa- tionsfluss zu beschleunigen, gibt es ja seit letztem Jahr eine dezidierte Vereinbarung zwischen Deutschem Bun- destag und Bundesregierung. Diese hat unsere Aufmerk- samkeit und unseren Blick für die Bedeutung der Brüs- seler Entscheidungsprozesse natürlich noch einmal ganz erheblich geschärft. Dies vorab zu erwähnen, ist mir ein besonderes Anliegen, weil der Antrag, den unsere Frak- tion zum EU-weit einheitlichen Zahlungsverkehrssystem als Handlungsauftrag an die Regierung hier und heute zur Entscheidung bringen will, ein Beispiel dafür ist, dass wir die verbesserten Teilhabemöglichkeiten auch tatsächlich nutzen wollen. Wir wollen nämlich mit die- sem Antrag der Bundesregierung, in diesem Fall dem Bundesfinanzminister Steinbrück, für die Entscheidung in Brüssel, in diesem Fall im Ecofin-Rat, ganz konkrete Handlungsanweisungen mit auf den Weg geben. Uns geht es in dem vorliegenden Antrag im Grund- satz darum, dass Kundeninteressen durchgesetzt werden, ohne die Kreditwirtschaft zu überfordern. Das muss na- türlich konkret ausformuliert werden und kommt nach unserer Auffassung in folgenden Eckpunkten zum Aus- druck: Die Kundengelder müssen bei Überweisung, Last- schrift und Kartenzahlung hinreichend abgesichert sein. Denn die Kunden müssen sich darauf verlassen können, dass der Zahlungsweg nicht unwägbaren Risiken unter- liegt. Kreditgeschäfte darf es grundsätzlich nicht außerhalb der beaufsichtigten Geschäftstätigkeit der Banken ge- ben. Denn sonst können sich die Kunden nicht mehr auf die Sicherheitsstandards verlassen, die sie bei der Kre- ditaufnahme bei einer inländischen Bank gewohnt sind. Die Ausführungszeit, innerhalb der die Zahlung vom Ausgangskonto abgebucht und dem Empfängerkonto gutgeschrieben wird, darf nicht länger als zwei Tage dauern. Denn beim aktuellen Stand der technischen Ent- wicklung müsste es eigentlich sogar auch in der Regel kürzer möglich sein. Die Haftung dafür, dass die Zah- lung innerhalb der vorgegebenen Zeit auf dem Empfän- gerkonto richtig ankommt, muss sich für die ausführen- den Zahlungsinstitute bis zum Eingang auf dem Empfängerkonto erstrecken. Denn die Zahlungsinstitute haben im Vergleich zum einzelnen Kunden ganz andere Möglichkeiten, den Zahlungsweg zu überwachen, Fehler zu korrigieren oder auch vom empfangenden Institut Korrekturen zu verlangen und durchzusetzen. Diesem sind nämlich solche Einfluss- und Eingriffsmöglichkei- ten in der Regel verwehrt. Darüber hinaus fordern wir aber auch das Recht auf ein Girokonto auf Guthabenbasis für alle Verbraucherin- nen und Verbraucher in der EU. Denn nur wenn alle Bür- gerinnen und Bürger auch ein Recht auf ein solches Konto haben, kann der Zugang zum einheitlichen euro- päischen Zahlungsverkehrsraum überhaupt erst ermög- licht werden. Schließlich möge die Bundesregierung bei SWIFT – das ist die Abkürzung für Society for Worldwide In- terbank Financial Telecommunication – dafür Sorge tragen, dass sich das Datenmonopol dieser privat- rechtlichen Gesellschaft nicht weiter verfestigt. Bei dieser Gesellschaft in Belgien laufen nämlich alle Zahlungsverkehrsdaten in Europa zusammen, sie stellt faktisch eine Monopolgesellschaft bei inner- europäischen Zahlungsvorgängen dar. Die Gefahr der ungeprüften Weitergabe von Zahlungsverkehrsdaten an Drittstaaten – konkret an die USA – hat uns im Fi- nanzausschuss ja schon letztes Jahr beschäftigt. Auch dazu werden wir einen eigenen Antrag schon nächste Woche hier im Hohen Hause weiter debattieren. Das ist in Kürze der Inhalt unseres Antrags. Wir set- zen natürlich darauf, dass sich auch die anderen Fraktio- nen an den Entscheidungsprozessen in Brüssel aktiv be- teiligen wollen. Schließlich haben wir dies in der Vergangenheit auch schon erfolgreich beim Regelwerk zu Basel II praktiziert. Diese Form der Teilhabe wollen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 9005 (A) (C) (B) (D) wir noch weiter intensivieren. Unser Antrag ist erst der Anfang. Deshalb fordere ich auf, unserem Antrag zuzu- stimmen, um einen finanzmarktverträglichen Verbrau- cherschutz in Europa zu sichern und die Stimme des Deutschen Bundestages in Brüssel zu stärken. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Weitere Verschlech- terung der Rechtssituation von Homosexuellen in Nigeria verhindern (Tagesordnungspunkt 21) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Die nige- rianische Regierung hat im Jahre 2005 einen umfassen- den Gesetzentwurf gegen gleichgeschlechtliche Partner- schaften verabschiedet. Nach diesem soll nicht nur die Anerkennung solcher Partnerschaften ausgeschlossen sein, nein, sogar die Eingehung einer gleichgeschlecht- lichen Partnerschaft, Vorbereitungshandlungen hierzu und die Mitwirkung daran sollen mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug bewehrt werden. Gleiches soll danach für die Werbung für und die Dar- stellung solcher Partnerschaften sowie die Eintragung homosexueller Vereine und Clubs gelten. Die 1999 in den nördlichen Bundesstaaten einge- führte Scharia-Strafgesetzgebung sieht noch härtere Strafen für Homosexualität vor, die dort als „Sodomie“ bezeichnet wird. So stellt zum Beispiel der nördliche Bundesstaat Zamfara den gleichgeschlechtlichen Kon- takt von zwei Frauen aufgrund der Scharia mit bis zu 50 Stockschlägen unter Strafe. Ich möchte hier nur eine bekannte Verurteilung an- führen: Anfang 2002 wurde ein Mann im Bundesstaat Zam- fara wegen Sodomie zu 100 Stockschlägen und einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Die geringe Zahl an bekannten Verurteilungen erklärt sich dadurch, dass die Betroffenen Schutzgelder zahlen oder in den Süden des Landes fliehen und überhaupt sehr vorsichtig agieren, um sich nicht „erwischen“ zu lassen und dass zudem sehr wenige Informationen nach außen dringen. Durch Berichte von amnesty international ist bekannt, dass viele Homosexuelle ein Doppelleben führen. Auf der einen Seite führen sie eine heterosexuelle Bezie- hung, aber nur damit sie damit ihre homosexuelle Bezie- hung vor dem Staat verdecken können. Am 14. Februar gab es zu dem Gesetzesvorschlag der nigerianischen Regierung eine öffentliche Anhörung im Repräsentantenhaus mit NROs, an der – nach anfängli- chen Schwierigkeiten – auch Vertreter von Interessen- gruppen der Homosexuellenverbände teilnehmen konn- ten. Am 22. Februar wurde der Senat mit dem Gesetzesvorschlag befasst. Nach Einschätzungen von Beobachtern vor Ort gibt es im Repräsentantenhaus Unterstützung für das Gesetz, während der Senat gespalten scheint. Vor einer mögli- chen Verabschiedung wird der Entwurf nun im Aus- schuss für Justiz, Menschenrechte und Rechtsangelegen- heiten des Senats behandelt. Die nigerianischen Zeitungen berichten allerdings offen über das Thema. Ist das was sich gerade in Nigeria abspielt ein Einzel- fall? Mit Verlaub, NEIN! Wir haben ein solches Phäno- men auch in dem doch so zivilisierten Europa. Der stellvertretende polnische Erziehungsminister hat ver- gangene Woche angekündigt, dass Lehrer, die an Schu- len während des Unterrichtes über Homosexualität spre- chen, entlassen werden. Das dafür geplante Gesetz, das auch Aufklärung über Geschlechtskrankheiten durch Homosexuelle Organisationen verbieten soll, wird der- zeit durch die polnische Regierung erarbeitet. Aber es gibt auch andere Staaten, die mit Homosexua- lität und Menschenrechten weitaus offener und demo- kratischer umgehen. Und es ist sehr erfreulich, dass sich eines der Vorreiterländer auf dem afrikanischen Konti- nent befinden. Ich rede hierbei von Südafrika! Südafrika hat als erstes afrikanisches Land die Homo- Ehe seit dem 30. November 2006 legalisiert. Es ist nicht zu verschweigen dass dies auch in Südafrika ein steini- ger Weg war und die Abstimmung im Parlament sehr knapp war. Dieser positive Ansatz muss ein Signal an alle anderen afrikanischen Staaten sein, denn Südafrika zeigt damit, dass es gegen jede Art von Diskriminierung und Vorurteilen ist. Diese Offenheit Südafrikas und die Achtung der Menschenrechte müssen unterstützt wer- den. Wie kann die Bundesrepublik Deutschland nun aber den Menschen in Nigeria helfen? Im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Ge- setzentwurfes zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft gab es sowohl EU-Troika – als Demarchen aller EU- Missionschefs bei verschieden nigerianischen Dienst- stellen. Dazu gehören unter anderem der nigerianische Menschenrechtsbeauftragte, der Justizminister sowie der Rechtsausschuss von Senat und Repräsentantenhaus. Bei diesen Demarchen wurde deutlich gemacht, dass das vorgesehene Gesetz in zahlreichen Bestimmungen im Widerspruch zu internationalen Verträgen steht, deren Partei auch Nigeria ist. Alle besuchten Stellen gaben da- bei zu verstehen, dass sie davon ausgehen, dass der Ge- setzestext in der vorliegenden Fassung auf keinen Fall verabschiedet wird. Wir müssen allen Staaten, die mit Deutschland zu- sammenarbeiten wollen deutlich machen, dass eine ver- trauensvolle Zusammenarbeit nur möglich ist, wenn das Land die Menschenrechte achtet und auch einhält. Wir müssen Nigeria deutlich machen, dass sie sich mit einem solchen Gesetz, von der sich bisher positiven Entwick- lung entfernen und in alte Zeiten zurückfallen. Nigeria muss deutlich gemacht werden, dass die Einhaltung der Menschenrechte ein Grundbaustein einer lebendigen 9006 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 (A) (C) (B) (D) Demokratie ist und der vorliegende Gesetzesentwurf ein Einschnitt in die Menschenrechte von Homosexuellen in Nigeria ist und von den europäischen Ländern nicht zu akzeptieren ist. Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Wir beschäftigen uns heute mit einem Gesetzesvorhaben, das in das Parla- ment eines anderen Landes, Nigeria, eingebracht wurde und dort mit unterschiedlichen Meinungen – diskutiert wird. Die Beschäftigung mit Gesetzgebungsvorhaben ande- rer Staaten hier im Deutschen Bundestag in diesem Sta- dium ist durchaus unüblich, weil während des Gesetzge- bungsverfahrens endgültige Ergebnisse nicht vorliegen können und damit Endgültiges über die Haltung des Landes bzw. die Strafgesetze noch nicht gesagt werden kann. Im vorliegenden Fall allerdings ist es sicherlich ge- rechtfertigt, sich mit diesem nigerianischen Gesetzent- wurf zu beschäftigen, weil dieser die Absicht verfolgt, gleichgeschlechtlich orientierte Menschen nicht nur in übler Weise zu diskriminieren, sondern mit schlimmsten Strafen zu bedrohen, die zudem auch noch für soge- nannte Vorbereitungshandlungen gelten sollen. Diese Initiative muss erschrecken. Sie erinnert an die dunkelsten Zeiten der Verfolgung von Homosexuellen, die auch in Europa in verschiedenen Epochen an der Tagesordnung war. Auch in der europäischen Rechts- tradition galt lange Zeit, gleichgeschlechtlich orientierte Menschen zu Sündenböcken zu machen und sie mit dra- konischen Strafen zu belegen. Die Diskriminierung von gleichgeschlechtlich orientierten Menschen widerspricht dem Grundgedanken der Menschenrechte; unser Bemü- hen und unsere politische Arbeit gehen dahin, Diskrimi- nierung nicht nur in unserem Land und in Europa, son- dern überall auf der Welt zu überwinden. Gerade wenn es um gleichgeschlechtlich orientierte Menschen geht, lehren uns allerdings Vorfälle auch in Polen oder in Russland, aber auch in afrikanischen Staa- ten immer wieder, dass ein Ende der Verfolgung von Homosexuellen und anderen Minderheiten noch längst nicht erreicht ist und dass wir noch längst nicht von einem gesicherten Bestand des Menschenrechts auf sexuelle Selbstbestimmung und auf Schutz der sexuellen Orientierung sprechen können. Deshalb ist es wichtig, dass gerade auch Länder wie die Bundesrepublik Deutschland, aber auch die Europäi- sche Union, deren Präsidentschaft die Bundesrepublik Deutschland derzeit innehat, aufmerksam sind und rechtzeitig Einspruch einlegen, wenn Entwicklungen drohen, die in die Richtung der Verfolgung von Minder- heiten und der Verletzung von Menschenrechten weisen. Im konkreten Fall kommt hinzu, dass nach den Dis- kussionen in der nigerianischen Öffentlichkeit, zumal jetzt in der Zeit vor den anstehenden Wahlen, nicht aus- geschlossen werden kann, dass aus dieser parlamentari- schen Initiative auch tatsächlich Gesetz wird. Die wiederholte Diskussion der Sorgen im Hinblick auf diese Gesetzesiniative im Ausschuss für Menschen- rechte und Humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages war deshalb angesagt, um deutlich zu machen, dass diese Menschenrechtsverletzungen und insbesondere die Ver- folgung gleichgeschlechtlich orientierter Menschen auf keinen Fall hingenommen werden können. Wir nehmen deshalb mit Zufriedenheit zur Kenntnis, dass die Bundesregierung und die Europäische Union diesen gemeinsamen Standpunkt in der Bundesrepublik Deutschland, der auch einer gemeinsamen Haltung der im Bundestag vertretenen Parteien entspricht, den ver- antwortlichen Machthabern in Nigeria gegenüber sehr deutlich zum Ausdruck gebracht haben. Diese Intervention in Menschenrechtsfragen ist erfor- derlich; deshalb unterstützen wir die Bundesregierung und die EU nicht nur in diesen Fragen, sondern fordern sie auch auf, den Fortgang der Beratungen in Nigeria ge- nau zu beobachten und gegebenenfalls geeignete Maß- nahmen zu treffen. Florian Toncar (FDP): Der Antrag, den wir heute debattieren, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf einen Missstand bei der Achtung der Menschenrechte in Nige- ria. Unter dem Vorwand, die Verbreitung von HIV/Aids eindämmen zu wollen, versuchen selbsternannte Moral- wächter mit religiös-fundamentalistischen Scheinargu- menten christlicher und muslimischer Couleur, die Rechte von Homosexuellen in Nigeria weiter einzu- schränken. Dazu wird im Moment im nigerianischen Parlament ein ausgesprochen repressiver Gesetzentwurf verhandelt, der bald verabschiedet werden könnte. Dies wäre nicht hinnehmbar. Die Bundesregierung muss der nigerianischen Regierung rechtzeitig im Vorfeld klarma- chen, dass dieser Gesetzentwurf, der gleichgeschlechtli- che Partnerschaften verbieten und deren gesamtes Um- feld kriminalisieren soll, nicht verabschiedet werden darf. Die FDP als Partei der liberalen Bürgerrechte setzt sich seit jeher für die Freiheit der individuellen Lebens- gestaltung ein. Daher teilt die FDP den Grundgedanken des vorliegenden Antrags und wird ihm zustimmen. Die bisherige Rechtssituation von Homosexuellen in Nigeria ist leider schon jetzt ausgesprochen prekär. So sind gleichgeschlechtliche Beziehungen auch heute schon strafbar. Offiziell sieht das nigerianische Straf- recht bis zu 14 Jahre Haft für homosexuelle Handlungen vor. In den nördlichen Bundesstaaten Nigerias, die mus- limisch geprägt sind und wo die islamische Sharia gilt, kann Homosexualität sogar mit dem Tode durch Steini- gung bestraft werden. Vertreter der nigerianischen Re- gierung haben diese Regelung jüngst vor dem UN-Men- schenrechtsrat mit den Worten gerechtfertigt, dass eine Steinigung eine „angemessene und gerechte Strafe“ für „unnatürliche Geschlechtsakte“ sei. Auch wenn unter- schiedliche Quellen vom Auswärtigen Amt bis zu interna- tionalen Homosexuellen-Vereinigungen davon ausgehen, dass freiwillige homosexuelle Handlungen zwischen Er- wachsenen in Nigeria faktisch nicht mehr bestraft wer- den, so ist die bereits existierende Rechtslage völlig in- akzeptabel. Das gedankliche Grundkonzept, auf dem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 9007 (A) (C) (B) (D) diese intolerante Politik basiert, ist mittelalterlich und willkürlich. Der aktuell in Nigeria debattierte Gesetzentwurf der „Same Sex Marriage Prohibition Bill“ sieht fünf Jahre Gefängnis für jeden vor, der eine Beziehung mit einer Person des gleichen Geschlechts hat oder eine gleichge- schlechtliche Heirat durchführt, bezeugt und begünstigt. Ebenso unter Strafe gestellt werden die Registrierung oder der Unterhalt von Homosexuellenklubs, -vereinen und -organisationen. Damit wird eine ganze gesellschaft- liche Gruppe kriminalisiert; systematische Menschen- rechtsverletzungen werden gesetzlich legitimiert. Der Gesetzentwurf verbietet ferner die Adoption ei- nes Kindes durch Lesben oder Schwule. Außerdem er- klärt das Gesetz im Ausland geschlossene gleichge- schlechtliche Lebenspartnerschaften für ungültig. Der perfide Tiefpunkt ist, dass auch örtliche Menschen- rechtsvertreter, welche sich für lesbische, schwule, bisexuelle und Transgender-Rechte einsetzen, mit Ge- fängnisstrafe belegt werden können. So soll unterbunden werden, dass sich andere Bürger und die Zivilgesell- schaft mit den Homosexuellen solidarisch erklären. Da- mit wären Homosexuelle vollständig ausgegrenzt. Die FDP hat durch eine Kleine Anfrage über „Diskri- minierung und Verfolgung Deutscher im Ausland auf- grund ihrer sexuellen Orientierung“ erfahren, dass auch deutsche Schwule und Lesben bei Auslandsreisen Opfer von Diskriminierung wurden. Es wäre fatal, wenn Nige- ria sich offiziell in die Riege der Staaten einreihen würde, die die Rechte Homosexueller offen verletzen. Das könnte schlussendlich auch deutsche Staatsbürger in Nigeria betreffen. Die nigerianische Regierung und das dortige Parla- ment müssen sich fragen, was für Konsequenzen dieses Gesetz hätte. Neben der beschriebenen Verletzung der Menschenrechte Homosexueller würde das Gesetz in Ni- geria eine ohnehin schon stigmatisierte Gruppe weiter in den Untergrund abdrängen. Eine solche Entwicklung würde die ohnehin schon schwierigen Bemühungen bei der Bekämpfung von HIV/Aids in Nigeria weiter behin- dern. Das vorgeschobene Argument der Urheber des Ge- setzentwurfs, die Kriminalisierung von Homosexualität würde die Ausbreitung von Aids unterbinden, ist nicht nur falsch. Es ist auch gefährlich, da die Ausgrenzung und Tabuisierung die gesundheitliche Aufklärung der Betroffenen völlig unmöglich macht. Kurzum: Dieses Gesetz ist repressiv, intolerant und kontraproduktiv. Die Bundesregierung muss im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft nachdrücklich bei der nige- rianischen Regierung aktiv werden, damit die Verab- schiedung dieses Gesetzentwurfs verhindert wird. Es ist zu begrüßen, dass die EU-Troika sowie die Botschafter aller EU-Staaten in Nigeria dies bereits mehrfach getan haben, als der Gesetzentwurf im Jahr 2005 von der nige- rianischen Regierung vorgelegt wurde. Damals wurde von nigerianischer Seite jedoch versichert, dass der Ent- wurf niemals in der vorliegenden Fassung verabschiedet werden solle. Jetzt verdichten sich die Anzeichen dafür, dass der Entwurf doch von den beiden Kammern des ni- gerianischen Parlaments verabschiedet werden könnte. Die Bundesregierung muss der Regierung von Präsi- dent Obasanjo und dem nigerianischen Parlament deut- lich zu verstehen geben, dass ein solches Antihomosexu- ellengesetz nicht akzeptabel wäre. Es steht in klarem Widerspruch zu den internationalen rechtlichen Ver- pflichtungen wie dem Internationalen Pakt über bürgerli- che und politische Rechte, dem Nigeria 1993 beigetreten ist, und verletzt darüber hinaus die Allgemeine Erklä- rung der Menschenrechte. Dort heißt es in Art. 1: Alle Menschen sind gleich in ihrer Würde und in ihren Rechten geboren. Auch wenn dieses Dokument juristisch nicht bindend ist, so hat es einen hohen moralischen Stellenwert, den man denjenigen Kräften entgegenhalten muss, die mit religiös-moralischen Scheinargumenten gegen Homose- xuelle in Nigeria vorgehen wollen. Die FDP unterstützt den vorliegenden Antrag und for- dert die Bundesregierung auf, ein klares Zeichen für To- leranz und gegen die Ausgrenzung Homosexueller an die Regierung in Nigeria zu senden. Ein solch unsägli- ches Gesetz würde der jungen nigerianischen Demokra- tie nur schaden. Daher muss Deutschland den Dialog mit den toleranten Kräften vor Ort suchen, um zu einer kon- struktiven Lösung zu gelangen. Michael Leutert (DIE LINKE): In Nigeria soll nach dem Willen des dortigen Justizministers Bayo Ojo ein Gesetzentwurf gegen gleichgeschlechtliche Lebenswei- sen oder Handlungen und deren verbale Verteidigung be- schlossen werden, der an Unmenschlichkeit kaum zu überbieten ist. Schon jetzt muss man in Nigeria bei ho- mosexuellen Handlungen mit bis zu 14 Jahren Haft rech- nen – wenn man Glück hat; in zwölf Bundesstaaten gilt nämlich das islamische Recht, welches die Todesstrafe durch Steinigung vorsieht. Nicht verschweigen dürfen wir allerdings, dass die schon ausreichende Grausamkeit von 14 Jahren Freiheitsentzug ein – offensichtlich er- folgreicher – europäischer Export, aus der britischen Ko- lonialzeit ist. Dieser unserer dunklen europäischen Ge- schichte sollten wir uns an diesem Punkt durchaus kritisch und ehrlich stellen. Dies muss Konsequenzen in Bezug auf unser derzeitiges Engagement in der Entwick- lungshilfe haben. Nun jedenfalls meint der nigerianische Justizminister diese an sich schon ausreichend inhumane Rechtslage derart zu verschärfen, dass auch Menschen, die sich po- sitiv zu homosexuellen Partnerschaften bzw. Handlun- gen positionieren, mit bis zu fünf Jahren Haft bedroht werden. Das heißt, dass Menschenrechtsaktivisten ihre Tätigkeit in diesem Bereich untersagt wird. Dies verletzt letztendlich die auch in der nigerianischen Verfassung festgehaltenen und garantierten Rechte auf Meinungs- freiheit und Versammlungsfreiheit. Der normale Men- schenverstand befiehlt uns, diese Vorgänge aufs Schärfste zu verurteilen. 9008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 (A) (C) (B) (D) Uns liegt heute ein Antrag vor, der den menschenver- achtenden Gesetzentwurf der nigerianischen Regierung verurteilt und die Bundesregierung auffordert, sich dafür einzusetzen, die nigerianische Regierung dazu zu bewe- gen, die menschenrechtlichen Standards strikt einzuhal- ten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Antrag keine Mehrheit im deutschen Parlament erhält. Meine Fraktion wird diesen Antrag in vollem Umfang unter- stützen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In bisher nicht gekannter Form will die nigerianische Regierung mit einem Gesetzentwurf Homosexuelle ver- folgen. Sie will jede Diskussion über Homosexualität ta- buisieren. Die Verletzung des Tabus soll mit fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Der neue Gesetzentwurf, der – das sei an dieser Stelle noch einmal deutlich gesagt – zusätzlich zur bestehen- den harten Gesetzgebung in Nigeria in Kraft treten soll, dringt in seiner Konsequenz weit in das Leben der Menschen ein, und er betrifft nicht nur homosexuelle Menschen. Denn jeder, der homosexuelle Verbindungen unterstützt und ihnen in irgendeiner Weise behilflich ist, soll ins Gefängnis. Das bedeutet, dass man nicht einmal Mitglied bei Amnesty International oder einer anderen Menschenrechtsorganisation sein darf, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzt. Selbst der bloße freundschaftliche Kontakt mit einem Homosexuellen, das gemeinsame Mittagessen, das Besuchen einer Ge- burtstagsfeier oder die freundschaftliche Umarmung auf der Straße kann eine Anklage nach sich ziehen. Der Ge- setzentwurf lässt hier bewusst viel Raum für Interpreta- tionen. Es ist zu befürchten, dass das Gesetz dadurch auch gegen Oppositionelle und zur Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in Nigeria eingesetzt wer- den kann. Der Gesetzentwurf ist leider exemplarisch für die Si- tuation von Homosexuellen in vielen Ländern der Welt und leider insbesondere in Afrika. Dabei sind es nicht immer kulturelle Gründe, die ein Klima der Angst und Verfolgung für Homosexuelle schaffen. In vielen alten Kulturen Afrikas ist Homosexualität durchaus akzep- tiert, auch wenn nicht offen über sie geredet wird. Es ist die neuere Geschichte, die Christianisierung und das Erbe der Kolonialzeit, in der viele heute noch gültige Gesetze gegen Homosexualität entstanden sind. So ist es auch ein Gesetz aus der britischen Kolonial- zeit Nigerias, das homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen mit 14 Jahren Gefängnis bestraft. Sexuelle Beziehungen zwischen Männern werden im gesamten nigerianischen Bundesgebiet strafrechtlich verfolgt. Nach dem Scharia-Strafrecht, das in den zwölf nörd- lichen Bundesstaaten geltendes Recht ist, wird Homo- sexualität mit dem Tod durch Steinigung bestraft. Zu- sätzlich soll nun der neue Gesetzentwurf in Kraft treten. Leider sind es oft auch die christlichen Kirchen, die in dieser Frage eine unheilige Allianz mit islamischen Ver- tretern eingehen und damit die Ressentiments gegen Ho- mosexuelle weiter schüren. So hat die Anglikanische Kirche in Nigeria unter Primas Peter Akinola den neuen Gesetzentwurf ausdrücklich begrüßt. Bischof Akinola ist schon oft mit homophoben Äußerungen in Erscheinung getreten. Er droht der Anglikanische Kirche mit Abspal- tung, sollte sie ihre Haltung zur Homosexualität liberali- sieren. In einem Interview mit der „New York Times“ gab er an, er sei zurückgeschreckt, als er zum ersten Mal einem Homosexuellen die Hand gegeben hat. Ich begrüße ausdrücklich die Äußerungen des süd- afrikanischen Bischofs und Friedensnobelpreisträgers Desmond Tutu, der auf einer Pressekonferenz im Rah- men des Weltsozialforums in Nairobi die anglikanischen Kirchenführer aus Afrika ermahnt hat, sie sollten sich lieber um drängende Angelegenheiten wie Armut oder HIV kümmern, statt ihren Kreuzzug gegen Homosexua- lität fortzusetzen. Wörtlich sagte er „Ich bin tief beunru- higt, dass wir uns angesichts der entsetzlichen Probleme nur darauf konzentrieren, wer mit wem schläft“ und: „Es ist ohnehin ungerecht, jemanden für seine sexuelle Aus- richtung zu bestrafen. Denn niemand sucht sich das aus. Das ist dasselbe, als würde wir gegen jemanden wegen seiner Hautfarbe oder seiner Rasse vorgehen. Ich ver- stehe nicht, warum wir eine Minderheit bestrafen, die ohnehin schon verfolgt wird.“ Der Gott, zu dem er bete, sehe Homosexualität nicht als höchste Priorität an. Das geplante Gesetz wird auch Auswirkung auf die HlV-Präventionsarbeit haben. Der UNAIDS-Repräsen- tant in Lagos hat das Gesetz scharf kritisiert. Die Regie- rung in Nigeria gefährdet mit diesem Gesetz ihre eige- nen Erfolge in der HlV-Prävention, indem sie Homosexuelle in den Untergrund treibt, die ohnehin un- ter ihrer Stigmatisierung zu leiden haben. Dadurch wird es schwieriger, diese Bevölkerungsteile überhaupt zu er- reichen und medizinisch zu behandeln. Teile der bürger- lichen Gesellschaft, die sich in der HIV-Vorbeugung en- gagieren, werden kriminalisiert. Sollte der Gesetzentwurf in der aktuellen Form in Kraft treten, so wäre dies eine weltweit einmalige, ge- setzlich verankerte massive Verletzung der Menschen- rechte von Homosexuellen. Es wäre ein Verstoß gegen die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, gegen den von Nigeria ratifizierten Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und gegen die afrika- nische Charta der Menschenrechte. Nach einer Anhö- rung mehrerer Ausschüsse des nigerianischen Parlamen- tes am 14. Februar 2007 scheint sich nun abzuzeichnen, dass das Gesetz noch vor den allgemeinen Wahlen im April 2007 in Kraft treten soll, obwohl sich viele zivilge- sellschaftliche Gruppen in Nigeria gegen den Gesetz- entwurf ausgesprochen haben. Auch die nigerianische Menschenrechtskommission hat Zweifel an der Notwen- digkeit des Gesetzes geäußert. Es ist zu befürchten, dass das Gesetz Signalwirkung für andere afrikanische Staa- ten hat, Homosexuelle noch stärker als bisher zu verfol- gen. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, auch im Rahmen der EU-Präsidentschaft auf die Regierung und das Parlament in Nigeria einzuwirken, dass dieses Gesetz nicht in Kraft tritt. Das Auswärtige Amt hat den Menschenrechtsausschuss in seiner letzten Sitzung in- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 9009 (A) (C) (B) (D) formiert, dass hierzu eine gemeinsame Demarche in Vor- bereitung ist. Ich begrüße dies ausdrücklich und denke, dass sie hierfür auch die volle Unterstützung des Deut- schen Bundestages haben. Das Europäische Parlament hat ebenfalls eine Resolution verabschiedet, in der der Gesetzentwurf in Nigeria kritisiert wird. Ich hoffe, dass der Deutsche Bundestag über die Fraktionsgrenzen hin- weg schnell zu einer Entschließung kommt, bevor der Gesetzentwurf in Nigeria verabschiedet wird. Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag ebenfalls auf, sich bei der nigerianischen Regierung für die Abschaffung der Strafbarkeit von Homosexualität einzusetzen und sich weltweit verstärkt gegen eine Dis- kriminierung von Homosexuellen einzusetzen, insbeson- dere auch im Rahmen der bilateralen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit in Afrika. Sollte der Ge- setzentwurf in Kraft treten, müssen auch die Kooperatio- nen und Programme der Europäischen Union, die unter Art. 9 des Cotonou-Abkommens mit Nigeria laufen, überprüft werden. Setzen Sie mit Ihrer Unterstützung für unseren Antrag ein klares Signal, dass die massive Verletzung der Menschenrechte von Homosexuellen, egal wo dies auf der Welt geschieht, nicht geduldet wird! Helfen Sie mit, dass die rechtliche Situation der Homosexuellen in Nige- ria nicht noch weiter verschlechtert wird! 88. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608800000

Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche uns einen guten Morgen und gute
Beratungen.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten können,
müssen wir fünf vom Deutschen Bundestag in den Stif-
tungsrat der neu errichteten Bundesstiftung Baukultur
zu entsendende Mitglieder wählen. Von den Fraktionen
sind dafür vorgeschlagen: die Kollegin Renate Blank für
die Fraktion der CDU/CSU, die Kollegin Petra Weis für
die Fraktion der SPD, der Kollege Joachim Günther für
die Fraktion der FDP, die Kollegin Heidrun Bluhm für
die Fraktion Die Linke und die Kollegin Undine Kurth
für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das scheint der Fall zu sein. Ich
höre jedenfalls keinen Widerspruch dazu. Dann sind die
genannten Damen und der Kollege Joachim Günther in
den Stiftungsrat der Bundesstiftung Baukultur gewählt.

Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen teilt mit,
dass für den kürzlich aus dem Deutschen Bundestag aus-
geschiedenen Kollegen Matthias Berninger die Kollegin
Kerstin Andreae ordentliches Mitglied im Beirat der
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommu-

Rede
nikation, Post und Eisenbahnen werden soll. Sind Sie
auch mit diesem Vorschlag einverstanden? – Das scheint
der Fall zu sein. Dann ist die Kollegin Kerstin Andreae
in den Beirat der Bundesnetzagentur gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Haltung der Bundesregierung zur Raketenstationierung
in den Ländern Osteuropas (siehe 87. Sitzung)



(Ergänzung zu TOP 27)

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-

ten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Fahrpersonalgesetzes
– Drucksache 16/4691 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
zung

den 22. März 2007

.00 Uhr

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke,
Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Chancen für Frauen auf dem Ausbildungs- und
Arbeitsmarkt verbessern
– Drucksache 16/4737 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN:
Zustand der Deutschen Bahn AG vor dem Börsengang

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam Gruß,
Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Rücknahme der Vorbehaltserklärung der Bundesrepublik
Deutschland zur Kinderrechtskonvention der Vereinten
Nationen
– Drucksache 16/4735 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auswärtiger Ausschuss

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Bodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestalten – Subsi-

text
diarität sichern, Verhältnismäßigkeit wahren
– Drucksache 16/4736 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 8, 12 a und 15 werden ab-
gesetzt und der Tagesordnungspunkt 19 b zusammen mit
dem Tagesordnungspunkt 4 beraten. Außerdem ist zum

spunkt 12 b eine Aussprache nicht mehr
r soll bei den Beratungen ohne Aussprache

rden. Durch die Absetzungen und Verschie-
en sich Auswirkungen auf die Reihenfolge
Änderung des Tagesordnung
vorgesehen. E
behandelt we
bungen ergeb

der Tagesordnungspunkte. Die Tagesordnungspunkte 10,






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
14, 16 und 18 werden jeweils vorgezogen und nach den
Tagesordnungspunkten 7, 9, 11 und 13 aufgerufen.

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Das ist offensichtlich der Fall. Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.

Bevor wir nun in die Tagesordnung eintreten, möchte
ich darauf hinweisen, dass heute auf den Tag genau vor
175 Jahren Johann Wolfgang von Goethe gestorben ist.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Dann wird das heute hoffentlich was!)


Da in einem beachtlichen Teil des deutschen Feuilletons
in den vergangenen Tagen die ausdrückliche Besorgnis
geäußert wurde, dass die deutsche Öffentlichkeit davon
nicht einmal Kenntnis nimmt, will ich dem durch aus-
drückliche Erwähnung entgegentreten.


(Beifall im ganzen Hause)


Für ein anderes ähnlich bedeutendes Ereignis muss
man diese Besorgnis nicht haben, aber es verdient ganz
gewiss auch Erwähnung: Gestern hat Hans-Dietrich
Genscher seinen 80. Geburtstag gefeiert.


(Beifall im ganzen Hause)


Als ich ihm gestern neben meinen persönlichen
Glückwünschen die Huldigung des Deutschen Bundesta-
ges zu Füßen legen wollte, hat er gemeint, das sei doch
vielleicht eher eine Übertreibung. Ich habe in Aussicht
gestellt, dass sich der Deutsche Bundestag meiner Ein-
schätzung ganz sicher mit breiter Mehrheit anschließen
werde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


– Ich bedanke mich für die prompte Bestätigung und
bringe meine Bewunderung vor allen Dingen für die
Kolleginnen und Kollegen zum Ausdruck, die es von der
gestrigen Veranstaltung rechtzeitig zur heutigen Sitzung
geschafft haben.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Damit rufe ich jetzt endlich den Tagesordnungs-
punkt 3 auf:

Vereinbarte Debatte

50. Jahrestag der Römischen Verträge

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll diese
Aussprache zwei Stunden dauern. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren für die
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Rede ID: ID1608800100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Lassen Sie mich meine Rede mit einem Traum beginnen.
Es ist Jeremy Rifkins Traum von Europa, der Traum
eines Amerikaners. Ich darf zitieren:
Der europäische Traum stellt Gemeinschaftsbezie-
hungen über individuelle Autonomie, kulturelle
Vielfalt über Assimilation, Lebensqualität über die
Anhäufung von Reichtum, nachhaltige Entwick-
lung über unbegrenztes materielles Wachstum,
spielerische Entfaltung über ständige Plackerei,
universelle Menschenrechte und die Rechte der Na-
tur über Eigentumsrechte und globale Zusammen-
arbeit über einseitige Machtausübung.

Wenn Rifkin von diesem europäischen Traum spricht,
dann meint er nicht, dass es sich um eine irreale Vorstel-
lung handelt, sondern dass dieses Europa, diese EU
wirklich traumhaft ist. Mancher von uns mag von un-
gläubigem Staunen erfasst sein. Mancher mag mitleidig
lächeln. Das soll die EU sein? Unser bürokratisches,
schwerfälliges Monster, das so weit von den Bürgern
entfernt und so wenig durchschaubar ist? Diese EU, die
ein großer, aber kalter gemeinsamer Markt ist? Ja, die
EU ist mehr als Kohle und Stahl, Agrarsubventionen und
Chemikalienrichtlinie.

Der 50. Geburtstag der Römischen Verträge ist An-
lass, innezuhalten, um sich der Anfänge zu erinnern, Bi-
lanz zu ziehen und nach vorne zu schauen. Schon im
19. Jahrhundert sahen vereinzelte Visionäre die Zukunft
unserer europäischen Nationalstaaten in einem geeinten
Europa. Die SPD sprach in ihrem Heidelberger Pro-
gramm bereits 1925 von der zwingend gewordenen
Schaffung einer europäischen Wirtschaftseinheit und der
Bildung der Vereinigten Staaten von Europa.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Doch die Schrecken des Ersten Weltkrieges hatten
noch nicht ausgereicht, um die Menschen zusammenzu-
führen. Erst die Barbarei des Nationalsozialismus mit ih-
ren schrecklichen Folgen – Tod und Leid von Millionen
Menschen, die Zerstörung altehrwürdiger Städte und
hochleistungsfähiger Industrien – schuf die Bereitschaft,
aufeinander zuzugehen. Die Gründungsväter der europäi-
schen Vereinigung haben teilweise schon während des
Zweiten Weltkrieges Ideen entwickelt, wie Europa nach
den nationalistischen Verirrungen zu einem neuen
Selbstverständnis, zu Sicherheit, Frieden, Freiheit, Mo-
bilität und wirtschaftlichem Wohlstand finden könnte.

Robert Schuman, de Gaulle und Konrad Adenauer ha-
ben dann der Versöhnung und der Zusammenarbeit im
gemeinsamen Interesse den Vorrang gegeben. Die An-
fänge waren schwierig und setzten das politisch Notwen-
dige und Mögliche um. Nach Bildung der Montanunion
scheiterte die europäische Verteidigungsgemeinschaft,
die in eine politische Gemeinschaft eingebettet sein
sollte, am Veto der französischen Nationalversammlung.
Dennoch machten die Pragmatiker weiter. Inspiriert von
den Europavisionen wurden am 25. März 1957 die Rö-
mischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirt-
schaftsgemeinschaft und Euratom unterzeichnet.

War die europäische Integration nur vom wirtschaftli-
chen Interesse der großen Realisten geprägt? Im Gegen-
teil: Sehr mutige, weitreichende politische Visionen ha-
ben dazu geführt, dass sechs Länder bereit waren, die






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angelica Schwall-Düren
nationale Souveränität in einigen Bereichen auf die euro-
päische Ebene zu übertragen. Dabei erklärt Jean Monnet
die sogenannte Gemeinschaftsmethode folgendermaßen:
„Wir vereinigen keine Staaten, sondern Menschen.“
Manchmal frage ich mich, ob diese Regel Jean Monnets
heute vergessen ist.

Da der Fortschritt bekanntlich eine Schnecke ist, lös-
ten sich integrationspolitische Erfolge mit Krisen und
Reformversuchen ab. Aber mit der Einheitlichen Euro-
päischen Akte sowie den Verträgen von Maastricht,
Amsterdam und Nizza haben sich die Mitgliedstaaten
immer stärker integriert und parallel dazu die Gemein-
schaft in mehreren Beitrittswellen vergrößert, bis mit
den letzten Erweiterungsrunden die Teilung Europas
aufgehoben wurde.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit dem Aufbegehren der Bürgerinnen und Bürger
der Staaten in Mittel- und Osteuropa und dem Zusam-
menbruch der UdSSR wurde der Eiserne Vorhang nie-
dergerissen. Das mutige Engagement unserer Nachbarn
in Mittel- und Osteuropa hat einen außerordentlich gro-
ßen Beitrag geleistet, die jahrzehntelange Spaltung Eu-
ropas zu überwinden.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Am 1. Mai 2004 und zuletzt am 1. Januar 2007 haben
sich abermals ehemals verfeindete Nationen die Hand
gereicht. Ich will diese Gelegenheit nutzen, Hans-
Dietrich Genscher zu danken, der in der Tat große Ver-
dienste um die Vereinigung Europas erworben hat,
ebenso wie Egon Bahr, der vor wenigen Tagen seinen
85. Geburtstag gefeiert hat und dem ich von dieser Stelle
aus alles Gute wünschen möchte.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ist mit diesen europäischen Fortschritten der europäi-
sche Traum Rifkins tatsächlich Wirklichkeit geworden?
Der Vereinigung der europäischen Staaten liegt der Para-
digmenwechsel zugrunde, dass die Gemeinschaftsbezie-
hungen im Vordergrund der europäischen Politik stehen,
ja dass die Zusammenarbeit mehr Erfolg bringt als die
Verfolgung von Einzelinteressen. Dieses Denken ist
nicht nur ein Grundelement der bewährten europäischen
Sozialsysteme, sondern es prägt das Solidarprinzip in
der EU. Es lohnt sich für alle, wenn mithilfe der Kohä-
sionsfonds den schwächeren Mitgliedstaaten Unterstüt-
zung beim Aufholprozess gegeben wird.

Wie steht es mit der Lebensqualität? Ist sie mehr als
die von Rifkin genannte Anhäufung von Reichtum?
Nun, der Wohlstand gehört zur Lebensqualität dazu. Er
ist in allen Mitgliedstaaten gestiegen. Aber Rifkin hat
recht: Lebensqualität ist mehr. Sie bedeutet gerechte
Verteilung des Reichtums. Sie heißt gleiche Chancen für
alle, Zugang zu Dienstleistungen der Daseinsvorsorge
sowie zu Bildung und beruflichem Erfolg. Sie beinhaltet
wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Teil-
habe. Kurz: Es handelt sich um das europäische Gesell-
schaftsmodell, das gleichzeitig Voraussetzung und Er-
gebnis des erfolgreichen Integrationsprozesses in der EU
ist. Wenn Rifkin von der Nachhaltigkeit anstelle von un-
begrenztem materiellem Wachstum in Europa spricht,
dann macht er darauf aufmerksam, dass es darum geht,
weder auf Kosten bestimmter Gruppen in der Gesell-
schaft noch auf Kosten der nachwachsenden Generatio-
nen noch auf Kosten der natürlichen Ressourcen das
Wachstum voranzutreiben. Genau dafür sorgt die EU,
wenn sie ihren Mitgliedern vorschreibt, niemanden zu
diskriminieren, den Aufbau von Schulden zu begrenzen
sowie weder Luft, Wasser und Boden zu belasten noch
die Ressourcen zu erschöpfen.

Ich bin froh, dass wir trotz der Vereinheitlichung von
Regeln und Industrienormen unsere reiche kulturelle
Vielfalt bewahren konnten. Ich gebe Rifkin recht: Nicht
Assimilation darf das Ziel der Zusammenarbeit sein. Das
Wichtigste ist vielmehr, dass sich eine gemeinsame euro-
päische Identität und nationale, regionale, lokale Identi-
täten nicht ausschließen.


(Beifall bei der SPD)


Zum Reichtum Europas gehören die Werke Goethes,
aber auch zum Beispiel die „Unfrisierten Gedanken“ von
Stanislaw Lec oder die Skulpturen von Niki de Saint
Phalle.

Die EU ist der Raum, der in besonderer Weise die
Einhaltung der universellen Menschenrechte einfor-
dert. Schon in den Römischen Verträgen 1957 wurde die
Gleichstellung von Männer und Frauen – gleicher Lohn
für gleiche Arbeit – zum gewichtigen Programmpunkt
der EU. Die jüngst auch bei uns in nationales Recht um-
gesetzte Antidiskriminierungsrichtlinie ist Ausfluss die-
ser Zielstellung.


(Beifall bei der SPD)


Menschenrechtliches Engagement genauso wie die
Menschenrechtspolitik wurde zum Bezugspunkt für das
auswärtige Engagement der EU, die in besonderer Weise
Vorbild für viele Regionen in der Welt ist, auch weil sie
mithilft, in Konfliktregionen durch multilaterales En-
gagement demokratische, soziale und wirtschaftliche
Strukturen aufzubauen. Ich bin überzeugt, dass der Au-
ßenminister und auch mein Kollege Michael Roth auf
die Aspekte der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-
politik eingehen werden.

Ich will hier darauf aufmerksam machen, dass die EU
vor neuen Herausforderungen steht. So erfolgreich die
Globalisierung bei der weltweiten Wohlstandssteigerung
in der Summe ist, so ungleich ist der Reichtum verteilt.
Der Klimawandel ist eine nicht mehr zu übersehende
Gefahr, und die Weltgemeinschaft muss sich rasch auf
Gegenstrategien verständigen. Es hat sich gezeigt, dass
auch Europa durch den Terrorismus verwundbar ist. Re-
gionale Konflikte wie zum Beispiel im Nahen Osten
oder in Afrika verlangen nach einer Lösung. Die EU hat
die Verantwortung, sich all diesen Herausforderungen zu
stellen. Hohe Erwartungen werden an uns gerichtet, üb-
rigens nicht nur von außen, sondern auch von unserer ei-
genen Bevölkerung. Circa 80 Prozent unserer Bevölke-
rung erwarten, dass die EU mittels der Gemeinsamen






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angelica Schwall-Düren
Außen- und Sicherheitspolitik Lösungen für die existie-
renden Probleme findet.

Die Bürgerinnen und Bürger erwarten aber auch, dass
dann, wenn die Nationalstaaten die Probleme nicht mehr
lösen können, zum Beispiel wenn es um die Unterschrei-
tung menschenwürdiger sozialer Standards oder Fragen
der Nachhaltigkeit geht, die EU den Herausforderungen
gerecht wird. Es ist aber auch nicht zu leugnen, dass sich
die Bürger fragen, ob die EU derzeit in der Lage ist, die
ihr gestellten Aufgaben zu erfüllen. Damit verweisen sie
auf eine tatsächlich existierende Reformnotwendigkeit.
Mit dem Verfassungsvertrag, der nach dem Vertrag von
Nizza entwickelt wurde, sollte der Versuch unternom-
men werden, genau diese Defizite aufzuarbeiten. Er ist
der zurzeit bestmögliche Kompromiss zur zukünftigen
Gestaltung der Union aber wie wir alle wissen, ist die
Ratifizierung derzeit blockiert. Der Vertrag würde die
Entscheidungsfähigkeit verbessern, die Transparenz er-
höhen, die rechtlichen Grundlagen vereinfachen, mehr
Demokratie und den Schutz der Grundrechte und der so-
zialen Rechte ermöglichen. Das ist eine gute Grundlage
für die Zukunft der EU. Ich bin überzeugt, dass Bundes-
kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier alles
tun werden, damit die deutsche EU-Ratspräsidentschaft
ihrem Auftrag gerecht wird, einen Fahrplan für eine er-
folgreiche Verabschiedung eines Verfassungsvertrages
vorzulegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Berliner Erklärung, die an diesem Wochenende
unterzeichnet werden soll, wird deshalb nicht nur die Er-
folge der EU feiern, sondern sie wird uns auch Mut ma-
chen, uns auf der Grundlage der uns verbindenden Werte
den Herausforderungen zu stellen und die Union so fort-
zuentwickeln, dass sie im Einvernehmen mit ihren Bür-
gerinnen und Bürgern diesen Herausforderungen gerecht
wird. Für Jean Monnet bestand die neue Devise 1950 da-
rin – ich zitiere –: „ein gemeinsames Werk zu vollbrin-
gen, nicht um Vorteile auszuhandeln, sondern um unse-
ren eigenen Vorteil im gemeinsamen Vorteil zu suchen.“
Als mutige und verantwortungsvolle Politiker müssen
wir uns öfter an diese alte „neue Devise“ erinnern.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608800200

Das Wort hat nun der Vorsitzende der FDP-Fraktion

Dr. Guido Westerwelle.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1608800300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Zunächst einmal: Wir feiern am Wochenende einen
50. Geburtstag, nämlich den 50. Geburtstag Europas. Ich
meine, das darf der Deutsche Bundestag durchaus mit
Freude zum Ausdruck bringen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist eine wunderbare Angelegenheit. Man darf sagen
– das finde ich jedenfalls –: Wenn es Europa nicht gäbe,
dann müssten wir es dringend erfinden. Auch dann,
wenn Europa nicht mehr als 50 Jahre Frieden bei uns ge-
bracht hätte, hätte es sich schon gelohnt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Frau Kollegin, ich möchte an das anknüpfen, was Sie
zu Recht gesagt haben. Sie haben Egon Bahr erwähnt.
Ich denke an Egon Bahr und an viele andere, zum Bei-
spiel an Hans-Dietrich Genscher. Außerdem denke ich
an die Generation, die noch erlebt hat, warum Europa
einmal aufgebaut und gebaut worden ist. Es ist nämlich
keine Selbstverständlichkeit, dass wir auf unserem Kon-
tinent eine so lange Friedensepoche haben. Manche re-
den über Europa, als wäre es lediglich eine Angelegen-
heit von Bürokraten. Es ist zunächst einmal eine
Angelegenheit der Menschen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Dass die Menschen sich hier, auf unserem Kontinent,
nicht mehr umbringen, das ist auch ein Ergebnis euro-
päischer Friedenspolitik.

Es ist übrigens nicht nur eine Angelegenheit derer, die
Europa einmal gegründet haben, also der Generation, die
den Krieg noch erlebt hat, sondern auch derjenigen, die
der Generation danach angehören, oder auch derjenigen,
die heute jung sind. Sie erleben Europa, und sie erleben
auch die Freude, die Europa bereitet. Manchen ist gar
nicht mehr bewusst, dass es zum Beispiel etwas Beson-
deres ist, dass man von einem Land in ein anderes reisen
kann und nicht stundenlang mit Grenzkontrollen aufge-
halten wird, dass man ohne Vorurteile durch Europa rei-
sen kann und dass man in anderen europäischen Ländern
auch von Gleichaltrigen – das sage ich den jüngeren
Menschen – mit Freude empfangen wird. Das ist alles
keine Selbstverständlichkeit.

Diejenigen, die in meinem Alter sind, die also in den
60er-Jahren Kind waren und die in den 70er-Jahren zur
Schule gegangen sind, haben zum Beispiel noch erlebt,
wie man von der älteren Generation in Frankreich be-
handelt worden ist, und zwar verständlicherweise. Als
ich als Schüler mit dem Zelt in der Bretagne unterwegs
gewesen bin, habe ich erlebt, wie eine ältere Dame, de-
ren Mann durch den Krieg und auch uns Deutsche umge-
bracht worden ist, sich geweigert hat, einen jungen Deut-
schen zu bedienen; sie brach in Tränen aus. Ich kann nur
sagen: Europa ist erfunden worden, damit so etwas nie
wieder passiert. Dass die Menschen friedlich zusammen-
leben, ist in Wahrheit die riesige Errungenschaft unserer
Zeit.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Das sind keine Selbstverständlichkeiten. Meiner Mei-
nung nach muss man sich vielmehr vor Augen führen,






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle
dass man gegenüber denen, die Europa einmal aufgebaut
haben, Dankbarkeit zum Ausdruck bringen sollte. Ich
wiederhole: Das ist alles keine Selbstverständlichkeit.

Dass es Schwierigkeiten gibt, das ist doch gar keine
Frage. Die Frage ist nur: Ist Europa dafür verantwortlich,
dass es mehr Schwierigkeiten gibt, oder ist Europa eher
ein Beitrag, auch diese Schwierigkeiten in den Griff zu
bekommen? Wir neigen definitiv zur zweiten Ansicht.

Nehmen wir doch einmal das, was Sie, Frau Kollegin,
zu Recht erwähnt haben, nämlich die weltweiten Verän-
derungen durch die Globalisierung. Wenn es etwas gibt,
was eine Antwort auf die mit der Globalisierung verbun-
denen Fragen ist, dann ist es doch gerade die Europäi-
sche Union. Wir haben jetzt einen europäischen Binnen-
markt mit fast 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger
geschaffen. Das ist die Reaktion auf die verstärkte Kon-
kurrenz durch die Globalisierung. Das ist eine ökonomi-
sche und soziale Chance. Die Wohlstandsfrage, auch für
uns Deutsche, ist in Wahrheit: Sind wir bereit, uns mit
anderen Ländern zusammenzufinden und einen großen
Binnenmarkt zu schaffen?


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das wird keiner allein können.

Mancher hat den Eindruck, die große Konkurrenz sei
jetzt der polnische Fliesenleger oder der tschechische
Handwerker. Das, was damit verbunden ist, sind in
Wahrheit vielmehr Chancen. Ich sage ausdrücklich:
Auch die Osterweiterung Europas ist in Wahrheit eine
viel größere Chance. Wer meint, dass Deutschland schon
durch die Konkurrenz durch osteuropäische Handwerker
Schwierigkeiten bekomme, dem ist möglicherweise
nicht klar, was durch die Globalisierung etwa aus China
oder aus anderen asiatischen Ländern noch auf uns zu-
kommt. Das sind unsere Bewährungsproben; das sind
unsere Chancen. Es ist in Wahrheit unsere ökonomische
Lebensversicherung, auf die wir als Reaktion auf die
Veränderungen in der Welt angewiesen sind.

Es ist eben nicht so, dass Deutschland zuerst Zahl-
meister ist – das ist ein gern gepflegtes Vorurteil –;
Deutschland ist – bei allem, was auch auszusetzen ist –
zuallererst der größte Gewinner der europäischen Eini-
gung einschließlich der Erweiterung der Europäischen
Union.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Hakki Keskin [DIE LINKE])


Schließlich müssen wir uns natürlich auch darüber
unterhalten – das kann man an einem solchen Tag nur
kursorisch tun –, was verändert werden muss, was auch
bewegt werden kann, beispielsweise durch die Berliner
Erklärung. Ich fände es sehr gut, Herr Bundesaußen-
minister – ich spreche Sie an, weil Sie heute Vormittag
noch das Wort ergreifen werden –, wenn Sie den Deut-
schen Bundestag an den Überlegungen zur Berliner Er-
klärung teilhaben ließen. Wenige Stunden vor Verab-
schiedung der Berliner Erklärung wäre es angemessen,
dass Sie uns als Parlament über den Stand der Überle-
gungen informieren. Es ist eben nicht ein Europa der Re-
gierungschefs, was wir wollen; es ist ein Europa der
Völker, und die Volksvertreter sitzen hier.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich halte es gleichzeitig für notwendig, dass wir von
Ihnen etwas über den europäischen Verfassungsprozess
erfahren. Ich habe gar keinen Zweifel daran, dass Sie
den wollen, das Beste hier tun und sich entschieden da-
für einsetzen. Auch dazu wollen wir mehr wissen, als
dass Sie beabsichtigen, einen Fahrplan festzulegen.

Wir müssen doch hier darüber reden: Wollen wir
diese Verfassung? Ich vermute, eine riesige Mehrheit im
Deutschen Bundestag will eine gemeinsame europäi-
sche Verfassung. Wenn wir eine gemeinsame europäi-
sche Verfassung wollen, müssen wir uns vor dem Hinter-
grund der bislang gescheiterten Referenden allmählich
auch in diesem Hause darüber unterhalten: Wie soll denn
die zu verabschiedende Verfassung aussehen? Soll der
alte Vertrag Gegenstand sein? Soll ein neuer Vertrag
kommen? Wird der Vertrag abgespeckt? Wird er erwei-
tert? Auch über den Stand dieser Überlegungen sollten
Sie mit dem Deutschen Bundestag ins Gespräch kom-
men, meine sehr geehrten Damen und Herren der Bun-
desregierung.


(Beifall bei der FDP)


Ich möchte die europäische Verfassung natürlich auch
deswegen erwähnen, weil wir damit eine hervorragende
Chance haben, Defizite, die es gibt, die doch auch jeder
sieht, anzugehen. Es hat eine Debatte dazu gegeben, an-
gestoßen nicht nur von dem von mir hochgeschätzten
früheren Bundespräsidenten Roman Herzog. Ich teile
nicht alles, was er gesagt hat, aber er hat doch ein, wie
ich finde, ganz wichtiges Ausrufezeichen gesetzt. Die
Frage ist doch: Was ist in einem erweiterten, größeren
Europa die demokratische Legitimation der europäi-
schen Entscheidungen? Dafür brauchen wir einen Ver-
fassungsprozess. Das ist notwendig.

Zur Demokratie gehört auch demokratische Kon-
trolle durch das Volk und durch die Volksvertreter. Wenn
wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Bei mancher eu-
ropäischen Entscheidung ist diese demokratische Kon-
trolle so weit verflüchtigt, dass durchaus von einer ge-
wissen Abgehobenheit die Rede sein darf.


(Beifall des Abg. Markus Löning [FDP])


Die demokratischen Institutionen in Europa gemeinsam
zu verbessern, muss meiner Meinung nach auch im Inte-
resse der Funktionsfähigkeit Europas ein Schwerpunkt
unserer Verhandlungen und unserer Überlegungen zum
Verfassungsvertrag sein.


(Beifall bei der FDP)


Schließlich möchte ich auf eine Sache eingehen, die
aus meiner Sicht von großer Bedeutung ist, gewisserma-
ßen zurück zu den Anfängen, zurück zu dem, warum wir
alle ja vermutlich begeisterte Europäer sind. Bei allem,
was man auch kritisch sehen muss: Es ist letzten Endes






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle
ein riesiger Gewinn für uns. Schon dann, wenn man sich
wenige Stunden von Europa wegbewegt, weiß man, dass
Frieden keine Selbstverständlichkeit ist. Wir leben in ei-
nem friedlichen, in einem freien Europa. Wir leben alles
in allem in einem Europa, das für Rechtsstaatlichkeit
vorbildlich in der Welt ist. Wir leben in einem Europa, in
dem wir uns wirklich darüber freuen dürfen, dass die
Mütter und Väter vor uns dies geschaffen haben.

Aber, meine Damen und Herren, wir stehen natürlich
auch vor neuen Herausforderungen. Eine Herausforde-
rung, gerade im Zeichen weltweit neuer Unsicherheiten,
ist zum Beispiel die Gemeinsame Außen- und Sicher-
heitspolitik. Ich will hier als Vertreter der liberalen Op-
positionsfraktion Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, ausdrück-
lich sagen: Zu den Worten, die Sie zur Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik bei Ihrer wirklich höchst
schwierigen Reise in Polen gefunden haben, gratulieren
wir. Sie finden dafür ausdrücklich auch unsere Unter-
stützung. Wir wollen eine gemeinsame europäische Au-
ßen- und Sicherheitspolitik. Wir wollen keine Rena-
tionalisierung, von wem auch immer. Wir müssen eine
Spaltung Europas in der Außen- und Sicherheitspolitik
verhindern. Deswegen ist die Raketenstationierung, die
dort geplant wird, außerordentlich kritisch zu betrachten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Spätestens nach dem, was Präsident Putin in Mün-
chen vorgetragen hat – der Kollege Schockenhoff und
andere waren dabei und haben das gehört –, weiß man,
dass die Gefahr, dass eine neue Rüstungsspirale entsteht,
groß ist. Wenn wir eine neue Rüstungsspirale verhindern
wollen, muss man die Ausführungen von Präsident Putin
ernst nehmen, aber nicht alles annehmen und auch nicht
alles übernehmen. Aber ernst nehmen muss man die
Dinge, die passieren, weil die meisten Rüstungsspiralen
zunächst aus großem Misstrauen entstanden sind. Man
denke daran, was in den 80er-Jahren die Rüstungsspirale
ausgelöst hat. Die Irrtümer, die damals bei den – mit
Verlaub gesagt – Reaganomics eine Rolle gespielt ha-
ben, muss man ja in unserer Zeit nicht wiederholen. Das
sollten wir an dieser Stelle auch einmal festhalten. Nie-
mals ist etwas eins zu eins vergleichbar, aber gewisse Er-
innerungen ruft das schon wach.

Wenn es so ist, dass wir im Rahmen der deutschen
EU-Präsidentschaft für ein gemeinsames starkes Auftre-
ten Europas in der Welt sorgen wollen, dann ist es schon
notwendig – das sage ich mit allem Respekt –, dass die
Regierung und die Regierungskoalition selbst bei so ei-
ner fundamentalen Friedensfrage einig sind. Es ist
schwierig für eine Regierung, eine gemeinsame europäi-
sche Außen- und Sicherheitspolitik zu verlangen, wenn
die Einigkeit schon in der eigenen Regierungskoalition
gewisse Grenzen findet. Das habe ich in Anbetracht des
schönen Tages diplomatisch formuliert, meine sehr ge-
ehrten Damen und Herren.

Wir haben uns aus unserer Sicht über Europa nicht zu
beklagen, ganz im Gegenteil. Dieses Geburtstagsfest
sollten wir mit den Bürgerinnen und Bürgern feiern. Für
die Bürger in Deutschland war Europa nämlich mit Si-
cherheit eines der besten Dinge, die passieren konnten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608800400

Der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff ist der

nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1608800500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und

Kollegen! Der Rückblick auf 50 Jahre Römische Ver-
träge macht Mut für den Blick nach vorn. 50 Jahre Euro-
päische Union stellen eine Erfolgsgeschichte dar. Die
Motive der Gründungsväter waren die Sicherung von
Frieden und Sicherheit, von wirtschaftlichem Wohl-
stand, das Wahrnehmen globaler Verantwortung und
nicht zuletzt die Schaffung einer gemeinsamen Identität.

Es war die Bedrohung durch die Sowjetunion mit ih-
rer expansionistischen Ideologie, gegen die jeder ein-
zelne Staat in Europa zu schwach und zu klein erschien.
Daher war die Bildung einer Gemeinschaft in West-
europa in Verbindung mit der Garantie durch die USA
im Rahmen der NATO die existenzielle Grundlage für
unsere Sicherheit.

Eng verbunden mit dem Sicherheitsinteresse war von
Anfang an die Friedens- und Freiheitsvision. Heute,
50 Jahre später, ist mit der Aufnahme von zwölf mittel-,
ost- und südosteuropäischen Staaten die widernatürliche
Teilung Europas endgültig überwunden. Das ist der
größte Erfolg der Europäischen Union.

In wenigen Wochen des Herbstes 1989 führten die
Demonstranten in Budapest, Ostberlin, Leipzig und Prag
der EG vor Augen, dass sie für Millionen von Menschen
ein Ideal darstellt. Sie war nicht nur ein Raum des wirt-
schaftlichen Wohlstandes, sondern ein politisches Ge-
bilde, dessen Werte sie teilen wollten und zu dessen Kul-
tur sie sich zugehörig fühlten. Das haben hier bei uns
seinerzeit nicht alle erkannt. Dass es der damalige deut-
sche Bundeskanzler Helmut Kohl erkannt hat, ist seine
historische Leistung und war ein Glücksfall für Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Europa erlangte seine Einheit deshalb wieder, weil es
von Anfang an auf Freiheit und Demokratie setzte. Aus
der Wirtschaftsgemeinschaft wurde eine Sicherheits-
union mit dem Schengensystem, einer Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik und einer gemeinsamen
Verteidigung, deren sichtbarster Ausdruck die Battle-
Groups als Vorläufer einer europäischen Armee sind.

Natürlich brauchen wir – da teile ich Ihre Auffassung
völlig, Herr Westerwelle – in der europäischen Außen-
und Sicherheitspolitik mehr gemeinsamen Willen für
entschiedenes gemeinsames Handeln. Natürlich muss
Europa seine militärischen Fähigkeiten weiter verbes-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Andreas Schockenhoff
sern. Aber schon heute nimmt die Europäische Union
nicht nur als eine globale Wirtschaftsmacht, sondern
auch als ein wichtiger sicherheitspolitischer Akteur ihre
Interessen international erfolgreich wahr. Auch das ist
Teil der europäischen Erfolgsgeschichte.

Dazu gehört auch der Euro. Bis zu seiner Einführung
wurden durch Spekulationen und Währungsschwankun-
gen Finanz- und Wirtschaftskrisen ausgelöst, gingen Ar-
beitsplätze verloren, musste die Bundesbank nicht selten
massiv intervenieren, entstanden erhebliche volkswirt-
schaftliche Verluste. Das alles ist heute nicht mehr der
Fall. Deswegen war es richtig, die Stabilitätskriterien
einzuführen, und deswegen ist es richtig und notwendig,
dass wir alles tun, sie wieder dauerhaft einzuhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Beifall bei der FDP)


Meine Damen und Herren, Europa voranbringen zu
wollen, bedeutet besondere Verpflichtungen für Deutsch-
land; denn wir sind der größte Staat in der Europäischen
Union. Deutsche Europapolitik war immer dann erfolg-
reich, wenn sie auf einer engen und partnerschaftlichen
Zusammenarbeit mit den EU-Staaten und auf einer ver-
trauensvollen Partnerschaft zwischen Europäern und
Amerikanern aufbauen konnte. Beides war immer die
Maxime deutscher Außenpolitik.

Deutschland und Frankreich waren der Motor des
Einigungsprozesses, und sie müssen und werden es auch
weiterhin sein. Wann immer Deutschland und Frank-
reich sich nicht einig waren, lief nichts in der EU; wenn
sie sich einig waren, kam Europa voran.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das jüngste Beispiel, Frau Bundeskanzlerin, war der
letzte EU-Gipfel. Er wurde in dem Moment zum Erfolg
für den globalen Umweltschutz, als es Ihnen gelungen
ist, Frankreich für die Klimaschutzziele zu gewinnen.
Dann lenkten auch andere EU-Partner ein. Das war gut
für Europa und gut für den Klimaschutz.

Außerdem ist es für eine erfolgreiche Europapolitik
wichtig, die mittleren und kleinen Staaten rechtzeitig zu
konsultieren und einzubinden. Das ist bei 26 Partner-
staaten mühsam und schwierig. Aber es ist, wie es diese
Bundesregierung beweist, möglich. Nichts ist kontrapro-
duktiver für die EU – auch diese Erfahrung haben wir
leider schon gemacht –, als wenn die Großen eine Politik
über die Köpfe der mittleren und kleinen Staaten hinweg
betreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, um den Weg zum
Zusammenwachsen unseres Kontinents zu ebnen, muss
Europa vor allem eine Antwort auf die Frage nach seiner
eigenen Identität geben. Je größer und unüberschauba-
rer die EU wird, desto mehr fragen die Menschen: Was
macht die Europäische Union aus? Wozu brauchen wir
sie? Worin bleibt die Europäische Union im permanen-
ten Wandel sich selbst gleich und von anderen unter-
scheidbar? Es ist die Frage von uns Europäern nach uns
selbst. Die europäische Identität ist das Ergebnis eines
Jahrhunderte währenden Kulturprozesses der Differen-
zierung wie der Vereinheitlichung, bestimmt von der
ausgeprägten Vielfalt der Nationen auf engem Raum, der
Kreativität ihrer Kulturen und dem Zusammentreffen ei-
ner Vielzahl historischer, geografischer und kultureller
Besonderheiten: jüdisch-christliche Prägung, Pluralität
und Koexistenz der Konfessionen, griechische Philoso-
phie, römisches Recht, Humanismus, Reformation und
Aufklärung, Wissenschaft und Technik, Gemeinsamkei-
ten in Architektur, Musik, Literatur, gemeinsame Ge-
schichte einschließlich der vielen Kriege, die neuzeitli-
chen Freiheitsbewegungen und die Grundüberzeugung
einer sozialen Verantwortung mit dem Aufbau des So-
zialstaates in einer sozialen Marktwirtschaft.

Aus dieser Vielfalt ergeben sich Spannungen. Den-
noch wollen wir den mit der Globalisierung einherge-
henden politischen und kulturellen Wandel erfolgreich
gestalten. Dafür sehe ich sechs Aufgaben.

Erstens. Wir müssen wieder deutlicher ins Bewusst-
sein der Bürger bringen, dass das Handeln der EU nicht
nur im Innern, sondern gerade nach außen auf unseren
Werten beruht. Unser Eintreten für Frieden, Freiheit, So-
lidarität und Gerechtigkeit ist für die Ärmsten der Ar-
men, für die bedrohten Völker und Menschen entschei-
dend. Es ist aber auch für die Wahrung unserer
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen
in der künftigen weltpolitischen Ordnung von zentraler
Bedeutung. Deshalb müssen wir unseren Bürgern deut-
lich machen, dass unsere EU-Entwicklungshilfe, unsere
finanzielle Hilfe für die Palästinenser, unser Einsatz in
Afrika oder unser Einsatz in Afghanistan werteorientier-
tes Handeln ist.

Zweitens. Die EU muss erfolgreich sein. Die Bürger
müssen noch mehr als bisher die Erfahrung machen,
dass die EU als Ganzes besser als ihre einzelnen Mit-
gliedstaaten in der Lage ist, länderübergreifende und
globale Herausforderungen zu bewältigen. Der Erfolg
für den Klimaschutz auf dem letzten EU-Gipfel – ich
habe es bereits erwähnt – ist eine solche Erfahrung. Es
geht darum, auch im Zeitalter der Globalisierung das
Ordnungsprinzip der sozialen Marktwirtschaft zu wah-
ren. Es geht darum, Terrorismus und internationale Kri-
minalität erfolgreich zu bekämpfen oder mit einer euro-
päischen Energiepolitik, die jetzt beschlossen wurde, im
weltweiten Wettbewerb eine bezahlbare Energieversor-
gung zu sichern.

Drittens. Je größer die Europäische Union wird, desto
mehr muss sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren.
Sie ist nicht zuständig für Fragen, die auf der nationalen
oder regionalen Ebene bürgernäher geregelt werden kön-
nen. Wenn sich dies für den Bürger in der täglichen Pra-
xis widerspiegelt, führt dies auch zur Stärkung der euro-
päischen Identität.

Viertens. Die Verbesserung der Entscheidungsfähig-
keit und eine stärkere Differenzierung der EU werden,
so paradox dies auf den ersten Blick erscheinen mag,
identitätsstiftend wirken. Nur wenn die EU zügig ent-
scheiden und handeln kann, wird sie im globalen Wett-
bewerb Erfolg haben. Was bewirkt mehr Identität als der
gemeinsame Erfolg?






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Andreas Schockenhoff
Fünftens. Zur Identität gehört auch eine Klärung der
Frage, wo die Grenzen der Europäischen Union liegen.
Die im Verfassungsvertrag formulierte Perspektive „Die
Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre
Werte achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zu
fördern“ ist eine Antwort. Sie gilt grundsätzlich für alle
europäischen Staaten. Es wird aber in jedem Einzelfall
im Zusammenhang mit der vollständigen Erfüllung der
Beitrittskriterien zu bewerten sein, ob und wieweit die
EU aufgrund ihrer inneren Entwicklung die Aufnahme
weiterer europäischer Staaten verkraften kann. Nur so
werden wir auf die Sorge der Bürger vor Unüberschau-
barkeit und Grenzenlosigkeit der Europäischen Union
eine überzeugende Antwort geben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sechstens. Zur Identität der Europäischen Union ge-
hört nicht zuletzt auch eine emotionale Bindewirkung.
Die Öffnung der Grenzen hatte das bewirkt. Die Euro-
paflagge und der Euro leisten einen Beitrag dazu. Ich
will dies ausdrücklich erwähnen: Auch Hochtechnolo-
gieprojekte bewirken eine emotionale Bindewirkung,
wie dies etwa bei der Ariane und trotz aller Diskussio-
nen, die wir zurzeit führen, auch beim Airbus der Fall
war. Umso mehr muss es uns darum gehen, dass dies
auch bei anderen Projekten gelingt. Ich nenne beispiels-
weise das Galileo-Projekt, ein Projekt, das uns nicht nur
aus technologischen, sondern auch aus politischen Grün-
den wichtig sein muss und das im Sinne der Selbstbe-
hauptung Europas gegenüber den Vereinigten Staaten
von Amerika durchaus identitätsstiftend sein kann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zeitalter der
Globalisierung ist Europa die Bedingung für unseren Er-
folg. Ich habe es eingangs gesagt – die Frau Kollegin
Schwall-Düren und der Herr Kollege Westerwelle haben
es ebenfalls gesagt –: 50 Jahre Europäische Union sind
Grund genug, stolz zu sein, sind Grund genug, nach
vorne zu schauen und sich anzustrengen, aber auch Mut
zu haben, die vor uns liegenden Aufgaben gemeinsam
anzugehen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608800600

Nun erhält das Wort der Vorsitzende der Fraktion Die

Linke, Dr. Gregor Gysi.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608800700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Vor 50 Jahren wurden die Römischen Verträge
geschlossen und die Europäische Wirtschaftsgemein-
schaft gebildet. Sie hatte ursprünglich drei Ziele: Erstens
wollte man eine gemeinsame ökonomische Stärke
– auch gegenüber dem sowjetischen Bereich – herausar-
beiten. Man muss sagen: Das ist wohl ganz gut gelun-
gen. Zweitens wollte man nach Faschismus und Zwei-
tem Weltkrieg Deutschland einbinden und in gewisser
Hinsicht auch unter Kontrolle nehmen. Auch das – so
kann man sagen – ist ganz gut gelungen und heute so
vielleicht nicht mehr nötig. Drittens wollte man keine
Kriege mehr in Europa, und zwar nicht nur zwischen den
Mitgliedsländern, sondern in ganz Europa nicht. Da gibt
es eine unangenehme Ausnahme – das muss ich sagen –:
Das ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Ju-
goslawien, der nie hätte stattfinden dürfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Unklar ist bis heute, ob die EWG, die inzwischen
nicht mehr EWG, sondern EU, Europäische Union,
heißt, ein Staatenbund oder ein Bundesstaat werden soll.
Das wurde nie wirklich ausdiskutiert. Das verunsichert
die Leute, weil das Ziel nicht völlig klar ist.

Zum Ende des Kalten Krieges passierte etwas, was
hier schon beschrieben worden ist: Osteuropa kam
hinzu. Die EU hat jetzt 27 Mitgliedsländer; das ist natür-
lich eine völlig andere Größe mit anderen Herausforde-
rungen, als wir sie früher hatten. Es gibt seit 1945 posi-
tive Veränderungen in Europa – das kann man so sagen –,
auf die Guido Westerwelle hingewiesen hat.

Aber wir sind nicht nur eine Wirtschaftsunion.
13 Mitgliedsländer waren damals auch an der Einfüh-
rung einer Währungsunion beteiligt. Ich möchte daran
erinnern, dass wir damals sagten: Euro, so nicht! Dies
hieß ja nicht: Euro, nein!


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja!)


Wir sagten vielmehr: Die Voraussetzungen fehlen,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!)


nämlich eine politische Union, eine Steuerharmonisie-
rung, Mindestlöhne sowie soziale und juristische Min-
deststandards für die Bürgerinnen und Bürger. All das
war und ist im Kern bis heute nicht vereinbart. Das ist
das Problem der Währungsunion.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen auch, warum: Weil dadurch Ängste
entstehen. Dadurch lebte der Nationalismus in den Län-
dern wieder auf, und Parteien, zum Beispiel die NPD,
hatten Erfolge, die wir alle hier in Deutschland nicht
wollen. Deshalb müssen wir die Europäische Union in
unserem gemeinsamen Interesse in Zukunft anders ge-
stalten.


(Beifall bei der LINKEN)


Durch den Maastrichtvertrag und die Lissabonstrate-
gie übernahm man dann die neoliberale Ausrichtung der
EU. Ich erinnere daran: Seitdem wird in ganz Europa
über Privatisierung diskutiert. Ob es Stromkonzerne
oder Verkehrsnetze sind – all das, was mit öffentlicher
Daseinsvorsorge zu tun hat, soll Schritt für Schritt priva-
tisiert werden. Das entmündigt die Politik. Im Bewusst-
sein der Menschen reduziert sich dadurch die Bedeutung
der Demokratie. Denn wenn ich oder Sie Bürgermeister
sein können, wir beide aber nichts mehr zu entscheiden
haben, weil sowieso alles privatisiert ist, dann wird die






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi
Wahl für die Leute unwichtiger. Es geht hier also auch
um Kernfragen der Demokratie.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Quatsch auf niedrigem Niveau!)


Dann zur Deregulierung. Wir führen in Deutschland
und auch in Europa seit langer Zeit die Debatte um den
Kündigungsschutz. Die Zahl der befristeten Arbeits-
verträge hat in Deutschland enorm zugenommen. Über
50-Jährige können immer wieder befristet eingestellt
werden. Es ist die Frage: Bringt das den über 50-Jähri-
gen etwas? Es ist dadurch kein einziger zusätzlicher Ar-
beitsplatz entstanden. Wissen Sie, was der einzige Un-
terschied zwischen einem Arbeitnehmer mit einem
unbefristeten und einem mit einem befristeten Arbeits-
verhältnis ist? Entlassen werden können zwar beide;
aber der eine hat Anspruch auf Abfindung und der an-
dere nicht. Es geht nur ums Geld, und zwar zum Nach-
teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.


(Beifall bei der LINKEN)


Derzeit gibt es eine Dominanz der Marktkontrolle
und immer weniger gesellschaftliche Gestaltung. Dazu
passt die Dienstleistungsrichtlinie, die Sie, Herr
Westerwelle, wenn ich es richtig verstanden habe, ein
bisschen gewürdigt haben. Sie ist ja zum Glück nicht so
in Kraft getreten, wie sie ursprünglich geplant war; das
muss ich hinzufügen. Sie können doch nicht im Ernst
eine Richtlinie anstreben, in der gesagt wird: Rumäni-
sche Unternehmen können in Deutschland vollständig zu
rumänischen Bedingungen und auch zu rumänischen
Löhnen arbeiten. – Damit zerstören Sie den europäi-
schen Integrationsgedanken.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe davon gesprochen: Es gibt keine Steuerhar-
monisierung. Nun ist die Frage: Wer setzt hier eigentlich
wen unter Druck? Ich darf Ihnen ein Beispiel nennen.
Nehmen wir doch einmal die jetzt vom Bundesfinanzmi-
nister Steinbrück von der SPD vorgeschlagene Senkung
der Körperschaftsteuer. Ich bitte Sie: Der Steuersatz
lag mal bei 45 Prozent, dann bei 40 Prozent und jetzt bei
25 Prozent. Nun sagt er: Die Deutsche Bank und andere
Kapitalgesellschaften sollen nur noch einen Steuersatz
von 15 Prozent zahlen. Im Vergleich dazu haben die drei
Länder Frankreich, Großbritannien und USA – ich weiß,
die USA sind nicht in der EU; Sie brauchen mich nicht
zu korrigieren; ich sage es trotzdem – jeweils Körper-
schaftsteuersätze von 30 bis 35 Prozent. Wir setzen diese
Länder doch unter Druck.


(Beifall bei der LINKEN)


Dort werden Debatten beginnen, und man wird sagen:
Die Steuersätze müssen herunter, weil Deutschland seine
so senkt.

Nehmen wir die Löhne. Wenn wir etwas machen,
dann machen wir es komplett, also immer zu
100 Prozent. In allen europäischen Ländern sind die
Löhne in den letzten Jahren gestiegen. Nur in Deutsch-
land sind sie in den letzten acht Jahren um 1 Prozent ge-
sunken, was natürlich auch die Kaufkraft reduziert und
damit die mittleren und kleinen Unternehmen schwächt,
die auf den Binnenmarkt angewiesen sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben jetzt zwei Krisen: Das eine ist eine Verfas-
sungskrise, und das andere ist eine Krise hinsichtlich der
gemeinsamen Außenpolitik.

Die Verfassungskrise ist ganz klar. Es ist ein Entwurf
vorgelegt worden, der Aufrüstung und auch ein weltwei-
tes militärisches Agieren der EU vorsieht. Das war ur-
sprünglich gar nicht der Gedanke, als die Verträge vor
50 Jahren geschlossen worden sind. Es ist eine neolibe-
rale Ausrichtung enthalten. Es gibt keine sozialen
Grundrechte. Es gibt wohl politische Grundrechte, aber
keine sozialen Grundrechte. Entsprechende Standards
gibt es auch nicht.

Das alles hat dazu geführt, dass die Mehrheit der
Französinnen und Franzosen und auch der Niederlände-
rinnen und Niederländer Nein gesagt hat. Was nun? Jetzt
wird ständig über Tricks nachgedacht, wie man das ohne
Volksentscheid hinkriegt. Das ist doch nicht die Lösung!
Wir müssen eine viel kürzere, eine klare, eine die Rechte
stärkende Verfassung erarbeiten, alle Mitgliedsländer
müssen Volksentscheide durchführen, und überall muss
eine Mehrheit Ja sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dann ist es akzeptiert. Das wäre auch ein demokrati-
scher Fortschritt in Europa.

Wo ist die Krise in der Außenpolitik entstanden? Sie
ist ganz klar bei der Frage „Irak“ entstanden. Großbri-
tannien hat ganz klar Ja gesagt. Deutschland hat Nein
gesagt. Später haben wir festgestellt, nur zu 80 Prozent;
aber immerhin.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Nicht zu 80 Prozent! Das ist Quatsch!)


Es ist ein Verdienst. Das hat auch eine eigenständige Au-
ßenpolitik im Verhältnis zu den USA begründet. Dann
ging die Spaltung durch die gesamte EU. Was soll man
denn nun sagen, was die gemeinsame Außenpolitik der
Europäischen Union in Bezug auf den Irak ist? Es gibt
darauf keine Antwort. Das hat uns diesbezüglich weit
zurückgeworfen.

Jetzt kriegen wir – das ist nicht vergleichbar – wieder
eine solche Spaltung in Bezug auf die Raketenaufstel-
lung in Polen und Tschechien. Bei dieser Frage denkt
und handelt die EU wiederum nicht einheitlich. Ich
denke, wir stimmen überein, dass wir eine gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Dafür muss
man eine Menge tun.

Die europäische Integration – das ist ja eine Aus-
nahme – ist das Einzige, was alle Fraktionen in diesem
Haus wollen.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Sie haben es nicht gewollt!)


Das ist übrigens etwas, worüber man ernsthaft nachden-
ken muss. Aber die Frage ist, wie wir sie viel besser hin-
kriegen. Das Entscheidende ist nicht, ob wir das alle






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi
wollen, sondern ob auch eine Mehrheit der Bürgerinnen
und Bürger das will. Um das zu erreichen, brauchen wir
andere, positive Erfahrungen für die Bürgerinnen und
Bürger. Das heißt, wir brauchen in der EU mehr Demo-
kratie und weniger Bürokratie. Wir brauchen mehr Steu-
ergerechtigkeit, kein Lohn- und Sozialdumping, sondern
mehr soziale Standards und deutlich weniger Arbeitslo-
sigkeit. Wir brauchen mehr ökologische Nachhaltigkeit.
Wir brauchen mehr Bildung und Kultur und weltweite
Friedenseinsätze, nicht weltweite Kriegseinsätze.


(Beifall bei der LINKEN)


Das muss die EU ausstrahlen.

Wenn wir das hinkriegen, dann hätten auch demokra-
tische Parteien deutlich höhere Chancen und die NPD
spielte – wie sie es verdient – eine völlig marginale
Rolle. Lassen wir uns die EU nicht kaputtmachen! Aber
dazu müssen wir sie ändern, auch von ihren Grundlagen
her.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608800800

Nächste Rednerin ist die Vorsitzende der Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608800900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre

Römische Verträge – das ist eigentlich schon einen Fest-
akt wert. Ich freue mich, dass wir heute hier die Diskus-
sion über ein einzigartiges Projekt von Frieden und
Wohlstand und einer fast vollständigen Wiedervereini-
gung des europäischen Kontinents führen können. Denn
noch ist ja nicht ganz Europa auf dieser Ebene zusam-
men. Wir haben uns befreit von der Bedrohung durch
Krieg und Diktaturen. Man kann wirklich sagen: Ein
einzigartiger Raum.

Denken wir einmal zurück! Wenn man sich die 70,
80 Jahre vor Unterzeichnung der Römischen Verträge
ansieht, dann stellt man fest: 180 000 Tote im Deutsch-
Französischen Krieg; 8 Millionen Tote im Ersten Welt-
krieg; über 50 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg, von
den Vertriebenen ganz zu schweigen. Deshalb war das
vor 50 Jahren wirklich ein sehr mutiger Schritt, das ein-
zig Richtige, um die europäischen Staaten miteinander
zu versöhnen. Damals war es ein beinahe unfassbarer
Schritt, bei dem man sich dachte, das könne eigentlich
gar nicht funktionieren: die große Idee von Freiheit und
Frieden.

Noch heute wirkt die Europäische Union in den Mit-
gliedstaaten; das Besondere ist, dass sie heute auch weit
darüber hinaus wirkt. Man kann, wenn man es auf Neu-
deutsch sagen will, formulieren: Die Soft Skills der
Europäischen Union verändern nicht nur die nationale
Politik, die Wirtschaft und das Rechtssystem, sondern
strahlen so weit aus, dass sich Nachbarländer in Europa
und über Europa hinaus an uns orientieren. Sie sagen:
Diese Art der Herrschaft des Rechts, der Gewaltentei-
lung, der Menschenrechte ist Vorbild für uns; dem wol-
len wir nacheifern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da kann man geradezu nur gerührt sein, wenn man
sich überlegt, wie zickig wir selber manchmal intern re-
agieren, wie wir immer wieder – –


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie sind ein gutes Beispiel dafür!)


– Herr Ramsauer, gut, dass gerade Sie sich beim Stich-
wort „zickig“ melden.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ich meine ja Sie!)


Es ist schon beachtlich, wie wir manchmal mit der Euro-
päischen Union umgehen. Wenn wir auf nationaler
Ebene einmal nicht weiterwissen, sagen einige – auch
Sie, Herr Ramsauer, und Ihr Verein –: Daran ist Europa
schuld. Wir haben kaum angenommen, dass wir Europa,
die Europäische Union, mit Verve vertreten sollten.
Meine Hoffnung ist, dass der heutige Tag vielleicht ein
Ausgangspunkt ist, wenn in Zukunft etwas schiefgeht,
nicht mehr zu sagen: Das war Europa. Wir sollten viel-
mehr sagen: Wir in Europa packen es gemeinsam an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir dürfen aber heute nicht nur auf die vielen Re-
gimewechsel, auf das Erfolgsprojekt Europäische Union
blicken, sondern müssen an diesem 50. Geburtstag die
Europäische Union neu und weiter definieren. Das Ziel
der Feierlichkeiten kann und soll nicht nur sein, im
Rückblick zu sagen, wie stolz wir doch sein können;
vielmehr müssen wir jetzt auch sagen, wie es eigentlich
weitergehen soll. Die Berlin-Erklärung muss eines leis-
ten: Sie muss Europa, wie wir es aufbauen wollen, neu
definieren. Wir müssen ein neues Kapitel aufschlagen.
Warum müssen wir ein neues Kapitel aufschlagen? Weil
das große Projekt der Vergangenheit war, Frieden in
Europa und darüber hinaus zu schaffen; dieser Teil ist
nun getan. Jetzt muss doch die Frage sein: Welche neuen
Räume beschreiten wir?

Ich möchte zwei Aspekte nennen.

Erstens: die Entwicklung nach innen. Wir alle wissen,
wie viele Zweifel mittlerweile bei einigen vorhanden
sind. Die Art und Weise, wie mit den Verfassungsrefe-
renden umgegangen wurde, dass mit Nein abgestimmt
wurde, offenbart diese Zweifel noch stärker. Nach innen
müssen wir jetzt eines machen: Wir müssen die Europäi-
sche Union sozial und ökologisch neu definieren und
weiterentwickeln. In der Europäischen Union darf es
nicht mehr um kurzfristige Profitinteressen der Wirt-
schaft gehen; es muss heißen: In den nächsten 50 Jahren
bauen wir das soziale und ökologische Europa. Da wol-
len wir genauso strahlen, wie wir es beim Friedenspro-
jekt Europa tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Renate Künast
Wir wissen – ich sage das gerade angesichts mancher
wirtschaftspolitischer Auseinandersetzungen –, dass
Ökologie und Ökonomie nicht zwei getrennte Projekte
sind, sondern dass sie zwingend zusammengehören. Die
beiden Begriffe haben den Wortstamm „oikos“ gemein-
sam, der die Bedeutungen „Haus“ und „Haushaltung“
hat. Europa hat als Global Player die Aufgabe, anderen
Staaten zu zeigen, dass Ökologie und Ökonomie zusam-
mengehören, weil es gar nicht anders geht, weil es bei
der Ökologie um unsere Existenzfrage und um die Exis-
tenzfrage vieler Menschen in anderen Ländern dieser
Welt geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens: die Außenpolitik. Wir müssen nach dem
Nachkriegsprojekt der europäischen Integration die He-
rausforderung im Zusammenhang mit dem Thema
Klima annehmen, global Frieden stiften, die Globalisie-
rung sozial gestalten und den Hunger in der Welt be-
kämpfen. Diese Projekte müssen wir angehen. Die Euro-
päische Union muss das Bewusstsein weiterentwickeln,
dass sie ein Global Player ist. Wir haben etwas zu expor-
tieren, und zwar nicht nur unsere Industriegüter, sondern
die Herrschaft des Rechts, was die Europäische Union
wie kein anderer vorgemacht hat. Es geht nicht um die
Herrschaft der Stärke, sondern um die Herrschaft des
Rechts, niedergeschrieben im Kopenhagener Acquis,
über den sich einer nach dem anderen weiterentwickelt.
Diese Herrschaft des Rechts müssen wir als Europäische
Union zum weltweiten Exportschlager machen. Auch
damit schaffen wir mehr soziale Gerechtigkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will an dieser Stelle zwei Punkte ansprechen. Se-
hen wir uns einmal die jetzigen Mitglieder Europas an.
Denken wir an Portugal, das noch bis in die Mitte der
70er-Jahre eine Diktatur war, und an die Mitgliedstaaten,
die in den letzten Jahren hinzugekommen sind und in der
Vergangenheit unter Diktaturen lebten. Das ist aber nicht
alles. Wir werden beim Beitritt in die Europäische Union
weitere Schritte gehen. Ich möchte im Hinblick auf un-
sere Strahlkraft an dieser Stelle die Türkei nennen; denn
ich bin mir in einem sicher: Der Europäischen Union
wird es gelingen, mit seinem Exportschlager „Herrschaft
des Rechts“ auch hinsichtlich des Beitritts der Türkei zur
Europäischen Union einen Erfolg zu erzielen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Darauf freue ich mich, weil das ein neuer Schritt ist, um
zu zeigen, dass wir diesen Exportschlager trotz unserer
Traditionen auch in ein Land exportieren können, in dem
die meisten Menschen dem islamischen Glauben anhän-
gen. Ich glaube, dass es Ziel der EU-Außenpolitik sein
muss, diesen Brückenschlag zu wagen. Das muss man
auch in einer solch feierlichen Debatte hier sagen. Die
Gründe, die für den Beitritt der Türkei in die NATO
sprachen, sprechen auch dafür, dass die Türkei, wenn sie
die Herrschaft des Rechts umsetzt, Mitglied der Europäi-
schen Union wird. Das ist unser Ziel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Für die Außenpolitik gilt an dieser Stelle, Frau
Merkel und Herr Steinmeier, dass wir gerade beim
Thema Raketenabwehr eines zeigen: Wir in Europa
lassen uns nicht spalten. Wir haben unsere Vorstellungen
über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik,
die wir weiterentwickeln wollen. Wir haben unsere Vor-
stellungen darüber, dass der Frieden in der Welt immer
nur in einem gemeinsamen Projekt zivil und militärisch
fortgesetzt werden kann. Wir werden nicht akzeptieren,
dass ein Dritter mitten in Europa, in der Europäischen
Union, ein Raketenabwehrsystem baut, ohne in der
NATO und ohne mit der Europäischen Union darüber zu
diskutieren. Ich fordere Sie auf und bitte Sie, an der
Stelle das Selbstbewusstsein zu haben, dieses Thema
nicht nur auf die Tagesordnung der NATO, sondern auch
auf die europäische Tagesordnung zu setzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen, dass sich die Europäische Union hin-
sichtlich der Solidarität intern neu definiert, dass sie
zeigt, was Solidarität in Zeiten der Globalisierung sein
kann und was der Sozialstaat des 21. Jahrhunderts sein
kann.

Ich will noch einen Punkt ansprechen, der in den letz-
ten Tagen in unser aller Munde war. Ich glaube, dass wir
eines ganz stark herausarbeiten müssen, nämlich wie die
Europäische Union zu einer Art Leuchtturm, Pionier und
Vorreiter im Bereich Klimaschutz und Energieversor-
gung werden kann. Ich sage Ihnen: Gut, wenn Sie in die
Berliner Erklärung den Satz schreiben, dass unsere Auf-
gabe auch der Klimaschutz ist. Wir wollen aber, dass
sich die Europäische Union nicht nur den Klimaschutz
und die Energieversorgung auf ihre Fahnen schreibt,
sondern dass von diesen Feierlichkeiten das Signal aus-
geht: Wir definieren die Europäische Union nach
50 Jahren neu. Jetzt geht es darum, einen neuen Raum zu
beschreiten, zu sagen, dass jetzt, nach dem großen Frie-
densprojekt Europäische Union, nach der europäischen
Integration ein Projekt gestartet wird, mit dem wir auf
sozialer und ökologischer Ebene die Existenzgrundlagen
der Bevölkerung sichern. Dies muss wie ein Leuchtfeuer
nach außen strahlen.

Für mich gibt es heute eigentlich nur einen Wermuts-
tropfen: Ich hätte mir gewünscht – Herr Steinmeier wird
ja gleich reden –, dass wir hier über die Berliner Erklä-
rung diskutiert hätten. Das wäre das Leuchtfeuer der
Transparenz gewesen, das die Europäische Union
braucht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich will jetzt nicht zu viel Wasser in den Wein gießen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608801000

Das geht jetzt auch schwer.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608801100

Das ist mein letzter Satz. – Herr Steinmeier, Frau

Bundeskanzlerin, ich möchte, dass von diesen Feierlich-
keiten zwei Dinge ausgehen: In Zukunft wird transparent






(A) (C)



(B) (D)


Renate Künast
diskutiert, und die Europäische Union hat ein neues Ziel:
das ökologische und soziale Europa. Wir wollen dabei
andere mitnehmen und auch das zum Exportschlager
machen. Dann hat die 50-Jahr-Feier einen Sinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608801200

Das Wort erhält nun der Bundesminister des Auswär-

tigen, Frank-Walter Steinmeier.


(Beifall bei der SPD)


Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist in der Tat nicht zu überhören – wenn ich
es richtig sehe, hat das kein einziger Redner heute Mor-
gen bestritten –: Europa wird 50.


(Heiterkeit)


Wir haben in den letzten Wochen hier im Parlament häu-
figer darüber gesprochen. Jetzt ist es so weit: In wenigen
Tagen begehen wir den 50. Jahrestag der Unterzeich-
nung der Römischen Verträge. Ganz zu Recht haben Sie
dieses Jubiläum in den Mittelpunkt der heutigen Debatte
gestellt.

Was ist das Besondere an diesem Tag? Ein Blick zu-
rück sei erlaubt. Europa 1957: Der Kontinent hatte zwei
verheerende Kriege hinter sich; die Menschen waren
noch damit beschäftigt, die Trümmer des letzten Krieges
abzutragen. Das war die Situation, in der in Rom die
Verträge über die Europäischen Gemeinschaften unter-
zeichnet wurden. Das war im Übrigen der Beginn einer
Entwicklung, in der ohne Infragestellung der transatlan-
tischen Partnerschaft die europäische Integration als
zweite Säule unserer Identität gewachsen ist. Die Visio-
nen, die den Römischen Verträgen zugrunde lagen, wa-
ren erstens Aussöhnung durch Zusammenschluss, zwei-
tens Frieden durch Zusammenarbeit und drittens
Wohlstand durch wirtschaftliche Integration.

Die Weitsicht der Gründungsväter – daran haben viele
hier und heute erinnert – wird wohl erst aus heutiger
Sicht richtig erfasst und ermessen. Vieles, was 1957 wie
eine Utopie klang, ist heute in weiten Teilen politische
Realität. Europa ist heute ein Kontinent des Friedens,
des Wohlstands und der Stabilität. Europäischer Eini-
gungsprozess, das hieß und heißt aus meiner Sicht noch
immer vor allem friedliches Miteinander. Vor 50 Jahren
gab es wohl kaum etwas, das sich die Menschen sehnli-
cher gewünscht haben. Heute – Herr Westerwelle hat
eben darauf hingewiesen – ist das so selbstverständlich
geworden, dass sich junge Menschen etwas anderes gar
nicht mehr vorstellen können, und manch Ältere schüt-
teln genau darüber den Kopf.

Europa 1957, das war ein geteilter Kontinent. Heute,
50 Jahre später, ist diese Teilung überwunden. Die Men-
schen in Mittel- und Osteuropa sind fester Teil unserer
Gemeinschaft geworden. Vor allen Dingen war es natür-
lich ihr Freiheitswille, der das alles möglich gemacht
hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bin mir sicher, aus dem Blickwinkel vieler Regio-
nen dieser Welt würde das ausreichen, um auf die Frage:
„Ist Europa eine Erfolgsgeschichte?“, die viele Journa-
listen Ihnen wie mir vor dem Plenarsaal gestellt haben,
zu antworten: Ja, schon deshalb ist Europa eine Erfolgs-
geschichte. Genau das muss eine der Botschaften sein,
die von diesem Jubiläum ausgehen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir sollten uns am 25. März selbstbewusst die Zeit
nehmen, uns die Elemente dieses Erfolges noch einmal
bewusst zu machen. „Europäische Union“ bedeutet mehr
als nur Frieden und Einheit in Europa; das, was ich eben
dargestellt habe. Das heißt auch: ein Binnenmarkt für
fast 500 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher.
Das heißt: einheitliche Währung in der Eurozone. Das
heißt: Reisefreiheit von Lissabon bis nach Helsinki. Das
heißt: gemeinsame Handelspolitik für 27 Mitgliedstaa-
ten. Darin drückt sich doch aus: Nur dann, wenn wir un-
sere Kräfte bündeln, können wir auf Augenhöhe mit den
USA, mit China oder Indien verhandeln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist aber nicht alles. Europäische Union, das heißt
– auch wenn es in diesen Tagen schwerfällt –: eine ge-
meinsame europäische Außenpolitik, ein gemeinsames
Wirken für Frieden und Entwicklung in der ganzen Welt.
Nur als Europäische Union sind wir ein Akteur, der auf
der internationalen Bühne ernst genommen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind weltweit der größte internationale Geber von
Entwicklungshilfe. Beim Nahostquartett sitzen wir nicht
als Deutsche, sondern als Europäische Union am Tisch.
Ich glaube, unser internationaler Gestaltungsspielraum
ist größer, wenn wir ihn europäisch nutzen. Deshalb
müssen wir ihn ausbauen, deshalb brauchen wir eine
handlungsfähige Gemeinsame Außen- und Sicherheits-
politik in Europa.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit bin ich noch nicht am Ende. Die Europäische
Union ist weit mehr als ein gemeinsamer Wirtschafts-
raum mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspo-
litik. Zu den Erfolgen der Einigung gehören auch die
Prinzipien, auf deren Grundlage wir uns immer wieder
neu verständigen: Die Europäische Union gründet sich
auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, auf Freiheit und
Verantwortung, auf Respekt vor der Vielfalt in Europa,
auf Toleranz und natürlich auch auf Solidarität im Um-
gang miteinander. Die Europäische Union steht heute für
ein Gesellschaftsmodell, das – bei aller Verschiedenheit,
die es nach wie vor gibt – erst recht von außen immer






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
mehr als europäisches Gesellschaftsmodell begriffen
und – das darf ich nach den internationalen Konferen-
zen, die ich gerade jetzt, während unserer Präsident-
schaft, hinter mir habe, sagen – nicht selten bewundert
wird. Sie steht für ein Modell der Zusammenarbeit, das
inzwischen auch in anderen Regionen der Welt als Vor-
bild für regionale Kooperation gilt.

Für eines steht Europa, glaube ich, in ganz besonderem
Maße: für das Streben nach einer Gesellschaft mit wirt-
schaftlicher Wettbewerbsfähigkeit – sicherlich –, aber
eben auch mit sozialer und ökologischer Verantwortung;
beides ist miteinander verbunden und muss miteinander
verbunden bleiben.


(Beifall bei der SPD)


Dieses europäische Sozialmodell ist das Bild einer Ge-
sellschaft, in der unternehmerische Freiheit genauso ih-
ren Platz hat wie der Schutz und die Mitwirkungsmög-
lichkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
einer Gesellschaft, in der sich wirtschaftliche Leistung
lohnen muss, zugleich aber auch gesellschaftliche Soli-
darität eingefordert wird. Das ist die soziale Dimension;
das ist eines der Markenzeichen Europas. Diese soziale
Dimension weiterzuentwickeln, und zwar unter den Be-
dingungen der Globalisierung, ist deshalb eine der ganz
wichtigen Zukunftsaufgaben, die wir in den Mitglied-
staaten, aber erst recht auf der europäischen Ebene zu
bewältigen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Europa ist zusammengewachsen, doch gleichzeitig
– Herr Schockenhoff hat darauf hingewiesen – hat sich
die Welt in atemberaubendem Tempo verändert. Wir ste-
hen heute natürlich vor ganz anderen Aufgaben, als sie
die Gründungsväter der EWG vor einem halben Jahr-
hundert bewältigen mussten: Die Globalisierung, der
Aufstieg neuer Wirtschaftsmächte, das sind sicherlich
Herausforderungen für die Wettbewerbsfähigkeit – da-
von habe ich gesprochen –, vor allem aber Herausforde-
rungen für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesell-
schaft. Hinzu kommt: Die Folgen des Klimawandels
sind unübersehbar geworden. Gleichzeitig müssen wir
uns bei all dem auch noch darauf einstellen, dass die na-
türlichen Energieressourcen knapper und teurer werden;
schließlich sind sie endlich. Wachsende Migrations-
ströme, die Gefahr des Terrorismus, Krisensituationen in
viel zu vielen Weltregionen – wie oft müssen wir hier im
Hohen Hause darüber sprechen. Das sind die Fragen, auf
die wir heute Antworten finden müssen. Ich sage ganz
klar: Wir müssen darauf europäische Antworten finden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit anderen Worten: Im lauten Vielklang der globali-
sierten Welt finden wir Europäer nur Gehör, wenn wir
mit einer Stimme sprechen. Wir können unsere Interes-
sen nur dann wirksam vertreten, wenn wir gemeinsam
handeln. Ich glaube, genau das erwarten auch die Bürge-
rinnen und Bürger von einer verantwortlichen Politik in
Europa. Mir scheint, ein Teil der europäischen Vertrau-
enskrise liegt darin begründet, dass die Menschen in den
zurückliegenden zwei, drei Jahren das Gefühl hatten,
Europa sei eher Teil des Problems als Teil der Lösung.
Hier müssen wir gegensteuern.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen die Menschen für Europa gewinnen. Wir
wollen sie gewinnen, indem wir ihnen zeigen, dass die
europäische Integration und die europäische Einigung
ihnen auch weiterhin ganz konkrete Vorteile bringen.

Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, dass gerade der
letzte Gipfel der Regierungschefs gezeigt und bewiesen
hat, dass Europa handeln kann, und zwar auch in den Be-
reichen, in denen die Menschen mit Recht entschlosse-
nes europäisches Handeln erwarten. Obwohl es keinem
Mitgliedstaat leichtgefallen ist – das kann ich Ihnen aus
dem Vorbereitungsprozess versichern –, haben sich die
Regierungschefs letztlich auf eine sehr ehrgeizige
Klima- und Energiepolitik geeinigt. Das macht Mut.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Na ja! Wirklich sehr „ehrgeizige“ Ziele sind das!)


– Ja, Herr Kuhn, ehrgeizige Ziele. – Wir haben nicht nur
Anreize für die Innovationsfähigkeit der europäischen
Industrie gesetzt. Der Gipfel war aus meiner Sicht auch
ein Test für die Zukunftsfähigkeit unserer Zusammenar-
beit. Vom Gelingen dieses Gipfels geht ein Signal aus,
das über die konkreten Beschlüsse hinausreicht. Es ist
ein Signal der Zuversicht: Ja, Europa stellt sich den Auf-
gaben der Zukunft. Gemeinsam können wir sie meistern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das Gemeinsame sollte die weitere Botschaft des
kommenden Jubiläums sein. „Europa gelingt gemein-
sam“, das ist das Leitmotiv, wenn sich übermorgen die
Staats- und Regierungschefs hier in Berlin treffen wer-
den. Das wird auch der Grundtenor der Berliner Erklä-
rung sein, die aus diesem Anlass verabschiedet werden
soll. Denn eines – das muss ich sagen – ist ganz klar: Wir
brauchen diese Zuversicht, wir brauchen Mut, wir brau-
chen Entschlossenheit, und wir brauchen etwas von der
visionären Weitsicht der Unterzeichner der Römischen
Verträge, wenn wir den Erneuerungsprozess der Euro-
päischen Union in der zweiten Hälfte unserer Präsident-
schaft wieder in Gang setzen wollen. Meine feste Über-
zeugung und die Überzeugung der Bundesregierung ist:
Die Union der 27 braucht neue Arbeitsgrundlagen, und
zwar in Gestalt der Verfassung. Den Schwung dieses
Jahrestages möchten wir dafür nutzen, die Voraussetzun-
gen für den Erneuerungsprozess der Europäischen Union
zu schaffen.

Meine Damen und Herren, 50 Jahre EG und EU zei-
gen: Unsere Vergangenheit liegt in Europa, und – hier
stimme ich all meinen Vorrednern zu, die sich so oder
sinngemäß ausgedrückt haben – unsere Zukunft erst
recht.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608801300

Markus Löning ist der nächste Redner für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Markus Löning (FDP):
Rede ID: ID1608801400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen

Sie mich zunächst meiner Freude darüber Ausdruck ge-
ben, dass die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Eu-
ropäischen Union hier in Berlin stattfinden und dass Sie,
Herr Steinmeier und Frau Bundeskanzlerin, die Staats-
und Regierungschefs nach Berlin eingeladen haben. Es
gibt wohl keine Stadt in Europa, die aufgrund der Mauer
so für die Teilung Europas steht und mit dem Fall der
Mauer auch ein Signal für die Überwindung der Teilung
gesetzt hat, wie Berlin. Ich glaube, es gibt auch keine
Stadt in Europa, die so deutlich macht, wie das neue,
moderne Europa aussehen kann, wie Berlin.

Europa lebt in Berlin. Hier treffen sich die jungen
Leute, die Künstler, die Studenten, Leute, die hier arbei-
ten wollen, die an neuen, modernen Entwicklungen und
an völkerverbindenden und völkerübergreifenden Bezie-
hungen ohne Vorurteile interessiert sind. Sie arbeiten zu-
sammen, und sie studieren und feiern miteinander. Ich
finde, das ist richtig. Das brauchen wir nach 50 Jahren
EU hier in Berlin.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Steinmeier, Sie haben gerade zum Thema Berli-
ner Erklärung das eine oder andere gesagt und von ei-
nem Grundtenor gesprochen. Diese Berliner Erklärung
muss ja ein schreckliches Geheimdokument sein.


(Heiterkeit bei der FDP)


Noch nicht einmal zwei Tage bevor sie verabschiedet
wird, bekommen wir hier etwas davon zu hören.


(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Diese Diskretion wünschen wir uns bei der FDP-Fraktion!)


Wir wünschen Ihnen von Herzen, dass das ein Erfolg
wird und dass Sie einen Impuls für die Renovierung der
europäischen Spielregeln setzen können; das ist doch
selbstverständlich. Eines sage ich hier aber ganz klar und
deutlich: Dieses Verfahren der Geheimdiplomatie hinter
verschlossenen Türen und unter Ausschluss nicht nur der
Öffentlichkeit, sondern auch der Parlamente ist für den
Fortgang der Verfassungsdiskussion absolut inakzepta-
bel.


(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und des Abg. Markus Meckel [SPD])

Es kann nicht sein, dass Regierungen versuchen, hier et-
was auszumauscheln, während der Bundestag, der diese
Verträge ratifizieren soll, an den Debatten nicht im Ge-
ringsten beteiligt wird. Das ist inakzeptabel. Wir werden
mit aller Vehemenz einfordern, dass hier über den Ver-
fassungsvertrag berichtet und diskutiert wird.


(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und des Abg. Markus Meckel [SPD])


Sie haben unsere Unterstützung, wenn Sie einen
enorm ambitionierten Zeitplan vorlegen; denn eines ist
klar: Unsere Partner und die Bürger erwarten von uns
Handlungsfähigkeit; das ist oft angesprochen worden.
Handlungsfähigkeit heißt, dass wir den Verfassungspro-
zess endlich zum Abschluss bringen müssen. Wenn wir
mit Partnern in Übersee bzw. außerhalb Europas reden,
dann kommt doch immer dieselbe Antwort auf die
Frage, wie es mit Europa weitergeht: Meine Güte, macht
endlich einmal eure Hausaufgaben! Verabschiedet zu
Hause endlich eure Spielregeln, damit wir wieder über
substanzielle Politik reden können! – Herr Steinmeier,
Sie haben unsere volle Unterstützung dafür, dass das
schnell über die Bühne geht. Nur so können wir als Eu-
ropäer letztendlich Handlungsfähigkeit zeigen.


(Beifall bei der FDP)


Wir als Liberale erwarten von Ihrer Ratspräsident-
schaft, dass Sie Ihre Ziele höher stecken und im Juni
nicht nur sagen, dass Sie einen Zeitplan vorlegen. Es
muss mehr vorgelegt werden, zum Beispiel ein Mandat
für eine Regierungskonferenz. Es muss klargemacht
werden, dass dieser Text bis Ende des Jahres unter Dach
und Fach sein muss und dass es das Ziel ist, dass die
Kommission 2009 nach den neuen Spielregeln ins Amt
kommt und das Parlament nach den neuen Spielregeln
gewählt werden kann. Das müssen wir doch von uns ver-
langen; ich verlange diesen Ehrgeiz an dieser Stelle auch
von der Bundesregierung.


(Beifall bei der FDP)


Ich komme jetzt zu dem, was die Bürger von uns zu
Recht erwarten. Sie erwarten von uns, dass wir im Be-
reich des Binnenmarktes etwas tun. Sie erwarten von
uns, dass die Europäische Union etwas tut, was ihnen
persönlich in ihrem Leben sichtbare und greifbare Vor-
teile bringt. Sie erwarten von uns, dass die Europäische
Union etwas tut – ich nenne als Beispiel die Roaming-
Gebühren –, wodurch ihr tägliches Leben besser und an-
genehmer gestaltet wird, und nicht, dass wir uns hier
über Spielregeln auseinandersetzen.

Ich wünsche der Bundesregierung viel Erfolg am Wo-
chenende. Ich wünsche mir, dass ein Impuls für Europa
und für den Verfassungsvertrag gegeben wird und dass
wir uns anschließend wieder auf die Substanz europäi-
scher Politik, auf eine EU, die Erfolge für unsere Bürger
produziert, konzentrieren können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608801500

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Stübgen für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1608801600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Über die Römischen Verträge ist in den vergan-
genen Tagen und Wochen viel geschrieben und – auch
hier im Parlament – noch viel mehr geredet worden, si-
cherlich mehr als in den vergangenen 50 Jahren. Ich
denke, das ist auch richtig so; denn die Unterzeichnung
der Römischen Verträge vor 50 Jahren war ein gewalti-
ges historisches Ereignis, von dem wir bis heute profitie-
ren. Es ist gut, dass wir dieses historische Datum am
kommenden Wochenende feiern und angemessen würdi-
gen. Aber – darin teile ich zu 100 Prozent die Auffas-
sung der Bundesregierung – uns geht es vor dem Hinter-
grund der deutschen Ratspräsidentschaft an diesem
Wochenende um mehr als das würdige Andenken an die
Unterzeichnung der Römischen Verträge. Die Ge-
schichte hat uns immer wieder gezeigt, dass durch zufäl-
liges Zusammentreffen von Sachverhalten und Ereignis-
sen – wenn sie nur mutig und tatkräftig genutzt wurden –
bedeutsame Veränderungen begonnen haben, die häufig
eine historische Dimension entfaltet haben.

Es ist zunächst ein Zufall, dass das 50-jährige Jubi-
läum der Römischen Verträge mit der deutschen Rats-
präsidentschaft zusammenfällt und deshalb die Feier-
lichkeiten in Berlin stattfinden, der Stadt, die über
Jahrzehnte das Symbol für die Teilung unseres Vaterlan-
des und ganz Europas war. Wir haben hier vor 17 Jahren
die Mauer niedergerissen und damit auf unserem Konti-
nent und weltweit eine beispiellose Entwicklung ausge-
löst. Ich glaube, Berlin ist der richtige Ort, um den fest-
gefahrenen Verfassungsprozess der Europäischen Union
wieder in Gang zu bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Von den Römischen Verträgen bis heute hat die Euro-
päische Union immer wieder Höhen und Tiefen erlebt.
Wir können uns ebenso an Bilder fröhlicher und jubeln-
der Menschen erinnern wie an festgefahrene, fast aus-
weglos erscheinende Situationen. Dennoch – das zeich-
net die europäische Politik besonders aus – hat die
Europäische Union es immer wieder geschafft, voranzu-
kommen. Sie hat es immer wieder geschafft, die neuen
Herausforderungen zu meistern.

Wo stehen wir heute? Sinnbildlich passt vielleicht der
Vergleich mit einem etwas stotternden Motor am besten.
Wir kommen zwar voran, aber mühselig. Manchmal
scheint es, als ob wir stehen bleiben könnten.

Die Berliner Erklärung kann die Initialzündung dafür
sein, dass der europäische Motor wieder rundläuft. Allen
Widrigkeiten zum Trotz möchte ich eines deutlich he-
rausstellen – ich glaube nicht, dass es in diesem Haus da-
gegen Widerspruch gibt –: Die Europäische Union ist al-
les in allem eine Erfolgsgeschichte. Die Europäische
Union hat Europa zu einem Kontinent gemacht, auf dem
die Menschen in Frieden, Freiheit, Demokratie und
Wohlstand leben können. Die Europäische Union ist das
erfolgreichste Friedensprojekt der Weltgeschichte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir in Deutschland sind heute von Freunden und
Partnern umgeben. Wir profitieren vom freien Handel in
Europa und sichern so bei uns Wohlstand und Arbeits-
plätze. Dabei war es gerade in den letzten Jahren eine
gewaltige Leistung, die Länder aus Mittel-, Ost- und
Südosteuropa voll in die Europäische Union zu integrie-
ren. Wir sind jetzt eine Gemeinschaft, die 480 Millionen
Menschen miteinander verbindet. Dabei ist die von allen
Mitgliedstaaten gezeigte Solidarität bei diesem Erwei-
terungsprozess für mich besonders bemerkenswert. Es
liegt klar auf der Hand, dass für uns Deutsche die Inte-
gration unserer östlichen Nachbarn im genuinen nationa-
len Interesse gestanden hat und steht. Aber diesen Er-
weiterungsprozess haben auch Länder wie Spanien,
Portugal und Italien mitgestaltet, die an ihren Außen-
grenzen weiß Gott andere Probleme haben. Trotzdem
haben sie die Osterweiterung mitgestaltet. Das ist ein
Beispiel für gelebte Solidarität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich will aktuell erwähnen, dass die Europäische
Union mit den Beschlüssen zum Klimaschutz auf dem
letzten Europäischen Rat weltweit eine Vorbild- und
Führungsfunktion in dieser so wichtigen Menschheits-
frage eingenommen hat. Es liegt jetzt an uns, sie umzu-
setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische
Union hat sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder
dadurch ausgezeichnet, dass sie in schier ausweglosen
Situationen und festgefahrenen Verhandlungen neue
Wege beschritten hat, um wieder voranzukommen. So
war zum Beispiel das Modell der Regierungskonferen-
zen für den Maastrichter Vertrag ausgesprochen erfolg-
reich. Die darauf folgenden Regierungskonferenzen zur
Vertragsänderung – Amsterdam und Nizza – gestalteten
sich allerdings immer schwieriger. Die entscheidenden
Fragen, nämlich die institutionellen Reformen, konnten
nicht gelöst werden und wurden jeweils verschoben.
Spätestens mit dem Vertrag von Nizza wurde klar, dass
diese Methode allein nicht mehr ausreichend praktikabel
ist.

Wir haben dann in Europa zur Erarbeitung des Grund-
rechtekatalogs die sogenannte Konventsmethode ent-
wickelt. Diese Methode zeichnet sich durch die Beteili-
gung aller nationalen Parlamente, des Europäischen
Parlaments und aller europäischen Regierungen aus. Sie
war bei der Erarbeitung des Grundrechtekatalogs sehr
erfolgreich. Für die Erarbeitung des Verfassungsvertra-
ges wurde die Konventsmethode ebenfalls gewählt.
Nach langem, zähem Ringen ist durch diesen Verfas-
sungskonvent – wir haben in diesem Haus mehrfach da-
rüber diskutiert und mehrere große Anhörungen dazu






(A) (C)



(B) (D)


Michael Stübgen
durchgeführt – der europäische Verfassungsvertrag als
ein gutes, wegweisendes, zukunftsweisendes Dokument
erarbeitet worden. Der Verfassungskonvent hat es ge-
schafft, die meisten offenen Fragen, zum Beispiel der
notwendigen institutionellen Reformen, zu lösen. Daran
sind vorher viele Regierungskonferenzen gescheitert.
Die Tatsache, dass bereits 18 Länder den Vertrag ratifi-
ziert haben, ist ein Beleg für die Qualität dieses Entwur-
fes. Allerdings ist der Prozess durch die gescheiterten
Referenden in Frankreich und den Niederlanden ins Sto-
cken geraten.

Nun, nach mehr als zwei Jahren Denkpause, wird es
allerhöchste Zeit, dass wir wieder handeln. Die Methode
der Bundesregierung ist, auf Grundlage der Berliner
Erklärung einen Ansatz zur Lösung der Verfassungs-
frage für den Europäischen Rat im Juni dieses Jahres zu
erarbeiten. So werden die Verhandlungsführer der Re-
gierungschefs unmittelbar nach der feierlichen Unter-
zeichnung der Berliner Erklärung die notwendigen Be-
schlüsse für den Rat im Juni vorbereiten. Welcher Name
dann über dem Projekt steht, halte ich für zweitrangig.
Wenn damit Widerstände überwunden werden können,
kann eine neue Begriffsbestimmung sogar hilfreich sein.
Wichtig und entscheidend ist, dass die Substanz des vor-
liegenden Verfassungsvertrages erhalten bleibt. So müs-
sen die Funktionsfähigkeit der europäischen Institutio-
nen verbessert, die Grundrechte eingebunden und die
Kompetenzen zwischen Europäischer Union und den
Mitgliedstaaten klar aufgeteilt sein. Wenn wir dann
schlussendlich dazu kämen, dass der Text des Verfas-
sungsvertrages vor allen Dingen im dritten Teil kürzer
und übersichtlicher gestaltet wird, beseitigten wir damit
sogar ein Defizit, wozu der Verfassungskonvent nicht in
der Lage war.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, allerdings
wird die Lösung der Verfassungsfrage durch die Regie-
rungschefs und möglicherweise alle nationalen Parla-
mente in Europa eines unserer großen Probleme in der
gegenwärtigen Europapolitik nicht automatisch beseiti-
gen. Weite Teile der Bevölkerung in Europa stehen der
europäischen Integrationspolitik misstrauisch bis ab-
lehnend gegenüber. So haben zum Beispiel in Deutsch-
land laut einer Umfrage des Eurobarometers nur
42 Prozent der Deutschen ein positives Bild von Europa.
Woran liegt das? Das liegt sicherlich an der Unübersicht-
lichkeit der jetzigen europäischen Strukturen und man-
gelnder Kompetenzabgrenzung zwischen Europa und
den Nationalstaaten. Viele Bürger fühlen sich der euro-
päischen Politik ausgeliefert. Sie können nicht die Zu-
sammenhänge europäischer Entscheidungen verstehen,
und sie haben erst recht nicht das Gefühl, irgendeinen
Einfluss darauf nehmen zu können. Das zeigen uns auch
die europaweit beängstigend niedrigen Beteiligungen an
Europawahlen.

Wir müssen selbstkritisch feststellen, dass bei der
Frage, ob wir genügend Überzeugungsarbeit für dieses
Europa geleistet haben, die Bilanz für uns Politiker man-
gelhaft ist. Wir müssen mehr dafür tun, dass in der Be-
völkerung ausreichendes Verständnis dafür geweckt
wird, dass der Verfassungsvertrag nicht das Problem,
sondern die Lösung vieler Probleme ist.
Es gibt aber auch das objektive Problem der mangeln-
den Zustimmung der Bevölkerung zu Europa, das wir
mit Beschlüssen und Verträgen alleine nicht lösen kön-
nen. Dafür brauchen wir Zeit. Wir sind jetzt nach einem
gigantischen Erweiterungsprozess 27 Mitgliedsländer
und 480 Millionen Menschen in dieser neuen Europäi-
schen Union. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich
die Bürgerinnen und Bürger an diese neue Situation ge-
wöhnen müssen. Hier muss Vertrauen wachsen, dass
diese Europäische Union auch weiterhin zukunftsorien-
tiert arbeiten kann. Dazu reichen zwei oder drei Jahre
nicht aus.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es darf deshalb angesichts der schnellen Erweiterungs-
politik der vergangenen Jahre, zu der es in der Tat keine
Alternative gab, kein einfaches „Weiter so!“ geben. Un-
sere Hauptaufgabe liegt jetzt darin, die europäische Eini-
gung zu vertiefen und die Arbeitsfähigkeit der europäi-
schen Institutionen zu verbessern. Genau aus diesem
Grund ist der vorliegende Verfassungsvertrag das beste
und fortschrittlichste Dokument, das wir gegenwärtig
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Ich möchte noch einige Sätze zur Berliner Erklärung
sagen. Sie entfaltet – das war durchaus geplant –, schon
bevor es sie überhaupt gibt, eine erstaunliche Wirkung.
Die Zeitungen sind voll von Veröffentlichungen zu Eu-
ropa und drucken Sonderbeilagen. Die Menschen be-
schäftigen sich intensiver mit der Europäischen Union.
Es wäre wünschenswert, dass das so bleibt. Die Befas-
sung mit der Berliner Erklärung geht sogar so weit – das
konnte ich gestern im Ausschuss hören –, dass die Frak-
tion Die Linke jetzt schon an einer Berliner Gegenerklä-
rung schreibt.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das wird die Welt verändern, Leute!)


Ich frage mich allerdings, wogegen, da es die Berliner
Erklärung noch gar nicht gibt.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wir haben sie! Wir haben sie allerdings nicht aus dem Bundestag bekommen!)


Selbst Ihre Fraktion scheint der Berliner Erklärung eine
besondere Bedeutung zuzumessen.

Bei den anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag
funktioniert die Arbeitsteilung nach bekanntem Muster.
Die Opposition beklagt eine mangelnde parlamentari-
sche Beteiligung, und es wird von Geheimniskrämerei
und Geheimdiplomatie gesprochen. Das ist nachvoll-
ziehbar. Aber eines ist doch sicher, und das weiß hier je-
der von uns: Wenn die Berliner Erklärung von allen na-
tionalen Parlamenten der Europäischen Union diskutiert
und beschlossen worden wäre, hätten wir sie wenigstens
zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es geht hier auch um
Vertrauen. Ich vertraue darauf, dass unsere Bundeskanz-
lerin Angela Merkel und ihre Verhandlungsführer einen






(A) (C)



(B) (D)


Michael Stübgen
guten und zukunftsweisenden Text aushandeln. Dass die
Opposition dieses Vertrauen nicht hat wie die Regie-
rungsfraktionen, ist auch verständlich. Aber vielleicht
sind auch Sie von dem Text der Berliner Erklärung über-
rascht, und zwar positiv überrascht.


(Jörg van Essen [FDP]: Ach, Sie kennen sie schon?)


Sicherlich werden wir in den kommenden Wochen noch
viel Gelegenheit haben, uns auch kritisch mit der Aus-
wertung dieses Textes zu beschäftigen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir befin-
den uns ungefähr in der Mitte der deutschen Ratspräsi-
dentschaft. Schon Monate vor Beginn der deutschen
Ratspräsidentschaft war die Erwartungshaltung gegen-
über Deutschland enorm groß, eine Erwartungshaltung,
die mich anfangs beunruhigt hat. Von uns wurde – so
kam es mir manchmal vor – schlichtweg erwartet, dass
wir in einem halben Jahr alle offenstehenden Probleme
der europäischen Politik lösen können.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608801700

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.


Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1608801800

Einen Satz noch. – Ich glaube aber, wir sollten weni-

ger besorgt, sondern eher stolz sein; denn die große Er-
wartungshaltung gegenüber der deutschen Ratspräsi-
dentschaft gründet sich darauf, dass man uns etwas
zutraut und dass man uns vertraut. Dieses Vertrauen
nicht zu enttäuschen, ist eine Herausforderung für uns
alle. Deshalb werden wir als CDU/CSU-Bundestags-
fraktion im Deutschen Bundestag Bundeskanzlerin
Angela Merkel und die Bundesregierung nach allen
Kräften unterstützen, zu einem erfolgreichen Abschluss
der deutschen Ratspräsidentschaft im Juni dieses Jahres
zu kommen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608801900

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Diether Dehm,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608802000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Kollege Stübgen, Sie brauchen nicht eifersüchtig zu
sein: Wir sind von der Bundesregierung nicht bevorzugt
worden; wir haben die Informationen über die Berliner
Erklärung aus anderen Quellen in Europa bekommen.
Aber sie liegen uns vor; allzu große Überraschungen
sind es nicht.


(Jörg van Essen [FDP]: Sehen Sie mal, StasiErfahrung wirkt!)


– Ich bitte dann herzlich, diesen Zwischenruf in das Pro-
tokoll aufzunehmen. Wir haben diese Informationen im
Wege demokratischer Prozesse erhalten. Ich kann nur
noch einmal sagen, wenn Sie da ein bisschen eifersüch-
tig sind: Wir kennen die Berliner Erklärung, überra-
schend sind die Informationen nicht.


(Jörg van Essen [FDP]: Ja, Stasi-Erfahrung kann sich auszahlen!)


Vorgestern fand in Berlin der Rohstoffkongress des
BDI unter Anwesenheit des halben Bundeskabinetts
statt. Der Spitzenfunktionär des BDI Herr Grillo appel-
lierte, was die Rohstoffsicherung in Deutschland anbe-
trifft, an die Wirtschafts-, Sicherheits-, Außen-, Europa-
und Entwicklungspolitik. Ich zitiere Herrn Grillo wört-
lich:

Der größte Teil der weltweiten Rohstoffförderung
findet in ... instabilen Ländern statt. Dies ist an sich
schon Grund genug zur Befassung der Außenpolitik
mit den Problemen der Rohstoffversorgung.

Und weiter:

China hat inzwischen mit einer Reihe von durch die
internationale Gemeinschaft geächteten Staaten in
Afrika, Asien und Lateinamerika Allianzen ge-
schlossen und in diesen zum Teil erhebliche Inves-
titionen getätigt – unter anderem im Sudan und in
Angola.

Herrn Grillos Interesse an militärischen Aktivitäten der
EU im Sudan hat mit Menschenrechten also wenig zu
tun.

Die Bundesregierung kommt, so schrieb die „FAZ“ in
ihrer gestrigen Ausgabe, „dem Wunsch des BDI nach
und gründet einen interministeriellen Ausschuss zur
Rohstoffpolitik“.

Die Bundeskanzlerin sagte vorgestern beim BDI zum
Thema Rohstoffsicherung:

Bei aller Unabhängigkeit zwischen Wirtschaft und
Politik müssen wir ... die strategische Herangehens-
weise

– das sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen –

angesichts des Herangehens anderer Akteure in der
Welt neu erlernen.

Nein, Frau Ratspräsidentin, lernen Sie lieber nicht vom
BDI und der Bertelsmann-Stiftung: Militäreinsätze für
Rohstoffsicherung und Sozialkahlschlag für Konzern-
chefs.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich weiß nicht, wann Sie zuletzt mit Kulturschaffen-
den gesprochen haben, die für Europa, seine Friedens-
und Sozialstaatsidee stehen und damit ein Millionenpu-
blikum begeistern. Wir von der Linken haben es in den
letzten Tagen auch wieder getan. Herausgekommen ist
die Berliner Gegenerklärung. Ich zitiere daraus:

Die „Berliner Erklärung“ ... dürfte wohl eher ein
„Berliner Verschweigen“ werden. ... Die französi-
sche Ratspräsidentschaft [soll] auf die Verabschie-
dung des gescheiterten Verfassungsvertrages, dies-
mal zerlegt in mehrere unübersichtliche Teile und
Verträge, drängen. Erhalten wird ... die aufrüstungs-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Diether Dehm
fixierte und neoliberale Substanz. Sie soll dann
ohne Volksabstimmungen durchgedrückt werden.
Selbst in jenen Ländern, die zunächst ... zugestimmt
hatten, weiß die Bundesregierung: die Mehrheit ist
dahin. Ausgerechnet die Regierung eines Landes, in
dem keine Volksabstimmung über den europäi-
schen Verfassungsvertrag vorgesehen ist, versucht,
demokratische Referenden anderer Länder auszu-
hebeln.

Die Kulturschaffenden nennen dies einen kalten
Putsch der neoliberalen Eliten


(Beifall bei der LINKEN)


und fordern:

ein Ende der Geheimdiplomatie, europaweite
Volksabstimmungen über eine europäische Verfas-
sung, statt Aufrüstungsgebot das Angriffskriegsver-
bot des Grundgesetzes und der UN-Charta, statt
Neoliberalismus im Verfassungsrang die Sozial-
staatsregelung unseres Grundgesetzes und die so-
zialen Menschenrechte der UN-Charta!


(Beifall bei der LINKEN)


Nur so bekommt die EU die verfassungsrechtlichen
Voraussetzungen, um aus der Sackgasse der G-8-
Globalisierer herauszukommen.

Diese Erklärung haben unter anderem unterschrieben:
Daniela Dahn, Schriftstellerin, Katja Ebstein, Sängerin,
Professor Dr. Rudolf Hickel, Wirtschaftswissenschaftler,
Dr. Manfred Maurenbrecher, Liedermacher, Diether
Dehm,


(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wer ist Diether Dehm? Alexander Ulrich, Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Reinhard Mey, Peter Sodann, Henning Venske, Konstantin Wecker. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit Klaus Lage?)


Frau Merkel, verhelfen Sie Europa wieder zu seiner
Ursprungsidee! Die ist gebaut auf Frieden in der Welt
– nicht nur bei uns – und soziale Gerechtigkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608802100

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Roth für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1608802200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man vom heutigen Tage und von den nächsten Ta-
gen mit den Feierlichkeiten zum 50. Geburtstag der Rö-
mischen Verträge absieht: Unser eigenes Urteil über Eu-
ropa sollte uns mitunter die Schamesröte ins Gesicht
treiben; denn wir haben uns an den vielen Erfolgen of-
fensichtlich sattgesehen. Wir mäkeln herum. Wir sind
übellaunig.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Nein!)


Ich sage das vor allem deshalb, weil der Blick von außen
auf die Europäische Union oftmals den Traum erkennt,
den meine Kollegin Angelica Schwall-Düren beschrie-
ben hat. Überall dort, wo die Menschenrechte mit Füßen
getreten werden, wo Hunger herrscht, wo Unfrieden
herrscht, dort glaubt man an dieses Europa; dort ist Eu-
ropa Hoffnung. Man will dazugehören. Man will teilha-
ben an dieser großen Idee, die uns seit vielen Jahrzehn-
ten begleitet. Das sollten wir uns im politischen Alltag
immer wieder vergegenwärtigen, wenn wir anfangen,
über das Wider, über die Schwierigkeiten, über die Pro-
bleme zu reden.

Selbstverständlich ist die Berliner Erklärung wichtig.
Wir sollten denjenigen, die diese Berliner Erklärung
zimmern – das ist nicht nur die Bundesregierung –, alles
Gute wünschen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt eine
ganze Menge über die Berliner Erklärung hinaus zu tun.
Wie könnte Europa auch in den kommenden fünf Jahr-
zehnten gelingen?

Eine Erkenntnis ist: Mut statt Verzagtheit. Die Er-
klärung von Messina ist heute Morgen schon angespro-
chen worden. Erinnern wir uns an den 30. August 1954!
Damals hat die Assemblée nationale die Europäische
Verteidigungsgemeinschaft abgelehnt – ein dramatischer
Rückschritt. Es hat damals aber keine Reflexionsphase
gegeben. Man hat sich nicht zurückgelehnt und gar
nichts mehr gesagt; nein, man hat ganz beherzt die Ini-
tiative ergriffen. Mit der Erklärung von Messina ist die
Grundlage für das heutige Europa, ist die Grundlage für
die Römischen Verträge geschaffen worden. Wir können
von unseren Urgroßeltern und Großeltern also zumindest
dieses lernen: In der Krise bewähren sich Mut, Aus-
dauer, Kraft und Überzeugungsfähigkeit.


(Beifall bei der SPD)


Ich komme zu einer zweiten Erkenntnis – sie mag
sich für den einen oder anderen etwas trivial anhören,
aber sie ist nicht selbstverständlich –: Wir alle sind
Brüssel. Ich weiß, dass es gerade in bayerischen Bierzel-
ten dazugehört, mal richtig auf Europa draufzuhauen. Da
bekommt man ordentlich Applaus. Erst sind die Berliner
dran, und dann sind die Europäer in Brüssel dran. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, in Europa entscheiden nicht
Marsmenschen, sondern wir entscheiden.


(Markus Löning [FDP]: Aber bei der Berliner Erklärung nicht!)


Die nationalen Regierungen tragen Verantwortung. Der
Deutsche Bundestag trägt Verantwortung.


(Markus Löning [FDP]: Aber nur, wenn wir beteiligt werden!)







(A) (C)



(B) (D)


Michael Roth (Heringen)

Spätestens seit der zwischen Bundestag und Bundesre-
gierung getroffenen Vereinbarung in Sachen Europa
kann niemand von uns mehr herummäkeln, er habe von
nichts gewusst, er sei überrannt worden, oder fragen,
was denn da schon wieder Blödes entschieden worden
sei. Nein, wir sitzen im Boot Europa. Wir gehören dazu.
Auch wir sind für die guten, aber auch für manche der
schlechten Entscheidungen verantwortlich, die in der
Europäischen Union getroffen wurden und getroffen
werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will eine dritte Erkenntnis hinzufügen: Recht vor
Macht. Es hat der Europäischen Union immer gutgetan,
dass gerade die großen Mitgliedstaaten respektvoll mit
den kleineren Mitgliedstaaten umgehen, dass wir auf
Augenhöhe miteinander kommunizieren. Manche der lu-
xemburgischen, belgischen oder niederländischen Initia-
tiven in den vergangenen Jahrzehnten haben Europa
mehr vorangebracht, als das durch die großen Mitglied-
staaten, die das stets für sich in Anspruch nehmen, ge-
schehen ist. Diesen Respekt haben die Kleineren ver-
dient. Deutschland ist stets gut damit gefahren, Anwalt
der Interessen kleinerer Mitgliedstaaten zu sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Markus Löning [FDP]: Aber Gerhard Schröder wusste das nicht!)


– Der Gerhard Schröder hat eine ganze Menge gelernt.


(Markus Löning [FDP]: Das war auch nötig!)


Ich finde, er hat das im Großen und Ganzen gut gemacht.


(Zurufe)


– Frau Künast, auch Sie haben ihn gewählt, nicht nur
ich.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe ihn nicht gewählt! – Gegenruf von der LINKEN: Nie?)


Kommen wir zu einer vierten Erkenntnis: Europa
bräuchte eigentlich Zeit für Konsolidierung. Das hat
der Kollege Stübgen eben schon beschrieben. Ich
stimme dem Kollegen im Prinzip zu. Ich frage Sie alle
aber: Hat die Welt Zeit? Kann jemand auf Europa Rück-
sicht nehmen? Können wir einfach sagen: „Probleme,
hört jetzt mal auf, Probleme zu sein; lasst uns mal richtig
durchatmen und Kraft tanken; wir brauchen noch ein
bisschen Zeit und Muße für uns, und dann können wir
die Probleme der Welt lösen“?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Welt wartet
nicht auf Europa. Wir müssen das Tempo vielleicht nicht
erhöhen, wir müssen aber weiterhin mit großem Tempo
dafür sorgen, dass die Probleme der Welt gelöst werden,
dass wir Globalisierung menschlich, sozial und demo-
kratisch gestalten. Deswegen können wir den Bürgerin-
nen und Bürgern auch nicht einreden, dass die Entwick-
lung in irgendeiner Weise langsamer vonstatten gehen
wird. Ich halte das für zwingend, auch wenn das für uns
als politisch Verantwortliche mitunter beschwerlich sein
mag.
Ich komme zu einer weiteren Erkenntnis: Wer, zu
Recht, die europäische Zivilgesellschaft einfordert, der
muss auch dafür sorgen, dass sich endlich Parteien, Ge-
werkschaften und Verbände europäisieren. Das ist für
uns alle, die wir in europäischen Parteifamilien zusam-
menarbeiten, schwierig, weil wir wissen, dass es nicht
immer nur nach unserer Nase geht, sondern da unter-
schiedliche Erwartungshaltungen, Traditionen und auch
kulturelle Verbindlichkeiten aufeinanderstoßen. Aber
ohne europäische Parteien mit europäischen Spitzenkan-
didaten, mit europäischem Bewusstsein und demokrati-
schen Verhältnissen innerhalb dieser Parteien kann der
Aufbau dieser europäischen Zivilgesellschaft nicht ge-
lingen. Das ist eine Aufgabe, für deren Umsetzung wir
alle in unseren eigenen Parteifamilien arbeiten müssen.


(Beifall bei der SPD)


Ich komme zu einer weiteren Erkenntnis: Europa lebt
von Zuwanderung und Einwanderung. Das wurde in Eu-
ropa immer als eine ungeheure kulturelle und zivilgesell-
schaftliche Erfolgsgeschichte wahrgenommen, auch
wenn wir das oft hätten besser machen können. Wenn es
uns mitunter schon nicht gelingt, Migrantinnen und Mi-
granten verantwortungsvoll zu integrieren, wäre vielleicht
eine europäische Identität neben den anderen Identitä-
ten, die wir alle in uns tragen, ein konkretes, möglicher-
weise auch Erfolg versprechendes Angebot, um das Zu-
sammenleben in unserer Gesellschaft zivil und
respektvoll zu gestalten. Auch das wird nicht in der Ber-
liner Erklärung stehen, aber es ist dennoch notwendig.

Es gilt bei uns in Deutschland die Devise: Weniger ist
oftmals mehr. Gilt das aber auch für die Europäische
Union? Ich befürchte: nein. Die Europäische Union
muss in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eher mehr
denn weniger Verantwortung übernehmen. Da sollte es
uns allen eher um das große Design gehen – klare Ziele,
verbindliche Standards – und weniger um die Detailwut,
die manchmal auch in Brüssel fröhliche Urständ feiert.
Unser Botschafter in London, Wolfgang Ischinger, sagte
kürzlich, Legitimität und Glaubwürdigkeit seien die
Pfunde der Europäischen Union. Ich stimme ihm zu: Wir
haben eine große Verantwortung im Bereich des Klima-
schutzes, im Bereich der atomaren Nichtverbreitung und
haben die Aufgabe, dass unsere Sicherheitsstrategie, die
von ziviler Konfliktprävention ausgeht, zu einem maß-
geblichen Exportschlager im globalen Maßstab wird.


(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Nur, dann müssen wir auch der Europäischen Union die
Instrumente in die Hand geben. Wir brauchen mehr ge-
meinsame Entwicklungszusammenarbeit. Wir brauchen
nicht eine europäische Entwicklungspolitik und 27 wei-
tere. Wir brauchen gemeinsame entwicklungspolitische
Anstrengungen. Wir brauchen ein Europa, das mit einer
Stimme spricht. Wir brauchen perspektivisch sicherlich
auch europäische Streitkräfte. Nicht in erster Linie des-
wegen, weil das Synergieeffekte hervorbringt. Nachdem
wir mit den Währungen einen Kernbereich nationaler
Souveränität abgegeben haben, verabschieden wir uns
perspektivisch auch aus einem weiteren Kernbereich na-
tionaler Souveränität, der maßgeblich für Frieden und






(A) (C)



(B) (D)


Michael Roth (Heringen)

Kooperation steht. Wir könnten deutlich machen: Wir
wollen die Probleme dieser Welt gemeinsam lösen und
gemeinsam zum Frieden in der Welt beitragen.


(Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Aber nur mit ordentlicher Parlamentsbeteiligung!)


– Da stimme ich Ihnen zu, Herr van Essen. Die Parla-
mentsbeteiligung und die parlamentarische Kontrolle
des Bundestages sind etwas, worauf wir in der Europäi-
schen Union stolz hinweisen sollten.

Den Schutz von Umwelt, Natur und Klima habe ich
schon angesprochen. Auch der Technologietransfer im
Bereich der erneuerbaren Energien ist etwas, was für uns
in Deutschland von ganz herausragender Bedeutung ist.
Bei den Umwelttechnologien sind wir Exportweltmeis-
ter. Wenn es der Europäischen Union hier gelingt, ande-
ren Regionen der Welt konkrete Angebote zu unterbrei-
ten, wie man ohne Kernenergie und ohne fossile
Energieträger in eine gute, erfolgreiche, prosperierende
Zukunft gehen kann, wäre das etwas, worauf wir zu
Recht stolz sein können.


(Beifall des Abg. René Röspel [SPD])


Last, but not least will ich das unterstreichen, was
auch unser Arbeits- und Sozialminister immer wieder in
den Mittelpunkt seiner Bemühungen gerückt hat: gute
Arbeit! Faire Arbeitsbedingungen, kein Lohndumping,
sondern Löhne, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer und deren Familien ernähren, kein Dumping um die
niedrigsten Unternehmensteuern, gelebte Solidarität –
das ist eine zentrale Herausforderung der Europäischen
Union.


(Beifall bei der SPD)


Der Wert der gelebten Solidarität ist das, was die Er-
folgsgeschichte der Europäischen Union maßgeblich
ausmacht. Auch andere predigen Freiheit; Freiheit ist ein
zentraler Begriff unserer Werte. Aber mit Solidarität ha-
ben wir einen weiteren Exportschlager gestiftet, der
nicht nur in die Europäische Union gehört, sondern auch
global gesehen eine Rolle spielen muss.

Es gibt zweifellos Alternativen zu dem, was ich ge-
sagt habe und was der Außenminister und viele Kolle-
ginnen und Kollegen heute hier erklärt haben. Politik ist
nie alternativlos. Aber es ist zu hinterfragen, ob es wirk-
lich eine akzeptable Alternative ist, dass wir uns weiter
durchwurschteln und meinen, wir könnten mit den Re-
geln von Nizza die Europäische Union und die Zukunft
unserer Mitgliedstaaten gestalten. Ich halte das für eine
fahrlässige Strategie. Wer Differenzierung innerhalb der
Europäischen Union das Wort redet, muss akzeptieren,
dass das ein Auseinanderdriften der Europäischen Union
in mehrere Klubs und Gruppen mit sich bringt und damit
auch Entsolidarisierung bedeutet.

Möglicherweise steht am Ende einer solchen Diskus-
sion auch die Frage, ob bestimmte Länder noch bereit
und in der Lage sein können, Mitglied der Europäischen
Union zu sein. Ich wünsche mir nicht, dass sich diese
Frage stellt; auch die SPD-Fraktion wünscht sich das
nicht. Wir wünschen uns weiterhin eine Europäische
Union der Solidarität. Wenn man auf das zurückblickt,
was meine und unsere Urgroßeltern und Großeltern ge-
schafft haben, kann man nur sagen: Chapeau! Das ist
eine großartige Leistung. Unsere Elterngeneration muss
jetzt zeigen, ob sie sich in diese erfolgreiche Tradition zu
stellen vermag. Das gilt im Übrigen aber auch für meine
Generation.

Vor uns liegt viel Arbeit. Ich wünsche allen, die sich
am gemeinsamen, solidarischen Europa mit Engagement
beteiligen wollen, alles Gute. Feiern wir am Sonntag or-
dentlich! Europa hat es verdient.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1608802300

Rainder Steenblock ist der nächste Redner für die

Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Na-
türlich sind 50 Jahre europäische Integration gerade für
uns Grüne, aber auch für uns alle ein gewichtiger Grund
zum Feiern. Heute sind sehr viele Verdienste aufgezählt
worden, die dieser europäische Integrationsprozess mit
sich gebracht hat. Ich würde gerne zu drei Herausforde-
rungen, vor denen wir stehen, etwas sagen. Denn es
reicht nicht aus, an diesem Tage nur die Verdienste der
Vergangenheit aufzuzählen.

Wenn wir uns als Politikerinnen und Politiker ernst
nehmen, dann müssen wir in dieser Situation Antwor-
ten auf die Zukunftsfragen finden, vor denen viele Bür-
gerinnen und Bürger in Europa zurzeit kritisch bis
ängstlich stehen. Wenn 44 Prozent der Menschen in
Europa sagen, dass sie durch die Europäische Union
keine Vorteile sehen, haben sie damit nicht recht. Aber
diese Einstellung der Menschen weist auch auf unsere
Fehler hin. Es gibt Vermittlungsprobleme, die wir
selbst zu verantworten haben. Das hat auch damit etwas
zu tun, dass wir an Tagen wie heute – einige Kollegen
haben es bereits gesagt – in Festlaune über Europa re-
den, aber in den Wahlkreisen es viele Kolleginnen und
Kollegen nicht schaffen, den Herausforderungen des
Populismus zu widerstehen. Anstatt bei bestimmten
Themen die Schuld auf Europa zu schieben und in
wirklich übler Polemik die Brüsseler Bürokratie anzu-
greifen, müssen wir es schaffen, kohärent europa-
freundlich zu argumentieren. Wenn wir es darüber hi-
naus schaffen, billigem Populismus zu widerstehen,
dann kommen wir, was die Vermittlung der Überzeu-
gung angeht, dass Europa ein Erfolg für die Menschen
ist, vielleicht ein Stück weiter voran.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es wird viel über das Thema Schule diskutiert. Die
Jugend in Europa ist viel europafreundlicher und offe-
ner, als es den Anschein hat. Wenn wir uns aber einmal
anschauen, welche Rolle Europa in den deutschen Lehr-
plänen spielt – das liegt mehr in der Zuständigkeit der






(A) (C)



(B) (D)


Rainder Steenblock
Länder denn des Bundes –, dann muss man sagen: Es ist
beschämend, dass in vielen Bundesländern das Thema
Europa in den Lehrbüchern der Sekundarstufe I und der
Sekundarstufe II überhaupt nicht behandelt wird.


(Beifall des Abg. Michael Roth [Heringen] [SPD])


Das können wir uns nicht leisten, wenn wir in Europa
zusammenleben wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Zu Recht erwarten die Bürgerinnen und Bürger von
Europa weniger Bürokratie, mehr Transparenz und
mehr Demokratie. Die Verfassung ist ein Ansatz, diese
Erwartungen zu erfüllen.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse)


Die Berliner Erklärung, die das krönende Element
dieses 50-jährigen Geburtstages sein soll, entstand durch
einen Prozess, der leider nicht transparent war und der
kontraproduktiv zu dem ist, was wir den Menschen im
Rahmen der Verfassungsdebatte eigentlich versprochen
haben.


(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Wenn wir Europa demokratischer und vor allen Dingen
transparenter machen wollen, dann brauchen wir öffent-
liche Debatten. Die Bundesregierung hat leider die
Chance versäumt, eine öffentliche Debatte in Europa
über den zukünftigen Weg zu ermöglichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Markus Löning [FDP] und des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Das ist bitter; denn diese Chance hätte es gegeben.

Es geht nicht darum, alle europäischen Parlamente zu
einer Redaktionskonferenz einzuladen; das ist nicht das
Thema. Aber es geht um die Eckpunkte, über die poli-
tisch diskutiert werden muss. Die Bürgerinnen und Bür-
ger in Europa haben ein Recht auf Mitgestaltung. Wenn
wir ihnen dieses Recht nicht einräumen, dann laufen wir
in die Falle von Nizza und damit in die Falle eines hand-
lungsunfähigen Europas hinein. Dann wären wir nicht in
der Lage, diese Zukunftsfragen positiv zu beantworten.
Deshalb bedauere ich diese Entwicklung.

Wenn wir die Auffassung vertreten, dass Europa nur
gemeinsam gelingt – Frau Merkel, das ist ein hervorra-
gendes Motto –, dann müssen sich die Regierungen und
die Parlamente anders verhalten. Wie ich heute Morgen
gehört habe, soll die Berliner Erklärung mit den Worten
„Wir, die Völker Europas“ beginnen. Dazu sage ich, dass
das zynisch ist. Denn es waren die Regierungen Europas
und nicht die Völker Europas, die diese Erklärung ver-
fasst haben.

Wir müssen einen Prozess starten, an dessen End-
punkt die Menschen in Europa mehr mitwirken können.
Unsere Kritik ist, dass die Bundesregierung diese
Chance – leider – verpasst hat. Wenn wir Europa attrak-
tiver machen wollen, dann sollten wir Demokratie und
Transparenz ernst nehmen.
Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Roth [Heringen] [SPD] und des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608802400

Ich erteile das Wort Kollegen Thomas Silberhorn,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1608802500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! 50 Jahre Römische Verträge sind heute Anlass,
auf die Geschichte der europäischen Integration zurück-
zuschauen. Ich möchte dem noch einen Aspekt hinzufü-
gen, nämlich einen Verweis auf die Staatsmänner
Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, die den Mut
hatten, aus der Idee der europäischen Einigung ein kon-
kretes Projekt zu machen.

Beginnend mit der Europäischen Gemeinschaft für
Kohle und Stahl, die aus der Überzeugung entstanden
ist, dass man die Produktion von kriegswichtigen Gütern
gemeinschaftlich gestalten müsse, wurde der europäi-
sche Gedanke mit den Römischen Verträgen um die Idee
des Gemeinsamen Marktes erweitert, die uns bis heute
beschäftigt. Wir haben 1987 mit der Einheitlichen Euro-
päischen Akte das Ziel der Vollendung des Binnenmark-
tes verkündet. Wir sind noch heute mit der Vollendung
des Binnenmarktes befasst.

Die europäische Integration ist aber von Beginn an
nicht nur eine Integration in Wirtschaftsfragen gewesen,
sondern hat sich von Anfang an als Wertegemeinschaft
verstanden und dies auch gelebt. Die Europäische Union
steht für die Beachtung der Menschenrechte, für Rechts-
staatlichkeit und Demokratie. Das hat sich beispiels-
weise darin ausgedrückt, dass die DDR de facto in die-
sen Gemeinsamen Markt einbezogen worden ist. Ziel
dieser Integration ist es nicht gewesen, die Blockbildung
zu vertiefen, sondern – im Gegenteil – selbst so stark
und attraktiv zu werden, dass die Idee der europäischen
Integration auch Anreize für unsere Nachbarn setzt.

Dies ist nach 50 Jahren gelungen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die europäische Integration ist die Grundlage für die
deutsche Einheit gewesen, die wir 1990 durch den Fall
des Eisernen Vorhanges vollenden konnten, und damit
für die Überwindung der Teilung unseres Kontinents.
Damit hat sich die magnetische Anziehungskraft tatsäch-
lich realisiert, auf die Konrad Adenauer seinerzeit ge-
setzt hatte.

Meine Damen und Herren, diese Anziehungskraft
der Europäischen Union wirkt bis heute ungebrochen
auf unsere Nachbarstaaten. Wir stehen durchaus vor
vergleichbaren Herausforderungen wie zu Gründungs-
zeiten der Europäischen Gemeinschaften, allerdings
nicht in einem europäischen, sondern in einem globa-
len Maßstab. Es geht darum, dass die Europäische
Union in der Sicherheitspolitik als globaler Akteur auf-






(A) (C)



(B) (D)


Thomas Silberhorn
tritt. Es geht darum, dass wir eine Weltwirtschaftsord-
nung unter den Bedingungen des Klimawandels und
des Bevölkerungswachstums gestalten. Es geht weiter-
hin darum, dass wir uns weltweit für die Beachtung der
Menschenrechte und die Durchsetzung der Rechtsstaat-
lichkeit einsetzen.

Obwohl diese europäische Integration nach außen so
attraktiv wirkt, ist sie nach innen einer Akzeptanzkrise
ausgesetzt. Es zeigen sich in unseren Bevölkerungen Er-
müdungserscheinungen, die nach meiner Einschätzung
durchaus etwas mit der geschichtlichen Entwicklung und
den unterschiedlichen Erfahrungswelten unserer Gene-
rationen zu tun haben.

Für die Nachkriegsgeneration war die europäische In-
tegration vielfach ein Herzensanliegen. Meine Eltern ha-
ben Bekannte, die nach dem Zweiten Weltkrieg die erste
deutsch-französische Ehe geschlossen haben. Das war
damals der „Bild“-Zeitung eine Schlagzeile auf Seite 1
wert. Heute ist das alles natürlich bare Selbstverständ-
lichkeit. Vieles von dem, was für die ältere Generation
prägend war, ist der jungen Generation keiner Erwäh-
nung mehr wert.

Lassen Sie mich dazu ein weiteres Beispiel nennen.
Denken Sie an Schülerinnen und Schüler, die in diesem
Jahr in fünfte Klassen bzw. auf weiterführende Schulen
kommen. Sie haben ihr Taschengeld immer in Euro be-
kommen. Das heißt, sie selbst kennen die D-Mark nicht
mehr. Das zeigt, wie sich die Wahrnehmung der europäi-
schen Integration in der Generationenfolge verändert.
Deswegen ist es wichtig, zu sagen: Europäische Integra-
tion ist nichts, was sich vererbt. Die europäische Integra-
tion muss vielmehr immer wieder von neuem begründet
und mit jeder Generation neu erarbeitet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Heute ist es unsere Aufgabe, Antworten auf Fragen zu
finden, die wir in Europa nur gemeinsam lösen können.
Aber genauso wichtig ist es, dass wir uns auf diese Fra-
gen beschränken und darauf achten, dass sich die euro-
päischen Institutionen nicht verselbstständigen. Diese
Balance zwischen Vielfalt und Einheit zu finden, ist un-
sere dauerhafte Aufgabe.

Es ist heute schon viel von den gemeinsamen Interes-
sen gesprochen worden, die wir in der Europäischen
Union voranbringen müssen. Ich möchte noch den Kli-
maschutz erwähnen. Der europäische Gipfel am 8. und
9. März dieses Jahres hat für uns in Europa tatsächlich
zu einer weltweiten Vorreiterrolle auf diesem Gebiet ge-
führt. Auch beim Thema Energiesicherheit haben wir
mit dem Aktionsplan „Energiepolitik für Europa“ eine
Vorreiterrolle eingenommen. Ich möchte mich für das
umsichtige und beachtliche Engagement sowohl der
Bundeskanzlerin als auch der gesamten Bundesregie-
rung – auch für das des Bundesministers Glos, der hier
fachlich zuständig ist und noch anwesend ist – ganz
herzlich bedanken.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben genauso Aufgaben bei der Bekämpfung
des internationalen Terrorismus und der Ausgestaltung
der Außen- und Sicherheitspolitik wahrzunehmen. Es
geht auch darum, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäi-
schen Union im internationalen Maßstab zu steigern. Ich
möchte hervorheben, dass in der deutschen Ratspräsi-
dentschaft die Idee eines transatlantischen Marktplatzes
neue Dynamik entfalten kann. Der Gipfel zwischen der
EU und Amerika im April steht unmittelbar bevor. Das
alles sind Initiativen, die die Voraussetzungen dafür
schaffen, dass wir auch in Europa mehr Beschäftigung
realisieren können.

Europa muss allerdings auch seine Grenzen finden,
sowohl in geografischer Hinsicht wie auch in institutio-
neller Hinsicht. Was die Erweiterungspolitik angeht,
müssen wir uns zunächst im Inneren konsolidieren, be-
vor wir zu weiteren Erweiterungsschritten in der Lage
sind. Wir müssen aber auch darauf achten, dass wir diese
Erweiterungspolitik nicht nach einem Alles-oder-nichts-
Prinzip gestalten, sondern dass wir den Staaten, die en-
ger mit uns kooperieren wollen, realistische und erreich-
bare Ziele anbieten – das können auch Zwischenschritte
sein – auf dem Weg zu einer vollständigen Integration in
die Europäische Union.

Es gehört ferner dazu, dass wir die europäische Er-
weiterungspolitik mit der Nachbarschaftspolitik enger
vernetzen. Egal wie weit wir die Europäische Union
noch erweitern, es wird – so banal es auch klingen mag –
immer noch einen Nachbarn geben. Wir werden also die
Aufgabe haben, die europäische Peripherie eng zu ver-
netzen mit den jeweils benachbarten Staaten. Dabei wer-
den wir darauf achten müssen, dass wir differenzierter
vorgehen als bisher. Denn natürlich ist es verständlich,
dass wir bei der Ukraine andere Ansätze brauchen als
etwa bei den nordafrikanischen Mittelmeer-Anrainer-
staaten.

Wir brauchen neben geografischen Grenzen auch eine
Begrenzung der Europäischen Union in der Wahrneh-
mung ihrer Kompetenzen. Der Europäische Verfas-
sungsvertrag bringt dazu einige Neuerungen, die für uns
besonders wichtig sind. Die doppelte Mehrheit beispiels-
weise würde in der Tat besser als bisher zum Ausdruck
bringen, welche Stärke die Mitgliedstaaten in den euro-
päischen Prozess der Meinungsbildung einbringen. Ich
möchte darauf hinweisen, dass sich im Zuge der Erwei-
terungen in 50 Jahren die Verhältnisse grundlegend ge-
ändert haben. Bei der Gründung der Europäischen Ge-
meinschaften waren die großen Mitgliedstaaten in der
Überzahl. Deswegen gab es ein besonderes Interesse,
dass die kleineren Staaten nicht majorisiert werden. Des-
wegen hat man ihnen ein besonders starkes Gewicht ein-
geräumt.

Das hat sich heute völlig umgekehrt. Wir haben jetzt
eine Union von 27 Mitgliedstaaten mit vielen kleinen
Ländern, sodass wir jetzt mehr darauf achten müssen,
dass in der Meinungsbildung auch die Repräsentativität
stärker zum Zuge kommt, als das bisher der Fall war.
Deswegen ist es richtig, bei Mehrheitsentscheidungen
auf die Mehrheit der Staaten und der Bevölkerungen zu
achten.

Wir brauchen daneben aber auch eine klare Abgren-
zung der Kompetenzen der Europäischen Union. Denn
wenn die Ausübung politischer Macht durch solche Ver-






(A) (C)



(B) (D)


Thomas Silberhorn
träge an das Recht gebunden wird, dann muss dieses
Recht natürlich klar bestimmt sein und darf nicht der be-
liebigen Auslegung anheimgegeben werden. Deswegen
brauchen wir eine klare Abgrenzung der Kompetenzen
und eine Beschränkung der Europäischen Union auf ihre
Kernkompetenzen.

Wir haben dabei als Bundestag eine wichtige Aufgabe
im Rahmen der Subsidiaritätskontrolle, die wir zuneh-
mend bewusster wahrnehmen.

Wenn wir darauf zurückblicken, dass wir als Deut-
scher Bundestag 50 Jahre gebraucht haben, bis wir eine
förmliche Vereinbarung mit der Bundesregierung über
die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäi-
schen Union geschlossen und bis wir uns auf den Weg
gemacht haben, in Brüssel ein eigenes Büro einzurich-
ten, dann sehen wir, dass manche Dinge eben eine ge-
waltige Dauer brauchen und Beharrlichkeit in der Ver-
folgung unserer Ziele notwendig ist.

Ich möchte anfügen, dass auch die Rückverlagerung
von Kompetenzen wieder auf die Agenda der Europäi-
schen Union gesetzt werden sollte. Wir haben dabei mit
der Föderalismusreform in Deutschland bereits einen An-
satz gemacht. Wenn ich beispielsweise an die Kompetenz
der Europäischen Union zur Harmonisierung des Binnen-
markts denke, könnte ich mir gut vorstellen, dass man das
ein bisschen beschränkt und auf unmittelbare Wettbe-
werbsbeeinträchtigungen konzentriert. Dann wäre viel ge-
wonnen.

Ich begrüße auch, dass die Bundesregierung sich da-
für einsetzt, die Verwaltungsaktivitäten der Kommission
stärker an politische Vorgaben zu binden, indem wir das
Prinzip der Diskontinuität einführen. Ich ergänze das,
was ich hier schon vorgetragen habe: Wir müssen auch
darüber reden, das Initiativmonopol der Europäischen
Kommission aufzubrechen. Dort, wo Initiativen für poli-
tisches Handeln unternommen werden können, muss es
eine Rückbindung an demokratisch legitimierte Vertreter
geben.

Unser Ziel muss sein, dass wir das Vertrauen der
Bevölkerung – gerade das Vertrauen der jungen Genera-
tion – in die europäische Integration neu gewinnen.
Dazu müssen wir auf die Herausforderungen der Globa-
lisierung Antwort geben. Wir müssen die Grenzen der
Europäischen Union bestimmen, in geografischer und
institutioneller Hinsicht. Wir müssen uns auch zu unse-
ren gemeinsamen Werten bekennen. Wenn wir den Blick
nicht nur nach innen richten – –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608802600

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1608802700

Ich komme zu meinem letzten Absatz.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608802800

Nein, keinen Absatz mehr. Einen Satz noch!


Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1608802900

Wenn wir den Blick nicht nur nach innen richten, son-

dern auch von außen auf die Europäische Union
schauen, dann stellen wir fest: Während sich im Blick
von innen die Vielfalt der Europäischen Union eröffnet,
zeigt sich von außen die Einheit. Beides müssen wir be-
wahren. Die ewige Herausforderung der Europäischen
Union wird es sein, eine Balance zwischen Vielfalt und
Einheit zu finden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608803000

Ich schließe die Aussprache.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c und 19 b
auf:

4 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kornelia Möller, Katja Kipping, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN

Resultate und gesellschaftliche Auswirkungen
der Gesetze für moderne Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt – Hartz-Gesetze –, insbesondere
von Hartz IV
– Drucksachen 16/2211, 16/4210 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Neue effiziente Strukturen in der Arbeitsver-
waltung – Auflösung der Bundesagentur für
Arbeit

– Drucksache 16/2684 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia
Möller, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN

Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlän-
gern

– Drucksache 16/3538 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

19 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Roland Claus, Katja Kipping, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN

Freigabe der im Bundeshaushalt einbehalte-
nen Mittel der Arbeitsmarktpolitik für das
Jahr 2007

– Drucksache 16/4749 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Zur Großen Anfrage der Fraktion Die Linke liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Oskar Lafontaine (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608803100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Die Bundesregierung hat umfangreich Antwort auf
eine Große Anfrage der Fraktion Die Linke zur Lage
derjenigen in Deutschland, die Hartz-IV-Empfängerin-
nen und -Empfänger sind, gegeben. Die Aussprache lässt
nur in geringem Umfang Raum, auf diese Antworten
einzugehen.

Ich beginne mit zwei Zeitungsmeldungen. Heute mel-
det die „Berliner Zeitung“:

Preise steigen schneller als die Löhne

Bruttoverdienste nahmen 2006 nur um 0,7 Prozent
zu

Die „Süddeutsche Zeitung“ eröffnet mit der Über-
schrift:

Mehr Arbeitsplätze in DAX-Konzernen

Unternehmen verdienen so gut wie nie zuvor/Kon-
junktur treibt besonders die Gewinne der Banken

Wahrscheinlich ist die große Mehrheit der Auffas-
sung, dass diese Meldungen wenig miteinander zu tun
haben, oder man vertritt die Auffassung, dass das Kür-
zen von Arbeitslosengeld und der Druck auf die Arbeits-
losen dazu geführt haben, dass die Konjunktur in
Deutschland angezogen hat. Diesbezüglich möchte ich
eine Antwort der Bundesregierung zitieren. Frage 13 der
Großen Anfrage lautete:

Welche Auswirkungen haben die Gesetze für
moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt nach
Auffassung der Bundesregierung auf die Verhand-
lungsposition der Gewerkschaften in Tarifauseinan-
dersetzungen sowie auf das System der betrieb-
lichen Mitbestimmung unter besonderer
Berücksichtigung von angedrohtem Arbeitsplatzab-
bau und angekündigten Produktionsverlagerungen
ins Ausland sowie im Zusammenhang mit Arbeit-
geberforderungen nach unbezahlter Erhöhung der
Arbeitszeit, unbezahlten Überstunden und Lohnver-
zicht?

Die Antwort der Bundesregierung ist ganz schlicht.
Sie lautet:

Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse
darüber vor, ob die Gesetze für Moderne Dienstleis-
tungen am Arbeitsmarkt die Verhandlungspositio-
nen der Gewerkschaften und Betriebsräte beein-
flusst haben.

Da bleibt einem wirklich die Spucke weg.

(Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Die haben die Frage gar nicht verstanden! Die war viel zu kompliziert!)


Man stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung in den
letzten Monaten jemals Gespräche mit Betriebsräten
oder Gewerkschaften geführt hat. Bei jedem Gespräch
hört man, dass Hartz IV die Verhandlungsposition der
Betriebsräte und der Gewerkschaften massiv untergra-
ben und unterminiert hat. Die Bundesregierung sagt
aber, dass ihr „keine Erkenntnisse“ vorliegen. So kann
man nicht über die Köpfe der Menschen in Deutschland
hinweg regieren; so kann man nicht antworten.


(Beifall bei der LINKEN)

Die Wahrheit ist, dass das ständige Herabsinken der

Löhne in Deutschland ein Ergebnis der verfehlten Politik
der Regierungen der letzten Jahre ist.


(Beifall bei der LINKEN)

Die Rutschbahn, die eröffnet worden ist, hat Namen. Sie,
meine sehr geehrten Damen und Herren, sind dafür ver-
antwortlich.

Auf der einen Seite ist Hartz IV zu nennen: der
Zwang, Beschäftigung, die deutlich unter dem Durch-
schnittsniveau bezahlt ist, anzunehmen. Es ist doch klar,
dass dies ein Anreiz für Unternehmerinnen und Unter-
nehmer ist, Arbeitsplätze anzubieten, die deutlich unter
dem Durchschnittsniveau entlohnt werden. Sie müssen
die Folgen Ihrer Handlungen bedenken, wenn Sie hier
Gesetze beschließen!


(Beifall bei der LINKEN)

Auf der anderen Seite ist die Leiharbeit zu nennen.

Wenn Sie zulassen, dass immer mehr Betriebe in immer
größerem Umfang Leiharbeiter einstellen, die deutlich
geringer als die Beschäftigten der Stammbelegschaft be-
zahlt werden, schaffen Sie einen zweiten Mechanismus,
um die Löhne in Deutschland immer weiter nach unten
zu bringen. Hartz IV und Leiharbeit sind zusammen Ur-
sachen dafür, dass die Reallöhne in Deutschland immer
weiter absinken.


(Beifall bei der LINKEN – Andrea Nahles [SPD]: Was hat das mit Hartz IV zu tun?)


– Das hängt zusammen, verehrte Frau Kollegin Nahles:
Wenn man die Arbeitnehmerposition systematisch, Zug
um Zug, schwächt, dann rutschen die Löhne. Nehmen
Sie das doch bitte zur Kenntnis! Ich erzähle doch keine
Fabel.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der SPD: Das ist Unfug!)


Die nächste Maßnahme, die die Löhne ins Rutschen
bringt, ist die Scheinselbstständigkeit. Auch hier gibt es
ausreichend Anhaltspunkte. Kollege Gysi hat bereits die
europäische Dimension dieses Problems im Hinblick auf
die Bolkestein-Richtlinie angesprochen.

Die letzte Station ist die permanente Verweigerung
der Mehrheit dieses Hauses, im Gegensatz zu allen ande-
ren europäischen Staaten eine untere Grenze zu ziehen,
also einen gesetzlichen Mindestlohn zu schaffen.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
Diese vier gravierenden Fehlentscheidungen in der
Arbeitsmarktpolitik führen dazu, dass die Löhne immer
weiter nach unten rutschen.

Es ist gut, dass eine Diskussion darüber eingesetzt
hat, ob dieser Prozess so weitergehen kann. Es ist nicht
gut, dass Sie bei solchen Debatten immer die Wahrheit,
die Fakten ignorieren und von Ihren eigenen Versäum-
nissen ablenken. Es ist wirklich der Gipfel – das möchte
ich einmal sagen; vielleicht dämmert Ihnen etwas, wenn
ich Ihnen dies mitteile –, dass heute der Betriebsratsvor-
sitzende und sein Stellvertreter eines großen Betriebes
an der Saar das Parteibuch zurückgegeben haben. Die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können solcherlei
Politik nicht mehr verstehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie ziehen ihre Konsequenzen. Das ist die unausweichli-
che Folge solcher Fehlentscheidungen.

Nun komme ich zur zweiten Frage – Frage 15 der
Großen Anfrage –, die ich ansprechen wollte:

In welchem Zusammenhang steht nach Ansicht der
Bundesregierung die Zunahme von prekärer oder
atypischer Beschäftigung – bei gleichzeitigem
Rückgang sozialversicherungspflichtiger Beschäfti-
gungsverhältnisse …?

Auch dazu sagt die Bundesregierung:

Eine belastbare Aussage über mögliche Zusammen-
hänge zwischen der Entwicklung der beiden Be-
schäftigungstypen ist nicht möglich.

Da fragt man sich, wo diejenigen, die diese Antwort
geschrieben haben, eigentlich leben. Es wird ernsthaft
behauptet, dass es nichts miteinander zu tun habe, wenn
man das Tor zu ungesicherten, prekären Arbeitsverhält-
nissen aufstößt und gleichzeitig die Zahl der sozialversi-
cherungspflichtigen, regulären Arbeitsplätze zurückgeht.
Die Wahrheit ist das Gegenteil. Je mehr man die Mög-
lichkeit geschaffen hat, ungesicherte, prekäre Arbeits-
verhältnisse einzurichten, umso mehr geht die Zahl der
normalen Arbeitsplätze in Deutschland zurück. Das ist
eine völlige Fehlentwicklung und eine Konsequenz Ihrer
Arbeitsmarktpolitik.


(Beifall bei der LINKEN)


Dies ist für uns auch ein Abbau der Demokratie; ich
möchte das aufgrund der Knappheit meiner Redezeit nur
kurz ansprechen. Niemand hat dies deutlicher gemacht
als der große französische Soziologe Pierre Bourdieu.
Er wies darauf hin, welche Konsequenzen es für die
Menschen hat, wenn sie am Monatsende nicht wissen,
ob sie noch genug Geld haben, um zu Aldi zu gehen und
Lebensmittel zu kaufen. Er wies darauf hin, welche Kon-
sequenzen es für die Menschen hat, wenn sie am Mo-
natsende die Miete nicht zahlen können. Er wies darauf
hin, welche Konsequenzen es für die Menschen hat,
wenn sie nur damit beschäftigt sind, sich zu fragen, ob
sie die Strom- und Gasrechnung bezahlen können. Seine
Schlussfolgerung war, dass diese Menschen die Zukunft
nicht mehr planen können und ihnen damit die Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben verwehrt ist.

(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb müssten Zahlen wie die, die heute vom DIW
veröffentlicht worden sind, dass die Einkommensarmut
in Deutschland in den letzten Jahren von 12 auf
17 Prozent angestiegen ist und dass sich die Einkom-
mensarmut bei 10 Prozent der Bevölkerung verfestigt
hat, Sie erschüttern und dazu bringen, Ihre Handlungen
zu überdenken und Ihre Politik zu revidieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist gut, dass eine Fraktion – ich spreche jetzt die
Grünen an – zu der Einsicht gelangt ist, dass Hartz IV
vielleicht doch eine gravierende Fehlentscheidung war
und dass man Hartz IV reformieren sollte. Ich begrüße
diese Diskussion ausdrücklich. Ich begrüße auch die
Diskussionen in der CDU/CSU, die darauf hinauslaufen,
dass man die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer nicht systematisch enteignen kann. Ich sage noch
einmal: Es ist ein Skandal, wenn ein älterer Arbeitneh-
mer 60 000 Euro in die Arbeitslosenkasse eingezahlt hat
und im Fall der Arbeitslosigkeit nur 10 000 Euro zurück-
bekommt. Korrigieren Sie endlich diese Enteignung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer!


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der SPD)


Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen,
Hartz IV ist eine gravierende Fehlentscheidung, die zur
Rückentwicklung der Reallöhne führt. Die Verschlechte-
rung der Lebensbedingungen für viele Menschen in
Deutschland ist eine Konsequenz Ihrer verfehlten Poli-
tik.


(Zuruf des Abg. Wolfgang Grotthaus [SPD])


– Zum Zuruf von Ihnen in der ersten Reihe: Wenn immer
mehr Betriebsräte das SPD-Parteibuch zurückgeben,
dann geschieht es Ihnen recht. Sie ziehen damit die Kon-
sequenzen aus Ihrer verfehlten Politik.


(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Grotthaus [SPD]: Lafontaine! Lafontaine! – Dirk Niebel [FDP]: Bei Betriebsräten in Verbindung mit Hartz fällt mir etwas anderes ein!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608803200

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Kollege

Gerald Weiß.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich gehe jetzt nicht auf den gesamten linkspopu-
listischen Exkurs ein, den Herr Lafontaine hier veran-
staltet hat.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Er sprach vom Faktenignorieren; da hat ein Fachmann
gesprochen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Gerald Weiß (Groß-Gerau)

Ich will mich auf den Antrag der Linken, der hier vor-
liegt, konzentrieren: „Bezugsdauer des Arbeitslosen-
geldes I verlängern“. Diesen hat Herr Lafontaine in ei-
nem Teilaspekt angesprochen. Das ist ein klassisches
Beispiel dafür, wie man grundlegende Wirkungen,
Wechselwirkungen und Fakten in einer Volkswirtschaft
ignorieren kann und eine Volkswirtschaft, eine Gesell-
schaft kaputtmachen kann, was zu beweisen ist. Dieser
Antrag ist im doppelten Sinne verantwortungslose Poli-
tik,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Widerspruch bei der LINKEN)


frei nach Shakespeares „Wie es euch gefällt“: ein Sam-
melsurium populistischer Ohrwürmer, die Sie durch die
Halle treiben, ein Fesselballon, losgelöst von allen Fak-
ten, Wirkungen und Wechselwirkungen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Reden Sie zum Thema!)


Ich nehme als Erstes Ihre Kernforderung. Wenn der
Anspruch auf Arbeitslosengeld I mit jedem Beitrags-
jahr um einen Monat wachsen soll, dann ist das, Herr
Lafontaine, im Ergebnis ein Programm zur Zerstörung
der Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Wer länger einzahlt, der soll auch
länger ALG I erhalten – das hört sich gut an, das ist ein
Gedanke, der der Union sehr vertraut und nahe ist.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lafontaine und Rüttgers!)


Man kann dieses Prinzip aber ins Groteske verkehren:
30 Jahre Beitrag – 30 Monate ALG I, 35 Jahre Beitrag –
35 Monate ALG I, 40 Beitragsjahre – 40 Monate ALG I.


(Dirk Niebel [FDP]: Da lohnt es sich ja richtig, arbeitslos zu werden!)


Das wäre doch ein verlockendes Angebot für die großen
Konzerne in unserem Land, um ihre Leute wieder mit-
hilfe der Mittel aus den öffentlichen Kassen in den Vor-
ruhestand zu schicken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)


Herr Lafontaine, können Sie denn nicht aus den Feh-
lern lernen? Das, was Sie veranstalten wollen, wäre ein
neues, gigantisches Vorruhestandsprogramm, von den
Beitragszahlern bezahlt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vor diesem Unfug wird die Mehrheit des Hauses Sie be-
wahren. Das, was Sie hier vorschlagen, wird nicht Wirk-
lichkeit werden. Die Große Koalition will exakt das Ge-
genteil:


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Genau! Und was ist mit den Betroffenen? – Weitere Zurufe von der LINKEN)


Wir wollen mehr Chancen für ältere Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer und nicht weniger Chancen für ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir wissen, dass wir bei der Gestaltung der Bezugs-
dauer – innerhalb der Union haben wir uns über diesen
Aspekt ganz schön gestritten – auf einem schmalen Grat
zwischen Frühverrentungsanreizen, die wir nicht wollen,
und Leistungsgerechtigkeit gehen. Mit Ihrem Antrag
verfallen Sie in den alten Fehler der Betonung der Früh-
verrentungsanreize. Diesen Fehler dürfen wir aber nicht
noch einmal machen. Davor müssen wir diese Gesell-
schaft bewahren.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Vor allem müssen Sie die Arbeitslosen davor bewahren, was sie wollen! Aufgeblasener Wicht!)


Der zweite Baustein, der bei einem linkspopulisti-
schen Potpourri nicht fehlen darf: das Zumutbarkeits-
prinzip. Sie wollen Dämme gegen Bildungsbereitschaft
und Mobilität. Das sind Dämme für starres Besitzstands-
denken in dieser Volkswirtschaft und in dieser Gesell-
schaft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, dass die Zumutbarkeitskriterien, die jetzt im
Gesetz stehen, angemessen sind. Ich glaube, Sie sind
nicht in der Lage, sich sachlich damit auseinanderzuset-
zen. Sie wollen bei den betroffenen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern sowie bei den Arbeitslosen auf die
ganz billige Tour punkten.


(Kersten Naumann [DIE LINKE]: Um die machen wir uns Sorgen, im Gegensatz zu Ihnen!)


Für deren Befindlichkeiten und Situation haben wir
Verständnis. Wir haben auch Verständnis für die Bei-
tragszahler. Wenn jemand zumutbare Arbeit ablehnt,
müssen andere dafür bezahlen, nämlich die Beitragszah-
ler. Wir haben ein solidarisches System. Wenn zumut-
bare Arbeit abgelehnt wird, müssen die Beitragszahler
solidarisch dafür einstehen. Daher brauchen wir eine
vernünftige Balance zwischen den Interessen und Belan-
gen der betroffenen Arbeitslosen und Arbeitnehmer, die
wir ernst nehmen, und den Interessen der Beitragszahler.
Das muss in einem Gleichgewicht sein. Wir sehen dieses
Gleichgewicht.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608803300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Möller von der Fraktion Die Linke?

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Ja.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608803400

Bitte.


Kornelia Möller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608803500

Sehr geehrter Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass

Widersprüche keine aufschiebende Wirkung mehr ha-
ben? Ist Ihnen ferner bekannt, dass arbeitslose Menschen
in Arbeit gebracht werden, die sie aufgrund ihrer körper-
lichen Verfasstheit nicht ausüben können, wenn sie nicht






(A) (C)



(B) (D)


Kornelia Möller
Gesundheitsschäden davontragen wollen, diese Men-
schen diese Arbeit aber so lange ausüben müssen, bis
über den Widerspruch entschieden ist?

Sie sagen dann: „Jeder muss zumutbare Arbeit anneh-
men.“ Doch das trifft nicht. Denn die Menschen müssen
an dem Punkt auch nicht zumutbare Arbeit annehmen,
wenn sie ihren Anspruch nicht verlieren wollen. Das
heißt, in der Realität – Sie müssen sich einmal an-
schauen, wie die Praxis aussieht – werden sie gezwun-
gen, Arbeiten auszuführen, die sie aufgrund ihrer körper-
lichen Verfasstheit nicht machen können.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Darauf hätte ich gern eine Antwort.

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Die können Sie haben. Im Gesetz steht: Von nieman-

dem kann die Aufnahme einer Arbeit verlangt werden,
durch die er in irgendeiner Hinsicht überfordert ist, be-
sonders natürlich in gesundheitlich-körperlicher Hin-
sicht. Ein Blick ins Gesetz hätte Sie belehrt; Sie hätten
sich die Antwort ganz einfach erschließen können. –
Vielen Dank, Sie dürfen sich setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Kornelia Möller [DIE LINKE]: Sie sollten sich ansehen, was in der Realität passiert! Sie haben keine Ahnung!)


Noch einmal: Wir meinen die Zumutbarkeitskriterien
wie heute gefasst – sie sind bei der Hartz-Reform nur ge-
ringfügig, im Sinne von Klarstellungen, verändert wor-
den – sind in einer vertretbaren Balance zwischen den
Interessen der Arbeitslosen und den Interessen der bei-
tragszahlenden Arbeitnehmer.

Ich will noch etwas zum Baustein Übergangsregelung,
dem befristeten Zuschlag nach dem Bezug von Arbeits-
losengeld I, sagen. Wir wissen, dass denjenigen, deren
Bezug von Arbeitslosengeld I ausläuft, befristet ein Zu-
schlag gezahlt wird, der dann abgestuft wird. Sie wollen
hier höhere Leistungen, Sie wollen längere Bezugsdau-
ern usw.


(Elke Reinke [DIE LINKE]: Nicht wir, die Betroffenen wollen das!)


Ich glaube, dass die Regelung, wie sie heute ist, dem
Prinzip der Leistungsgerechtigkeit entspricht. Es ist ja
diskutiert worden, diesen Zuschlag abzuschaffen. Ich
glaube, das wäre nicht gerecht: Wir dürfen denjenigen,
der oft sehr lange gearbeitet hat und dann den bitteren
Weg der Arbeitslosigkeit und des Bezugs von
Arbeitslosengeld I geht, beim Übergang zum
Arbeitslosengeld II nicht so stellen wie den Kiosksteher,
der sich sein Leben lang nicht für Arbeit interessiert hat.
Wir müssen deshalb an diesem Übergangsgeld als Aus-
druck der Leistungsgerechtigkeit festhalten.

Das, was Sie zur Mindestabsicherung sagen, bewegt
sich, das wissen Sie selbst, zwischen Rosstäuscherei und
Hochstapelei und illusorischen Vorstellungen. Sie ver-
kaufen diesen Aspekt als etwas revolutionär Neues; doch
im Wesentlichen – das wissen Sie – wollen Sie ein paar
Bezugszeiten verändern. Sie gaukeln den Leuten etwas
vor. Die Mindestabsicherung, glaubt der Normalsterbli-
che, ist wertdefiniert, das ist eine gewisse Mindestleis-
tung, unabhängig von dem Arbeitseinkommen, das man
vorher hatte, und von der Versicherungsleistung, die man
vorher hatte. Im Grunde wollen Sie hier graduelle Verän-
derungen. Über die kann man möglicherweise reden –
sofern wir dem Beitragszahler weitere Lasten zumuten
können und wollen. Aber da sehen wir eine deutliche
Grenze. Wir wollen den Beitragszahler nach Möglich-
keit entlasten. Deshalb treten wir auch dafür ein, den Ar-
beitslosenversicherungsbeitrag noch einmal, so weit wie
irgend machbar, abzusenken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das beste Konjunkturprogramm, das man sich vorstellen
kann, Herr Lafontaine, sind nicht irgendwelche staatli-
chen, großen Veranstaltungen, sondern das sind die Stär-
kung der Kaufkraft der Arbeitnehmer


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der LINKEN: Genau! – Kornelia Möller [DIE LINKE]: Dazu braucht es einen Mindestlohn und die Anhebung von ALG II! – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sinkende Reallöhne seit zehn Jahren!)


und die Begrenzung der Lohnnebenkosten der Unterneh-
mer durch das Absenken von Sozialversicherungsbeiträ-
gen, wo immer das möglich ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Diesen Weg müssen wir gehen und nicht den Weg, den
Sie uns hier aufzeigen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608803600

Ich erteile das Wort Kollegen Dirk Niebel, FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1608803700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe ist – das muss man nach wie vor fest-
stellen – der richtige Schritt gewesen. Es war völlig un-
verständlich, dass wir als wohl einziger Staat der Welt
für den gleichen Lebenssachverhalt – dass man sich von
der eigenen Tätigkeit nicht ernähren kann – zwei unter-
schiedliche steuerfinanzierte Transferleistungen vorge-
halten haben. Das war nicht nur unsinnig. Das war auch
teuer – zum Thema „teuer“ komme ich noch – und für
die betroffenen Menschen entwürdigend. Denn sehr
viele Arbeitslosenhilfeempfänger haben gleichzeitig
auch Sozialhilfe als ergänzende Leistung zum Lebensun-
terhalt bekommen. Diese Personen mussten sich im Hin-
blick auf ihre intimsten wirtschaftlichen Daten vor zwei
wildfremden Behörden praktisch entkleiden. Das war






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Niebel
unwürdig. Deswegen war die Zusammenlegung vom
Grundsatz her völlig richtig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nichtsdestotrotz bin ich immer noch der Ansicht, man
hätte es anders machen können. Es gibt die unterschied-
lichsten Stilblüten, die man sich wirklich kaum vorstel-
len kann.


(Klaus Brandner [SPD]: Jetzt spricht wieder der Sachbearbeiter des Arbeitsamtes! Der Inspektor!)


So hat zum Beispiel ein kommunaler Träger der Hilfe
die Wohnung einer kommunalen Wohnungsbaugesell-
schaft, die zu groß war, dadurch „passend“ gemacht,
dass ein Zimmer in der Wohnung abgeschlossen wurde.
So einen Schwachsinn muss man sich erst einmal einfal-
len lassen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ein zweites Beispiel: Der Partner in einer Bedarfsge-
meinschaft, der sich in einem dauerhaften Beschäfti-
gungsverhältnis befand, wurde aufgefordert, dieses zu
beenden, um in einem befristeten Beschäftigungsver-
hältnis eine Tätigkeit mit einem höheren Stundenlohn
aufzunehmen, um dadurch kurzzeitig den Bedarf der Ge-
meinschaft zu decken. Auch das ist dämlich hoch zehn.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Reinke [DIE LINKE]: Genau das ist die Realität!)


Dennoch bleibt die Zusammenführung grundsätzlich
richtig.

Wer allerdings glaubt, er könne, indem er aus zwei
Behörden drei Behörden macht, Geld einsparen und da-
mit die Schaffung zusätzlicher Krippenplätze finanzie-
ren, der ist schlichtweg nicht in der Lebenswirklichkeit
angekommen.


(Klaus Brandner [SPD]: Der Inspektor legt sich wieder Beispiele zurecht!)


Wer aus zwei Behörden drei Behörden macht, kann mit
Sicherheit nicht Geld einsparen, sondern wird stets mehr
Kosten haben. Deswegen haben wir von vornherein die
einheitliche Trägerschaft auf kommunaler Ebene gefor-
dert. Das ist, wie die Fakten belegen, nach wie vor rich-
tig.


(Beifall bei der FDP)


Dieser Schritt ist nicht nur effizienter, sondern dadurch
wird auch verhindert, dass es zu Stilblüten der eben ge-
nannten Art kommt.

Wenn der Main-Kinzig-Kreis als Optionskommune


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: SPD-regiert, Herr Brandner!)


– ja, der dortige Landrat ist von der SPD – vor den hessi-
schen Sozialgerichten das Recht einklagen muss, auf die
Stellendaten der Bundesagentur zugreifen zu dürfen,
und dies sogar mit der Androhung von Beugehaft für den
Anstaltsleiter in Nürnberg, Herrn Weise, verbunden
wird, dann frage ich mich wirklich, in welcher Republik
wir eigentlich leben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Haben Sie sich schon einmal mit dem Datenschutz befasst?)


Jeder, der vermitteln kann, sollte dies tun dürfen und
demzufolge auch Zugriff auf die Stellendaten haben. Das
zeigt wieder einmal, wie richtig es wäre, die Betreuung
der Arbeitslosen in einer Hand zu bündeln.


(Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]: Wollen Sie jetzt etwa auch noch die Arbeitsämter abschaffen?)


Diese Bündelung in einer Hand macht nach unserem
Dafürhalten nur dort Sinn, wo die Menschen und die Ar-
beitsplätze sind: vor Ort auf kommunaler Ebene.


(Klaus Brandner [SPD]: Wollen Sie sich immer noch arbeitslos melden?)


Aus diesem Grund, Herr Kollege Brandner, sind wir
nach wie vor der festen Überzeugung: Weil die Bundes-
agentur als Mammutbehörde in ihrer jetzigen Struktur
nicht reformierbar ist, ist der beste Weg, um zu einer
besseren Betreuung von Arbeitsuchenden und Arbeitge-
bern zu kommen, der Akt der Auflösung der Bundes-
agentur für Arbeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Gut, dass Sie im Bundestag sind! Sonst wären Sie ja jetzt arbeitslos geworden!)


Herr Brandner – das sage ich Ihnen, damit auch Sie
das irgendwann einmal verstehen –, die Auflösung der
Bundesagentur bedeutet, dass es diese Behörde eine ju-
ristische Sekunde lang nicht gibt. Das hat unheimlich
viele Vorteile. Eine Behörde, die es nicht gibt, hat keine
internen Verwaltungsvorschriften, deren Anwendung die
Arbeitszeit mehr als in Anspruch nehmen würde, son-
dern sie ist an das Gesetz gebunden. Man kann zwar die
eine oder andere neue Vorschrift erlassen, aber man
braucht bei Weitem nicht mehr den Umfang von Vor-
schriften, den es gegenwärtig gibt.

Eine Behörde, die es nicht gibt, hat keine drittelparitä-
tische Selbstverwaltung, in deren Rahmen Arbeitgeber-
funktionäre, Gewerkschaftsfunktionäre und diejenigen,
die ihre öffentlichen Hände meistens in den Taschen der
Bürger haben, die Arbeitsmarktpolitik undemokratisch
auskungeln.


(Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]: Na, na! Sie haben wohl lange nicht mehr mit Frau Engelen-Kefer gesprochen, oder? Das fällt aber auf!)


– Lieber Herr Brandner, Ihr sozialdemokratischer Kol-
lege, der ehemalige Arbeitsminister Ehrenberg, hat da-
mals gesagt: Wer immer in den Vorstand der Bundesan-
stalt für Arbeit gewählt wird, nimmt nach kurzer Zeit






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Niebel
den gleichen drittelparitätischen schafsähnlichen Ge-
sichtsausdruck an.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Das lag an der miserablen Gesetzgebung, als Sie an der Regierung waren!)


Dort wird das Geld anderer Leute auf eine Art und Weise
verwaltet, die zur Folge hat, dass die Arbeitsuchenden
keine Integrationschancen haben und die Arbeitgeber
nicht die passenden Arbeitskräfte bekommen.

Herr Brandner, da schon der Kollege Lafontaine die
Betriebsräte im Zusammenhang mit den Hartz-Refor-
men erwähnt hat – das war ein ganz besonderes
Bonmot –,


(Klaus Brandner [SPD]: Sprechen Sie jetzt von den Siemens-Betriebsräten?)


möchte ich auf einen weiteren entscheidenden Vorteil
der Auflösung einer Behörde hinweisen. Eine solche
Auflösung bedeutet, dass die Personalräte nicht mehr
jede vernünftige Veränderung blockieren und sich nicht
mehr jede Mitwirkungsmöglichkeit wie auf einem arabi-
schen Basar teuer erkaufen können. Nach der Auflösung
der Behörde kann man für eine vernünftige Personal-
struktur sorgen, indem man das Personal der Aufgabe
folgen lässt: mit Änderungskündigungen, Versetzungen
und gesetzlichen Betriebsübergängen. Den richtigen
Weg, wie man eine vernünftige Struktur schaffen kann,
haben wir in unserem Antrag auf Schaffung effizienter
Strukturen in der Arbeitsverwaltung sehr dezidiert be-
schrieben.


(Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau! Machen wir es doch einfach so! – Klaus Brandner [SPD]: Der ist noch sauer, dass er nicht befördert worden ist!)


Meine Damen und Herren, es ist tatsächlich richtig,
dass die Arbeitslosenversicherung eine Ausfallbürg-
schaft für einen klar begrenzten Suchzeitraum ist, in
dem der Lebensstandard abgesichert werden soll. Man
kann trefflich darüber streiten, wann dieser Suchzeit-
raum beendet sein muss und wann nicht.

Der Kollege Weiß hat sehr genau beschrieben, wie
eine lange Arbeitslosengeldbezugsdauer auf Frühverren-
tungen und auf die Initiative wirkt, wieder eine Tätigkeit
aufzunehmen, wo sich doch die Leistung, die man be-
zieht, an dem letzten Nettogehalt orientiert, das mit der
Dauer der Arbeitslosigkeit in der Regel nur geringer er-
zielt werden kann. Deswegen geht es bei der Frage der
Gerechtigkeit nicht darum, ob man einen Monat länger
oder kürzer Arbeitslosengeld I bezieht.

Die Frage, die sich den Menschen unter dem Stich-
wort Gerechtigkeit unmittelbar stellt, lautet, was pas-
siert, wenn der Bezug des Arbeitslosengeldes wann auch
immer zu Ende ist. Wird dann die gesamte Lebensleis-
tung eines Menschen zur Disposition gestellt? Wird der-
jenige, der gearbeitet und vorgesorgt, also das getan hat,
was Politiker zu Recht von ihm fordern, schlechter ge-
stellt als derjenige, der vielleicht niemals Eigenvorsorge
betrieben hat – ob er es nicht konnte oder nicht wollte,
sei völlig dahingestellt –, sondern der das Geld, das er
zur Verfügung hatte, auch ausgegeben hat? Hier stellt
sich die Gerechtigkeitsfrage.

Deswegen glaube ich ernsthaft, dass wir zwar viel-
leicht darüber reden müssen, was nach Auslaufen des
Bezuges von Arbeitslosengeld mit der erarbeiteten Le-
bensleistung geschieht, aber wir sollten mit Sicherheit
nicht den Fehler begehen, bei der Bezugsdauer von
Arbeitslosengeld I als Regelsatz eine Rolle rückwärts zu
machen. Nach unserem Konzept – wir fordern die Auf-
lösung der Bundesagentur – ist das auch gar nicht nötig,
weil wir die Arbeitslosenversicherung über den Regelta-
rif hinaus nach dem Äquivalenzprinzip gestalten. Da
kann jeder seinen eigenen Anspruch auf Absicherung
über Wahltarife gewährleisten und gestalten.


(Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]: Freiheit für alle!)


Das ist eine freiheitliche Lösung, mit der den Bürge-
rinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben wird, bei
voller sozialer Absicherung in einem solidarischen Sys-
tem dafür zu sorgen, dass ihre individuellen Sicherheits-
bedürfnisse ebenso Berücksichtigung finden.


(Klaus Brandner [SPD]: Das, was Sie da vorhaben, ist Sozialismus!)


Deswegen kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass
Sie unserem Antrag nicht zustimmen, und ich freue mich
auf Ihre Zustimmung.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP – Anton Schaaf [SPD]: Da werden wir Sie aber überraschen! – Klaus Brandner [SPD]: Jeder darf wählen, was er möchte! Freiheit für alle!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608803800

Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd

Andres das Wort.


(Beifall bei der SPD)


G
Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1608803900


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Was ich hier in der Hand halte, sind die Druck-
sachen, die wir heute beraten.


(Klaus Brandner [SPD]: Er hat das 1.-Mai-Abzeichen! Das ist eine Mairede!)


Darunter befindet sich eine Große Anfrage der Linken
mit 125 Fragen. Die Drucksache umfasst 73 Seiten.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Wo ist das Problem?)


Allen, die sich für die Probleme der Arbeitsmarktreform
und der Arbeitsmarktentwicklung interessieren, emp-
fehle ich diese Drucksache sehr.


(Klaus Brandner [SPD]: Aber bitte jetzt nicht vorlesen!)







(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Sie gewinnt ihren Gehalt durch die Antworten der Bun-
desregierung und nicht durch die Fragen der Linken.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Lachen bei der LINKEN)


Dass Oskar Lafontaine eine Frage daraus zitiert hat, än-
dert auch nichts daran. Mit ihm beschäftige ich mich
gleich noch.

Ich will erst einmal etwas zu Herrn Niebel sagen: Ich
kenne überhaupt niemand anderen, der mit einer solchen
Häme und Gehässigkeit seinen eigenen Arbeitgeber in
den Debatten hier immer niedermacht. Man muss näm-
lich wissen, dass für Herrn Niebel bei der Bundesagentur
für Arbeit noch ein Arbeitsplatz freigehalten wird. Man
kann sich natürlich die Frage stellen, ob das Zitat von
Herbert Ehrenberg auch auf ihn zutrifft und er hier längst
einen schafsgesichtigen Eindruck macht.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich empfehle Herrn Niebel wirklich, dass er sich ein-
mal vorstellt – er hat hier rhetorisch gefordert, man solle
sich einmal eine Behörde vorstellen, die es nicht gibt –,
dass es für seine Vorstellungen keine politische Mehrheit
gibt. Das ist genug Antwort. Deshalb brauchen wir uns
mit Ihnen nicht mehr auseinanderzusetzen. Wir werden
die BA nicht auflösen, und es wird die logische Sekunde
nicht geben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Herr Andres, bei Ihnen wird es aber auch immer weniger!)


Deswegen ist Ihre Drucksache damit ganz schlicht und
ergreifend erledigt.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608804000

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Niebel?

G
Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1608804100


Nein, er kann hinterher eine Kurzintervention ma-
chen. Er hat ja gerade geredet. Jetzt rede ich meinen Teil.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ina Lenke [FDP]: Jetzt lässt er noch nicht einmal eine Frage zu! Das ist ja feige!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch mehr
als die Antworten auf die Große Anfrage und noch deut-
lichere Antworten liefert ein Blick auf die Fakten. Da
halte ich es in der Tat mit Oskar Lafontaine. Wer sich
nämlich die Situation auf dem Arbeitsmarkt anschaut
und den Februar 2007 mit dem Februar des Vorjahres
vergleicht, der kann Folgendes feststellen: 826 000 Ar-
beitslose weniger, 535 000 Erwerbstätige und davon
452 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr,
Rückgang der Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen,
die sich im Rechtskreis des SGB II befinden, Rückgang
der Zahl der Bedarfsgemeinschaften.
Das ist eine rundherum ziemlich positive Entwick-
lung. Ich sage und füge hinzu: Dies hat auch mit den Ar-
beitsmarktreformen zu tun, die wir in den letzten Jahren
hier mühsam durchgesetzt haben. Jetzt entfalten sie ihre
Wirkungen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kornelia Möller [DIE LINKE]: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat nicht abgenommen!)


Ich finde, die Bilanz kann sich sehen lassen.

Die Wende auf dem Arbeitsmarkt hat längst stattge-
funden, auch wenn Sie sie in Ihrem Entschließungsan-
trag – diesem Papier in grün – noch fordern. Ich finde,
Sie haben den Startschuss nicht gehört, sondern längst
verpennt.

Wir haben die Arbeitsmarktpolitik mithilfe der Grü-
nen kräftig umgekrempelt. Mein Blick fällt gerade auf
die Kollegin Thea Dückert, die bei den ganzen Arbeits-
marktreformen hervorragend mitgearbeitet hat.


(Kornelia Möller [DIE LINKE]: Leiharbeit! Zerschlagung von Vollzeitarbeitsstellen in Teilzeit!)


Ich finde, dass sich das, was wir in der Arbeitsmarktpoli-
tik erreicht haben, durchaus sehen lassen kann.


(Beifall bei der SPD)


Ich komme zum nächsten Punkt. Herr Lafontaine, Sie
sind für mich in sozialpolitischen Debatten – und nicht
nur darin – nicht besonders glaubwürdig. Ich kann mich
nämlich an alte Diskussionen mit Ihnen erinnern. Bei der
Regelung der geringfügigen Beschäftigung habe ich
mich seinerzeit häufiger mit den Beispielen der Firma
Wagner-Pizza und anderer aus dem Saarland beschäfti-
gen müssen.


(Klaus Brandner [SPD]: Zwei Zungen!)


Ich will Ihre Frage mit einer rhetorischen Frage erwi-
dern. Sie haben gefragt, wie jemand behandelt wird, der
40 Jahre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt
hat. Die Arbeitslosenversicherung ist eine Risikover-
sicherung. Was machen wir mit dem, der sein Leben
lang Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat,
ohne arbeitslos zu werden? Sollen ihm am Ende seines
Erwerbsleben seine Beiträge zurückgezahlt werden, oder
wie hätten sie es gerne?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dirk Niebel [FDP] – Lachen des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE] – Dirk Niebel [FDP]: Sehen Sie, dass ich bei Ihnen klatsche, Herr Andres?)


Ihr Beispiel aus der Praxis macht deutlich, dass Sie keine
Ahnung von den Tatbeständen haben.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608804200

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Lafontaine?






(A) (C)



(B) (D)

G
Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1608804300


Nein. Er hatte schon Redezeit. Er kann sich zu einer
Kurzintervention melden.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Was machen wir mit dem, der Feuerversicherung bezahlt hat und dessen Haus nicht abbrennt? Das ist ja unglaublich!)


Die gute Entwicklung erfasst nicht nur die Arbeitslo-
sen, die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung er-
halten, sondern auch die Langzeitarbeitslosen profitie-
ren. Es gibt kräftig Bewegung im System. Ich sage
ausdrücklich: Fördern und fordern zahlt sich richtig aus.

Wir stempeln die Menschen nicht mehr als arbeitslos
ab, sondern helfen ihnen zurück in Arbeit. Wir bieten ih-
nen eine Perspektive und organisieren Teilhabe.


(Elke Reinke [DIE LINKE]: Das ist ja wohl die größte Lüge!)


Das gilt ganz besonders für die Gruppen, die es am Ar-
beitsmarkt schwerer haben. Das bedeutet für jeden Ein-
zelfall mehr Chancen, Perspektiven und Teilhabe. Da-
rum geht es uns in der Arbeitsmarktpolitik.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608804400

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin

Möller?

G
Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1608804500


Die Dame kann sich ebenfalls zu einer Kurzinterven-
tion melden. Das können nach meiner Rede alle machen.


(Kornelia Möller [DIE LINKE]: Ich habe aber vorher nicht geredet! – Zuruf von der LINKEN: Feige!)


Wir haben mit den Reformen am Arbeitsmarkt syste-
matisch eine Grundkonzeption durchgesetzt, die nichts
mit dem Fürsorgestaat zu tun hat, der im Sozialhilfesys-
tem über viele Jahre hinweg nach dem Motto „Wir zah-
len den Leuten den Unterhalt; ansonsten sollen sie uns
möglichst in Ruhe lassen“ gehandelt hat, sondern bei der
es um den aktivierenden Sozialstaat geht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich füge hinzu: Wir arbeiten Stück für Stück den
Koalitionsvertrag ab. Wir fördern mit insgesamt
25 Milliarden Euro Investitionen und steigern somit die
inländische Nachfrage. Wir senken die Lohnnebenkos-
ten und stärken mit der Steuerreform die Wettbewerbsfä-
higkeit der Unternehmen. Das sind konkrete Ergebnisse
und Maßnahmen, die sich auch mit Großen Anfragen
nicht wegdiskutieren lassen.

In Ihren Fragen kommt ein völlig falsches Grundver-
ständnis von Sozialpolitik und aktivierender Arbeits-
marktpolitik zum Ausdruck. Ich empfehle Ihnen drin-
gend, den Aufschwung zu nutzen, um in der
Arbeitsmarktpolitik weiter voranzukommen, und eine
andere Grundeinstellung einzunehmen, um für mehr Be-
schäftigung zu sorgen.

Über die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld ist
bereits gesprochen worden. Ich will aber eines ausdrück-
lich in Erinnerung rufen: Bis zum Jahre 1984 gab es in
der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich ein Jahr
Arbeitslosengeld. Herr Blüm und die christlich-liberale
Koalition haben unter bestimmten Zwängen die Bezugs-
dauer systematisch verlängert.

Arbeitslosengeld kann jetzt ein Jahr bzw. von über
55-Jährigen 18 Monate bezogen werden. Das halten wir
für richtig. Wir denken nicht daran, zu der alten Rege-
lung zurückzukehren. Denken Sie daran, wie beispiels-
weise große Unternehmen mit dieser Regelung umge-
gangen sind: Die Zahlung des Arbeitslosengeldes wurde
dazu genutzt, um wunderbare Übergänge zur Frühver-
rentung oder Ähnlichem zu schaffen.


(Ina Lenke [FDP]: Aber das hatten Sie doch um zwei Jahre verlängert! Wer war denn das? – Kornelia Möller [DIE LINKE]: Warum bestrafen Sie dann die Arbeitslosen und sorgen nicht dafür, dass die Unternehmen das nicht machen?)


Wir halten die bestehende Regelung für richtig und
vernünftig in dem Sinne, Menschen eher in Arbeit zu
bringen, als sie länger in Arbeitslosigkeit zu halten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will einige Punkte aus dem Entschließungsantrag,
diesem grünen Papier, ansprechen. Ich kann genauso
wenig wie meine Vorredner auf die gesamte Große An-
frage eingehen, aber ich will ein schönes Argument auf-
greifen. Sie kommen immer wieder – gestern hat es im
Ausschuss und in der Fragestunde eine Rolle gespielt
und auch jetzt ist es wieder Thema – auf die Wider-
spruchsverfahren zu sprechen. Ich möchte Sie auf Fol-
gendes aufmerksam machen: Sie müssen die Wider-
spruchsverfahren zur Zahl der Leistungsbezieher bzw.
der Personen, die das System umfasst, in Beziehung set-
zen.


(Kornelia Möller [DIE LINKE]: Das hat zugenommen!)


– Sie werden es nicht glauben, aber selbst ich habe ge-
merkt, dass es zugenommen hat. Herzlichen Dank!


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Donnerwetter!)


Aber wir haben die Zusammenführung von Arbeitslo-
senhilfe und Sozialhilfe ganz bewusst auch deswegen
gemacht, weil wir die verdeckte Armut in diesem
Lande aufdecken wollten. Das haben wir mit dem neuen
System geschafft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es stimmt, dass wir nun ungefähr 500 000 Personen
mehr – es ist noch strittig, ob es vielleicht nur






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Gerd Andres
400 000 sind – im neuen System haben als vorher bei
Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe zusammen.


(Zuruf von der LINKEN: Das ist korrekt!)


Das System hat bewirkt, dass verdeckte Armut aufge-
deckt wurde. Nun arbeiten wir die Zahlen Stück für
Stück ab. Wir haben deutliche Erfolge und das ist auch
gut so. Vergleichen Sie beispielsweise die Quote der Wi-
derspruchsverfahren betreffend das Arbeitslosengeld II
mit der betreffend die Arbeitslosenhilfe. Das waren im
Jahre 2006 hochgerecht 9,8 Prozent im Vergleich zu
9,6 Prozent bei der Arbeitslosenhilfe im Jahre 2004; das
ist keine wirkliche Steigerung. Mit Ihrer Großen An-
frage haben Sie Alarm geschlagen. Dazu sage ich Ihnen
Folgendes: Sie machen Politik und fordern alle Men-
schen auf, Widerspruch einzulegen, wenn es irgendwie
möglich ist. Anschließend legen Sie Anträge vor, in de-
nen Sie auf die hohe Zahl der Widerspruchsverfahren
verweisen, und behaupten, da müsse etwas faul sein. Sie
müssen sich schon für die richtige Melodie entscheiden.


(Kornelia Möller [DIE LINKE]: Die müssen ihre Rechte auch wahrnehmen können! – Frank Spieth [DIE LINKE]: Dürfen die Leute nicht ihre Rechte wahrnehmen?)


Ich könnte jetzt Ihren wunderbaren Entschließungs-
antrag Punkt für Punkt auseinandernehmen, aber nur so
viel: Gemessen an der Zahl der Leistungsbezieher befin-
den wir uns voll im Rahmen. Angesichts dessen, dass
wir ein völlig neues Rechtssystem aufgebaut haben,
nämlich das Arbeitslosengeld II, ist es nicht erstaunlich,
dass es in der Anfangs- und Aufbauphase eine größere
Zahl von Widersprüchen gab. Es gab sicherlich Unsi-
cherheiten. Die Zahlen sind aber in Ordnung. Ich bitte
Sie daher zur Kenntnis zu nehmen, dass das System nun
läuft, dass es sich langsam settelt und dass wir alles da-
ran setzen, Stück für Stück die Effizienz in diesem Sys-
tem zu verbessern. Sie können sich Ihre Melodie von
den Widersprüchen und den Klageverfahren sonst wohin
stecken. Mich beeindruckt das nicht besonders, genauso
wenig wie die Fachleute, die sich damit auseinanderset-
zen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Die haben keine Taschen! Die wissen nicht, wo sie es hinstecken sollen!)


Damit komme ich zum letzten Punkt. Wir haben in
unserer Antwort auf Ihre Große Anfrage die Auswirkun-
gen aller Arbeitsmarktreformen aufgezeigt, die wir
durchgeführt haben. Wir haben es geschafft, die Bun-
desagentur für Arbeit deutlich umzubauen. Wir haben
für sehr viel mehr Effizienz gesorgt. Das hat sich kos-
tengünstig ausgewirkt und hat uns die Möglichkeit gege-
ben, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag abzusenken.


(Klaus Brandner [SPD]: Kann Herr Niebel jetzt wegrationalisiert werden?)


Wir haben immer dafür gekämpft, die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber bei den
Lohnnebenkosten zu entlasten.

(Dirk Niebel [FDP]: Ihr Evaluierungsbericht besagt das genaue Gegenteil!)


Das haben wir geschafft, weil das System effizienter ge-
worden ist, weil wir besser geworden sind, weil die Ver-
mittlungsgeschwindigkeit höher geworden ist und weil
mehr Menschen in Arbeit gekommen sind. Wir werden
genau an diesem Weg unerschütterlich festhalten und es
vorantreiben. Ob das den Linken gefällt oder nicht, ist
dabei völlig egal.

Ich empfehle Ihnen, darüber nachzudenken, wie man
das System verbessern kann, anstatt eine Linie zu verfol-
gen, die von vornherein nur auf eine Ablehnung des Sys-
tems hinausläuft. Ich sage Ihnen: Sie haben den Schuss
nicht gehört. Der Zug ist abgefahren. Es bleibt bei der
Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.
Das ist gut für dieses Land. Vielleicht gewöhnen Sie sich
daran.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608804600

Nachdem Kollege Andres so freimütig zu Kurzinter-

ventionen eingeladen hat, gibt es nun drei davon hinter-
einander. Zuerst kommt der Kollege Niebel, dann Kol-
lege Lafontaine und Kollegin Möller.


(Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Ich darf jede einzelne beantworten!)


– Mein Vorschlag ist, dass alle drei Kurzinterventionen
nacheinander gestellt werden und dass Sie dann etwas
länger Zeit zur Erwiderung haben.


(Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Dann bekomme ich die dreifache Zeit!)


Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun Herr
Niebel.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1608804700

Der Genosse Staatssekretär hat im Parlament die

Menschen beschimpft und keine Zwischenfragen zuge-
lassen. Das sagt einiges über seinen Mannesmut aus.


(Beifall bei der FDP und der LINKEN)


Aber die arrogante, oberlehrerhafte Art dieses Staatsse-
kretärs zeigt natürlich, dass es politisch völlig richtig
war, dass wir bei den Haushaltsberatungen die Strei-
chung exakt dieser Stelle gefordert haben.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN – Wolfgang Grotthaus [SPD]: Jetzt wird es oberlehrerhaft!)


Nichtsdestotrotz wollen wir zur Sachlichkeit zurück-
kehren, Herr Kollege Staatssekretär.


(Klaus Brandner [SPD]: Das war jetzt der Hauptschullehrer! Weiter ist er nicht gekommen!)


Die Bundesagentur für Arbeit hatte im letzten Jahr
einen eigenen Haushalt von ungefähr 53 Milliarden
Euro. Das ist fast zwei Mal so viel wie der Staatshaus-






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Niebel
halt der Schweiz. Sie war mit diesen Mitteln, die von
den Beitragszahlern aufgebracht wurden – die Steuer-
mittel kommen noch hinzu –, bei ungefähr einem Drittel
aller Beschäftigungsaufnahmen beteiligt.


(Klaus Brandner [SPD]: Burundi hat er vergessen!)


Ohne jedwede Art von Schaum vor dem Mund muss
man ganz klar feststellen: Mitteleinsatz und Ergebnis
stehen in keinem ausgewogenen Verhältnis zueinander.


(Beifall bei der FDP)


Die FDP ist der festen Überzeugung, dass wir mit
möglichst vielen privatwirtschaftlichen Elementen eine
staatliche Arbeitsvermittlung organisieren müssen, auch
im Wettbewerb mit Privaten, aber eine staatliche Ar-
beitsvermittlung, weil es immer Regionen, Menschen
und Branchen geben wird, die nicht in der Lage sind, at-
traktiv für einen privaten Vermittler zu sein. Es ist eine
Aufgabe der Daseinsvorsorge des Staates, auch diesen
Menschen ein Angebot zu machen.


(Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]: Pure Ideologie!)


Weil vor dem Hintergrund dessen, was die Bundes-
agentur in der Vergangenheit nicht konnte und heute im-
mer noch nicht kann, früher oder später ein öffentlich-
rechtliches Arbeitsvermittlungssystem zu Recht infrage
gestellt werden würde, muss man die Bundesagentur zu-
kunftsfähig aufstellen. Das kann man nur, indem man
tatsächlich radikale Veränderungen durchführt. Diese
kriegen Sie angesichts der internen Strukturen nur dann
hin, wenn Sie mit dem Mittel der Auflösung der Behörde
diese juristische Sekunde nutzen, um die Aufgaben neu
zu ordnen, das Personal den Aufgaben folgen zu lassen
und dadurch die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass
staatliche Arbeitsvermittler überhaupt erst einmal in die
Lage versetzt werden, erfolgreich arbeiten zu können.
Das können sie nämlich, weil Sie so herumgemurkst ha-
ben, heute nicht.


(Beifall bei der FDP)


Wir fordern völlig zu Recht die Einführung von
marktgerecht ausgestalteten Vermittlungsgutscheinen.
Bei dem, was Sie gemacht haben, geht es nur um die
Frage, ob jemand kürzer oder länger arbeitslos ist. Für
die Vermittlung bedarf es etwas mehr, als nur die Dauer
der Arbeitslosigkeit festzustellen. Es bedarf eines umfas-
senden Bildes des Menschen, den man integrieren will,
und eines umfassenden Bildes der Stelle, die man
besetzen will. Wenn ich dem Arbeitssuchenden mit ei-
nem marktgerecht ausgestalteten Vermittlungsgutschein
Nachfragemacht gebe, und zwar vom ersten Tag der Ar-
beitslosigkeit an, dann geht er mit seinem Gutschein zu
dem Vermittler seines Vertrauens. Das kann der private
sein, das kann aber auch der staatliche sein. Der muss
sich zumindest in den erfolgsabhängigen Lohnkompo-
nenten refinanzieren. Was meinen Sie, welche Verände-
rungsbereitschaft das intern mit sich bringt, zu Struktu-
ren zu kommen, die es den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der Agentur ermöglichen, überhaupt erst
einmal erfolgreich sein zu dürfen. Das sollten Sie beden-
ken. Wenn Sie weniger arrogant und weniger bräsig wä-
ren, sondern die Anträge der Opposition lesen würden,
dann wüssten Sie auch, was wir beantragen, und könnten
sachgerecht mit uns diskutieren.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608804800

Ich erteile Kollegen Oskar Lafontaine das Wort zu

seiner Kurzintervention.


Oskar Lafontaine (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608804900

Zwei Redner haben sich gegen die Verlängerung der

Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld I für ältere Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewandt. Dazu
möchte ich mich zunächst äußern. Es war der Kollege
Weiß, wenn ich es recht in Erinnerung habe, der gesagt
hat: Wir möchten die älteren Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer vor dieser Fehlentwicklung bewahren. – Was
bringt Sie, Herr Kollege Weiß, eigentlich dazu, zu sagen,
Sie möchten die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer vor einer Fehlentwicklung bewahren, die die
große Mehrheit der Bevölkerung wünscht? Glauben Sie
tatsächlich, Sie hätten so viel mehr Einblick in die Le-
benszusammenhänge der Menschen und so viel mehr
Kenntnisse der Lebensbedingungen älterer Arbeits-
loser?


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ja!)


– Ja, so arrogant und dumm sind Sie. Das muss man
wirklich sagen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das sagt der Richtige!)


Glauben Sie wirklich, Sie als Nichtarbeitsloser und
nicht von diesem Schicksal Betroffener hätten mehr Ein-
sicht in diese Lebensbedingungen?


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Herr Präsident, muss ich mich von dem als dumm beschimpfen lassen? – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das möchten wir auch gern wissen!)


Deshalb möchte ich Ihnen sagen: Der Vorwurf des Popu-
lismus, der bei solchen Forderungen immer wieder erho-
ben wird – Populismus kommt auch aus Ihren Reihen;
ich erinnere nur an die Forderung, das Arbeitslosengeld I
länger zu zahlen –, ist letztendlich anmaßende Dumm-
heit, weil man immer wieder glaubt, man wisse besser
als die Mehrheit der Menschen, was ihnen nutzt und
frommt. Schminken Sie sich eine solche Selbstgerech-
tigkeit ab, Herr Kollege Weiß! Das wollte ich Ihnen hier
in aller Klarheit einmal sagen.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Mehrheit wollte Sie auf jeden Fall nicht!)


Nun hat der Kollege Andres gesagt, beim Arbeitslo-
sengeld I könne man die Bezugsdauer nicht verlängern,
weil sich dann die Frage stelle, wie derjenige behandelt
werden solle, der nie arbeitslos werde. Dann müsse die-






(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
ser, so haben Sie insinuiert, nach unserer Auffassung
sein gesamtes Geld zurückbekommen. Das sind logische
Fehlschlüsse, die hier gezogen werden. Wenn wir ver-
langen, für ältere Arbeitslose länger Arbeitslosengeld zu
zahlen, dann heißt es, die Arbeitslosenversicherung sei
keine Sparkasse. Wer behauptet denn, dass diese eine
Sparkasse sei? Wer sagt denn, dass jeder das aus einer
Versicherung zurückerhält, was er eingezahlt hat? Eine
solche Forderung ist niemals erhoben worden.

Das zweite Argument ist, das sei nun einmal eine Ver-
sicherung, und damit sei es logischerweise so. Dazu
möchte ich Ihnen sagen: Nennen Sie mir doch eine Au-
toversicherung, in die jemand 60 000 Euro einbezahlt
hat und von der er im Schadensfall nur 10 000 Euro zu-
rückbekommt? Oder nennen Sie mir eine Feuerversiche-
rung, in die jemand 600 000 Euro einbezahlt hat und von
der er im Schadensfall nur 100 000 Euro zurückbe-
kommt? Ist Ihnen nicht klar, dass im Schadensfall eine
Leistung erbracht werden muss, die mit der Summe, die
der Betreffende eingezahlt hat, um sich gegen die Risi-
ken des Lebens zu versichern, nicht das Geringste zu tun
haben muss?


(Beifall bei der LINKEN)


Ihre permanente Weigerung, das einzusehen, ist
schlicht und einfach nicht akzeptabel. Sie enteignen äl-
tere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in doppelter
Form: Im Schadensfall bekommen sie noch nicht einmal
einen Bruchteil dessen zurück, was sie eingezahlt haben,
und sie werden noch gezwungen, ihre Ersparnisse zu op-
fern. Das ist einfach ein gesellschaftlicher Skandal.


(Beifall bei der LINKEN – Klaus Brandner [SPD]: Sagen Sie doch einmal etwas zum Pizzaservice! 630 Euro!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608805000

Kollege Lafontaine, ich bitte Sie sehr herzlich, Vor-

würfe in der Weise zu vermeiden, dass Sie jemand ande-
ren hier im Hause schlicht „dumm“ nennen. In der Kom-
bination mit dem Vorwurf der Arroganz schlägt das dann
auf Sie selbst zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bitte sehr darum, bei aller Schärfe der Auseinander-
setzung in der Sache persönliche Angriffe zu vermeiden.
Sie helfen niemandem.


(Widerspruch bei der LINKEN – Zuruf von der LINKEN: Das ist Fakt: Dummheit!)


Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt
Kollegin Kornelia Möller.


Kornelia Möller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608805100

Herr Präsident! Erstens. Herr Andres, Sie haben da-

rauf hingewiesen, dass die Reformen am Arbeitsmarkt
greifen. Sie haben nicht darauf hingewiesen, dass die
Zahl der Langzeitarbeitslosen nicht gesunken ist. In
Frage 80 unserer Großen Anfrage haben wir Sie gefragt,
welche Schlussfolgerungen die Bundesregierung aus der
Tatsache zieht, dass die Hartz-Reform an der großen
Differenz in der Arbeitslosenquote zwischen alten und
neuen Bundesländern – rund 8 Prozent Arbeitslosigkeit
im Westen und 18 bis 20 Prozent im Osten – nichts ge-
ändert hat. Sie haben uns darauf geantwortet, dass nicht
zu erwarten war, dass diese Reformen im Osten genauso
greifen wie im Westen. Gilt also das, was Sie hier gesagt
haben, nur für den Westen?

Zweitens. Wir haben uns gestern im Ausschuss da-
rüber unterhalten, dass die Fehlerhaftigkeit der Be-
scheide auch daran liegt, dass die Zahl der Sachbearbei-
ter immer noch zu niedrig ist, dass die Anzahl der
Betreuer von Erwachsenen nicht groß genug ist und dass
es Probleme hinsichtlich der Schulungen gibt. Ich finde
es sehr interessant, dass Sie das zwar gestern im Aus-
schuss zugegeben haben, dass Sie sich heute hier im Par-
lament aber etwas populistischer äußern.

Drittens. Herr Weiß, ich finde es stigmatisierend und
unerträglich, arbeitslose Menschen als „Kiosksteher“ zu
diffamieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich muss vor dem, wie mir scheint, sehr großen Zynis-
mus gegenüber arbeitslosen Menschen warnen, der sich
hier nicht nur in Ihrer Fraktion, sondern auch in einigen
anderen breitmacht.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sehr anmaßend, Frau Kollegin!)


Ich kann Ihnen sagen: Das wird diesen Menschen nicht
gerecht; Sie diffamieren Menschen. Das macht sehr
deutlich, wes Geistes Kind Sie sind.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608805200

Das Wort zur Entgegnung erteile ich dem Parlamenta-

rischen Staatssekretär Andres.


(Zurufe von der LINKEN: Der hat doch schon gesprochen! – Er hat doch eh nichts zu sagen!)


G
Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1608805300


Zu Herrn Niebel möchte ich sagen: So wie er für sei-
nen Antrag keine Mehrheit bekommen hat, so bekommt
er auch keine Mehrheit für die Abschaffung der Parla-
mentarischen Staatssekretäre. Um meinen Mannesmut
mache ich mir keine Sorgen; auch Sie müssen sich da-
rum keine Sorgen machen.

Ich will auf das, was Sie zur Bundesagentur für Ar-
beit gesagt haben, eingehen. Die Bundesagentur hat seit
2001 einen ganz schwierigen Reformprozess durchge-
macht. Ich glaube, dass die Bundesagentur mittlerweile
außerordentlich gut aufgestellt ist und dass dort viele
Menschen einen guten Job machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Geben Sie ihnen eine Chance, noch besser zu werden!)


Das muss ausdrücklich einmal erwähnt werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Meine Reaktion bezog sich nur auf Ihr Zitat. Ich will
hier feststellen: In vielen Ihrer Reden sind Sie mit Häme
und Abstand über die Bundesagentur hergezogen.


(Dirk Niebel [FDP]: Nie mit Häme!)


Ich finde, das ist für jemanden, der aus genau dieser Or-
ganisation kommt – Sie haben dort als Arbeitsvermittler
gearbeitet –, nicht angemessen. Das will ich Ihnen noch
einmal sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Jetzt haben Sie mich schwer getroffen!)


Zum Kollegen Lafontaine will ich einfach nur sagen:
Die Arbeitslosenversicherung ist eine Risikoversiche-
rung und keine Ansparversicherung. Selbstverständlich
gilt das Prinzip der Beitragsäquivalenz. Als Beispiel
– lesen Sie es noch einmal nach! – haben Sie die
Autoversicherung herangezogen und gesagt: Er hat
60 000 Euro eingezahlt, ihm wird aber nur ein Schaden
von 10 000 Euro bezahlt.

Wissen Sie, was das Problem ist? Das Problem ist,
dass die Arbeitslosigkeit abgesichert wird, und zwar für
Ältere in einer anderen Art und Weise als für Jüngere.
Unter 55-Jährige erhalten ein Jahr lang Leistungen, über
55-Jährige 18 Monate.

Dass man über Jahre hinweg darauf gesetzt hat, die
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes immer weiter zu
verlängern und damit die Probleme entsprechend zu ver-
schieben, halten wir nicht für richtig.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hat die SPD damals dagegengestimmt?)


Wir haben die Zahldauer verkürzt. Wir halten diese Ver-
kürzung für richtig. Wir sind der Auffassung, dass wir
alle Hebel in Bewegung setzen müssen, um Ältere wie-
der schneller in den Erwerbsprozess zu bekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Damit möchte ich eine Antwort auf die Kollegin
Möller geben, die in Ihre Kurzintervention natürlich
wieder alles hineingepackt hat.


(Kornelia Möller [DIE LINKE]: Leider nicht alles!)


Frau Möller, ich bin ziemlich stolz auf die Entwicklung.
Sie brauchen sich nur die Zahlen anzuschauen. Wir ha-
ben allein im Monat Februar über 10 000 über 55-Jäh-
rige in Arbeit vermittelt. Ich finde, dass das Sinn macht.
Das ist richtig toll. Das widerlegt auch die Position, Äl-
tere bekämen bei uns überhaupt nichts mehr. Ich weiß
natürlich, dass das ein Prozess ist. Ich könnte Ihnen jetzt
ganz viele Zahlen dazu vortragen, wie das bei Älteren
und bei Jüngeren ist.

Ich komme jedenfalls zu dem Ergebnis – ich sage Ih-
nen das ganz ernsthaft –: Die Arbeitsmarktreformen wa-
ren notwendig, und die Zusammenlegung von Arbeitslo-
senhilfe und Sozialhilfe war überfällig. Es war richtig,
dass wir das gemacht haben. Es macht Sinn, unsere So-
zialsysteme so umzubauen, dass der Versuch unternom-
men wird, die Menschen zu aktivieren, anstatt sie passiv
im Leistungsbezug zu halten. Die frühere Systematik
war weitgehend darauf ausgelegt, Menschen lange pas-
siv im Leistungsbezug zu halten. Das wollen wir nicht
mehr. Deswegen organisieren wir das um.

Ich sage Ihnen: Die Reformen auf dem Arbeitsmarkt
waren erfolgreich. Sie wirken, und sie werden Gott sei
Dank auch weiter wirken, weil wir mit entsprechender
Mehrheit daran arbeiten, sie noch mehr zu verbessern.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Kornelia Möller [DIE LINKE]: Wieder keine Antwort auf meine Fragen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608805400

Zu einer Antwort auf die Kurzintervention von Oskar

Lafontaine erteile ich Kollegen Gerald Weiß das Wort.

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Herr Kollege Lafontaine, Sie sind gescheit. Das wa-

ren Sie in allen Phasen Ihres Lebens, auch den liberale-
ren Phasen Ihres Lebens. Deshalb haben Sie mich richtig
verstanden. Sie haben mich aber falsch zitiert, und zwar
wider besseres Wissen falsch zitiert. Das ist sehr unred-
lich. Deshalb will ich Ihnen noch einmal sagen, was ich
dargelegt habe.

Man kann natürlich über die Gestaltung der Bezugs-
dauer von Arbeitslosengeld I diskutieren.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Schön!)


Man kann der Auffassung sein, das ist jetzt gut und ge-
recht geregelt. Man kann auch der Auffassung sein, wir
sollten dem Element der Beitragsjahre ein stärkeres Ge-
wicht geben, insbesondere für diejenigen, die länger ver-
sichert sind. Darüber kann man diskutieren. Ich habe ge-
sagt: Man darf das Prinzip aber nicht ins Groteske
überdehnen.

Sie schlagen vor, demjenigen mit 30 Beitragsjahren
30 Monate ALG I zu geben, demjenigen mit 40 Bei-
tragsjahren 40 Monate. Dem 60-Jährigen wollen Sie
ohne entsprechende Beitragsjahre 30 Monate ALG I ge-
währen. In der Wirkung – Sie sind gescheit genug, das
zu erkennen – wäre das ein gigantisches Vorruhe-
standsprogramm. Das würde für die älteren Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer Druck bedeuten. Sie wür-
den in ihren Betrieben von Tag zu Tag höheren
Pressionen ausgesetzt, ihren Arbeitsplatz zu räumen. Mit
Beitragsgeldern Arbeitsplätze freimachen, das darf es
nicht geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deshalb ist das, was Sie vorschlagen, falsch. Sie haben
das, was ich gesagt habe, falsch zitiert.

Sie, Frau Möller, haben es nicht verstanden. Ich habe
die Arbeitslosen selbstverständlich nicht diffamiert.


(Kornelia Möller [DIE LINKE]: Sie haben „Kiosksteher“ gesagt!)


Ich habe von dem bitteren Weg derer geredet, die aus
dem ALG-I-Bezug in den ALG-II-Bezug kommen. Ich






(A) (C)



(B) (D)


Gerald Weiß (Groß-Gerau)

habe gesagt: Da müssen wir aus dem Gesichtspunkt der
Leistungsgerechtigkeit heraus für die Lebensleistung
– zum Teil setzen sie ihre gesamten Vermögensreserven
ein – wenigstens übergangsweise einen Zuschlag gewäh-
ren – ich verteidige einen solchen Zuschlag, was nicht
alle tun –; wir dürfen sie nicht so stellen wie die
Kiosksteher, die von Arbeit nichts wissen wollen. Ich
mache schon einen Unterschied, auch in der notwendi-
gen Solidarität, je nachdem, ob es um Leute geht, die ein
Leben lang Beiträge geleistet haben, oder um Leute, die
nie etwas schaffen wollten. Die Differenzierung mache
ich allerdings.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608805500

Ich erteile das Wort Kollegin Brigitte Pothmer, Frak-

tion des Bündnisses 90/Die Grünen.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Heute mal wieder im Plenum! – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie mal wieder hier!)



Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608805600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach

dem, was ich gerade erlebt habe, habe ich das Gefühl,
hier geht es weniger um die Beantwortung der Großen
Anfrage als um Hahnenkämpfe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht auch weniger um Mannesmut als um männliche
Rechthaberei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Es wäre, wie ich
finde, zu viel Aufwand für die Erstellung von 73 Seiten
Text betrieben worden, wenn diese nur dazu dienten, Ih-
nen eine Plattform für das Austragen Ihrer Kämpfe zu
geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich würde jetzt gerne zur Sache zurückkehren.


(Klaus Brandner [SPD]: Arena Bundestag!)


Herr Lafontaine, wir haben nie bestritten – um das ein-
mal deutlich zu sagen –, dass die Hartz-Gesetze, und
zwar von Beginn an, mit Fehlern behaftet waren. Diese
hat uns nämlich die schwarz-gelbe Mehrheit im Bundes-
rat eingebrockt.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])


Nichtsdestotrotz enthalten die Hartz-Gesetze aber rich-
tige Gedanken. Es war richtig, Arbeitslosenhilfe und So-
zialhilfe zusammenzulegen,


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])


weil das die Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger
deutlich besser stellt und sie nicht länger auf dem ar-
beitsmarktpolitischen Abstellgleis belässt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es war richtig, den Zugang zum Arbeitslosengeld II dis-
kriminierungsfrei zu gestalten und damit verdeckte Ar-
mut abzubauen. Es war auch richtig, den Sozialstaat in
eine aktivierende Richtung umzugestalten.

Ich will Ihnen noch etwas sagen: Noch nie in der Ge-
schichte gab es eine so große Vielfalt und Flexibilität bei
der Förderung von Beschäftigung, wie jetzt im SGB II
vorgesehen. Das Problem ist, dass diese Möglichkeiten
in der Praxis leider zu wenig genutzt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein noch größeres Problem, lieber Herr Weiß, besteht
in dem, was die Koalition aus diesen Ansätzen gemacht
hat. Das stellt tatsächlich ein großes Problem dar. Sie ha-
ben die Reform, die sehr fein ausbalanciert war, zerrupft
und verbogen.


(Klaus Brandner [SPD]: Da bin ich jetzt aber überrascht!)


Die Maßnahmen, die als Hilfe für die Menschen gedacht
waren, empfinden die Betroffenen inzwischen als Bedro-
hung. Die Harmonie zwischen Fördern und Fordern ha-
ben Sie leider zerstört. Sie haben den Missklang von
Diskriminierung und Drangsalierung angestimmt.


(Klaus Brandner [SPD]: Am Anfang waren Sie noch so gut, Frau Pothmer!)


Damit haben Sie die Akzeptanz der gesamten Reform
gefährdet, Herr Weiß. Dass da eine ganze Menge falsch
läuft, können Sie, wenn Sie sich mit der Wirklichkeit
auseinandersetzen, doch auch nicht leugnen.

Wir sind von einem individuellen Fallmanagement
– das haben wir damals versprochen – weit entfernt. Ein-
gliederungsvereinbarungen bestehen da, wo es sie über-
haupt gibt, aus standardisierten Formularen. Statt einer
gezielten Integrationsarbeit gibt es immer noch – da hat
Herr Niebel doch nicht ganz unrecht – bürokratisches
Verwaltungshandeln. Mangelhafte Software, vorgege-
bene Standardinstrumente, Statistiknachweise und Con-
trollingverfahren bestimmen den Alltag in den Agentu-
ren. Davor können auch Sie die Augen nicht
verschließen.


(Zuruf von der SPD: Das ist nur die halbe Wahrheit!)


Deswegen müssen Sie sich für eine positive Weiterent-
wicklung in einigen ganz grundsätzlichen Punkten von
Hartz IV einsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen über eine Anpassung der Leistungshöhe
insoweit reden, als die eingetretenen Kostensteigerun-
gen eingerechnet werden müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich müssen die gestiegenen Gesundheitskosten
und Energiepreise berücksichtigt werden. Sie können die
Mehrwertsteuer nicht einfach erhöhen und dann den






(A) (C)



(B) (D)


Brigitte Pothmer
Hartz-IV-Empfängern sagen: Seht zu, wie ihr damit fer-
tig werdet. Der Satz ist dafür einfach zu eng berechnet.

Wir wissen inzwischen auch, dass Kinder und Ju-
gendliche über den für sie vorgesehenen Regelsatz hi-
naus noch Sachleistungen benötigen. Es kann nicht
hingenommen werden, dass Kinder von Hartz-IV-Emp-
fängern massenhaft von Schulmahlzeiten abgemeldet
werden, nicht mehr an Sportveranstaltungen teilnehmen,
nicht zur Musikschule gehen und Bibliotheken nicht be-
nutzen können. Wenn wir das hinnehmen und nicht än-
dern, wird uns das teuer zu stehen kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die derzeitige Prüfung der Arbeitsbereitschaft läuft in
eine falsche Richtung. Sie haben inzwischen eine Miss-
trauenskultur geschaffen, die zur Schikanierung von Ar-
beitslosen und nicht selten zu sinnloser Beschäftigung
führt. Das können Sie nicht wollen, weil Sie damit die
Würde von Arbeitslosen verletzen und Ihr eigenes Pro-
jekt diskreditieren. Auch das muss geändert werden.

Wenn wir eine Förderung erreichen wollen, die dem
Einzelnen tatsächlich gerecht wird, dann brauchen wir
eine konsequente Dezentralisierung des SGB II. Dann
müssen wir den Argen, zu denen wir stehen, mehr Frei-
heiten geben. Sie müssen die vollständige Hoheit über
ihr Personal und ihr Budget haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie müssen endlich eine eigene „Firma“ werden, wenn
sie den Aufgaben gerecht werden wollen.

Außerdem müssen wir das Fördern in den Mittel-
punkt stellen. In der Antwort auf die Große Anfrage
wird mehrfach darauf hingewiesen, dass die Hartz-Ge-
setze keine Arbeit schaffen. Abgesehen davon, Herr
Andres, dass das bei Herrn Clement in der letzten Legis-
laturperiode immer etwas anders geklungen hat, haben
Sie damit recht. Aber diese Arbeitsmarktreform soll die
Menschen fit machen für die vorhandenen Arbeitsplätze.
Das geschieht jedoch gänzlich ungenügend. Allein auf-
grund des Konjunkturaufschwungs wird die Langzeitar-
beitslosigkeit nicht abgebaut. Es ist eine schlichte Propa-
ganda, wenn Sie sagen, die Langzeitarbeitslosigkeit gehe
zurück. In den letzten drei Monaten ist die Zahl der
Langzeitarbeitslosen sogar noch einmal um 50 000 an-
gestiegen. Das sind die wahren Zahlen.

Wenn die Langzeitarbeitslosigkeit abgebaut werden
soll, dann ist es natürlich gänzlich falsch, dass Sie jetzt
bei den Integrationsmitteln 1 Milliarde Euro gestrichen
haben, statt sie der Förderung zur Verfügung zu stellen.
Es ist auch gänzlich falsch, dass Sie sich in einem so
großen Umfang auf die 1-Euro-Jobs konzentrieren. Es
muss sehr viel mehr in Bildung und Ausbildung inves-
tiert werden; denn zwei Drittel der Arbeitslosen sind Ge-
ringqualifizierte. Die Politik, die Sie betreiben, ist ge-
rade in Bezug auf die Jugendlichen eine richtige
Katastrophe. Wenn nur 85 000 Jugendliche unter 25 Jah-
ren tatsächlich ihre Arbeitslosigkeit beenden, indem sie
eine schulische oder betriebliche Ausbildung beginnen,
und fast 250 000 unter 25-Jährige in 1-Euro-Jobs verhar-
ren, dann läuft hier doch etwas falsch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir das nicht ändern, dann werden wir diese Men-
schen ein Leben lang alimentieren müssen – Menschen,
die wir aber brauchen und die auch in die sozialen Siche-
rungssysteme einzahlen sollen.

Nein, der Aufschwung wird das Problem der Lang-
zeitarbeitslosigkeit nicht lösen. Wenn Sie so weiterma-
chen, dann werden Sie am Ende dieses Aufschwungs
eine höhere Sockelarbeitslosigkeit haben als zu Beginn.


(Jörg Tauss [SPD]: Na, na!)


Die „Süddeutsche Zeitung“ hat es Ihnen in einem Kom-
mentar ziemlich gut, wie ich finde, ins Stammbuch ge-
schrieben: Wenn es ins Haus hineinregnet, löst schönes
Wetter das Problem nur vorübergehend; wenn Sie dauer-
haft im Trockenen sitzen wollen, müssen Sie das Dach
schon reparieren, solange die Sonne scheint. Aber das
scheint Ihnen etwas zu anstrengend zu sein. Sie legen die
Hände in den Schoß, beklatschen den Aufschwung und
verwalten ihn lediglich. Das ist zu wenig. Damit lösen
Sie die Probleme nicht.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608805700

Ich erteile das Wort Kollegen Karl Schiewerling,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1608805800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Frau Pothmer, es ist schön, dass Sie anwesend sind. Die
letzte Aktuelle Stunde haben Sie leider verpasst. Ich
glaube, dadurch ist dem Parlament einiges entgangen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön, dass Sie es gemerkt haben!)


Ich halte es für problematisch, wie Sie das, was wir
im Rahmen des Systems SGB II weiterentwickelt haben,
herunterputzen. Was Sie sagen, stimmt nicht; denn wir
haben die nötigen Konsequenzen aus dem, was noch
nicht funktionierte, gezogen und mithilfe des SGB-II-
Fortentwicklungsgesetzes das lernende System SGB II
verbessert, womit wir den betroffenen Menschen helfen.
Auch Sie wissen das ganz genau.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch der Abg. Kornelia Möller [DIE LINKE])


Das SGB II ist seit etwas mehr als zwei Jahren in
Kraft. Mit der Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe
und der Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitsu-
chende haben wir einen richtigen Weg eingeschlagen.
Ich bin froh, dass dies von den meisten Mitgliedern des
Hohen Hauses – nicht nur von Mitgliedern der beiden
Regierungsfraktionen, sondern auch von Mitgliedern der
Grünen und der FDP – auch nach zwei Jahren noch ge-
nauso gesehen wird.

Ich finde es gut, dass wir diesen Weg eingeschlagen
haben. Dieser neue Weg hat alle Beteiligten viel Kraft






(A) (C)



(B) (D)


Karl Schiewerling
gekostet; das ist keine Frage. Er hat zwangsläufig zu
neuen Erfahrungen geführt und wird immer noch mehr
neue Erfahrungen bringen. Das SGB II ist und bleibt ein
lernendes System, das sich der jeweils neuen Situation
anpassen muss. Es erfordert wie kaum ein anderes sozia-
les System individuelle Lösungen.

Mit dem Prinzip des Forderns und Förderns sind
wir auf dem richtigen Weg. Dieses Grundprinzip des
Zweiten Sozialgesetzbuches besagt, dass Menschen
ohne Arbeit ihren Lebensunterhalt möglichst rasch wie-
der aus eigener Kraft bestreiten sollen. Schließlich wol-
len wir Menschen in Arbeit bringen und sie damit aus
dem Leistungsbezug und der staatlichen Förderung he-
rausnehmen. Ziel der Grundsicherung ist es unter ande-
rem auch, den Menschen eine materielle Sicherung zu
geben. Es ist eben ein System der Grundsicherung und
kein System, in dem die Menschen auf Dauer verbleiben
sollen.

Das SGB II macht entgegen allen Äußerungen, die
wir gerade von der Fraktion Die Linke immer wieder hö-
ren, nicht arm. Es fängt Menschen auf, fördert und for-
dert. Das geht allerdings nur, wenn sich alle Beteiligten
in diesem System engagieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rolf Stöckel [SPD])


Das Ziel der Grundsicherung ist die schnelle und
passgenaue Integration der Betroffenen in den Arbeits-
markt. Der Erfolg hängt vom Arbeitsmarkt ab, aber auch
von den Betroffenen selbst und dem engagierten Zusam-
menwirken aller Beteiligten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608805900

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Höll von der Linksfraktion?


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1608806000

Ich gestatte keine Zwischenfrage. Die Kollegin kann

im Anschluss eine Kurzintervention machen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608806100

Wir wollen jetzt nicht den Brauch einführen, dass

Redner zu einer Kurzintervention einladen.


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1608806200

Gut. Dann gestatte ich diese eine Zwischenfrage.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sehr gut!)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608806300

Herr Kollege, Sie haben eben das Prinzip des For-

derns und Förderns erwähnt. Ich möchte Sie daher fra-
gen, wie Sie sich denjenigen Menschen gegenüber ver-
halten, die arbeitslos sind, deren Partnerinnen bzw.
Partner aber, mit denen sie in der von Ihnen konstruier-
ten Bedarfsgemeinschaft leben, Ihrer Meinung nach
ausreichend verdienen und die somit keine Leistungen
beziehen. Zum großen Teil fallen diese Menschen aus
jeglicher Förderung heraus. Ihnen werden Angebote zur
Weiterbildung verweigert. Ihnen werden auch keine Ar-
beitsbeschaffungsmaßnahmen angeboten. Davon sind
90 Prozent dieser Menschen betroffen; die meisten unter
ihnen sind Frauen. Wie passt das zu Ihrem Prinzip des
Förderns?


(Beifall bei der LINKEN)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1608806400

Sie haben zwei Punkte angesprochen. Der erste Punkt

umfasst den Leistungsbezug im Rahmen des SGB II. In
der Tat ist die Situation der Bedarfsgemeinschaft die
Grundlage für den Leistungsbezug. Wenn die Bedarfsge-
meinschaft finanziell in der Lage ist, den Lebensunter-
halt aus eigener Kraft zu finanzieren, dann braucht und
darf der Staat keine Unterstützung zu geben. Das ist
richtig. Genau das ist das Prinzip des SGB II.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der zweite Punkt. Frauen, die sich arbeitslos melden,
aber keine SGB-II-Mittel bekommen – nach Ihrer Aus-
sage handelt es sich ja meistens um Frauen –, stehen
dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung. Ich kann
diesen Menschen nur raten, die Vermittlungsmöglichkei-
ten des Arbeitsamtes zu nutzen. Die örtlichen Agenturen
sind beweglicher, als Sie denken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Kornelia Möller [DIE LINKE]: Das war keine Beantwortung der Frage! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Er hat die Frage nicht verstanden!)


Wie gesagt, das Ziel der Grundsicherung ist die
schnelle und passgenaue Integration der Betroffenen in
den Arbeitsmarkt. Der Erfolg hängt natürlich von der
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ab. Da sind wir auf
einem guten Weg. Ich halte es auch heute Morgen für
notwendig, klarzumachen: Der Aufschwung, den wir
zurzeit haben, hat auch zum Abbau der Arbeitslosig-
keit beigetragen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig!)


Wir haben – das dürfen wir nicht übersehen – 520 000 Ar-
beitslose weniger, die vorher Arbeitslosengeld I bekom-
men haben. Wir haben 306 000 Arbeitslose weniger, die
vorher Arbeitslosengeld II bezogen haben. Ich halte das
für eine bedeutende, gute, wegweisende und sinnvolle
Entwicklung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bei all dem, über was wir im Zusammenhang mit dem
SGB-II-Bereich diskutieren, ist es zwingend notwendig,
nicht so zu tun, als hätten wir es mit einem statischen
System zu tun. Das oberste Ziel muss sein, Leute zu ver-
mitteln. Das geht nur, wenn die Konjunktur entspre-
chend anspringt. Dann werden auch Arbeitsplätze ge-
schaffen. Hier sind wir auf einem guten Weg.

Ich will nicht verheimlichen, dass mir die jetzige
Entwicklung nicht ausreicht. Aber es gibt eine andere
Zahl, die Mut macht. Bei der Bundesagentur sind
800 000 offene Stellen gemeldet. Wenn wir den Wirt-






(A) (C)



(B) (D)


Karl Schiewerling
schaftsforschungsinstituten und den Einrichtungen der
Wirtschaft glauben, dann kommen noch einmal so viele
nicht gemeldete Stellen hinzu, sodass wir in Deutsch-
land zurzeit etwa 1,6 Millionen offene, nicht besetzte
Stellen haben. Ich möchte, dass ein Großteil dieser
Stellen von Arbeitslosen, auch von Langzeitarbeitslo-
sen, besetzt wird.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müsst ihr die qualifizieren!)


Das verlangt Qualifizierung und Fördern; das ist wich-
tig. Ich glaube, dass wir im Sinne aller Beteiligten kein
Interesse daran haben können, dass Erwerbslose in unse-
rem Land diese Stellen nicht erhalten und wir zuvörderst
auf Zuwanderung schielen.

Wir müssen nach vorne schauen. Natürlich können
und müssen wir die Arbeitsabläufe vor Ort verbessern.
Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich es für
wichtig halte, dass das SGB II vor Ort kundennah und
dezentral umgesetzt wird. Es bleibt abzuwarten, wie das
Bundesverfassungsgericht die Organisationsform der
Arbeitsgemeinschaften bewerten wird. Aber wir müssen
den regionalen Trägern auch den Freiraum zugestehen,
neue Wege auszuprobieren, nach neuen Wegen und
Möglichkeiten zu suchen. Das müssen engagierte Mitar-
beiter vor Ort auch tun. Dazu brauchen wir Flexibilität
und Entscheidungsfreiheit.

Schon heute lässt das SGB II solche Möglichkeiten
zu. Mit unkonventionellen Mitteln kann man Menschen
helfen, aus der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit he-
rauszukommen. Das beweisen innovative Projekte, wie
wir das in Sachsen-Anhalt erleben – Stichwort: Bür-
gerarbeit in Bad Schmiedeberg. Das erleben wir zurzeit
in Essen, wo es ein Bürgerjahr und Bürgerarbeit gibt –
mit, wie ich meine, wegweisenden, neuen Impulsen.
Diese Projekte zeigen, dass man mit Mut und Kreativität
Menschen in Arbeit bringen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb fordere ich, den Verantwortlichen vor Ort
mehr Entscheidungsfreiheit einzuräumen. Es ist ausrei-
chend, mit den regionalen Trägern eine Zielvereinbarung
festzulegen, innerhalb der sie frei entscheiden können,
wie und mit welchen Mitteln sie die Menschen in Arbeit
bringen, wenn denn die vorher vereinbarten Ziele erreicht
werden. Diese Ziele müssen auf die jeweilige regionale
Struktur abgestimmt werden.

Die Arbeitsvermittlung muss mit anderen Bereichen
verknüpft werden. Wir haben bei den Langzeitarbeitslo-
sen eine in der Tat verfestigte Struktur. Deren Zahl wird
auf 2,6 Millionen geschätzt. Davon sind 600 000 allein-
erziehende Frauen, die eine besondere Förderung benöti-
gen; auch davor verschließen wir die Augen nicht. Es
gibt auch diejenigen, die in der dritten Generation von
Sozialhilfe leben. Hier helfen keine üblichen Arbeits-
marktinstrumente, sondern nur individuelle Ansätze.
Wir haben diejenigen mit Migrationshintergrund, die
ebenfalls einer besonderen Förderung und Forderung be-
dürfen. Rund 2 Millionen Arbeitslose – auch das ist die
Wahrheit – haben keinen Schul- oder Berufsabschluss.
Auch dem wollen und müssen wir entgegenwirken.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608806500

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1608806600

Haben Sie die Zeit für die Zwischenfrage, die gestellt

worden ist, abgerechnet?


(Heiterkeit im ganzen Hause)


Ich glaube, dies wurde nicht berücksichtigt, Herr Präsi-
dent.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608806700

Die Zeit wurde berücksichtigt.


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1608806800

Ich komme jetzt zum Ende.

Wir brauchen den Kombilohn. Wir brauchen einen
dritten Arbeitsmarkt für diejenigen Menschen, die ohne
Unterstützung nicht zurechtkommen, weil sie behindert
sind.

Das Ziel des SGB II ist, dass möglichst viele Men-
schen das SGB II nicht in Anspruch nehmen müssen.
Das Ziel des SGB II ist, dass Menschen in Arbeit kom-
men. Dafür wollen wir uns weiter einsetzen. Im Übrigen
gibt es zum System des SGB II keine ernst zu nehmende
Alternative.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Kornelia Möller [DIE LINKE]: Das ist nicht wahr!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608806900

Ich erteile das Wort Kollegin Katja Kipping, Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608807000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nichts hö-

ren, nichts sehen, nichts wissen wollen. So verhält sich
die Bundesregierung, wenn es um die soziale Bilanz von
Hartz IV geht. Sie wissen eben nicht, wie viele behin-
derte Menschen zu einem Umzug gezwungen wurden.
Sie wissen nicht, wie viele Menschen aus Angst vor
Hartz IV in die Frühverrentung geflüchtet sind. Sie ha-
ben noch nicht einmal eine Zusammenstellung aller ver-
fassungsrechtlichen Bedenken.

Besonders schockierend finde ich aber, Herr Andres,
dass Sie noch nicht einmal in Erfahrung bringen wollen,
wie sich Hartz IV auf die Gesundheit und die Bildungs-
möglichkeiten der betroffenen Kinder auswirkt. Das
nenne ich wirklich skandalös!


(Beifall bei der LINKEN)


Dabei gibt es bereits erste Untersuchungen, die deut-
lich machen, wie verheerend die soziale Bilanz von
Hartz IV ist. 1-Euro-Jobs verdrängen reguläre Beschäfti-
gungsverhältnisse. Die gesamtgesellschaftliche Armuts-
quote ist um 1 Prozent gestiegen. Bei den Sozialgerich-






(A) (C)



(B) (D)


Katja Kipping
ten wächst der Klageberg. Der Stapel an Klagen, der
täglich beim Landessozialgericht eingeht, ist bis zu vier
Meter hoch. Ein Viertel der Arbeitslosenhilfebezieher
von früher hat den Leistungsanspruch komplett verloren.

Doch mehr als alle Zahlen und Untersuchungen bele-
gen Schicksale, wie verheerend die Bilanz ist. Sie erin-
nern sich noch an den Dresdner, der als 1-Euro-Jobber
im Winter Unkraut jäten musste. Sie, Herr Andres, ver-
sprachen zu helfen. Mit einem haben Sie offensichtlich
nicht gerechnet:


(Dirk Niebel [FDP]: Dass es gar keinen Winter gibt!)


Der Mann hat Sie gehört, wollte Sie beim Wort nehmen
und hat versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Ir-
gendwann sagte er zu mir in der Bürgersprechstunde: Ich
kann es mir gar nicht leisten, so oft in Berlin anzurufen,
wie sich der Staatssekretär verleugnen lässt.


(Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Aber haben Sie von Herrn Andres was anderes erwartet?)


Seitdem hat der Mann alles Mögliche unternommen, um
einen Job zu finden.


(Dirk Niebel [FDP]: Ich würde ihm keine Zwischenfrage zubilligen! Er kann ja eine Kurzintervention machen!)


Er hat sogar fünf Tage auf dem Bau kostenlos zur Probe
gearbeitet, ohne dafür auch nur einen Cent zu bekom-
men. Das Ende vom Lied war, dass man ihn wieder zu-
rück in Hartz IV geschickt hat. Und um noch einen
draufzusetzen: Als der Mann dann wenigstens die Fahrt-
kosten abrechnen wollte, sagte man ihm, dass er laut Ge-
setz nur drei Tage kostenlos zur Probe arbeiten dürfe und
man ihm die Fahrtkosten nur für drei Tage ersetzen
könne.


(Dirk Niebel [FDP]: Lassen Sie den Andres bloß nichts fragen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608807100

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Andres?


(Dirk Niebel [FDP]: Nein! Nein!)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608807200

Herr Präsident, ich lasse eigentlich immer Zwischen-

fragen zu. Aber ich finde, Herr Andres muss auch einmal
erleben, wie es ist, wenn eine Zwischenfrage abgewiesen
wird.


(Beifall bei der LINKEN und der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Er kann es ja mit einer Kurzintervention versuchen! Das traut er sich aber nicht!)


Das Beispiel des Dresdners ist nur eines von vielen
Beispielen, die zeigen: Hartz IV erleichtert die Ausgren-
zung und Ausbeutung. Hartz IV führt in eine Sackgasse.
Hartz IV gehört endlich abgeschafft!


(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen fordern wir als Linke Sie auf: Ersetzen Sie
endlich die 1-Euro-Jobs durch öffentliche Jobs, die län-
ger als sechs Monate gehen und die besser bezahlt sind!


(Beifall bei der LINKEN)


Ersetzen Sie endlich das Arbeitslosengeld II durch eine
repressionsfreie Grundsicherung! Denn jeder Mensch
hat das Recht auf ein Leben in Würde.


(Beifall bei der LINKEN)


Und den Menschen, die die Hartz-IV-Suppe auslöf-
feln müssen, kann ich nur empfehlen: Gehen Sie in die
Bürgersprechstunden der Abgeordneten! Konfrontieren
Sie diese mit den Problemen, die in der Praxis aus
Hartz IV entstehen! Lassen Sie sich nicht alles gefallen!
Nehmen Sie zu den Beratungsgesprächen am besten im-
mer eine zweite Person als Zeugen mit!


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Einen Anwalt! – Gerd Andres [SPD]: Aber nur bei Ihnen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sie haben anscheinend die Erfahrung gemacht!)


Bisher wurde jedem dritten Widerspruch in Gänze
stattgegeben. Das zeigt, dass es sich bei Zweifeln an der
Richtigkeit des Bescheides lohnt, Widerspruch einzule-
gen.


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen können wir den Betroffenen nur empfeh-
len: Vernetzen Sie sich in Ihrer Region mit anderen Be-
troffenen und kämpfen Sie um Ihre Rechte! Es lohnt
sich. Danke.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der LINKEN: Genau! Es gibt Alternativen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608807300

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem

Kollegen Gerd Andres.


(Dirk Niebel [FDP]: Als Abgeordneter soll er das von seinem Platz aus machen!)


Tun Sie das bitte von Ihrem Platz aus.


(Dirk Niebel [FDP]: Herr Andres, wie war das mit dem „Wie es in den Wald hineinschallt …“?)



Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1608807400

Ich habe eigentlich nur eine Bitte und möchte eine

Behauptung nicht im Raum stehen lassen. Nachdem
Frau Kipping diesen Fall in einer früheren Parlamentsde-
batte hier schon geschildert hat, habe ich erstens mit dem
Mann persönlich Kontakt aufgenommen. Ich habe auch
länger mit ihm telefoniert. Er hat mir erklärt, dass er von
der Situation Fotos hat. Die zuständige Abgeordnete aus
dem Wahlkreis hat diese Fotos mit nach Berlin gebracht
und ich habe mir den Vorgang angesehen. Der dritte
Punkt ist, dass ich die Arge dazu habe berichten lassen.
Deswegen würde ich die Kollegin Kipping ganz schlicht
nur bitten, dass sie zur Kenntnis nimmt, dass sich um
den Fall gekümmert wurde. Und ich habe eine andere
Beurteilung von dem Fall, als sie sie hat.






(A) (C)



(B) (D)


Gerd Andres
Das Schöne ist, dass man in der Debatte immer ir-
gendeinen kleinen Einzelfall bringt und dann sagt: Ar-
beitslose müssen im Winter bei Schnee Unkraut jäten.
Das treibt natürlich die Bevölkerung in die Irre; denn sie
fragt sich: Wer kommt auf die Idee, so etwas zu machen?

Ich wollte sagen: Wir haben uns darum gekümmert;
ich bin dem nachgegangen. Ich möchte nur, dass Sie das
zur Kenntnis nehmen, mehr nicht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der LINKEN: Das sind keine Einzelfälle!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608807500

Kollegin Kipping, Sie haben die Möglichkeit zur Re-

aktion.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608807600

Herr Andres, auch Sie müssen zur Kenntnis nehmen,

dass dieser Mann, bevor es zu einer Abhilfe gekommen
ist, mehrmals, immer wieder versucht hat, Sie anzurufen.
Dieser Mann hat mir auch den Briefwechsel mit Ihnen
gezeigt; es ist sehr deutlich geworden, dass der Mann an-
sonsten keine Abhilfe bekommen hat. Er hatte nach Ih-
ren Äußerungen deutlich den Eindruck gewonnen, dass
Sie in der Lage sind, zu helfen.

Ich kann Ihnen nur eines sagen: Es handelt sich hier-
bei nicht um einen Einzelfall; die Menschen, die zu uns
in die Bürgersprechstunde kommen, zeigen, dass das im-
mer nur ein Beispiel von vielen ist.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nicht ablenken!)


Darüber hinaus gibt es jede Menge Untersuchungen
– zum Beispiel von Richard Hauser und Irene Becker –,
die sehr wohl belegen, dass das ein gesamtgesellschaftli-
ches Problem ist.


(Klaus Brandner [SPD]: Wir werden uns das Protokoll genau anschauen und werden uns genau informieren!)


Leider haben Sie jede Menge an vorhandenen wissen-
schaftlichen Untersuchungen in Ihrer Antwort ver-
schwiegen.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Das war eine schwache Replik!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608807700

Nun hat das Wort Kollegin Andrea Nahles, SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Andrea Nahles (SPD):
Rede ID: ID1608807800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich erlaube mir eine kleine Warnung an meine
Kollegen von der Linksfraktion, die bald an einem Par-
teitag teilnehmen werden. Vielleicht erleben Sie dann
auch eine Überraschung mit Oskar Lafontaine, wie es
mir 1998 ergangen ist.

(Klaus Brandner [SPD]: Genau! Mit den zwei Zungen! Heute so, morgen so!)


Staunend, geradezu baff, hörte ich, wie der damalige
Parteivorsitzende der SPD in seiner Rede auf dem Par-
teitag am 25. Oktober 1998 Folgendes zum Besten gab:

Ich lade die Partei und die Gewerkschaften ein, da-
rüber nachzudenken, ob wir nicht auch bei der Ar-
beitslosenversicherung Korrekturbedarf haben, ob
nicht auch hier eher der Fall gegeben ist, nach dem
Sozialstaatsprinzip vorzugehen statt nach dem Prin-
zip der Versicherungsleistung …


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Wenn man heute hört, was Sie, lieber Oskar
Lafontaine, hier vortragen, muss man sich wundern: Wir
hören massiv, dass das Prinzip der Versicherungsleis-
tung das einzige ist, das gilt. Ich warne also vor Überra-
schungen auf Ihrem Parteitag. Man kann sich nämlich
bei bestimmten Leuten nicht sicher sein.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Was heißt das?)


Gerechtigkeit, Oskar Lafontaine, wird dann ganz schnell
zu Selbstgerechtigkeit. Das haben wir hier heute wieder
erlebt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: So ist das mit dem Lied vom Teilen! Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich!)


Ich habe mich heute, als ich der Opposition zugehört
habe, die ganze Zeit gefragt, ob es hier vielleicht eine
starke Beeinflussung durch den indischen Kulturkreis
geben könnte. Das Rezitieren von immergleichen Wort-
folgen hat nämlich einen Namen: Mantra. Man kennt es
aus dem Indischen. Was sagen die Inder darüber, was
dieses Mantra – Hartz IV gehört abgeschafft, die BA ge-
hört abgeschafft! –


(Dirk Niebel [FDP]: Aufgelöst! Das ist ein Unterschied!)


bewirken soll? Die immergleiche Rezitation von be-
stimmten Wortfolgen hat den Sinn – ich habe mir das ex-
tra einmal angeschaut –, den Geist vor Störungen zu
schützen, also vor Einflüssen von außen, die das Eigen-
bild, die Vertiefung in das Eigene irritieren könnten. Das
deckt sich ein bisschen mit dem Eindruck, den ich heute
gewonnen habe.


(Zuruf von der LINKEN: Kommen Sie doch mal zur Sache!)


Das Mantra soll im Übrigen auch als Beschwörungs-
formel gegen Schlangen und Dämonen dienen. Wenn
man sich die Anträge durchliest, merkt man: Diese Dä-
monen sind Ihnen abhanden gekommen. Dummerweise
ist es tatsächlich so – man möchte es fast nicht mehr er-
wähnen –, dass wir 452 000 sozialversicherungspflich-
tige Beschäftigungsverhältnisse zusätzlich geschaffen
haben.






(A) (C)



(B) (D)


Andrea Nahles

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Das ist Ihr Mantra, Frau Nahles!)


Mit Ihrem ständigen Wiederholen wollen Sie die Dämo-
nen austreiben.

Man muss vermuten, dass Dirk Niebel der neue Vor-
standsvorsitzende der Private BA AG ist. Man muss sich
fragen, ob Sie, Herr Niebel, der Sie Verwaltungsinspek-
tor bei der BA geworden sind, die Abschaffung, Teilpri-
vatisierung und Wiedererschaffung einer neuen Behörde
vorangetrieben haben, um sich um diesen Job zu bewer-
ben. Das wäre auch eine Möglichkeit; den Verdacht
muss man haben.


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Und als Literaturwissenschaftlerin halten wir mal eine kleine Rede im Plenum!)


Ich komme noch zu den Grünen; danach komme ich
zur Sache. Die Grünen sind klasse.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Richtig! – Das stimmt!)


– Ja, das kann man so stehen lassen. Ich bin ja gar nicht
so unfreundlich.


(Dirk Niebel [FDP]: Als Literaturwissenschaftlerin können wir auch schauspielern?)


Die Sorge der Grünen, dass die Sockelarbeitslosig-
keit in dieser Legislaturperiode noch steigen könnte, tei-
len wir alle. So etwas könnte passieren. Aber wenn wir
uns einmal ansehen, was im letzten Jahr passiert ist, dann
stellen wir hinsichtlich der Langzeitarbeitslosigkeit – das
ist der Kern der Sockelarbeitslosigkeit –


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Richtig!)


fest, dass es 200 000 Langzeitarbeitslose weniger gibt.
Das ist ein großer Erfolg. Obwohl wir damit noch nicht
zufrieden sind, möchte ich das hier erwähnen, damit
nicht der Eindruck entsteht, das sei nicht genauso unsere
Sorge wie die der anderen Parteien.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Es stimmt einfach nicht!)


Worum geht es hier eigentlich?


(Zuruf von der LINKEN: Ich glaube, das wissen Sie überhaupt nicht!)


– Jetzt lassen Sie mich doch bitte auch einmal etwas
deutlich machen.


(Klaus Brandner [SPD]: Die kennen doch nur „Hartz IV muss weg!“)


Sie unterstellen uns offensichtlich immer wieder, wir in
Berlin seien in einem Ufo unterwegs und Sie arbeiteten
hart an der Basis; nur unsereins, die Abgeordneten der
SPD und der CDU/CSU, hätten Scheuklappen an.


(Zuruf von der LINKEN: Ja, das ist genau der Punkt!)

Ich habe mit Rolf Stern gesprochen. Er ist ein Ar-
beitsvermittler vor Ort, der mir in den letzten Jahren
durchaus auch Beschwerden vorgetragen hat, zum Bei-
spiel über Probleme beim Computerprogramm, über
Probleme vor Ort hinsichtlich der Selbstständigkeit der
Argen und über Probleme, wie die BA teilweise rein-
fummelt.


(Dirk Niebel [FDP]: Ist er Inspektor oder Oberinspektor?)


Es gibt Probleme. Es gibt auch Mentalitätsschwierigkei-
ten zwischen den früheren Kommunalbeamten und den-
jenigen, die von der Bundesagentur kommen. Wir alle
wissen darum. Ich habe ihn gefragt: Was ist, wenn du es
dir überlegst, der größte Erfolg von Hartz IV für dich,
Rolf Stern? Er hat auf die Sozialhilfeempfänger hinge-
wiesen; er war früher bei der Stadt für Sozialhilfe zu-
ständig. Die eine Million Sozialhilfeempfänger, die jetzt
vollen Zugang zu allen arbeitsmarktpolitischen Maß-
nahmen haben,


(Zuruf von der LINKEN: Das stimmt ja gar nicht!)


erwähnen Sie nicht. Sie kommen nur mit – möglicher-
weise berechtigten; das will ich gar nicht abstreiten –
Einzelfällen. Aber über diese eine Million redet keiner
und schon gar nicht die Linkspartei.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was sagte mir Rolf Stern? Die haben jetzt ein ganz
anderes Selbstvertrauen, weil sie wieder gefordert sind
und weil sie einen geregelten Tagesablauf haben. Sie
wollen arbeiten. Ich sage das einmal klipp und klar:
85 Prozent bis 90 Prozent dieser Menschen wollen Ar-
beit; sie sind arbeitswillig. Alles andere ist eine Diffa-
mierung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Sagen Sie das Ihrem Koalitionspartner!)


Diese Leute bekommen eine Arbeitsgelegenheit. Das
kann man schmähen, aber sie sind froh. Sie fragen: Gibt
es noch eine Verlängerung? Sie wollen im Prinzip das,
was wir ihnen anbieten können.


(Zuruf von der LINKEN: Natürlich wollen die das, aber sie wollen auch ordentlich bezahlt werden!)


Ich sage Ihnen: Das führt dazu, dass sie mit mehr Zuver-
sicht ihre Bewerbungen schreiben und ihre weitere Ein-
bindung in den ersten Arbeitsmarkt betreiben können.
Das ist ein Erfolg.

Genauso ist es ein Erfolg, dass bei den jungen Men-
schen ein Betreuungsschlüssel von 1 : 75 erreicht wer-
den konnte. Wir haben ihn teilweise sogar unterschritten.
Das kann man an den Erfolgen bei der Vermittlung von
jungen Menschen sehen. Auch hier verzeichnen wir
klare Erfolge.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Andrea Nahles
Das hängt nicht nur mit dem Aufschwung, sondern auch
mit der intensiven Betreuung in den Argen zusammen.


(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber was ist mit den älteren Arbeitslosen?)


Damit auch das einmal ausgesprochen wird: Wir sind
nicht an einem Punkt, an dem wir sagen: Das war es jetzt,
wir entwickeln uns nicht weiter. Vielmehr nimmt sich
diese Bundesregierung vor, zu schauen, wo wir ergänzen
und wo wir evaluieren müssen. Ich will Ihnen zwei Bei-
spiele nennen. Ergänzen müssen wir da, wo es Menschen
mit schweren Vermittlungshemmnissen gibt, die nicht
ohne Weiteres in kurzer Zeit in den ersten Arbeitsmarkt
vermittelt werden können. Deswegen werden wir Ihnen
hier in Kürze einen Vorschlag unterbreiten, der lautet:
Wir wollen einen geförderten Arbeitsmarkt für Men-
schen mit schweren Vermittlungshemmnissen, und den
wollen wir bundesweit organisieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der LINKEN: Das hat ja lange genug gedauert! Wir warten ja seit acht Monaten auf eine Anhörung!)


Das heißt, dass wir sehr wohl erkennen, wo es etwas zu
ergänzen gibt.

Wir wollen verbessern. Es kann überhaupt kein Zwei-
fel daran bestehen, dass auf dem deutschen Arbeitsmarkt
beim Lohngefüge einiges ins Rutschen gekommen ist.
Wir haben tatsächlich das Problem der Leiharbeit. In ei-
nigen Betrieben werden mittlerweile mehr als 30 Pro-
zent des Personalbedarfs mit Leiharbeitern abgedeckt.
Das ist eine Form von Lohndumping, die wir nicht gou-
tieren. Das halten wir für ein großes Problem und für
eine große Herausforderung für den deutschen Arbeits-
markt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das hat mit Hartz IV überhaupt nichts zu tun. Gleich-
wohl ist das ein Problem, um das wir uns kümmern wer-
den.

Wir Sozialdemokraten wollen einen Mindestlohn
– das ist ganz klar; wir stehen in Verhandlungen –, und
zwar in allen Branchen, wo er nötig ist. Damit fangen
wir an.


(Zuruf von der LINKEN: Und warum lehnen Sie ihn dauernd ab? Sie haben den Antrag abgelehnt!)


Wir haben erst in der vorhergehenden Sitzungswoche
– das ist ein bisschen untergegangen – für 850 000 Men-
schen im Gebäudereinigerhandwerk einen Mindestlohn
verabschiedet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Großer Fehler!)


Dafür danke ich ausdrücklich den Kolleginnen und Kol-
legen auf der Unionsseite, die dagegen vielleicht einige
Einwände hatten. Diese 850 000 Gebäudereiniger wer-
den es uns danken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Andere Bereiche müssen folgen. Das wird mit dieser
Koalition möglich sein.

Zum Schluss: Wir wollen, dass Hartz IV in sich bes-
ser wird. Dazu wird es Vorschläge geben. Wenn Ihnen
von der Linkspartei das Thema Hartz IV demnächst aus-
gehen wird, dann muss ich um Ihre Debattenbeiträge
fürchten. In Ihrer Partei ist die Fixierung auf das Nega-
tive, auf das Scheitern offensichtlich so groß, dass dage-
gen nur eines hilft: Wir führen unseren erfolgreichen
Kurs in der Arbeitsmarktpolitik in den nächsten Jahren
fort, weil das der Mehrzahl der Arbeitslosen in diesem
Lande hilft und nicht schadet.

In diesem Sinne vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608807900

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-

gen Oskar Lafontaine.


Oskar Lafontaine (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608808000

Ich mache es auch ganz kurz, Herr Präsident. – Frau

Kollegin Nahles, Sie haben korrekt zitiert. Das ist im-
merhin schon ein Vorteil. Ich bedanke mich dafür. Sie
haben festgestellt, dass ich schon damals eine Reform
der Arbeitslosenversicherung angemahnt habe. Das ist
auch heute noch mein Monitum. Insofern hat sich an
meiner Meinung nichts geändert.

Sie haben zum Zweiten darauf hingewiesen, dass ich
aufgefordert habe, darüber nachzudenken, ob man die
Prinzipien des Sozialstaates – Stichwort „Steuerfinanzie-
rung“ – nicht stärker betonen sollte. Das ist auch heute
noch meine Meinung. Das ändert aber nichts an dem
Sachverhalt, dass man Arbeitnehmer nicht auf die Art
und Weise enteignen kann, wie Sie es getan haben.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Was ist das denn?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608808100

Kollegin Nahles, bitte.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich finde, man sollte das Hohe Haus davor verschonen, immer mit dieser Vergangenheitsbewältigung zu kommen!)



Andrea Nahles (SPD):
Rede ID: ID1608808200

Frau Pothmer, wenn ich auf Herrn Lafontaine ant-

worte, ist es unfreundlich, dass Sie das jetzt sagen. Sa-
gen Sie es später.

Ich freue mich, dass die Bedürftigkeitsorientierung
jetzt auch von Oskar Lafontaine anerkannt wird, weil die
Linkspartei ansonsten ein bedingungsloses Grundein-
kommen fordert.


(Zuruf von der LINKEN: Nein!)


Ich persönlich freue mich darüber, dass die Bindung an
die Bedürftigkeitsprinzipien hier noch einmal bestätigt






(A) (C)



(B) (D)


Andrea Nahles
worden ist. Das teilen wir nämlich im Kern. Viel Ver-
gnügen, wenn Sie das in Ihrer eigenen Partei klären.

Der zweite Punkt. Es geht hier schon um Redlichkeit.
Von einer Autoversicherung war eben die Rede. Was
heißt denn das anderes, als dass man vom Versiche-
rungsprinzip wegkommen will?


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Ich habe es Ihnen doch gerade erklärt!)


In einem Interview im „Spiegel“, 2. November 1998,


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aus dem letzten Jahrhundert!)


kritisiert er, dass es Fälle gibt, in denen jemand hohes
Arbeitslosengeld bezieht, obwohl Familieneinkommen
und Vermögen vorhanden sind. Das Hohe Haus möge
sich bitte daran erinnern, welche Skandalisierungen die
Linkspartei im Zusammenhang mit dem Thema „Vermö-
gensanrechnung“ vorgenommen hat.

An dieser Stelle ist zu vermerken: Das, was von Ihnen
gestern gesagt wurde, gilt heute nicht mehr. Darauf
wollte ich angesichts des Parteitags, den die Linkspartei
am Wochenende durchführt, nur vorsichtig warnend
hinweisen. Vor Überraschungen ist man bei Oskar
Lafontaine nicht gefeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608808300

Ich erteile das Wort Kollegen Heinz-Peter Haustein,

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Heinz-Peter Haustein (FDP):
Rede ID: ID1608808400

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen

und Herren! Wir reden heute zum x-ten Mal hier im
Deutschen Bundestag über die Arbeitslosigkeit und über
ihre Bekämpfung. Wir geben Dutzende Milliarden aus
für ALG I und ALG II. Wir begnügen uns damit, die
Wirkung zu verdrängen, wir bekämpfen nicht die Ursa-
chen; das ist unser Problem. Statt dafür zu sorgen, dass
mehr Arbeitsplätze entstehen, streiten wir uns, wie die-
ses und jenes zu verbessern sei.

Kommen wir einmal zum ALG II. Die Zusammenle-
gung der Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe war
richtig; dazu steht auch die FDP.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber eben nur das.


(Zuruf von der SPD: Immerhin!)


Die handwerkliche Umsetzung in Form dieses Geset-
zes ist so schlecht, dass man es eigentlich auflösen
müsste. Wir brauchen etwas anderes, etwas Effektiveres
und Besseres. Nur zwei Beispiele: In den Argen und in
den optierenden Kommunen gibt es so viele Änderungen
– über 100 sind es schon –, dass keiner mehr richtig
durchblickt, wie denn was zu machen ist;


(Beifall bei der FDP)

ständig neue Software, ständig „Ergänzungen“.


(Zuruf von der SPD: Das ist nur die halbe Wahrheit!)


Die KdU werden verhandelt wie auf einem Basar:
2 Milliarden im Haushalt, 5 Milliarden wollen die Kom-
munen, auf 4,1 Milliarden wird sich geeinigt, nach dem
Motto: Pi mal Daumen mal Fensterkreuz. Das ist doch
keine Grundlage für ein Gesetz!

Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit halte ich es
auch nicht für günstig, wie Frau Nahles gesagt hat, das
indische Mantra hinzuzuziehen. Da gehe ich als evange-
lischer Christ lieber am Sonntag in die Kirche; davon
habe ich mehr.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP] sowie des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU])


Es fehlt den Reformen die Richtung: Wer als unter
25-Jähriger bei seinen Eltern wohnte, wurde plötzlich
vom Staat ermuntert, auszuziehen und eine Bedarfsge-
meinschaft zu gründen – jetzt müssen sie bei den Eltern
wieder einziehen; also „Rein in die Kartoffeln, raus aus
den Kartoffeln“. Die Vorschriften ändern sich ständig,
sodass die Kollegen in den Argen manchmal nicht wei-
terwissen. Nun kommt noch das Problem hinzu, dass
nächstes Jahr durch eine Kreisreform im schönsten Frei-
staat der Welt, also in Sachsen,


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie jetzt Werbung?)


Kreise, in denen es optierende Kommunen gibt, sich mit
Kreisen, in denen es Argen gibt, zusammenschließen
müssen. Wir werden sehen, wie wir dieses Problem lö-
sen. Das sind nur wenige Beispiele. Das Dilemma, dass
es schwierig ist, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen,
bekommen wir damit nicht weg. Wir haben unheimlich
viel Bürokratie; das hilft uns nicht.


(Beifall bei der FDP)


Die Flut der Widersprüche und Klagen nimmt zu.
Das schafft Arbeit – für Anwälte und Behörden. Dieses
Chaos bei der Arbeitsmarktpolitik setzt sich fort. Herr
Staatssekretär, ich kann Sie beruhigen: Ich war nicht bei
der BA, ich bin nicht bei der BA und ich werde nicht bei
der BA sein.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP] – Dirk Niebel [FDP]: Das gilt für die meisten Menschen!)


Ich kann also frei fordern: Unterstützen Sie den Antrag
der Liberalen, lösen Sie die BA im jetzigen Zustand auf!


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])


Es geht nicht um Abschaffung – wir brauchen ein ande-
res System.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ein dezentrales System wäre viel besser als das zentrale
System, das wir jetzt haben. Lasst das die Kommunen
und Landkreise machen; die wissen vor Ort viel besser,
was los ist. Wir brauchen die Mammutbehörde in Nürn-
berg nicht. Damit stelle ich nicht in Abrede, dass diese






(A) (C)



(B) (D)


Heinz-Peter Haustein
Leute gute Arbeit leisten. Doch der Ansatz ist falsch,
und das müssen wir ändern. Wenn ich Sie so höre, Herr
Staatssekretär, wie Sie im Grunde behaupten: „Weil wir
die Macht haben, haben wir recht“, dann erinnert mich
das an DDR-Zeiten. Das ist nicht gut.


(Beifall bei der FDP – Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Wir haben die Mehrheit, und ihr habt keine Mehrheit; das ist der Punkt!)


Zum Antrag der Linken, das Arbeitslosengeld I zu
verlängern, kann ich nur sagen: Wir sollten das Äquiva-
lenzprinzip beibehalten. Man kann doch auch nicht in
eine Feuerversicherung einzahlen und, nachdem es
20 Jahre nicht gebrannt hat, sagen: Ich will mein Geld
zurück. Das ist aber nicht das Hauptproblem. Entschei-
dend – bei aller Kritik – ist, dass der Ansatz, den wir ha-
ben, falsch ist: Ursache und Wirkung werden vertauscht.
Man sehe einmal, wie viel Geld für die Verwaltung von
ALG I und ALG II verpulvert wird! Wir sollten die Voll-
beschäftigung – dass jeder eine Arbeit hat – wieder als
Staatsziel aufnehmen. Daran sollten wir arbeiten, dafür
sollten wir kämpfen! Das geht aber nur, wenn man die
Rahmenbedingungen für die Unternehmen verbessert,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


damit sie mehr Leute einstellen. Verwalten, verwalten
und nochmals verwalten, das bringt den Leuten nichts.
Wenn wir das schaffen, dann haben wir eine Chance auf
eine gute Zukunft für unser schönes deutsches Vaterland.
Ich freue mich über jeden Arbeitsplatz, der geschaffen
wurde und wird. Ich habe selber im letzten Jahr in mei-
ner Firma 43 Arbeitsplätze geschaffen; darüber freue ich
mich.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ob der Aufschwung, der anhält, etwas mit dem mil-
den Winter zu tun hat oder mit der Fußballweltmeister-
schaft oder mit dem charmanten Lächeln unserer Frau
Kanzlerin – Hauptsache, es kommt ein Aufschwung.
Aber wir dürfen die Nachhaltigkeit nicht vergessen. Die
aber vergessen wir, wenn wir jetzt nichts ändern und
nicht die Reformen durchführen, die wir brauchen.


(Beifall bei der FDP)


Nur so kann es vorwärtsgehen.

In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erz-
gebirge.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Anton Schaaf [SPD]: Genau! Dafür gibt es auch von uns einen Applaus für Herrn Haustein!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1608808500

Ich erteile das Wort Kollegen Markus Kurth, Fraktion

des Bündnisses 90/Die Grünen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608808600

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen

und Herren! Ich kann ja verstehen, dass das Thema
Hartz IV für die beiden sozialdemokratischen Fraktio-
nen in diesem Hause geradezu zur Vergangenheitsbewäl-
tigung einlädt.


(Anton Schaaf [SPD]: Na, na, na!)


Dabei geht es einerseits um den Gründungsmythos der
Linken und andererseits um das Trauma, das die SPD
noch zu verarbeiten hat: die Abspaltung einer zweiten
sozialdemokratischen Strömung. Aber ich finde, man
sollte sich im Rahmen dieser Debatte eher dem zuwen-
den, was in den Jobcentern tatsächlich passiert und was
den Leuten im Angesicht der Fallmanagerinnen und
Fallmanager widerfährt. Darum geht es!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht um die Frage, ob die Potenziale, die das
Sozialgesetzbuch II durchaus bietet, genutzt werden, ob
Fallmanagerinnen und Fallmanager also zum Beispiel an
die Motivation der Leute anknüpfen. Sie, Frau Nahles,
haben zu Recht gesagt, dass 90, 95 Prozent der Men-
schen motiviert sind. Aber diese Motivation wird nur un-
zureichend genutzt. Den Fähigkeiten und Möglichkeiten
der Menschen muss Raum gegeben werden. Die vorhan-
denen Instrumente müssen nach der Betrachtung der
Persönlichkeit passend eingesetzt werden. Dabei muss
man sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren,
wenn man ein bestimmtes Entwicklungsziel erreichen
möchte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was erleben wir stattdessen? Dass man beim Einsatz
der Instrumente vorwiegend fiskalischen Überlegungen
folgt. Da werden etwa die sogenannten 1-Euro-Jobs
nicht nur übermäßig eingesetzt – Frau Pothmer hat das
am Beispiel der Jugendlichen verdeutlicht –, sondern
auch ihre Dauer wird strikt nach formalen Kriterien auf
sechs Monate begrenzt. Wenn danach noch Bedarfe vor-
handen sind, die Betroffenen vielleicht eine Anschluss-
qualifizierung machen wollen, dann kommt einfach
nichts.

Lassen Sie sich einmal von den Beschäftigungsträ-
gern in den Bereichen der Jugendberufshilfe vor Ort
schildern, was zum Beispiel mit jungen Erwachsenen
passiert, die langzeitarbeitslos sind und sechs Monate
lang einen 1-Euro-Job gemacht haben. Ihnen wird nach
sechs Monaten gesagt: Jetzt ist erst einmal Schluss. Viel-
leicht kannst du in einem halben Jahr erneut einen An-
trag stellen und dann wiederkommen. – Die Motivation,
die sie sich mühselig erarbeitet haben, wird sozusagen
sofort wieder mit dem Hintern umgestoßen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie auf diese Weise in einem Unternehmen in
der freien Wirtschaft Personalentwicklung betreiben
würden, dann wäre Ihre Firma schnell am Ende. Ich
frage mich, warum wir die Potenziale und Möglichkei-
ten der Menschen nicht nutzen und warum wir mit den
Instrumenten, die zur Verfügung stehen, nicht ernsthaft
eine persönliche und berufliche Entwicklungspla-
nung betreiben, sondern das Geld stattdessen nach for-
malen Nürnberger Kriterien, nach denen das Ganze als
ein Systemgeschäft betrachtet wird, verteilen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Markus Kurth
Die Leistung muss den Menschen folgen, nicht der
Mensch der Leistung. Das gilt umso mehr dort, wo Job-
center mit anderen Einrichtungen zusammenarbeiten,
etwa in der Jugendhilfe, in der Behindertenhilfe und in
anderen Bereichen. Dort finden wir tatsächlich die Situa-
tion vor, dass sich die Kommunen mit Verweis auf die
Jobcenter als vorrangige Leistungsträger einfach zurück-
ziehen, indem sie sagen: Das ist eine vorrangige Leis-
tung. Wir kommen dafür nicht mehr infrage. – Dass das
falsch ist, legt die Bundesregierung in ihrer Antwort dar.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt)


Die sogenannten nachrangigen bzw. ergänzenden Leis-
tungen müssen von den Kommunen erbracht werden.
Fakt ist aber, dass sie in vielen Fällen – nicht in allen –
nicht von ihnen erbracht werden, wenn die Hilfebedürf-
tigen sie nicht einklagen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herrn Haustein und Herrn Niebel von der FDP muss
ich an dieser Stelle sagen: Die miserable Zusammenar-
beit zwischen Jobcentern und Kommunen und die-
Leistungsverweigerung, die nicht wenige Kommunen
betreiben, werfen ein bezeichnendes Licht auf die ver-
meintliche Kompetenz der Kommunen im Hinblick auf
die Leistungserbringung. Das muss an dieser Stelle ganz
klar zum Ausdruck gebracht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich hätte mir gewünscht, dass diese Aspekte in der
heutigen Debatte viel umfassender analysiert und stärker
auf den Punkt gebracht worden wären, sodass dann ent-
sprechend hätte gehandelt werden können. Aber hier
wurde viel zu oft vor allem Vergangenheitsbewältigung
betrieben. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen jedenfalls
werden die Realität genau beobachten und auch weiter-
hin realitätsgenaue Vorschläge machen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608808700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Michalk für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1608808800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die wichtigste Aufgabe des Staates, der Politik, ist nicht,
selbst die fehlenden Arbeitsplätze zu schaffen, sondern
die Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung auf
dem ersten Arbeitsmarkt zu verbessern. Auf dieses Ziel
konzentrieren sich unsere gesamten politischen Anstren-
gungen.

Deshalb ist es auch aus ostdeutscher Sicht richtig und
wichtig, dass die Anstrengungen für mehr Arbeitsplätze
eben nicht nur in industriellen Ballungsgebieten verste-
tigt werden, sondern auch in der Fläche, in strukturell
benachteiligten Regionen. Durch diesen hinter uns liegen-
den erfolgreichen Arbeitsprozess in den letzten eineinhalb
Jahren und durch die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik
der Bundesregierung und auch der jeweiligen Bundeslän-
der ist es zum Beispiel im Freistaat Sachsen zum ersten
Mal nach 1997 – also nach zehn Jahren – wieder gelun-
gen, die Zahl der Arbeitslosen im Monat Februar auf we-
niger als 400 000 zu senken, nämlich auf genau 362 800.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wer diesen Trend nicht wahrnimmt und würdigt, ist ein
Miesmacher. Wir brauchen aber Optimisten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wirtschaftswachstum, geringe Arbeitslosigkeit, Infla-
tion – das sind die wichtigsten Themen der Wirtschafts-
politik in nahezu allen Ländern dieser Welt. Deshalb ist
die Behauptung in der Vorbemerkung zur Großen An-
frage der Linken, dass die ostdeutsche Bevölkerung be-
sonders – ich zitiere – „unter den Folgen eines ökono-
misch fehlgeschlagenen Einigungsprozesses leidet“,
ausgesprochen falsch. Über diese Realitätsferne kann
man sich nur wundern.


(Kornelia Möller [DIE LINKE]: Das haben Sie in Ihrer Antwort selbst bestätigt!)


18 Jahre nach der Wahl der frei gewählten Volkskam-
mer – diesen Tag haben wir übrigens am letzten Sonntag
gefeiert; ich möchte unbedingt daran erinnern – wollen
Sie immer noch nicht die richtigen Beschlüsse der frei
gewählten Volkskammer für Einheit, für Freiheit und für
Wettbewerb akzeptieren. Wir wissen, dass die materiel-
len Grundlagen unseres menschlichen Daseins Einkom-
men und Beschäftigung sind, durch die sehr beeinflusst
wird, ob sich der Einzelne gut oder krank fühlt.

Beim Bautzener Arbeitsamt ist zum Beispiel gut die
Hälfte der 12 000 gemeldeten Arbeitslosen älter als
50 Jahre. In anderen Ländern ist das nicht anders. Diese
Zahl spricht ihre eigene Sprache, die wir nicht gering
schätzen dürfen. Eigentlich muss man sich doch fragen,
was in der Diskussion falsch läuft. Ist es die Verwendung
der Mittel, sind es zu wenige Eingliederungstitel, geht es
um nicht eingesetzte Eingliederungstitel oder ist es die
öffentliche Wahrnehmung? Was ist hier falsch?

Hartz IV kostete im ersten Jahr jedenfalls viel mehr
Geld, als wir geplant hatten. Es gilt aber trotzdem als In-
strument für gnadenlosen Sozialabbau. Diese Sicht auf
staatliche Sozialleistungen ist falsch, allerdings räume
ich ein, dass sich diese Sicht auch in den neuen Bundes-
ländern hier und da einschleicht. Durch die sozialen
Leistungen – auch Hartz IV als Paket – soll die existen-
zielle Not verhindert werden, was wirklich geschieht.
Heute wird aber der Bezug der staatlichen Leistung an
sich bereits als Notlage bezeichnet: Arm ist, wer Leis-
tung bezieht. Das ist die öffentliche Meinung. Dagegen
müssen wir uns wenden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


In Wirklichkeit ist es für viele, die auf dem ersten Ar-
beitsmarkt eine Arbeit finden, wesentlich komplizierter,






(A) (C)



(B) (D)


Maria Michalk
ihren Lebensalltag zu gestalten. Ich habe jedenfalls im-
mer noch Schwierigkeiten, einem Familienvater mit
zwei Kindern, dessen Frau die Kinder zu Hause betreut
und der einen Bruttoverdienst von 2 000 Euro hat – das
ist ein Spitzenverdienst in den neuen Bundesländern –,
zu erklären, warum er am Monatsende zum Teil nur ge-
ringfügig mehr in der Tasche hat – manchmal sogar we-
niger; je nach der Konstellation – als ein Leistungsemp-
fänger. Wir müssen diese Tatsache verändern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Kornelia Möller [DIE LINKE]: Stimmen Sie unserem Antrag zum Mindestlohn zu, dann haben Sie das Problem gelöst!)


Nein, die Einführung der Hartz-IV-Gesetzgebung war
kein Fehler. Hier stimme ich meinen Vorrednern zu. Die
Doppelstruktur von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
war intransparent und unsozial, weil Personen in glei-
chen Lebenslagen unterschiedliche aktive und passive
Leistungen erhielten.

Bei der Übersicht der Eingliederungsmaßnahmen fällt
allerdings sofort auf, dass sich über 50 Prozent der Maß-
nahmen in den neuen Bundesländern auf ein Instrument
– die Vermittlung in ein Beschäftigungsverhältnis –
konzentrieren, und zwar deshalb, weil keine Integration
in den ersten Arbeitsmarkt möglich ist; denn an diesem
fehlt es.

Dass diese einseitige Ausrichtung von den Wirt-
schafts- und Unternehmensverbänden immer wieder kri-
tisch hinterfragt wird, ist ein gutes Zeichen; denn die
Wirtschaft kann sich nur im Wettbewerb entwickeln. Das
gilt auch für uns in den neuen Bundesländern. Solange der
erste Arbeitsmarkt keine durchgehende Alternative bietet,
kann – das sehe ich auch so – auf dieses Instrument nicht
verzichtet werden. Die Beschäftigungsgelegenheiten sind
notwendig, um zum Beispiel der sozialen Isolation be-
stimmter Bevölkerungsschichten, die nach vielen erfolg-
losen Bewerbungen die Hoffnung auf einen Arbeitsplatz
aufgegeben haben, vorzubeugen.

Die Menschen in den neuen Bundesländern haben üb-
rigens sehr genau verstanden, dass sie gegen ihre schein-
bar oder manchmal auch tatsächlich unrechtmäßige Be-
handlung vorgehen und ihre Rechte vor Gericht
einklagen können. Deshalb ist zwar die Zahl der Klagen
gestiegen, aber dies ist auch ein Zeichen dafür, dass der
demokratische Rechtsstaat funktioniert und jedem zu
seinem Recht verhilft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Übrigen ist in Ihrem Entschließungsantrag eine
Fülle von Forderungen enthalten, die allesamt auf mehr
Staat und Ausgaben ausgerichtet sind. Dass aber das
Verhältnis von Eigenverantwortung auf der einen Seite
und Ausgewogenheit von Einnahmen und Ausgaben auf
der anderen Seite in unserem Dasein von entscheidender
Bedeutung ist, ist nichts Neues. Ich will das mit einem
Gleichnis von Johann Wolfgang von Goethe belegen.
Ich habe dieses Gleichnis ausgesucht, weil mich vor kur-
zem eine Besuchergruppe gefragt hat, was das für eine
kulturlose Debatte sei. Deshalb habe ich mich entschie-
den, ein Gleichnis dieses ehrwürdigen Dichters vorzutra-
gen, der schon zu seiner Zeit darauf hingewiesen hat,
dass wir nur das ausgeben können, was wir haben, wobei
wir aber auf Ausgewogenheit achten sollten. Ich zitiere,
mit Verlaub, das Gleichnis:

Ein Kaiser hatte zwei Kassiere,
Einen zum Nehmen, einen zum Spenden;
Diesem fiel’s nur so aus den Händen,
Jener wußte nicht, woher zu nehmen.
Der Spendende starb; der Herrscher wußte nicht
gleich,
Wem das Geberamt sei anzuvertrauen.
Und wie man kaum tät um sich schauen.
So war der Nehmer unendlich reich:
Man wußte kaum vor Gold zu leben.
Weil man einen Tag nichts ausgegeben.
Da ward nun erst dem Kaiser klar,
Was schuld an allem Unheil war.
Den Zufall wußt er wohl zu schätzen.
Nie wieder die Stelle zu besetzen.

Deshalb werden wir Ihrem Entschließungsantrag
nicht zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608808900

Das Wort hat nun der Kollege Gregor Amann für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gregor Amann (SPD):
Rede ID: ID1608809000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

möchte mich nicht mit dem Entschließungsantrag der
Linken auseinandersetzen, der auf einer Großen Anfrage
basiert – das haben Herr Staatssekretär Andres und an-
dere Vorredner schon ausführlich getan –, aber eine
Frage stellt sich mir: Warum stellen Sie eine Große An-
frage, wenn Sie die Antwort der Bundesregierung gar
nicht zur Kenntnis nehmen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will mich in erster Linie mit der Verlängerung der
Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I beschäftigen.
Wenn es auch auf den ersten Blick nach mehr sozialer
Gerechtigkeit aussieht, so ist es dennoch eine Mogelpa-
ckung. Dabei ist es völlig egal, ob diese Forderung von
Ihnen oder von Herrn Rüttgers kommt; denn es ist und
bleibt wahr – das konnte auch Herr Lafontaine nicht wi-
derlegen –, dass die Arbeitslosenversicherung keine An-
wartschaftsversicherung, sondern eine Risikoversiche-
rung ist.


(Zuruf von der SPD: Das ist auch richtig so!)


Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sind keine
Kapitalanlage, sondern eine Risikoabsicherung, die dann
zum Tragen kommt, wenn Arbeitslosigkeit zu Verdienst-






(A) (C)



(B) (D)


Gregor Amann
ausfall führt. Das ist ähnlich wie bei der Brandschutzver-
sicherung, bei der Sie nur dann Geld bekommen, wenn
Ihr Haus abbrennt.


(Andrea Nahles [SPD]: Endlich sagt es einer!)


Vorhin wurde das Äquivalenzprinzip angesprochen.
Dieses Prinzip gilt nur für die Höhe der Leistung, aber
nicht für die Länge der Bezugsdauer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Mit Ihrem Antrag stellen Sie dieses bewährte System in-
frage und wer sagt denn, dass ein 42-jähriger Familien-
vater, dessen heranwachsende Kinder gerade eine Aus-
bildung oder ein Studium beginnen, oder die 28-jährige
Alleinerziehende einen geringeren Finanzbedarf haben,
wenn sie arbeitslos werden, als ein 55- oder 60-Jähriger?
Soziale Gerechtigkeit ist manchmal komplexer, als es
auf den ersten Blick scheint.

Sie wollen das alles über eine Kürzung des Aussteue-
rungsbetrags bezahlen. Worum geht es dabei? Den so-
genannten Aussteuerungsbetrag muss die Bundesagentur
für Arbeit für jeden Arbeitslosen an den Bund zahlen,
der länger als zwölf Monate ohne Job bleibt und damit in
das Arbeitslosengeld II wechselt. Rund 10 000 Euro sind
pro Arbeitslosen fällig. Da das Arbeitslosengeld I aus
Beitragsmitteln der Arbeitslosenversicherung und das
Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln gezahlt wird, fin-
det durch den Aussteuerungsbetrag eine Beteiligung der
Arbeitslosenversicherung an den Kosten der Langzeitar-
beitslosigkeit statt. Über den Aussteuerungsbetrag soll
die Bundesagentur für Arbeit, die heute keine Behörde
mehr ist, sondern nach Zielvereinbarungen arbeitet, dazu
motiviert werden, die Vermittlung in Arbeit innerhalb
der ersten zwölf Monate besonders intensiv zu betreiben,
um so die Betroffenen erst gar nicht in Langzeitarbeits-
losigkeit fallen zu lassen. Denn es ist bekannt: Je länger
jemand arbeitslos ist, desto schwieriger wird die Rück-
kehr in das Arbeitsleben.

Man kann das Instrument des Aussteuerungsbetrags
bestimmt kritisieren und wahrscheinlich noch besser jus-
tieren. Es ist kein Allheilmittel oder Wundermittel. Aber
wer eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I
für Ältere aus diesem Topf finanzieren möchte, nimmt
dafür mutwillig einen Anstieg der Langzeitarbeitslosig-
keit in Kauf, und nicht nur aus diesem Grund erinnern
wir uns – darauf wurde vorhin hingewiesen –: Bis in die
70er-Jahre hatten wir in Deutschland eine einheitliche
Bezugsdauer des Arbeitslosengelds von zwölf Monaten.
Mit steigender Langzeitarbeitslosigkeit hat die damalige
Regierung die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds ange-
hoben, zumindest für manche. Die Folge war ein deutli-
cher Anstieg der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
auf 6,5 Prozent und ein erheblicher Anstieg der Bundes-
zuschüsse. Wir haben die Bezugsdauer des Arbeitslosen-
geldes von maximal 32 Monaten auf maximal 18 Mo-
nate zurückgeführt, um der Frühverrentungspraxis in
einer Vielzahl von Betrieben wirksam entgegenzuwir-
ken. Die Praxis gerade in vielen Großunternehmen hatte
in der Vergangenheit dazu geführt, ältere Menschen auf
Kosten der Beitragszahler der Arbeitslosenversicherung
früher aus den Betrieben zu schicken. Wir wollen keinen
Rückfall in die Zeiten der Frühverrentung.

(Kornelia Möller [DIE LINKE]: Und bestrafen die Älteren!)


Wenn wir etwas für Arbeitslose, jüngere oder ältere,
tun wollen, dann geht das nur auf einem Weg: Arbeit
schaffen. Ältere Arbeitslose wollen nicht länger Arbeits-
losengeld beziehen, sondern wieder in Arbeit kommen
und sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Im Fe-
bruar 2007 hat sich die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich
zum Vorjahresmonat um 826 000 verringert; das wurde
bereits gesagt. Auch die Beschäftigungsquote der Älte-
ren steigt wieder an. Erst vor wenigen Tagen war dies in
der „Frankfurter Rundschau“ zu lesen. Mit der Initiative
„50 plus“, die wir in der letzten Sitzungswoche verab-
schiedet haben, haben wir weitere wirksame Schritte zur
Beschäftigung Älterer unternommen: Eingliederungszu-
schüsse, Kombilöhne, Weiterbildungshilfen. Meine Da-
men und Herren von der Linken, Sie beschränken sich
mit einer Verlängerung des Arbeitslosengeldbezugs für
Ältere darauf, die Symptome zu lindern.


(Kornelia Möller [DIE LINKE]: Das ist doch nicht wahr! Sie sitzen im Ausschuss und kennen unsere Anträge!)


Wir hingegen wollen die Ursachen bekämpfen. Wir wol-
len wieder Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren.

In der kurzen Redezeit, die mir noch verbleibt,
möchte ich noch auf Ihren Antrag auf Auflösung der
Bundesagentur für Arbeit eingehen, meine Damen und
Herren von der FDP.


(Dirk Niebel [FDP]: Ein sehr guter Antrag!)


Ihr Antrag von September 2006 ist heute schon veraltet.
Der Eingangssatz lautet:

Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich trotz der sog.
Hartz-Reformen nicht grundlegend verbessert.


(Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt!)


Er ist bereits heute überholt. Die aktuellen Zahlen wur-
den bereits genannt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Sie haben nur eine konjunkturelle Delle!)


Aber auch der Rest Ihres Antrages ist nicht viel besser
als der Anfang. Sie wollen die Bundesagentur für Arbeit
zu einer Art Privatversicherung umgestalten. Wenn es in
Ihrem Antrag heißt, die Gesamtäquivalenz zwischen
Leistungen und Beiträgen müsse wiederhergestellt
werden – hier treffen sich erschreckenderweise die An-
träge der Linken und der FDP –,


(Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: So ist es!)


dann bedeutet das nichts anderes, als dass derjenige, der
öfter arbeitslos wird, mehr Beiträge zahlt.


(Dirk Niebel [FDP]: Nein!)


Das kann nicht sein. Das Prinzip mag für eine Kfz-Versi-
cherung in Ordnung sein, aber es taugt nicht zur Absi-
cherung des Lebensunterhalts im Falle der Arbeitslosig-
keit.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Gregor Amann
Auch Ihr Modell eines Niedrigtarifs mit Karenzzeit
geht in die gleiche Richtung. Sie tun so, als könnten die
Menschen frei entscheiden, ob sie arbeitslos werden
oder nicht.


(Dirk Niebel [FDP]: Quatsch!)


Wir Sozialdemokraten wollen Lebensrisiken nicht priva-
tisieren, sondern wir sind für eine solidarische Risikoab-
sicherung mit einer paritätischen Finanzierung durch Ar-
beitnehmer und Arbeitgeber.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608809100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Niebel?


(Andrea Nahles [SPD]: Jetzt wieder munter geworden?)



Gregor Amann (SPD):
Rede ID: ID1608809200

Aber gerne.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1608809300

Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-

men, dass wir einen solidarisch finanzierten Regeltarif in
der Arbeitslosenversicherung vorsehen und darüber hi-
naus, da der Arbeitgeberbeitrag steuerfrei an den Arbeit-
nehmer auszuzahlen ist, Anreize für zusätzliche Wahlta-
rife schaffen wollen, die jeder individuell gestalten kann,
somit also die solidarische Grundabsicherung des Le-
bensrisikos Arbeitslosigkeit entsprechend des Äquiva-
lenzprinzips erfolgt, darüber hinaus aber Wahlmöglich-
keiten geschaffen werden


(Andrea Nahles [SPD]: Wie wird das finanziert?)


und durch die Einführung möglichst vieler privatwirt-
schaftlicher Elemente in die Arbeitslosenversicherung
und in die Arbeitsvermittlung eine generelle Privatisie-
rung dieses Sicherungssystems ausgeschlossen wird?


Gregor Amann (SPD):
Rede ID: ID1608809400

Herr Niebel, ich danke Ihnen für die Frage. Dadurch

kann ich etwas länger reden. Sie haben vollkommen
recht.


(Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Danke schön! Das ist ein guter Mann, den ihr da habt! – Gegenruf der Abg. Andrea Nahles [SPD]: Das wissen wir!)


– Nein, Sie haben nicht recht. Ich fange anders an.

Ich konnte das in Ihrem Antrag so nicht sehen. Mit
der Einführung von Wahltarifen tun Sie wiederum so,
als ob der Mensch die Wahl hätte, arbeitslos zu werden
oder nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das ist nicht richtig. Wenn Sie die Zuschüsse des Arbeit-
gebers an den Arbeitnehmer auszahlen lassen, dann ge-
hen Sie weg von der paritätischen Finanzierung. Dann
wird der Arbeitgeberbeitrag ein Teil des Arbeitslohns,
der in Tarifverhandlungen verhandelt wird. Das bedeutet
einen Schritt weg von der paritätischen Finanzierung.
Das ist nicht unser Weg.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608809500

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-

frage des Kollegen Niebel?

(Zuruf von der SPD: Der scheint heute den Al leinunterhalter zu machen!)



Gregor Amann (SPD):
Rede ID: ID1608809600

Aber gerne.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1608809700

Vielen Dank, Herr Kollege. – Würden Sie mir zustim-

men, dass ein beitragssenkender Wahltarif, bei dem die
Hälfte der Beitragseinsparungen beim Arbeitgeber
bleibt, für den Arbeitnehmer unattraktiver ist als ein Ta-
rif, bei dem der Arbeitgeberanteil vorher zu 100 Prozent
ausgezahlt wird und der Arbeitnehmer, der über den Re-
geltarif hinaus einen Wahltarif in Anspruch nimmt, der
zu Beitragssenkungen führt, dann 100 Prozent der Bei-
tragsersparnis für sich hat?


Gregor Amann (SPD):
Rede ID: ID1608809800

Ich kann keinerlei Notwendigkeit sehen, in die Ar-

beitslosenversicherung Wahltarife einzuführen.
Ich komme zum Ende: In der Tat, die Reform der Ar-

beitsverwaltung ist noch nicht an ihrem Ziel, aber sie ist
auf einem guten Weg. Ihr Weg, Herr Niebel, führt in die
Irre.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608809900

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Max Straubinger für die Fraktion der CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1608810000

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Am Schluss dieser Debatte ist festzustellen, dass die Op-
position keine Antwort auf die Frage hat, wie wir Men-
schen aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit bringen.


(Dirk Niebel [FDP]: Aber Herr Straubinger!)

Man kann sich trefflich über die Höhe von Leistungen
der sozialen Sicherung streiten. Diese Frage wird sich
immer im politischen Spannungsfeld befinden. Ich bin
überzeugt, dass das nicht nur heute, sondern auch in Zu-
kunft Gegenstand der politischen Auseinandersetzung
sein wird.

Die Politik ist aufgefordert, dafür zu sorgen, dass den
bedürftigen Menschen die entsprechende soziale Unter-
stützung gewährt wird. Ich glaube, dass die Große Koali-
tion das gewährleistet. Es ist wichtig, darzustellen, dass
gewährleistet ist, dass diese Menschen in Würde leben
können.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Max Straubinger
Die Höhe der Leistungen ist heute schon vielfach er-
wähnt worden. Ich möchte darauf hinweisen, dass diese
nach der Einkommens- und Verbrauchsstatistik ermittelt
wird. Darin wird alles berücksichtigt, was zu einem
menschenwürdigen Leben notwendig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch die Mehrwertsteuererhöhung?)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608810100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin aus der Fraktion Die Linke?


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1608810200

Ja.


Kornelia Möller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608810300

Vielen Dank. – Herr Straubinger, aus Ihrem Einstieg

schließe ich, dass Sie zum Beispiel unsere Anträge zum
Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung und
zur Verbesserung der Beschäftigungschancen Älterer
nicht kennen, obgleich wir beide Mitglied des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales sind. Wenn es so ist, dass Sie
diese beiden Anträge nicht kennen, dann lasse ich sie Ih-
nen sehr gerne zukommen. Sie müssten mir nur bestäti-
gen, dass Sie sie noch nicht kennen.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1608810400

Verehrte Kollegin Möller, ich habe Ihre Anträge gele-

sen. Ich werde darauf später noch zurückkommen. Es
geht doch nicht um die Beschäftigung im öffentlichen
Bereich. Wir wollen, dass mehr Menschen in den ersten
Arbeitsmarkt kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihre Vorstellungen drehen sich immer nur um den
Staat. Unsere Vorstellungen zielen letztendlich auf mehr
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im ersten
Arbeitsmarkt. Dazu soll es durch die von uns gesetzten
wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen kommen.
Diesbezüglich kann diese Bundesregierung auf großar-
tige Erfolge verweisen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die beste Sozialpolitik ist eine Politik, die dafür sorgt,
dass es mehr Beitrags- bzw. Steuerzahler gibt. Das erfor-
dert letztendlich, dass die Eigenverantwortlichkeit der
Menschen gestärkt wird. Dazu stehen wir. Darüber hi-
naus ist es erforderlich, dass es effektive Strukturen gibt,
zum Beispiel, um die sozialpolitischen Aufgaben zu be-
wältigen. Sämtliche Anträge, die wir heute beraten, ste-
hen damit im Zusammenhang.

Heute wurde bereits in vielfältiger Weise dargelegt:
Die Bundesregierung und diese Koalition können auf
große Erfolge im Jahr 2006 zurückblicken. Das ist ein
Ansporn, den Bürgerinnen und Bürgern auch in Zukunft
die Möglichkeit zu geben, am ersten Arbeitsmarkt teil-
zuhaben. Von den wirtschaftsrelevanten Daten gehen po-
sitive Signale aus, dass sich der Trend einer sinkenden
Arbeitslosigkeit im Jahr 2007 fortsetzt – im abgelaufe-
nen Jahr ist die Arbeitslosigkeit um über 600 000 gesun-
ken –, sodass am Ende dieses Jahres wiederum vermel-
det werden kann: 300 000 oder 400 000 Menschen
haben zusätzlich Arbeit gefunden und gehen einer so-
zialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bei 1,6 Millionen offenen Arbeitsstellen muss das er-
reicht werden.

Es gibt verschiedene Elemente. Die Hartz-Gesetze
haben sich bisher – trotz manchem, was nachjustiert
werden musste – sehr positiv entwickelt. Der Ansatz
„Fördern und Fordern“ muss und wird gleichermaßen
weiterverfolgt werden.

Die Anträge der Linken sind meines Erachtens kon-
traproduktiv. Die Linken fordern in ihrem Entschlie-
ßungsantrag zum Beispiel einen Mindestlohn von
8 Euro. Das übertrifft sogar noch die Forderungen der
Gewerkschaften. Was würde es bedeuten, wenn man die-
ser Forderung nachkäme? Es würde zuerst einmal die
Aushöhlung der Tarifautonomie – Gewerkschaften und
Arbeitgeber verhandeln frei über die Höhe der Löhne –
bedeuten; man würde also den Pfad der Tarifautonomie
verlassen. Ich glaube, dass die Tarifautonomie in der
Vergangenheit für eine gute Entwicklung stand. Die bei-
den Tarifpartner sind meines Erachtens auch in sozialpo-
litischer Hinsicht verlässliche Partner, wenn es nämlich
darum geht, gute Löhne auszuhandeln, die für die Men-
schen in Deutschland die Sicherung ihrer Existenzgrund-
lage gewährleistet.

Würde man der Forderung der Linken nachkommen,
hätte dies natürlich auch die Verlagerung von Arbeits-
plätzen ins Ausland zur Konsequenz. Die Einführung ei-
nes Mindestlohns hätte zur Folge, dass die Schwarzar-
beit zunimmt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es wird gefordert – für mich ist das zum Teil unver-
ständlich, auch wenn es von der arbeitsmarktpolitischen
Seite her nachvollziehbar zu sein scheint –, unseren Ar-
beitsmarkt im Bereich der Saisonarbeit in der Landwirt-
schaft abzuschotten. Die Begründung dafür lautet: Diese
Tätigkeiten müssen von inländischen Arbeitsuchenden
ausgeübt werden. Das ist an sich richtig. Der Tariflohn
liegt bei 5,20 Euro. Bei einem Mindestlohn von 8 Euro
und vor dem Hintergrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit
in Europa ab 2009 oder ab 2011 werden nach meiner
Überzeugung vor allen Dingen diejenigen Menschen aus
dem Arbeitsprozess gedrängt werden,


(Kornelia Möller [DIE LINKE]: Sie haben es nicht verstanden!)


die am Arbeitsleben aufgrund persönlicher Einschrän-
kungen nicht teilhaben können. Das wird die große Ge-
fahr bei einem hohen Mindestlohn sein, werte Kollegin
Möller. Das sollten Sie hierbei auch bedenken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In ihrem Antrag fordern die Linken auch, dass die
Zumutbarkeitsregelungen zur Arbeitsaufnahme in
mehreren Bereichen verändert werden. Vor allen Dingen






(A) (C)



(B) (D)


Max Straubinger
soll in dem Zusammenhang zukünftig die politische und
religiöse Gewissensfreiheit geschützt werden. Ich frage
mich natürlich, was darunter alles zu verstehen ist. Das
bedeutet natürlich eine tolle Wandlung. Früher, als Sie
noch „SED“ hießen und die SED die Verantwortung
hatte, haben Sie mit dem Freien Deutschen Gewerk-
schaftsbund die Leute genötigt, Arbeit aufzunehmen,
ohne Bezahlung, und dafür den Sozialismus zu verbrei-
ten. Heute bereiten Sie ein anderes Einstiegsprogramm
vor. Da gibt es eine Partei, die zum Spruch des Tages er-
hoben hat – ich zitiere –: „Lieber einen Bauch vom Sau-
fen als einen Buckel vom Arbeiten“


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


und als Lebensweisheit verkündet: Solange der Bauch
noch in die Weste passt, wird keine Arbeit angefasst.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das ist ja ungeheuerlich!)


Das ist letztlich das Einstiegsprogramm für Faulenzer
in unserem Land. Das kann meines Erachtens nicht Ziel
einer Politik in diesem Land sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Heinz-Peter Haustein [FDP])


Ich darf mich ganz kurz auch noch mit dem Antrag
der FDP befassen. Mir ist eines aufgefallen: Sie wollen
die Bundesagentur für Arbeit auflösen bzw. zerschlagen.


(Dirk Niebel [FDP]: Nein, auflösen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608810500

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage

der Kollegin Möller, auch wenn Ihre Redezeit dem Ende
zugeht?


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1608810600

Ich möchte das zu Ende führen.

Die FDP sagt also: Die Bundesagentur muss aufge-
löst bzw. zerschlagen werden. Es soll eine Agentur ge-
ben, die nur noch das Arbeitslosengeld auszahlt. Es soll
daneben Jobcenter geben. Ich lese hier – ich zitiere aus
dem Antrag –:

Die Job-Center sind Anlaufstellen für alle arbeitsu-
chenden Personen. Sie gewährleisten eine umfas-
sende Betreuung und treffen alle im Einzelfall not-
wendigen Entscheidungen. Sie koordinieren alle
Kompetenzen, die zur Eingliederung in Erwerbsar-
beit und zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit
notwendig sind.


(Dirk Niebel [FDP]: Sehr vernünftig!)


Ich glaube, dass diese Aufgaben derzeit die BA schon
sehr gebündelt erledigt.


(Dirk Niebel [FDP]: Nein!)


Deshalb wäre es Unsinn, jetzt ein neues Schild zu kreie-
ren. Sie, Herr Kollege Niebel – das gilt auch für uns –,
haben sich seinerzeit über die Umfirmierung von „Bun-
desanstalt für Arbeit“ in „Bundesagentur für Arbeit“ auf-
geregt sowie darüber, was die neuen Schilder gekostet
haben. Letztlich würde auch Ihr Vorschlag wieder nur
bedeuten, dass neue Schilder angeschafft werden müssen –


(Dirk Niebel [FDP]: Nein! Leider nein!)


von den Wahltarifen abgesehen, die meines Erachtens
nicht sehr zielführend sein können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Werte Frau Präsidentin, ich bedanke mich, auch dafür,
dass ich drei Sekunden überziehen durfte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Dass Sie so oberflächlich lesen, hätte ich nicht gedacht! Wenn Sie Ihre Klage so schlampig vorbereitet haben, wie Sie den Antrag gelesen haben!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608810700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 16/2684, 16/3538 und 16/4749 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu über-
weisen. Der Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/4774 soll an dieselben Aus-
schüsse wie die Vorlage auf Drucksache 16/2684 und
zusätzlich an den Rechtsausschuss überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe: Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 j
und 12 b sowie Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:

27 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des All-
gemeinen Eisenbahngesetzes

– Drucksache 16/4198 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fa-
kultativprotokoll vom 8. Dezember 2005 zum
Übereinkommen über die Sicherheit von Per-
sonal der Vereinten Nationen und beigeordne-
tem Personal

– Drucksache 16/4381 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Absatzfondsgesetzes und des Holzab-
satzfondsgesetzes

– Drucksache 16/4692 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Ersten Gesetzes zur Änderung
des Bundesgrenzschutzgesetzes

– Drucksache 16/4665 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Angelika Brunkhorst, Patrick
Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Schutz und Nutzung der Meere – Für eine in-
tegrierte maritime Politik

– Drucksache 16/4418 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Mechthild
Dyckmans, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Rechtssicherheit schaffen – Musterwiderrufs-
belehrung für Verbraucherverträge überar-
beiten

– Drucksache 16/4452 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Nationales Klimaschutzprogramm

Sechster Bericht der Interministeriellen Ar-
beitsgruppe „CO2-Reduktion“

– Drucksache 15/5931 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz (Herborn), Kai Gehring, Brigitte Pothmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Lebenslanges Lernen fördern
– Drucksache 16/4748 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Wettbewerbsnachteile der deutschen Land-
wirtschaft durch EU-weite Angleichung der
Besteuerung von Agrardiesel abbauen
– Drucksache 16/4186 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP

Fischartenschutz fördern – vordringliche Maß-
nahmen für ein Kormoranmanagement
– Drucksache 16/3098 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

12 b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-

(ERPWirtschaftsplangesetz 2007)

– Drucksache 16/4376 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

ZP 2a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Fahrpersonalgesetzes
– Drucksache 16/4691 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Chancen für Frauen auf dem Ausbildungs-
und Arbeitsmarkt verbessern
– Drucksache 16/4737 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein-
fachten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/4186 zu
Tagesordnungspunkt 27 i soll zur federführenden Bera-
tung an den Finanzausschuss und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz überwiesen werden. Die Vorlage auf
Drucksache 16/3098 zu Tagesordnungspunkt 27 j soll
federführend im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit beraten werden. Sind Sie damit
einverstanden? – Auch das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 f
auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla-
gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Zunächst Tagesordnungspunkt 28 a:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– zu der Verordnung der Bundesregierung

Siebenundsiebzigste Verordnung zur Ände-
rung der Außenwirtschaftsverordnung

– zu der Verordnung der Bundesregierung

Einhundertvierundfünfzigste Verordnung
zur Änderung der Einfuhrliste
– Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz –

– Drucksachen 16/4106, 16/4248 Nr. 2.1, 16/4107,
16/4248 Nr. 2.2, 16/4598 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/4598, die Aufhebung der Ver-
ordnungen auf den Drucksachen 16/4106 und 16/4107
nicht zu verlangen. Wer stimmt für die Beschlussemp-
fehlung? – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.

Nun kommen wir zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 28 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 190 zu Petitionen

– Drucksache 16/4565 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 190 ist damit mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 191 zu Petitionen

– Drucksache 16/4566 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 191 ist damit bei Gegen-
stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 28 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 192 zu Petitionen

– Drucksache 16/4567 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 192 ist damit bei Gegen-
stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 28 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 193 zu Petitionen

– Drucksache 16/4568 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 193 ist damit bei Gegen-
stimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Die
Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 28 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 194 zu Petitionen

– Drucksache 16/4569 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 194 ist damit mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN

Zustand der Deutschen Bahn AG vor dem
Börsengang

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als
erstem Redner dem Kollegen Winfried Hermann aus der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608810800

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung hat gestern gemeinsam, und zwar einstimmig,
einen wichtigen Beschluss gefasst: Wir richten einen






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Hermann
Unterausschuss zum Zustand des Netzes der Deutschen
Bahn ein. Das ist wirklich wichtig und gut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Uwe Beckmeyer [SPD]: Sagen Sie mal der Öffentlichkeit, wer das vorgeschlagen hat!)


Dass wir uns kritisch mit diesem Netz befassen müssen,
ist inzwischen Konsens aller Expertinnen und Experten.

Es ist eigentlich ein Skandal, dass wir drei Jahre nach
einem Beschluss des Deutschen Bundestages immer
noch keinen aussagekräftigen Infrastruktur- bzw. Netz-
zustandsbericht von der Deutschen Bahn vorgelegt be-
kommen haben. Dieser ist höchst überfällig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Es ist nicht nur ein Skandal, sondern auch ein Ärgernis,
dass es das Verkehrsministerium in all diesen Jahren
nicht geschafft hat, so etwas gegenüber seinem großen
eigenen Betrieb durchzusetzen. Jetzt soll ein Text vorlie-
gen, mit dem selbst das Ministerium nicht zufrieden ist.

Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen ist
viel über den Zustand des Netzes geschrieben worden.
Selbst wenn da die eine oder andere Übertreibung dabei
gewesen ist, kommt man, wie ich glaube, nicht umhin,
festzustellen, dass der Zustand des Netzes beklagenswert
ist. Es gibt viele, zu viele Baustellen. Es ist offenkundig
zu lange zu wenig in die Pflege gesteckt, zu lange zu we-
nig in den Erhalt investiert worden. Das muss dringend
geändert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Man hat auch den Eindruck, dass sich die DB AG, um
eine gute Bilanz für den Börsengang hinzubekommen,
die Mittel für die Pflege spart und so lange die Strecken
befährt, bis der Schienenkörper ersetzt werden muss.
Das heißt, es muss dann vom Bund bezahlt werden und
nicht mehr von der Bahn. Auch das ist ein Fehlanreiz,
den wir festgestellt haben, der dringend beseitigt werden
muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dorothée Menzner [DIE LINKE])


Meine Damen und Herren, all dies zeigt, dass es
höchste Zeit wird, dass wir als Eigentümer genauer auf
unser Eigentum achten und es ein Stück weit der DB AG
entziehen. Ich zitiere einmal:

Die Infrastrukturgesellschaften werden vor der Ka-
pitalprivatisierung ins Eigentum des Bundes über-
führt. Juristische Risiken für die eigentümerrechtli-
che Position des Bundes müssen ausgeschlossen
werden.

Das ist der Beschluss der Großen Koalition vom Novem-
ber 2006.


(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie hätten zustimmen sollen!)

– Der Bundestag hat mehrheitlich zugestimmt. – Ich
kann nur sagen: Lassen Sie uns das umsetzen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was geschieht aber? Inzwischen liegt ein Entwurf zur
Privatisierung der DB AG aus dem Hause Tiefensee vor.
Er beinhaltet das glatte Gegenteil von dem, was im Prin-
zip damals verabschiedet wurde, das glatte Gegenteil
von allen Bedenken, die von allen Experten gegenüber
den ersten Entwürfen vorgebracht worden sind. Eigent-
lich wird versucht, das alte Tiefensee-Modell, das soge-
nannte Eigentumssicherungsmodell – wer immer das
versteht –, wieder in Form eines neuen Gesetzentwurfes
vorzulegen.

Ärgerlich an der ganzen Geschichte ist, dass der Chef
des Bahnkonzerns den Entwurf kritisiert und dem Herrn
Minister einen Brief geschrieben hat, den sogenannten
Bömbchenbrief. Der heißt so, weil Bömbchen am Rand
waren, mit denen auf das hingewiesen wurde, was aus
DB-Sicht problematisch ist und geändert werden muss,
weil es so nicht privatisierungsfähig ist. Und was ge-
schieht? Wenige Wochen später liefert der Minister ei-
nen entsprechenden Entwurf – alle Kritikpunkte besei-
tigt. Man fragt sich allen Ernstes: Ist das Ministerium
eigentlich eher der DB verantwortlich oder dem Deut-
schen Bundestag bzw. dem Grundgesetz?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie der Abg. Dorothée Menzner [DIE LINKE])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss sich
nicht wundern, dass inzwischen in manchen Medien als
Nachfolger von Mehdorn Herr Tiefensee ausgerufen
wird, nach dem Motto: Er bereitet sich seinen späteren
Platz schon vor. Jedenfalls kann man sich dieses Ein-
drucks nicht erwehren, wenn man sieht, wie willfährig
das Ministerium alles tut, was die Bahn sagt, und wie es
die Eigenverantwortung der Politik nicht wahrnimmt.

Wir haben gegenüber diesem Gesetzentwurf erhebli-
che Bedenken. Diese sind, dass der Bund sein Eigentum
nur formal kurze Zeit hält, um es dann der DB zu über-
eignen, dass sie dieses Eigentum 15 Jahre, vielleicht so-
gar 25 Jahre haben soll, dass der Bund die Stimmrechte
gleich an die DB abgibt und zudem noch zusagt,
37 Milliarden Euro über 15 Jahre regelmäßig zu zahlen.
Da kann ich nur sagen, Genossinnen und Genossen:
Über diese Zusage freuen sich die Heuschrecken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In allen Fraktionen gibt es Abgeordnete, die darüber
nachdenken, wie wir mit dem Volksvermögen im Be-
reich der Bahn, das in vielen Jahren angespart worden
ist, verantwortungsbewusst umgehen können. Dieses
Gesetz ist jedenfalls in keinem Punkt eine Antwort auf
diese Frage. Im Gegenteil, es ist ein billiger Ausverkauf,
eine Schenkung. Das ganze Gesetz ist extrem verquast
und kompliziert. Die Politik ist weitgehend außen vor.
Wir werden zukünftig vor allen Dingen einen Streit zwi-
schen den Rechtsabteilungen des Ministeriums und der
DB haben. Ich kann Ihnen sagen, wie das ausgeht: Mit
Sicherheit geht es nicht gut für das Ministerium aus.






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Hermann
Denn das Ministerium ist schon heute nicht in der Lage,
einem solchen Konzern Paroli zu bieten.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608810900

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit!


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608811000

Ich komme zum Schluss. – Der Gesetzentwurf ist

grundlegend falsch. Schmeißen Sie ihn in den Papier-
korb! Er kann auch nicht mehr verschlimmbessert wer-
den. Wir sollten uns im Unterausschuss erst einmal kri-
tisch mit dem Netzzustand befassen, dann überlegen,
wie es weitergeht, in jedem Fall sicherstellen, dass die
Infrastruktur in öffentlicher Hand bleibt, und schließlich
in einer nächsten Periode den Börsengang mit klarem
Kopf neu angehen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608811100

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter

Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Martin Burkert [SPD])



Dr. Hans-Peter Friedrich (CSU):
Rede ID: ID1608811200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Jawohl, es ist richtig, dass der Verkehrsaus-
schuss mit den Stimmen aller Fraktionen diesen Unter-
ausschuss eingesetzt hat, um eine stärkere Kontrolle bei
der Bahn bezüglich des Netzes ausüben zu können.

Lieber Kollege Hermann, man muss aber schon fair
bleiben: Die Deutsche Bahn AG ist 13 Jahre nach der
Privatisierung ein vorzeigbares und leistungsfähiges Un-
ternehmen, das international anerkannt ist. Das verdan-
ken wir den Mitarbeitern der Bahn und auch dem Steuer-
zahler, der viele Milliarden Euro in die Bahn gesteckt
hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist wohl wahr!)


Es ist keine Frage, dass es Anlass zur Kritik am Zu-
stand des Netzes gibt. Diese Kritik gab es schon seit län-
gerem, inzwischen auch dokumentiert vom Bundesrech-
nungshof. Nun beginnt die Ursachenforschung; auch Sie
beteiligen sich daran. Die einen sagen, die DB schöne
die Bilanz dadurch, dass sie Investitionen vernachläs-
sige. Die anderen sagen, die Politik habe der Bahn sol-
che ausufernden Aufgaben gestellt, dass sie keine finan-
ziellen Spielräume mehr hatte, um ausreichend Mittel in
das Netz zu stecken.

Das ist ein müßiger Streit. Fest steht, dass der Bund,
der Staat, einen Infrastrukturauftrag hat


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das steht aber nicht in der Verfassung!)

und dass er mithilfe der Deutschen Bahn AG diesen
Auftrag wahrnehmen will. Das ist ein Faktum. Dazu ge-
hört natürlich, dass man denjenigen, den man mit der
Wahrnehmung seiner Aufgaben beauftragt, kontrolliert.

Der Bundesrechnungshof stellt in seinen Prüfberich-
ten zwischen 2001 und 2005 fest, dass die Aufwendun-
gen für die Netzinstandhaltungen deutlich unter dem Be-
darf lagen. Ich frage nun Sie, lieber Kollege Hermann
von den Grünen: Wer hat denn 2001 bis 2005 regiert?
Wenn ich mich richtig erinnere, waren zu dieser Zeit die
Grünen in der Regierung. Das aber haben Sie wie auch
wir inzwischen verdrängt.


(Norbert Königshofen [CDU/CSU]: Und saßen im Aufsichtsrat!)


Die Grünen stellten sogar – vielen Dank, Norbert
Königshofen – einen Aufsichtsrat. Warum hat er nicht all
die Kontrollen, die Sie jetzt fordern, vorgenommen?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich stelle fest, dass wir aufgrund der Mängel, die fest-
gestellt worden sind, die Kontrollen verstärken werden.
Wir werden das nachholen, was Sie, meine Damen und
Herren von den Grünen, in Ihrer Regierungszeit ver-
säumt haben.

Der Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein in die-
sem Zusammenhang. Denn in ihm wird festgelegt, wie
diese Kontrolle vor sich gehen soll: Erstens. Wir werden
vor einem Börsengang dafür sorgen, dass der Bund
Eigentümer des Netzes bleibt. Das ist der wichtigste
Punkt in diesem Gesetzentwurf. Zweitens. Wir werden
der Deutschen Bahn AG das Recht einräumen, dieses
Netz zu nutzen. Sie wird 2,5 Milliarden Euro erhalten,
um das Netz instand zu setzen. Die Bahn bekommt das
Geld aber nicht unkonditioniert. Wir werden ihr nämlich
genau vorschreiben – das können Sie im Gesetzentwurf
nachlesen –, wie viel sie aus eigenen Mitteln investieren
muss.

Wir werden ihr auch genau vorschreiben, wo sie wel-
che Investitionen tätigen muss, indem wir Qualitäts-
merkmale mit technischen Parametern festlegen. Wir
werden genau regeln, wie der Zustand von Brücken,
Stützmauern, Entwässerungssystemen, Stromleitungen
und Signalanlagen sein muss. Wenn Sie den Gesetzent-
wurf lesen, dann können Sie erkennen, dass all diese
Punkte aufgenommen worden sind. Deswegen kann man
sagen, dass es ein sehr guter Entwurf ist. Sie können
sicher sein, dass wir peinlich darauf achten werden
– auch das steht in dem Gesetzentwurf –, dass uns von
der Deutschen Bahn AG, auch nach einem nächsten Pri-
vatisierungsschritt, ein jährlicher Netzzustands- und Ent-
wicklungsbericht vorgelegt wird.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube!)


– Entschuldigung, das wird geltendes Recht sein.


(Lachen des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)

Ich denke, dass wir mit dem von dem Minister vorge-
legten Gesetzentwurf auf einem guten Weg sind. Der im
Dezember im Deutschen Bundestag gefasste Beschluss
hat leider nicht Ihre Unterstützung bekommen. Ich kann
nicht verstehen, warum Sie diesem Beschluss nicht zu-
gestimmt haben. Denn in ihm steht, dass der Bund Ei-
gentümer der Infrastruktur der Bahn bleibt.

In diesem Gesetzentwurf wird der eine oder andere
Punkt noch nachgearbeitet werden; das ist überhaupt
keine Frage. Entschuldigung: Dafür sind wir als Parla-
ment da. Denn es ist nicht unsere Aufgabe, einen Regie-
rungsentwurf eins zu eins abzunicken. Vielmehr werden
wir in den Ausschüssen mithilfe von Sachverständigen
und auch mit der fachkundigen Hilfe der Opposition das
eine oder andere noch korrigieren. Ich denke, dass der
Entwurf eine sehr gute Grundlage ist, mit der wir gut vo-
rankommen werden.

Wir haben genügend Zeit. Der Bundeswirtschaftsmi-
nister hat beantragt, seine Beratungszeit für die Ressort-
abstimmung bis Ende April auszudehnen. Ich begrüße
das ausdrücklich, weil wir dann auch in unserer Fraktion
Zeit haben, darüber zu diskutieren. Der Entwurf muss
auch mit den Ländern diskutiert werden. Ich denke, wir
können froh sein, dass wir beim Thema Bahn insgesamt
auf einem guten Wege sind.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608811300

Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich für die

FDP-Fraktion.


Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1608811400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Namenskollege, das ist genau das Problem der
Union: Sie glauben zu viel von dem, was Ihnen die Bahn
vermeintlich zusagt,


(Rainer Brüderle [FDP]: So sind sie!)


und prüfen nicht nach, ob sie das, was sie nach den be-
stehenden Gesetzen eigentlich schon jetzt machen
müsste, auch macht.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wie soll das dann besser werden?

Indem Sie jetzt einen Kunstgriff vornehmen – dies er-
gibt sich aus dem Gesetzentwurf, der formal gar nicht
vorliegt, weil er noch nicht in der Ministeriumsabstim-
mung war –, treten Sie noch mehr Rechte an die Bahn
ab. Sie treten ja sogar Ihre Zustimmungsrechte, über die
Sie im Aufsichtsrat verfügen, schon vorher an die Bahn
ab. Wie soll dann bitte schön die Kontrolle dessen, was
die Bahn insbesondere im Infrastrukturbereich macht,
besser werden? Das Parlament hat dann gar nichts mehr
zu sagen. Es darf allerdings das Geld durchreichen, und
zwar am besten fest verpflichtet auf zehn Jahre und ohne
jede Änderung.

(Klaas Hübner [SPD]: Quatsch! Lesen bildet! – Sören Bartol [SPD]: Das ist überhaupt nicht wahr!)


Sie sagen, Sie wollen Qualitätsmerkmale einführen. Wer
soll denn die dann prüfen?

Die Bundesregierung erklärt uns in ihrer Antwort auf
eine Kleine Anfrage, sie sei nicht in der Lage, detaillierte
Auskünfte über den Zustand des Netzes zu geben. Vor
diesem Hintergrund wollen Sie Qualitätskriterien ein-
führen, die uns weiterhelfen? Zu was das führen soll,
sollten Sie mir einmal deutlich erklären. Vielleicht kön-
nen Sie mich bezüglich dieses Themas dann doch noch
gläubig machen.

Aber nach dem, was ich bisher sehe, muss ich sagen:
Sie geben noch mehr Rechte an die Bahn ab. Genau das
war die Intention des Briefes von Herrn Mehdorn. Ich
bin einmal gespannt, ob ich Sie, Herr Dr. Friedrich, an
Ihren Aussagen, die Sie im Oktober letzten Jahres der
„Welt“ gegenüber gemacht haben, messen kann oder
nicht. Für den Fall, dass Sie nicht mehr wissen, was Sie
damals gesagt haben, lese ich Ihnen eine Ihrer Aussagen
noch einmal vor:

Wir wollen, dass der Bund auch künftig aus der Po-
sition des Eigentümers mit der Bahn verhandeln
kann.

Wenn Sie das ernst meinen, können Sie dem, was dazu
vorliegt, eigentlich nicht zustimmen. So können Sie
dann nämlich nicht mehr verhandeln. Das ist das eigent-
lich Entscheidende.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nun aber noch zu einigen anderen Punkten. Die Aktu-
elle Stunde hat ja den Titel „Zustand der Deutschen
Bahn AG vor dem Börsengang“. Herr Kollege, es be-
steht ja noch außerhalb von Aktuellen Stunden ausrei-
chend Zeit, über den entsprechenden Gesetzentwurf zu
reden. Die Frage ist: Ist das, was uns als sogenannte Er-
folgsstory vorgestellt wird, tatsächlich eine Erfolgs-
story? Sind die Wirtschaftsdaten, die Wirtschaftszahlen
bzw. die Kennzahlen tatsächlich so, wie sie dargestellt
werden, oder haben wir vielleicht Grund zur Annahme,
dass dies nicht ganz so ist?

Ich will Sie auf eines hinweisen: Die Bahn spricht seit
2005 im Hinblick auf ihre Bilanzkennzahlen nur noch
vom EBIT, also von den „earnings before interest and ta-
xes“. Das ist also der Ertrag vor Abzug von Steuern. Sie
vergleicht das mit dem Betriebsergebnis II. Das Be-
triebsergebnis ist aber das Ergebnis nach Steuern. Das ist
für mich ein Vergleich von Äpfeln und Birnen. Ich habe
nichts dagegen, dass man das EBIT als Kennzahl heran-
zieht. Aber dann bitte kontinuierlich, also auch in der
Vergangenheit!


(Klaas Hübner [SPD]: Das ist aber kleines Karo, Herr Kollege!)


– Das ist nicht kleines Karo, Herr Kollege Hübner. Es ist
schlimm, dass ein Haushälter so einen Zuruf macht. Den
Unterschied sollten Sie kennen. Es ist nämlich ein Un-






(A) (C)



(B) (D)


Horst Friedrich (Bayreuth)

terschied, ob ich als Kennzahl das EBIT mit einer
Summe von 1,35 Milliarden Euro heranziehe oder ob ich
davon noch die zu zahlenden Steuern von 1,264 Milliar-
den Euro abziehen muss. Dann bleiben nämlich nur rund
100 Millionen Euro übrig. Und das ist schon ein Unter-
schied. Wenn Sie das nicht mehr unterscheiden können –
okay. Aber für mich ist es schon entscheidend, ob das so
oder anders gemacht wird.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein anderes Thema ist natürlich: Was macht die Bahn
tatsächlich mit den Geldern? Wo sind sie angekommen?
Ich will darstellen, was die gesetzliche Grundlage für die
Finanzierung von Schieneninvestitionen normalerweise
ist. In den diesbezüglichen Regelungen steht sinngemäß:
Der Bund finanziert die Fernverkehrswege der Bahn in
aller Regel mit zinslosen Darlehen, in Ausnahmefällen
mit verlorenen Zuschüssen.

Rot-Grün hat das 1999 umgestellt. Es wird fast aus-
schließlich nur noch mit verlorenen Zuschüssen finan-
ziert. Ein Vorteil dieser Finanzierung ist: Die Bahn ist
nicht verpflichtet, diese Strecken in der Bilanz zu akti-
vieren. Für Investitionen, die ich in meiner Bilanz nicht
aktiviere, muss ich auch keine Abschreibungen vorse-
hen. Nicht umsonst hat der Bundesrechnungshof in ei-
nem anderen Bericht nachgewiesen, dass der anrechen-
bare Vorteil für die Bahn allein aufgrund dieser Situation
bei ungefähr 750 Millionen Euro im Jahr liegt. Bisher
habe ich noch niemanden gehört, der diese Zahl in Zwei-
fel gezogen hat. Das ist nur eine Alternative, an die man
denken sollte.

Am schönsten ist jetzt, dass man sagt, man müsse das
Ganze machen, um der Bahn den Weg als international
tätiger Logistikdienstleister nicht zu verbauen. Da kann
ich nur sagen: Wir haben schon einen international täti-
gen Logistikdienstleister; er bietet weltweit Logistik an.
Der finanziert das aus der kärglichen Monopolrendite
beim Briefporto.


(Rainer Brüderle [FDP]: Das wird gerade verlängert!)


Ich möchte nicht, dass mit dem Rückgriff auf den
Staat – nämlich mit mindestens 51 Prozent Eigentümer-
schaft des Bundes – ein zweiter weltweit agierender
Dienstleister entsteht, der Privatfirmen Konkurrenz
macht, die in dieser Situation nicht auf den Staat zurück-
greifen können.

Das ist nicht nötig. Der deutsche Steuerzahler muss
nicht das Risiko für Investitionsentscheidungen einge-
hen, die die Deutsche Bahn in Asien, in Amerika oder
sonst wo in der Welt vorhat. Das ist das eigentliche Pro-
blem, und das müssen wir lösen.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608811500

Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentari-

sche Staatssekretär Achim Großmann das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


A
Achim Großmann (SPD):
Rede ID: ID1608811600


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ein starker Verkehrsträger „Schiene“ mit wett-
bewerbsfähigen Eisenbahnunternehmen ist ein wesentli-
cher Eckpfeiler der von der Bundesregierung verfolgten
integrierten Verkehrspolitik. Durch eine effiziente Ver-
netzung der Verkehrsträger, durch die Sicherung der An-
gebotsvielfalt und durch die Nutzung der neuen Logis-
tikkonzepte soll ein Gesamtsystem geschaffen und
optimiert werden.

Der Schiene kommt hierbei – nicht zuletzt aus um-
weltpolitischen Gründen – eine besondere Bedeutung
zu. Nach wie vor gilt das Ziel der Bahnreform 1994,
mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bei der Fortführung der Bahnreform stehen wir jetzt
vor einem entscheidenden Schritt. Nach sorgfältiger
Analyse verschiedener Varianten und intensiver Prüfung
der damit verbundenen Auswirkungen hat der Deutsche
Bundestag Eckpunkte zu einer Teilprivatisierung noch in
dieser Legislaturperiode beschlossen.

Danach kommen die Eisenbahninfrastrukturunterneh-
men in das Eigentum des Bundes. Noch einmal: Sie
kommen in das Eigentum des Bundes. Hier ist ja mehr-
fach gesagt worden, wir hätten sie jetzt im Eigentum. Sie
sind jetzt im Eigentum einer Aktiengesellschaft und wir
sind 100-prozentiger Eigentümer dieser Aktien.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen wir!)


Aber wir nehmen sie jetzt in das Eigentum des Bundes.


(Lachen des Abg. Ulrich Maurer [DIE LINKE])


Damit ist klar, dass Investoren an Netz und Bahnhöfen
nicht beteiligt werden. Investoren werden an Netz und
Bahnhöfen nicht beteiligt.

Ich habe diese beiden Sätze jetzt doppelt gesprochen,
damit es einen Lerneffekt gibt, weil draußen – auch in
vielen Medien – immer wieder das Gegenteil behauptet
wird. Wir müssen einmal anfangen – wir können uns
auch über Argumente streiten –, uns über Wahrheiten
auseinanderzusetzen, und nicht über Unterstellungen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die DB AG soll aber die Bewirtschaftung und Be-
triebsführung des Netzes wahrnehmen und dieses auch
bilanzieren. Das bedeutet, dass sie auch Verantwortung
für das Netz hat. Aber wir stellen im Gesetzentwurf
– das, Herr Hermann, haben Sie alles nicht zitiert – si-
cher, dass das Eigentum an der Infrastruktur vom Bund
in ganz wesentlichen Positionen nicht gefährdet werden
kann.






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Achim Großmann
Der vorzulegende Gesetzentwurf – es ist schon gesagt
worden: Er ist in der Ressortstimmung – muss zum ei-
nen sichern, dass der Bund seiner verfassungsrechtlichen
Gemeinwohlverpflichtung nachkommen kann. Zum an-
deren hat er aber das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit des
Unternehmens DB AG zu stärken, ihm die Bilanzie-
rungsfähigkeit der Eisenbahninfrastrukturunternehmen
zu erhalten und damit zusätzliche Schulden und Risiken
für den Bundeshaushalt auszuschließen, im Gegenteil:
Die Bahn geht mehr Risiko ein. Wir begrenzen die finan-
ziellen Mittel, die der Bund bei mehr Qualität, bei mehr
Transparenz und bei mehr Wettbewerb geben muss.

Gemeinwohl auf der einen Seite, ein starker Partner
auf der anderen Seite: Nur durch ein solches Konzept
können wir eine effiziente, bezahlbare und kundennahe
Schieneninfrastruktur auf Dauer schaffen und erhalten.
Eine bereits im Gesetz strukturierte Leistungs- und Fi-
nanzierungsvereinbarung gewährleistet die Definition,
die Umsetzung und die Kontrolle des grundgesetzlichen
Infrastrukturauftrages des Bundes. Das ist eine deutliche
Verbesserung gegenüber dem, was wir zurzeit machen
können.

Voraussetzung für die Teilprivatisierung ist, dass die
DB AG durch die notwendigen Fortschritte bei der Un-
ternehmenssanierung die Kapitalmarktfähigkeit des Un-
ternehmens nachweist. Die aktuellen Ergebnisse zeigen,
dass die DB AG dabei auf einem guten Weg ist. Im ver-
gangenen Jahr entwickelte die DB AG sich außerordent-
lich positiv. Sie hat den Wachstumstrend der letzten
Jahre eindrucksvoll bestätigt. Die DB AG hat die Erwar-
tungen hinsichtlich Umsatz und Ergebnis übertroffen.
Der Umsatz stieg im Jahre 2006 auf rund 30 Milliarden
Euro. Dabei erwirtschaftete die DB AG einen Gewinn
vor Steuern und Zinsen von mehr als 2 Milliarden Euro.
Wichtige Finanzkennzahlen konnten deutlich verbessert
werden. Damit hat die DB AG einen sehr großen Schritt
in Richtung Kapitalmarktfähigkeit getan. So haben sich
Umsatz und Verkehrsleistung gut entwickelt. Anderer-
seits gibt es Erfolge beim Kostenmanagement. Die posi-
tive wirtschaftliche Entwicklung im vergangenen Ge-
schäftsjahr vollzog sich in fast allen Geschäftsfeldern.
Hierbei sind die Geschäftsfelder Railion und Fernver-
kehr hervorzuheben, die im letzten Jahr die Kehrtwende,
den sogenannten Turnaround, geschafft haben.

Eine für die Bundesregierung wichtige Größe ist da-
bei natürlich die Entwicklung der Schienenverkehrsleis-
tungen. Diese konnten gegenüber dem Vorjahr sowohl
im Personen- als auch im Güterverkehr deutlich gestei-
gert werden. Rund 1,85 Milliarden Menschen waren in
Zügen der DB AG unterwegs; das sind knapp 4 Prozent
oder fast 70 Millionen mehr Fahrgäste als im Jahr 2005.
Im Schienenpersonenverkehr wuchs die Verkehrsleis-
tung der DB AG um gut 3 Prozent auf rund 75 Milliar-
den Personenkilometer. Ein wichtiger Erfolgsfaktor war
dabei die Eröffnung neuer Strecken. Zudem konnte die
DB AG – das wissen wir alle – ihre gesteigerte Leis-
tungsfähigkeit auch bei der Fußballweltmeisterschaft be-
weisen. Die Wettbewerbsfähigkeit konnte somit gestärkt
werden.
Bahnfahren wird attraktiver. Beispielsweise rückt
Leipzig bis auf eine Stunde an die Hauptstadt Berlin he-
ran. Dank der Neubau- und Ausbaustrecke Nürn-
berg–München sind diese beiden bayerischen Groß-
städte nur noch rund 60 Minuten voneinander entfernt.
Die Attraktivität des Bahnfahrens ist eine Voraussetzung
für die Fortsetzung des Trends.

Ein außerordentliches Wachstum gibt es auch bei der
Verkehrsleistung im Schienengüterverkehr. Die Railion-
Gruppe konnte im Jahr 2006 um etwa 10,5 Prozent wach-
sen. Nimmt man die Zahlen des gesamten Schienengüter-
verkehrs, also von Railion und den Wettbewerbern – sie
befördern inzwischen, wenn man den Einzelwagengüter-
verkehr ausnimmt, 25 Prozent der Menge –, erkennt man
einen Zuwachs von 8 Prozent. Das ist der höchste Zu-
wachs seit der deutschen Einheit. Bei der Verkehrsleis-
tung wurde ein Zuwachs von 10,8 Prozent erreicht; mit
105,8 Milliarden Tonnenkilometern überschritt man erst-
mals die Marke von 100 Milliarden Tonnenkilometern.

Ich darf Sie, Horst Friedrich, darauf hinweisen, was
Sie immer wieder zum Bundesverkehrswegeplan gesagt
haben. Wir haben gesagt, dass wir mit 73 Milliarden
Tonnenkilometern starten; für das Jahr 2015 haben wir
148 Milliarden Tonnenkilometer prognostiziert. Sie ha-
ben gesagt, das sei alles Schall und Rauch, wir würden
das nie erreichen. Ich nenne die Zahl noch einmal:
105,8 Milliarden Tonnenkilometer im Jahre 2006.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Schauen wir mal, wie es dieses Jahr ausschaut!)


Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die DB AG
befindet sich aus wirtschaftlicher Sicht auf gutem Wege;
das wird durch die gute Entwicklung zum Jahresbeginn
bestätigt. Wie weit die Bahn auf dem Weg zur Kapital-
marktfähigkeit ist, werden die exakten Zahlen und die In-
formationen zum wirtschaftlichen Ergebnis zeigen, die
die DB AG auf ihrer Bilanzpressekonferenz am 29. März
veröffentlicht.

Ich will Positives wie auch weniger Positives darstel-
len. Deshalb sage ich: Wir haben noch wichtige Schritte
zu tun; wir sind aber mitten bei der Umsetzung. Bei der
Frage der Immobilienzuordnung haben wir die Bahn kri-
tisiert. Wir befinden uns jetzt in einem Verfahren, bei
dem in einem ersten Schritt alle Grundstücke, die derzeit
noch bei der DB Holding angesiedelt sind, auf die DB
Netz AG übertragen werden und erst in einem zweiten
Schritt überlegt wird, welche von diesen Grundstücken
wirklich den EVUs, also den Eisenbahn-Verkehrsunter-
nehmen, zuzuordnen sind. Es geht hier um 2 bis 3 Pro-
zent der Grundstücke, die wir dann bis zum 31. Dezem-
ber zurückübertragen wollen. Dabei ist die Schrittfolge
wichtig: Zuerst alle Grundstücke zur DB Netz AG.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das soll seit 1999 eigentlich schon Gesetz sein, Herr Staatssekretär!)


Hinsichtlich des Netzzustands und der Netzentwick-
lung werden wir Ihnen gegen Ende März einen Bericht






(A) (C)



(D)


Parl. Staatssekretär Achim Großmann
der DB AG vorlegen können, der qualitativ wesentlich
besser als der aus dem letzten Jahr sein wird,


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Es gehört nicht viel dazu! Im letzten Jahr hatten wir überhaupt keinen!)


mit dem wir aber letztlich immer noch nicht zufrieden
sein können, weil er bestimmte Voraussetzungen, die wir
an den Netzzustands- und -entwicklungsbericht knüpfen
wollen, noch nicht erfüllt. Es handelt sich hierbei um ein
Verfahren, bei dem enorm viele Zahlen erhoben und um-
gesetzt werden müssen, bei dem Transparenz geschaffen
werden muss, bei dem Erläuterungen gegeben werden
müssen. Ich glaube, dass wir hier eine sehr gute Darstel-
lung bekommen.

Ich darf daran erinnern, dass gestern bei der Anhö-
rung im Verkehrsausschuss vieles aus dem Bericht des
Bundesrechnungshofes erläutert und richtiggestellt wer-
den konnte. Ich glaube, dass wir dabei sind, die Debatte
zu versachlichen.

Schließlich werden wir bald die Leistungs- und Fi-
nanzierungsvereinbarung vorlegen können.

Ich bin sicher: Wir sichern auf Dauer das Gemein-
wohl auf höherem Qualitätsniveau, in einer für den Bund
und damit für den Steuerzahler günstigeren Weise. Wir
holen die Schieneninfrastruktur, also Netz und Bahn-
höfe, zum Bund. Wir schaffen einen starken Konzern,
der uns beim Erhalt und Ausbau des Netzes finanziell
unterstützen wird. Wir erhalten den konzerninternen Ar-
beitsmarkt und sichern Ausbildungs- und Arbeitsplätze.
Wir schaffen eine umweltfreundliche und serviceorien-
tierte Bahn, die den Anforderungen der internationalen
Logistik gerecht wird. Nur so bekommen wir mehr Gü-
ter auf die Schiene.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608811700

Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Dorothée

Menzner für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608811800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir reden über den sehr kritischen Zustand unserer
Bahn. Es ist ein Skandal, wie die Deutsche Bahn AG un-
ser Schienennetz regelrecht hat verkommen lassen. Es
i
Achim Großmann (SPD):
Rede ID: ID1608811900
Genau das war nicht das Ziel der Bahnre-
form von 1994. Ziel war, mehr Verkehr auf die Schiene
zu bringen. Das ist in Teilen gelungen. Aber wie soll
noch mehr Verkehr auf die Schiene, wenn die Gleise ma-
rode sind, wenn Weichen ausgebaut und Strecken abge-
baut werden?

Konnte sich die Bundesbahn einst rühmen, das best-
unterhaltene Gleisnetz der Welt zu besitzen, so präsen-
tiert sich das Netz der Deutschen Bahn heute vielerorts
auf einem sehr fraglichen Niveau. Ich sage: Das hat Me-
thode. Die Koalition strebt an, Teile unserer Bahn an
Großinvestoren zu verhökern. Das Gleisnetz wird ver-
nachlässigt und Personal wird abgebaut oder outge-
sourct, um die Bahnbilanz zu schönen und das Unterneh-
men kapitalmarktfähiger zu machen.

Wir kennen die Liste der Kritiker; sie ist lang. Ver-
bände, Professoren und Bahnunternehmen warnen schon
seit geraumer Zeit. Erst jetzt gibt es eine Reaktion, und
zwar durch den Bericht des Bundesrechnungshofs. Er
scheint endlich einige wachgerüttelt zu haben. Dabei
kann jeder, der mit der Bahn reist, tagtäglich erleben,
wie der Zustand ist: Gleise gleichen vielerorts eher
Kräutergärten, und es gibt Verspätungen, die Nerven
rauben. Eine ganze Menge liegt im Argen. – Ich kann Ih-
nen nicht ersparen, an dieser Stelle eine ganz kurze Pas-
sage aus dem Bericht des Bundesrechnungshofes zu zi-
tieren. Als Hauptthema der Mängelschwerpunkte führen
die EBA-Stellen für das Jahr 2005 an – ich zitiere wört-
lich –:

Eine unzureichende Qualifikation des eingesetzten
Personals, ein zu geringer Personalbestand sowie
zu geringe Instandhaltungsbudgets ...

Deutlicher kann man meiner Ansicht nach nicht sagen,
dass hier zugunsten kurzfristiger Bilanzpolitik ein Unter-
nehmen kaputtgespart wird.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist ungefähr so, als wenn wir unser Häuschen ver-
lottern ließen, die Renovierungskosten sparten und sag-
ten: Wenn das Ding ganz marode ist und komplett sa-
niert werden muss, zahlt das ja der Steuerzahler. – Ich
sage: Das ist ein Irrwitz.


(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Das machen wir aber seit 1989!)


Wenn die Bahn offensichtlich schon jetzt nicht in der
Lage ist, das Gleisnetz in einem gebotenen Zustand zu
halten, dann sollten wir alle uns gemeinsam fragen, ob
die Rechtsform der Aktiengesellschaft die geeignete ist
und ob das wirklich unser zukünftiger Partner für diese
Aufgabe sein soll.

Kolleginnen und Kollegen, ein direkter steuernder
Einfluss des Bundes auf Schienen, Energieanlagen,
Bahnhöfe und die Immobilien muss dringend wiederher-
gestellt werden. Ich glaube, wir müssen nicht erst die Er-
fahrungen machen, die England gemacht hat. Das waren
schlimme Erfahrungen, aus denen sie dann gelernt ha-
ben. Vielleicht werden wir ja vorher klug.

Trotz allem legt uns das Verkehrsministerium jetzt ei-
nen Gesetzentwurf in der denkbar aggressivsten Variante
vor. Herr Staatssekretär, mit dem Gesetz wird das Wirt-
schaftsrecht auf den Kopf gestellt. Ihr Modell der Eigen-
tumssicherung begründet, wenn man den Entwurf genau
liest, ein Scheineigentum des Bundes. Mit diesem Ge-
setz geben Sie jeglichen Einfluss auf die Infrastruktur
ab, und zwar an eine Aktiengesellschaft, die lieber glo-
baler Logistiker spielt, weltweit Logistikfirmen zusam-
menkauft, Containerterminals in China baut und neuer-
dings mit Germanwings im Flugverkehr kungelt, statt

(B)







(A) (C)



(B) (D)


Dorothée Menzner
sich um das hiesige Schienennetz und den Nah- und
Fernverkehr zu kümmern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann das Ministerium nur auffordern: Halten Sie
inne! Mit dem Gesetz servieren Sie der DB AG die
Schieneninfrastruktur auf dem Silbertablett. Darüber pa-
cken sie 37,5 Milliarden Euro in 15 Jahren als süße
Soße. Zusätzlich geben Sie noch das Stimmrecht des
Bundes ab. Damit es dann richtig mundet, wird auch
noch festgeschrieben, dass Sie im Zweifelsfall das
Schienennetz für weitere Milliarden als Leergut zurück-
nehmen.

Wir haben ein Schienennetz mit einer Gesamtlänge
von 34 000 Kilometern. Wenn man genau rechnet, stellt
man fest, dass der Bahn für den Unterhalt der Strecke, je
nachdem, ob man die Neubau-, Ausbau- und Trassengel-
der mitrechnet oder nicht, ungefähr 309 000 Euro je Ki-
lometer im Jahr zur Verfügung stehen. Ich finde, das ist
sehr viel Geld. Damit müssten die Aufgaben zu erfüllen
sein. In der Vergangenheit ist das nicht geschehen. Ich
möchte wissen, wo Sie den Optimismus hernehmen,
dass der Konzern seine Hausaufgaben zukünftig trotz
weniger Aufsicht erledigt. Das müssen Sie mir einmal
erklären. Ich rate dringend zu einer Denkpause und zu
einem Neuanfang.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608812000

Nächster Redner ist nun der Kollege Enak Ferlemann

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Enak Ferlemann (CDU):
Rede ID: ID1608812100

Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Meine sehr verehr-

ten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Es ist eigentlich erfreulich, wenn man in diesem
Hause über Bahnpolitik reden kann, insbesondere wenn
der Anlass dafür von denjenigen ausgeht, die sich der
Bahnpolitik einmal sehr verschrieben haben; das hatten
Sie sich vom Bündnis 90/Die Grünen ja einmal.

Wenn man aber den Titel der heutigen Aktuellen
Stunde liest, fällt einem wieder auf, was in Deutschland
in der Politik falsch läuft. Wenn man die deutsche Ver-
kehrspolitik beobachtet und sie mit der Verkehrspolitik
in anderen europäischen Ländern vergleicht, dann stellt
man fest, dass in allen anderen europäischen Ländern
Verkehrspolitiker Lobbyisten für das System Schiene
sind. Bei uns in Deutschland ist das anders: Pausenlos
wird auf dem Unternehmen herumgehackt, alles wird
besser gewusst, alles wird schlechtgemacht.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann es auch schönreden!)


Aus verkehrspolitischer Sicht ist das das Falsche; denn
ein Hauptanliegen der Verkehrspolitik ist es doch – dafür
waren auch die Grünen immer –, mehr Verkehr von der
Straße auf die Schiene zu bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das erreichen Sie natürlich nicht, wenn Sie das System
pausenlos schlechtreden. Sicherlich gibt es Probleme;
das ist überhaupt keine Frage. Darauf musste das Parla-
ment reagieren. Das haben wir getan. Es wird ein neuer
Unterausschuss gebildet, der sich speziell mit der Schie-
neninfrastruktur in der Bundesrepublik Deutschland be-
schäftigen wird.

Warum ist die Privatisierung eine so dringliche Sa-
che? Man könnte ja fragen: Warum macht die Politik
das? Wollen die Politiker die Menschen ärgern bzw. ver-
ärgern? Machen sie eine Spaßveranstaltung daraus? –
Nein, das ist nicht der Fall. Bahnpolitik ist heute Europa-
politik. Ich denke, das muss man im Zeitalter des zusam-
menwachsenden Europas, der Globalisierung einmal
feststellen. Auch im Bereich der Bahnpolitik wächst Eu-
ropa zusammen: Seit dem 1. Januar dieses Jahres haben
wir einen gemeinsamen europäischen Schienengüter-
markt. Ab dem 1. Januar 2010 werden wir auch im Per-
sonenfernverkehr einen komplett freien europäischen
Markt haben.


(Martin Burkert [SPD]: So ist es!)


Darauf muss sich dieses Unternehmen einstellen kön-
nen. Dafür müssen Investitionen getätigt werden. Diese
Investitionen können wir aber nicht aus dem Staatshaus-
halt finanzieren, weil es nicht unsere staatliche Aufgabe
ist, diesen Betrieb zu finanzieren. Wenn man Investitio-
nen tätigen will, muss man das Geld vom Kapitalmarkt
holen, und wenn man das will, muss man Kapital priva-
tisieren. So einfach ist das. Deswegen unternehmen wir
alle Anstrengungen, das Unternehmen darauf vorzube-
reiten.

Es ist unsere Aufgabe, darauf aufzupassen, dass die
Infrastruktur nicht rein betriebswirtschaftlichen Interes-
sen unterworfen wird, sondern für die Allgemeinheit,
vor allem für den Wettbewerb zur Verfügung steht. Des-
wegen ist es Aufgabe der Politik, darauf zu achten, dass
das Netz in öffentlicher Hand bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Das werden wir auch leisten. Wir diskutieren darüber,
wie wir die Kapitalprivatisierung organisieren. Es wird
Aufgabe der CDU/CSU-Fraktion sein, darauf zu achten,
dass das Netz öffentlich bleibt, weil nur ein öffentliches,
für alle zugängliches Netz Wettbewerb garantiert. Nur
wo Wettbewerb herrscht, gibt es bessere Leistungen. Nur
wo bessere Leistungen vorhanden sind, wird das Ziel der
Bahnreform erreicht, mehr Verkehr von der Straße auf
die Schiene umzulenken. Deshalb ist es wichtig, dass wir
uns um die Schieneninfrastruktur kümmern, dass wir uns
darum kümmern, dass nicht im ländlichen Raum Schie-
nen abgebaut werden, dass man sich nicht nur auf den
Schienenverkehr zwischen den Metropolen konzentriert,
sondern Schienenverkehr in der ganzen Bundesrepublik






(A) (C)



(B) (D)


Enak Ferlemann
Deutschland möglich ist. Dafür werden wir sorgen; das
werden wir organisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die heutige Aktuelle Stunde hat sicherlich den Sinn,
dass wir uns dessen noch einmal vergewissern. Wir soll-
ten aber aufhören, die Deutsche Bahn AG kaputtzure-
den. Eine Braut, die man zur Hochzeit führen will, muss
man schmücken. Das ist doch unsere allgemeine Le-
benserfahrung.


(Heiterkeit)


Es macht keinen Sinn, die Braut, die wir da auf den
Markt führen, so schlecht darzustellen, dass wir keinen
finden, der sie nehmen will.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608812200

Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn für die

Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608812300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Bild, das mein Vorredner gebraucht hat, ist interes-
sant. Ich habe in meinem Leben allerdings gute Erfah-
rungen damit gemacht, mir die Braut, bevor sie ge-
schmückt wird, genau anzuschauen.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Genau darum geht es auch in dieser Debatte, Herr Kol-
lege.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will vorneweg sagen: Bei Ihrer Formulierung, wir
sollten Lobbyisten für das System Schiene sein, haben
Sie uns sicher auf Ihrer Seite. Aber bei der Frage, ob das
heißt, Lobbyist für die Deutsche Bahn AG zu sein, nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])


Denn die Politik muss schauen, dass sie allen Marktteil-
nehmern den Zugang zur Schiene ermöglicht.

Schauen wir uns die Braut einmal genau an: Wir ha-
ben festgestellt – die Zahlen liegen vor; der Investitions-
bedarf kann auch von der Bahn nicht mehr verleugnet
werden –, dass die Schieneninfrastruktur in Deutschland
systematisch vernachlässigt worden ist, von 2001 bis
2005 um 1,5 Milliarden Euro. Übrigens kam dies im
Bundestag – im Jahr 2004 – und auch im Aufsichtsrat
der Bahn immer wieder zur Sprache. Das Interessante
war, dass das Verkehrsministerium nicht in der Lage
war, präzise Auskunft zu geben, ob dieser Vorwurf
stimmt oder nicht. Aber das Parlament hat an dieser
Stelle nicht versagt, wie Sie hier behauptet haben.

Worum geht es eigentlich? Wenn es nach Herrn
Mehdorn gegangen wäre, wäre die Bahn längst an der
Börse. Er hätte, so der Vorwurf, damit die Braut besser
aussieht, den großen europäischen Wettbewerber Deut-
sche Bahn gespielt und dafür das Netz verkommen las-
sen. Das ist schon fast Betrug an künftigen Investoren,
wenn ich das einmal wirtschaftspolitisch hart sagen darf
und nicht in dieser Blümlessprache mit der Braut. Also
außen hui: der europäische Player, innen: das Netz ver-
nachlässigt. Jeder, der Bahn fährt, sieht, wie viele Lang-
samfahrstrecken es gibt. So hat die Politik nicht gewet-
tet. Deswegen sage ich Ihnen: Das bisherige Modell
– dass die Bahn die Investitionsentscheidungen trifft –
hat versagt. Das Wichtigste, damit mehr Verkehr auf die
Schiene kommt, nämlich die Schiene, wurde vernachläs-
sigt; das halten wir hier einmal fest.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Genau deswegen wird – auch mit Ihrer Zustimmung –
ein Unterausschuss des Verkehrsausschusses eingerich-
tet. Das ist der erste Punkt.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Wer hat das denn beantragt, Herr Kollege? Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen!)


Der zweite Punkt. Ich will die Debatte einmal in einen
anderen Zusammenhang einordnen; denn eines erstaunt
mich ziemlich: Wir diskutieren in Deutschland seit Mo-
naten zu Recht über Klimaschutzpolitik, wir reden über
das Auto und über Details von der Steckdose bis zum
Stand-by. Doch darüber, was die Deutsche Bahn und die
deutsche Schienenpolitik zur Verbesserung des Klima-
schutzes in Deutschland beitragen können, reden wir
viel zu wenig. Da sage ich Ihnen klipp und klar: Wenn
das Ziel sein soll, mehr Verkehr auf die Schiene zu brin-
gen, dann müssen die Schienen in Deutschland in Ord-
nung sein.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Eine gewisse logische Notwendigkeit!)


Dann braucht man Modelle, damit dies systematisch ge-
schieht. Das geht aber nicht – ich sage das an die
Adresse des Verkehrsministeriums gerichtet – mit einem
Modell, nach dem der Bund zwar de jure der Eigentümer
des Netzes wird,


(Klaus Barthel [SPD]: Was für ein Modell haben Sie denn?)


aber de facto die Bahn ziemlich uneingeschränkt die
Kontrolle über das Netz inklusive der Trassenvergabe
haben wird. Das ist doch der springende Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Nach dem neuen Modell kommt das Netz nicht mehr
an die Börse. Aber jeder, der bei der Bahn einsteigt,
weiß, dass es gut ausgefütterte Investitionsgarantien
gibt: 15 Jahre lang 2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Damit
ist die Braut an der Stelle mehr wert, ohne dass gesi-
chert ist, dass auf der deutschen Schiene mehr passiert
und mehr Wettbewerb möglich ist.

Jetzt frage ich die Ordnungspolitiker, die hier im Saal
sind, und auch die Kollegin vom Wirtschaftsministerium:
Müssen wir eigentlich jeden Fehler, den wir bei Privatisie-






(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn
rungen gemacht haben, zum Beispiel bei den Stromnet-
zen, bei der Schiene wiederholen? Muss nicht langsam
klar sein, dass es bei einem natürlichen Monopol nicht so
sein darf, dass ein Wettbewerber es besitzt oder wesent-
lich über es verfügt? Muss mit so etwas nicht aufgehört
werden, wenn man die Auffassung teilt, dass nur effekti-
ver Wettbewerb das Angebot verbessern kann und damit
mehr Verkehr auf die Schiene kommt? Ich frage alle in
diesem Haus: Warum sollten wir den Blödsinn, den wir in
der Energiepolitik gemacht haben, die strukturellen ord-
nungspolitischen Fehlentscheidungen, im Falle des hoch-
komplizierten Eigentumssicherungsmodells der Bahn
wiederholen? Ich sage klipp und klar: Wir halten das für
grottenfalsch. Deswegen appellieren wir an alle Beteilig-
ten, auch an die Wirtschaftspolitiker, über die Konsequen-
zen genau nachzudenken. Sie wollen in diesem Jahr eine
Entscheidung treffen, mit der wir viele Jahre lang unter
ordnungspolitischen Gesichtspunkten wenig Freude ha-
ben werden. Das, was Sie vorhaben, kann nach unserer
Überzeugung nicht funktionieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn das Ziel sein soll, mehr Verkehr auf die Schiene
zu bringen, dann brauchen wir in Deutschland einen bes-
seren Zustand der Schiene, mehr Wettbewerb und einen
diskriminierungsfreien Zugang zur Schiene für alle
potenziellen Wettbewerber. Das bedeutet für mich ein
europäisches Bahnsystem; es geht nicht um die Domi-
nanz eines Wettbewerbers. Andernfalls schaffen wir es
nicht, genügend Verkehr auf die Schiene zu bringen. Das
ist aus klimaschutzpolitischen Gründen aber unbedingt
notwendig.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608812400

Nun hat das Wort der Kollege Uwe Beckmeyer für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1608812500

Frau Präsidentin, herzlichen Dank. – Herr Kuhn, die

Diskussion, die wir führen, ist etwas exotisch. Diese Be-
merkung ist nicht nur an Sie, sondern auch an die Kolle-
gin Menzner gerichtet.

Worum geht es eigentlich? Es geht um den nachhalti-
gen Versuch, im Rahmen eines Auftrags und unter Be-
rücksichtigung klarer Vorgaben des Deutschen Bundes-
tages eine Teilkapitalprivatisierung der Deutschen Bahn
AG zu exekutieren. Dass ein Parlament der Regierung
15 Eckpunkte für die Erarbeitung eines Gesetzentwurfs
mit auf den Weg gegeben hat, das hat es lange nicht
mehr gegeben. All das, was Sie gerade angesprochen ha-
ben – ich nenne die Stichworte Wettbewerb, klare Kapi-
talaussagen und Eigentumsfragen –, ist zu regeln, und
zwar dergestalt, dass das deutsche Volk, der Steuerzah-
ler, die Bundesrepublik Deutschland im Besitz des Net-
zes bleibt.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Na ja! Im Eigentum wäre besser als im Besitz! – Zuruf des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


– Kollege Hofreiter, machen Sie Ihren Zuruf doch in un-
serem Ausschuss. – Es geht darum, dass das Netz im Ei-
gentum des deutschen Volkes bleibt. Dabei muss berück-
sichtigt werden, dass wir keine Kapitalbeteiligungen
Dritter an diesem Netz wollen. Diese klare Aussage ist
Inhalt des Auftrags des Deutschen Bundestages. Vor die-
sem Hintergrund ist all das, was hier geschieht, etwas
exotisch.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, was wir mo-
mentan bei Telekom und Post erleben. Die Arbeitsplätze,
die bei diesen beiden Unternehmen noch vorhanden
sind, sind durch den Wettbewerb bzw. aufgrund von
Lohndrückerei gefährdet. Wir sollten aufpassen, dass
uns das nicht auch bei der Bahn passiert. Unser Kollege
Martin Burkert wird gleich sicherlich noch etwas zu die-
sem Thema sagen, und zwar speziell aus der Sicht der
Arbeitnehmer.


(Martin Burkert [SPD]: Ganz bestimmt!)


Nun noch eine Bemerkung zum Thema „Verkehr auf
die Schiene“. Im Rahmen der Bahnreform hatten wir die
Vorgabe zu erfüllen, mehr Verkehr auf die Schiene zu
bringen. Ein weiteres Ziel der Bahnreform im Jahre
1994 war die nachhaltige Entlastung des Bundeshaus-
halts.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist bisher aber nicht geschafft worden!)


Jetzt müssen wir aufpassen, dass wir nicht in gefährli-
ches Fahrwasser geraten. Da wir sehr viel Geld in dieses
Unternehmen investieren, müssen wir dafür sorgen, dass
das Bestmögliche dabei herauskommt.

Seit 1994, als die Bahn in eine Aktiengesellschaft um-
gewandelt wurde und der Deutsche Bundestag sie formal
privatisiert hat, sind die Möglichkeiten des Prinzipals,
Einfluss auf das Unternehmen zu nehmen, zugegebener-
maßen relativ gering. Die drei „schwachen“ Staatssekre-
täre, die im Aufsichtsrat saßen, haben nur bedingt gehan-
delt. Das ist, wie ich glaube, meine und auch Ihre
Erkenntnis.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das lag aber doch an den Staatssekretären und nicht an der Gesetzgebung! Das kann man doch organisieren!)


Wir müssen diese Struktur etwas anders organisieren
und zum ersten Mal Leistung und Finanzierung mitei-
nander verknüpfen.


(Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])


– Sie haben schon Ihre Gelegenheit gehabt. – Die Geld-
leistungen des Bundes – 2,5 Milliarden Euro pro Jahr –
müssen durch einen entsprechenden Vertrag mit der
DB AG mit entsprechenden technischen und investiven
Leistungen verbunden werden. Diese Leistungen müs-






(A) (C)



(B) (D)


Uwe Beckmeyer
sen nachweisbar sein. Das gehört endlich auf den Tisch
dieses Hauses, damit wir wissen, was mit dem Geld des
deutschen Steuerzahlers passiert.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch nichts Neues!)


Das werden wir in einem solchen Teilprivatisierungsge-
setz unterbringen müssen. Einen solchen Fortschritt ha-
ben wir in der Vergangenheit – in den letzten 15,
16 Jahren – nie erreicht, aber er wird kommen.

Ich höre immer, dass Vorurteile bedient werden.
Liebe Frau Menzner, Sie waren im Ausschuss. Ich habe
den Präsidenten des Eisenbahn-Bundesamtes gefragt:
Herr Präsident, sind die Schienen in Deutschland sicher? –
Er hat geantwortet: Jawohl, Herr Abgeordneter, die
Schienen in Deutschland sind sicher. – Um das einmal
deutlich zu sagen: Wenn Sie hier behaupten, dass die
Schienen marode sind und vernachlässigt werden, dann
ist das gelogen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich darf an dieser Stelle einmal festhalten: Wir müssen
schon bei der Wahrheit bleiben.

Dass, wie in jedem Jahr, ein Unterhaltungsaufwand
notwendig ist, ist richtig. Dass das Schienennetz älter
wird, ist auch richtig. Es gibt aber eine plausible Begrün-
dung dafür: In den 70er- und 80er-Jahren und vor allen
Dingen in den neuen Ländern nach 1990/91 gab es einen
Investitionspeak. Er wandert momentan durch die Jahre
und wird nicht in jedem Jahr in gleicher Höhe erneuert.
Dadurch wird das Schienennetz im Gesamten betrachtet
momentan älter.

Wir müssen aktuell in ganz bestimmten Bereichen zu-
sätzliche Investitionen tätigen. Nach 25 Jahren sind die
Hauptmagistralen zu ersetzen; das ist einfach und klar.
Das ist das Problem, vor dem die Bahn momentan steht.
Dafür wurde das Programm „Pro Netz“ von der DB AG
als Investitionsrahmen aufgelegt. Wir sind auch bereit,
Geld dafür zu geben. Das ist doch logisch und plausibel.

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Wenn wir
der Bahn zusätzliche wirtschaftliche Mittel zubilligen
wollen, selbst aber nicht noch mehr öffentliche Gelder
dafür ausgeben können und wollen, dann muss sich
diese Aktiengesellschaft am Kapitalmarkt finanzieren
können – ich glaube, das ist logisch –, aber bitte so, dass
wir den Zugriff auf das Netz behalten und damit Herr im
Hause bleiben.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Dann müsst ihr ein anderes Gesetz vorlegen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608812600

Nun hat der Kollege Norbert Königshofen für die

CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Norbert, enttäusch mich nicht!)



Norbert Königshofen (CDU):
Rede ID: ID1608812700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu-

nächst darf ich mich bei den Grünen dafür bedanken,
dass sie den Antrag gestellt haben, gibt er uns doch Ge-
legenheit, Herr Hermann, zu beiden Punkten, die Sie an-
gesprochen haben, etwas zu sagen, nämlich zum Ersten
zum Zustand des Schienennetzes und zum Zweiten zum
Börsengang der DB AG.

Der Zustand des Schienennetzes war gestern im Ver-
kehrsausschuss Gegenstand einer sehr intensiven De-
batte. Wir haben einen Untersuchungsausschuss, Ent-
schuldigung, einen Unterausschuss


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


eingerichtet, der aber auch ein Untersuchungsausschuss
sein kann – man muss immer bedenken, dass die Vor-
würfe des Bundesrechnungshofs erheblich sind –, und
werden den Dingen nachgehen. Ich darf Ihnen sagen,
dass ich die Fragen, die ich gestern gestellt habe – Was
ist abgerufen worden? Was ist bereitgestellt worden? Wo
sind die Eigenmittel geblieben? Wie kommt es zu einer
so hohen Verschuldung? –, auch noch einmal schriftlich
gestellt habe. Ich hoffe, dass sie beantwortet werden.
Darauf kommen wir noch zurück.

Herr Kuhn, es ist richtig: Man muss schauen, wie die
Braut aussieht, bevor man sie zum Altare führt.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Man muss den Schleier lüften!)


Dennoch – das will ich deutlich sagen –: Wir wollen die
Braut zum Altare führen. Wir wollen die Teilkapitalpri-
vatisierung des Betriebs der Deutschen Bahn AG.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Mit oder ohne Hochzeitsmarsch?)


Wir wollen aber auch, dass der Bund alleiniger Eigentü-
mer des Netzes bleibt; das ist gesagt worden. Wir sind
einverstanden, dass die DB AG die Infrastruktur für eine
begrenzte Zeit bewirtschaftet. Das ist der Preis der Ko-
alition. Eine große Mehrheit von uns ist für die sofortige
Trennung von Netz und Betrieb.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber – das sage ich in aller Offenheit – wir müssen das
gemeinsam stemmen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Genau das ist das Problem!)


Ich bin froh, dass Herr Staatssekretär Großmann, der im
Ministerium für diese Fragen zuständig ist, persönlich
anwesend ist.

Die Eigentumsfrage ist entscheidend. Das haben wir
immer wieder gesagt. Ich darf auf den bereits erwähnten
Entschließungsantrag verweisen. Wir werden den ge-
samten Gesetzentwurf darauf abklopfen, ob sich das,






(A) (C)



(B) (D)


Norbert Königshofen
was wir gemeinsam beschlossen haben, darin wiederfin-
det.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist unmöglich!)


– Was sich nicht wiederfindet, Herr Kollege Friedrich,
wird nachträglich mit aufgenommen. Sonst wird die
Union dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Auch da-
rauf können Sie sich verlassen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aha! Ich bitte, das im Protokoll festzuhalten!)


Warum sind wir dafür, dass die Eisenbahninfrastruk-
tur im Eigentum des Bundes verbleibt? Nach Art. 87 e
des Grundgesetzes hat der Bund die Infrastrukturverant-
wortung. Das entspricht auch unserer Erfahrung: Wenn
etwas mit der Bahn ist, dann gehen die Leute nicht zum
Bahn-Tower, sondern sie kommen zu uns. Wir geben
auch das Geld dafür. Wie bereits erwähnt wurde, zahlt
der Bund 15 Jahre lang 2,5 Milliarden Euro pro Jahr.
Das sind insgesamt 37,5 Milliarden Euro. Wie bereits
angekündigt wurde, ist damit noch nicht das Ende der
Fahnenstange erreicht. Sie können davon ausgehen, dass
wir angesichts dieser gigantischen Summe darauf ach-
ten, dass das Geld nicht sachfremd ausgegeben wird,
sondern der Infrastruktur zugutekommt. Das wird unser
oberstes Bestreben bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir sind für eine kurze Bewirtschaftungszeit durch
die Bahn mit der Möglichkeit des Rückfalls an den
Bund, weil wir den Wettbewerb im Blick haben. Es ist
nämlich ein Problem, dass derjenige, dem das Netz ge-
hört und der es selbst befährt, kein großes Interesse da-
ran hat, dass es von anderen genutzt wird. Es wird im-
mer wieder darüber geklagt, dass auf Strecken, die von
anderen befahren werden, plötzlich Instandhaltungsar-
beiten notwendig sind. Ich will das jetzt nicht vertiefen.
Aber wir werden darauf achten müssen, dass wirklich
Wettbewerb stattfindet; denn nur durch Wettbewerb er-
zielen wir die notwendigen Effizienzgewinne, um mehr
Verkehr auf die Schiene zu verlagern.

Wichtig wird auch sein, dass nach Ablauf der zehn
Jahre – wir verhandeln noch über die Frist –, sofern der
Bundestag keine Verlängerung beschließt, das Eigentum
ohne Wenn und Aber an uns zurückfällt, und zwar nicht
zu gigantischen Preisen, sondern mit einer angemesse-
nen Entschädigung der Aufwendungen der DB AG aus
eigenen Mitteln und keinen Cent mehr. Wir wollen näm-
lich das Netz nicht zweimal bezahlen: zunächst über die
Jahrzehnte durch den Steuerzahler und dann später noch
einmal.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Klaas Hübner [SPD] – Beifall bei der FDP)


Auch für die Arbeitnehmer ist das ein wichtiges
Thema. Das Eigentum des Bundes am Netz bedeutet zu-
mindest für die Kollegen, die in diesem Bereich arbeiten,
sehr komfortable Bedingungen im Vergleich zu denen,
die sich nach der Privatisierung im freien Wettbewerb
bewegen.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das glaubt Herr Hansen aber nicht! Das ist das Problem!)


Das zeigt schon ein Blick in die jüngere Wirtschaftsge-
schichte. Insofern liegt es im Interesse der Arbeitneh-
mer, dass unsere Vorhaben umgesetzt werden.

Die Präsidentin mahnt mich zu Recht. Es soll schließ-
lich keiner länger reden als der andere.

Wir sind zuversichtlich. Ich hoffe, dass wir gemein-
sam einen vernünftigen Weg finden, das Ganze auf die
Schiene zu bringen. Ich hoffe, dass wir am Ende feststel-
len können, dass wir etwas geleistet haben, was der
Wirtschaft und den Menschen in Deutschland dient.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608812800

Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel für die

SPD-Fraktion.


Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1608812900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Worum geht es eigentlich heute in dieser Aktuellen
Stunde? Beim Lesen Ihrer Presseerklärung habe ich
mich gefragt: Was wollen Sie von den Grünen erreichen,
und passt das eigentlich zum Titel dieser Aktuellen
Stunde?

Wir wollen, dass die Bundesregierung endlich vor
dem Plenum des Deutschen Bundestags Auskunft
über die Pläne zum Börsengang der DB AG gibt.

Wozu eigentlich? Sie wissen doch schon alles. Sie sind
auch mit Ihrer Bewertung schon fertig. Herr Kuhn hat
geschrieben: „ein Skandal“! In der Presseerklärung heißt
es:

Mit dem bekannt gewordenen Gesetzentwurf der
Bundesregierung droht der Staat seinen Einfluss auf
das Schienennetz als Teil der öffentlichen Daseins-
vorsorge vollständig preiszugeben. Es geht um die
Kernfrage, ob die umwelt- und klimafreundliche
Bahn gestärkt wird oder ob das Schienennetz zum
Renditeobjekt wird


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und daher Bahnstrecken im ländlichen Raum aus
Kostengründen stillgelegt werden.

Direkt danach ist aber von Wettbewerb und privater
Konkurrenz die Rede, man beklagt den Netzzustand und
die unterlassene Instandhaltung. Damit sind alle Ihre Wi-
dersprüche und die Ihrer Freunde, die Sie argumentativ
unterstützen, benannt: Warum ist der Netzzustand so
schlecht? Sie sagen: Das Netz muss in staatlicher Hand
bleiben. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. Nur, war das
Netz bislang nicht staatlich? Wir tragen dafür gemein-
sam Verantwortung. Die entscheidende Frage ist also
nicht, ob das Netz staatlich ist oder nicht. Vielmehr geht
es um die Steuerungsfunktion. Hierfür muss eine Lösung
gefunden werden.






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Barthel

(Beifall des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Aber es genügt nicht, das Netz in öffentlichem Eigentum
zu belassen. Vielmehr geht es um die Kriterien, nach de-
nen dieses öffentliche Eigentum bewirtschaftet wird. Ge-
nau dieses Problem lösen Sie mit Ihrem Ansatz, dem
Trennungsmodell, nicht.


(Zuruf des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Hören Sie doch einmal zu!

Was nutzt Ihnen eine noch so gute staatliche Infra-
struktur mit einem klimafreundlichen Verkehrssystem in
öffentlichem Eigentum, wenn nach Wettbewerbsge-
sichtspunkten, nach privaten Gewinninteressen kein Un-
ternehmen Strecken im ländlichen Raum befahren will?


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Herr Barthel, das ist Unsinn!)


Wie wollen Sie denn das Problem lösen? Wenn das
Bahnnetz die Börsenreife verhindert, weil der Netzzu-
stand so schlecht ist, wollen Sie dann noch mehr Staats-
knete in das Netz stecken, damit die Wettbewerber der
Privatwirtschaft umso gewinnbringender auf dem Netz
fahren können?


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Blanker Unsinn, den Sie da reden!)


– Ich kann verstehen, dass Sie unruhig sind.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ja, das stimmt: über so viel Unsinn!)


Nach welchen Kriterien soll denn ein staatliches Netz
bewirtschaftet werden, das isoliert einer Vielzahl von
privaten Wettbewerbern gegenübersteht? Was hilft Ihnen
denn ein staatliches Netz, auf dem alle Kosten und Las-
ten liegen und auf dem der Kampf der privaten Wettbe-
werber um dieselben umsatzstarken Strecken stattfindet,
während die Nebenstrecken nur betrieben werden kön-
nen, wenn Sie zu den Trassenentgelten noch etwas
drauflegen?


(Beifall des Abg. Martin Burkert [SPD] – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben keine Ahnung!)


Ihre Kritik am Gesetzentwurf, eine rechtlich starke
Position des Bundes als Eigentümer der Infrastruktur sei
nicht gewollt, ist also unredlich. Wo ist denn die Stärke
dieses staatlichen Netzes, wenn Sie es vom Betrieb ab-
trennen und den Betrieb allein dem privaten Wettbewerb
ausliefern? Alle Welt spricht davon, dass die Verkehrs-
träger von Luft, Straße, Wasser und Schiene verzahnt
werden müssen, und zwar gerade im Interesse der
Schiene. Alle Welt spricht von der Globalisierung der
Verkehrssysteme. Was ist denn falsch daran – genau das
beklagen Sie –, wenn sich die Bahn auch auf der Straße,
in der Luft und bei den Schnittstellen zwischen den Ver-
kehrssystemen engagiert? Was ist denn falsch daran,
wenn sich die Bahn international aufstellt? Das kann
man doch nicht allen Ernstes beklagen, wenn man etwas
von Verkehrspolitik im wirtschaftlichen Sinn versteht.

Man kann sicherlich viele Zweifel daran haben, ob
sich die Widersprüche zwischen privaten Gewinninte-
ressen und öffentlichen Interessen im Sinne des Grundge-
setzes mit einer Teilprivatisierung ausbalancieren lassen.
Die Erfahrungen, die wir in anderen Bereichen gemacht
haben, sind durchaus ambivalent. Aber eines muss allen
Trennungsfans, ob sie bei der FDP, der Straßenver-
kehrslobby oder den Grünen sind, klar sein: Diese Di-
vergenz von Interessen und Mechanismen kann man
nicht auflösen, indem man den Staat das Netz im Sinne
des Gemeinwohls betreiben lässt, während man den
Fahrbetrieb nach privaten Gewinninteressen organisiert.

Wir werden sicherlich noch über vieles diskutieren
müssen. Aber eine Zerschlagung der Bahn als Ganzes,
als gemeinsames Verkehrssystem, bei dem Bestandteile
der Infrastruktur und der Fahrbetrieb miteinander abge-
stimmt und verzahnt werden, ist mit uns nicht zu ma-
chen, genauso wenig wie die Zerschlagung des internen
Arbeitsmarktes. Wir werden die Bahn nicht auf den Pfad
des Niedriglohnsektors schicken. Deswegen sind wir
sehr gespannt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen und von der FDP, wie Sie diesen Widerspruch
auflösen wollen, der in Ihrem Denkansatz steckt.


(Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Lesen Sie mal das Regionalisierungsgesetz durch, bevor Sie einen solchen Unsinn von sich geben!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608813000

Nun hat der Kollege Dirk Fischer für die CDU/CSU-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1608813100

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir diskutieren heute – so ist das Thema angemel-
det worden – über den Zustand der DB AG vor dem Bör-
sengang. Wir diskutieren nicht über einen endgültigen,
ressortabgestimmten Gesetzentwurf; denn den gibt es
noch gar nicht. Bekanntlich hängt aber alles mit allem
zusammen. Deswegen will ich mich dem Kernthema,
das angemeldet wurde, zuwenden.

13 Jahre Bahnreform haben durchaus positive Ergeb-
nisse gebracht. Insbesondere ist durch erhebliche An-
strengungen die Produktivität des Unternehmens ständig
gesteigert worden. Die interne Strukturreform hat die
Kundenorientierung deutlich verbessert. Insgesamt ist
der Schienenverkehr in Deutschland viel moderner,
schneller und attraktiver geworden. Dies ist das Ver-
dienst der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der je-
weiligen Unternehmensleitung der DB AG, wofür wir
als Gesetzgeber insgesamt sehr dankbar sein dürften.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wo er recht hat, hat er recht!)







(A) (C)



(B) (D)


Dirk Fischer (Hamburg)

Ich will aber darauf hinweisen, dass sich der Bund an
dieser Entwicklung erheblich beteiligt hat. Das belegen
die enormen finanziellen Mittel, die bereitgestellt wor-
den sind. Allein für den Schienenpersonennahverkehr
werden Regionalisierungsmittel in Höhe von rund 7 Mil-
liarden Euro jährlich an die Länder überwiesen. Im
Zeitraum 1994 bis 2006 wurden den Ländern rund
71 Milliarden Euro zur Bestellung von Zugleistungen
zur Verfügung gestellt.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Schreibt dem Kollegen Barthel auf, was die Länder damit machen, damit er es beim nächsten Mal weiß!)


Insgesamt hat der Bund seit 1994 rund 232 Milliarden
Euro zur Optimierung des Systems Schiene in unserem
Lande eingesetzt, eine gewaltige Summe, die ihren Nie-
derschlag in der Verbesserung der Lage gefunden hat.

Wenn wir heute diesen Zustand kritisch debattieren
– wir müssen uns als Gesetzgeber bewusst sein, auf wel-
chem Weg wir uns befinden –, müssen wir feststellen,
dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Was am meisten
glänzt, ist oftmals die Eigenpropaganda der DB AG, die
mit den Tatsachen nicht im Einklang steht.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die zwei entscheidenden Ziele der Bahnreform sind
längst noch nicht verwirklicht. Wir hatten uns eine stär-
kere Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf
die Schiene vorgenommen. Das Verkehrsaufkommen in
Tonnenkilometern – nur dieser Leistungsbegriff ist wirk-
lich relevant – im Schienengüterverkehr konnte nicht ge-
steigert werden, und er liegt heute immer noch unter
dem Wert von 1994. In der gleichen Zeit hat der Lkw im
Modal Split 1994 64,6 Prozent gehabt und im Jahr 2005
– die letzte offizielle Zahl in den Unterlagen des Minis-
teriums – 69,7 Prozent. Absolut war das eine Steigerung
von 272 Milliarden Tonnenkilometern auf 404 Milliar-
den Tonnenkilometer. Hier müssen noch gewaltige An-
strengungen im System unternommen werden, um den
Trend, dass der Verkehr ungehemmt auf die Straße geht,
abzubremsen und eine Umkehr in die andere Richtung
zu erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Allerdings muss man darauf hinweisen, dass die Ent-
wicklung bei der DB AG in den letzten zwei bis drei
Jahren, auch gemessen in Tonnenkilometern, die Hoff-
nung genährt hat, dass wir dies in der Zukunft schaffen
können.

Eine nachhaltige Entlastung des Steuerzahlers – das
haben meine Zahlen dokumentiert – wurde ebenfalls
nicht erreicht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn wir uns fragen, wo die Deutsche Bahn tatsächlich
eigenständig Geld verdient, dann muss man sagen, dass
dies beim Schienenverkehr im Personenverkehr der Fall
ist, wo der Bund den Regionalverkehr subventioniert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das weiß der Barthel aber nicht!)


Sie verdient im Bereich Transport und Logistik ihr Geld
nicht mit dem Verkehr auf der Schiene, sondern – via
Schenker, dem größten europäischen Lkw-Carrier – mit
dem Verkehr auf der Straße, und das deutlich. Auch das
muss man wissen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bezogen auf die Schiene werden rund 60 Prozent der
Umsätze der DB AG nicht vom Markt, sondern vom
Bundeshaushalt generiert.


(Beifall des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Damit besitzt die Deutsche Bahn im Bereich Schienen-
verkehr in Wahrheit keine unternehmerische Eigenwirt-
schaftlichkeit,


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


da sie nicht in der Lage ist, mit Fahrkartenumsätzen, den
Umsätzen im Schienengüterverkehr und den Nutzerent-
gelten aus dem Netz die Kosten für Netz und Betrieb zu
erwirtschaften.

Die Neuverschuldung des Unternehmens ist nach wie
vor beträchtlich: 1993/94 hat der Bund die Bahn voll-
ständig entschuldet; damals ging es um 34,3 Milliarden
Euro. Der Konzern hat bis Ende 2006 einen neuen
Schuldenberg von über 20 Milliarden Euro aufgetürmt.
Diese Dinge darf man nicht ausblenden, wenn man den
Zustand des Unternehmens objektiv bewerten möchte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das hat Herr Barthel noch nicht begriffen!)


Ich will nur summarisch sagen: Letztlich müssen er-
hebliche weitere Anstrengungen vorgenommen werden,
um die Kennzahlen, die der Kapitalmarkt für einen er-
folgreichen Börsengang verlangt, zu erreichen. Hierzu
gehören – Kollege Friedrich hat das angesprochen –: das
EBIT, Betriebsergebnis vor Zinsen, das BE II, das Be-
triebsergebnis nach Zinsen, der ROCE, die Kapitalren-
dite, das Gearing, das Verhältnis der Nettofinanzschul-
den zum Eigenkapital.

Wie vom Gesetzgeber beschlossen, ist die Kapital-
marktreife dem Deutschen Bundestag vor einer Teilpri-
vatisierung der DB AG durch die Bundesregierung dar-
zulegen. Wir werden auch an dieser Stelle unserer
Verantwortung nachkommen müssen.


(Beifall des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP] sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])







(A) (C)



(B) (D)


Dirk Fischer (Hamburg)

Meine Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion, bekennt sich
zu einer Teilprivatisierung der DB AG und wird diesen
Übergang auch weiterhin positiv begleiten. Vorausset-
zung ist allerdings, dass dauerhaft gesichert ist, dass der
Bund Eigentümer der Infrastruktur bleibt, und dass sich
die weiteren Reformschritte am Ende vorteilhaft auf den
Bundeshaushalt auswirken.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608813200

Herr Kollege, ich erinnere Sie an Ihre Redezeit.


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1608813300

Es ist nicht sinnvoll, Ergebnisse zu erzielen, die

schlechter sind als der Status quo. Wir sollten uns ge-
meinsam anstrengen, an dieser Reform weiterzuarbeiten;
denn wir alle haben hier eine wichtige Aufgabe zu erfül-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608813400

Nächster Redner ist nun der Kollege Martin Burkert

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Martin Burkert (SPD):
Rede ID: ID1608813500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte darüber reden, wie die Deutsche Bahn AG
aus Sicht der Beschäftigten vor der notwendigen Teilpri-
vatisierung dasteht. Die 230 000 Beschäftigten dieses
Unternehmens waren in den letzten Jahrzehnten der Ga-
rant des Erfolgs.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der Produktivitätszuwachs der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter lag allein in den letzten zehn Jahren bei
180 Prozent. Das heißt, heute arbeitet jeder nahezu dop-
pelt so viel wie noch vor zehn Jahren. In diesem Unter-
nehmen ist viel passiert.

Die Kunden sind laut Kundenbarometer – das zeigen
in dieser Woche veröffentlichte Umfragen – hochzufrie-
den und voll des Lobes für die Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind moti-
viert und gut ausgebildet. Grund dafür ist auch, dass wir,
der Bundestag, folgenden Beschluss gefasst haben – ich
darf zitieren –:

Es wird sichergestellt, dass der konzerninterne Ar-
beitsmarkt der DB und das Beschäftigungsbündnis
fortgeführt werden können.

Was ist dann passiert? Die Gewerkschaft Transnet
und die Bahn haben für diese 230 000 Beschäftigten ein
Beschäftigungsbündnis bis 2010 geschlossen. Andere
Unternehmen in diesem Land verkünden Rekordge-
winne – auch bei der Bahn haben wir etwas von 2 Mil-
liarden Euro gehört – und im gleichen Atemzug den Ab-
bau von Arbeitsplätzen. Das ist der Unterschied zu dem
Unternehmen Deutsche Bahn AG, das mehrheitlich dem
Staat gehört.
Was heißt denn jetzt Beschäftigungsbündnis? DB
Job-Service, ein bahninternes Arbeitsamt, ist ein Er-
folgsmodell in Deutschland. Wenn heutzutage neue
Stellwerkstechnik angewandt wird, wenn dadurch die
Arbeitsplätze von Schrankenwärtern wegfallen, wenn es
zu Arbeitsplatzverlusten durch Modernisierung kommt,
dann bildet die Bahn aus. Jeder Mitarbeiter wird flexibel
eingesetzt. Versetzungen bis 200 Kilometer und eine ma-
ximale Heruntergruppierung um zwei Lohnstufen sind
möglich. Entscheidend ist dabei, dass keine betriebsbe-
dingten Kündigungen ausgesprochen werden und dass
der Steuerzahler kein Arbeitslosengeld zahlen muss. Das
muss man einmal so deutlich sagen.

Ich komme auf das Schlagwort „Trennung von Fahr-
weg und Betrieb“ zu sprechen. Herr Königshofen, ich
bin fast entsetzt, heute hören zu müssen, dass Teile der
CDU dafür sind. Was wollen denn die Liberalen:
Catch-as-catch-can – der Markt regelt alles? Sie setzen
– ich sage das hier einmal so deutlich – 50 000 Arbeits-
plätze aufs Spiel.


(Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Was macht ihr denn? Ihr nehmt der Bahn das Netz! – Weiterer Zuruf von der FDP: Keine Ahnung!)


Ich sage Ihnen nur ein Beispiel – man kann das aber
anhand eines jeden Unternehmens in diesem Konzern
zeigen –: Es gibt 11 000 Wagenreiniger bei der Deut-
schen Bahn, bei DB Services. In Karlsruhe verdient ein
Wagenreiniger 7,84 Euro, in Regensburg bei gleicher
Tätigkeit 8,23 Euro. Auch das ist moderne Tarifpolitik:
sich den Lebensverhältnissen in diesem Land anpassen.
Wenn es keinen Kontrahierungszwang gäbe – „Kontra-
hierungszwang“ heißt hier, dass die Auftragsvergabe in-
nerhalb des Unternehmens erfolgen muss –, dann könnte
die Bahn diese Leistung draußen am freien Markt wirt-
schaftlich einkaufen, für 4,03 Euro zum Beispiel in Bay-
ern, und viel Geld sparen. Aber zu welchen Qualitäts-
standards, zu welchen Sozialstandards und zu welchen
Lohnbedingungen? Ich sage Ihnen: Wir Sozialdemokra-
ten wollen solche Verhältnisse nicht.


(Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Warum privatisieren Sie denn dann? – Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann müsst ihr ganz gegen Privatisierung sein!)


Dieser integrierte Konzern muss bleiben. Dafür gibt
es eine Reihe von Gründen:

Die Sicherheit bei der Beförderung von Personen und
Gütern muss gewährleistet bleiben. – Erster Punkt.

Zweiter Punkt. Die Daseinsvorsorge für die Bürger in
unserem Land muss erhalten bleiben.


(Zuruf von der CDI/CSU: Sehr richtig!)


Drittens. Die Bahnindustrie braucht einen verlässli-
chen Auftraggeber. Im Übrigen habe ich am Wochen-
ende gelesen: Die größten Gewinne in dieser Branche
gab es 2006. Ich frage mich, woher dann ständig Kritik
kommt.






(A) (C)



(B) (D)


Martin Burkert
Zum vierten Punkt, dem Güterverkehr. Ich sage Ih-
nen: Es wird in Deutschland keinen gewinnbringenden
Einzelwagengüterverkehr geben. Wenn der Einzelwa-
gengüterverkehr aber wegfällt, weil dieses Unternehmen
allein dasteht und in die Insolvenz geht, haben wir über
Nacht 40 000 Lkws mehr in diesem Land. Das ist ver-
kehrspolitischer Unsinn. Hier sind im Übrigen 9 000 Ar-
beitsplätze gefährdet.

Der Konzern muss sich auch im europäischen Wettbe-
werb behaupten können. Schauen Sie sich in Europa um!
Geschätzter Kollege Königshofen – ich darf noch einmal
auf Sie zurückkommen –, nennen Sie mir ein Land, wo
mehr Eisenbahnverkehrsunternehmen zugelassen sind
als in Deutschland! In Deutschland sind es gegenwärtig
360. – Nur so viel zur Kritik an der Wirksamkeit der Re-
gulierung. Versuchen Sie einmal, in Frankreich ein Ei-
senbahnverkehrsunternehmen zu eröffnen!

Frau Präsidentin, ich bin gleich fertig.

Zur Frage der Ausbildungsplätze will ich deutlich sa-
gen: Die Bahn ist der vielleicht größte Ausbildungsplatz-
anbieter in diesem Land. Es gibt über 7 000 Ausbil-
dungsplätze. Hier sind wir gemeinsam mit der Bahn in
der Verantwortung. Dagegen bilden die Privatbahnen,
die hier gefordert sind, nicht mal zwei Hände voll aus.

Ich sage jetzt nichts mehr zu den wichtigen Beamten
bei der Bahn,


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Gut so!)


zur Pünktlichkeit und zum Netz. Aber ich sage noch ein-
mal deutlich, in der Eisenbahnersprache: Das Abfahrtsi-
gnal bei der Bahn lautet: Zp 9. Grüne Kelle, grünes
Licht.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


HP 1 – Eisenbahnersprache –, zwei grüne Lichter – Sie
kennen das, Herr Hermann –, an der nächsten Weiche
links. Und dann immer geradeaus in eine zuverlässige,
sichere und kundenfreundliche Bahnzukunft.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608813600

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Klaas Hübner für die SPD-Fraktion.


Klaas Hübner (SPD):
Rede ID: ID1608813700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Der Titel der heutigen Aktuellen Stunde ist: Zu-
stand der Deutschen Bahn AG vor dem Börsengang. Da-
rum müssen wir jetzt einmal zurückschauen. Was war
1993 der Anlass für die Organisationsprivatisierung der
Bahn? Man hat damals erstens prognostiziert, dass im
Jahre 2003 ohne Bahnreform die Schulden der Deut-
schen Bahn auf 195 Milliarden Euro anwachsen würden.
Wir haben heute ein Zehntel dieser Schulden bei der
Deutschen Bahn AG. Insofern ist das ein Erfolg dessen,
was wir bisher hinter uns gebracht haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zweitens ist seinerzeit prognostiziert worden, dass
ohne Bahnreform der jährliche Finanzbedarf der Deut-
schen Bahn bei 32,5 Milliarden Euro liegen würde. De
facto geben wir heute 19,4 Milliarden Euro pro Jahr aus.
Das sind 13 Milliarden Euro weniger, als wir ohne
Bahnreform hätten ausgeben müssen. Auch das ist ein
deutlicher Vorteil, ein deutlicher Erfolg der bisherigen
Politik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Einer der Hauptpunkte bei den Zuschüssen sind natür-
lich die Regionalisierungsmittel. An der Stelle gestatten
Sie mir als Haushälter ein kritisches Wort an die Länder.
Die Transparenz der Verwendung der Regionalisierungs-
mittel ist in unseren Augen deutlich verbesserungswürdig.
Der Bundesrechnungshof hat das mehrmals zu Recht an-
gemahnt. Es hat ein Schreiben gegeben, auch an die Lan-
desregierungen. Einige von denen haben gar nicht geant-
wortet. Ich glaube, wir werden uns im Haushaltsausschuss
und im Parlament damit auseinandersetzen müssen, wie
wir mehr Transparenz in die Verwendung der Regionali-
sierungsmittel bringen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das stimmt!)


Insgesamt gesehen ist bisher der Werdegang der
Deutschen Bahn nach der Privatisierung ein positiver.
Die Züge sind schneller, moderner und pünktlicher ge-
worden. Die Deutsche Bahn schreibt heute schwarze
Zahlen und hat sich zu einem international tätigen Logis-
tikkonzern entwickelt. Die Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter sind extrem engagiert – mein Vorredner hat darauf
hingewiesen –; sie tragen einen deutlichen Anteil an der
guten Performance der Deutschen Bahn AG. Vor diesem
Hintergrund ein Wort an die Linke, die die Deutsche
Bahn immer wieder als Versager darstellt: Sie werden
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei der Deut-
schen Bahn eine exzellente Arbeit leisten, überhaupt
nicht gerecht mit Ihrer Kritik. Sie sollten sich genau
überlegen, ob Sie zum Bahnfeind werden wollen oder
Bahnfreund bleiben wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vor uns liegt nun die Aufgabe, die Parameter für eine
Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG festzulegen.
Wir haben ja einige aufgestellt. Genau an diesen Punkten
wird sich der Gesetzentwurf messen lassen müssen. Wir
wollen das auch tun; denn der Deutsche Bundestag
selbst hat ja beschlossen, unter welchen Kriterien die
Teilprivatisierung vorangebracht werden soll. Ich will
die in meinen Augen wesentlichen Punkte noch einmal
hervorheben:

Wir wollen keine zusätzlichen Risiken für den Bun-
deshaushalt haben; als Haushälter sei mir gestattet, da-
rauf hinzuweisen. Das wird ein wesentliches Kriterium
sein.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die kriegen Sie aber!)







(A) (C)



(B) (D)


Klaas Hübner
Das Schienennetz wird nicht an private Investoren gege-
ben, sondern soll im Eigentum des Bundes bleiben.
Auch an diesem Punkt werden wir den Gesetzentwurf
messen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das kostet aber Arbeitsplätze!)


Das Beschäftigungsbündnis – der Kollege Burkert hat
darauf hingewiesen – und der konzerninterne Arbeits-
markt müssen fortgeführt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Regulierungsinstrumente der Bundesnetzagentur
sollen fortentwickelt werden. Der entscheidende Punkt
wird aber sein, wie die Leistungs- und Finanzierungsver-
einbarung zwischen Bund und Bahn ausgestaltet wird.

Zunächst einmal soll die Substanz des Netzes erhal-
ten bleiben. Ebenso wichtig wie der langfristige Sub-
stanzerhalt ist die kontinuierliche Instandhaltung des
Netzes. Hier hat es in der Vergangenheit ganz offen-
sichtlich – ich stimme hier der Opposition zu – Mängel
gegeben. Ich gebe auch zu, dass es im Moment einige
Fehlanreize gibt: Während die Instandhaltung von der
Bahn zu bezahlen ist, sind nämlich Ersatzinvestitionen,
selbst solche, die dadurch entstehen, dass nicht laufend
instandgehalten wurde, vom Bund zu bezahlen. Das
müssen wir korrigieren. Auch ich bin dafür – das
wurde ja auch im Primon-Gutachten festgestellt –, ei-
nen Betrag festzuschreiben, den die Deutsche Bahn sel-
ber für Investitionen in die Infrastruktur aufzubringen
hat.

Der entscheidende Punkt bei der Leistungs- und Fi-
nanzierungsvereinbarung wird aber sein – ich glaube,
das ist ein echter Quantensprung –, dass wir versuchen,
von einer inputorientierten Analyse, wie welches Geld
wofür ausgegeben wird, hin zu einer outputorientierten
Analyse, also inwieweit das Netz wirklich in einem Zu-
stand ist, dass Pünktlichkeit und Schnelligkeit gewähr-
leistet sind, zu kommen. Wir haben schon im Bundes-
haushalt Vorsorge dafür getroffen, dass der Bund, dass
der Bundestag unabhängig von der Deutschen Bahn die-
ses Jahr eine Eigenbewertung des Schienennetzes vor-
nehmen kann. Anhand der Ergebnisse kann dann festge-
stellt werden, ob die Deutsche Bahn mit den Mitteln, die
wir ihr zur Verfügung stellen, ordentlich umgeht. Wir
werden in dieser Leistungs- und Finanzierungsvereinba-
rung auch festhalten müssen, dass die Deutsche Bahn,
wenn sie unseren Anforderungen nicht gerecht wird, ent-
sprechende Pönalen zu zahlen hat. Ich glaube, dieser
Systemwechsel, den wir vorhaben, ist auch ein entschei-
dender Schritt zur Verbesserung des Verhältnisses zwi-
schen Bund und Deutscher Bahn AG.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)


Gestatten Sie mir noch eine persönliche Bemerkung
zum Schluss: Ich habe aus allen Fraktionen Gratulatio-
nen für die Wahl in mein neues Amt entgegennehmen
dürfen. Ich freue mich darauf, mit allen Fraktionen in der
neuen Funktion vertrauensvoll zusammenarbeiten zu
können.
Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608813800

Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform der Führungsaufsicht
– Drucksache 16/1993 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/4740 –

Berichterstattung:

(Villingen-Schwenningen)

Joachim Stünker
Jörg van Essen
Sevim Dağdelen
Jerzy Montag

Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Wenn diejenigen, die der weiteren Debatte nicht fol-
gen wollen, ihre Gespräche draußen fortsetzen würden,
könnten wir uns auf die Debatte konzentrieren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.


Brigitte Zypries (SPD):
Rede ID: ID1608813900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Die Zahl der Schwerverbrechen in Deutschland
sinkt, und zwar seit Jahren. Der Bundesinnenminister
und ich haben vor kurzem unseren Sicherheitsbericht
vorgestellt. Daraus ergibt sich: In den vergangenen
zwölf Jahren ist die Zahl der Tötungsdelikte um fast
30 Prozent zurückgegangen. Auch die Zahl der schwe-
ren Sexualstraftaten wird geringer.


(Jörg van Essen [FDP]: Gott sei Dank!)


Beim sexuellen Missbrauch von Kindern betrug der
Rückgang gut 10 Prozent.

Umfragen zeigen jedoch, dass, quasi umgekehrt pro-
portional dazu, bei einem Großteil der Bevölkerung das
Bedrohungsgefühl zunimmt. Viele Menschen haben den
Eindruck, die Kriminalität werde immer schlimmer.
Nach der Ansicht von Fachleuten hat dies vor allen Din-
gen etwas mit den Medien zu tun. Die Zahl der Verbre-
chen sinkt zwar; die Berichterstattung wird aber intensi-
ver und stärker aufgemotzt. Das führt, wie wir wissen,
dazu, dass ältere Frauen besonders große Angst vor
Überfällen haben, obgleich sie zu der mit Abstand






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Brigitte Zypries
kleinsten Gruppe gehören, während die jungen Männer,
die sich für stark halten und keine Ängste haben, am
häufigsten Opfer von Raubüberfällen werden.

Die gefühlte Unsicherheit hat aber gewiss auch
Gründe jenseits der Kriminalität. Arbeitslosigkeit, sozia-
ler Abstieg oder bestimmte Aspekte der Globalisierung,
auch das empfinden viele Menschen als Existenzbedro-
hungen, denen sie hilflos gegenüberstehen. Wenn wir
also wollen, dass die Menschen in Deutschland nicht nur
sicher sind, sondern sich auch sicher fühlen, dann dürfen
wir diese Tatsachen nicht ausblenden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen [FDP])


Tatsache ist aber auch: Jede Straftat ist eine Straftat zu
viel. Unsere Aufgabe ist es, den besten Schutz vor Kri-
minalität zu schaffen, der im freiheitlichen Rechtsstaat
möglich ist. Gerade in Bezug auf den Schutz vor Sexual-
straftätern und Wiederholungstätern haben wir in der
Vergangenheit eine Menge getan. Ende der 90er-Jahre
wurden die Vorschriften bezüglich der Sicherungsver-
wahrung in verschiedenen Schritten verschärft. 2004
wurde die Strafandrohung für den sexuellen Missbrauch
bei Kindern erhöht. Vor zwei Jahren haben wir den
DNA-Test als Ermittlungsinstrument ausgeweitet, insbe-
sondere um Sexualstraftätern schneller habhaft zu wer-
den.

Die Reform der Führungsaufsicht, die heute be-
schlossen werden wird, ist eine weitere Maßnahme, um
Rückfällen besser vorzubeugen. Führungsaufsicht dient
vor allem der Betreuung und Überwachung von Ver-
urteilten, die eine längere Freiheitsstrafe verbüßt ha-
ben oder aus einer Klinik entlassen werden. In Zukunft
können ihnen mehr und differenziertere Weisungen er-
teilt werden. Wir verschärfen den Strafrahmen bei Ver-
stößen gegen diese Weisungen, und wir verbessern die
Befugnisse, um die Einhaltung dieser Weisungen auch
wirksam kontrollieren zu können.

Vorgesehen ist unter anderem ein Kontaktverbot. Ver-
urteilten kann künftig untersagt werden, sich nach der
Entlassung dem einstigen Opfer zu nähern. Demjenigen,
der sich schon einmal an einem Kind vergangen hat,
kann verboten werden, Kontakt mit fremden Kindern
aufzunehmen, beispielsweise Spielplätze oder Freibäder
zu besuchen. Wird gegen diese Auflagen verstoßen, ist
das ein eigenständiger Straftatbestand, was hoffentlich
als hinreichend abschreckendes Signal wirkt. Der ein-
zelne Betroffene merkt deutlich: Der Staat hat mich wei-
ter im Visier; ich muss darauf achten, dass ich mich
wohlverhalte.

Darüber hinaus ist es möglich, Entlassenen die Auf-
lage zu erteilen, sich regelmäßig bei einem Therapeuten
oder einer forensischen Ambulanz zu melden. Die Ein-
nahme von Medikamenten kann auf diese Weise kontrol-
liert werden; es ist auch im Interesse des Betroffenen,
sich einmal in der Woche zu einer kontrollierten Medi-
kamenteneinnahme einzufinden, statt in einer Haftan-
stalt zu verbleiben.

Außerdem sorgen wir für eine rasche stationäre Kri-
senintervention. Täter, deren Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung ausgesetzt
ist, können in Zukunft bei akuten Krisen schneller statio-
när untergebracht und behandelt werden.

Mit diesem Gesetz haben wir nach meiner Meinung
eine gute Chance, die Zahl der Rückfalltäter weiter zu
verringern. Ob es tatsächlich in der Praxis wirksam ist,
hängt ganz entscheidend davon ab, wie die Länder es
ausfüllen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Sie sind nämlich dafür zuständig, die Infrastruktur zu
schaffen, die für eine straffe Handhabung der Füh-
rungsaufsicht, die wir uns in vielen Fällen wünschen,
notwendig ist. Sie müssen Ambulanzen fördern und die
Einrichtung von Krisenbetten in der Psychiatrie sicher-
stellen. All das kostet eine Menge Geld. Wenn es um
den Ruf nach härteren Gesetzen geht, dann gehen ei-
nige Landespolitiker gerne vorneweg. Aber durch ver-
bale Kraftmeierei wird Deutschland nicht sicherer.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mein Appell an die Länderminister lautet deshalb:
Zeigen Sie bitte auch dann Härte, wenn es um die Finan-
zierung geht! Dann wird die Reform der Führungsauf-
sicht ganz gewiss ein Erfolg.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)


Lassen Sie mich noch kurz auf den zweiten Komplex
dieses Gesetzesvorhabens eingehen. Wir erleichtern mit
diesem Gesetz die nachträgliche Verhängung der
Sicherungsverwahrung in sogenannten Altfällen. Bei
den Verhandlungen zur Wiedervereinigung hatte sich die
DDR gegen die Einführung einer Sicherungsverwahrung
in Ostdeutschland entschieden. Das ist zwar inzwischen
geändert worden. Aber für die Taten, die vor 1995 be-
gangen wurden, gibt es noch immer Klarstellungsbedarf.
Das hängt auch mit der Rechtsprechung des Bundesge-
richtshofs zusammen.

Diesen unbefriedigenden Zustand werden wir mit
dem jetzt zu verabschiedenden Gesetz ändern. Wir er-
möglichen künftig auch für diese sogenannten Altfälle
die nachträgliche Sicherungsverwahrung, wenn sich die
Gefährlichkeit des Täters schon bei dessen Verurteilung
gezeigt hat, aber zu diesem Zeitpunkt noch keine Siche-
rungsverwahrung möglich war. Natürlich bleibt es dabei,
dass eine Einschätzung der Gefährlichkeit des Täters er-
folgen muss und dass bewertet werden muss, welche
Fortschritte er bei der Resozialisierung gemacht hat. Es
bleibt auch dabei, dass unabhängige Gutachter ein psy-
chologisches Gutachten hinsichtlich der Frage erstellen
müssen, ob eine Sicherungsverwahrung angemessen ist.

Es bleibt ebenfalls dabei, dass alle zwei Jahre diese
Gutachten überprüft werden. Für die Täter besteht also
nach wie vor eine echte Chance der Resozialisierung.
Die Sicherungsverwahrung muss nämlich das bleiben,
was sie nach Ansicht dieses Hauses sein soll: eine Aus-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Brigitte Zypries
nahme für extreme Einzelfälle, eine Ausnahme für au-
ßergewöhnlich gefährliche Täter.

Beide Instrumente dienen dem Ziel, in unserer Gesell-
schaft einen besseren Schutz vor Rückfalltätern zu ga-
rantieren, auch wenn es eine totale Sicherheit in einem
freien Land natürlich niemals geben kann. Wir sind
schon heute eines der sichersten Länder der Welt; wir
wollen es auch gerne bleiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch bemer-
ken, dass wir nicht nur ein Land sein wollen, das sicher
ist, sondern dass wir auch ein Land sein wollen, in dem
geschiedenen Ehefrauen und nicht verheirateten Müttern
der Unterhalt ermöglicht wird. Deswegen möchte ich um
Nachsicht bitten, dass ich jetzt zu einem Gespräch über
die Unterhaltsrechtsreform gehen muss.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608814000

Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1608814100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Ministerin, ich habe hier schon mehrfach betont,
dass es Aufgabe der Opposition ist, dann zu kritisieren,
wenn etwas zu kritisieren ist. Aber die Opposition muss
sich auch dann zu Wort melden, wenn etwas gut ist. Ich
glaube, dass das, was wir heute beraten, grundsätzlich
gut ist.


(Dr. Carl-Christian Dressel Daher findet die Reform der Führungsaufsicht ausdrücklich unsere Zustimmung. Frau Ministerin, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es immer wieder Diskussionen gibt, wie man mit denen umgeht, die schwerste Verbrechen insbesondere an Kindern begangen haben. Die Vorgänge, die wir in den letzten Wochen erlebt haben, haben wieder einmal zu einer solchen Diskussion geführt. Der Eindruck in der Öffentlichkeit, dass die Zahl der Kindestötungen gestiegen ist, ist falsch. Wir hatten einen Höhepunkt in den 60er-Jahren. Danach ist diese Zahl erfreulicherweise zurückgegangen. Sie haben in diesem Zusammenhang zu Recht gesagt: Jedes getötete Kind ist ein Kind zu viel. Trotzdem gehört es zur Wirklichkeit, zu sagen, dass wir derzeit Gott sei Dank die niedrigsten Zahlen haben, die wir je in unserem Lande hatten. Das ist auch gut so. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber ich bin der Auffassung, dass wir die Verantwor-
tung für das Gefühl der Menschen nicht allein bei den
Medien abladen dürfen. Auch wir als Politiker sind in
der Verantwortung; denn jedes Mal, wenn etwas passiert,
findet in der Politik ein Überbietungswettbewerb dahin
gehend statt, was alles geändert werden soll. Ich finde,
gerade als Rechtspolitiker sind wir aufgerufen, Vor-
schläge zu machen, wie sich etwas wirklich vernünftig
ändert, damit sowohl die Rechte der Betroffenen als
auch die der Opfer in ein vernünftiges Verhältnis zuein-
ander gebracht werden.

Ich denke, dass deshalb die Führungsaufsicht eine
ganz wichtige Funktion hat. Es muss einen nachdenklich
machen, dass die Zahl der Sicherungsverwahrten, also
derjenigen, die praktisch in Haft bleiben, in den letzten
zehn Jahren um 120 Prozent gestiegen ist. Diese Zahl hat
sich enorm erhöht. Gleichzeitig ist die Führungsaufsicht
ein Mittel, das eigentlich sehr ideal ist. Auf der einen
Seite kann man Weisungen erteilen, die verhindern, dass
es zu Rückfalltaten kommt. Auf der anderen Seite wird
demjenigen, der schwere Straftaten begangen hat, die
Chance der Resozialisierung gegeben. Ich glaube, dass
deshalb die Führungsaufsicht ein ganz wichtiges Instru-
ment ist und es ein richtiger Ansatz ist, deren Möglich-
keiten zu verbessern.

Als jemand, der sich immer wieder sehr viele Gedan-
ken um den Opferschutz macht, gefällt es mir ganz be-
sonders, dass es jetzt ein Kontaktverbot gibt. Das war
der Vorschlag, den wir bei der rechtlichen Ausgestaltung
des Stalkings gemacht hatten, dass es nämlich klare Wei-
sungen an den Betroffenen gibt, was er nicht tun darf,
und es dann, wenn er dagegen verstößt, entsprechende
strafrechtliche Konsequenzen gibt.


(Beifall bei der FDP)


Ich will damit gleich zu einem aus unserer Sicht be-
stehenden Kritikpunkt kommen. Wir halten nichts da-
von, dass der Strafrahmen bei solchen Verstößen auf
drei Jahre angehoben wird; denn die Anhörung hat ge-
zeigt, dass von der schon bestehenden Möglichkeit bis-
her kaum Gebrauch gemacht wird. Das ist zwar allein
für sich kein Argument. Aber mich hat sehr überzeugt,
dass in dem Land, in dem diese Strafvorschrift beispiels-
weise dadurch zur Anwendung kommt, dass man das
Ganze zentral organisiert, bisher ausschließlich Geld-
strafen verhängt worden sind, die in diesem Zusammen-
hang aus Sicht der Richter ganz offensichtlich ausrei-
chen. Bisher sieht das Gesetz auch eine Freiheitsstrafe
von bis zu einem Jahr vor. Das scheint uns ausreichend
zu sein.

Ein weiterer Aspekt – auch dies möchte ich kritisch
anmerken – ist die Frage, welche Auflagen, welche An-
forderungen wir an die Therapeuten stellen. Auf der ei-
nen Seite kann eine Therapie nur dann erfolgreich sein,
wenn es ein Vertrauensverhältnis gibt; das ist ganz wich-
tig. Es kann sich nur etwas bessern, wenn der Therapeut
auf denjenigen, den er behandeln muss, auch einwirken
kann. Auf der anderen Seite kann es nicht sein, dass der
Therapeut, wenn er mitbekommt, dass eine Person, die
unter Führungsaufsicht steht, wieder schwerste Strafta-
ten plant und diese unmittelbar bevorstehen, davon keine
Nachricht gibt, sodass das unterbunden werden könnte.
Von daher muss das miteinander abgewogen werden.






(A) (C)



(B) (D)


Jörg van Essen
Wir machen Ihnen einen Vorschlag, wie das aus unse-
rer Sicht besser geschehen kann. Die Anhörung hat ge-
zeigt, dass uns insbesondere die Praktiker aus dem Be-
reich der Therapie darum bitten, zu einer engeren
Fassung zu kommen. Deshalb ist das unser Vorschlag.

Die Ministerin hat einen weiteren Punkt angespro-
chen, der heute ebenfalls Gegenstand der Debatte ist: die
nachträgliche Sicherungsverwahrung für in der frühe-
ren DDR Verurteilte und für Taten bis 1995. Dass dort
eine praktische Notwendigkeit besteht, sehen wir gerade
in Sachsen-Anhalt, wo die Polizei rund um die Uhr eine
Person, die weiter als gefährlich eingeschätzt wird, be-
wacht. Von daher gibt es also diese Notwendigkeit. Das
hat sich im Übrigen auch bei der Anhörung gezeigt; das
belegt, dass Anhörungen durchaus vernünftig sind. Denn
sowohl der Generalstaatsanwalt aus Thüringen als auch
der Generalstaatsanwalt aus Sachsen-Anhalt haben be-
richtet, dass voraussichtlich für jeweils fünf Personen in
ihren Ländern nachträgliche Sicherungsverwahrung in
Betracht kommt. Das sind Zahlen, die man nicht unter-
schätzen darf. Allein zehn Personen in diesen beiden
Ländern sind offensichtlich so gefährlich, dass sie nicht
wieder auf die Menschheit losgelassen werden können.
Deshalb haben wir die Verpflichtung, hier eine Regelung
zu treffen.

Aber wir haben auch die Verpflichtung, unsere Ver-
fassung zu beachten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht,
dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur unter
ganz engen Voraussetzungen verhängt werden darf.
Auch da hat die Anhörung ergeben, dass der Gesetzes-
text, so wie er von der Koalition und ursprünglich von
der Bundesregierung vorgeschlagen worden ist, zu weit
gefasst ist.

Wir teilen diese Kritik. Wir schlagen Ihnen deshalb
vor, eine Regelung, eine Formulierung zu finden – wir
haben sie gefunden –, die ganz speziell auf die Fälle in
der früheren DDR zugeschnitten ist. Wir bitten aus-
drücklich um Ihre Zustimmung.

Es gibt noch einen weiteren Punkt, bei dem wir eben-
falls anderer Auffassung sind als Sie. Es soll eine Erwei-
terung im Bereich des Jugendstrafrechts geben. Alle
Sachverständigen – einschließlich des angehörten Bun-
desanwalts, einschließlich der angehörten Generalstaats-
anwälte – haben kein Bedürfnis für diese Regelung gese-
hen. Wenn meine staatsanwaltschaftlichen Kollegen das
erklären, dann sollten wir das auch ernst nehmen. Des-
halb sind wir der Auffassung, das sollte nicht so geregelt
werden, wie es der Gesetzentwurf vorsieht.

Insgesamt aber ist das – das möchte ich zum Schluss
noch sagen – ein richtiger Schritt in die richtige Richtung.
Die Länder sind – die Ministerin hat das ausdrücklich ge-
sagt, und ich unterstreiche das – in der Verantwortung, an-
stelle von Überbietungswettbewerben der Innenminister
die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Das heißt,
mehr Bewährungshelfer, aber auch die entsprechenden
Ambulanzen – –

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608814200

Herr Kollege!


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1608814300

Frau Präsidentin, Sie weisen mich zu Recht auf die

Zeit hin.

Deshalb will ich damit schließen: Wir sollten darauf
achten, dass die Länder ihrer Verantwortung auch ge-
recht werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608814400

Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder, CDU/

CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Immer wieder reagiert die Bevölkerung fassungs- und
verständnislos darauf, dass Straftäter, gerade aus der
Haft entlassen, schon wieder ein kleines Kind schnap-
pen, es sexuell missbrauchen und töten.

Wegsperren! Und zwar für immer! – Das ist die For-
derung, die man da in der Bevölkerung hört. Aber so
einfach ist das nicht. Ein Wegsperren – und insbesondere
für immer – ist menschenverachtend, und deswegen lässt
das unsere Verfassung zu Recht nicht zu. Aber dennoch
– daran ändert auch eine Statistik nichts – hat die Bevöl-
kerung einen Anspruch darauf, sicher vor Straftätern le-
ben zu können.

Vor besonders gefährlichen Straftätern schützt die
Allgemeinheit die Sicherungsverwahrung, die sich an
die Haft anschließt. Aber die juristische Hürde für die
Verhängung einer Sicherungsverwahrung ist außeror-
dentlich hoch. So gibt es immer wieder die Fälle, dass
ein Strafhäftling nach Verbüßung der Endstrafe – Voll-
verbüßer genannt – aus der Haft entlassen werden muss,
ohne dass sich in seinem Kopf in der Haft auch nur die
geringste Kleinigkeit geändert hat. Die kriminelle Ener-
gie ist noch so groß wie am Anfang.

Einen solchen dürfen wir nicht einfach unkontrolliert
in die Freiheit entlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Wir dürfen auch nicht jeden, der aus dem Maßregelvoll-
zug kommt – sprich: aus der Psychiatrie oder aus einer
Entziehungsanstalt –, ohne Begleitung frei in die Gesell-
schaft entlassen. Dafür gibt es seit 1975 das Rechtsinsti-
tut der Führungsaufsicht. Führungsaufsicht heißt, dass
dem entlassenen Strafhäftling oder dem aus dem Maßre-
gelvollzug in die Freiheit Gelangten zum einen ein Be-
währungshelfer beigeordnet wird, der ihm in der Lebens-
führung hilft. Zum anderen untersteht er der Aufsicht
einer Führungsaufsichtsstelle.

Dieses Institut heißt Führungsaufsichtsstelle. Es ist
also nicht damit getan, zu sagen: Ein Therapeut braucht






(A) (C)



(B) (D)


Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)

ein Vertrauensverhältnis zu einem psychisch Kranken,
und deswegen muss er nicht berichten. Wir haben in un-
serem neuen Gesetz eine sogenannte Nachsorgeweisung
eingebaut. Das ist sicherlich etwas, das von allen als
sinnvoll erachtet wird. Der psychisch kranke Straftäter
hat sich regelmäßig in einer forensischen Ambulanz vor-
zustellen. Aber was ist, wenn er nicht kommt? Muss der
Therapeut die Verpflichtung haben, die Führungsauf-
sichtsstelle und den Richter zu informieren, dass der
Straftäter die Therapie nicht begleitet?

Was ist, wenn dieser zu Therapierende seinem Thera-
peuten eröffnet: „Ich habe schon wieder Lust auf kleine
Kinder“?


(Jörg van Essen [FDP]: Dann muss er reagieren!)


Auch das dürfen wir nicht zulassen. Da geht – das hat
Kollege van Essen zu Recht gesagt – der Opferschutz
eindeutig vor. Die Führungsaufsicht ist ein hervorragen-
des Instrumentarium für aktiven Opferschutz. Deswegen
standen wir vor der Frage, in welchem Umfang wir die
Schweigepflicht eines Therapeuten lockern. Der Erst-
entwurf war zugegebenermaßen etwas weit gefasst. In
der rechtspolitischen Debatte haben wir eine sehr diffe-
renzierte Lösung gefunden, die in erster Linie dazu
dient, den in psychiatrischer Behandlung Befindlichen
anzuhalten, sich der Therapie zu unterziehen.

Wenn das aber nicht geht, muss der Richter die Mög-
lichkeit haben, entsprechende Weisungen zu treffen. Es
gab dazu eine Sachverständigenanhörung. Ich habe sehr
wohl noch die Ausführungen des Herrn Dr. Wolf, Vorsit-
zender Richter am Landgericht Marburg, in Erinnerung,
der sagte:

Ich muss als Richter jemanden entlassen und ich
trage die Verantwortung und nicht irgendein Thera-
peut … Ich muss den Leuten … hinter die Stirn gu-
cken …

Er müsse wissen, was im Kopf des Täters vorgehe. – Wir
haben deswegen die Schweigepflicht des Psychothera-
peuten, die sich aus § 203 des Strafgesetzbuches ergibt,
moderat gelockert.

Was machen wir mit einem Vollverbüßer – also mit
jemandem, der seine Endstrafe verbüßt hat –, der, weil er
eine Sexualstraftat begangen hat, eine Weisung be-
kommt, sich von Kinderspielplätzen fernzuhalten, wenn
er sich nicht daran hält? Ich spreche ganz bewusst vom
Vollverbüßer, der die Endstrafe verbüßt hat; da gibt es
kein anderes Zwangsmittel mehr, als zu sagen: Dann be-
strafen wir dich, weil du diese Weisung nicht einhältst,
erneut. Wenn man sich dieses Beispiel vor Augen führt,
dann weiß man auch, wovon wir reden. Für einen Sexu-
alstraftäter, der wieder an Kindergärten und Spielplätzen
herumschleicht, genügt die einjährige Höchststrafe nach
§ 145 a StGB möglicherweise nicht. Aus genau diesem
Grund haben wir gesagt: Wir müssen die Höchststrafe
von einem Jahr auf drei Jahre erhöhen. Es gilt aber das,
was Frau Justizministerin Zypries gesagt hat: Da gibt es
in den Ländern Vollzugsdefizite. Vielleicht müssen wir
doch einmal ein offenes Wort mit den Landesjustizmi-
nistern und den Staatsanwälten reden.
Wir haben auch festgestellt, dass die Höchstdauer
der Führungsaufsicht von fünf Jahren vielleicht doch
etwas knapp bemessen ist. Es ist doch besser, jemanden,
von dem eine latente Gefährdung ausgeht, länger als
fünf Jahre – wenn es sein muss, auch ein Leben lang – zu
kontrollieren, als andere Maßnahmen zu treffen. Deswe-
gen haben wir mit diesem Gesetz die Möglichkeit ge-
schaffen, in bestimmten Fällen die Dauer der Führungs-
aufsicht über fünf Jahre hinaus zu verlängern.

Sie sehen also: Bei diesem Gesetz ist alles sehr wohl
bedacht und abgewogen. Wir haben auch Änderungs-
wünsche der Sachverständigen in diesen Gesetzentwurf
eingebaut. Wer für Opferschutz ist, kann diesem Gesetz
nur zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608814500

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608814600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kauder, ich möchte nicht versäumen, vorwegzustellen,
dass dieser Gesetzentwurf heute hier im wahrsten Sinne
des Wortes durchgepeitscht wird.


(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Er ist trotzdem gut!)


Erst am Montag fand eine Sachverständigenanhörung
statt; wegen der Einspruchsfrist mussten am Dienstag
vorgezogene Sitzungen des Innen- und des Rechtsaus-
schusses stattfinden.


(Joachim Stünker [SPD]: Wo waren Sie denn?)


Wir haben bis heute nicht einmal ein Protokoll der Sach-
verständigenanhörung vorliegen.


(Dirk Manzewski [SPD]: Kein Wort ist von Ihnen gekommen!)


Die Mehrheit von Ihnen hat es offenbar trotzdem schon
ausgewertet. Ich möchte Ihnen jedenfalls deutlich sagen,
dass das uns, der Opposition, nicht möglich gewesen ist.


(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Anwesenheit wäre gut gewesen!)


Ich halte es vor dem Hintergrund, dass die potenziel-
len Opfer von sexualisierter Gewalt wirklichen Schutzes
bedürfen – das ist überhaupt keine Frage –, für einen
Skandal, wenn man nur einzelne Punkte herausgreift und
vor allen Dingen darauf setzt, wegzuschließen. Sie, Herr
Kauder, haben das zwar eben hier dementiert; ich bin
aber der Meinung, dass genau das jetzt passiert: Vor al-
len Dingen will man die Leute wegschließen, sie zu im-
mer längeren Haftstrafen verurteilen. Über wirkliche
Abhilfe wird aber nicht ernsthaft diskutiert und schon
gar nicht beraten, auch aufgrund der Fragestellung bei
der Anhörung am Montag, die leider sehr eingeengt war.






(A) (C)



(B) (D)


Ulla Jelpke

(Dirk Manzewski [SPD]: Frau Kollegin, wir haben im Rechtsausschuss ausgiebig darüber debattiert! Seltsamerweise hat sich kein Vertreter Ihrer Fraktion geäußert!)


– Sie wissen selber, dass es nur einzelne Punkte gab, die
angesprochen werden konnten.

Wir reden hier über 40 bis 50 Personen, bei denen
durch eine nachträgliche Sicherungsverwahrung die
Zeit des Freiheitsentzugs verlängert werden könnte. Ob
damit erreicht wird, dass es auch nur ein Opfer sexuali-
sierter Gewalt weniger gibt, ist pure Spekulation. Denn
im Gegensatz zu Deutschland gibt es in anderen Staaten,
wie zum Beispiel den USA, Forschung und qualifizierte
Studien darüber – davon kann man bei uns kaum spre-
chen –, wie mit Sexualstraftätern im Vollzug umgegan-
gen wird. Es gibt bei uns auch nur wenige Studien über
Therapien.

Das sage ich Ihnen übrigens als Strafvollzugshelferin,
die 22 Jahre für Gefangene und mit Gefangenen gearbei-
tet hat. Fragt man die Anstaltsleiter, wer denn vom Rich-
ter im Urteil eine Therapie verschrieben bekommen hat,
erfährt man, dass es fast alle sind. Aber nur ein Bruchteil
davon bekommt wirklich eine Therapie. Ich meine, es
gehört dazu, dass ein Resozialisierungsprogramm diese
Dinge bewertet, von der Forschung ausgewertet wird
und Veränderungen aufzeigt.

Eine Auswertung der Rückfallquote therapierter
Straftäter zeigt ganz deutlich, dass sie signifikant sinkt.


(Jörg van Essen [FDP]: Was sind die?)


Sie könnte weiter sinken, wenn der Strafvollzug bei sei-
nen Aufgaben andere Schwerpunkte setzen würde. Dass
er das nicht kann – Sie wissen, dass der Strafvollzug im
Moment auf der Länderebene verantwortet wird –, wis-
sen Sie. Hier muss man ganz deutlich sagen: Psychothe-
rapie und ähnliche Dinge fallen dem Rotstift zum Opfer.
Das kann nicht im Sinne der Sache sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Statt hier gegenzusteuern, betont der Gesetzentwurf
einseitig die Kontrollfunktion der an die Haft anschlie-
ßenden Führungsaufsicht. Dadurch werden andere, sinn-
volle Neuerungen konterkariert. Sie heben die Schwei-
gepflicht der Therapeuten zum Teil auf. Sie schaffen
ohne sachlichen Grund die Möglichkeit lebenslanger
Führungsaufsicht. Sie verschärfen auf absurde Weise das
Sonderstrafrecht des § 145 a Strafgesetzbuch.

Die Koalition will nachträgliche Sicherungsverwah-
rung auch dann ermöglichen, wenn sie zum Zeitpunkt
der erstmaligen Verurteilung eines Straftäters noch nicht
möglich war. Damit hebeln Sie den verfassungsrechtli-
chen Vertrauensschutz auf und verstoßen gegen elemen-
tare Rechtsgrundsätze.


(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Haben Sie ein bisschen Ahnung von dem, worüber Sie sprechen?)


Ich fasse zusammen: Während sich der Strafvollzug
weiter verschlechtert, werden Sicherungsverwahrung
und eine rein kontrollierende Führungsaufsicht ausge-
weitet. Mit anderen Worten: Es geht im Strafvollzug
schon längst nicht mehr um Resozialisierung, sondern
um Wegsperren und Kontrolle. Es geht nicht um psycho-
soziale Betreuung und therapeutische Angebote, sondern
um noch mehr und immer längeren Freiheitsentzug. Da-
mit nimmt man den Betroffenen noch die letzte Perspek-
tive, die sie haben: eines Tages wieder in Freiheit und
selbstbestimmt leben zu können.


(Daniela Raab [CDU/CSU]: Was sagen Sie den Opfern, Frau Jelpke? Erzählen Sie denen das Gleiche?)


Diesem wichtigen Resozialisierungsauftrag haben Sie
hier zugestimmt; diesen muss man einklagen.

Das Prinzip „wegsperren statt resozialisieren“ ent-
springt im Übrigen der Ideologie einer konflikt- und kri-
minalitätsfreien Volksgemeinschaft. Die geistigen Urhe-
ber der Sicherungsverwahrung – das wissen Sie; das hat
auch ein Sachverständiger gesagt – waren die Nazis. Aus
gutem Grund hat die DDR diese Sonderregelung damals
abgeschafft.


(Lachen bei der SPD)


– Ja, so ist es.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608814700

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.


(Beifall des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/ CSU])



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608814800

Ich komme gleich zum Schluss. –


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sie sind schon am Anfang am Ende gewesen!)


Im Einigungsvertrag wurde geschrieben, dass es andere
Wege geben muss, als einen Menschen lebenslang hinter
Gitter zu sperren.

Ich sage noch einmal: Wegsperren bringt nichts, son-
dern resozialisieren.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608814900

Frau Kollegin, Sie wollten zum Schluss kommen.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608815000

Ja, das ist mein letzter Satz. – Schaffen Sie Therapie-

plätze. Dann wird sich einiges ändern.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608815100

Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/

Die Grünen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608815200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kollegin Jelpke, meine Redezeit ist zu kurz, als dass ich
darauf eingehen könnte, wie Sie die Zustände in der
DDR geschildert haben.






(A) (C)



(B) (D)


Jerzy Montag

(Jörg van Essen [FDP]: Es ist auch besser, wenn Sie es nicht tun!)


Das überlasse ich den nachfolgenden Rednern; sie haben
dafür mehr Zeit.

Führungsaufsicht ist ein Instrument des Staates, mit
dem Straftätern, die zur Bewährung oder nach Vollver-
büßung in die Freiheit entlassen werden, zuallererst ge-
holfen werden soll. Es ist eine Hilfe für sie, in Zukunft
straffrei zu sein. Es ist aber auch ein Instrument des Staa-
tes, mit dem er dafür sorgen kann, dass, wenn es notwen-
dig ist, potenzielle Opfer in einer Übergangszeit vor die-
sen Menschen, die sich wieder in Freiheit befinden,
geschützt werden. Das Instrument der Führungsaufsicht
ist notwendig und hat sich bewährt.

Seit langem ist eine Reform in der Diskussion. Wir,
die Grünen, begrüßen die Änderungen, die jetzt im Ge-
setz vorgesehen sind und über die wir schon lange disku-
tiert haben. Wir sind froh darüber und unterstützen diese
Änderungen.

Bei dem Gesetzentwurf gibt es positive Aspekte:


(Jörg van Essen [FDP]: Eindeutig!)


Der Ausbau und die Stärkung der Führungsaufsichtsstel-
len sind richtig. Die Einrichtung von psychiatrischen
Ambulanzen und die Möglichkeit einer Kriseninterven-
tion – statt sofort wieder ins Gefängnis oder in den Maß-
regelvollzug – sind richtig. Auch die Ausweitung des
Weisungskatalogs ist richtig; denn er hat sich in der Pra-
xis als lückenhaft erwiesen. Wenn gesagt wird, dass die
neue Weisung, die ganz explizit auf den Opferschutz
ausgerichtet ist, völlig richtig ist, kann ich dem nur zu-
stimmen.


(Jörg van Essen [FDP]: Ja! Sehr schön!)


Die Große Koalition wäre aber nicht die Große Koali-
tion, wenn in der Rechtspolitik die rechte Hand nicht im-
mer wieder das, was die linke Hand mühsam aufgebaut
hat, wieder einreißen würde. So hat dieser Gesetzent-
wurf neben den positiven Aspekten natürlich etliche ne-
gative, die wir benennen müssen:

Über den § 145 a StGB und die Ausdehnung der
Höchststrafe für Weisungsverstöße auf drei Jahre ist
schon gesprochen worden. Herr Kollege Kauder, wenn
Sie uns nur einen einzigen Fall nennen könnten, bei dem
ein Gericht die Höchststrafe von einem Jahr verhängt
und sich dies als zu kurz erwiesen hat, würde ich sofort
mit Ihnen in eine Diskussion darüber einsteigen, ob wir
eventuell eine Erweiterung brauchen. Die Fakten bele-
gen das genaue Gegenteil. Die Gerichte machen von die-
ser Vorschrift überhaupt keinen Gebrauch. Es gibt ganz
wenige Verurteilungen. Diese Vorschrift hat sich als
Schutzvorschrift und Ultima Ratio als nicht effektiv er-
wiesen. Es gibt gewichtige Stimmen, die sagen, man
sollte sowieso damit aufhören und auf ein anderes Sys-
tem umsteigen. Diese Stimmen überhören Sie. Stattdes-
sen erweitern Sie lediglich den Strafrahmen auf drei
Jahre. Das lehnen wir ab.

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608815300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kauder?


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608815400

Gerne.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608815500

Bitte.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Herr Kollege Montag, ich würde Ihnen Ihre Frage, ob
ein Jahr zu kurz ist, sehr gerne beantworten. Können wir
uns aber darauf einigen, dass eine Antwort nicht möglich
ist, weil es bisher rechtstechnisch gar nicht umsetzbar
war? Da die Höchststrafe ein Jahr betrug, konnte ein
Richter nicht mehr verhängen und prüfen, ob mehr bes-
ser ist.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ultra posse nemo obligatur!)



Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608815600

Sie sollten in der Situation, in der Sie jetzt sind, ei-

gentlich Fragen stellen und nicht meine Frage beantwor-
ten.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Hat er doch!)


Das können wir später tun.

Auf Ihre Frage, wenn es denn eine war, will ich Ihnen
sagen: Sie haben es nicht verstanden. Wenn wir in unse-
rem Land tatsächlich Menschen unter Führungsaufsicht
hätten, die Weisungsverstöße begingen, die deswegen
als Vollverbüßer vor dem Strafrichter landeten, die Straf-
richter mehrmonatige, achtmonatige, zehnmonatige oder
Freiheitsstrafen von einem Jahr verhängen würden und
diese Täter nach einem Jahr lachend aus dem Gefängnis
herauskämen, um dann Straftaten zu begehen, wenn wir
also eine Situation hätten, in der wir evident darüber dis-
kutieren müssten, ob nicht eine längere Strafe erforder-
lich ist, dann würde ich mich auf die Diskussion einlas-
sen. Solche Fälle gibt es aber überhaupt nicht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Jörg van Essen [FDP]: Genau!)


Wir haben ganz wenige Verurteilungen, alles Geldstra-
fen. Es gibt also kein Bedürfnis nach einer Änderung.

Das, was Sie machen, Herr Kollege Kauder, ist
Schaufensterpolitik. Das, wozu Sie die Ministerin
Zypries in der Großen Koalition zwingen, hat sie als un-
ter ihrer Würde bezeichnet. Das ist das, was ich mit „Die
eine Seite baut auf, und die andere Seite reißt ein“ be-
zeichnet habe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Jörg van Essen [FDP])


Zu den Offenbarungspflichten, die Sie einführen.
Herr Kollege Kauder, es geht nicht an, dass Sie hier im






(A) (C)



(B) (D)


Jerzy Montag
Bundestag das Problem beschönigen, indem Sie sagen,
Sie würden in Ihrem Gesetzentwurf lediglich die Ver-
schwiegenheitspflichten des § 203 StGB öffnen. Das ist
nicht wahr. Die Wahrheit ist, dass Sie darüber hinaus
eine Offenbarungspflicht für Ärzte, für Psychiater, für
Psychologen – auch für frei arbeitende Psychiater und
Psychologen – schaffen,


(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Richtig!)


nicht nur das Recht, nicht schweigen zu müssen, sondern
auch die Pflicht, etwas zu sagen. Das ist viel mehr. Da-
von haben Sie nicht gesprochen. Deswegen sage ich Ih-
nen: Sie dürfen auch nicht verschweigen, was Sie in Ih-
ren Gesetzentwurf geschrieben haben.

Sie haben in ihren Gesetzentwurf geschrieben, dass es
eine Benachrichtigungspflicht geben soll, wenn der Wei-
sung, sich bei einem Psychiater vorzustellen oder an einer
Behandlung teilzunehmen, nicht nachgekommen wird.
Das unterschreiben wir; wir haben auch gesagt, dass wir
das mittragen.

Sie haben geschrieben, dass es eine Pflicht zur Offen-
barung geben wird, wenn unmittelbare schwere Gefah-
ren für Dritte drohen. Auch das unterschreiben wir, auch
das haben wir gesagt.

Aber über den streitigen dritten Punkt, von dem wir
dringend abgeraten haben, haben Sie hier im Plenum ge-
schwiegen: Sie wollen die Therapeuten – die Psycholo-
gen, die Psychiater, die Ärzte – verpflichten, in unge-
nannten Fallgestaltungen mit hochkomplexen Folgen
wie der Rücknahme einer Aussetzung oder einer unbe-
fristeten Führungsaufsicht, wo im Einzelnen überhaupt
nicht klar ist, welche Elemente zu dieser gerichtlichen
Handlung führen werden, Angaben über ihre Patienten
zu machen. Dazu haben alle Sachverständigen in der
Anhörung gesagt: Das geht zu weit, das wollen wir
nicht.

Zur Sicherungsverwahrung ist hier schon etwas ge-
sagt worden. Meine Zeit erlaubt mir nicht, dazu Stellung
zu nehmen. Ich verweise auf das, was ich im Rechtsaus-
schuss ausführlich gesagt habe. Ich sage Ihnen nur Fol-
gendes: Wir haben uns an dieser Debatte konstruktiv be-
teiligt. Heute liegen Ihnen zwei Änderungsanträge vor;
diese Änderungsanträge betreffen die wirklich streitigen
Dinge.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608815700

Herr Kollege Montag!


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608815800

Wenn Sie uns in diesen Änderungsanträgen folgen,

dann werden wir Ihrem Gesetz zustimmen. Da Sie es
aber nicht tun wollen, werden wir das Gesetz ablehnen
müssen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608815900

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1608816000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zum Themenbereich der Führungsaufsicht ist eigentlich
alles gesagt, was zu sagen war. Aber lassen Sie mich
noch einmal darauf hinweisen, dass es letzten Endes um
Menschen geht, um Täterinnen und Täter geht, deren
Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach Verbü-
ßung ihrer Haft uns gefährdet erscheint. Es geht um ei-
nen Personenkreis, der gefährdet ist, erneut Straftaten zu
begehen. Da müssen wir das Sicherheitsinteresse der
Allgemeinheit und die Freiheitsrechte des Einzelnen im-
mer sehr sorgfältig gegeneinander abwägen.

Ich denke, wir haben dafür mit dem Gesetz zur No-
vellierung der Sicherungsverwahrung eine gute Rege-
lung geschaffen. Bei der Anhörung haben uns die Sach-
verständigen ja durch die Bank gesagt: Jawohl, das ist
eine gute Regelung. Man kann an dem einen oder ande-
ren Punkt möglicherweise noch etwas verbessern; aber
insgesamt ist die Regelung gut. Wenn ich die Reden hier
höre, habe ich allerdings gelegentlich den Eindruck, ich
war auf einer anderen Veranstaltung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ich glaube, es war eine ganz andere als die, die ich gehört habe! Wenn wir ein Protokoll hätten, könnten wir alles nachlesen!)


Ich denke, die gefundene Regelung wird sich jetzt in
der Praxis bewähren müssen. Jetzt müssen die Länder
das Personal zur Verfügung stellen, das notwendig sein
wird, damit die Führungsaufsicht, deren Parameter wir
teilweise neu geregelt haben, in der Praxis genau so um-
gesetzt werden kann; Frau Ministerin Zypries hat zu
Recht darauf hingewiesen. Das bedarf schon der einen
oder anderen Aufwendung. Wir werden sehr genau be-
obachten, ob die Länder den Weg, den wir mit diesem
Gesetz vorgezeichnet haben, denn auch wirklich mitge-
hen. Ich denke schon, wir werden da aufpassen müssen.

Wir wissen ganz genau, dass wir als Gesetzgeber
auch durch diese Regelungen keine absolute Sicherheit
gewährleisten können. Wir können nicht ausschließen,
dass es trotzdem zu schlimmen Straftaten kommt und
dass Strafentlassene erneut schlimme Straftaten bege-
hen. Auch in einer solchen Debatte muss man bekennen:
Der demokratische Rechtsstaat wird in einer pluralisti-
schen Gesellschaft niemals absolute Sicherheit gewähr-
leisten können. Wir können nur das tun, was vor dem
Hintergrund unserer Verfassung und unter Beachtung
der Freiheitsrechte sowie der Sicherheitsinteressen des
Einzelnen möglich ist. Aber man muss immer deutlich
machen – das sei manchen Medien, aber auch manchen
Sonntagsrednern gesagt –: Wir werden nie ganz aus-
schließen können, dass es hier Rückfalltäter gibt.

Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zur Regelung im
Hinblick auf die Sicherungsverwahrung sagen, die schon






(A) (C)



(B) (D)


Joachim Stünker
angesprochen worden ist. Frau Kollegin Jelpke, Sie ha-
ben sich damit gerühmt, dass die DDR die Sicherungs-
verwahrung abgeschafft hat.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Fragen Sie, warum die Nazis sie eingeführt haben!)


Wenn ich bösartig wäre, würde ich sagen: Wenn man ein
Volk von 16 Millionen Menschen bereits sicherungsver-
wahrt hat,


(Jörg van Essen [FDP]: Ja! Da ist etwas dran! Genauso ist es!)


dann braucht man keine individuelle Sicherungsverwah-
rung mehr, Frau Kollegin Jelpke.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Dem Kollegen Montag möchte ich bei dieser Gele-
genheit sagen: Bei dieser Regelung geht es darum, die
vorhandenen Lücken zu schließen, um die sogenannten
Altfälle erreichen zu können. Es geht nicht darum, die
Freiheits- und Bürgerrechte dem Sicherheitsstaat unter-
zuordnen, wie Sie in einer Pressemitteilung vom
20. März dieses Jahres geschrieben haben. Ich fordere
Sie freundschaftlich, aber bestimmt auf: Unterlassen Sie
bitte solch diffamierende Unterstellungen gegenüber der
Koalition.


(Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Bei jeder Gelegenheit, auch in der Rede, die Sie gerade
gehalten haben, unterstellen Sie uns, wir würden die
Freiheitsrechte des Einzelnen nicht respektieren.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie ziemlich oft nicht! Diese Aussage könnte man sogar noch verschärfen! Guckt euch doch nur einmal die Sicherheitsgesetze an, die Herr Schäuble auf dem Tisch hat! – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Seien Sie doch nicht immer so empfindlich, Herr Kollege!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608816100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Montag?


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1608816200

Ja, von Herrn Montag immer. – Bitte schön.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608816300

Danke, Frau Präsidentin. – Ich danke auch Ihnen,

Herr Kollege Stünker, dass Sie mir gestatten, eine Frage
zu stellen, nachdem Sie mich persönlich angesprochen
haben. Ich möchte Sie fragen, ob Sie bereit sind, zur
Kenntnis zu nehmen, dass sich meine Kritik, die ich öf-
fentlich geäußert habe, nicht gegen das Ansinnen rich-
tete, die im Recht der Sicherungsverwahrung aufgetrete-
nen Sicherheitslücken zu schließen, die es in den
Zeiträumen von 1990 bis 1995, von 1995 bis 1998 und
von 1998 bis 2004 gab.

Wir selbst haben einen Vorschlag gemacht, um diese
Lücken zu schließen. Sie allerdings wollen mit Ihrem
Gesetzentwurf eine Regelung einführen, die nicht nur
die Lücken aus der Vergangenheit schließt – Lücken, die
seit 2004 geschlossen sind –, sondern der auch unser ge-
meinsames rot-grünes Gesetz aus dem Jahre 2004 auf-
bohrt. Sie bohren das strikte Novenrecht der nachträgli-
chen Sicherungsverwahrung, nach dem neue Tatsachen
notwendig sind, um nachträglich eine Sicherungsver-
wahrung anzuordnen, auf. Dies habe ich als einen Ver-
stoß gegen die Grundregeln unseres Rechtsstaates kriti-
siert.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Womit du recht hast! Richtig ist das!)



Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1608816400

Natürlich nehme ich das zur Kenntnis, Herr Kollege

Montag. Warum sollte ich das nicht zur Kenntnis neh-
men? Aber Sie haben Ihre Frage wieder verwandt, um
Ihre Meinung deutlich zu machen,


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür ist sie ja da!)


die Sie vorhin in Ihrer Rede nicht mehr bringen wollten.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich gemacht, ja! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich ist das! Ordnungsgeld! Rausschmeißen!)


– Herr Beck, Sie werden ertragen müssen, dass ich zu
Ende rede. Sie mit Ihrem Handy hören ja sowieso nicht
zu.


(Jörg van Essen [FDP]: Er ist ja auch kein Jurist! Deswegen ist er nicht so sehr in der Thematik!)


Herr Kollege Montag, ich will dazu nur eines sagen:
Über dieses Thema können wir uns akademisch lange
streiten. Für mich gilt nach wie vor: Durch die Regelung,
die wir getroffen haben – diese Einschätzung ist von den
Sachverständigen in der Anhörung geteilt worden –,
wird das gesamte Instrumentarium der Sicherungsver-
wahrung nicht so stark aufgebohrt, wie Sie es befürch-
ten. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn es wirklich so
kommen sollte, dass die Rechtsprechung Ihre Schluss-
folgerungen zieht, dann müssten wir in der Tat etwas än-
dern. Aber ich bin ganz sicher: Mit der Regelung, die
wie im Gesetzentwurf getroffen und in der Begründung
dargelegt haben, regeln wir nur die Altfälle, die wir da-
mit auch regeln wollten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie es doch gleich richtig!)


Wir müssen uns bei der Diskussion auch immer wie-
der klarmachen, worüber wir eigentlich reden. Wir reden






(A) (C)



(B) (D)


Joachim Stünker
hier über gefährlichste Straftäter, die wegen grauenvoller
und grauenvollster Straftaten, wegen Verbrechen, lang-
fristige Freiheitsstrafen verbüßt haben und über die uns
die Sachverständigen prognostisch sagen, dass die Ge-
fahr besteht, dass sie nach der Haftentlassung erneut in
gleicher Weise straffällig werden. Der Rechtstaat muss
dort handeln und ein Instrumentarium schaffen, um dem
Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit zu genügen.

Ich weise immer wieder darauf hin, dass wir dieses
Instrumentarium bereits in der letzten Legislaturperiode
dadurch geschaffen haben, dass wir den nötigen Grund-
rechtsschutz, den Freiheitsschutz, über das Verfahren
gewährleisten. Das heißt, es muss eine neue Hauptver-
handlung mit allen rechtsstaatlichen Sicherungen und
Möglichkeiten für denjenigen stattfinden, der weiterhin
in Sicherheitsverwahrung belassen werden soll. Es muss
eine öffentliche Beteiligung und Möglichkeiten der Re-
vision sowie alles, was dazugehört, geben. In diesem
völlig rechtsstaatlichen Verfahren müssen uns zwei
Sachverständige sagen: Jawohl, hier ist eine entspre-
chende Gefährlichkeit gegeben.

Ich kann nur sagen: Dann kann man es verantworten,
auch solche Regelungen zu treffen; denn bei jedem Fall,
wie dem von Mitja in Leipzig oder anderen, stehen wir
auch immer vor der Öffentlichkeit und müssen sozusa-
gen bekennen, was wir getan haben, um die notwendige
Vorsorge zu treffen. Ich meine, wir haben das hier getan.
Das heißt, das, was rechtsstaatlich möglich und vertret-
bar ist, ist immer die Grenze. Über diese Grenze sind wir
auch in diesem Fall nicht hinausgegangen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Ich muss
allerdings auch bekennen, dass die Regelungen zur Si-
cherungsverwahrung, die seit Ende der 90er-Jahre Stück
für Stück verändert worden sind, mittlerweile in der Tat
ein Paragrafenwerk darstellen, das nur noch schwer
durchschaubar ist. Auch für den Fachmann, den Straf-
rechtler, der jeden Tag damit zu tun hat, ist das nur noch
schwer überschaubar. Von daher sind wir in der Koali-
tion übereingekommen, das Gesamtpaket neu zu über-
arbeiten. Dieser Aufgabe stellen wir uns.

Herr Kollege Montag, nehmen Sie uns doch beim
Wort, dass wir in dieser Legislaturperiode noch etwas
Neues dazu vorlegen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608816500

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Dr. Jürgen Gehb.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1608816600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die De-

batte hat moderat angefangen, aber die letzten Beiträge,
Herr Montag, verleiten mich doch zu einer Bemerkung.

Sie alle wissen, was man sich unter einem Montags-
auto vorzustellen hat. Das sind reparaturanfällige Autos,
mit denen man unzufrieden ist. Es sind also quasi Murks-
autos. Herr Montag, diese Metapher haben Sie nun durch
eine weitere Variante bereichert:


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Murks ist die Große Koalition!)


Auf Ihrer Homepage wird nämlich von „Montags Ge-
spräch“ berichtet, welches Sie zwei Tage vor Nikolaus,
am 4. Dezember letzten Jahres, mit der bayerischen Jus-
tizministerin Beate Merk geführt haben. Eine Zwischen-
überschrift lautet: „Sicherungsverwahrung ist keine Lö-
sung“.

Sie haben das in der Debatte am 14. November 2002
gegeißelt wie kein Zweiter. Noch vorgestern haben Sie
in Ihrer Presseerklärung geschrieben, wir würden dort
galoppartig durchgehen und Sie bräuchten alle Zeit und
allen Raum, um das zu diskutieren. Kurz vor Tores-
schluss haben Sie dann allerdings noch die Kurve ge-
kriegt und selbst zwei Anträge vorgelegt. Na, besser spät
als nie. Wir brauchen Ihre Belehrungen aber nicht, wir
bringen unsere eigenen Anträge durch, Herr Montag.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Alle Debatten über die Sicherungsverwahrung – ob es
die originäre, die vorbehaltene oder die nachträgliche
ist – haben gezeigt, dass das ein von vielen ungeliebtes
Kind ist. Auch mein Kollege Stünker hat nie einen Hehl
daraus gemacht, dass er nicht ein glühender Verfechter
der Sicherungsverwahrung ist. Das ist übrigens niemand.
Wenn ich daran denke, was Frau Laurischk am
14. November 2002 in diesem Haus gesagt hat – übri-
gens in ihrer Jungfernrede –, dass nämlich diese Siche-
rungsverwahrung gegen das Verbot der Doppelbestra-
fung verstößt, muss ich sagen: Inzwischen dürfte doch
wirklich klar sein, dass das nicht so ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat sowohl am
5. Februar 2004 als auch am 10. Februar 2004 Entschei-
dungen dazu getroffen. Beide Entscheidungen sind abge-
druckt und nachzulesen im 109. Band, und zwar nicht
auf Seite 109, sondern auf Seite 190 – das ist also ein
kleiner Dreher in der Begründung, Alfred – und auf
Seite 133. Es hat festgestellt, dass sie weder gegen den
Grundsatz „ne bis in idem“ noch gegen den Grundsatz
„nulla poena sine lege“ oder irgendeinen anderen Verfas-
sungsgrundsatz verstößt. Das hat das Bundesverfas-
sungsgericht übrigens in seiner Entscheidung vom
8. Dezember 2005 noch einmal zusammengefasst. Das
heißt, die Schlachten von gestern über die Verfassungs-
mäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit brauchen wir in
der jetzigen Situation nicht mehr zu schlagen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh doch!)


Nachdem das feststeht und die Landesunterbrin-
gungsgesetze durch die Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts aufgehoben wurden, war die damalige
Bundesregierung geläutert und hat die nachträgliche Si-
cherungsverwahrung ins Gesetzblatt gebracht. Dabei ist
sie davon ausgegangen, dass nunmehr nahezu alle Lü-
cken geschlossen sind und dass solche Straftäter, bei de-
nen sich im Verlaufe des Vollzuges ergibt, dass sie ge-
fährlich sind, nicht mehr aus dem Vollzug entlassen






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Jürgen Gehb
werden dürfen und die alle zwei Jahre vorzunehmende
Überprüfung nach wie vor aufrechterhalten wird.

Allerdings ist diese Intention des Gesetzgebers durch
eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs sozusagen
konterkariert worden. Ich will keine Gerichtsschelte be-
treiben. Wenn man den Wortlaut betrachtet, kann man
dies sogar verstehen. Denn der Bundesgerichtshof hat
festgestellt, dass die Fälle, um die es geht – die soge-
nannten Altfälle –, nicht unter die Vorschrift des § 66 b
Strafgesetzbuch fallen, in der es um die nachträgliche Si-
cherungsverwahrung bei Vorliegen neuer Tatsachen
geht.

Wegen des medialen Echos und des Hilferufs der
Landesjustizministerinnen Frau Kolb und Frau Blechinger
und des Generalstaatsanwalts Rautenberg mussten wir in
der Tat schneller, als es vielleicht sonst notwendig ge-
worden wäre, dafür Sorge tragen, dass ein entsprechen-
der Gesetzentwurf bis zum 30. März im Bundesrat vor-
liegt. Unser Gesetzentwurf unterscheidet sich nicht
wesentlich von Ihrem Änderungsantrag.

Was Ihre Äußerung angeht, der Gesetzentwurf bohre
viel auf, will ich auf den Wortlaut verweisen. Es geht nur
darum, dass neue Tatsachen im Sinne dieses Gesetzes
auch solche sind, die bei der Erstverurteilung erkennbar
waren, zum Teil sogar zur Sicherungsverwahrung ge-
führt haben, aber aus den schon mehrmals genannten
Gründen – Einigungsvertrag – nicht haben verhängt wer-
den dürfen. Nur das wird jetzt geregelt. Das wollen wir
mit unserem Gesetzentwurf, das wollen Sie mit Ihrem
Antrag, und das will die FDP.

Wir haben – was nicht weiter verwunderlich ist – un-
serem eigenen Vorschlag zum Erfolg verholfen, nämlich
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608816700

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Montag?


Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1608816800

Vielleicht stellt er wirklich einmal eine Frage.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608816900

Danke, Frau Präsidentin. Ich danke auch Ihnen, Herr

Kollege Gehb, dass Sie diese Frage gestatten. Natürlich
wird in diese Frage meine Position einfließen.


Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1608817000

Wie könnte es anders sein?


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608817100

Natürlich, sonst würden Sie die Frage gar nicht ver-

stehen.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Er bemüht sich!)


Meine Frage lautet: Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass der Änderungsantrag zu dem Gesetzent-
wurf, den die Grünen im Rechtsausschuss und auch
heute im Plenum vorgelegt haben, nach seinem Wort-
laut, der Begründung und seinem Sinngehalt die Lücken,
die sich bis zum Jahr 2004, als der Art. 1 a des EGStGB
aufgehoben worden ist, auftaten, schließt, und zwar ex-
plizit bezogen auf Zeiträume in der Vergangenheit, wäh-
rend Sie mit Ihrem Gesetzentwurf, den Sie inhaltlich
richtig wiedergegeben haben, ein Gesetz formulieren,
das nicht nur für die vergangenen Fälle gilt, sondern
auch für alle zukünftigen Fälle gelten wird, in denen
keine neuen Tatsachen gelten, sondern alte Tatsachen zu
einer neuen Entscheidung nachträglicher Sicherungsver-
wahrung verwendet werden können?


Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1608817200

Ich nehme zur Kenntnis, dass Ihr Änderungsantrag

zwar dem Petitum, diese Lücke schließen zu wollen,
Rechnung trägt – das habe ich eben bereits konzediert;
man könnte noch die eine oder andere Formulierung fin-
den; es gibt auch einen Formulierungsvorschlag des
Bundesrates –, aber in einem Punkt teile ich Ihre Auffas-
sung, die Sie schon im Rechtsausschuss vertreten haben,
nicht, Herr Montag, nämlich dass mit unserer Formulie-
rung nicht nur die Altfälle gelöst werden, sondern dass
wir zu einer solchen Auffächerung kommen, dass sozu-
sagen jede rechtliche Unmöglichkeit die Anwendung er-
lauben würde. Das hieße – überspitzt gesagt –, da es
unmöglich ist, wegen Ladendiebstahls in Sicherungsver-
wahrung zu kommen, könnte jemand bei sophistischer
Betrachtung sagen: Da das unmöglich ist, verhängen wir
nachträglich Sicherungsverwahrung. Glauben Sie ei-
gentlich, dass die Richter oder wir verrückt geworden
sind? Das ist doch überhaupt nicht gemeint. Nur bei bös-
williger, sophistischer Auslegung unseres Gesetzent-
wurfs kann man uns unterstellen, dass wir sozusagen
mehr Fälle regeln wollen als diejenigen, die aus der Be-
gründung deutlich erkennbar werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Herr Montag, es nutzt Ihnen gar nichts, mich in die
Bredouille zu bringen. Ich hätte Ihre Frage verstanden,
auch wenn Sie nicht ein eigenes Statement abgegeben
hätten, anders als viele andere, die es zunächst akustisch
hören müssen. Wenn sie diese Hürde überwunden haben,
haben sie als Nächstes Schwierigkeiten, es intellektuell
zu verstehen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie kein Problem!)


Selbst wenn sie das geschafft haben, haben sie noch
lange kein Verständnis. – So, nun können Sie sich set-
zen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich will zur nächsten Frage kommen. Was in diesem
Zusammenhang geradezu schofel ist, ist das, was heute
bei Ihnen, Frau Jelpke, angeklungen ist, genauso wie in
der Sachverständigenanhörung. Sie tun so, als wäre die
DDR ein größerer Rechtsstaat gewesen, als es die Bun-
desrepublik Deutschland ist.


(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Das hat keiner gesagt! Das unterstellen Sie!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Jürgen Gehb
Dazu kann ich nur eines sagen: Bei so schillernden Ge-
stalten wie der früheren Justizministerin Hilde Benjamin,
auch „Bluthilde“ genannt, uns zu unterstellen, dass wir
sozusagen nationalsozialistisches Gedankengut oder
Rechtsgut in unserem Strafgesetzbuch haben – Sie soll-
ten die Geschichte einmal genau nachlesen; diese Dinge
kamen vom Kaiserreich über die Weimarer Republik
und fanden 1933 in einem Gesetz gegen Gewohnheits-
verbrecher ihren Niederschlag –, und so zu tun, als hätte
die DDR aus dem Grund, nicht nationalsozialistisch sein
zu wollen, das verhindert, während die Bundesrepublik
das völlig unreflektiert übernommen hätte, ist ein dicker
Hund. Das kann das ganze Haus nicht auf sich sitzen las-
sen. Das sage ich, glaube ich, im Namen aller Kollegin-
nen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich hoffe, dass wir uns nicht noch 15-mal zur Nach-
besserung von Regelungslücken betreffend die Proble-
matik der Sicherungsverwahrung treffen werden. Wir
werden uns sicherlich noch einmal treffen, wenn es um
die nachträgliche Sicherungsverwahrung von nach Ju-
gendstrafrecht Verurteilten geht, allerdings zu einem
Zeitpunkt, wenn die Betreffenden schon längst erwach-
sen sind, zum Beispiel den Fall, in dem ein 17-Jähriger
wegen Mordes verurteilt wird und dann, wenn er 27 ist,
die Prognose gestellt wird, ob man ihn herauslassen
kann oder nicht; das will ich nur ankündigen. Ansonsten
hoffe ich, dass wir unseren Gesetzentwurf auch ohne
Ihre Zustimmung mit der notwendigen Mehrheit ins Ge-
setzblatt bringen, damit am 27. April nicht der hochgra-
dig gefährliche Sexualstraftäter in Brandenburg wieder
herauskommt. Ich bitte diejenigen, die mehr Zeit und
Raum verwenden wollen, zu den Eltern der Opfer zu ge-
hen und diesen zu erklären, warum wir mehr Zeit und
Raum brauchen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608817300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Reform – –

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion Die
Linke bezweifelt die Beschlussfähigkeit des Hauses.


(Zurufe von der CDU/CSU: Was? Unglaublich! – Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Schauen Sie in die Geschäftsordnung! – Daniela Raab [CDU/CSU]: Machen wir den Hammelsprung! – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ihr Linken seid schon ein komischer Haufen! Ihr habt sie doch nicht mehr alle! – Daniela Raab [CDU/CSU]: Die wollen Verbrecher freilassen! Hauptsache, die Verbrecher laufen frei rum bei euch!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns im
Sitzungsvorstand beraten. Der Sitzungsvorstand bejaht
die Beschlussfähigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Deshalb kommen wir zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge-
setzes zur Reform der Führungsaufsicht. Der Rechtsaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/4740, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 16/1993 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Hierzu liegen zwei Änderungsan-
träge der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor,
über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Än-
derungsantrag auf Drucksache 16/4775? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist
mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD und
der CDU/CSU bei Gegenstimmen der Grünen und Ent-
haltung der FDP abgelehnt.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 16/4776? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Dieser Änderungsantrag ist ebenfalls mit den Stimmen
der Fraktionen Die Linke, der SPD und der CDU/CSU
bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Ent-
haltung der Fraktion der FDP abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bünd-
nis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei
Enthaltung der FDP angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stim-
menergebnis wie in zweiter Beratung angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Künstlersozialver-
sicherungsgesetzes und anderer Gesetze

– Drucksachen 16/4373, 16/4419 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 16/4648 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Krüger-Leißner

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Angelika Krüger-Leißner, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1608817400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich möchte es ganz deutlich am Anfang mei-
ner Rede sagen: Die dritte Novelle der Künstlersozial-
versicherung ist ein großer Wurf. Damit stellen wir die
soziale Absicherung für freiberufliche Künstler und Pu-
blizisten auf eine solide Grundlage. Lassen Sie mich das
an fünf Punkten belegen:

Erstens lösen wir das Finanzierungsproblem, das
die KSV hat, aus dem System heraus. Das heißt, weder
die Versicherten noch die abgabepflichtigen Unterneh-
men noch die Steuerzahler werden zusätzlich belastet.
Zweitens schaffen wir Abgabe- und Beitragsgerechtig-
keit auf beiden Seiten, bei den beitragszahlenden Künst-
lern und Publizisten und auch bei den abgabepflichtigen
Verwertern. Drittens sind eine stabile Finanzierung und
eine breite Akzeptanz die Garantie für eine gesicherte
Zukunft der Künstlersozialversicherung, und das wollen
wir alle.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Viertens. Wir geben damit auch eine schlüssige Ant-
wort auf die wachsende Bedeutung einer Branche, und
zwar der Kulturwirtschaft.

Fünftens. Wir stärken die Basis für die kulturelle
Vielfalt in Deutschland.

Ich finde, diese fünf Punkte sprechen für sich und für
diese Novelle.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Die Kritik an der Novelle, die in den letzten Wochen
laut geworden ist, konnten wir nachhaltig entkräften.
Das betrifft zum Beispiel die Forderung nach einer ge-
setzlichen Definition des Künstlerbegriffs, um mehr
Rechtssicherheit erreichen zu wollen. Dieses Ansinnen
halte ich schlicht für eine Illusion. In § 2 des Künstlerso-
zialversicherungsgesetzes sind die Definitionen von
„Künstler“ und „Publizisten“ ganz bewusst sehr allge-
mein gehalten. Auf dieser Grundlage ist ein Katalog er-
stellt worden, der die von der Künstlersozialkasse aner-
kannten künstlerischen und publizistischen Berufe
benennt. Das ist ein Katalog, der vom Beirat der KSK
immer wieder überarbeitet und ergänzt wird. In diesem
Beirat sitzen Vertreter aller beteiligten Verbände. Des-
halb halte ich gerade dieses Gremium für am besten ge-
eignet, um hier immer wieder einen breiten Konsens zu
finden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Besser als der Deutsche Bundestag?)


– Besser. Denn Arbeitswelt und Berufsbilder, insbeson-
dere der Kulturschaffenden, unterliegen einem ständigen
Wandel. Darauf jedes Mal gesetzgeberisch reagieren zu
wollen, wäre ein viel zu schwerfälliges Verfahren.
Sicherlich wird es immer wieder Fälle geben, die
nicht eindeutig zuzuordnen sind. Im Zweifelsfall müssen
die Sozialgerichte entscheiden und den Künstlerbegriff
eingrenzen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und das dauert!)


Ich kann darin – im Gegensatz zu dem einen oder ande-
ren Kollegen hier – keinen Mangel erkennen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist suboptimal, auch wenn der Kollege Tauss klatscht!)


Im Gegenteil: Über die Jahre hat sich in der Praxis das
Zusammenwirken von Künstlersozialkasse, ihrem Beirat
und den Sozialgerichten bewährt und eingespielt. Wa-
rum sollten wir das, was gut ist, infrage stellen?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Bessere ist der Feind des Guten, Frau Krüger-Leißner!)


Lassen Sie mich dazu noch einen Hinweis geben.
Schauen Sie einfach einmal über die Grenzen unseres
Landes hinweg! In Österreich gibt es ein ganz ähnliches
Versicherungssystem für Künstler. Auch in der Alpenre-
publik bemüht man sich derzeit um eine Novellierung.
In einem zentralen Punkt – man höre und staune – will
man sich am deutschen System orientieren. Die bishe-
rige Orientierung an Kriterien der künstlerischen Quali-
tät soll wieder abgeschafft werden und unter ausdrückli-
cher Bezugnahme auf die bewährte Praxis in
Deutschland ausgestaltet werden. Ich glaube, dazu brau-
che ich jetzt nichts weiter zu sagen.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Die kennen sich nicht aus, die Österreicher!)


Zurückweisen möchte ich auch die Auffassung eini-
ger Kollegen, dass die Versicherten mit der verstärkten
Überprüfung unter den Generalverdacht des Miss-
brauchs gestellt werden. Schauen Sie einmal genau hin:
Überprüft werden soll eine Stichprobe von 5 Prozent.
Bisher sind es jährlich 2,5 Prozent der Versicherten, die
Nachweise vorlegen müssen. Auf der Verwerterseite
sind es demnächst aber annähernd 100 Prozent, die wir
mithilfe der Deutschen Rentenversicherung auf ihre
Melde- und Abgabepflicht überprüfen werden.

Ich möchte an dieser Stelle auch daran erinnern, dass
es sich bei der Künstlersozialversicherung um eine be-
sondere Begünstigung freiberuflicher Künstler und Pu-
blizisten gegenüber sonstigen Selbstständigen handelt.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Neben Versichertenbeiträgen und der Künstlersozialab-
gabe werden 20 Prozent der Einnahmen durch Steuergel-
der finanziert. Gegenüber dem Steuerzahler halte ich
Kontrollen schlicht für ein Gebot der Transparenz.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Gegenüber den Versicherten ist es ein Gebot der Fair-
ness, dass wir dafür sorgen, dass der Ehrliche den Un-
ehrlichen nicht mitfinanziert.






(A) (C)



(B) (D)


Angelika Krüger-Leißner

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Im Hinblick auf die Zugangsberechtigung von frei-
beruflichen Künstlern und Publizisten zur KSV gilt eine
Einkommensgrenze von jährlich 3 900 Euro. Umge-
rechnet auf den Monat muss ein Selbstständiger also
über ein Einkommen aus künstlerischer und publizisti-
scher Tätigkeit von mindestens – man höre und staune –
325 Euro verfügen. Das halte ich für vertretbar. Wer
noch geringere Einkünfte hat, kann nur schwerlich als
hauptberuflich tätiger Künstler und Publizist bezeichnet
werden. Da handelt es sich eher um einen Nebenerwerb.
Hierfür haben wir die KSV nicht ins Leben gerufen. Da-
für ist sie nicht zuständig. Im Falle von Bedürftigkeit
greifen in solchen Fällen nachgeordnete Sicherungssys-
teme unseres Sozialstaates.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte in diesem Zusammenhang aber sagen,
dass die genannte Einkommensgrenze nicht starr ge-
handhabt wird. Das ist auch in der Praxis heute nicht der
Fall. Gerade bei jüngeren Nachwuchskünstlern wird da-
rauf Rücksicht genommen, dass sie eine gewisse Anlauf-
zeit brauchen, um sich als Selbstständige in ihrem Beruf
zu etablieren. Deshalb haben wir geregelt, dass sie in den
ersten drei Jahren dieses Mindesteinkommen nicht errei-
chen müssen. Zudem kann die Berufsanfängerzeit ohne
Nachteile unterbrochen werden: durch Erziehungszeiten,
Wehr- und Zivildienst oder auch vorübergehend abhän-
gige Beschäftigung.

Wir wissen, dass das Einkommen freiberuflich tätiger
Künstler großen Schwankungen unterliegt. Das hat die
KSK bisher auch immer berücksichtigt. Innerhalb von
sechs Jahren darf die Einkommensgrenze zweimal unter-
schritten werden, ohne dass jemand aus dieser Versiche-
rung ausgeschlossen wird. Das ist meines Erachtens sehr
ausgewogen und auch sehr solidarisch. Dabei bleiben
wir.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich möchte noch auf zwei Dinge hinweisen. Ungeach-
tet der großen Freude über das in dieser Novelle Er-
reichte bleiben uns einige Aufgabenfelder, die sich allein
aus der Veränderung der Arbeitswelt, der Produktionsbe-
dingungen sowie der Erwerbs- und Beschäftigungsfor-
men gerade in der Kulturwirtschaft ergeben. Wir sehen
mit eigenen Augen, dass es immer schwieriger wird, den
sozialversicherungsrechtlichen Status von Kultur-
schaffenden eindeutig zu bestimmen. Das führt in der
Praxis oftmals dazu, dass ein und dieselbe Person im
Laufe ihrer Erwerbsbiografie zwischen den Sicherungs-
systemen hin- und herspringen muss. Dass es dabei zu
teilweise massiven Nachteilen gegenüber eindeutig als
abhängig Beschäftigte oder als Selbstständige definier-
ten Gruppen kommt, möchte ich an dieser Stelle nur an-
deuten. Von diesem Problem ist natürlich auch die KSV
betroffen. Dem müssen wir uns zuwenden.

Es gibt ein weiteres Problem, das wir genau beobach-
ten müssen; da müssen wir in den nächsten Jahren gege-
benenfalls auch Veränderungen in Angriff nehmen. Das
sind die sogenannten Ein-Personen-GmbHs. Statt ihre
Aufträge wie bisher an Freiberufler zu vergeben und da-
für die anfallende Abgabe zu entrichten, drängen zum
Beispiel Verlage ihre Auftragnehmer dazu, eine GmbH
zu gründen. Hintergrund ist, dass Zahlungen an eine
GmbH nicht der Künstlersozialabgabe unterliegen. Sol-
che Umgehungsversuche entsprechen natürlich nicht den
Intentionen der Künstlersozialversicherung und müssen
künftig ausgeschlossen werden.


(Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da müssen wir was tun!)


Das heißt, wir werden mit dem heutigen Beschluss
über die dritte Novellierung die Hände nicht in den
Schoß legen; denn die Künstlersozialversicherung
braucht für die freiberuflich tätigen Künstler und Publi-
zisten eine stabile und finanzierbare Grundlage; nur so
kann sie nämlich wirksam werden.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Diese Novelle ist für mich ein klarer kultur- und so-
zialpolitischer Fortschritt.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608817500

Frau Kollegin, ich möchte Sie an Ihre Redezeit erin-

nern. Das wäre ein gutes Schlusswort gewesen.


(Heiterkeit)



Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1608817600

Oh ja, ich sehe ein Minus. Ich wollte eigentlich noch

einen Dank aussprechen. Darf ich das?


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wiederholen Sie den letzten Satz!)


– Nein, das tue ich nicht. Haben Sie den nicht mitbe-
kommen?

Lassen Sie mich zum Schluss einen Dank ausspre-
chen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: An die FDP!)


Ich glaube, dass es in allen Fraktionen überwiegend Zu-
stimmung zu dieser Novelle gibt. Sie ist auch gut vorbe-
reitet worden, und zwar durch den runden Tisch. Da
möchte ich auch einen Dank an das Ministerium richten


(Rainer Brüderle [FDP]: Dafür werden die bezahlt!)


sowie an die Enquete-Kommission. Die Enquete-Kom-
mission hat vor zwei Jahren die Anhörung durchgeführt.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608817700

Frau Kollegin, das ist ein langer Dank. Es ist auch

schön, dass Sie danken, aber Ihre Zeit ist deutlich über-
schritten. Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1608817800

Okay. – Danke.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608817900

Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Zwischendurch danken wir auch einmal der Präsidentin!)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1608818000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich greife natürlich gern die Worte meiner Vorrednerin
auf,


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])


dass die Künstlersozialversicherung eine Daueraufgabe
dieses Hauses ist. Ich will die Gelegenheit nutzen, daran
zu erinnern, dass es die FDP gewesen ist,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Na, na! Sozialliberale Koalition!)


die in den 80er-Jahren diese soziale Sicherung von
selbstständigen Künstlern und Künstlerinnen mit be-
gründet hat. Man kann gar nicht oft genug sagen: Diese
Künstlersozialversicherung hat kulturpolitische wie auch
sozialpolitische Bedeutung.


(Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU])


Es war einfach so, dass vor der Einführung der Künstler-
sozialversicherung viele Künstlerinnen und Künstler
keinerlei soziale Absicherung hatten. Das war nicht ak-
zeptabel. Deswegen bekennen wir uns dazu, dass dieses
Instrument so wie in der Vergangenheit auch heute und
in Zukunft leistungsfähig erhalten bleibt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das war ein Wort! – Jörg Tauss [SPD]: Loben Sie mal Rudolf Schöfberger! Der war es nämlich!)


Im Übrigen, Herr Kollege Tauss, darf ich sagen, dass
der Gesetzgeber manchen, wenn auch nicht allen Forde-
rungen entspricht, die die FDP-Bundestagsfraktion vo-
rausschauend bereits Anfang 2005 in ihrem Antrag „Fi-
nanzierung der Künstlersozialversicherung sichern“
erhoben hat.


(Jörg Tauss [SPD]: In der Opposition waren Sie immer gut!)


Deswegen fällt es uns heute auch leicht, Herr Tauss, dem
vorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen. Ich sage es
noch einmal: Wir sehen in der Künstlersozialversiche-
rung ein passendes Instrument, das für die Zukunft er-
halten und weiterentwickelt werden soll.


(Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP] und des Abg. Jörg Tauss [SPD])


Mit dem Gesetzentwurf wird auch die Finanzierungs-
grundlage gesichert und Beitragsgerechtigkeit herge-
stellt. Trotz der in der jüngeren Vergangenheit zugegebe-
nermaßen positiven Entwicklung müssen weitere
Anstrengungen zur Stabilisierung der Finanzen der
Künstlersozialversicherung unternommen werden, um
den Kostendruck auf Künstler und Verwerter im Rahmen
zu halten. Das geschieht durch eine verstärkte Kontrolle
der Verwerter von künstlerischen und publizistischen
Leistungen. Diese wird den Prüfdiensten der Deutschen
Rentenversicherung übertragen, eine – das habe ich auch
schon im Ausschuss gesagt – Lösung mit Augenmaß.
Dass die Prüfung der Versicherten künftig durch eine
dauerhafte, jährliche Befragung in einer wechselnden
Stichprobe erfolgen soll, ist auch ein Punkt, der hilft, die
Beitragsgerechtigkeit zu stärken.

Auch wenn wir zustimmen, will ich hier trotzdem sa-
gen, dass es aus unserer Sicht einige Aspekte gibt, die
besser und klarer hätten gefasst werden können. Diese
bleiben deshalb für uns auch weiter auf der Agenda. So
muss neben der Stärkung der Einnahmeseite auch die
Ausgabenseite stärker kontrolliert werden, besonders
deshalb, weil die Zahl der Versicherten in der Künstler-
sozialversicherung in den letzten Jahren stetig zugenom-
men hat, um circa 5 Prozent pro Jahr.


(Jörg Tauss [SPD]: Immer mehr Künstler!)


Das ist eine, wie ich finde, enorme Ausweitung des Ver-
sichertenkreises. Es geht nun darum, dieses besondere
Instrument denen zu erhalten, die tatsächlich der solida-
rischen Sozialkasse bedürfen,


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist gewährleistet!)


also den Fördergedanken, der ja in dieser Konstruktion
liegt und der FDP auch immer am Herzen lag, zu beto-
nen.

Nun muss ich doch meiner Vorrednerin Frau Krüger-
Leißner widersprechen:


(Zurufe von der SPD: Nein!)


Wir sind schon der Meinung, es muss bei der Fassung
des Versichertenbegriffs noch ein Zwischending geben.
Der Verweis auf den Katalog, der regelmäßig dadurch
erweitert wird, dass sich Versicherte sozusagen in diese
Liste einklagen, ist nicht der Weisheit letzter Schluss.
Hier muss der Gesetzgeber schon seine Verantwortung
wahrnehmen.


(Jörg Tauss [SPD]: Bürokratie, nicht?)


Wenn das nicht durch eine Rahmenformulierung für den
Begriff des Versicherten möglich ist, dann muss eben
von Zeit zu Zeit eine Aktualisierung bzw. Fortschrei-
bung vorgenommen werden. In einem Rechtsstaat kann
es nicht sein, dass sich die Betroffenen selber darum
kümmern müssen. Hier ist also der Deutsche Bundestag
gefordert.


(Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP])


Natürlich müssen wir dabei offen für neu entstehende,
künstlerisch geprägte Berufsformen sein. Das habe ich
auch bereits in der ersten Lesung gesagt.

Zum Schluss noch zum Entschließungsantrag der
Grünen. Herr Kurth, Sie verfahren da wieder so ein biss-
chen nach dem Motto: Alles muss geregelt sein, mindes-
tens aber vieles.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Heinrich L. Kolb

(Jörg Tauss [SPD]: Sie wollen doch gerade etwas regeln!)


– Ja, aber dabei handelt es sich um eine Rahmenrege-
lung, Herr Kollege Tauss. Im Antrag der Grünen dage-
gen geht man vom Hölzchen zum Stöckchen und fordert,
dass für sehr detailliert beschriebene Fälle geprüft wer-
den soll, ob es Doppelzahlungen gibt, also ob Verleger
und künstlerische Funktion in einer Hand sind.

Diese Abgrenzungsprobleme, Herr Kurth, mögen in
der Praxis in dem einen oder anderen Fall vorkommen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das ist ein großes Problem!)


Ob die Größenordnung dieser Fälle aber tatsächlich den
Aufwand rechtfertigt, den eine Annahme Ihres Ent-
schließungsantrages zur Folge hätte, bezweifle ich.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Das kann es eigentlich nicht sein. Das Anliegen, das Sie
in Ihrem Antrag formuliert haben, ist nicht ganz ver-
kehrt. Deswegen werden wir uns bei der Abstimmung
enthalten.

Insgesamt tragen wir aber das Anliegen Fortentwick-
lung der Künstlersozialversicherung im Herzen und wer-
den auch in der Zukunft gerne bereit sein, an dieser
wichtigen Aufgabe mitzuarbeiten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gitta Connemann [CDU/ CSU]: Nicht nur im Herzen tragen! Zustimmen!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608818100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gitta Connemann,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1608818200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am

Ende der Dreigroschenoper heißt es: „Was ist die Ermor-
dung eines Mannes gegen die Anstellung eines Man-
nes?“


(Zuruf von der FDP: Oh!)


Wie die Zeiten sich ändern: Heute ist eine Festanstellung
Wunsch und nicht mehr Schreckgespenst und im Kultur-
bereich manchmal eher die Ausnahme.

Mit diesen Worten von Brecht beginnt übrigens auch
das Buch „Wir nennen es Arbeit“. In diesem Buch wird
die digitale Boheme ausgerufen und werden die Freiheit
und Zukunftsaussichten selbstständiger Kulturschaffen-
der gefeiert.


(Jörg Tauss [SPD]: Aber lassen Sie uns trotzdem leben!)


Kritiker dagegen sehen darin Opfer von prekären Ar-
beitsverhältnissen und eine Arbeitsplatzmisere. Die
„FAZ“ hat es so zusammengefasst: Früher gab es die
analoge Boheme,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Heute die digitale!)


das heißt Menschen in Cafés ohne Festanstellung und
ohne Internetzugang; heute gibt es die digitale Boheme,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ah, mitgedacht!)


das heißt Menschen in Cafés ohne Festanstellung, aber
mit Internetzugang.

Alles vielleicht nur ein launiges, neues Etikett; aber
die Beobachtungen zum Wandel in der Kulturszene
stimmen in jedem Fall. Denn Tatsache ist: Der Wandel
im Kultur- und Kunstbereich ist greifbar. Er ist in rasan-
ter Bewegung. Es gibt immer mehr Selbstständige in
dieser Kreativbranche, aus welchem Grund auch immer.
Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Künstlerso-
zialversicherung wider durch eine steigende Zahl von
Versicherten auf der einen Seite und den Streit um die
Anerkennung neuer Berufsgruppen auf der anderen
Seite. Während früher in manchen Bereichen der Kunst
die Frage nach Geld verpönt war und die Frage nach der
Rente häufig gar nicht gestellt wurde, lesen wir bei der
digitalen Boheme – ich zitiere –:

… die Frage nach der eigenen Altersvorsorge, nach
etwaiger Arbeitsunfähigkeit und Pflegebedürftig-
keit wird ohne staatlich-strukturelle Hilfe und Insti-
tutionen nicht zu lösen sein. Mit 35 lässt sich sehr
gut von der Hand in den Mund leben, mit 75 wird
das zum Problem …


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Hand zittert dann so!)


Die Autoren, beide selbst Kreative und Anfang 30,
würdigen den Wert der sozialen Sicherung von Kultur-
und Medienschaffenden durch die Künstlersozialversi-
cherung. Auch aus diesem Vertrauen junger Kreativer
begründet sich aus meiner Sicht unser politischer Auf-
trag, nämlich Bestand und Funktionsfähigkeit der Künst-
lersozialversicherung zu stärken.

Die erste Lesung hat gezeigt, dass sich die Fraktionen
im Grundsatz einig sind: Die Künstlersozialversicherung
ist unverzichtbar.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE] – HansJoachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Herr Tauss, Sie müssen klatschen!)


Sie ist auch Baustein dafür, dass sich künstlerische Frei-
heiten entfalten können. Denn vor ihrer Einführung hat-
ten selbstständige Künstler und Publizisten häufig keine
soziale Absicherung; heute sind sie gegen die Risiken
von Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Alter geschützt.
Das Instrument hat sich bewährt. Aber auch eine erfolg-
reiche Sicherung braucht eine rechtzeitige Erneuerung,
um leistungsfähig zu bleiben. Wir sehen es bei der all-
jährlichen Haushaltsdebatte um den Bundeszuschuss;
denn die Versichertenzahlen steigen und damit der Fi-
nanzbedarf.






(A) (C)



(B) (D)


Gitta Connemann
Die von der Künstlersozialkasse erfassten Honorare
können diesen Bedarf bislang kaum ausgleichen. So ist
der Abgabesatz für die Verwerter gestiegen. Leider er-
füllt nicht jeder Unternehmer diese Abgabepflicht, man-
cher aus Unkenntnis nicht. Wir brauchen deshalb eine
bessere Überprüfung der Abgabepflicht. Die Künst-
lersozialkasse kann dies nur eingeschränkt leisten. Des-
halb wird die Aufgabe zukünftig von der Deutschen
Rentenversicherung wahrgenommen werden.

Dabei ist unstrittig auch die Aufklärung über die Ab-
gabepflicht wichtig. Diese Information, Herr Kollege
Kurth, wird von der KSK heute schon gegeben. Ich emp-
fehle Ihnen insoweit den geneigten Blick auf die Inter-
netseite der Künstlersozialkasse.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der ist noch analog, der Kollege Kurth!)


Dort finden Sie auf sehr viele Fragen eine Antwort und
Hinweise auf eine mögliche Abgabepflicht.

Die KSK will dieses Angebot übrigens noch aus-
bauen und befindet sich insoweit bereits im Gespräch
mit der Rentenversicherung. Ihr Entschließungsantrag
ist also bereits heute überholt.

Auch die Angaben der Versicherten zum Arbeitsein-
kommen müssen systematisch überprüft werden. Das ist
Aufgabe der KSK, ebenso die Abklärung von Abgren-
zungsfragen bei den Begrifflichkeiten des Künstlers und
des Publizisten.

Stichprobenartig werden zukünftig Versicherte aus-
gewählt, die ihre tatsächlichen Arbeitseinkommen der
letzten vier Jahre offenlegen müssen. Das ist richtig so.
Denn anders, als es der Antrag der Linken vermuten
lässt, ist nicht Ziel dieser Prüfung, die Berechtigten aus-
zuschließen. Es geht vielmehr darum, nur den wirklich
Berechtigten den Zugang zu diesem Sondersystem zu er-
möglichen. Darum handelt es sich. Denn selbstständige
Künstler und Publizisten sind privilegiert.


(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


Für eine dauerhafte Akzeptanz eines solchen Sonder-
systems ist es deshalb zwingend erforderlich, dass nicht
der Hauch des Eindrucks entsteht, Künstler und Publi-
zisten würden sich nicht derselben Überprüfung stellen
müssen wie alle anderen Versicherten in allen anderen
Sozialversicherungssystemen. Deshalb ist Ihr Antrag,
meine Damen und Herren von der Linken, vollkommen
absurd.

Es war auch ein Wunsch der Künstler und Publizis-
ten. Sie waren wie die Verwerter Partner des bereits er-
wähnten runden Tisches. Sie haben diesen Gesetzent-
wurf beraten und befürwortet. Das Ziel muss sein, dass
die Künstlersozialversicherung weiter handlungsfähig ist
und günstige Versicherungsbeiträge bieten kann.

Das heißt nicht, dass mittelfristig nicht weiterer Dis-
kussionsbedarf gegeben wäre. Damit meine ich – wie
auch der Kollege Kolb – übrigens auch nicht die vom
Bündnis 90/Die Grünen angesprochenen Doppelzahlun-
gen. Es gibt im Kultur- und Medienbereich – sicherlich
unstrittig – hybride Strukturen. Aber dem von Ihnen ge-
nannte Fall lässt sich heute bereits mit einem klugen Ver-
tragsmanagement begegnen, bei dem übrigens auch die
KSK beratend zur Seite steht.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben!)


Handlungsbedarf gibt es auch nicht in dem von den
Linken aufgeworfenen Sinne. Die Forderung, dass zu-
künftig vermutet werden soll, Künstler und Publizisten
seien selbstständig, ist, wie ich finde, hanebüchen. Dies
verstößt nicht nur gegen alle Regelungen des geltenden
Sozialversicherungsrechts, sondern auch gegen das
Schutzbedürfnis der Künstler und Publizisten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!)


Deshalb hat sich die Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ bereits in der letzten Legislaturperiode
einstimmig dagegen ausgesprochen, ein solches Wahl-
recht einzuführen. Diese Empfehlung, verehrte Kollegen
der Linken, ist mit den Stimmen Ihrer Fraktion in dieser
Legislaturperiode bestätigt worden.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das haben sie vergessen! – Weitere Zurufe von der FDP: Hört! Hört! – Erstaunlich!)


Das haben Sie bei der Formulierung Ihres Antrages viel-
leicht übersehen.

Die Enquete-Kommission prüft aber zurzeit weiteren
Handlungsbedarf. Denn dazu ist sie mit den Stimmen al-
ler Fraktionen des Hauses eingesetzt worden. Der Be-
richt wird im Herbst dieses Jahres vorliegen und Hand-
lungsempfehlungen an den Gesetzgeber enthalten. Da
sind wir uns sicherlich einig, Herr Kollege Otto. Diese
Empfehlungen können dann Grundlage einer Nachjus-
tierung sein.

Es gibt offene Fragen, so im Zusammenhang mit der
Beendigung von Versicherungsverhältnissen oder mit
der Höhe der Mindesteinkommensgrenze. Der Kreis der
Versicherten wirft immer neue Probleme auf, da der Ge-
setzgeber bewusst eine offene Definition von Künstlern
und Publizisten gewählt und keine abschließende Liste
an Berufen erstellt hat. Damit ist weiter Raum für die
Sozialgerichte geschaffen worden. Die Kollegen Kurth
und Kolb haben in der letzten Debatte vollkommen zu-
treffend auf das Trauerrednerurteil hingewiesen.

Am Anfang dieser Rede stand die Boheme. Balzac
hat einmal über sie gesagt:


(Jörg Tauss [SPD]: Nichts zu den Männern jetzt!)


Alle diese jungen Menschen sind größer als ihr Un-
glück, sie befinden sich unterhalb des Reichtums,
aber stehen immer über ihrem Geschick.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jetzt wird es philosophisch!)


Für den Reichtum bleiben auch heute die Künstler
selbst verantwortlich. In einer Welt aber, in der die Krea-
tivität die Zukunftsreserve dieses Landes darstellt, ist es
mehr als eine gesellschaftliche Frage, ja es ist unser poli-
tischer Auftrag, die Entfaltung künstlerischer Kreativität






(A) (C)



(B) (D)


Gitta Connemann
mit geeigneten sozialen Rahmenbedingungen abzusi-
chern. Fangen wir heute damit an!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608818300

Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608818400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist

sehr erfreulich, dass wir alle fraktionsübergreifend die
Bedeutung der Künstlersozialkasse anerkennen und wür-
digen.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])


Ich denke, wir sind uns auch darin einig, dass die
Künstlersozialkasse vor enormen Herausforderungen
steht. Neue Technologien führen zu neuen Berufsbil-
dern. Die von Ihnen angesprochene digitale Boheme ist
dafür nur ein Beispiel und Ausdruck dafür, dass es neue
Berufsbilder im Bereich der Kreativbranche gibt.

Der Kunstbegriff verändert sich und obliegt einer
ständigen Debatte. Die Zahl der über die Künstlersozial-
kasse Versicherten hat sich in den Jahren seit ihrer Grün-
dung deutlich erhöht. Das führt natürlich zu einem finan-
ziellen Mehrbedarf. Insoweit sind wir uns einig.

Wenn es jedoch um die Frage geht, wie man die
Künstlersozialkasse weiterentwickeln soll, dann gehen
unsere Vorstellungen offensichtlich auseinander. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf soll nun die Über-
prüfung der verwertenden Unternehmen sowie die
Überprüfung der versicherten Künstler und Publizisten
ausgeweitet werden. Bei der ersten Lesung habe ich die
Sorge geäußert, dass diese verschärfte Überprüfung
womöglich zu einer Bestandsreinigung führen soll, die
weniger den reichen und prominenten Künstlern und
Publizisten schaden kann. Sie trifft vor allen Dingen
diejenigen Künstler und Publizisten, deren Einkommen
aus selbstständig ausgeübter künstlerischer Tätigkeit
unter der Mindesteinkommensgrenze von 3 900 Euro
pro Jahr liegt.


(Jörg Tauss [SPD]: Nein, sie soll das System sichern! Darum geht es!)


Es hat mich stutzig gemacht, dass Sie in den bisherigen
Debatten immer im Zusammenhang mit finanziellen
Engpässen über eine Überprüfung diskutiert haben. In-
sofern fühle ich mich in meinen Befürchtungen, die auch
Verdi geäußert hat, eher bestärkt. Deswegen können wir
dem jetzigen Gesetzentwurf nicht zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ CSU: Haben wir auch nicht erwartet!)


Wir von den Linken meinen, die Verschärfung der
Überprüfung ist nicht notwendig, und das aus folgenden
Gründen: Zum Ersten gab es, historisch gesehen, ein
Zweischrittverfahren zur Ermittlung der Beiträge. Das
wurde dann komplett in ein Schätzverfahren umgewan-
delt. Diese Umwandlung erfolgte aber nicht auf Wunsch
der Künstler und Publizisten, sondern deswegen, weil
die Verwaltung der KSK es so gefordert hat. Ihr war der
Aufwand zu groß.

Zum Zweiten gibt es bereits heute Überprüfungen.
Die zeigen sehr eindeutig, dass die Fehlerquoten sehr ge-
ring sind.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Spricht ja nichts dagegen!)


Zum Dritten gibt es für diese geringen Fehlerquoten
einen Grund. Vom geschätzten Einkommen ist natürlich
die Höhe der Beiträge zur Krankenkasse und zur Renten-
versicherung abhängig. Wer nun zu hohe Einkommen
angibt, muss zu hohe Beiträge zur Krankenkasse zahlen.
Wer aber wiederum zu niedrige Einkommen angibt, be-
kommt geringere Zuschüsse zur Rentenversicherung und
erwirbt damit auch niedrigere Ansprüche im Hinblick
auf die Rentenversicherung. Insofern gibt es strukturell
gar keinen Anreiz für die Versicherten, ihr Einkommen
niedriger oder höher anzugeben.

Zum Vierten bedeutet eine Überprüfung immer einen
enormen Mehraufwand für die Künstler und Publizisten,
den wir für unverhältnismäßig halten.


(Beifall bei der LINKEN)


Anstatt die Überprüfung auszuweiten, sollte die
Künstlersozialkasse, die KSK, weiterentwickelt werden.
Dazu haben wir im Ausschuss verschiedene Änderungs-
vorschläge unterbreitet; ich möchte hier nur auf einen
verweisen. Gegenwärtig führt die Aufnahme eines ge-
ringfügigen und befristeten Beschäftigungsverhältnisses
zum Ausschluss aus der Künstlersozialkasse. Das
muss man sich einmal vorstellen: Ein Künstler findet ge-
rade partout keinen Auftraggeber für seine Kunst, hätte
aber zum Beispiel im Rahmen eines Filmprojektes die
Möglichkeit, für – sagen wir einmal – zwei Monate eine
geringfügige Beschäftigung von weniger als 15 Stunden
pro Woche aufzunehmen. Das kann er nach jetziger Ge-
setzeslage nicht. Er muss sich also entscheiden, weiter
ohne Geld dazusitzen oder kurzfristige Mehreinnahmen
zu haben und dafür aus der Künstlersozialkasse hinaus-
zufliegen. Ich finde, wenn eine geringfügige Beschäfti-
gung nicht mehr als 15 Stunden pro Woche umfasst und
sich nicht über mehr als zwei Monate erstreckt, dann
darf das nicht zu einem Ausschluss aus der Künstlerso-
zialkasse führen. Alles andere entspricht einfach nicht
der Realität in der heutigen Kreativbranche.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist ein Armutszeugnis für eine Kulturnation, wenn
ihre Künstlerinnen und Künstler in Unsicherheit und Ar-
mut leben müssen. Die Statistiken zeigen, dass mit zu-
nehmendem Alter auch die materielle Not zunimmt. Die
Lösung dieses Problems wird mit dem hier vorliegenden
Gesetzentwurf nicht in Angriff genommen. Aber genau
der Lösung dieses Problems werden wir uns zukünftig
intensiv widmen müssen.

Besten Dank.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608818500

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ziehen Sie den Entschließungsantrag zurück! Dann haben wir keine Probleme mehr!)



Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608818600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr verehrte Damen und Herren! Die Rednerin der SPD
hat im Hinblick auf diesen Gesetzentwurf von einem
großen Wurf gesprochen.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Zuruf von der SPD: Da hat sie recht! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gemessen an dem Regierungshandeln schon!)


Ich muss Ihnen sagen: Ein großer Wurf sähe anders aus.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD)


Natürlich ist es – deswegen stimmen wir auch zu –


(Zuruf von der LINKEN: Typisch Grüne!)


ganz sinnvoll und vernünftig, Abgabenpflichten und Ver-
werterpflichten stärker zu überprüfen. Aber ein großer
Wurf – der in der Tat auch notwendig wäre – würde sich
dem von Frau Connemann angesprochenen Wandel viel
intensiver zuwenden. Er würde einmal analysieren, wie
sich die Produktionsstrukturen und -bedingungen ei-
gentlich verändert haben. Wenn ich Ihnen das jetzt dar-
lege, Herr Kolb, dann werden Sie auch sehen, warum un-
ser Entschließungsantrag nicht obsolet ist.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da bin ich aber gespannt!)


Ich habe mir einen Satz aus Ihrer Rede, Frau
Connemann, direkt aufgeschrieben. Sie sagen, die Zahl
der selbstständigen Künstler steigt, warum auch im-
mer. Ich sage Ihnen einmal warum: Hauptursache sind
Outsourcing-Strategien der verschiedenen Unternehmen
in der Kulturwirtschaft, um Personalkosten zu senken.


(Jörg Tauss [SPD]: Und in der Zeitungswirtschaft!)


Wir haben weiterhin einen Kostensenkungsdruck
durch sinkende öffentliche Kulturausgaben; von 2001
auf 2004 sind das minus 6,2 Prozent. Auch da wird ver-
stärkt auf Auslagerungen zurückgegriffen. Zum Beispiel
die festen Ensembles in den Theatern schrumpfen auf
ein Minimum, da diese verstärkt auf Gastspiele zurück-
greifen, die dann wiederum mit freien Schauspielern ar-
beiten.

Im Entschließungsantrag ist auch noch einmal die be-
sondere Entwicklung im Verlagswesen erwähnt, wo
Leute ausgegliedert werden, die als unabhängige Pro-
duktions- und Produzentenleiter weitere Produzenten be-
schäftigen, sich also in dieser Doppelrolle als Subunter-
nehmer und Auftraggeber und Auftragnehmer befinden.


(Jörg Tauss [SPD]: Unbestritten!)

Das ist auf jeden Fall – Sie streiten das nicht ab, Herr
Tauss – die Ursache dafür, warum sich die Versicherten-
zahlen in den letzten Jahren verdreifacht haben und wa-
rum die Verwerterzahlen sich nur in etwa verdoppelt ha-
ben.


(Jörg Tauss [SPD]: Eine Ursache! Es gibt auch andere!)


An dieser Stelle geht die Schere auseinander. Auf diese
Entwicklung geben Sie absehbar keine Antwort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf vom Bündnis 90/Die Grünen: Genau so ist das!)


Wir versuchen mit unserem Entschließungsantrag,
wenigstens eine dieser Fehlentwicklungen anzuspre-
chen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie wollen doch nur die Probleme zeigen! Lösungen haben Sie auch keine!)


Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger, als dass
diese Regierung ihre Kapazitäten und Möglichkeiten
nutzt,


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche? Die hat doch keine!)


um das Problem einmal zu erheben und für diese Ent-
wicklung eine Lösung vorzuschlagen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir sind schon sehr bescheiden. Da hat nun die Regie-
rung bei diesem Gesetzesvorhaben – es ist ja ein relativ
kleines Gesetz – schon allein zu dem Entwurf ein Büch-
lein – recht stabil, Hardcover – mit 250 Seiten herausge-
bracht.


(Der Redner hält den „Bericht der Bundesregierung über die soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler in Deutschland“ hoch)


Wenn man dann nach Daten sucht in diesem Buch, die
die von mir beschriebenen Veränderungen in den Pro-
duktionsstrukturen beschreiben könnten, findet man
nichts. Der Teil zum Arbeitsmarkt umfasst circa sechs
Seiten, ist sehr allgemein, und es fehlt jegliche Daten-
basis. Das trifft auch genau das, was das WZB in der
Anhörung im Jahr 2004 vor der Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“ gesagt hat. Frau Connemann,
Sie sind da ja die Vorsitzende. Da hat das WZB schon
beklagt, dass es eine mangelhafte Datenlage gibt und
dass man die Funktionsweisen und Mechanismen auf
den Arbeitsmärkten nicht so analysieren kann, wie es für
die selbstständigen Künstlerinnen und Künstler erforder-
lich wäre.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Unbestritten!)


Unser Entschließungsantrag ist mithin überhaupt
nicht überholt, sondern deutet an dieser Stelle auf eine
Lücke im Regierungshandeln hin, die in der letzten Le-
gislaturperiode, aber auch jetzt mit der breiten Mehrheit
der Großen Koalition bei weitem nicht geschlossen wird.
Deswegen kann man von einem großen Wurf wahrlich






(A) (C)



(B) (D)


Markus Kurth
nicht sprechen, wohl aber von einem vernünftigen Ge-
setz.


(Jörg Tauss [SPD]: Na gut! Okay! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Warten Sie doch auf die Ergebnisse der Enquete-Kommission!)


– Und jetzt, Frau Connemann, rufen Sie mir hier zu, ich
solle auf die Ergebnisse der Enquete-Kommission war-
ten.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Da sind Sie aktiv mit dabei!)


Ja, die Veränderungen im Künstlergewerbe vollziehen
sich schneller, als die Enquete-Kommission mit ihren
Beratungen nachkommen kann. Darauf kann man nicht
warten. Handeln sollte, Herr Thönnes, die Regierung.
Sie sollte relativ schnell auf diese drängenden Probleme
eine Antwort geben.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1608818700

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab-

stimmung über den von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Künstlersozialversicherungsgesetzes und anderer Ge-
setze. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4648,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/4373 und 16/4419 anzunehmen.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Ge-
genstimmen der Fraktion die Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
damit mit demselben Stimmenergebnis wie in zweiter
Lesung angenommen.

Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 16/4778. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD
und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Grünen und Ent-
haltung der Fraktion Die Linke und der FDP abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kerstin Müller (Köln), Volker Beck (Köln),
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN

Humanitäre Katastrophe in Darfur

– Drucksachen 16/3526, 16/4616 –
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nicht zum ersten Mal reden wir heute über den schlei-
chenden Völkermord in Darfur. Die Fakten sind be-
kannt: Der blutige Bürgerkrieg der sudanesischen Regie-
rung gegen ihre eigene Bevölkerung in Darfur hat bereits
über 300 000 Menschen das Leben gekostet. Über zwei
Millionen Menschen sind vertrieben. Hunderttausende
– so die Antwort der Bundesregierung – sind von huma-
nitärer Hilfe abgeschnitten. Vor allen Dingen sind die
Massaker an der Zivilbevölkerung dramatisch. Zudem
dauern die Luftangriffe an.

Die UNO hat mit der Resolution 1706 bereits eine ro-
buste Friedensmission zum Schutz der Menschen in
Darfur beschlossen. Dass sich aber die sudanesische Re-
gierung immer noch weigert, diese UN-Mission ins
Land zu lassen, und jetzt auch eine gemeinsame Mission
von UNO und Afrikanischer Union sabotiert, dient in
Europa leider oft dazu, wortreich die eigene Ohnmacht
zu beklagen. Tatsächlich hat der Sudan mit seinen
Schutzmächten China und Russland wichtige Trümpfe
in der Hand. Diese Trümpfe kann der Sudan aber nur
deshalb ausspielen, weil der Rest der Welt keine ent-
schlossene Initiative ergreift. Das muss sich ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Ich möchte hier auf die Antwort auf unsere Große
Anfrage eingehen. Ausführlich zählen Sie die geleistete
humanitäre Hilfe auf, die zweifelsfrei von großer Be-
deutung ist. Ich möchte an dieser Stelle – ich denke,
auch in Ihrem Namen – ausdrücklich allen immer noch
vor Ort tätigen humanitären Organisationen für ihren
mutigen Einsatz danken. Die Situation wird immer
schwieriger; umso beachtlicher ist es, dass die Organisa-
tionen dort weiterhin den Menschen helfen.


(Beifall im ganzen Hause)


Allerdings – da komme ich zu einem entscheidenden
Punkt – verstecken Sie sich bei der Frage von Sanktio-
nen der Europäischen Union hinter der Feststellung,
UN-Sanktionen seien effektiver. Das ist zwar theoretisch
richtig, praktisch bedeutet das aber leider Untätigkeit;
denn wie wir alle wissen, blockieren China und Russ-
land zurzeit im UN-Sicherheitsrat.

Daher ist es an der Zeit, dass die Europäische Union
endlich vorangeht. Sie muss gezielte, personenbezogene
Sanktionen verhängen.






(A) (C)



(B) (D)


Kerstin Müller (Köln)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir machen das ja schon im Fall Belarus, im Fall Sim-
babwe. Ich hoffe, dass es uns ähnlich wie dem Men-
schenrechtsausschuss – seine interfraktionell vereinbarte
Entschließung enthält das nämlich auch – gelingt, diese
Forderung mit einer gemeinsamen Entschließung des
Bundestages zum Ausdruck zu bringen.

Wichtig wäre auch, den Vereinten Nationen und der
Afrikanischen Union demonstrativ eine Unterstützung
der gemeinsamen Mission – wie auch immer sie ausse-
hen mag – anzukündigen. Es muss bei dieser Unterstüt-
zung gar nicht um größere Truppenkontingente gehen.

An dieser Stelle wird gern die Debatte geführt – so
auch in der Diskussion um Afrika –, ob eine Militärinter-
vention gegen den Willen der sudanesischen Regierung
zu befürworten ist oder nicht. Das ist – ich will es hier
sehr deutlich sagen – gegenwärtig eine Scheindebatte.
Es kommt jetzt darauf an, effektiven Druck auf die Re-
gierung in Khartoum auszuüben, damit sie die Umset-
zung der bereits beschlossenen Mission nicht weiter sa-
botiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Das ist das Gebot der Stunde. Darum muss es uns erst
einmal gehen.

Wir müssen für die sudanesische Regierung den Preis
ihrer Katz-und-Maus-Politik endlich gemeinsam in die
Höhe treiben. Wir brauchen sofortige gezielte Sanktio-
nen der EU. Dafür sollte sich die Bundesregierung ein-
setzen. Sie sollte den Sicherheitsrat dazu drängen – auch
das ist bereits beschlossen –, ein Verbot militärischer
Flüge über Darfur durchzusetzen, damit das sudanesi-
sche Militär nicht mehr ungehindert eine Offensive ge-
gen die Bevölkerung in Darfur fliegen kann, also keine
Bomben mehr mit den Antonows auf die Dörfer abwer-
fen kann. Das darf nicht mehr passieren.

Ich fände es sehr wichtig – auch das steht übrigens in
der interfraktionellen Entschließung des Menschen-
rechtsausschusses –, dass die EU-Ratspräsidentschaft
und der G-8-Vorsitz genutzt werden, Russland, China
und den Staaten der Arabischen Liga klarzumachen,
dass es auch in ihrem Interesse ist, dass die sudanesische
Regierung dieser Friedensmission endlich zustimmt.

Das Jüdische Museum in Berlin – das ist ja nicht ir-
gendeine Adresse – beendet heute seine Darfuraktions-
woche, die hochrangig besetzt war. Dort hat der sudane-
sische Parlamentarierkollege Salih Mahmoud Osman
aus Darfur noch einmal an uns, also an alle Bundestags-
abgeordneten, appelliert: Nehmen Sie Ihre Verantwor-
tung im Rahmen der EU-Präsidentschaft wahr, sorgen
Sie für den Schutz der Menschen in Darfur!

Der Menschenrechtsausschuss hat bereits im Novem-
ber die interfraktionelle Erklärung beschlossen. Es gibt
eine Erklärung des Europäischen Parlaments. Es ist Zeit,
dass auch wir, dass der Deutsche Bundestag ein ent-
schlossenes Handeln zum Schutz der Menschen in Dar-
fur einfordert. Die politischen Mittel sind noch nicht
ausgeschöpft. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingt,
hier eine gemeinsame klare Erklärung zustande zu brin-
gen. Das wäre ein starkes Signal an die Menschen in
Darfur.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608818800

Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer,

CDU/CSU-Fraktion.


Hartwig Fischer (CDU):
Rede ID: ID1608818900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In den letzten zehn Jahren konnte man feststellen, dass
Afrika positive Schlagzeilen macht. Aber es gibt Aus-
reißer. Denken wir an Somalia, an Simbabwe und vor al-
len Dingen an Darfur. Herrscher wie Mugabe oder Herr
Baschir helfen dem afrikanischen Kontinent nicht. Wir
haben im Menschenrechtsrat im letzten Jahr erlebt, dass
ein Teil der afrikanischen Staaten die Ereignisse in Dar-
fur immer noch nicht verurteilen. Das ist falsch verstan-
dene Solidarität.


(Zuruf von der FDP: Gut, dass das gesagt wird!)


Die Antwort auf die Große Anfrage der Grünen beur-
teile ich außerordentlich positiv, weil sie in sich ge-
schlossen die Leistungen und die Bemühungen der Bun-
desregierung in diplomatischer und materieller Hinsicht
darstellt. Dies kann für die Präsidentschaft weitergenutzt
werden.

Wenn wir eine Kanzlerin haben, die in Russland, in
China und den USA Menschenrechtsverletzungen an-
spricht, dann wird damit die Bedeutung untermauert, die
Menschenrechte für uns haben und die wir auch in die-
sem Fall gemeinsam einfordern. Ich danke auch dem
Außenminister und Frau Wieczorek-Zeul, dass sie diese
Themen im Rahmen der G-8-Präsidentschaft und der
EU-Ratspräsidentschaft auf verschiedenen Ebenen deut-
lich ansprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe die letzten 15 UN-Resolutionen bei mir, die
in dieser Sache verabschiedet worden sind. Da sieht
man, dass es diplomatische Bemühungen gegeben hat.
Aber wir sind mit den diplomatischen Bemühungen fast
am Ende. Wenn China, Russland und die arabischen
Länder nicht erkennen, was in Darfur passiert, ist die UN
am Ende.

Ein komplettes Flugverbot muss eingefordert wer-
den. Sanktionen von Im- und Exporten müssen durch-
gesetzt werden. Das Waffenembargo darf nicht mehr
unterlaufen werden.






(A) (C)



(B) (D)


Hartwig Fischer (Göttingen)


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


China hat dies getan und in den vergangenen drei Jahren
für 65 Millionen Dollar Waffen geliefert.

Darfur sollte – das ist eine Bitte von mir ans Auswär-
tige Amt – eine Sonderseite im Internet bekommen, wo
die Entwicklungen der Flüchtlingslager und der Dörfer
ständig aktualisiert gezeigt werden, damit die Bevölke-
rung in Deutschland aktuell über das informiert werden
kann, was sich in diesem Land abspielt. Denn wir müs-
sen die Menschen darauf vorbereiten, dass dort unter
Umständen ein Blauhelmeinsatz stattfinden wird.

Mehrere von uns sind in Darfur gewesen. Wir haben
das menschliche Leid erleben können. Wir sind das Ri-
siko eingegangen, auch in Krisenregionen zu gehen. Wir
haben die menschliche Situation von Kindern erlebt. Wir
wissen, dass Kindersoldaten jetzt wieder verstärkt einge-
zogen werden. Ich zitiere aus der Resolution 1714 der
UN:

... mit dem Ausdruck seiner ernsten Besorgnis über
die Einziehung und den Einsatz von Kindern im
Konflikt in Sudan, insbesondere durch andere be-
waffnete Gruppen in Südsudan ...

Ich zitiere noch einen Satz, der sich in einer ganzen
Reihe von Resolutionen aus den letzten zwei Jahren wie-
derfindet:

... feststellend, dass die Situation in Sudan nach wie
vor eine Bedrohung des Weltfriedens und der inter-
nationalen Sicherheit darstellt ...

Das ist die Situation.

Über 2 Millionen Vertriebene, Einbeziehung des
Tschad und der Zentralafrikanischen Republik in diesen
Bürgerkrieg, über 200 000 Tote, Massenvergewaltigun-
gen, von denen Zehntausende von Frauen und Mädchen
betroffen sind, all dies bedeutet die Destabilisierung ei-
ner gesamten Region. Wir wissen aus der letzten De-
batte, dass allein in der Region Kutum 400 000 bis
500 000 Menschen seit Juni vergangenen Jahres für
keine Organisation mehr zugänglich sind.

Ich weiß nicht, ob das nach der Geschäftsordnung er-
laubt oder nicht erlaubt ist.


(Der Redner hält ein Bild hoch)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608819000

Herr Kollege, Sie müssten eigentlich die amtierende

Präsidentin fragen.


Hartwig Fischer (CDU):
Rede ID: ID1608819100

Frau Präsidentin, ich frage Sie.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608819200

Da das keinen Demonstrationszweck hat, erlaube ich

es.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hartwig Fischer (CDU):
Rede ID: ID1608819300

Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele von Ihnen

sind noch nicht in Darfur gewesen. Manche sagen, es ist
der Vorhof zur Hölle. Dies ist das Foto einer Mutter, die
in einem Dorf gelebt hat, das überfallen wurde. Dieses
Foto habe ich in Kalma bei Nyala im Juni 2004 gemacht.
Dieses Kind hat die Strapazen von 14 Tagen Flucht über-
lebt, ist aber am Abend nach der Entstehung dieses Fotos
gestorben, weil ihm mehr nicht geholfen werden konnte.
So sehen die Kinder aus, die im Flüchtlingslager unter
Hunger leiden.

Wenn es uns nicht endlich auf diplomatischem Wege
gelingt, dass diesem Morden Einhalt geboten wird, dann
bin ich persönlich der festen Überzeugung: Da drei Jahre
Diplomatie die Regierung Baschir nicht zum Einlenken
bewogen haben, brauchen wir einen Blauhelmeinsatz,
wenn die Bemühungen in den nächsten Wochen und
Monaten nicht zum Erfolg führen. Das Sterben dort
muss ein Ende haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608819400

Nächste Rednerin ist die Kollegin Marina Schuster,

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1608819500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich möchte zunächst dem Kollegen Hartwig
Fischer dafür danken, dass er das Plakat gezeigt hat;
denn die Situation ist furchtbar. Den Mitgliedern dieses
Hohen Hauses ist sie seit Jahren bekannt, aber es ist gut,
dass er damit auch die Öffentlichkeit angesprochen hat.

Ich möchte noch einmal ganz klar den Adressaten der
heutigen Debatte nennen: die sudanesische Zentralre-
gierung in Khartoum, die die Übergriffe der Dschan-
dschawid gegen die Rebellengruppen und gegen die Zi-
vilisten in Darfur veranlasst oder zumindest duldet.

In der „SZ“ von heute ist ein Artikel von Chris Patten
zu lesen, in dem steht, dass auch einzelne Mitglieder der
Regierung in Khartoum eine persönliche Verantwor-
tung für die Menschenrechtsverletzungen in Darfur
tragen. Vor diesem Hintergrund ist es erschütternd und
wirklich unglaublich, was Baschir Anfang dieser Woche
in Richtung USA geäußert hat – ich zitiere –:

Ja, dort wurden Dörfer abgebrannt, aber nicht in
dem Ausmaß, wie Sie behaupten. Die Menschen
dort sind im Krieg getötet worden. Vergewaltigun-
gen gehören nicht zur sudanesischen Kultur oder
der Kultur der Menschen in Darfur. Sie existieren
nicht. Bei uns gibt es das nicht.

Genau diese Existenz von Vergewaltigungen wird uns
aber in einem Kommuniqué der sudanesischen Botschaft
bestätigt. Das zeigt die zynischen Verharmlosungen und
die Widersprüchlichkeit. Sie sind unerträglich und zei-
gen, welch Geistes Kind das Regime ist.






(A) (C)



(B) (D)


Marina Schuster
Verschärft wird die Lage dadurch – meine Vorredner
haben das angesprochen –, dass der Konflikt auf die Re-
gion, auf den Tschad übergreift. Über die Verschlep-
pung der Hybridmission von AU und UN und des
Dreiphasenplans hinaus weigert sich das Regime in
Khartoum, mit dem Internationalen Strafgerichtshof in
Den Haag zusammenzuarbeiten. Das alles ist nur mög-
lich, weil die internationale Staatengemeinschaft nicht
mit einer Stimme spricht. Da liegt die Krux.

So üben China und Russland zurzeit Druck auf den
UN-Menschenrechtsrat aus, um zu verhindern, dass die
Menschenrechtsverletzungen in Darfur verurteilt werden
und dass Konsequenzen folgen. Dabei wissen wir alle:
China kann und muss mit seinem politischen und wirt-
schaftlichen Gewicht im Sudan wesentlich mehr zu einer
Lösung beitragen. Die Bundeskanzlerin hat Meldungen
zufolge am Montagabend mit Wen Jiabao telefoniert und
dabei auch über Darfur gesprochen. Das begrüßen wir
sehr. Nur, wir müssen fragen: Welche konkreten Schritte
sind vereinbart worden? Welche Initiativen will die
Bundesregierung im Rahmen der doppelten Präsi-
dentschaft auf den Weg bringen? Ich habe an dieser
Stelle mehrmals erwähnt, dass wir es begrüßen, dass im
Rahmen unserer G-8-Präsidentschaft Afrika auf die
Agenda gesetzt wurde. Aber wir müssen dann auch ein
verstärktes Engagement in Richtung Darfur erkennen
können, und das sehen wir noch nicht.

In der Beantwortung der Großen Anfrage der Grünen
verweist die Bundesregierung sowohl in der Frage nach
Sanktionen als auch in der Frage eines Flugverbots über
Darfur auf die Zuständigkeit der Vereinten Nationen
und darauf, dass eine entsprechende Rechtsgrundlage
noch zu schaffen sei. Das ist ja per se richtig. Nur, wie
ist die Bundesregierung denn inhaltlich zu diesen Forde-
rungen positioniert? Ich freue mich, dass der Kollege
Hartwig Fischer schon etwas dazu gesagt hat; aber ich
sehe noch keine einheitliche Position der Bundesregie-
rung.

Die Bundesregierung propagiert bei vielen Gelegen-
heiten als Allheilmittel das Konzept der „vernetzten
Sicherheit“, auch im Hinblick auf Afghanistan. In der
Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage meiner
Fraktion heißt es – ich zitiere –: Im Sinne einer Verbin-
dung ziviler und militärischer Instrumente sowie des Zu-
sammenspiels verschiedener Akteure entspricht das Vor-
gehen der AU in Darfur durchaus dem Konzept der
vernetzten Sicherheit. – Das ist entweder zynisch, oder
es ist mit diesem Konzept doch nicht so weit her.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in diesem
Haus das gemeinsame Ziel, die Katastrophe in Darfur zu
beenden. Wir alle kennen den Sachstand, wir alle kennen
die Analysen. Wir müssen uns dabei noch einmal vor
Augen führen, wie der Friedensprozess in Darfur innen-
politisch tragfähig begleitet werden kann. Wir wissen,
wie es um das Darfur Peace Agreement steht. Ohne ei-
nen politischen Prozess werden wir keinen dauerhaften
Frieden bekommen. Unsere Debatten hier im Hohen
Haus sind zwar wichtig; aber wir wissen doch genau,
dass sie auf Baschir wahrscheinlich keinen Eindruck ma-
chen. Baschir muss endlich spüren, dass er die interna-
tionale Gemeinschaft nicht länger entzweien und gegen-
einander ausspielen kann. Weitere Erklärungen der
Besorgnis der Außenminister der EU-Länder werden da-
ran nichts ändern. Deshalb appelliere ich an Frau
Merkel. Sie hat das Heft in der Hand, gerade während
unserer doppelten Präsidentschaft. Sie muss sich an die
Spitze stellen und seitens der EU und der Vereinten Na-
tionen die Initiative ergreifen.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist umso dringender, als wir in Simbabwe und am
Horn von Afrika die nächsten Konfliktherde haben. Es
gilt unbedingt zu verhindern, dass die hochgelobte „Res-
ponsibility to protect“ zu einer Phrase verkommt, dass
die AU nachhaltig an Glaubwürdigkeit verliert und dass
das Prinzip Baschir Schule macht. Dazu bietet die EU-
Ratspräsidentschaft eine einmalige Chance, und sie hat
die Verpflichtung dazu.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608819600

Das Wort hat die Kollegin Brunhilde Irber, SPD-Frak-

tion.


Brunhilde Irber (SPD):
Rede ID: ID1608819700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Regierungschefs aus aller Welt haben sich
im Jahre 2005 auf das Prinzip der „Responsibility to pro-
tect“ – Kollegin Schuster hat es gerade erwähnt –, der
Verantwortung zum Schutz, verständigt. Worum es bei
dieser Verantwortung genau geht, hat Kofi Annan in sei-
nem Grußwort zur Aktionswoche Darfur im Jüdischen
Museum so formuliert:

Sie bedeutet im Kern, dass der Respekt vor der na-
tionalen Souveränität keine Entschuldigung mehr
sein kann für Tatenlosigkeit im Angesicht von Völ-
kermord und Kriegsverbrechen, von „ethnischen
Säuberungen“ und Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit.

Tatsache ist jedoch, dass die seit drei Jahren stattfin-
dende Katastrophe derzeit einen grausamen Höhepunkt
erreicht hat. John Prendergast von der International
Crisis Group hat einmal gesagt: „Sudan ist Ruanda in
slow motion.“ Jeder weitere tote Darfuri, jeder weitere
Flüchtling im Westsudan ist eine Anklage an die interna-
tionale Staatengemeinschaft, die sich eigentlich ge-
schworen hatte, es niemals mehr so weit kommen zu las-
sen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-
rung unterstützt die bestehenden VN-Sanktionen in Be-
zug auf Reisebeschränkungen, das Einfrieren von Gut-
haben und das Waffenembargo für Darfur. Deutschland
hat sich im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft
bereits erfolgreich für die Fortsetzung der finanziellen






(A) (C)



(B) (D)


Brunhilde Irber
Unterstützung der Afrikanischen Friedensfazilität durch
die EU eingesetzt und angekündigt, bilaterale Mittel von
bis zu 25 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Da-
rüber hinaus hat die Bundesministerin für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung Mittel für die weitere
Unterstützung eines Projektes des Roten Kreuzes in
Mukjar in Darfur freigegeben. Danke, Frau Ministerin,
und danke, Bärbel Kofler, die sich dafür eingesetzt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Aber das genügt nicht. Wir erleben derzeit eine völlig
hilflose und weitestgehend wirkungslose Friedensmis-
sion der Afrikanischen Union. Die chronische Unterfi-
nanzierung einerseits und die Blockadehaltung des suda-
nesischen Präsidenten Baschir andererseits sind die
Gründe dafür. Hier kann und muss sich die Europäische
Union stärker engagieren. Derzeit gibt es zu wenige kon-
krete Signale unserer europäischen Nachbarn, sich auf
freiwilliger Basis finanziell zu beteiligen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Deshalb erwarte ich, dass die Bundesregierung die ver-
bleibenden Monate der deutschen Ratspräsidentschaft in
diesem Sinne effektiv zu nutzen weiß.

Der VN-Sicherheitsrat diskutiert derzeit die Auswei-
tung von Sanktionen. Auch wenn Deutschland nicht im
Sicherheitsrat vertreten ist, so sollte es doch alle diplo-
matischen Hebel in Bewegung setzen, damit umgehend
ein wirksamerer Sanktionsmechanismus eingeleitet
wird. Dabei müssen alle Optionen berücksichtigt wer-
den, ob es sich nun um die Einhaltung eines Flugverbo-
tes über Darfur, Reisebeschränkungen oder das Einfrie-
ren der Konten der maßgeblichen Akteure handelt.

Im Übrigen halte ich die Verfahren des Chefermittlers
des Internationalen Gerichtshofs im Zusammenhang mit
dem sudanesischen Staatsminister für humanitäre Ange-
legenheiten Harun und dem Dschandschawid-Führer
Kushayb für einen wichtigen Hoffnungsschimmer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das ist auch ein Signal an Herrn Baschir, der begreifen
muss, dass er sich ein Hin und Her wie im Falle der hy-
briden AU-VN-Mission nicht mehr lange leisten kann.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, derzeit ver-
handelt der VN-Sondergesandte für Darfur, Jan
Eliasson, mit der sudanesischen Regierung. Nach dieser
Verhandlungsrunde kann die internationale Gemein-
schaft keine weiteren Verzögerungen und Ausreden
mehr hinnehmen, sollte Baschir keine wirklichen Zuge-
ständnisse machen. Jan Eliasson wird am 11. April die-
ses Jahres im EU-Außenministerrat zur aktuellen Lage
berichten. Ich habe dieser Tage vorgeschlagen, dass er
auch uns im Auswärtigen Ausschuss berichten soll. Wir
werden ihn dazu einladen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)


Alles, was dazu führt, das politische Bewusstsein in Eu-
ropa für die menschenunwürdigen Vorgänge im Sudan
zu sensibilisieren und dafür zu sorgen, dass daraus poli-
tischer Wille entsteht, sollte jetzt getan werden.

Noch ein Wort zu China und Russland. Ohne Ent-
haltung dieser Länder im UN-Sicherheitsrat hätte es die
Resolution 1706 nicht gegeben. Mit ihrer Zustimmung
wäre der Druck auf Baschir allerdings erheblich größer.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: So ist es!)


Der Dialog mit China und Russland muss deshalb inten-
siviert werden. Solange trotz der Krise die Energiege-
schäfte uneingeschränkt gut abgewickelt werden kön-
nen, werden viele diplomatische Gespräche wirkungslos
enden.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Aber auch die afrikanischen Staaten und die Arabische
Liga stehen in der Pflicht, hier ihrer Verantwortung
nachzukommen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich setze meine Hoffnungen auf VN-Generalsekretär
Ban Ki Moon, der sich der Darfurkrise, die im Grunde
bereits eine Menschheitskrise ist, intensiv widmen will.
Ich setze meine Hoffnungen aber auch auf die Bundesre-
gierung; denn sie hat durch die EU-Ratspräsidentschaft
und den G-8-Vorsitz die Möglichkeit, ein deutliches Zei-
chen zu setzen.

Der Herr Präsident klingelt schon. Darum komme ich
zum Schluss. – Ich bin dankbar dafür, dass wir hier heute
aufgrund der Großen Anfrage der Grünen über die Situa-
tion in Darfur diskutieren können. Ich freue mich darauf,
dass wir einen gemeinsamen Antrag zustande bringen.
Ich glaube, das können alle Fraktionen dieses Hauses
mittragen, damit wir gemeinsam ein Zeichen für die Be-
endigung dieses Dramas in Darfur setzen. Die Welt darf
nicht mehr länger tatenlos zusehen.

Danke sehr.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608819800

Das Wort hat der Kollege Dr. Norman Paech von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norman Paech (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608819900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

zwei Dingen sind wir uns offensichtlich einig:


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wirklich?)


Erstens. In Darfur wird ein Krieg geführt, in dem
nach dem jüngsten Report des UN-Menschenrechtsrats
schwere systematische Verbrechen gegen die Menschen-
rechte und das humanitäre Völkerrecht – sprich: Kriegs-
verbrechen – begangen werden. Wie in dem Bericht her-
vorgehoben wird, geschieht dies auf allen Seiten:






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norman Paech
aufseiten der Regierung und aufseiten der zahlreichen
Rebellengruppen.

Zweitens. Die bisherigen Versuche, die Tragödie zu
stoppen, sind gescheitert. Die Fronten der kämpfenden
Parteien sind so unübersichtlich wie nie zuvor, und die
AU ist mit der von ihr geführten AMIS-Mission bisher
auch gescheitert.

Die Grünen bezeichnen diesen Konflikt in ihrem Ent-
schließungsantrag als die zurzeit „weltweit größte hu-
manitäre Katastrophe“. Das mögen Sie so sehen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Zitat von Kofi Annan, Herr Kollege!)


– Sie tun das. Ich zitiere Sie. – Seien Sie aber vorsichtig
mit solchen Superlativen. Schauen Sie auf den Irak, um
eine humanitäre Katastrophe zu finden, deren Ausmaß
mindestens ebenso katastrophal ist wie in Darfur.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Krieg im Irak hat bisher weit über 600 000 Tote
und mehrere Millionen Flüchtlinge gekostet.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Wem gilt dieser Vergleich, Herr Kollege?)


Schlimmer noch: Das alles wurde durch einen völker-
rechtswidrigen Krieg und eine anschließende Besatzung
ausgelöst, an der noch heute gerade die Staaten beteiligt
sind, die jetzt am stärksten für eine weitere Intervention
im Sudan plädieren. Die Katastrophe im Irak wäre auf-
zuhalten, wenn man die Truppen zurückziehen würde.
Selbst die Demokraten im Kongress fordern das jetzt.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Können Sie einmal etwas zu Darfur sagen? – Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Ich dachte, wir reden über Darfur!)


Wir müssen uns aber wohl auch eingestehen, dass es
Katastrophen gibt, denen wir trotz unserer historischen
kolonialen Verantwortung weitgehend machtlos gegen-
überstehen. Denken Sie daran, was die Staaten unter-
nommen haben, um 4 Millionen Tote Ende der 90er-
Jahre im Kongo zu verhindern.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wie haben Sie sich denn bei der Abstimmung über den Bundeswehreinsatz zur Absicherung der Wahlen verhalten? Pure Heuchelei!)


Hätten Sie das Massenmorden wirklich verhindern kön-
nen? Wir müssen uns eingestehen, dass es Katastrophen
gibt, für die wir nicht immer eine Lösung haben.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Wir reden über die Katastrophe in Darfur! So heißt das Thema, Herr Kollege!)


Wir unterhalten uns jetzt über einen Weg, um aus die-
ser verzweifelten Situation herauszukommen. Es besteht
kaum Dissens über die verschiedensten Vorschläge, die
auch Sie gemacht haben, um die sudanesische Regierung
zur Einstellung ihrer militärischen Angriffe zu zwingen,
die Dschandschawid zu stoppen, den Waffenhandel zu
stoppen und vor allen Dingen die Regierung wieder an
den Verhandlungstisch zu bringen, der viel zu früh ver-
lassen worden ist. An diesen Tisch gehören auch China
und Russland. Aber derzeit ist aufseiten der Regierungen
keinerlei Initiative erkennbar. In der Antwort auf die
Große Anfrage der Grünen sehen wir auch keine konkre-
ten Ansätze seitens der Bundesregierung.

Wir unterstützen die Forderung nach stärkerem Druck
auf die sudanesische Regierung, aber wir warnen davor,
zur Lösung aller dieser Schwierigkeiten immer mehr Mi-
litär zu fordern und sich an die Hoffnung auf eine neue
UN-Mission zu klammern, um dort zu intervenieren. Sie
würde in jedem Fall – ob es eine Schutztruppe oder eine
Kampftruppe ist – als Militärintervention verstanden und
den Konflikt immer weiter verschärfen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Was ist Ihr Vorschlag?)


Dafür gibt es auch in Afrika Beispiele.

Wir halten diese Forderung geradezu für kontrapro-
duktiv, weil sie nur mit Gewalt droht, keine Perspektive
anbietet und die Fantasie für politische Alternativen ge-
radezu lähmt. Wir müssen gerade diejenigen stärken, die
bereit sind, eine politische Lösung auf beiden Seiten her-
beizuführen. Das ist unserer Ansicht nach der einzige re-
alistische Ansatz.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Und wohin führt er?)


Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass Darfur
eine seit Jahrzehnten völlig vernachlässigte Region mit
extremen sozialen, ökonomischen und ökologischen De-
fiziten ist. Darauf sollten wir unsere ganze Aufmerksam-
keit richten. Darin liegen die Stärken unserer Solidarität
für dieses Land.

Danke sehr.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608820000

Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Strässer von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1608820100

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich möchte kurz auf den Beitrag des Kollegen
Norman Paech eingehen. Wenn wir heute über Darfur re-
den – und zwar bisher sehr sachlich und konstruktiv –,
dann bleibe ich bei der Position, dass dies die größte hu-
manitäre Katastrophe ist, die sich derzeit weltweit ab-
spielt. Ich finde es geradezu zynisch, das damit aufzu-
rechnen, dass es in einem anderen Land viel mehr Tote
gibt. So kann man, denke ich, nicht glaubwürdig Politik
betreiben.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Christoph Strässer
Ich möchte kurz auf die Expertenkommission des
UNO-Menschenrechtsrates eingehen, die, wie wir alle
wissen, trotz vorheriger Zusage der sudanesischen Re-
gierung nicht direkt in den Sudan einreisen durfte und
ihre Ermittlungen in den Grenzregionen durchführen
musste. Ich zitiere aus dem vorliegenden Bericht:

Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit dauern in Darfur an. Wir kommen
zu dem Schluss, dass die Regierung des Sudan of-
fensichtlich darin versagt hat, die Bevölkerung Dar-
furs zu schützen, und dass sie diese Verbrechen
selbst orchestriert und daran teilgenommen hat.

Ich glaube, dem ist zunächst einmal nichts hinzuzufü-
gen.

Für gut und wichtig halte ich – es gibt mir aber auch
zu denken –, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft
für die westliche Staatengruppe im Menschenrechtsrat
durchgesetzt hat, dass der Bericht dort debattiert wird.
Es ist aber ein Skandal, dass man dafür kämpfen muss,
dass solche Berichte in diesem Gremium zur Kenntnis
genommen werden.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich meine, dass diese Debatte nicht folgenlos blei-
ben darf. Deshalb ist meine Bitte an die Bundesregie-
rung – ich weiß, dass sie bereits aktiv ist –, dass auf der
Grundlage dieses Expertenberichts für die Sitzung des
Menschenrechtsrates bis zum 30. März zumindest ein
Resolutionsantrag der sogenannten westlichen Gruppe
vorgelegt wird, der eine klare Verurteilung der Men-
schenrechtsverletzungen und der dafür Verantwortli-
chen beinhaltet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich weiß um die Schwierigkeiten, auch was die Zu-
sammensetzung dieses Rates angeht. Aber wenn man
hört – diese Informationen kommen bei uns an –, dass
selbst innerhalb der Regierungen der 27 EU-Staaten
nicht klar ist, dass es zu einem solchen Entwurf kommen
wird, dann wäre das angesichts der Werte, für die diese
Staaten stehen und die sie repräsentieren wollen, meiner
Meinung nach eine menschenrechtliche und humanitäre
Bankrotterklärung.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das Europäische Parlament hat in einer Entschlie-
ßung vom 15. Februar in, wie ich finde, wünschens-
werter Deutlichkeit Position bezogen und insbesondere
auch die EU-Organe aufgefordert, Sanktionen anzu-
wenden, die sich gegen alle Parteien – einschließlich
der sudanesischen Regierung – richten, die den Waf-
fenstillstand verletzen oder Zivilpersonen, Angehörige
von Friedensmissionen oder Mitarbeiter humanitärer
Organisationen angreifen, sowie alle nötigen Maßnah-
men zur Beendigung des Zustandes der Straffreiheit zu
ergreifen, indem sie durch – ich zitiere – „gezielte wirt-
schaftliche Sanktionen“ unter Einschluss von Reisever-
boten und des Einfrierens von Vermögen die Verhän-
gung von Sanktionen durch den VN-Sicherheitsrat
stärken und zu ihrer Umsetzung beitragen. Ich glaube,
diese Position ist klar und deutlich. Ich halte sie für
richtig.

Es wurde schon angesprochen, dass es
19 Erklärungen im EU-Rat der Außenminister gegeben
hat. In dem heute erschienenen Artikel der „Süd-
deutschen Zeitung“ wird darauf hingewiesen, dass dabei
53-mal in verschiedener Intensität die Besorgnis zum
Ausdruck gebracht wurde. Wir wissen, dass die sudane-
sische Regierung einem konsequenten Druck nicht aus-
weichen kann. Das zeigen die Schritte hin zum Compre-
hensive Peace Agreement, zum Friedensschluss
zwischen dem Norden und dem Süden. Deshalb finde
ich es richtig, dass Lord Patten, der amtierende Vorsit-
zende der International Crisis Group, die Außenminister
auffordert – ich denke, unser Außenminister unterstützt
das –, statt einer 54. Betroffenheitserklärung nunmehr
dem Ruf des Europäischen Parlamentes nach Sanktionen
zu folgen. Dem sollten wir uns hier anschließen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich hoffe auf einen interfraktionellen Antrag dazu.

Ich schließe mit einem Zitat aus Goethes „Faust“, das
man in einer solchen Debatte vielleicht nicht vermutet,
das aber passt: „Der Worte sind genug gewechselt, lasst
mich auch endlich Taten sehn!“

Danke schön.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608820200

Ich schließe die Aussprache.

Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/4777 zur federführenden Beratung an den
Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Vertei-
digungsausschuss, den Ausschuss für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe, den Ausschuss für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung sowie den Aus-
schuss für Angelegenheiten der Europäischen Union zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje
Blumenthal, Thomas Bareiß, Thomas Dörflinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene
Rupprecht (Tuchenbach), Ingrid Arndt-Brauer,






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Clemens Bollen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Gesundes Aufwachsen ermöglichen – Kinder
besser schützen – Risikofamilien helfen

– Drucksache 16/4604 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam
Gruß, Ina Lenke, Sibylle Laurischk, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP

Schutz und Chancen für die Kinder in
Deutschland

– Drucksache 16/4415 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Katharina Landgraf von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katharina Landgraf (CDU):
Rede ID: ID1608820300

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Es

ist vollbracht.“ Diese berühmten Worte sind im Blick auf
den vorliegenden fraktionsübergreifenden Antrag viel-
leicht etwas zu hochgestochen. Ich sage lieber: Es ist ge-
schafft. Nach einem langen Denk- und Meinungsbil-
dungsprozess haben wir endlich eine gute Vorlage. Ziel
war und ist, mehr für das Wohl der Kinder zu tun, sie
vor allem vor Gewalt und Vernachlässigung zu schützen.
Ich wiederhole mich gern, wenn ich – wie bei meiner
letzten Rede zu diesem Thema am 26. Oktober 2006 –
heute sage: Der beste Schutz sind mündige, bewusste
und starke Eltern. Dieser Antrag gibt der Bundesregie-
rung den erforderlichen Handlungsrahmen und Hand-
lungsspielraum im Interesse der Kinder und deren Fami-
lien. Er ist eine Anleitung für die Zusammenarbeit mit
den Bundesländern, mehr für das gesunde Aufwachsen
der Kinder und bei der Unterstützung von Risikofami-
lien zu tun.

Familie kann sowohl größte Nähe und Geborgenheit
bedeuten, aber leider auch größte Not. Familie kann im
schlimmsten Fall auch Gewalt oder Vernachlässigung
bedeuten, in bildungsfernen Schichten beispielsweise,
wo die Zeit nicht mit Reden und Spielen, sondern mit
Fernsehen verbracht wird, wo keine Mutter als Hilfsleh-
rerin und kein Nachhilfelehrer zur Verfügung stehen, wo
kein Buch und kein Musikinstrument dem Kind in die
Hand gegeben werden, wo eine Kindheit verschwendet
wird, wenn niemand hilft. Wenn also die Eltern ihren
Aufgaben nicht gewachsen sind, brauchen sie Zielvorga-
ben und Hilfe vom Staat.

Das besagt im Übrigen auch Art. 6 unserer Verfas-
sung, der vom staatlichen Wächteramt handelt. Ich
selbst bin recht zufrieden mit dem zwischen den Koali-
tionsfraktionen erreichten Kompromiss. Der Antrag ist
insgesamt ein guter Wurf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Mir persönlich fehlen aber einfache und sehr direkt for-
mulierte Regelungen, die säumige Eltern auf den richti-
gen Kurs bringen sollen.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie kritisiert euren Antrag!)


Mögliche Lösungen werden durch unseren Antrag aller-
dings nicht verhindert. In der künftigen Praxis wird sich
zeigen, ob nicht doch auch Sanktionen helfen. Das wird
von vielen Fachleuten erwartet, so zum Beispiel die
Koppelung von Vorsorgeuntersuchungen an die vollstän-
dige Kindergeldzahlung. Das wäre auch künftig noch re-
gelbar. Da müssen nur die entsprechenden Verordnungen
modifiziert werden. Der Gesetzgeber – wir – ist derzeit
dazu noch nicht bereit. Aber das ist heute nicht das
Thema. Vieles von dem, was ich damals gefordert habe,
findet sich in unserem Antrag heute wieder. Ich nenne
nur einige Punkte:

Erstens wird zur Steigerung der Teilnahmerate an
Früherkennungsuntersuchungen ein Bonussystem ins
Auge gefasst.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Zweitens soll geprüft werden, wie die Teilnahme an
Kinderuntersuchungen durchgesetzt werden kann, zum
Beispiel bei Nichtteilnahme durch Einschaltung des öf-
fentlichen Gesundheitsdienstes.

Drittens verweise ich auf eine bessere Förderung von
Hilfsangeboten von Familienhebammen. Es muss in
Deutschland zur Normalität werden, dass in allen Eltern-
häusern Familienhebammen akzeptiert und anerkannt
sind, auch als Vertrauenspersonen, die in guten wie in
schlechten Tagen Eltern wie Kindern zur Verfügung ste-
hen. Das begrüßt im Übrigen auch unsere Ministerin.

Viertens soll im Rahmen des Aktionsprogramms
„Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Früh-
warnsysteme“ eine systematische Vernetzung von Ge-
sundheits- und Kinder- und Jugendhilfe erfolgen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!)


Der Antrag folgt sehr genau der aktuellen Entwick-
lung in der Lebenswirklichkeit. Immerhin ist es Ziel der
Koalition, die Bedeutung der Kinderrechte stärker in die
Öffentlichkeit zu transportieren.

Der Antrag der FDP enthält auch sehr viel Richtiges
und Gutes. Er umfasst unter anderem viele Forderungen,
die nahezu deckungsgleich mit denen aus unserem An-
trag sind. Zum Beispiel ist Punkt 2 d zum Berufsbild der
Familienhebamme wichtig. Besonders hervorzuheben ist
die Förderung der Einhaltung von Vorsorgeuntersuchun-
gen und die Vernetzung von Ärzten, Jugendamt usw. Au-






(A) (C)



(B) (D)


Katharina Landgraf
ßerdem begrüße ich, dass auch Sie sich mit der Stärkung
der Elternkompetenz befassen, so in Punkt 2 b und 2 c.
Das alles zeigt letztendlich, dass Sie von der FDP auch
hier Ihr neues soziales Gesicht präsentieren wollen. Be-
merkenswert.


(Ina Lenke [FDP]: Das haben wir schon immer!)


Der Antrag ist allerdings weniger ausführlich und enthält
zum Beispiel keine praktikablen Vorschläge zur Durch-
setzung von Vorsorgeuntersuchungen. Das ist uns zu we-
nig. Es muss schon über die Konsequenzen der Nicht-
teilnahme an den Untersuchungen nachgedacht werden.
Noch einmal an Ihre Adresse, verehrte Kolleginnen und
verehrter Kollege von der FDP: Die frühe Förderung von
Kindern, also die frühkindliche Bildung, und der Ausbau
der Tagesbetreuung von unter Dreijährigen werden in
unserem Antrag aus guten Gründen nicht behandelt.
Diese Themen müssen extra und umfassend ausgearbei-
tet und dürfen nicht nur so nebenbei diskutiert werden.
Dazu sind sie zu wichtig, und sie enthalten im Übrigen
genug Stoff für einen eigenen Antrag.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir werden unser Ziel, mehr für das Wohl unserer
Kinder zu tun, nur erreichen, wenn Bund, Länder und
Kommunen kooperativ handeln. Ich bin sicher: Zustim-
mung und Umsetzung aus Ländersicht fielen leichter,
wenn alle Forderungen, die die Kompetenzen der Länder
tangieren, jeweils mit dem Zusatz „gemeinsam mit den
Ländern“ verknüpft wären. Eine Verzahnung von Ju-
gend- und Gesundheitshilfe gelingt ohnehin nur zusam-
men mit den Ländern. Abgesehen von der Kompetenz-
verteilung im Grundgesetz ist für mich entscheidend,
dass sich viele Probleme aufgrund ihrer in Deutschland
regional sehr unterschiedlichen Ausprägung nur sehr
schwer zentral steuern lassen. Wir brauchen einfache
Lösungen, die sich in unserem Antrag auch bereits an-
deuten. Wir brauchen Partner der Eltern, die mit hoher
Fach- und Sachkenntnis sowie mit der erforderlichen
Güte die Familien und Kinder durch den Alltag beglei-
ten.

Ich sage es noch einmal: Das Beste für das gesunde
seelische und körperliche Aufwachsen der Kinder sind
kompetente und bewusste Eltern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir, die Union, stehen mit unserem Koalitionspartner
nach wie vor für die Wahrung der Elternrechte und El-
ternfreiheiten sowie für die umfassende Erfüllung der
Elternpflichten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das heißt ganz konkret, dass wir in Deutschland zukünf-
tig mehr für Eltern- und Familienbildung tun müssen.
Wir brauchen eine neue Generation von spezialisierten
Pädagogen, die diesem Anspruch gerecht werden kön-
nen.

Müssen wir da nicht auch die berufliche und universi-
täre Bildung auf den Prüfstand stellen? Es ist durchaus
Sache der Bundesebene, hier die entsprechenden Richt-
linien und Vorgaben zu entwickeln. Außerdem ist es eine
Frage der sozialen Nachhaltigkeit, die wir für den Fort-
bestand unserer Gesellschaft schnellstens beantworten
müssen. Der vorliegende Antrag muss eine Fortsetzung
in diesem Sinne finden.

Es gibt also weiterhin viel zu tun. Ich danke den Kol-
leginnen der SPD für die Zusammenarbeit. Der FDP
gebe ich mit auf den Weg: Weiter so! Dann nähern Sie
sich unserem gemeinsamen Standpunkt an.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608820400

Das Wort hat jetzt die Kollegin Miriam Gruß von der

FDP-Fraktion.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1608820500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! Der Präsident des Deut-
schen Familienverbandes hat gestern davor gewarnt,
die Familienpolitik allein auf das Problem der Kinder-
betreuung zu reduzieren. Damit hat er natürlich recht.
Deshalb freue ich mich, dass wir uns heute im Plenum
mit einer ganzen Reihe von Themen beschäftigen, die
im weiteren Sinne Teil der Familienpolitik sind: der
Schutz von Kindern in Deutschland – darüber sprechen
wir jetzt –, Sprache als Schlüssel zur Integration von
Kindern und Jugendlichen und die UN-Kinderrechts-
konvention, worüber wir später hoffentlich noch spre-
chen werden.

Zunächst zum Schutz von Kindern in Deutschland.
Diese Woche erschüttert uns wieder der Fall eines neu-
geborenen Mädchens, das in Hamburg aus dem
10. Stock eines Hochhauses geworfen wurde und nur
noch tot aufgefunden werden konnte. Wieder musste ein
Baby in Deutschland qualvoll sterben, weil seine Eltern
mit der Situation anscheinend überfordert waren.

Die Statistiken hierzu sind tatsächlich unzureichend.
Ich freue mich über die Passage in Ihrem entsprechenden
Antrag, in der gefordert wird, diese Statistiken auszu-
bauen. Ob die Anzahl der misshandelten oder vernach-
lässigten Kinder zugenommen hat, lässt sich kaum bele-
gen. Aber die Aufmerksamkeit für solche Fälle hat – das
wissen wir alle – deutlich zugenommen. Ich hoffe, dass
wir dadurch alle sensibler für Familien werden, dass wir
alle genauer hinschauen, ob es einem Kind wirklich gut
geht, und dass wir das Signalisieren von Hilfsbedürftig-
keit auch in Zukunft richtig zu deuten wissen.


(Beifall bei der FDP)


Je direkter wir an den Kindern dran sind, desto besser.
Deshalb sind hier vor allen Dingen die Kommunen ge-
fragt. Natürlich geht das nicht alles ohne ein entspre-
chendes Konzept zur Finanzierung. Ich persönlich bin
gespannt, wie Sie, verehrte Damen und Herren der Gro-
ßen Koalition, diese Problematik lösen wollen, die Sie
sich durch die Föderalismusreform in Teilen selbst ein-






(A) (C)



(B) (D)


Miriam Gruß
gebrockt haben. Ich meine, mittelfristig müssen wir neue
Akzente in der Gesellschaftspolitik setzen und neue
Wege der Finanzierung finden. Das Wohlergehen unse-
rer Kinder sollte uns jede Kraftanstrengung wert sein.


(Beifall bei der FDP)


Wir können nicht immer erst dann eingreifen, wenn
es zu spät ist. Deshalb sind in dem Antrag der FDP-Frak-
tion zwei Forderungen enthalten: zum einen die nach
dem vorsorgenden Schutz – Prävention geht nämlich
vor Reha –, zum anderen die nach der – ich halte das für
sehr wichtig – frühen Förderung von Kindern. Ich darf
Sie aber beruhigen: Ein entsprechender eigener Antrag
zu dem Thema, das Sie vorhin angesprochen haben, wird
noch vorgelegt werden.

Zum ersten Punkt. Wenn wir Kinder besser schützen
wollen, müssen wir dorthin schauen, wo die Ursachen
für die verschiedenen Formen von Kindesvernachlässi-
gung liegen. Insbesondere wenn das individuelle Versa-
gen innerhalb einer Familie auf soziale oder ökonomi-
sche Schwächen trifft, ist Schlimmes zu befürchten. Die
betroffenen Menschen dürfen wir nicht vergessen und
auch nicht alleinlassen. Das Wohl des Kindes ist nämlich
direkt mit der Situation der Eltern verbunden. Wenn
diese überfordert sind, leiden die Kinder. Deshalb müs-
sen wir auch die Eltern stärken.

Angebote für Schwangere und junge Eltern sind ele-
mentar wichtig. Das kann ganz banale Dinge wie das
Führen eines Haushalts oder den Umgang mit Geld um-
fassen. Elternbildung und mehr Elternkompetenz bedeu-
ten auch, die Kinder zu stärken.


(Beifall bei der FDP)


Zu späte Intervention, mangelnde Vernetzung der ver-
antwortlichen Stellen oder auch Überforderung der
Fachkräfte sind die häufigsten Ursachen, wenn Fälle von
Kindesvernachlässigung nicht rechtzeitig bekannt wer-
den.

Deshalb ist die Aus-, Fort- und Weiterbildung der
Fachkräfte ein weiterer wichtiger Baustein. Die Fach-
kräfte sind es, die den Familien stützend zur Seite ste-
hen. Hier können wir auch neue Potenziale erschließen,
zum Beispiel die Hebammen, die helfen können und
wollen, für ihre Arbeit dann aber auch eine sichere ge-
setzliche Grundlage brauchen.

Gefordert ist auch das Umfeld: Familienmitglieder,
der Freundeskreis, die Nachbarschaft, Ärzte, Mitarbeiter
der Jugendhilfe, aber auch Familiengerichte. Sie alle ha-
ben durch ihren Blickwinkel eine individuelle Sicht auf
das einzelne Kind und können Veränderungen schneller
bemerken.

„Hinsehen und handeln“ – das muss das Motto sein.


(Beifall bei der FDP)


Der Pfad zwischen Unterstützung der Eltern und Kon-
trolle im Sinne des Kindeswohls ist eng, aber lebens-
wichtig.

Neben dem Schutz ist die Unterstützung von Kindern
wichtig, um sie für die Welt stark zu machen. Zur frü-
hen Förderung gehört zum Beispiel, Kindern aus soge-
nannten anregungsarmen Elternhäusern durch Bildung
und Erziehung Perspektiven zu eröffnen. Herr Munñoz
hat uns gestern wieder einmal unmissverständlich vor
Augen geführt, was Chancengleichheit in Deutschland
bedeutet.

Dazu gehört auch – der Familienverband möge es mir
verzeihen – die Betreuung von Kindern. In Zeiten, in de-
nen sich die Ansprüche an das Modell Familie verän-
dern, wächst die Bedeutung der frühkindlichen Bil-
dungseinrichtungen. Auf ihre Qualität ist deshalb
besonderes Augenmerk zu legen. Bindung und Bildung
sind ausschlaggebend für jedes Kind.

Ich komme zum Schluss. – Kinder heute zu schützen,
ist unsere ureigene Pflicht. Kinder heute zu fördern, ist
unser oberstes Gebot. Kinder zu achten und für ihre Zu-
kunft zu denken, muss gesamtgesellschaftliche Prämisse
sein, und zwar nicht nur für uns Familienpolitikerinnen
und Familienpolitiker.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608820600

Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht

von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Johannes Singhammer [CDU/CSU] – Das Rednerpult wird heruntergefahren)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1608820700

Da weiß man, wie sich ein Kind fühlt, wenn es an ei-

nen Tisch tritt. Bei meiner Größe geht mir das hier am
Pult immer so. Das ist immer etwas zu hoch. Vielleicht
habe ich deshalb viel Verständnis für Kinder. Vielleicht
ist in mir wegen meiner Größe auch noch viel Kind vor-
handen.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir haben heute ein Thema auf der Tagesordnung, das
meist nicht sehr positiv besetzt ist. Es wird uns immer in
Erinnerung gerufen, wenn irgendwelche tragischen
Dinge passieren. Aber dann, wenn es funktioniert, wenn
alles klappt, redet man nicht darüber. Das ist wie in der
Verkehrspolitik. Da redet man nicht über die Straßen,
wenn man gut durchfahren kann, aber man redet da-
rüber, wenn es einen Stau gibt, wenn ein Unfall passiert
ist oder wenn genau dort, wo man eine Straße braucht,
keine ist.

In der Kinder- und Jugendpolitik benötigen wir eine
solche Struktur wie in der Verkehrspolitik. Wir brauchen
Rahmen, in denen Kinder aufwachsen können, und zwar
schon sehr früh. „Sehr früh“ heißt: Eigentlich schon für
die Zeit im Mutterleib brauchen wir Rahmenbedingun-
gen, damit Schädigungen, die möglicherweise ein Leben
lang anhalten, nicht passieren. Wir müssen Eltern mög-
lichst frühzeitig einen solchen Rahmen geben, dass sie
ihre Kinder gesund aufwachsen lassen können.

Goethe hat einmal gesagt: Eltern haben ihren Kindern
zwei Dinge mitzugeben: Wurzeln und Flügel. – Ich
finde, das ist ein wunderschöner Spruch. Er hat übrigens






(A) (C)



(B) (D)


Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

noch nichts von Bindungsforschung gewusst, aber trotz-
dem gewusst, wie wichtig es ist, verwurzelt zu sein und
gleichzeitig die Fähigkeit zu haben, die Welt zu entde-
cken, abzuheben, den Größenwahn zu besitzen, alles,
was um einen herum ist, für sich in Anspruch zu neh-
men. Dazu brauchen wir Rahmenbedingungen.

Wir haben versucht, das abzuprüfen, und gefragt: Was
gibt es denn schon an Rahmenbedingungen? Mich er-
staunt immer, dass das, was vorhanden ist, kaum beach-
tet wird. Wie unter rot-grüner Regierung ist es jetzt auch
unter schwarz-roter Regierung: Wir machen Aktions-
pläne. Wir fordern zu bestimmten Dingen auf. Wir haben
bei den Vereinten Nationen einen wunderbaren Vertrag
für ein kindgerechtes Deutschland unterschrieben. Da
gibt es sechs Themenfelder, darunter Gesundheit, Schutz
vor Gewalt, Bildung und Beteiligung. Wenn ich vor Ort
bin und Kommunalpolitiker frage: „Wie sieht es denn
mit dem kindgerechten Landkreis aus?“, dann sagen sie:
„Womit?“; daraufhin erläutere ich: Zu einem kindge-
rechten Landkreis gehört es, dass Rahmenbedingungen
geschaffen werden, dass Kinder nicht von Gewalt be-
droht werden.

Wenn tragische Fälle passieren, wachen wir zwar auf,
aber deren Zahl ist in den letzten Jahren nicht gestiegen.


(Widerspruch bei der LINKEN)


– Nein, nach der Statistik, die ich extra noch einmal he-
rausgesucht habe, nicht. – Angestiegen ist aber die Zahl
der Kinder, die keine Wurzeln schlagen konnten, denen
also Bindung fehlt, die vernachlässigt werden oder die
keine Bildung im weitesten Sinne bekommen, das heißt
lebenstüchtig gemacht werden, damit sie ihren Willen
äußern, ihn gegen andere durchsetzen und sich auch un-
ter Kindern behaupten können. Uns um all das zu küm-
mern, haben wir, wie ich glaube, in den letzten Jahren in
der Politik vergessen. Wir haben immer nur gespart.

Bei den meisten im Parlament eingebrachten Anträ-
gen ging es nur darum, wie die Ausgaben noch weiter re-
duziert werden können, nicht darum, wie die zur Verfü-
gung stehenden Gelder – es geht mir gar nicht um mehr
Geld – gezielt eingesetzt werden können. Das geht zum
Beispiel – die Frau Kollegin Landgraf hat es gesagt –
über frühe Hilfen für Eltern und Kinder, über Familien-
hebammen und über verstärkte Zusammenarbeit. Seit
1991 gilt das Kinder- und Jugendhilfegesetz. Darin
wird Zusammenarbeit verordnet. Ich frage mich, ob da
draußen nur Analphabeten sitzen. Die müssten doch ge-
lesen haben, dass es eine Pflicht für Ärzte zur Zusam-
menarbeit mit Jugendhilfe, Polizei, Gerichten und ande-
ren Institutionen gibt. Alle müssen endlich das magische
Dreieck, das Kinder brauchen, um gut aufwachsen zu
können, nämlich Schutz bzw. Fürsorge, Förderung und
Beteiligung, ernst nehmen. Dies ist der Rahmen, in dem
Kinder stabil aufwachsen.

Vor diesem Hintergrund hat die Kinderkommission
einstimmig beschlossen – Beschlüsse können da ja nur
einstimmig gefasst werden –, die Kinderrechte in der
Verfassung zu verankern und das dort ganz eindeutig
festzulegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Herr Singhammer, auch Sie ziehen wir noch auf unsere
Seite. – Durch die Niederlegung dieser Rechte im
Grundgesetz würde klargemacht: Dieser Gesellschaft
sind Kinder ganz, ganz wichtig. Erst 1967 hat ja das
Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass auch Kinder
Menschen und damit Grundrechtsträger sind. Dass das
so lange gedauert hat, zeigt, dass schon damals irgendet-
was im Argen lag. Bis dahin hat man Kinder nämlich
immer noch als Defizitwesen angesehen.

Ich hoffe nun, dass Sie alle mitziehen, wenn wir in
Anträgen den gesellschaftlichen Willen zum Ausdruck
bringen, Kinder so gut zu schützen, dass sie wirklich
Wurzeln und Flügel haben, sie diese Welt erobern kön-
nen und aus ihnen vernünftige, verlässliche und verant-
wortliche Erwachsene werden.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608820800

Das Wort hat die Kollegin Diana Golze von der Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608820900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen An-
trag aus den Reihen der Koalition, dessen Stoßrichtung
wir – auch das kommt vor – grundsätzlich teilen.


(Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD])


Nichts wäre schlimmer, als ausgerechnet den Schutz von
Kindern vor Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung
zum Gegenstand eines langwierigen parteipolitischen
Hickhacks zu machen. Gerade deshalb freue ich mich
über den relativ sachlichen und differenzierten Ton des
Koalitionsantrags,


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Der ist komplett sachlich!)


der sich von der überhitzten Debatte der letzten Monate
abhebt. Wer das von uns allen geteilte Anliegen, den
Kinderschutz zu verbessern, auf die populistische De-
batte um verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen für
Kinder und die Sanktionierung bei Nichtteilnahme redu-
ziert, der findet vielleicht seinen eigenen Namen in den
Schlagzeilen, verfehlt aber den Kern des Problems.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb freut mich ebenfalls, dass nunmehr die Wei-
terentwicklung von Inhalt und Wirksamkeit der Vorsor-
geuntersuchungen angeregt wird. Dieser neue, integrie-
rende Ansatz, in dem mehr Verbindlichkeit bei den
Vorsorgeuntersuchungen mit präventiven und helfenden
Angeboten gekoppelt wird, findet unsere vollste Zustim-
mung.






(A) (C)



(B) (D)


Diana Golze
Ich möchte aber auch daran erinnern, dass keine
Kindheit im luftleeren Raum stattfindet. Jedes Eltern-
haus, jede Kinderkrippe, jeder Kindergarten und jede
Schule ist Teil dieser Gesellschaft. Deshalb ist es auch
richtig, nach der gesellschaftlichen Verantwortung für
das gesunde Aufwachsen von Kindern zu fragen. Nur
nach der Verantwortung der Eltern zu fragen, ist zu we-
nig.


(Beifall bei der LINKEN)


Zur gesellschaftlichen Verantwortung gehört aber
auch der Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedin-
gungen. Dazu findet sich leider im Antrag der Koalition
kein Wort. Das wundert mich auch nicht; waren Sie es
doch, die in den letzten Jahren zum Beispiel mit Ihrer
Hartz-IV-Politik die Lebensbedingungen von vielen
Kindern und Familien verschlechtert haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist daher im Grundsatz zynisch, wenn Sie das Pro-
blem auf „Risikofamilien“ fokussieren, was auch immer
diese Definition beinhalten mag. Damit leisten Sie der
Stigmatisierung von Familien Vorschub, deren Lebens-
situation durch, wie Sie es bezeichnen, „vielfältige bzw.
schwerwiegende Risiken“ gekennzeichnet ist. Wenn ein
umfassender Begriff der Kindesvernachlässigung zu-
grunde gelegt wird, dann wird schnell deutlich, dass wir
es mit einem schichtenübergreifenden Problem zu tun
haben. Für Vernachlässigung ist eine Vielzahl von Risi-
kofaktoren verantwortlich. Die Ursachen liegen nur zum
Teil in den Elternhäusern; viel öfter liegen sie in gesell-
schaftlich zu verantwortenden Defiziten.

Die Gefahr der Stigmatisierung besteht gerade dann,
wenn der Umgang mit Sozialdaten nicht auf die fachlich
befassten Krankenkassen und Jugendämter beschränkt
bleiben soll, wie Sie vorschlagen. Das ist nicht nur da-
tenschutzrechtlich sehr problematisch. Neben dem Ge-
sundheitsdienst hätten dann praktisch alle Ämter Zugriff
auf die kindesschutzbezogenen Daten.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Nein!)


Ich glaube nicht, dass es die Kooperationsbereitschaft
von Familien erhöht, wenn wir die sozialstaatlich ausge-
richtete Jugendhilfe durch ein kontrollierendes Fürsorge-
system ersetzen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Ich befürchte vielmehr, dass Sie so einen Prozess auslö-
sen, bei dem Einzelne sich noch mehr als jetzt dem Blick
der Öffentlichkeit entziehen.

Wer den Kinderschutz stärken will, sollte nicht die
Aufgaben der Jugendämter beschneiden und diese an
Polizei und Gesundheitsdienst delegieren. Das geht an
der Realität vorbei.


(Beifall bei der LINKEN)


Seit Jahren ist die Kinder- und Jugendhilfe massiven
Kürzungen ausgesetzt. Das verheerende Ergebnis sehen
wir heute: Den Anlaufstellen fehlen die Mittel, um quali-
fizierte Angebote machen zu können und schnell und ge-
zielt einzugreifen. Wenn Sie ein System aufbauen wol-
len, das einen effektiven Schutz von Kindern
gewährleistet, dann müssen Sie da anfangen, wo Sie in
den vergangenen Jahren Rotstiftpolitik betrieben haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Länder und Kommunen müssen finanziell in die Lage
versetzt werden, eine handlungsfähige Kinder- und Ju-
gendhilfe vorzuhalten. Die Jugendämter müssen so aus-
gestattet sein, dass sie die treibende Kraft für eine Ver-
netzung der verschiedenen Akteure sein können. Wir
brauchen eine starke Jugendhilfelandschaft, ein Netz-
werk aus Vereinen, Verbänden, Kinderärzten, Betreu-
ungseinrichtungen, Polizei und Gesundheitsamt.

Ein besserer Kinderschutz muss her, und das schnell.
Wir dürfen es nicht bei einer Schaufensterpolitik belas-
sen, aber auch nicht in blinden Aktionismus verfallen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608821000

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz von

Bündnis 90/Die Grünen.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608821100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

den letzten Jahren und Monaten haben uns viele schreck-
liche Fälle, in denen Eltern ihre Kinder vernachlässigt
haben, verfolgt. Sie haben zu hitzigen Diskussionen in
der Öffentlichkeit, aber auch hier im Parlament geführt.
Immer wieder schwang dabei die Frage mit, inwieweit
das staatliche Wächteramt in die Familien eingreifen
darf oder gar muss. In diesen Debatten war immer von
verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen die Rede.
Manche sprachen von Kindergeldkürzung; manche gin-
gen sogar noch weiter und sprachen von einer frühen
Herausnahme der Kinder.

Seit wir uns näher mit diesem Thema beschäftigen,
wissen wir – auch wenn wir kaum auf statistisch belast-
bare Zahlen zurückgreifen können, sondern eine Viel-
zahl von dramatischen, schrecklichen Einzelfällen vor
Augen haben –, dass es an der Zeit ist, zu handeln. Des-
halb haben die Grünen bereits im Oktober letzten Jahres
hier einen Antrag eingebracht. Ich freue mich, dass die
Koalitionsfraktionen viele Punkte aus diesem Antrag für
gut befunden und in ihren heute vorliegenden Antrag
übernommen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vor allem aber freue ich mich, dass eine gewisse Serio-
sität in das Thema eingekehrt ist und dass Sie sich inzwi-
schen von all den Vorschlägen distanzieren, die ich vor-
hin erwähnt habe und die uns nicht weitergebracht ha-
ben.

An diesem Punkt möchte ich noch etwas zur aktuellen
Debatte sagen. Sie suchen zurzeit nach Gründen für den
Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur. Man sieht
doch: Die beste Form der Prävention ist immer noch hin-






(A) (C)



(B) (D)


Ekin Deligöz
sehen und den Kindern Gelegenheiten bieten. Genau das
können wir am besten in Kindergärten, Kinderkrippen
und Ganztagsschulen. Gerade deshalb brauchen wir für
unsere Kinder diese Einrichtungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen an dieser Stelle eines festhalten: Wir
müssen Kinderrechte stärken und die Kinder in den Mit-
telpunkt stellen. Ich bedauere sehr, dass Sie die Veranke-
rung der Kinderrechte in der Verfassung nicht in Ihren
Antrag aufgenommen haben. Es wäre für die Koalition
eine gute Gelegenheit gewesen, sich eindeutig dazu zu
bekennen und es nicht bei Sonntagsreden zu belassen.
Das fehlt mir in diesem Antrag. Sie sollten nicht nur
über diese Punkte reden, sondern sie auch in Ihren An-
trag aufnehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kommen wir zu dem Verhältnis zwischen Kindern,
Eltern und Staat. Wir müssen Vernachlässigung früher
und lückenloser aufdecken. Wir brauchen eine Vernet-
zung. Frau Golze, es geht nicht darum, dass wir die ein-
zelnen Elemente gegeneinander ausspielen; vielmehr
brauchen wir sie alle, und zwar vernetzt. Wir brauchen
die Ressourcen der Kinder- und Jugendhilfe. Außerdem
dürfen wir nicht erlauben, dass die freiwilligen Leistun-
gen, die aufsuchenden Leistungen der Kinder- und Ju-
gendhilfe dem Sparen zum Opfer fallen und dass sie so-
zusagen zur Sparbüchse der Nation werden.

Wir müssen die Häufigkeit der Kontakte zu den Fami-
lien erhöhen. Wir brauchen mehr verbindliche Ange-
bote. Es ist ganz wichtig, im Rahmen der Vorsorgeun-
tersuchungen nachzuschauen. Es wird über den
zeitlichen Abstand dieser Untersuchungen debattiert.
Außerdem stellt sich die Frage, ob die Vorsorgeuntersu-
chungen geeignet sind, Vernachlässigungen aufzude-
cken. Daran haben Kinderärzte ganz große Zweifel.
Diese Zweifel müssen wir ernst nehmen. Sie geben in
Ihrem Antrag vor allem keine Antwort auf die zentrale
Frage, wie der Datenabgleich vonstatten gehen soll. Wir
müssen diesbezüglich auch die Probleme des Daten-
schutzes lösen. An diesem Punkt gibt es also noch Defi-
zite.

Wir müssen die bestehenden Regelungen evaluieren
und besser bekannt machen. Rot-Grün hat zuletzt die
Kinder- und Jugendhilfe dahin gehend reformiert, dass
die Schutzmöglichkeiten weiter ausgebaut werden.

Der letzte Punkt. Wir brauchen Familienhebammen.
Für die eine Familie sind acht Wochen mehr als genug,
und für die andere Familie fangen nach acht Wochen die
Probleme erst an. Wir müssen mutig sagen, dass wir zu
unseren Hebammen stehen, und wir müssen Arbeits-
möglichkeiten für sie schaffen. Das festzuschreiben, ist
eine Aufgabe der Politik auf Bundesebene. Es ist aber
auch eine Aufgabe der Kinder- und Frauenärzte, für eine
Vernetzung zu sorgen.

Sie sehen: Es gibt noch viel zu tun. Wir stehen erst am
Anfang. Seien Sie mutig in der Koalition! Wir sind es
auf jeden Fall. Ich kann Ihnen aus Schleswig-Holstein
berichten, dass die Große Koalition dort einen Antrag
der Grünen zu diesem Thema einstimmig angenommen
hat und jetzt in Gesetzesform gießt.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608821200

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

erhält jetzt die Kollegin Kerstin Griese von der SPD-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1608821300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

wollen und wir müssen mehr dafür tun, dass Kinder ge-
sund aufwachsen. Wir wollen und wir müssen mehr da-
für tun, dass Kinder besonders aus Risikofamilien besser
geschützt werden. Deshalb müssen wir schnell handeln,
was auch durch die aktuellen Fälle unterstrichen wird.

Wir müssen mehr tun, um deutlich zu machen, dass
der Staat eine Verantwortung hat. Art. 6 des Grundgeset-
zes besagt:

Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürli-
che Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen ob-
liegende Pflicht.

Aber es sagt auch deutlich:

Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemein-
schaft.

Dieses Wächteramt müssen wir mehr und besser aus-
füllen, damit alle Kinder die Chance haben, gesund auf-
zuwachsen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dazu gehört, die Erziehungskompetenz der Eltern zu
stärken. Dazu gehört aber auch, mehr zu tun, um die me-
dizinische Versorgung zu verbessern. Es muss überprüft
werden, ob die Intervalle der Vorsorgeuntersuchungen
richtig gewählt sind, ob die Qualität stimmt und ob nicht
noch anderes untersucht werden muss, um Misshandlun-
gen und Vernachlässigungen früher zu erkennen.

Ich bin überzeugt, dass Sanktionen nicht helfen wer-
den. Ich glaube aber sehr wohl, dass Bonusmodelle hel-
fen werden. Wir sehen das am Beispiel von Finnland, wo
es das Neuvola-System gibt. Eltern bekommen einen
Bonus dafür, dass sie mit ihren Kindern regelmäßig an
Untersuchungen teilnehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Was wir erreichen wollen und ganz dringend errei-
chen müssen, ist ein verbindliches Einladewesen zur
Vorsorgeuntersuchung und die Teilnahme aller Kinder
daran. Es sollen nicht irgendwelche Statistiken erhöht
werden. Vielmehr soll die Teilnahme tatsächlich aller
Kinder erreicht werden. Denn die 5, in manchen Stadt-
teilen auch 25 und in manchen Stadtteilen sogar
50 Prozent der Kinder, die nicht mehr zu Vorsorgeunter-
suchungen gehen, sind die Problemfälle. Hier muss das






(A) (C)



(B) (D)


Kerstin Griese
staatliche Wächteramt ausgefüllt werden. Wir müssen
uns darum kümmern, warum diese Kinder nicht zur Vor-
sorgeuntersuchung kommen. Für sie müssen wir etwas
tun.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich will ausdrücklich sagen: Es gibt sehr viele sehr
gute Ansätze. Die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung macht ganz tolle Arbeit. Die Aktion „Ich
geh’ zur U! Und Du?“, die in vielen Kindergärten durch-
geführt wird, ist wirklich klasse.

Ich sage aber auch ganz deutlich, Frau Golze: Der
Datenschutz kann und darf kein Argument sein, um den
Schutz von Kindern zu verhindern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Diana Golze [DIE LINKE]: Das ist er auch nicht!)


Der Datenschutz darf nicht dafür herhalten, dass Daten
nicht weitergegeben werden. Jugendämter, Gesundheits-
ämter, Sozialämter, Krankenhäuser und der Kinder-
schutzbund – sie alle müssen zusammenarbeiten können,
damit solche schlimmen Fälle wie in der Vergangenheit
nicht wieder passieren. Wir müssen uns dort kümmern,
wo sich nicht genügend um Kinder gekümmert wird.

Das hat auch etwas mit sozialer Integration, mit Bil-
dungschancen und Gesundheitschancen für alle Kinder
zu tun. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt auf Bundesebene
mit dem Programm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder
und soziale Frühwarnsysteme“ damit beginnen, zu
schauen, was in den Ländern und Kommunen eigentlich
passiert. Es werden Modellprojekte gestartet, um die
Versorgung von Kindern zu verbessern und zu fördern.

Ich will deutlich sagen: Es gibt ein paar sehr gute An-
sätze. Ich komme aus dem Landkreis Mettman, wo für
die U 8, die etwa im Alter von dreieinhalb Jahren statt-
findet, ein solches Einladewesen praktiziert wird. Das
Gesundheitsamt schreibt alle Eltern an. Dort, wo keine
Rückmeldung erfolgt, wird nachgehakt. Wir haben dort
eine tatsächlich höhere Beteiligung an diesen Vorsorge-
untersuchungen als woanders.

In Düsseldorf wird mit dem Düsseldorfer Modell di-
rekt nach der Geburt in den Geburtskliniken begonnen,
um die Eltern abzuholen und denjenigen, die Hilfe brau-
chen, zu helfen. In Dormagen – ich will dies ausdrück-
lich erwähnen, weil es ein ganz toller Ansatz ist – begrü-
ßen der Bürgermeister sowie seine Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter aus den Sozialämtern jedes Kind. Das ist
keine Stigmatisierung. Jede Familie wird im Rahmen
des Programms „Willkommen im Leben, willkommen
als Familie in Dormagen“ aufgesucht und erhält Hilfs-
maßnahmen. Das brauchen wir; so füllen wir das staatli-
che Wächteramt aus.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Mein Fazit ist:

Erstens. Wir dürfen kein Kind zurücklassen. Wir müs-
sen uns um jedes Kind kümmern.
Zweitens. Es ist unsere staatliche Verantwortung, uns
um alle Kinder zu kümmern, auch um diejenigen, deren
Eltern ihnen nicht helfen.

Drittens. Wir brauchen Chancen auf Bildung und ge-
sundes Aufwachsen für alle Kinder.

Ich ende mit einem schönen Zitat von Rudolf
Virchow. Er hat gesagt: Die Freiheit hat zwei Töchter:
die Bildung und die Gesundheit. – Damit unsere Kinder
all das, nämlich Bildung und Gesundheit, bekommen,
müssen wir uns einsetzen und mehr als bisher tun. Das
wollen wir auch. Die Koalition hat dazu Vorschläge vor-
gelegt. Ich hoffe, dass wir sie gemeinsam unterstützen
und durchsetzen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608821400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4604 und 16/4415 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Michael
Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Sprache schafft Identität und ist Schlüssel zur
Integration

– Drucksache 16/2092 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Sibylle Laurischk von der
FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Sibylle Laurischk (FDP):
Rede ID: ID1608821500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große

Koalition ringt um das Bleiberecht. Trotz der absehbaren
demografischen Entwicklung besteht in der Union die
Auffassung, dass wir keine Zuwanderung mehr bräuch-
ten.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Quatsch!)


Der Entwurf zum Zuwanderungsrecht sieht Verschärfun-
gen vor. Da ist es an der Opposition in diesem Hause,






(A) (C)



(B) (D)


Sibylle Laurischk
endlich wieder über Integration zu reden und den Mi-
grantinnen und Migranten in Deutschland zu sagen, dass
sie bei uns willkommen sind.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dazu müssen wir einander verstehen. Deshalb be-
schreibt der Titel unseres Antrags „Sprache schafft Iden-
tität und ist Schlüssel zur Integration“ haargenau die not-
wendige Schwerpunktsetzung in der Integrationspolitik.
Sprache ist das zentrale Kommunikationsmittel in einer
Gesellschaft.

Ohne eine gemeinsame Sprachbasis ist ein Kennen-
lernen nicht möglich. Es gibt keinen Austausch unterei-
nander und damit auch keine Integration in das Gemein-
wesen, in unsere Gesellschaft. Es gibt dann auch keine
Integration in der Arbeitswelt, wo die Nachfrage nach
einfachen Tätigkeiten immer mehr zurückgeht und in der
der Weg ohne entsprechende Sprachkenntnisse schnur-
stracks in die Sozialhilfe führt.


(Beifall bei der FDP)


Die oft deutlich schlechteren Schulabschlüsse von
jungen Migrantinnen und Migranten sind eben auch auf
unzureichende Deutschkenntnisse zurückzuführen. Der
soziale Sprengstoff, der aus solcher Perspektivlosigkeit
entstehen kann, wird uns an der Situation in Frankreich
deutlich. Wir wollen die Integration von Migrantinnen
und Migranten. Deshalb müssen wir die auch in
Deutschland absehbare Entwicklung von sozialem
Sprengstoff mit aller Kraft verhindern.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Frühe Sprachstandstests mit anschließender individuel-
ler Förderung schon ab dem dritten Lebensjahr, kosten-
freies letztes Kindergartenjahr, Ganztagsschulen vor al-
lem in Brennpunktgebieten und ein viel stärkeres
Zugehen auf die Eltern sind nötig.

Ohne die Einbeziehung der Eltern ist ein Integrations-
erfolg nur schwer möglich; und diese profitieren ja selbst
von Sprachkursen. Das Angebot ist vielfältig. Mutter-
Kind-Kurse, Rucksackprojekte und spezielle Elternbil-
dungsprogramme sind Projekte, die den Erwerb der
deutschen Sprache fördern. Ich rufe die Länder und
Kommunen auf, verstärkt solche Maßnahmen anzubie-
ten, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: frü-
hestmögliche Integrationsanstrengungen bei den Kin-
dern und der Beginn einer nachholenden Integration für
die Eltern.

Daher ist es besonders zu begrüßen, wenn Zuwande-
rinnen und Zuwanderer bereits bei der Einwanderung
Deutschkenntnisse besitzen. Kann man sie aber zur
Pflicht machen? Der Ehegattennachzug ist neben der
fast bedeutungslosen Zuzugsberechtigung von Hochqua-
lifizierten und den Spätaussiedlern die einzige legale Zu-
wanderungsmöglichkeit nach Deutschland. Wenn die zu-
ziehenden Ehepartner bereits Deutschkenntnisse haben,
erleichtert das nicht nur den Spracherwerb bei den Kin-
dern, sondern natürlich auch die Integration des Zuzie-
henden in Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sollen die das denn lernen?)


Daher sind Sprachkurse im Herkunftsland als erwei-
tertes Angebot immer zu begrüßen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht als Verpflichtung!)


Doch ob nun das Nachzugsrecht eines türkischen, chine-
sischen oder amerikanischen Ehepartners zu einem deut-
schen Partner oder zu einer deutschen Partnerin unter
Hinweis auf fehlende Sprachkenntnisse verweigert wer-
den kann, erscheint mir mit Blick auf Art. 6 des Grund-
gesetzes doch sehr fraglich.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist eben Ihre Inkonsequenz!)


Und was soll denn passieren, wenn das Testniveau
nicht erreicht wird? Gibt es dann keinen Nachzug? Oder
reicht ein minimaler Wortschatz aus, etwa für einen Su-
permarkteinkauf, also Wörter, die man im türkischen La-
den sowieso nicht braucht und mit denen man keine
Emanzipation aus den sogenannten Parallelgesellschaf-
ten erreicht?

Mit diesen Beispielen wird klar, dass Sie das Druck-
mittel, das Sie hier aufbauen wollen, doch gar nicht
durchhalten können.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Es geht hier nicht um Integration; es geht möglicher-
weise sogar um Abschreckung. Warum gehen wir nicht
den einfachen Weg und sorgen für einen massiven Aus-
bau von verpflichtenden Sprachkursen für die Zuwan-
derer hier bei uns in Deutschland?


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist doch geltendes Recht, Frau Laurischk!)


Zusätzlich benötigen wir größere Anstrengungen zur Be-
kämpfung beispielsweise von Zwangsverheiratungen.


(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Die Lektüre des Gesetzes erspart Empfehlungen! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist geltende Rechtslage!)


Dies bringt mich zu dem Instrument, das durch das
Zuwanderungsgesetz eingeführt wurde und dessen Fort-
entwicklung nun dringend erfolgen muss: den Integra-
tionskursen. Man kann den Eindruck gewinnen, dass
man bei der Einführung der Integrationskurse nicht so
recht wusste, welche Ziele man eigentlich verfolgen will
und welche Anstrengungen dafür nötig sind.


(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Doch, doch!)


Nur so kann ich mir erklären, dass die Defizite der
Kurse, die doch klar auf der Hand liegen, überhaupt ent-
standen sind.

Die Evaluierung hat einige Zeit gekostet und die er-
warteten Ergebnisse gebracht. Mir fehlt aber eine klare
Aussage zur Ausweitung der Stundenzahl. Da muss eine
deutliche Flexibilisierung erfolgen, sodass schwierige






(A) (C)



(B) (D)


Sibylle Laurischk
Fälle auch mehr Stunden in Anspruch nehmen können.
Allerdings halte ich weitere Verbesserungen gerade bei
den Rahmenbedingungen der Teilnahme für erforder-
lich: bessere Kinderbetreuung, möglichst zügige Teil-
nahme an den Kursen nach der Einreise, Abschaffung
der verwaltungsintensiven Teilnehmerbeiträge, vorge-
schaltete Angebote der Alphabetisierung und vor allem
eine größere Orientierung auf Jugendintegrationskurse.

Bis September 2006 begannen über 5 000 allgemeine
Integrationskurse, aber nur 51 Jugendintegrationskurse.
Wenn ich Ankündigungen des Bundesamtes für Migra-
tion und Flüchtlinge über neue Konzepte für bessere Ju-
gendintegrationskurse lese, dann kann ich nur sagen:
Bitte schnell umsetzen!


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Die Beherrschung der deutschen Sprache bietet Chan-
cen, was Schülerinnen und Schüler mit Migrationshin-
tergrund zunehmend verstehen. Als Beispiel nenne ich
die Hoover-Schule mit dem Stichwort „Deutsch auf dem
Schulhof“. Die Kenntnis weiterer Sprachen, gerade auch
der Muttersprache, ist dann ein Wettbewerbsvorteil,
weshalb der sogenannte muttersprachliche Unterricht
verstärkt in die Integrationsanstrengungen eingebunden
werden sollte.

Ich halte aber nichts von Eingriffen in die Religions-
freiheit und von der Forderung nach Deutsch in der Mo-
schee. Die katholische Kirche denkt über einen stärkeren
Einsatz der lateinischen Sprache im Gottesdienst nach.
Haben Sie hier etwa auch Bedenken?

Heute vor 175 Jahren starb Johann Wolfgang von
Goethe. Gegen Ende seines Lebens beschäftigte er sich
mit dem Islam und mit östlichen Kulturen. Er verstand
die Notwendigkeit des Ost-West-Dialogs, wozu es eben
auch der Sprachkompetenz bedarf.

Migration bringt Vielfalt. Vielfalt braucht eine Basis
zur Verständigung, die durch den Erwerb der deutschen
Sprache geschaffen werden kann. Das Gegenteil von
Vielfalt ist Einfalt; dies sollten wir bedenken.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608821600

Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Grindel von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1608821700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Laurischk, wenn Sie nicht eine solche Rede gehal-
ten hätten, wie Sie sie gehalten haben, würde ich Ihnen
Folgendes nicht entgegenhalten: Wir haben uns im In-
nenausschuss anhand des Rambøll-Gutachtens zweiein-
halb Stunden lang intensiv mit den Integrationskursen
beschäftigt; Sie waren bei dieser Sitzung nicht einmal
da. Sie sollten dann auch nicht so viel Unsinn zu diesen
Integrationskursen sagen, wie Sie es getan haben, zum
Teil ohne jegliche Kenntnis der Gesetzeslage.

(Sibylle Laurischk [FDP]: Das muss ich mir nicht vorwerfen lassen, Herr Grindel! Ich kenne sehr wohl die Expertise!)


Es wäre schön, wenn Sie zumindest bei den Sitzungen,
in denen wir über diese Fragen intensiv reden, dabei wä-
ren; das muss ich Ihnen deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gab auch andere, die Kritik geäußert haben!)


Das Rambøll-Gutachten geht in seinen Erkenntnissen
fachlich weit über das hinaus, was Sie in Ihrem Antrag
niedergeschrieben haben. Wir werden schnell die not-
wendigen politischen Konsequenzen daraus ziehen, und
zwar mit der Novelle des Aufenthaltsgesetzes, das am
kommenden Mittwoch im Kabinett verabschiedet wird.
Darin haben wir bereits eine Reihe von wesentlichen
Änderungen mit dem Ziel der qualitativen Verbesserung
der Integration, vor allen Dingen auch der Integrations-
kurse vorgesehen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn auch spät!)


Die Arbeitsgruppe eins des nationalen Integrationsgip-
fels hat inzwischen umfangreiche Empfehlungen zur
Weiterentwicklung der Integrationskurse erarbeitet.

Deshalb stellt sich schon die Frage, warum Sie über-
haupt den Antrag stellen. Man kommt der Wahrheit et-
was näher, wenn man die Stellen betrachtet, wo Sie kon-
kret werden. Ich muss deutlich sagen: Es ist schon
bemerkenswert, was Sie da verlangen. Sie verlangen
eine Verdoppelung der Kursstunden von jetzt 600 auf
1 200 Stunden. Sie wollen eine Erhöhung des Stunden-
satzes pro Tag und Teilnehmer von 2,05 Euro auf min-
destens 3 Euro. Sie verlangen eine Abschaffung der Ei-
genbeiträge bei Geringverdienern – was immer man in
der FDP unter Geringverdienern verstehen mag.


(Birgit Homburger [FDP]: Sie nicht!)


Sie wollen umfangreiche Fahrtkostenzuschüsse sowie
eine umfangreiche qualifizierte Kinderbetreuung. Wenn
ich das zusammenzähle, dann komme ich bei konserva-
tiver Berechnung auf einen dafür erforderlichen
Finanzaufwand von 450 Millionen Euro anstelle der
140 Millionen Euro, die derzeit dafür im Haushalt zur
Verfügung stehen und die im Jahre 2006 nicht einmal
abgerufen wurden.

Ich sage Ihnen ganz deutlich: So geht das nicht. Es
geht nicht an, dass die FDP bei Haushaltsberatungen mit
dicken Sparbüchern herkommt und uns vorwirft, wir
würden nicht ausreichend sparen, wir würden uns zu
sehr verschulden, und hier bei einem Einzelthema völlig
unbegründet eine Verdreifachung des Etatpostens bean-
tragt. Das ist unseriös, das ist Populismus. Schon aus
diesem Grund disqualifiziert sich Ihr Antrag von selbst.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Sie wollen sich bei Kursträgern, bei Sprachschulen,
bei freien Wohlfahrtsverbänden lieb Kind machen; das
steckt dahinter. Ich kann Ihnen aber in aller Deutlichkeit






(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Grindel
sagen: So kann man an der fachlichen Debatte nicht teil-
nehmen.

Sie reden hier über die identitätsstiftende Wirkung der
Sprache, über die Bedeutung von Sprache. Dann sollten
Sie auch konsequent sein. Natürlich ist es richtig, dass
wir vor dem Familiennachzug von Ehegatten einfache
Deutschkenntnisse verlangen, Deutschkenntnisse, die
ausreichen, um jedes FDP-Plakat zu verstehen.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: So einfach?)


Dies setzt nämlich gerade in Migrantenfamilien, die bis-
her nicht besonders integrationsbereit sind, ein richtiges
Signal: Man hat in dieser Gesellschaft als Ausländer
oder als Aussiedler keine gute Zukunft, insbesondere im
Hinblick auf die Kinder, wenn man nicht der deutschen
Sprache mächtig ist. Es geht um dieses Signal; Sie wol-
len uns dabei nicht unterstützen. Deswegen ist Ihre Hal-
tung hier inkonsequent, wenn Sie nicht zumindest einfa-
che Deutschkenntnisse als Voraussetzung für den
Familiennachzug akzeptieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist auch nicht so – das haben Sie in Ihrem Antrag
behauptet und hier wiederholt –, dass wir nachholende
Integration vernachlässigt haben. Kein Altzuwanderer
ist aus Geldmangel bei Integrationskursen abgelehnt
worden. Das zentrale Problem der nachholenden Inte-
gration ist ein ganz anderes. Es ist die Frage: Wie errei-
chen wir noch besser als bisher Ausländer, die schon seit
vielen Jahren bei uns leben und gleichwohl dringenden
Integrationsbedarf haben, der sich zum Beispiel nachtei-
lig auf hier aufwachsende Kinder auswirkt, weil im
Haushalt dieser Ausländer Deutsch praktisch keine Rolle
spielt? Die Frage ist also: Wie bringen wir Integrations-
angebote in die Parallelwelt?

Hier haben wir uns in der Koalition darauf verstän-
digt, dass die Behörden der Grundsicherung, also die
Optionskommunen und Argen, durch ihre Vermittler und
Fallmanager ausländische Langzeitarbeitslose künftig
direkt und ohne Umweg über die Ausländerbehörde zum
Besuch eines Integrationskurses verpflichten können,
wenn der Ausländer oder Aussiedler schon deshalb
keine Arbeit findet, weil er nicht ausreichend Deutsch
spricht.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war vorher auch schon möglich!)


Das ist ein praktischer Beitrag zur Verbesserung der
nachholenden Integration. Davon ist in Ihrem Antrag
nichts zu finden. Im Gegenteil: Sie fordern in Ihrem An-
trag die konsequente Anwendung der bestehenden so-
zialrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten. Sie übersehen
aber, dass diese ins Leere laufen, wenn Zuwanderer
nicht zum Besuch von Integrationskursen verpflichtet
werden. Durch unsere Gesetzesänderung wird die Zahl
der Verpflichtungen zunehmen, und damit werden die
von Ihnen angesprochenen Sanktionen eine größere Be-
deutung bekommen.
Da ich bei einigen der Grünen schon ein Zucken der
Augen sehe: Es geht uns im Kern nicht um die Sanktio-
nen, sondern darum, dass bisher nichtintegrationsbereite
Ausländer diese Integrationskurse besuchen, und zwar
von der ersten bis zur letzten Stunde. Darum geht es uns
in erster Linie, nicht um Sanktionen, um das noch ein-
mal klar zu sagen.

Ihre Forderung, hinsichtlich des Leistungsvermögens
der Teilnehmer möglichst homogen besetzte Kurse zu
schaffen, geht an der Realität vorbei.


(Sibylle Laurischk [FDP]: Das ist leider notwendig!)


Das würde im ländlichen Raum oder in Gegenden mit
niedrigem Migrantenanteil nur dazu führen, dass die
Kurse nie oder zu spät beginnen.


(Sibylle Laurischk [FDP]: Wollen Sie Effizienz?)


Prüfstein aller Verbesserungen müssen das Aufrecht-
erhalten und der Ausbau eines zeitnahen und flächende-
ckenden Angebots an Integrationskursen sein. Dazu ge-
hören enge Netzwerke in den Kommunen und die
Verpflichtung der Kursträger, Teilnehmer an einen ande-
ren Kursanbieter abzugeben, wenn Kurse so schneller
beginnen können.

Nicht homogene Kurse sind das Gebot der Stunde,
sondern flexible Kursangebote. Generell 1 200 Stunden
anzubieten, ist abwegig; denn immerhin erreichen
40 Prozent der Teilnehmer das Sprachniveau B1 schon
nach 600 Stunden. Teilnehmern, die nach 600 Stunden
nur das Niveau A2 erreichen, muss man in der Tat, aber
flexibel auf den Einzelnen zugeschnitten, die Möglich-
keit eröffnen, weitere 300 Stunden Unterricht zu erhal-
ten.


(Sibylle Laurischk [FDP]: Genau das habe ich gesagt!)


Eines ist ganz klar – darüber sind wir uns mit den So-
zialdemokraten einig –: An der Zielstellung „Sprach-
niveau B1“ wollen wir auf keinen Fall rütteln.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Ausschuss haben Sie noch B2 gesagt!)


Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir noch mehr
qualifizierte Lehrkräfte und einen Qualitätswettbewerb
zwischen den einzelnen Kursträgern brauchen. Wir brau-
chen mehr zielgruppenorientierte Angebote, das heißt,
spezielle Jugend- und Frauenkurse mit einer qualifizier-
ten Kinderbetreuung und der Möglichkeit, Betriebsprak-
tika oder eine Ausbildung am Ende des Kurses zu ma-
chen.


(Sibylle Laurischk [FDP]: Also stimmen Sie doch zu!)


Richtig ist – es wäre ganz schön, wenn Sie einmal zu-
hören würden – die Forderung nach einer Aufwertung
der Orientierungskurse, die Grundkenntnisse zur
Rechtsordnung, Geschichte und Kultur Deutschlands






(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Grindel
vermitteln. Ich stimme zu, dass wir hier das Stundenkon-
tingent erhöhen sollten.

Lassen Sie mich aus Aktualitätsgründen eine persön-
liche Anmerkung machen: Mein Eindruck ist, dass es
auch mancher Familienrichterin nicht schaden würde,
einen solchen Orientierungskurs zu besuchen,


(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


in dem man lernt, dass in Deutschland das Grundgesetz
und nicht der Koran gilt. Das musste ich dazu einmal sa-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie recht! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war das einzig Richtige an der Rede!)


Die Koalition nimmt die Empfehlungen der vielen
Experten der entsprechenden Arbeitsgruppe des Inte-
grationsgipfels sehr ernst. Wir werden sie im Rahmen
der Möglichkeiten des Haushalts umsetzen. Wenn wir
eine qualitative Verbesserung der Integrationskurse er-
reichen wollen, dann wird das haushaltswirksame Kon-
sequenzen haben. Das müssen wir bei der Aufstellung
des Haushalts 2008 thematisieren.


(Sibylle Laurischk [FDP]: Also doch!)


Ich sage an dieser Stelle aber auch: Integration ist eine
Querschnittsaufgabe. Angesichts dessen wäre es unfair,
allein den Haushalt des Bundesinnenministers damit zu
belasten. Für Integrationskurse muss insgesamt mehr
ausgegeben werden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608821800

Herr Kollege Grindel, erlauben Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Gruß von der FDP?


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1608821900

Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608822000

Frau Gruß, bitte.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1608822100

Ich möchte Sie fragen, ob Sie uns zustimmen, dass

wir immerhin Einsparvorschläge gemacht haben, mit de-
nen man solche sinnvollen Konzepte finanzieren könnte,
während Sie keine Einsparvorschläge gemacht haben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1608822200

Ich weiß jetzt nicht, in welchem Bereich Sie von Ein-

sparvorschlägen sprechen: im Bereich der Integrations-
kurse? Ich bin da etwas ratlos.


(Sibylle Laurischk [FDP]: In der Haushaltsdebatte, Herr Kollege!)


Sie wollen den Haushaltsansatz für den Bereich, über
den wir hier reden, verdreifachen. Das ist nicht nötig. Ich
habe das bereits an einem Beispiel dargelegt und gesagt,
dass etwa 40 Prozent der Teilnehmer an diesen Integra-
tionskursen das Sprachniveau B1 nach 600 Stunden er-
reichen. Insofern ist eine Ausweitung auf 1 200 Stunden,
wie Sie es fordern, nicht nötig.

Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Wir müssen uns
sehr genau anschauen, wie sich die Zahl der Zuwande-
rer, die momentan sinkt – Frau Laurischk hat das ange-
sprochen –, entwickelt. Wir müssen auch abwarten, ob
wir nicht durch die Verpflichtung für Altzuwanderer
mehr Kursteilnehmer haben werden. Ich kann für mich
persönlich und, wie ich denke, im Namen aller Innenpo-
litiker sagen: Wir wollen an dieser Stelle eine qualitative
Verbesserung, und zwar so, wie wir es mit den Experten
auf dem Integrationsgipfel besprochen haben. Für mich
heißt das auch, dass etwas mehr Mittel erforderlich sind,
insbesondere um die Jugend- und Frauenkurse zu ver-
bessern und die Stundenanzahl hierfür zu erhöhen.

Ich werde mich dafür einsetzen, dass hier mehr Mittel
zur Verfügung gestellt werden.

Ich habe aber auch gesagt, dass man nicht allein den
Haushalt des Bundesinnenministers damit belasten darf.
Wenn man Integration als Querschnittsaufgabe versteht,
müssen Mittel „on top“ kommen. Ich hoffe in diesem
Sinne, dass uns der Bundesfinanzminister bei den Inte-
grationsbemühungen helfen wird.

Herr Präsident, ich komme zur Schlussbemerkung.
Wir wollen viel fördern. Es geht aber nicht allein um das
Fördern, sondern auch um das Fordern. Integration ist
nicht nur eine Bringschuld des Staates; sie ist auch eine
Holschuld des Zuwanderers. Wer auf Dauer in der Auf-
nahmegesellschaft leben will, der muss auch einen akti-
ven Beitrag leisten, damit aus dem Nebeneinander, das
noch viel zu häufig besteht, ein Miteinander wird.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608822300

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sevim Dağdelen von

der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608822400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Sprache

schafft Identität und ist Schlüssel zur Integration“ würde
in diesem Fall heißen: Deutsche Sprache schafft deut-
sche Identität. Ich möchte gerne wissen, auf welche Be-
standteile der deutschen Identität hier so großer Wert ge-
legt wird.

Zu Ihrem Antrag, liebe Frau Laurischk. Dieser Antrag
enthält zwar sehr viele Vorschläge, denen wir uns durch-
aus anschließen könnten, doch in seiner Grundintention
können wir ihm nicht zustimmen. Sie reduzieren Inte-
gration auf den Spracherwerb. Was Sie allerdings von
den Regierungsfraktionen unterscheidet, ist, dass Sie
wenigstens die Rahmenbedingungen für den Sprach-






(A) (C)



(B) (D)


Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
erwerb im Rahmen der Integrationskurse verbessern
wollen.

Einig sind Sie sich aber mit den Regierungsfraktionen
wieder, wenn es um sozialrechtliche Sanktionen geht.
Ich frage mich: Warum eigentlich? Erstens sind sozial-
rechtliche Sanktionen bereits vorgesehen, und zweitens
wollen die meisten Migrantinnen und Migranten an den
Kursen teilnehmen. Der Präsident des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge, Herr Schmid, hat im Innen-
ausschuss festgestellt, dass bei den alteingesessenen Mi-
grantinnen und Migranten eine große Integrationsbereit-
schaft vorliegt. Ihr Anteil liegt bei 60 Prozent, ohne dass
Werbung gemacht wird, ohne dass sie einen Rechtsan-
spruch auf diese Kurse haben. Angesichts dessen frage
ich mich, was die Propaganda unter dem Stichwort „not-
wendige sozialrechtliche Sanktionsmöglichkeiten“ ei-
gentlich soll.

Irritiert war ich auch, als ich las, dass die identitäts-
stiftende Integrationswirkung der deutschen Sprache bis-
her unterschätzt worden sei. Genau das Gegenteil war
und ist der Fall. Sehr verkürzt und einseitig gilt die Mo-
nolingualität eben noch als wichtigste Voraussetzung für
die Integration. Nicht ohne Grund steht der Sprachkurs
auch im Mittelpunkt des aktuellen Integrationspro-
gramms und der aktuellen Integrationsdebatte. Die Inte-
grationskursverordnung lässt sich eindeutig als ein natio-
nalpädagogisches Mittel beschreiben, das Migrantinnen
und Migranten die deutsche Kultur- und Werteordnung
beibringen soll.

Das Erlernen der deutschen Sprache ist wichtig für
das Berufsleben, für die Teilhabe an Bildung und Kultur
sowie an gesellschaftlichen und politischen Entschei-
dungsprozessen; das bestreitet hier niemand. Aber feh-
lende oder unzureichende Deutschkenntnisse dürfen
nicht zu Ausgrenzung führen oder zur Ausgrenzung be-
nutzt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer die Bildungs- und Berufschancen der Migrantin-
nen und Migranten wirklich verbessern will, muss sich
zum Beispiel für einen Rechtsanspruch auf kostenlose
Kita- und Kindergartenplätze einsetzen,


(Beifall bei der LINKEN)


und zwar nicht nur für das letzte Jahr. Darüber hinaus
bedarf es der Abschaffung des dreigliedrigen, selektiven
Schulsystems und der Einführung von Gesamt- und Ge-
meinschaftsschulen.


(Beifall bei der LINKEN)


Aktuell wird der Bericht des Sonderberichterstatters der
UN für das Recht auf Bildung, Herrn Muñoz, diskutiert,
in dem er die soziale Ungleichheit des deutschen Bil-
dungssystems scharf kritisiert und sagt, da sei Hand-
lungsbedarf angezeigt.


(Beifall der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zuruf von der CDU/CSU: Das zeigt, dass er keine Ahnung hat!)

Ausgrenzung und Diskriminierung beruhen nicht
nur auf sprachlichen Missverständnissen. Wie wollen
Sie sonst erklären, dass Migrantinnen und Migranten bei
gleichem Schulabschluss bei der Ausbildungsplatzver-
gabe systematisch benachteiligt und diskriminiert wer-
den oder dass Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache
in der Grundschule und bei der Empfehlung für den
Übergang in die Sekundarstufe I grundsätzlich schlech-
ter bewertet werden?

Die Linke vertritt nicht die verkürzte und antirepubli-
kanische Auffassung, dass Sprache Schlüssel zur Inte-
gration ist. Für die Linke ist der Schlüssel zur Integration
in diese Gesellschaft die Teilhabe, die Partizipation an
allen gesellschaftlichen Ressourcen.


(Beifall bei der LINKEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war aber harter Tobak!)


Da reicht es eben nicht, das ehrenamtliche Engagement
als Instrument zum Erlernen der deutschen Sprache vor-
zuschieben, wie es in diesem Antrag gemacht wird. Ge-
rade weil wir der Meinung sind, dass Integration nur
über politische und soziale Rechte erfolgreich sein
kann, ist für uns weder der Integrationskurs im Allge-
meinen noch der Orientierungskurs im Konkreten der
erste Schritt zur Eingliederung, wie es in diesem Antrag
heißt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Einbürgerung
trägt durch die Anerkennung der Person und ihrer Aus-
stattung mit Rechten den entscheidenden Teil zur Inte-
gration bei.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie erlauben, Herr Präsident, möchte ich, da
wir uns noch in der Antirassistischen Aktionswoche be-
finden, abschließend sagen: Es gilt den gesellschaftli-
chen Realitäten wie dem strukturellen Rassismus, der in-
stitutionellen Diskriminierung und den soziokulturellen
Ausgrenzungen zu begegnen. Sie tun in diesem Zusam-
menhang immer so, als müssten die aufgeklärten und
zivilgesellschaftlich voll entwickelten Deutschen die
Prinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der
Gleichberechtigung, der Toleranz und der Religionsfrei-
heit gegen die Migrantinnen und Migranten verteidigen.
Das ist ein Hohn. Sie, insbesondere die Große Koalition,
die CDU/CSU und auch die SPD, sollten selbst erst ein-
mal einen Orientierungskurs zu den Menschenrechten
besuchen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Was Sie von den Menschenrechten halten, haben Sie mit
der unsäglichen sogenannten Bleiberechtsregelung, die
Sie getroffen haben, erst kürzlich bewiesen.

Danke sehr.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608822500

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Bürsch von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Bürsch (SPD):
Rede ID: ID1608822600

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich erinnere an das Thema, das heute auf der Tagesord-
nung steht, nämlich Integration. Als Positivdenker sage
ich zur FDP: Willkommen im Klub! Sie haben offenbar
auch entdeckt, dass Integration eine wichtige Aufgabe
ist, und zwar eine Aufgabe, die auch staatliche Unter-
stützung verlangt. Eine neoliberale Lösung – jeder soll
sich selber helfen – ist hier nicht angesagt. Sie schreiben
selbst in Ihrem Antrag: Wir brauchen einen aktivieren-
den, unterstützenden Staat. Das ist erstaunlich für die
FDP. Deshalb will ich das positiv festhalten.

Ansonsten erinnert mich Ihr Antrag an Hase und Igel.
Nicht nur weil er schon ein halbes Jahr alt ist, entdeckt
man darin Dinge, die im Grunde überholt sind. Insge-
samt haben wir uns mit dem, was der Antrag zum Inhalt
hat, im Innenausschuss und an verschiedenen anderen
Stellen bereits befasst. Aber ich will heute Abend gerne
ein bisschen Volkshochschule spielen und darstellen,
was wir alles schon auf den Weg gebracht haben. Das ist
vielleicht auch für die FDP ein Anlass, zu begrüßen, was
die Regierung macht.

Natürlich, Frau Laurischk, da gibt es keinen Zweifel:
Die Sprache schafft Identität und ist deshalb eine der
wichtigsten Säulen der Integration. Das ist allerdings
nicht neu. Hier kann ich an das erinnern, was die rot-
grüne Koalition vor einigen Jahren auf den Weg ge-
bracht hat.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das war noch gut!)


Im Zuwanderungsgesetz ist Integration zum ersten Mal
ausdrücklich als Aufgabe vorgesehen, und mit diesem
Gesetz wurden Sprachkurse mit staatlicher Finanzierung
eingeführt. Das Bundesamt für Migration und Flücht-
linge hat, seit das Zuwanderungsgesetz in Kraft ist, her-
vorragende Arbeit geleistet. Es gibt jetzt ein flächen-
deckendes Angebot von zugelassenen Trägern;


(Beifall des Abg. Dr. Carl-Christian Dressel [SPD])


insgesamt handelt es sich um die wirklich vorzeigbare
und nennenswerte Zahl von 1 800. Das allein ist in diesen
zwei Jahren schon ein großer Erfolg. Es gibt gegenwärtig
16 815 Kurse und rund 250 000 Teilnehmer. Von diesen
Teilnehmern – das sage ich, um die Statistik an dieser
Stelle zu ergänzen – sind 60 Prozent Frauen; auch das ist
ein wichtiger Erfolg. Wir sind uns einig: Frauen haben,
was die Sprachentwicklung der Kinder betrifft, eine be-
sondere Verantwortung. Nur mit diesen Sprachkursen
kann Integration auch längerfristig gelingen.

Nach Schätzungen der Träger erreicht allerdings nur
knapp die Hälfte der Teilnehmer das angestrebte Sprach-
niveau B1. Insofern besteht kein Zweifel, dass es Ver-
besserungsbedarf gibt. Wir haben allerdings schon im
Innenausschuss deutlich gemacht, dass wir wesentliche
Verbesserungsvorschläge aus dem zitierten Rambøll-
Gutachten übernehmen wollen.

Um es deutlich zu sagen, Frau Laurischk: Wir brau-
chen einen verbindlichen Abschlusstest, mit dem sich
die unterschiedlichen tatsächlich erreichten Sprachni-
veaus nachvollziehen lassen. Ein solcher Test wird ent-
wickelt. Derzeit kann in der Tat nur festgestellt werden,
wie viele der Teilnehmer, die sich zur Prüfung angemeldet
haben, den Test bestanden haben. Diese Situation befriedigt
auch uns nicht. Es werden längst nicht alle Teilnehmer
an den Sprachkursen zum Test angemeldet, sei es, weil
das Niveau B1 nicht erreichbar scheint, sei es, weil dem
Test von den Kursträgern mitunter sogar zu geringe Be-
deutung beigemessen wird. Bislang meldet nur knapp
ein Viertel der Kursträger alle Teilnehmer zum Ab-
schlusstest an. Circa 10 Prozent der Träger melden kaum
oder gar keine Teilnehmer an. Das bedeutet, von einem
großen Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wissen
wir nichts über das Sprachniveau, das sie nach immerhin
600 Stunden Sprachunterricht erreicht haben.

Auch im Hinblick auf das erreichte Sprachniveau der-
jenigen, die am Abschlusstest teilnehmen, ihn aber nicht
bestehen, gibt es bisher keine Aussagen. Das ist in der
Tat unbefriedigend. Daran wollen wir etwas ändern. Die
Verabredungen dazu sind schon getroffen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)


An dieser Stelle kann ich auf das verweisen, was wir im
Innenausschuss hinlänglich besprochen und schon auf
die Schiene gebracht haben.

Die SPD-Fraktion schlägt vor: Jeder Teilnehmer soll
am Ende des Kurses eine Urkunde in der Hand halten,
aus der hervorgeht, was er kann und was er erreicht hat.
Das ist ein wichtiger Anreiz. Es ist außerdem eine
Erfolgskontrolle für die Teilnehmer und die Träger. Die
Teilnehmer sollen und müssen ihren Sprachstand erfahren;
denn ihre Sprachkenntnisse sind nicht nur für das tägliche
Leben wichtig, sie können auch, wie wir wissen, eine
wichtige rechtliche Voraussetzung für die Erteilung einer
Niederlassungserlaubnis oder für eine spätere Einbürgerung
sein. Für die Träger sind die zertifizierten Erfolge bzw.
Teilerfolge ihrer Schüler natürlich auch eine Art Bestäti-
gung und ein Anreiz, den Unterricht an den Stellen, an
denen es nötig ist, zu verbessern.

Die Ergebnisse sind aus meiner Sicht aber noch aus
einem anderen Grund wichtig – das hat der Kollege
Grindel erwähnt –: Sie sind eine Voraussetzung für den
Qualitätswettbewerb unter den Trägern. Auch das gehört
zur Marktwirtschaft; hier soll durchaus Wettbewerb
stattfinden. Konkurrenz belebt auch auf diesem Feld
nicht nur das Geschäft, sondern sie verbessert auch die
Ergebnisse.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wie sieht das denn die FDP?)


– Damit müsste man bei der FDP eigentlich eine offene
Tür einrennen. Wenn Sie hierbei mitmachen wollen, sind
Sie willkommen.

Schließlich sind die Ergebnisse des Abschlusstests
natürlich ein wichtiges Kontrollelement für den Bund.
Der Bund zahlt hierfür, wie wir alle wissen,
140 Millionen Euro. Daher wollen wir auch erfahren,
was dabei herauskommt.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Bürsch
Ja, Frau Laurischk, wir brauchen – das wurde schon
festgestellt – eine Flexibilisierung der Stundenzahl.
Ein Sprachkurs im Umfang von 600 Stunden reicht nicht
für jeden Teilnehmer aus. Die Gutachter schätzen, dass
etwa 40 Prozent der alphabetisierten Teilnehmer wegen
geringer sprachlicher Vorkenntnisse oder einer einfachen
Vorbildung schlicht keine Chance haben, innerhalb der
vorgesehenen 600 Stunden das Sprachniveau B1 zu er-
reichen. Das müssen wir unbedingt ändern. Wir müssen
jedem die Chance geben, sich im täglichen Leben in seiner
Umgebung selbstständig sprachlich zurechtzufinden und
seinem Alter und Bildungsstand entsprechend ein Ge-
spräch zu führen und sich schriftlich auszudrücken. Das
ist die Rahmenbedingung, die in der Integrationskurs-
verordnung definiert ist, das heißt die Voraussetzung, die
erfüllt werden muss. Dahinter dürfen wir nicht zurück-
bleiben. Das ist sicherlich keine einfache Aufgabe.

Im Umgang mit der deutschen Sprache hatten schon
ganz andere, auch hochmögende Menschen ihre Schwie-
rigkeiten. Der österreichische Schriftsteller Alfred
Polgar zum Beispiel hat einmal gesagt:

Ich beherrsche die deutsche Sprache, aber sie ge-
horcht nicht immer.

Wichtig ist vor allem eines: Wir dürfen nicht das Kurs-
ziel den Fähigkeiten der Teilnehmer anpassen, sondern
umgekehrt. Wir müssen die Stundenzahl den Fähigkeiten
dieser Teilnehmerinnen und Teilnehmer anpassen.

Frau Laurischk, auch an einer anderen Stelle haben
Sie unsere Zustimmung: Wir brauchen einen besseren
Orientierungskurs. Wenn wir die Integration als ver-
stärkte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen
und kulturellen Leben in Deutschland ernst nehmen,
dann müssen wir diesen Orientierungskurs aufwerten.
Durch den Kurs sollen Kenntnisse der Rechtsordnung,
Kultur und Geschichte Deutschlands vermittelt werden.
Das ist aus meiner Sicht eine Grundvoraussetzung, um
sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Diesen
Anforderungen wird der Orientierungskurs bisher unbe-
stritten kaum gerecht. Insofern brauchen wir ein ver-
bindliches und möglichst praxisorientiertes Curriculum
für den Orientierungskurs. Nur so kann der Kurs wirk-
lich eine zusätzliche Hilfe bei der Aufnahme in unsere
Gesellschaft sein.

Fazit: Manches ist richtig. Herr Grindel hat aber
schon sehr viel ausführlicher darauf hingewiesen: Wir
als Regierung, die wir Verantwortung tragen, können es
uns nicht erlauben, im Wolkenkuckucksheim Vorschläge
zu machen. In aller Freundschaft, liebe FDP: Wir müssen
darauf achten, ob das finanzierbar und machbar ist.
Natürlich wären 1 200 Stunden Deutschunterricht für
bestimmte Zielgruppen schön. Aber wie, werte Kolle-
ginnen und Kollegen von der FDP, wollen Sie das bitte
schön finanzieren?


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr macht ja nicht einmal Vorschläge!)


Ich habe einmal einen Ihrer Vorschläge durchgerechnet,
nämlich den Vorschlag, den Stundensatz von derzeit
2,05 Euro auf mindestens 3 Euro anzuheben. Allein das
würde eine Anhebung der Gesamtkosten um
80 Millionen Euro bedeuten.


(Otto Fricke [FDP]: 76 Millionen Euro!)


Ich frage Sie: Wo ist von Ihrer Seite ein Deckungsvor-
schlag für diesen Vorschlag?


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist er, Herr Fricke?)


Utopien helfen uns nicht weiter. Wir sind gehalten,
hier praxisorientiert vorzugehen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Otto Fricke rückt die Kohle raus!)


Ich appelliere nochmals an Sie: Wir reden hier über
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir werden die
Integration nur dann zu einem Erfolg bringen, wenn wir
das gesamtgesellschaftlich angehen, wenn alle Fraktio-
nen möglichst an einem Strang ziehen und wenn wir die
Vorschläge, die wir machen, am Ende auch darauf abklop-
fen, ob sie finanzierbar und realitätsbezogen sind. Wenn
Sie das für die künftige Zusammenarbeit in Ihren Vor-
schlägen beachten, dann können wir daraus vielleicht ein
Gesamtkunstwerk machen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Otto Fricke [FDP]: Das ändern wir im Ausschuss!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608822700

Das Wort hat der Kollege Josef Winkler vom Bündnis 90/

Die Grünen.


Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608822800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Bevor ich auf den Antrag der FDP eingehe, will
ich auf die Redner der Regierungskoalition eingehen.


(Dr. Michael Bürsch [SPD]: So viel Zeit hast du gar nicht! – Gegenruf der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du hast fünf Minuten lang nichts gesagt! – Gegenruf des Abg. Otto Fricke [FDP]: Man kann ja eine Zwischenfrage stellen!)


– Die vier Minuten werde ich ausnutzen.

Herr Kollege Grindel,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Herr Kollege Winkler!)


ich halte es erstens für uncharmant und zweitens für der
Sache nicht angemessen, wenn Sie mit dem Holzknüppel
zurückschlagen, während eine Dame, Frau Kollegin
Laurischk, gegen Sie mit dem Florett ficht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Herr Dr. Bürsch, wir brauchen keine Volkshochschul-
kurse, wie Sie eben gesagt haben, sondern endlich eine
Regierungsvorlage, in der steht, was Sie an diesen Kursen
ändern wollen. Die Probleme sind im Prinzip seit einein-






(A) (C)



(B) (D)


Josef Philip Winkler
halb Jahren bekannt. Sie haben aber immer noch nichts
vorgelegt.


(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das Gutachten liegt doch erst jetzt vor!)


Das, was Sie jetzt eben abgeliefert haben, fasse ich einmal
unter dem Begriff „Arroganz der Macht“ zusammen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Oh!)


Die Kollegin Laurischk hat Ihren Antrag vorgestellt.
Ich will mich jetzt gar nicht allzu sehr darüber aufregen,
sondern mich eher darüber freuen, dass die Forderungen
zu einem überwiegenden Teil aus unserem ein Vierteljahr
vorher vorgelegten Antrag „Zwischenbilanz für Integra-
tionskurse des Jahres 2005 vorlegen“ übernommen wor-
den sind. Wir freuen uns ja immer, wenn unsere Arbeit
nicht völlig umsonst war.

Wichtige gesellschaftspolitische Weichenstellungen
in der Integrationspolitik – zum Beispiel gleichrangige
berufliche Eingliederungsmaßnahmen, Einbürgerungs-
politik oder Ähnliches – finden sich im FDP-Antrag leider
nicht. Dass Deutschlernen wichtig ist, ist sicherlich eine
wichtige Botschaft – das respektieren wir auch –, aber
als alleiniges Heilmittel greift es wohl zu kurz. Ich kann
aber auch Ihre Einschätzung, Frau Kollegin Dağdelen,
dass eine solche Forderung antirepublikanisch sei, nicht
teilen. Das sehen wir als Grüne anders.

Ziel der Integration muss die Chancengleichheit für
Migrantinnen und Migranten bei der Bildung, auf dem
Arbeitsmarkt und in allen anderen gesellschaftlichen Be-
reichen sein. Instrumente dafür können zum Beispiel die
Gleichstellung des Islam mit den Kirchen – die dies im
Übrigen auch fordern – und die Vermittlung unserer
Werte in Schulen und in den bereits erwähnten Orientie-
rungs- und Integrationskursen sein.

Zugleich müssen wir aber auch die Stimmung in der
Bevölkerung ernst nehmen – dass wir gerade die Interna-
tionale Woche gegen Rassismus begehen, wurde bereits
erwähnt –, die sich in der wachsenden Ablehnung alles
Fremden oder auch auf der konservativen Seite dieses
Hauses durch ein ständiges Wiederauflebenlassen der
Leitkulturdebatte zeigt. Unserer Meinung nach lautet die
richtige Antwort allerdings nicht „Deutsche Leitkultur
qua Gesinnungstest“, sondern „Chancengleichheit durch
Anerkennung“. Deshalb haben wir als grüne Bundestags-
fraktion im letzten Jahr ein umfassendes Integrationskon-
zept vorgelegt, das viele Punkte enthält, die Sie auf der
Regierungsseite meines Erachtens schon längst hätten
umsetzen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will jetzt nicht auf die einzelnen Punkte eingehen.
Wie gesagt, wir stimmen mit vielen Punkten überein, die
Frau Laurischk vorgetragen hat. Ich habe sie in diesem
Hause schon wiederholt vorgestellt; zum Beispiel ist für
uns klar, dass der Spracherwerb sehr früh einsetzen
muss.
Für uns ist es offensichtlich, dass das Bildungssystem,
das wir in der Föderalismusreform fahrlässigerweise
völlig aus der Hand des Bundes gegeben haben, einen
Schlüssel darstellt. Es ist unserer Auffassung nach nicht
besonders intelligent, vor einer Tür zu stehen und zu be-
klagen, dass sie verschlossen ist, aber gleichzeitig den
Schlüssel wegzuwerfen bzw. dem Nachbarn zu geben.
Diese Unlogik in Ihrer Politik müssen Sie erst einmal
aufdecken.

Was Sie in dem Riesenpaket zum Ausländerrecht,
das demnächst im Kabinett beschlossen werden soll, zur
Integrationsförderung planen, fördert unserer Meinung
nach Integration nicht, sondern schadet ihr sogar. Das
werden wir in den nächsten Wochen noch lang und breit
zu diskutieren haben.

Ich freue mich auf die Debatte in den Ausschüssen.
Vielleicht sehen wir uns tatsächlich dort, Frau Laurischk.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608822900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache16/2092 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend im Innenausschuss beraten werden soll.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 14:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

11. Sportbericht der Bundesregierung

– Drucksache 16/3750 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
tem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatsse-
kretär Dr. Christoph Bergner.

D
Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1608823000


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
die Freude, Ihnen nunmehr schon den 11. Sportbericht
der Bundesregierung vorzulegen. Dieser Bericht ist
naturgemäß ein Rückblick auf die sportpolitischen
Schwerpunkte der vergangenen Wahlperiode. Er ist aber
gleichzeitig als Einladung an die Ausschüsse zur sport-
politischen Diskussion über zukünftige Schwerpunkte
und Akzente zu verstehen.






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
Dabei ist auf eine Besonderheit aufmerksam zu machen.
Der Sportbericht wird üblicherweise in einem vierjährigen
Turnus vorgelegt. Die vergangene Wahlperiode dauerte
allerdings nur drei Jahre,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


sodass wir es uns erlaubt haben, in diesen Bericht gleich-
zeitig Ereignisse wie die Olympischen und Paralympi-
schen Winterspiele und die Fußballweltmeisterschaft mit
aufzunehmen und auch schon ansatzweise einige Ausfüh-
rungen über die sportpolitischen Schwerpunkte dieser
Wahlperiode zu machen. Ich gebe zu: Im Bereich der
Sportpolitik fällt eine solche legislaturperiodenübergrei-
fende Kontinuität – zumindest in vielen sportpolitischen
Förderbereichen – nicht schwer. Es hat sich gezeigt, dass
in diesem Sektor immer wieder eine große, fraktions-
übergreifende Kontinuität festzustellen war. Kontinuität
herrscht jedenfalls bei den Bemühungen um die entspre-
chenden Haushaltsansätze, von denen der Bericht in
besonderer Weise Kenntnis gibt. Die Sportförderung des
Bundes hat in dem Berichtszeitraum insgesamt
920 Millionen Euro betragen, davon allein 700 Millio-
nen Euro im Bereich der Spitzensportförderung des
BMI.

Der Berichtszeitraum stand im Zeichen der Vorberei-
tung der Fußballweltmeisterschaft und ihrer erfolgrei-
chen Durchführung, wozu eigenständige Berichte gege-
ben wurden. Aber im Schatten dieses Großereignisses
geschah die Förderung vieler Bereiche des Spitzensports
durch den Bund – davon wird Zeugnis abgelegt – immer
unter dem Gesichtspunkt der internationalen Leistungs-
fähigkeit. Die Förderhöhe wurde – darauf lohnt es sich
zu verweisen – annähernd konstant gehalten. Die
108 Millionen Euro, die uns in diesem Haushaltsjahr zur
Verfügung stehen, sind zwar nominell 16,6 Millionen
Euro weniger als 2006. Diese Verringerung der Ausga-
ben ist mit dem Wegfall der durch die Fußballweltmeis-
terschaft im Vorjahr bedingten Kosten zu erklären. Die
Position „Zentrale Maßnahmen“ mit reichlich 70 Millio-
nen Euro zur Förderung der Sportverbände und der
Olympiastützpunkte stellt nach wie vor einen konstanten
Förderschwerpunkt dar. Dabei ist mit Blick auf das ge-
genwärtige Haushaltsjahr und die Veränderungen durch
den Wechsel der Legislaturperiode auf die Einführung
von Verpflichtungsermächtigungen hinzuweisen, die
dem Sport erhebliche Planungssicherheit geben. So viel
in groben Zügen zu dem sicherlich wichtigen Berichts-
schwerpunkt Haushalt.

Die Spitzensportförderung braucht wissenschaftliche
Begleitung; auch davon weiß der Bericht Kenntnis zu
geben. Die Bundesregierung hat deshalb im Berichts-
zeitraum die Leistungsfähigkeit der von ihr geförderten
sportwissenschaftlichen Institute durch eine Erhöhung
der Fördermittel gestärkt. Die Optimierung des wissen-
schaftlichen Verbundsystems und im Zusammenhang
damit die Erhöhung des Praxisbezuges werden – darüber
können wir im Ausschuss noch ausgiebig diskutieren –
ein wichtiges Aufgabenfeld künftiger Sportpolitik sein.
Dabei werden wir natürlich die Anregungen des Wissen-
schaftsrates, die in jüngster Zeit eingegangen sind, be-
rücksichtigen, soweit sie nicht bereits umgesetzt wurden.
In den Berichtszeitraum fällt das von den Vereinten
Nationen ausgerufene Jahr des Sports und der Leibeser-
ziehung, das 2005 begangen wurde und im Zeichen von
Völkerverständigung, Frieden und Integrationsförderung
stand. Die Bundesregierung hat – auch mit massiver fi-
nanzieller Unterstützung des Parlamentes und des zu-
ständigen Ausschusses – zahlreiche Projekte unterstützt,
die möglichst nachhaltig eine breitgestreute Teilhabe an
den sozialen Chancen, die der Sport bietet, schaffen sol-
len. Dazu ist im Bericht Näheres zu lesen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das herausragende Ereignis für den Sport selber und
für die Sportpolitik, das in den Berichtszeitraum fällt,
war – dies sollte noch einmal hervorgehoben werden –
der Fusionsprozess von DSB und NOK, der im Mai
2006 mit dem Zusammenschluss zum Deutschen Olym-
pischen Sportbund endete. Die Bundesregierung hat in
der vorangegangenen wie in dieser Wahlperiode diesen
Prozess begleitet und, wo immer möglich und vom Sport
selbst gewünscht, unterstützt. Gemeinsam mit dem
DOSB als nun größerer und stärkerer Dachorganisation
gilt es für uns als Haushaltsgesetzgeber in der Zukunft,
die Eigenverantwortung des Sports zu stärken und die
Planungssicherheit so weit wie möglich zu erhöhen.

Ein weiterer Schwerpunkt des Berichts, den ich kurz
– auch aus aktuellem Anlass – ansprechen will, ist die
Dopingbekämpfung. Es bedarf keiner besonderen Er-
wähnung, dass der gemeinsame Kampf gegen Doping
durch Sport, Politik und Wirtschaft ein wichtiges Anlie-
gen der Bundesregierung ist und der Gesundheit der
Sportlerinnen und Sportler, aber auch der Fairness der
Wettkämpfe, die die Substanz des Sportes ausmachen,
dient. An den Anfang des Berichtszeitraums fällt die
Gründung der unabhängigen Nationalen Anti-Doping-
Agentur, NADA – es war am 15. Juli 2002, wenn Sie
sich daran erinnern –, die insbesondere durch die
Beisteuerung des Stiftungskapitals in Höhe von
5,1 Millionen Euro durch den Bund möglich wurde. Wie
Sie sich vielleicht erinnern können, haben wir im letzten
Jahr die Einlage – auch auf Betreiben des Parlamentes –
erhöht. Wir appellieren im Zusammenhang mit der Vor-
stellung des Sportberichts noch einmal an die Wirtschaft,
den Sport und die Länder, ihren Finanzierungsbeitrag zu
leisten, damit die NADA ihre wichtige Aufgabe erfüllen
kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Im Zusammenhang mit der Dopingbekämpfung ist im
Berichtszeitraum das Dopingopfer-Hilfegesetz hervor-
zuheben. Die Einrichtung eines Hilfsfonds in Höhe von
2 Millionen Euro ermöglicht es, Dopingopfer zu unter-
stützen und Dopingpräventionsprojekte zu finanzieren.
Ich will nur am Rande darauf eingehen, dass vor zwei
Wochen der Entwurf eines Anti-Doping-Gesetzes im
Kabinett behandelt wurde und dieses in Kürze hier im
Parlament eingebracht werden kann. Es ist ein Gesetz,
das im Wesentlichen die Effektivität der Dopingbekämp-
fung durch staatliche Maßnahmen erhöhen soll. Wir wis-
sen, dass diesem Gesetz schwierige Gespräche in der
Koalition vorausgingen, die zu einem Konsens geführt
haben, der nunmehr mit Leben gefüllt werden sollte.






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
Dopingbekämpfung hat – auch da will ich einen aktu-
ellen Bezug herstellen – im Rahmen der EU-Ratspräsi-
dentschaft eine entscheidende Rolle gespielt. In der letz-
ten Woche fand, wie wir feststellen konnten, eine sehr
erfolgreiche EU-Sportministerkonferenz statt. Einer der
wichtigen Tagesordnungspunkte, die in Stuttgart behan-
delt wurden, betraf die Frage der Vernetzung der natio-
nalen Antidopingagenturen, was die einstimmige Unter-
stützung der EU-Sportminister gefunden hat. Es lassen
sich überhaupt viele Verbindungslinien von dem Sport-
bericht zu der europäischen Ebene und zu den auf der
Sportministerkonferenz behandelten Themen ziehen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608823100

Herr Kollege Bergner, kommen Sie bitte zum

Schluss.

D
Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1608823200


Ich muss zum Schluss kommen.

Die Handball-WM hat uns gezeigt, dass die erfolgrei-
che Geschichte der Sportpolitik auch über den Berichts-
zeitraum hinausgeht. Ich freue mich auf die Diskussion
im Sportausschuss, und ich bin sicher, wir werden, wenn
wir uns gemeinsam als Parlament weiter zu den sportpo-
litischen Leitlinien bekennen und sie kreativ fortschrei-
ben, auch weiterhin in der Bundesrepublik Deutschland
auf sportlichem Gebiet Sommer- und Wintermärchen er-
leben können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608823300

Das Wort hat der Kollege Detlef Parr von der FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1608823400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sport-

bericht der Bundesregierung ist kein Märchen, sondern
eine Bilanz der letzten drei Jahre, die sich in vielen Be-
reichen sehen lassen kann. Die Krönung waren sicher-
lich die Fußball-WM, die in allen bundespolitisch rele-
vanten Bereichen den Ansprüchen mehr als genügte,


(Zuruf von der CDU/CSU: Das klingt fast wie ein Lob!)


und die Olympischen Winterspiele in Turin, die ein ein-
drucksvoller Beweis für die Leistungsfähigkeit der Win-
tersportnation Deutschland waren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Hier bedankt sich artig die größte Oppositionspartei in
diesem Bundestag bei der Bundesregierung, sowohl bei
Otto Schily als auch bei Wolfgang Schäuble und bei
Herrn Dr. Christoph Bergner. Ich glaube, hier ist gut ge-
arbeitet worden.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Volker Kröning [SPD])


Jetzt ist wieder Alltag angesagt. Als größte Heraus-
forderung steht Peking vor der Tür. Die Rückschläge bei
den letzten Sommerspielen haben zwar ein neues Den-
ken eingeleitet; das Ziel liegt aber doch in erklecklicher
Ferne. Beginnen wir bei dem Dreiklang der Spitzen-
sportförderung: Stützpunktsystem, Sportwissenschaf-
ten und Talentsuche/Talentförderung. Ist das Zusammen-
spiel wirklich harmonisch? Kann es bei 20 Olympia-
stützpunkten mit 14 Sportfördergruppen der Bundes-
wehr und 138 Bundesstützpunkten zu einer reibungs-
losen Vorbereitung unserer Spitzenathletinnen und
Spitzenathleten, zu Trainingsabläufen aus einem Guss
kommen? Ist die Sportwissenschaft in Deutschland so
aufgestellt, dass die Vielzahl der Erkenntnisse der Hoch-
schulinstitute, des Bundesinstituts für Sportwissenschaf-
ten, des IAT, des FES und des neugeschaffenen Projekts
„Momentum“ an der Sporthochschule Köln effizient in
die Praxis umgesetzt werden kann?

Die Präsentation des Sportentwicklungsberichtes ges-
tern im Sportausschuss beweist eher das Gegenteil. Mit
Zahlenfriedhöfen ist wenig Staat zu machen. Die Win-
tersportverbände haben gezeigt, dass durch Konzentra-
tion und Bündelung aller Kräfte die Synergieeffekte ent-
stehen, die national und international zum Erfolg führen.
Es ist gut, dass wir uns in Kürze mit dem Verteilerstrom
der Sportfördermittel etwas detaillierter auseinanderset-
zen werden.

Bei der Talentsuche und Talentförderung gehören die
Eliteschulen des Sports auf den Prüfstand. Sie warten
mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen in den Bun-
desländern auf. Es ist zum Beispiel nicht zu verstehen,
dass Schülerinnen und Schüler, die den Leistungsansprü-
chen nicht mehr genügen, in einzelnen Bundesländern
diese Schulen weiter besuchen dürfen. Ein Schulwechsel
muss in solchen Fällen bundeseinheitlich die Regel sein,
um das Profil der Eliteschulen nicht zu verwässern. Das
gilt auch für die Nichtaufnahme von anderen Schülerin-
nen und Schülern. Eigentlich sollte es selbstverständlich
sein, dass in Eliteschulen des Sports wirklich nur sportli-
che Leistungsträger aufgenommen werden.


(Beifall bei der FDP)


Kommen wir zum Sportstättenbau. Auch wenn der
Bund, seinen Aufgaben entsprechend, den Bau von
Sportstätten für den Spitzensport zum Schwerpunkt hat,
so ist doch richtig, sich ebenfalls um den Neubau, die
Erweiterung und den Umbau von Sportstätten der
Grundversorgung zu kümmern. Das hat er über das In-
vestitionsprogramm und den Goldenen Plan für den Os-
ten unseres Landes zu Recht getan. Die Sportplätze, die
Sporthallen und Schwimmbäder schaffen bundesweit die
Voraussetzungen nicht nur für den Breiten-, sondern
auch für den Leistungssport. Deswegen freuen wir uns,
dass die FDP-Forderung nach einer Neuauflage des Gol-
denen Planes für Gesamtdeutschland auf wachsendes In-
teresse stößt. Wenn wir ein Ganztagsschulprogramm mit
50 Millionen Euro anschieben können, dann müssen wir
auch zu entsprechenden Vereinbarungen mit den Län-






(A) (C)



(B) (D)


Detlef Parr
dern und Kommunen zugunsten des Sports kommen
können.


(Beifall bei der FDP)


Daraus könnten dann auch unsere Hochschulen Nut-
zen ziehen. Der Sportbericht widmet dem Bereich des
Hochschulsports gerade einmal eine Viertelseite und
dokumentiert damit eine Bedeutung, die dringend größer
werden muss. Wenn wir die Universiaden besuchen,
stellen wir immer wieder fest, dass andere, zum Teil
kleinere Nationen mit größeren Mannschaften vertreten
sind. Sie verstehen die studentischen Weltspiele als Vor-
bereitung von jüngeren Athletinnen und Athleten auf an-
dere sportliche Großveranstaltungen. Das sollten auch
wir verstärkt tun. Der Allgemeine Deutsche Hochschul-
sportverband leistet zum Beispiel mit den Partnerhoch-
schulen des Spitzensports eine hervorragende Arbeit, die
mehr Unterstützung verdient. Die FDP hat deshalb eine
Studie beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages
in Auftrag gegeben, die den Stellenwert des Hochschul-
sports im internationalen Vergleich zum Inhalt hat. Wir
erhoffen uns neue Aufschlüsse und Konsequenzen aus
diesen Ergebnissen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Rede zum
Sportbericht der Bundesregierung kann das Thema
Doping natürlich nicht aussparen. Die FDP-Fraktion hat
noch in dieser Woche einen eigenen Antrag zu diesem
Thema eingebracht. Wir sind in den meisten Bereichen
mit den Vorstellungen der Bundesregierung und der Ko-
alitionsfraktion einig. Aber müssen wir zum Beispiel die
Möglichkeiten der Telefonüberwachung, die in unserer
Gesellschaft ohnehin schleichend ein besorgniserregen-
des Ausmaß angenommen hat, erweitern, bevor eine ge-
nerelle Neuregelung vorliegt? Hier sollte der Sport nicht
vorpreschen!


(Beifall bei der FDP)


Zum Thema „Strafverfolgung der einzelnen Sportler“
möchte ich noch einmal auf die Mogelpackung der Be-
sitzstrafbarkeit hinweisen. Sportler im Besitz einer
nicht geringfügigen Menge von Dopingsubstanzen sol-
len künftig strafrechtlich verfolgt werden. Welch eine
gesetzgeberische Großtat!


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist ein Meilenstein! Wenn Sie das bitte anerkennen würden!)


Der Besitz einer großen Menge solcher Substanzen ist
gleichzusetzen mit Handel. Das banden- oder gewerbs-
mäßige Inverkehrbringen steht bereits unter Strafe. Ein
bisschen Flunkern mag man noch hinnehmen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen,
aber das ist eine handfeste Verdummbeutelung der Öf-
fentlichkeit.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Der Parr kann es nicht lassen, immer wieder Stuss zu erzählen!)


Der Sportminister hat zu Recht lange gezögert, eine sol-
che Verfälschung der Tatsachen ins Gesetz zu schreiben.
Auch der Staatssekretär hat den Gesetzentwurf nur sehr
zurückhaltend angekündigt. Herr Dr. Bergner, die Be-
denken, die Sie in der Bundesregierung hatten, teilen
wir. Wir werden alles daransetzen, das auch immer wie-
der öffentlich zu machen und aufzudecken.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608823500

Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der

SPD-Fraktion.


(Beifall des Abg. Dr. Carl-Christian Dressel [SPD])



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1608823600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Sportbericht der Bundesregierung bilanziert
die erfolgreiche Sportpolitik des Bundes vor allem in der
letzten Legislaturperiode. Ich könnte nun über die rot-
grüne Regierungszeit schwärmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie ruhig machen! – Klaus Riegert [CDU/CSU]: Da sind wir auf die Grünen nachher gespannt!)


Aber das hat der Staatssekretär schon ausreichend getan.
Meine Redezeit ist dafür zu knapp.

Im Übrigen habe ich auch nicht genügend Redezeit,
um auf das einzugehen, was der Kollege Parr zuletzt
sagte. Ich denke, mein Kollege Danckert wird zum
Thema Doping noch einiges sagen.

Ich will mich der Zukunft zuwenden und möchte hier
deutlich machen: Sport hat eine herausragende Bedeu-
tung. Sport erhöht die Lebensqualität. Und: Investitionen
in Sport zahlen sich aus. Immense Kosten im Bildungs-
wesen, bei der Jugendhilfe, bei der Kriminalitätsbe-
kämpfung, beim Strafvollzug sind vermeidbar, wenn die
Kinder und Jugendlichen mit der Hilfe des Sports
rechtzeitig auf die richtige Bahn gebracht werden. Sport
ist Vorsorge, und die ist allemal besser als Nachsorge.


(Beifall bei der SPD)


Bewegung und Sport haben auch positive Auswirkun-
gen auf die geistige Entwicklung. Kinder, die nicht rück-
wärts gehen können, haben Schwierigkeiten in der Ma-
thematik, beim Subtrahieren. Ist es nicht irre, wie das
Gehirn funktioniert? In Schulen, wo mehr Sport getrie-
ben wird, verbessern sich die Leistungen auch in ande-
ren Schulfächern. In Berlin hat die Sportjugend Kinder-
tagesstätten übernommen. Mit großem Erfolg werden
Bewegung und Spracherwerb miteinander verknüpft.

Als Bundestag sind wir nicht für die Lehrpläne zu-
ständig. Wir müssen trotzdem immer wieder sagen:
Lasst den Sport nicht ausfallen! Führt die dritte Sport-
stunde ein, besser noch die tägliche Sportstunde! Das
wird am Ende auch die Eltern überzeugen.






(A) (C)



(B) (D)


Swen Schulz (Spandau)


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der Sport leistet großartige Beiträge für die Gesell-
schaft. Das ist in allererster Linie dem großen Engage-
ment von Millionen Ehrenamtlichen geschuldet. Sie ha-
ben wirklich Anerkennung und Dank verdient.


(Beifall im ganzen Hause)


Darum ist auch die Initiative „Hilfen für Helfer“ von
Bundesfinanzminister Steinbrück sehr zu begrüßen, die
eine zusätzliche Unterstützung für das Ehrenamt bringen
wird.

Ein weiterer wichtiger Aspekt im Sport ist die Inte-
gration; ich meine das jetzt im allgemeinen, im sozialen
Sinn. Mancherorts sind dem Ehrenamt Grenzen gesetzt.
Bei allem Engagement: Es gibt Probleme, die man nicht
in der Freizeit klären kann. Wir müssen darüber nach-
denken, ob wir Vereinen professionelle Hilfe an die
Hand geben können, Profis, die die Ehrenamtlichen ent-
lasten und sich verstärkt um die Kinder und Jugendli-
chen kümmern.

Aber es gibt noch andere Schwierigkeiten, auf die
man so schnell nicht kommt. Ich war neulich in Kreuz-
berg bei einem Fußballverein. Er hat ein paar Hundert
Kinder und Jugendliche als Mitglieder, auch viele Mäd-
chen; das ist in dem Zusammenhang ganz wichtig. Die
kommen aus 25 oder 30 verschiedenen Nationen. Der
Verein hat mitten in einem Wohnviertel einen großen
Platz und dann noch einen kleinen Trainingsplatz, wo
auch die Kids spielen können.

In der Nachbarschaft sind Mietshäuser entstanden. Es
hat sich dann eine Mietpartei über den Lärm aufgeregt.
Wenn man irgendwo wohnt und dann sozusagen unter
dem Schlafzimmerfenster ein Sportplatz neu gebaut
wird, dann habe ich Verständnis für so etwas. Da kann
man mal nachfragen: Was passiert denn da? Aber wenn
man neu hinzieht, weiß man doch eigentlich, was man
tut. Es kam in dem Fall zur Gerichtsverhandlung. Ergeb-
nis: Die Spiel- und Trainingszeiten auf dem großen Platz
mussten erheblich eingeschränkt werden, und das kleine
Feld darf gar nicht mehr bespielt werden.

Auf der anderen Seite des Geländes sollen jetzt Ei-
gentumswohnungen entstehen. Der Verein erwartet wei-
tere Klagen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde,
das kann doch eigentlich nicht wahr sein.


(Beifall im ganzen Hause)


Zig Kinder und Jugendliche stehen auf der Warteliste
dieses Vereins. Aber sie dürfen keinen Sport machen,
weil nicht genügend Platzzeiten zur Verfügung stehen.
Die Anwohner wollen aber in der Nachbarschaft auch
keine Kriminalität, keine Gewalt und keine Drogen ha-
ben. Da weiß man nicht, ob man lachen oder weinen
soll. In meinem jugendlichen Leichtsinn sage ich: Das
müssen wir ändern. Die Mittagsruhe darf im Zweifelsfall
nicht wichtiger sein als die Zukunft unserer Kinder.


(Beifall im ganzen Hause)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608823700

Herr Kollege, kommen Sie dann auch zum Schluss.


Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1608823800

Meine Redezeit ist ausgeschöpft. Ich wollte nur an ei-

nigen Stellen deutlich machen, wie wichtig der Sport ist
und was wir besser machen können. Darum will ich zum
Schluss appellieren: Lassen Sie uns, liebe Kolleginnen
und Kollegen, den Sport ins Grundgesetz aufnehmen. Es
wäre ein gutes Zeichen, eine Unterstützung für eine ge-
sunde und lebendige Gesellschaft.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608823900

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch

von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608824000

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Als gute Sozialistin lese ich die
Zeitschrift „Capital“. Dort sind die Ergebnisse einer
Umfrage unter Deutschlands Führungsspitzen nachzule-
sen: 78 Prozent dieses Führungspersonals befürchten,

dass sich zunehmend eine Unterschicht herausbil-
det, die sich sozial und wirtschaftlich vom Rest der
Gesellschaft abkoppelt.

Mal abgesehen davon, dass sich diese Menschen nicht
selbst abkoppeln, sondern abgekoppelt werden, ist diese
Abkopplung Ergebnis konkreter Politik der Bundesre-
gierung und des befragten Führungspersonals.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese Gesellschaft wird durch die Politik der Bundes-
regierung auseinandergetrieben, sie wird unsozialer und
unsolidarischer. Der Sport kann Politik nicht ersetzen,
doch Sport hat Potenzial, die Gesellschaft zusammenzu-
halten. Leider hat auch das die Bundesregierung noch
nicht ausreichend verstanden.

Ein Beispiel aus dem Leistungssport: Ein Internats-
platz auf einer Sportschule in Halle kostet im Monat
230 Euro – nicht viel, werden die Menschen hier im Saal
sagen. Meine Kollegin Katrin Kunert, die heute bei der
Europameisterschaft der Leichtathleten der Senioren in
Helsinki um eine Medaille kämpft,


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


sponsert einen Internatsplatz für eine Sportlerin, deren
Eltern Arbeitslosengeld II bekommen. Da sind 230 Euro
schon sehr viel Geld. Zur Erinnerung, meine Damen und
Herren, falls Sie vergessen haben, was Sie beschlossen
haben: Arbeitslosengeld II beträgt maximal 345 Euro im
Monat. Davon sind 230 Euro für ein Sportinternat nicht
so einfach aufzubringen.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gesine Lötzsch
Schauen wir uns einmal die soziale Herkunft von
Spitzensportlern in Deutschland an: Nur 9,5 Prozent
sind Arbeiterkinder, die große Mehrheit stellen Kinder
von höheren Angestellten. Es werden also nicht nur
Hartz-IV-Empfänger vom Leistungssport abgekoppelt.


(Detlef Parr [FDP]: Das ist aber sehr weit hergeholt, Frau Kollegin!)


Der Leistungssport in der Bundesrepublik ist eben eine
sehr elitäre Veranstaltung. Die Erfahrung zeigt, dass es
auch anders gehen kann: Diese sozialen Schranken gab
es im DDR-Sport nicht.


(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Dafür gab es da Doping!)


Unser Ex-Kollege Täve Schur hatte vier Geschwister,
sein Vater war Tankwart und seine Mutter Hausfrau. Er
hätte heute wohl kaum eine Chance, Radrennweltmeister
zu werden.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Wie ist das mit Frau Kunert?)


Meine Damen und Herren, ich will aber nicht nur
über den Leistungssport sprechen. Uns liegt viel an dem
weiteren Ausbau des Breitensports. 70 Prozent der
Sportanlagen im Osten und 40 Prozent der Sportanlagen
in den alten Bundesländern sind sanierungsbedürftig.


(Detlef Parr [FDP]: So ist es!)


Der Sanierungsaufwand wird auf 40 Milliarden Euro be-
ziffert. Hier muss in den nächsten Jahren mehr investiert
werden. In den ostdeutschen Ländern hat der Bund von
1999 bis 2006 65 Millionen Euro für den Goldenen Plan
Ost ausgegeben. Wir als Linke sind in Anbetracht der
vielbeschworenen sprudelnden Steuereinnahmen unbe-
dingt dafür, den Goldenen Plan Ost als Infrastrukturpro-
gramm auf die alten Bundesländer auszudehnen – der
Kollege von der FDP hat das ja auch schon angespro-
chen – und die Mittel zusammen mit den Ländern erheb-
lich aufzustocken.


(Beifall bei der LINKEN)


Hartz IV ist auch in den Sportvereinen angekommen.
Ich habe in der letzten Woche eine Beratung mit Vertre-
tern von Sportvereinen in meinem Wahlkreis durchge-
führt. Da wurde mir berichtet, dass immer mehr Men-
schen aufgrund der miserablen finanziellen Situation nur
noch ermäßigte Vereinsbeiträge bezahlen können. Den
Vereinen brechen dank Hartz IV die Einnahmen weg.


(Ute Kumpf [SPD]: Das ist einfach nicht korrekt!)


Sie haben Schwierigkeiten, die Angebote dauerhaft ab-
zusichern. Das große ehrenamtliche Engagement kann
diese finanziellen Schwierigkeiten nicht ausgleichen.
Hier ist eine weitere Folge von Hartz IV zu erkennen,
die unbedingt bekämpft werden muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Abschließend ein Wort zur Förderung des Frauen-
sports. Ich unterstütze eine Fußballmädchenmannschaft
in meinem Wahlkreis, weil es ganz offensichtlich ist,
dass Mädchen und Frauen auch im Breitensport weniger
Chancen haben, wenn es um Hallenzeiten oder die Nut-
zung von Sportplätzen geht.


(Ute Kumpf [SPD]: Wir sind aber Weltmeister beim Frauenfußball, Frau Lötzsch!)


– Das ist richtig. Aber auch diese Frauen haben sehr
kämpfen müssen, um diesen Platz zu erringen. Auch das
ist eine Wahrheit.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich denke, wir sollten alle gemeinsam mehr für den
Frauensport tun; denn im Frauensport – das gilt auch für
die Weltmeisterinnen – sind weniger Sponsoren zu fin-
den als im Männersport. Lassen Sie uns das gemeinsam
ändern!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608824100

Das Wort hat jetzt die Kollegin Katrin Göring-

Eckardt von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr
Schulz, natürlich würde auch ich jetzt am liebsten von
alten Zeiten schwärmen, aber das erspare ich mir; ich
finde, das ist hier ausreichend geschehen. Ich stimme Ih-
nen ausdrücklich zu bei dem Thema soziale Kompo-
nente des Sports, gerade in Bezug auf Kinder und Ju-
gendliche. Ich finde, Sie haben hier sehr deutlich
gemacht, wie wichtig das ist.

Liebe Frau Lötzsch, ich finde richtig, dass Sie darauf
aufmerksam gemacht haben, dass die soziale Förderung
des Sports, gerade des Leistungssports, und die Talente-
sichtung in der DDR nicht ganz dumm gewesen sind.
Aber ich finde, Sie können es sich nicht leisten, hier im-
mer die negative Seite wegzulassen. Das machen Sie
auch, wenn es um das Bildungssystem geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Wenn ich an Freunde von mir denke, die mit Medika-
menten vollgepumpt wurden und dann, weil sie nach der
Pubertät nicht die nötige Leistung gebracht haben, ir-
gendwo abseits gelandet sind, dann muss ich einfach sa-
gen, dass diese andere Seite dazugehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


In dieser Europawoche ist es aber angesagt, sich noch
einmal der Frage zuzuwenden, wie es eigentlich mit der
EU-Ratspräsidentschaft und dem Sport ist. Ich finde es
schade, dass der Bundesinnenminister in seinem Ar-
beitsprogramm dazu nichts ausgeführt hat. Besonders
der Sport hätte von den Regelungen in der EU-Verfas-
sung profitiert. Notwendige Initiativen für Zwischenlö-
sungen sind erst gar nicht vorgelegt worden. Auch bei
dem informellen Sportministertreffen in der letzten Wo-






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Göring-Eckardt
che in Stuttgart hat die Bundesregierung dazu keinen
Vorschlag gemacht. So haben wir jetzt die Situation,
dass es bei der EU vor allem um den kommerziellen
Sport und nicht um den Breitensport geht. Das finde ich
sehr schade.

Die EU-Sportminister haben das Thema vor allem un-
ter Sicherheitsaspekten definiert, beispielsweise mit
Blick auf die Krawalle bei den Fußballspielen. Was
fehlt, ist besonders ein Konzept zu der Frage: Wie kann
man Europa durch den Sport zusammenbringen? Dass
das möglich ist, werden die hier Anwesenden wahr-
scheinlich überhaupt nicht bezweifeln. Aber ich glaube,
dass wir gut daran täten, wenn wir dazu auch Konzepte
auf den Tisch legen würden. Vereinspartnerschaften, ge-
meinsame europäische Mannschaften und gemeinsames
Training, das sind viele erprobte Maßnahmen, die es be-
reits gibt, die aber gebündelt und auf eine andere Ebene
gehoben werden müssen.

Es ist richtig, Herr Kollege Parr, dass man eine solche
Debatte nicht vorbeigehen lassen kann, ohne über das
Thema Doping zu reden. Ich glaube, dass wir mit dem
Referentenentwurf, den die Bundesregierung jetzt vorge-
legt hat, weit hinter den Erfordernissen zurückbleiben.


(Detlef Parr [FDP]: Das haben Sie aber sieben Jahre zu verantworten gehabt! – Klaus Riegert [CDU/CSU]: Und den lächerlichen Entwurf selber vorgelegt! – Uwe Barth [FDP]: Alles verdrängt und vergessen!)


– Diese Diskussion haben wir hier schon ganz oft ge-
führt, auch mit dem Kollegen Hermann. Da geht es nicht
um „verdrängt und vergessen“; dafür haben wir auch
früher schon gekämpft. Das können Sie an vielen Stellen
nachlesen.

Ich glaube, dass der Ansatz der Bundesregierung
– damit müssen wir uns jetzt auseinandersetzen – in
Richtung Besitzstrafbarkeit bei Dopingmitteln in die-
ser Form eher eine Mogelpackung ist, weil der vorlie-
gende Gesetzentwurf nicht vorsieht, den Besitz deutlich
unter Strafe zu stellen, sondern beabsichtigt, die Straf-
barkeit des Handelns mit Dopingmitteln zu präzisieren.
Das ist nicht der richtige Weg. Gleichzeitig sind die Mit-
tel für die Dopingprävention im Haushalt gekürzt wor-
den. Auch das ist beim Thema Gesundheitsprävention
natürlich nicht das richtige Signal. Wir brauchen kon-
krete Schritte, um Wirtschaft, Sport und Medien, aber
auch die Bundesländer zu einer Aufstockung des Stif-
tungskapitals zu bewegen. Dieses Kapital wird heute im-
mer noch fast vollständig vom Steuerzahler aufgebracht.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608824200

Frau Kollegin Göring-Eckardt, erlauben Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Riegert?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bitte schön.

Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1608824300

Frau Kollegin, ich würde gerne eine Frage zur Do-

pingbekämpfung stellen: Können Sie uns bestätigen,
dass in Ihrem Gesetzentwurf keine Besitzstrafbarkeit
von Dopingmitteln enthalten ist? Ich wundere mich et-
was, wie Sie die Präzisierung der nicht geringen Menge
beim Handel gerade kritisieren konnten, wenn der Besitz
nicht strafbar sein soll. Können Sie mir diesen Wider-
spruch erklären?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann Ihnen den Widerspruch erklären: An dieser
Stelle bin ich einig mit meinem Kollegen Hermann; wir
gehören zu einer Minderheit in unserer Fraktion, erlau-
ben uns aber trotzdem, hier unsere Meinung zu sagen.
Das habe ich an dieser Stelle getan.


(Detlef Parr [FDP]: Das ist ein guter Hinweis!)


Herzlichen Dank für die Frage, die es mir erlaubte, das
zu präzisieren.

Ich will gerne noch ganz kurz auf das Thema „Fuß-
ball und Gewalt“ eingehen. Ich glaube, auch hier haben
wir eine besondere Verantwortung, weil es um die Frage
geht, wie wir langfristig dafür sorgen, dass Fußball als
Mannschaftsspiel, als Fairnessspiel und auch als Mög-
lichkeit verstanden wird, Fairness und Gemeinschafts-
geist zu verbreiten. Ich glaube, dass das kein Selbstläufer
ist, sondern dass wir pädagogische Konzepte brauchen.
Ich finde die Initiative für Bolzplätze an Schulen absolut
richtig; aber dafür brauchen wir auch Fortbildung von
Übungsleitern, Trainern, Schiedsrichtern etc. Es ist
schlecht, dass die Mittel für Fußballfanprojekte gekürzt
worden sind, und zwar nicht nur im Bund, sondern auch
in einigen Ländern. Das Land Sachsen hat sich seit 1993
nicht zur Drittelfinanzierung bekannt. Das halte ich für
ein ganz dramatisches Signal. Die Ergebnisse sind eben
genau so, wie sie nicht sein dürfen. Auch hier haben wir
eine wichtige Aufgabe.

Meine Damen und Herren, ich grüße Sie an dieser
Stelle noch von meinem Kollegen Winfried Hermann,
der heute leider nicht hier sein darf – nicht hier sein
kann, darf schon.


(Heiterkeit – Detlef Parr [FDP]: Ist das der Umgang mit Minderheiten?)


– Genau. – Wir haben es jetzt einmal andersherum aus-
probiert. Das ist wie dieses Jahr in der Bundesliga: Da
wird auch einmal Schalke Meister.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1608824400

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

das Wort der Kollege Dr. Peter Danckert von der SPD-
Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1608824500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku-

tieren hier heute zum ersten Mal den 11. Sportbericht,
den die Bundesregierung uns vorgelegt hat. Herr Parla-
mentarischer Staatssekretär, bitte grüßen Sie den Sport-
minister, der offensichtlich heute leider nicht anwesend
sein kann, und richten Sie ihm aus, dass ich es zumindest
bemerkenswert finde, dass in seinem Vorwort auch das
Parlament mit einem Satz erwähnt wird. Dies geschieht
allerdings in einer etwas seltsamen Akzentuierung; denn
dieser Sportbericht betrifft die Jahre 2002 bis 2005 und
somit in erster Linie die Regierungszeit der rot-grünen
Koalition, der Minister bezieht sich aber auf die Große
Koalition. Er ist der Zeit in diesem Punkt sozusagen et-
was voraus und hat andere Akzente gesetzt. Aber im-
merhin wird an dieser Stelle einmal das Parlament er-
wähnt.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin GöringEckardt)


Ich will ganz deutlich machen, was ich mit diesem
kurzen Hinweis meine: Der Bericht liest sich so, als sei
nur die Bundesregierung für den Sport zuständig.


(Detlef Parr [FDP]: Sehr richtig!)


An dieser Stelle möchte ich einmal als Parlamentarier
sagen: Wir sind diejenigen, die der Bundesregierung
– welcher Couleur auch immer – die Möglichkeit geben,
im Spitzensport tätig zu werden.


(Beifall bei der SPD und der FDP)


Mir wäre sehr daran gelegen, wenn im Sportbericht der
Bundesregierung zum Ausdruck kommen würde, dass es
nicht das Bundesinnenministerium, das Außenministe-
rium und das Verteidigungsministerium sind, sondern
dass die Haushälter – unter uns sind ja einige; jedenfalls
waren eben einige da – es sind, die Mittel zur Verfügung
stellen, damit die Bundesregierung erfolgreich agieren
kann.


(Beifall bei der FDP)


Ich habe neulich bei einem persönlichen Besuch in
dem renommierten FES-Institut deutlich gemacht, dass
deren Mittel durch das Parlament bereitgestellt werden.
Das Institut hat dann in einem Entwurf, der Ihrem Hause
zugeleitet worden ist, darauf verwiesen und dem Parla-
ment für diese Bereitstellung der Mittel gedankt. Was ist
dann passiert? Ein Mitarbeiter Ihres Hauses hat diesen
Satz herausstreichen lassen, sodass niemand auf die Idee
kommt, das Parlament wäre daran beteiligt. Ich bitte Sie
– ich glaube, im Namen vieler hier – sehr herzlich, dafür
zu sorgen, dass das Parlament in der nächsten Debatte
über den Sportbericht gewürdigt wird.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Denn wie hat Herr Kollege Lammert, unser Präsident,
gesagt: Wir sind der Auftraggeber und nicht derjenige,
der alles nur absegnet.

Lassen Sie mich in den letzten Minuten meiner Rede-
zeit noch ein paar Stichworte ansprechen. Wenn wir Mit-
tel bereitstellen, dann müssen wir sehen, wie sie einge-
setzt werden. Hier ist darüber debattiert worden – ich
finde, das sollten wir einer gründlichen Debatte unterzie-
hen –, wie wir in Zukunft die Bundesleistungsstütz-
punkte bzw. die Stützpunkte überhaupt in Deutschland
organisieren sollten. Es ist der Hinweis gegeben worden,
dass die Wintersportler in diesem Zusammenhang sehr
fortschrittlich sind. Wir müssen zu einer Konzentration
kommen, damit die Mittel effektiver eingesetzt werden.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608824600

Herr Kollege Danckert, würden Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Ilja Seifert zulassen wollen?


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1608824700

Herr Seifert, gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608824800

Bitte schön.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608824900

Lieber Kollege Danckert, Sie sind jetzt der letzte Red-

ner in dieser Debatte. Deswegen trifft Sie diese Frage;
aber vielleicht sind Sie gar nicht zuständig. Ich möchte
sie trotzdem loswerden.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Er ist für alles zuständig!)


Niemand hat bis jetzt ein Wort darüber verloren, dass
es in dem Sportbericht auch einen Abschnitt über den
Behindertensport gibt. Ich finde, das ist ein ganz wich-
tiger Teil, der das Zusammenleben von Menschen mit
und ohne Behinderungen betrifft. Es ist sehr erfreulich,
dass die Olympiastützpunkte inzwischen für Menschen
mit Behinderungen zugänglich gemacht worden sein sol-
len. In dem Bericht steht aber nicht, ob Barrierefreiheit
im umfassenden Sinne, also auch für Blinde usw., vorge-
sehen ist.

Noch viel schlimmer ist – das ist meine Frage an Sie –:
Warum kommt in diesem Bericht und in Ihrer Politik
nicht vor, dass der Breitensport im Hinblick auf Men-
schen mit Behinderungen ganz anders gefördert werden
müsste, nämlich so, dass sowohl auf der Seite der Zu-
schauerinnen und Zuschauer als auch auf der Seite der
Sportlerinnen und Sportler Sport integrativ betrieben
werden kann? Lieber Kollege, sagen Sie mir doch bitte
einmal, warum dieser Aspekt in so einer Debatte und
auch im richtigen Leben keine große Rolle spielt. Der
Behindertensport spielt im Rahmen der Paralympics, wo
wir viele Medaillen gewinnen, eine Rolle, aber nicht im
Zusammenhang mit dem Breitensport und auch nicht in
diesen Debatten.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1608825000

Herr Kollege, ich bin Ihnen sehr dankbar für diese

Zwischenfrage; denn sie gibt mir die Gelegenheit, deut-
lich zu machen, dass die Regierungskoalition großen
Wert darauf legt, dass der Sport für Menschen mit Be-
hinderungen einen hohen Stellenwert hat. Wir sind sehr
darauf bedacht, dass gerade bei Menschen mit Behinde-
rungen der Sport im Mittelpunkt steht.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Peter Danckert
Sie fragen mich, warum der Behindertensport hier nur
einen geringen Stellenwert einnimmt. Ich muss Sie da-
rauf verweisen, dass das ein Bericht der Bundesregierung
ist und kein Bericht des Parlamentes oder der Regie-
rungskoalition.

Die Wertschätzung des Behindertensports wird zum
Beispiel dadurch deutlich, dass eine immer gleich große
Delegation des Sportausschusses zu den Olympischen
Spielen und den Paralympics fährt; denn wir wollen an
dieser Stelle verdeutlichen, dass wir keine Unterschiede
machen wollen.

Ich bin sehr mit Ihnen einig, wenn Sie fordern, dass
an dieser Stelle mehr Mittel zur Verfügung gestellt wer-
den; das ist wichtig. Der Breitensport – auch darüber
müssten wir natürlich diskutieren – liegt sozusagen au-
ßerhalb der Kompetenz des Bundes. Vielleicht würden
sich die Dinge verändern – da sehen wir durchaus die
Unterstützung Ihrerseits –, wenn wir die Forderung, den
Sport in das Grundgesetz aufzunehmen, umsetzen könn-
ten. Dann würde das Bewusstsein dafür noch effektiver.
Natürlich würden dann die Menschen mit Behinderun-
gen von unseren gesetzlichen und haushaltsmäßigen Ak-
tivitäten profitieren. Also, an dieser Stelle gibt es keinen
Dissens.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Lassen Sie mich in der mir verbleibenden kurzen Zeit
Folgendes sagen: Das FES habe ich vorhin angespro-
chen. Wenn wir davon ausgehen – das wird in dem Be-
richt deutlich –, dass zehn der 29 in Turin gewonnenen
Medaillen unmittelbar mit diesem Institut zusammen-
hängen, dann müssen wir auch bereit sein, dem FES zu-
sätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen und nicht im-
mer gerade so viele Mittel, dass die Gehälter ohne eine
Lohnerhöhung gezahlt werden können. Das ist ein ganz
wichtiger Teil. Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir
das Institut mit seinen herausragenden wissenschaftli-
chen Erkenntnissen? Wenn ja, dann müssen wir mehr
Geld zur Verfügung stellen.

Zum Thema Doping und NADA. Bei der NADA ist
es so ähnlich. Wenn wir den Kampf gegen Doping wirk-
lich führen wollen, dann müssen wir bereit sein, als Ge-
sellschaft und nicht nur als Parlament – denn hier tun wir
eine ganze Menge – finanzielle Mittel für die NADA zur
Verfügung zu stellen. Ich erinnere an dieser Stelle noch
einmal an den Vorschlag von mir, eine Dopingabgabe
einzuführen, mit der wir von allen Sponsoringmitteln,
die in den Bereich des Sportes fließen, 1 Prozent für die
NADA bereitstellen, damit der Kampf gegen Doping er-
folgreich bestanden wird.

Herr Kollege Parr, weil Sie nun wieder einmal dieses
Thema zur Sprache bringen:


(Detlef Parr [FDP]: Die Wahrheit habe ich angesprochen!)


Wir haben in sorgfältigen Verhandlungen – das ging über
Wochen und Monate – einen sehr vernünftigen Kompro-
miss zum Thema bessere Bekämpfung von Doping im
Sport erzielt. Dieser Vorschlag – das ist Ihnen vielleicht
entgangen und hat Ihnen vielleicht auch nicht so gepasst –
ist vom Deutschen Olympischen Sportbund und von der
gesamten Öffentlichkeit positiv aufgenommen worden.


(Detlef Parr [FDP]: Weil man den einzelnen Sport dort nicht verfolgt!)


Die einzigen, die an dieser Stelle meckern und immer
wieder mit Zwischenrufen auffallen, ohne dass sie selber
etwas Gescheites vorlegen,


(Detlef Parr [FDP]: Haben wir! Diese Woche!)


sind leider diejenigen von der FDP. Wenn Sie einen kon-
kreten Vorschlag machen würden, dann könnte man in
Zukunft auch einmal darüber diskutieren.

Unser Vorschlag, der jetzt in die parlamentarische De-
batte kommt, ist von allen beteiligten Kräften – bis auf
die FDP – begrüßt wordenund das finden wir gut. Wir
fühlen uns in Übereinstimmung mit dem Deutschen
Olympischen Sportbund, mit seinem Präsidenten Bach
und Herrn Vesper. Wir sind auf dem richtigen Wege.
Deshalb ist das ein richtiger Ansatz, den wir in den
nächsten Wochen hier diskutieren werden. Wir haben
dazu ja noch Gelegenheit.


(Detlef Parr [FDP]: Die Praxis wird das Gegenteil beweisen!)


Aber Sie, Herr Kollege Parr, sollten sich – weil Sie sich
von uns immer so schlecht behandelt fühlen – doch ein-
mal die Mühe machen, das, was wir hier auf den Tisch
gelegt haben und was von der gesamten Sportöffentlich-
keit begrüßt wird, sorgfältig anzusehen, und sollten nicht
immer wieder mit den alten Kamellen kommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Detlef Parr [FDP]: Ein Blick ins Gesetz beweist das Gegenteil!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608825100

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1608825200

Herr Kollege Parr, die Kooperation setzt voraus, dass

Sie sich mit unseren Vorschlägen sachlich auseinander-
setzen.


(Detlef Parr [FDP]: Das habe ich getan!)


Wenn Sie dazu bereit sind, können wir mit Ihnen darüber
diskutieren.

Ich sage noch einmal Dank für diesen Sportbericht.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608825300

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1608825400

Er ist ein Kaleidoskop von allem, was mit dem deut-

schen Sport zu tun hat, und ist deshalb ein wertvoller Be-
richt, wenn ich mir auch in einzelnen Punkten wünschen
würde, –






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608825500

Herr Kollege!


(Zuruf von der CDU/CSU: Endspurt!)



Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1608825600

– dass die Mitarbeit des Parlaments mehr herausge-

stellt wird, Herr Bergner.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608825700

Ich erteile jetzt das Wort zu einer Kurzintervention

dem Kollegen Abgeordneten Christoph Bergner.


Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1608825800

Herr Kollege Danckert, möglicherweise ist es nur ein

Missverständnis. Vielleicht war es aber tatsächlich als
Vorwurf gemeint im Hinblick auf die Frage zur Rolle des
Behindertensports im Bericht der Bundesregierung. Sie
haben darauf hingewiesen – es ist ja ein Bericht der Re-
gierung – und damit ein bisschen unterstellt, dieser Sek-
tor finde in der Politik der Bundesregierung keine ange-
messene Berücksichtigung.

Ich glaube, es ist außerordentlich wichtig – gerade
wegen der Bedeutung des Sports für Menschen mit Be-
hinderungen –, darauf hinzuweisen, dass er erstens im
Bericht eine angemessene Berücksichtigung findet.
Zweitens gehört es zu den grundsätzlichen Zielen der
Bundesregierung – der Vorgängerregierung wie dieser
Bundesregierung –, im Rahmen der Sportförderung in
der Zuständigkeit des Bundes – was den Breitensport
nicht betrifft – den Sport für Menschen mit Behinderun-
gen bezüglich der Förderung möglichst gleich mit dem
Sport für Menschen ohne Behinderungen zu behandeln.

Dies ist ein allgemeiner Grundsatz. Ich fände es sehr
schade, wenn aus der Debatte der Eindruck entstünde,
als spielte der Sport für Menschen mit Behinderungen in
der Förderung der Bundesregierung nur eine marginale
Rolle. Deshalb habe ich mich noch einmal zur Erwide-
rung gemeldet. Möglicherweise war es nur ein Missver-
ständnis, Herr Danckert.


(Detlef Parr [FDP]: Und der Ausschuss war immer einstimmig!)


Aber ich wollte es nicht so im Raume stehen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608825900

Herr Kollege Danckert, wenn Sie jetzt antworten,

dann müssen Sie bitte für die Dauer Ihrer Antwort be-
rücksichtigen, dass Sie eben über eine Minute überzogen
haben und deswegen jetzt höchstens zwei Minuten ant-
worten können.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Was sind das für Geschäftsordnungstricks?)


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1608826000

Gut. – Ich will noch einmal kurz Folgendes sagen: Ich

weiß, dass die Bundesregierung sich in diesem Bereich
auch Gedanken darüber macht, wie Menschen mit Be-
hinderungen, die im sportlichen Bereich tätig sind, un-
terstützt werden sollen. Wenn man diesen Bericht sieht
– ich glaube, darauf zielte die Frage des Kollegen ab –,
dann stellt man ein Ungleichgewicht fest: Es gibt zwei
Absätze darüber. Vielleicht ist es einfach eine Anregung,
im nächsten Bericht dem Deutschen Behindertensport-
verband mit seinem Präsidenten, Herrn Haack, mehr
Raum zu geben. Dann ist, glaube ich, allen gedient.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608826100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3750 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der LINKEN

Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus er-
stellen

– Drucksache 16/4201 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren,
wobei der Fraktion Die Linke fünf Minuten zuerkannt
werden. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Sevim Dağdelen von der Linksfraktion das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608826200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wieder ist ein Jahr um. Gestern ist wieder ein
Internationaler Tag gegen Rassismus vorübergegangen.
Wieder ist eine Aktionswoche gegen Rassismus so gut
wie vorüber. Wieder bleibt die Kritik an der Bundesre-
gierung bestehen – leider; ich wünschte es wäre nicht so.

Auf der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus 2001
in Afrika, in Durban, hatte sich die damalige rot-grüne
Bundesregierung, die ja so antirassistisch war, verpflich-
tet, bis Ende 2003 unter Einbeziehung der Zivilgesell-
schaft einen nationalen Aktionsplan gegen Rassismus zu
verabschieden. Dies ist bis heute, bis 2007, nicht gesche-






(A) (C)



(B) (D)


Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
hen. Wie schon im letzten Jahr steht also der Vorwurf,
dass die Koalition nichts Substanzielles im Kampf gegen
Rassismus zu bieten hat.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Hört! Hört!)


Der britische Soziologe und Begründer der Cultural
Studies, Stuart Hall, sagte einmal:

Wenn man in einer Gesellschaft ohne antirassisti-
sche Politik lebt, ist man dazu verurteilt, in einer
rassistischen Gesellschaft zu leben …

Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, in was für
einer Gesellschaft wir leben. Täglich werden Menschen
wegen ihrer Herkunft oder ihres Aussehens bedroht, dis-
kriminiert, tätlich angegriffen. Rassistische Übergriffe
und Propaganda gehören zum Alltag dieser Republik.
Doch das ist nicht alles: Unabhängige Stellen gehen von
mehr als 130 Todesopfern rassistischer Gewalt seit 1990
aus.

Laut dem Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer
und laut einer Studie der Herren Brähler und Decker für
die Friedrich-Ebert-Stiftung ist Rassismus ein gesamt-
gesellschaftliches Problem. Zwischen 30 und 40 Pro-
zent der Gesellschaft stimmen ausländerfeindlichen
Statements zu. 15 Prozent meinen, die Deutschen seien
anderen Völkern von Natur aus überlegen. Noch
10 Prozent sind der Ansicht, dass es „wertes und unwer-
tes Leben“ gibt. Für die Bundesregierung ist dies offen-
sichtlich kein hinreichender Grund, die Bekämpfung des
Rassismus zu einer Priorität ihrer Arbeit zu machen.
Rassismus wird zu einem Randproblem gemacht. Doch,
meine Damen und Herren von der Großen Koalition, Sie
müssen endlich wissenschaftliche Analysen zur Kennt-
nis nehmen.

Brecht hat einmal in „Leben des Galilei“ treffend for-
muliert:

Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein
Dummkopf. Wer die Wahrheit kennt und sie eine
Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich denke, dass in diesem Sinne der Umgang der Bun-
desregierung mit dem Thema Rassismus schlampig ist.
Die Linke ist der Überzeugung, dass ein großer Teil der
Ursachen des Rassismus in der Politik liegt, nicht, wie in
der gestrigen Presseerklärung der deutschen Ratspräsi-
dentschaft behauptet, in der Globalisierung und Entste-
hung multiethnischer Gesellschaften

Wir sehen die Ursachen in der gesellschaftlichen
Ungleichverteilung sozialer Ressourcen und politi-
scher Rechte, die gezielt und gewollt Menschen aus der
Gesellschaft ausgrenzt und diskriminiert. Das sind die
Ursachen! Bestes und jüngstes Beispiel dafür – ich er-
wähne es hier noch einmal – ist die sozialchauvinistisch
geführte Debatte zum Bleiberecht. Ein weiteres Beispiel
ist, wie Sie immer wieder Verschärfungen im Zuwande-
rungsrecht gegenüber der Öffentlichkeit begründen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hatten wir doch schon eben!)

– Man kann es nicht oft genug sagen, Herr Grindel.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Umgang mit Flüchtlingen in der Bundesrepublik
Deutschland, etwa im Aufnahmeverfahren, bei der so-
zialen Versorgung und im gesamten System der Ab-
schiebepraxis ist ein Spiegelbild des gesellschaftlich
weitverbreiteten und akzeptierten Rassismus. Soge-
nannte Ausreisezentren und Abschiebeknäste sind Aus-
druck einer rassistischen Asyl- und Immigrationspolitik.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Jetzt ist aber mal gut!)


Eine Sondergesetzgebung für Flüchtlinge, zum Beispiel
das Asylbewerberleistungsgesetz, legitimiert diskrimi-
nierende und rassistische Praktiken in diesem Land: Hin-
dernisse und Ausschlussmechanismen, beispielsweise
auf dem Wohnungsmarkt, auf dem Ausbildungsmarkt
und am Arbeitsmarkt. Es ist zu hoffen, dass der nationale
Aktionsplan gegen Rassismus dank unserer zwei Klei-
nen Anfragen, die wir im Herbst letzten Jahres gemacht
haben, und dank unseres Antrag endlich umgesetzt wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Doch mehr als Lippenbekenntnisse erwarten wir
nicht. Warum wurde es tunlichst vermieden, Nichtregie-
rungsorganisationen einzubeziehen? Das Scheitern der
Durban-Follow-Up-AG im Forum gegen Rassismus ist
der Bundesregierung zuzuschieben. Für einen transpa-
renten Prozess fehlten verbindliche Absprachen, mein-
ten die Nichtregierungsorganisationen. Die einzelnen
Schritte auf dem Weg zu einem Aktionsplan waren über-
haupt nicht definiert. Gerade kleinen Organisationen
fehlte die finanzielle Unterstützung für eine ehrenamtli-
che Arbeit, die sich über Jahre hinzog. Die Organisatio-
nen wurden mit Terminzusagen immer wieder hingehal-
ten, ohne dass ein Entwurf vorgelegt wurde.

Ich muss an dieser Stelle sagen: Es war eine Dreistig-
keit, auf die erste Kleine Anfrage zu diesem Thema zu
antworten, dass die Durban-Follow-Up-AG arbeiten
würde. Bei der zweiten Anfrage haben wir ganz neben-
bei festgestellt, dass sie seit zwei Jahren überhaupt nicht
existiert.

Hinsichtlich des Aktionsplans gegen Rassismus ge-
hört Deutschland zu den Schlusslichtern in der EU.
15 Länder haben längst einen Aktionsplan vorgelegt.
Darunter sind sehr viele Länder, die Sie vielleicht gar
nicht einmal so toll finden, zum Beispiel Irland, Tsche-
chien, Belgien und Zypern. Wir hinken hinterher.

Die Linke fordert in ihrem Antrag von der Regierung,
dass sie die Verpflichtung zu einem Aktionsplan nicht
weiter aussitzt. Unter anderem fordern wir auch, dass er
vor der Verabschiedung im Parlament in die Öffentlich-
keit getragen wird


(Zuruf von der CDU/CSU: Das Parlament ist die Öffentlichkeit!)


und dass zu diesem Thema eine Expertenanhörung statt-
findet.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608826300

Jetzt hat Kristina Köhler das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Kristina Köhler (CDU):
Rede ID: ID1608826400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich
sollte man meinen, dass es nichts Einfacheres gibt, als
einen Antrag gegen rassistische Diskriminierung zu ver-
fassen. Denn welcher vernünftige Mensch zweifelt auch
nur eine einzige Sekunde daran, dass keine ethnische
Gruppe auf dieser Welt einer anderen überlegen ist? Die
Ethnie macht aus uns keinen guten oder bösen Men-
schen, sie macht uns nicht besonders schlau, besonders
gefährlich oder was auch immer. Dies steht vollkommen
außer Diskussion.

Gerade weil diese Frage so eindeutig ist, sind und
bleiben mir die Anträge der Linksfraktion ein ewiges
Mysterium.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wenn Sie mir versprechen, dass Sie hier einem Antrag zustimmen, erkläre ich es Ihnen!)


Wie gelingt es Ihnen immer wieder, selbst solche einfa-
chen Anträge in den Sand zu setzen?

Ich bin Ihnen in einem anderen Sinne wiederum
dankbar. Denn damit geben Sie mir die Möglichkeit, klar
aufzuzeigen, wo die Unterschiede zwischen unseren Par-
teien in den Konzepten zur Rassismus- und Extremis-
musbekämpfung liegen.

Ich möchte das an zwei Punkten festmachen:

Erstens. Wir haben offensichtlich unterschiedliche
Vorstellungen darüber, wo der Rechtsextremismus und
wo der Rassismus beginnen.

Zweitens. Wir wollen jeglichen Rassismus bekämp-
fen, Sie nur den, der Ihnen ins Weltbild passt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP] – Widerspruch bei der LINKEN)


Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben sich eben wieder
auf diese fragwürdigen Studien von Heitmeyer und die
der beiden Leipziger Medizinpsychologen berufen.
Wenn deren Ergebnisse stimmen, dann wären in der Tat
die Hälfte bzw. zwei Drittel der Deutschen ein Volk von
fremdenfeindlichen, antisemitischen und islamophoben
latenten Rechtsextremisten.

Ich rate jedem, der diese Zahlen verwendet, sich diese
Studien und vor allen Dingen die Methodik dieser Stu-
dien einmal anzuschauen. Da gibt es etwa die Frage, ob
man folgender Aussage zustimmt:

Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und
energisches Durchsetzten deutscher Interessen ge-
genüber dem Ausland.
Wer von Ihnen dem jetzt innerlich zustimmt, hat soeben
nach Ansicht der Verfasser dieser Studie eine rechts-
extreme Einstellung gezeigt.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)


Jeder, der gegen den Irakkrieg war, hätte hier schon
seine Probleme.

Ein weiteres Beispiel. Dem Rassismus wird ebenfalls
zugerechnet, wer folgender Aussage zustimmt:

Aussiedler sollten bessergestellt werden als Auslän-
der, da sie deutscher Abstammung sind.

Dieser Aussage zuzustimmen ist kein Rassismus. Das ist
deutsche Gesetzeslage, die aus unserem Grundgesetz ab-
geleitet ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist Rassismus! – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damit haben Sie gezeigt, dass Sie nicht kapiert haben, was Rassismus ist! Das ist peinlich! Schämen Sie sich!)


Wenn Sie der Frage, ob der Islam eine bewunderns-
werte Kultur hervorgebracht hat, nicht zustimmen, dann
sind Sie islamfeindlich und damit auch schon ziemlich
rechtsextremistisch.

Mich würde einmal interessieren, wie man in diesem
Hohen Hause reagieren würde, wenn in dem Gesprächs-
leitfaden für Neubürger die Frage gestanden hätte:
„Stimmen Sie zu, dass die Deutschen eine bewunderns-
werte Kultur hervorgebracht haben?“ Daran sehen Sie,
dass Sie mit der Heitmeyer-Studie und der Leipziger
Studie niemanden beeindrucken können, der diese Stu-
dien gelesen hat.

Fakt ist: Rechtsextremismus und Rassismus sind
große und ernst zu nehmende Gefahren für die Men-
schen in unserem Land. Fakt ist aber auch – das wird
von vielen seriösen Studien bestätigt –, dass die Rechts-
extremisten eine Minderheit in Deutschland darstellen.
Diese Rassisten vertreten eben nicht den Volkswillen,
was immer das sein soll. Das behaupten die Rechtsextre-
misten aber gerne und stützen sich dabei auf genau diese
fragwürdigen Studien, auf die auch Sie sich stützen. Ge-
nauso gefährlich wie die Verharmlosung der Zahl der
Rechtsextremisten ist deshalb auch ihre künstliche Über-
höhung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Rechtsextremisten sind eine gefährliche Minderheit,
die die Axt an die Wurzeln unserer freiheitlich-demokra-
tischen Grundordnung legt. Sie haben in Deutschland
aber keine Mehrheit, auch keine heimliche. Es ist schä-
big und dumm, aus politischen Gründen einen anderen
Eindruck erwecken zu wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Kommen wir zu einem anderen Unterschied. Wir
wollen jeglichen Rassismus bekämpfen, und zwar unab-
hängig von der Ethnie des Täters. Das ist bei Ihnen nicht






(A) (C)



(B) (D)


Kristina Köhler (Wiesbaden)

der Fall. Wenn man sich Ihren Antrag – vor allem die
Begründung – durchliest, stellt man fest, dass die Frage
des Rassismus in Deutschland hier allein auf die Kon-
stellation „Täter Deutscher, Opfer Migrant“ herunterge-
brochen wird.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das stimmt gar nicht!)


Gehen Sie einmal auf die Straße, und machen Sie
beide Augen auf. Sie werden sehen, dass dies nicht die
einzige Konstellation ist, in der rassistische Gewalt ver-
übt wird. Ich weiß, dass dies ein sensibles Thema ist und
dass dieses Thema missbraucht werden kann. Ich weiß,
dass es Gewalttaten von rechtsextremistischen Rassisten
gibt und dass jede eine zu viel ist. Das darf uns aber
nicht davon abhalten, endlich auch den zunehmend ge-
walttätiger werdenden deutschenfeindlichen Rassis-
mus anzusprechen und auch dagegen vorzugehen; denn
diesen Rassismus weiter zu ignorieren, heißt, Wasser auf
die Mühlen der Rechtsextremisten zu schütten.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608826500

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von

Frau Dağdelen zulassen?


Dr. Kristina Köhler (CDU):
Rede ID: ID1608826600

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608826700

Bitte schön.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das Weltbild verändert sich sowieso nicht mehr!)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608826800

Welches? Das von Frau Köhler oder von mir? – Vie-

len Dank für die Zulassung der Zwischenfrage, Frau
Köhler.

Die Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskri-
minierung, Fremdenfeindlichkeit und damit einherge-
hender Intoleranz hat festgestellt, dass es bei Rassismus
nicht nur um Rechtsextremismus geht. Der Rassismus ist
ein sehr weit verbreitetes Phänomen. Der Begriff
schließt auch die Ausgrenzung von Menschen ein, die
bestimmten Normen nicht entsprechen, die zum Beispiel
bestimmten Leistungsnormen oder dem Mainstream in
unserer Gesellschaft nicht entsprechen, die zum Beispiel
obdachlos sind. Da Sie über die Begrifflichkeiten „Ras-
sismus“, „Rechtsextremismus“ und „Weltbild“ streiten
möchten, möchte ich Sie als Mitglied der Regierungsko-
alition fragen: Was tun Sie gegen den Rassismus? 2001
wurde eine Selbstverpflichtung unterzeichnet. Jetzt ha-
ben wir 2007. Was tun Sie konkret gegen Rassismus?


Dr. Kristina Köhler (CDU):
Rede ID: ID1608826900

Frau Kollegin Dağdelen, ich freue mich zunächst ein-

mal, dass Sie mir darin zustimmen, dass Rassismus von
jeder Ethnie ausgehen kann und in Deutschland von je-
der Ethnie verübt wird und jede Gruppe Opfer und Täter
sein kann.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das steht auch im Antrag!)


– Nein. Es wäre ja schön, wenn das so in Ihrem Antrag
stünde. In der Begründung Ihres Antrags werden Mi-
grantinnen und Migranten aber ausschließlich als Opfer
bezeichnet. Sie brechen den Sachverhalt auf diese Kon-
stellation und auf diese Definition von Rassismus herun-
ter. Ich wäre sehr froh gewesen, wenn ich in Ihrem An-
trag ein einziges Mal die Erkenntnis gelesen hätte, dass
es zunehmend auch einen deutschenfeindlichen Rassis-
mus gibt. Ich habe das in der Begründung nicht gefun-
den. Vielleicht können Sie mir das ja zeigen. Ich glaube
aber nicht, dass Sie mir das zeigen können.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Im ersten Absatz!)


Vielleicht wollen Sie meinen Ausführungen nicht zu-
hören, oder Sie halten sie von vornherein für problema-
tisch. Vielleicht hören Sie aber auf die Erfahrungen einer
Schülerpraktikantin der Amadeu-Antonio-Stiftung, die
eine Plattform gegen Rechtsextremismus betreibt. Ein
junges Mädchen, das sich selbst als links bezeichnet,
schreibt dort in ihrem Erfahrungsbericht – er ist im Inter-
net veröffentlicht ist; Sie können ihn nachlesen –:


(im Süden Berlins)

vor allem von einer Reihe Jugendlicher türkischer
Herkunft ausgeht. So wurde vor kurzem eine sehr
gute Freundin von mir auf Grund ihrer blonden
Haare als „deutsche Kartoffel“ bezeichnet, ihr auf
dem Schulweg aufgelauert und umringt von mehre-
ren Personen wurde ihr ins Gesicht geschlagen.

Mit sich reden ließen diese Jugendlichen nicht. Da-
ran sieht man unter anderem mal wieder, dass Ras-
sisten nicht allzu viel im Kopf haben.

Meine Damen und Herren, ich verrate Ihnen sicher-
lich kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass linke
Gruppen dieses Mädchen anschließend als Rassistin be-
schimpft haben. Ich verrate Ihnen aber auch kein Ge-
heimnis, wenn ich Ihnen sage, dass die CDU/CSU und
die Bundesregierung auch gegen diese Form des Rassis-
mus vorgehen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie reden am Thema vorbei!)


Die Bundesregierung hat angekündigt, dass der Ent-
wurf für einen nationalen Aktionsplan gegen Rassismus
im ersten Halbjahr 2007 vorgelegt werden soll. Wir ge-
hen davon aus, dass rassistische Diskriminierung dort
vollumfänglich angesprochen werden wird. Zentrale
Elemente dieses Aktionsplans wurden bereits umge-
setzt, etwa das neue Programm „Jugend für Vielfalt, To-
leranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. Der Innen-
minister hat zu Recht wiederholt erklärt, dass es der
Kombination verschiedener Maßnahmen bedarf, um den
Extremismus und den Rassismus zu bekämpfen, vor al-
lem aber der Stärkung der Zivilgesellschaft und der Zi-






(A) (C)



(B) (D)


Kristina Köhler (Wiesbaden)

vilcourage. Die CDU/CSU wird den Innenminister dabei
mit voller Kraft unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608827000

Jetzt hat Miriam Gruß das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1608827100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen, die die Grund-
lage für den Antrag bilden, über den wir heute reden,
sind erschütternd: Der Verfassungsschutz zählt in sei-
nem jüngsten Bericht für das Jahr 2005 bundesweit
15 361 rechtsextreme Straftaten. Ein Jahr zuvor waren es
„nur“ gut 12 000 Straftaten. Damit nicht genug: Bis zum
Ende des Jahres erwarten Wissenschaftler den stärksten
Anstieg der Zahl rassistischer Straftaten in Deutschland
seit Beginn ihrer Erfassung.

Die Zahlen zeigen: Anders als vielfach behauptet, rei-
chen mehr Wirtschaftswachstum und mehr Arbeits-
plätze nicht aus, um einen Rückgang von Rassismus und
Antisemitismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeind-
lichkeit zu erreichen. Umso wichtiger ist es, genau hin-
zuschauen, wie rassistische und rechtsextreme Einstel-
lungen und Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft
eigentlich entstehen. Die Motive rassistischer Einstel-
lungen sind vielschichtig. Um gezielt handeln zu kön-
nen, müssen wir sie sorgfältig entschlüsseln. Sehr ge-
ehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu
diesem Zweck auf den berühmten und nach wie vor ak-
tuellen Erklärungsansatz der Soziologen Scheuch und
Klingemann hinweisen: Je komplexer das Umfeld eines
Menschen wird, desto eher ist er bereit, sich pauschalen
und oberflächlichen Einstellungen anzuschließen. Ex-
treme Parteien und Bewegungen bieten diesen Men-
schen einfache Botschaften an, die leichter zu verstehen
sind als komplizierte Zusammenhänge. Die unübersicht-
liche Alltagswirklichkeit wird auf wenige Parolen redu-
ziert. – So viel zum Grundsätzlichen.


(Beifall bei der FDP)


Neu ist, dass sich diese Unwahrheiten und Vorurteile
in zunehmendem Maße auch in der Mitte unserer Ge-
sellschaft ausbreiten. Die Gründe dafür sind verzweig-
ter, als es dem einen oder anderen lieb sein mag: In
Situationen wie der Angst vor dem Verlust des Arbeits-
platzes, fehlender Lebensperspektiven oder des Gefühls,
in seinem eigenen Alltag machtlos und ausgeliefert zu
sein, suchen Menschen nach Hilfe. An diesen Punkten
setzen die vereinfachenden Botschaften der Rassisten
systematisch an. An dieser Stelle tragen wir Politiker
eine große Verantwortung: Wir müssen den potenziell
gefährdeten oder für solch platte Parolen anfälligen
Menschen Alternativen bieten und um ihre Akzeptanz
für demokratische Politik werben.


(Beifall bei der FDP)


Wie gesagt, es reicht nicht aus, sich allein auf den
wirtschaftlichen Aufschwung zu verlassen. Lösungen
bestehen eben nicht in eindimensionalen Dämonisierun-
gen, sondern in der offensiven Konfrontation. Es ist die
Zivilgesellschaft, die in der Auseinandersetzung mit
Rassismus und Rechtsextremismus zuerst und vor allem
gefragt ist.

Damit diese Begründungen nicht Stückwerk bleiben
und damit diese Bemühungen nicht deshalb ins Leere
laufen, weil sie beziehungslos nebeneinanderstehen,
brauchen wir – das hat auch die Anhörung gezeigt – ei-
nen integrativen Ansatz. Eine reine Krisenintervention
reicht nicht aus. Wie ein solch integrativer Ansatz aus-
sehen könnte, hat die FDP-Bundestagsfraktion in ihrem
Antrag „Konkretes und tragfähiges Konzept zur Be-
kämpfung von Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und
Antisemitismus vorlegen und zeitnah umsetzen“ vom
September 2006 aufgezeigt.


(Beifall bei der FDP)


Es ist nun an der Bundesregierung, Wege aufzuzeigen,
wie die Erklärung von Durban umgesetzt und wie ein na-
tionaler Aktionsplan ausgestaltet werden kann. Dafür
wird es allerdings höchste Zeit.

Sehr geehrte Damen und Herren von der Linken, die
Begründung Ihres Antrags war für Ihren Antrag insge-
samt leider nicht sehr hilfreich. Dennoch ist er als Bera-
tungsgrundlage gut geeignet. Die FDP wird sich in je-
dem Fall konstruktiv und aktiv in diesen Prozess
einbringen.

Wir brauchen Haltung und Erziehung. Wir brauchen
langfristige Programme zur Bekämpfung von Gewaltbe-
reitschaft, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Extre-
mismus. Wir brauchen eine Intensivierung der Pro-
gramme für gewaltbereite und gefährdete Jugendliche.
Wir brauchen mehr Angebote für Aussteiger aus der
rechten Szene; ihnen müssen wir die Chance geben, zum
Beispiel einen Schulabschluss nachzuholen oder sich
beruflich zu qualifizieren. Wir brauchen Gewaltpräven-
tionsprogramme an den Schulen und in der Jugendarbeit.
Wir brauchen eine Stärkung der ehrenamtlichen Tätig-
keit und ein attraktives und modernes Angebot der Ver-
eine in den Bereichen Sport, Kultur und gesellschaft-
liches Engagement. Und wir müssen die Familien der
Betroffenen stärken, damit sie ihnen Rückhalt bieten
können.

Montesquieu erkannte schon Anfang des
18. Jahrhunderts: Ohne Familie gibt es keine wirksame
Erziehung, ohne Erziehung keine Persönlichkeit und
ohne Persönlichkeit keine Freiheit.


(Beifall bei der FDP)


Springen wir also über unseren parteipolitischen Schat-
ten, und begreifen wir die Bekämpfung des Rassismus
als Herausforderung für unsere Demokratie und für un-
sere Freiheit.


(Beifall bei der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608827200

Gabriele Fograscher spricht jetzt für die SPD.






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1608827300

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Frau Gruß, ich begrüße, was Sie eben gesagt haben:
dass der wirtschaftliche Aufschwung allein das Pro-
blem des Extremismus bzw. des Rechtsextremismus
nicht lösen wird. Ich erinnere mich aber sehr gut an die
Aussage Ihres Kollegen Herrn Burgbacher, der in der
letzten Debatte zu diesem Thema genau dies zur Voraus-
setzung dafür gemacht hat, dass die Probleme gelöst
werden können.

Rassismus ist in unserem Land leider traurige Reali-
tät. Ich könnte eine ganze Menge Beispiele für Über-
griffe und Gewalttaten mit rassistischem Hintergrund
anführen, auch aus jüngster Zeit. Die letzte Meldung
stammt vom 11. März 2007: Zwei Männer haben in Lud-
wigsfelde, in Brandenburg, einen Mann aus Sierra Leone
beschimpft, ihn mit Bier überschüttet und auf die Bahn-
gleise gestoßen. Viele dieser Meldungen tauchen in der
breiten Berichterstattung der Medien überhaupt nicht
mehr auf, sondern finden nur noch als Randnotiz Ein-
gang in Lokalzeitungen.

Die Zahlen des Bundesamtes für Verfassungsschutz
sind schon genannt worden. Der vorläufige Bericht für
das Jahr 2006 umfasst lediglich die ersten acht Monate
des Jahres. Allein in dieser Zeit waren schon
325 Menschen durch Übergriffe aus rassistischen Moti-
ven verletzt worden. Besorgniserregend ist, dass die
Brutalität in der Szene steigt. Aber man muss davon aus-
gehen, dass die rassistischen und fremdenfeindlichen
Einstellungen auch in der Bevölkerung zunehmen. Auch
das muss uns große Sorgen machen.

Frau Köhler, die Ergebnisse von Studien kann man
natürlich anzweifeln. Aber die Studie der Friedrich-
Ebert-Stiftung ist repräsentativ. Sie fußt auf empiri-
schen Erkenntnissen. Die Ergebnisse, die sie zeigt, soll-
ten uns dazu motivieren, gegen Fremdenfeindlichkeit,
Rassismus und Rechtsextremismus vorzugehen und
nicht die Studie anzugreifen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Linksfraktion fordert in ihrem Antrag die Bun-
desregierung auf, diesen Nationalen Aktionsplan zu er-
stellen. Die Bundesregierung arbeitet daran. Ende dieses
Monats wird sie die Ressortabstimmungen beenden. Die
Diskussion mit den Nichtregierungsorganisationen unter
Einbeziehung des Deutschen Instituts für Menschen-
rechte findet statt. Nach der Kabinettsbefassung wird
diese Bundesregierung den Nationalen Aktionsplan noch
weit vor dem von Ihnen genannten Datum vorlegen.

Sie unterstellen in Ihrem Antrag, dass die Bundesre-
gierung – sowohl die aktuelle als auch die ehemalige –
untätig gewesen ist. Ich weise das zurück. Diese Be-
hauptung ist nicht richtig. Auch ohne den Nationalen
Aktionsplan haben wir bereits zahlreiche Maßnahmen
ergriffen. Dazu gehören repressive Maßnahmen, die wir
in der letzten Legislaturperiode ergriffen haben: Zum
Beispiel haben wir das Versammlungsrecht verschärft,
aufgrund dessen es gelungen ist, Demonstrationen und
Aufmärsche zu verhindern. Daneben wurde die Strafbar-
keitsschwelle für den Tatbestand der Volksverhetzung
angehoben. Zahlreiche Innenministerien der Länder und
auch das Innenministerium des Bundes haben Vereine
und Organisationen verboten. Dadurch werden diese
Vereine natürlich erst einmal verdrängt, aber die Men-
schen und die Einstellungen ändern sich dadurch nicht.
Zumindest für einige Zeit wird dadurch deren Aktions-
radius aber eingeschränkt.

Das sind Instrumente, deren sich eine wehrhafte De-
mokratie bedient. Wir setzen aber natürlich auch und vor
allen Dingen auf präventive Maßnahmen im Kampf
gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechts-
extremismus.

Ich möchte jetzt doch einige Beispiele nennen, die
sich quer durch die Ressorts der Bundesregierung und
des Bundes ziehen.

Zunächst nenne ich das 19-Millionen-Euro-Bundes-
programm „Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokra-
tie …“, das auf den früheren Programmen Civitas und
Entimon basiert. Uns, der SPD-Bundestagsfraktion, ist
es gelungen, jetzt zusätzlich 5 Millionen Euro für das
Programm „Förderung von Beratungsnetzwerken – Mo-
bile Intervention gegen Rechtsextremismus“ im Haus-
halt einzustellen.


(Beifall bei der SPD)


Ich danke unseren Haushältern, Berichterstattern und
auch Kerstin Griese, der Vorsitzenden des Familienaus-
schusses, wo diese Programme angesiedelt sind.


(Beifall bei der SPD)


Sie haben hier wirklich eine gute Arbeit geleistet, sodass
die Konzeption jetzt dem entspricht, was wir erreichen
wollen.

Im Bundesinnenministerium ist das „Bündnis für De-
mokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Ge-
walt“ angesiedelt. Es wurde 2000 vom BMI und vom
BMJ ins Leben gerufen. Auch hier gelang es uns, die
Mittel – um 300 000 Euro auf 1 Millionen Euro – aufzu-
stocken.

Genannt werden muss natürlich auch die Arbeit des
Bundesamtes für Verfassungsschutz, die der Öffent-
lichkeit auch Informationen zur Verfügung stellt und
Aufklärung betreibt. Ausstellungen können dort ange-
fordert werden, und dort wird auch ein Aussteigerpro-
gramm angeboten.

Auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung
haben wir uns für eine gleichbleibende Finanzierung und
Ausstattung eingesetzt. Auch ihr kommt eine wichtige
Informations- und Aufklärungsfunktion zu.

Als nationaler runder Tisch im Sinne der Grund-
sätze der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Ras-
sismus und Fremdenfeindlichkeit fungiert das „Forum
gegen Rassismus“. Es umfasst inzwischen rund
80 Organisationen, darunter 60 bundesweit und überre-
gional tätige Nichtregierungsorganisationen. Auch dort
wird eine wichtige Arbeit gegen Fremdenfeindlichkeit,
Rassismus und Gewalt geleistet.






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Fograscher
Das Bundesarbeitsministerium hat zusammen mit
dem Bundesverkehrsministerium ein Programm auf-
gelegt. Es hat zum Ziel, Beschäftigung, Bildung und
Teilhabe vor Ort zu sichern. Mit dieser Maßnahme wer-
den das Programm „XENOS – Leben und Arbeiten in
Vielfalt“ und das Programm „Soziale Stadt“ verbunden.
Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Unterstützung des
Engagements für mehr Toleranz und Integration und der
Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen und bürger-
schaftlichen Engagements vor Ort in den Kommunen.
Auch dieses Programm wird vielfach angefordert und
gut angenommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auch in anderen Ressorts gibt es Initiativen gegen
Rassismus. Ich will nur das Auswärtige Amt nennen.
Wir haben heute bereits eine sportpolitische Debatte
geführt. Das Auswärtige Amt hat die FIFA bei der Fuß-
ballweltmeisterschaft in der Kampagne gegen Rassismus
unterstützt.

Nicht zu vergessen ist die derzeitige deutsche EU-
Ratspräsidentschaft, die den Rahmenbeschluss von
2005 zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeind-
lichkeit erneut auf die politische Agenda gesetzt hat. Er
ist darauf ausgerichtet, eine Mindestharmonisierung der
Vorschriften über die Strafbarkeit des Verbreitens von
rassistischen und fremdenfeindlichen Äußerungen zu er-
reichen. Dabei geht es zum Beispiel um die öffentliche
Aufstachelung zu Gewalt und Hass und das Leugnen
oder Verharmlosen von Völkermord aus rassistischen
oder fremdenfeindlichen Motiven. Wie Sie sehen, setzt
sich die Bundesregierung auch auf europäischer Ebene
für die Bekämpfung des Rassismus ein.

Wir – die Bundesregierung und die sie tragenden
Fraktionen – betrachten das Engagement gegen Rassismus
als wichtige Querschnittsaufgabe und haben, wie ich
eben darzustellen versucht habe, in unterschiedlichen
Ressorts Maßnahmen ergriffen. Allerdings ist das nicht
Aufgabe des Bundes allein; auch die Bundesländer, die
Kommunen und die Zivilgesellschaft sind gefordert.

Als Beispiel aus der Zivilgesellschaft lassen sich auch
an dieser Stelle Initiativen aus dem Bereich des Sports
anführen. Die Deutsche Fußball-Liga und der Deutsche
Fußball-Bund mit seinen Fanprojekten haben konkrete
Signale gegen Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Rassis-
mus auf dem Fußballplatz gesetzt. Viele andere wie der
Nordostdeutsche Fußballverband haben Aktionswochen
gegen Rassismus gestartet. Der Bayerische Fußball-
Verband und die Bayernligavereine haben eine Arbeits-
gruppe „Stadionsicherheit“ gegründet, um gemeinsam
Gewalt und Rassismus im Stadion zu bekämpfen.

Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt ausdrück-
lich die Bundesregierung bei ihrem Engagement gegen
Rassismus und Rechtsextremismus. Wir begrüßen, dass
die erfolgreichen Bundesprogramme fortgeführt werden.
Wir werden die Umsetzung konstruktiv begleiten und
da, wo es notwendig ist, für Verbesserungen kämpfen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608827400

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1608827500

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608827600

Monika Lazar hat jetzt das Wort für das Bündnis 90/

Die Grünen.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608827700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Rassismus ist ein wachsendes Problem in unserem Land,
wie die Sozialforschung eindeutig belegt. Insofern ver-
stehe ich nicht, Frau Köhler, wie Sie zu dem Schluss
kommen können, dass die Studien fragwürdig sind, ob
es nun die Studien oder die Wissenschaftler betrifft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gerade diese Studien haben doch einen sehr breiten
Ansatz, der Ihnen theoretisch nahestehen sollte.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608827800

Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Köhler

zulassen?


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608827900

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608828000

Die Antwort heißt Ja. Bitte schön.


Dr. Kristina Köhler (CDU):
Rede ID: ID1608828100

Frau Kollegin, Sie haben meine Bewertung der Studien

angegriffen. Vermutlich haben Sie auch nicht mitbekom-
men, dass es in der Wissenschaft eine sehr breite Debatte
gibt und dass sehr viele Wissenschaftler diese Studien
angreifen. Aber lassen wir das jetzt beiseite.

Ich möchte Sie fragen, ob Sie wirklich der Auffas-
sung sind, dass jeder, der dem Statement „Was unser
Land heute braucht, ist ein hartes und energisches
Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Aus-
land“ überwiegend zustimmt, bereits ein potenzieller
Rechtsextremist ist. Ich frage Sie nicht, ob Sie dieser
Aussage zustimmen – das ist nicht der Punkt –, sondern
ich frage Sie, ob Sie es wirklich für richtig halten, dass
jeder, der bei dieser Aussage ankreuzt „Ich stimme über-
wiegend zu“ schon als möglicher Rechtsextremist klassi-
fiziert wird.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608828200

Ist das aus der Heitmeyer-Studie oder von Brähler?


Dr. Kristina Köhler (CDU):
Rede ID: ID1608828300

Nein, das ist aus einer Studie der Friedrich-Ebert-Stif-

tung aus Leipzig.






(A) (C)



(B) (D)


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608828400

Heitmeyer hat einen ähnlich breiten Ansatz. – Nicht

jeder, der diesem Satz und vielleicht noch einigen anderen
Sätzen zustimmt, ist automatisch ein Rechtsextremist.
Vielmehr geht es um eine starke Menschenfeindlichkeit
insgesamt, das heißt um eine Anerkennungskultur oder
eine Abwertungskultur. In diese Richtung gehen die Fragen.
Sie haben sich eine einzige Frage herausgegriffen. Es
gibt aber immer mehrere Fragen zu einem bestimmten
Komplex.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Zu dieser Komplexität ist Frau Köhler nicht fähig!)


– Wahrscheinlich.

Es geht darum, dass sich bestimmte Menschen als etwas
Besseres fühlen. Beispielsweise wertet ein Mann, weiß
und heterosexuell, das Gegenteil – weiblich, dunkelhäutig
und homosexuell – ab. Wissenschaftler würden in einem
solchen Fall von Abwertungstendenzen sprechen – der
Betreffende stellt sich über andere –, die in Richtung
Rassismus gehen; denn bei Rassismus handelt es sich
um eine Kultur, in der man sich über andere stellt. Herr
Heitmeyer hat in seiner letzten Studie zur Fußballwelt-
meisterschaft – dieses Beispiel wird Ihnen wahrscheinlich
nicht so gefallen – Umfragen zum Thema Patriotismus
durchgeführt. Dabei kam genau das Gleiche zum Aus-
druck. Natürlich ist es völlig normal, wenn sich jemand
darüber freut, dass die deutsche Mannschaft gewonnen
hat. Bis dahin ist es okay. Es ist aber ein feiner Unter-
schied, wenn jemand sagt, dass die Polen schlecht spielen
oder gar keine Chance haben, zu gewinnen; darauf
kommt es an. Man darf aber nicht eine bestimmte Frage
herausgreifen und denjenigen, der diese Frage bejaht, als
Rechtsextremisten bezeichnen. Das macht kein Wissen-
schaftler. Das können Sie aus der Beantwortung der von
Ihnen angeführten Frage nicht herauslesen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Kristina Köhler [Wiesbaden] [CDU/CSU]: So ist die Studie aber angelegt!)


Wir alle wissen: Es gibt großen Handlungsbedarf,
breit angelegt gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus vorzugehen. Dazu gehört, dass sich
die Politik klar und eindeutig dagegen positioniert. Ein
nationaler Aktionsplan hätte eine solche Signalwirkung.
Doch bevor wir eine neue Baustelle namens nationaler
Aktionsplan eröffnen, möchte ich an die Bundespro-
gramme gegen Rechtsextremismus erinnern. Bis Ende
letzten Jahres hießen sie Civitas und Entimon. Sie waren
wirklich innovativ. Heute gibt es Fachwissen zivil-
gesellschaftlicher Initiativen vor Ort. Wir können auf
praxiserprobte Kompetenzen von Opferberatungsstellen,
mobilen Beratungsteams und Aussteigerinitiativen wie
EXIT zurückgreifen. Wir hatten gutfunktionierende Pro-
gramme, die demokratieförderndes Engagement vor Ort
stärkten. Sie waren auf lokale Projekte zugeschnitten,
wurden individuell vergeben und hatten die Zivilgesell-
schaft als wichtigsten Akteur im Blick.
Die neuen Bundesprogramme erwecken manchmal den
Eindruck: Hauptsache etwas anderes als die Vorgänger-
regierung! Denn praktische Erfahrungen und wissen-
schaftliche Evaluationen werden nicht immer sehr ernst
genommen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Ausgestal-
tung des 5-Millionen-Euro-Programms für Beratungs-
netzwerke. Zum Glück hat es sich in den letzten Wochen
in eine für uns angenehmere Richtung entwickelt. Aber
einige Sachen haben wir zu kritisieren, zum Beispiel
dass nur noch zeitlich befristete Interventionen gefördert
werden. Dass die Bundesregierung nur Geld bereitstellen
will, wenn eine örtliche Krise bereits im Gang ist, ist
einfach zu kurz gedacht. Ein „Feuerwehreinsatz“ reicht
eben nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Evaluation hat gezeigt, dass es darum gehen muss,
präventiv und kontinuierlich zu beraten.

Wenn man diese Entwicklungen betrachtet, dann
kommt man zu dem Schluss, dass ein nationaler Aktions-
plan sinnvoll sein könnte. Man müsste sich auf einen
gemeinsamen Weg einigen und hätte dann die Chance,
dem Rechtsextremismus mit langfristigen Konzepten
entgegenzutreten. Zu überlegen wäre, ob zur Ausarbeitung
eines solchen Plans ein völlig neues Gremium zu bilden ist
oder ob zum Beispiel das bestehende, beim Bundesinnen-
ministerium angesiedelte Bündnis für Demokratie und
Toleranz befristet mit weiteren NGOs aufgestockt werden
könnte. Aber zusätzlich zu den Diskussionen in unseren
Reihen müssen wir die gesamte Gesellschaft ansprechen.
Alle Ebenen sind dabei gefragt. Wir dürfen nicht in Zu-
ständigkeiten, sondern müssen in Verantwortlichkeiten
denken.

Wir brauchen zum Beispiel auch mehr politische
Partizipationsmöglichkeiten für Menschen mit Migrations-
hintergrund. Wir brauchen Gesetze, die unsere Zivil-
gesellschaft aktivieren. Rechtsextreme und rassistische
Diskriminierungen finden nach wie vor statt, täglich in
Ost und West. Deshalb setzen wir Grünen in erster Linie
ganz stark auf eine aktive Zivilgesellschaft. Aber wie errei-
chen wir dieses Ziel? Ein Aspekt ist, dass man erfahrenen
Akteuren vor Ort keine Steine in den Weg legen darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Vorbild der Engagierten ist wichtig, damit sich wei-
tere Menschen anschließen. Wenn wir uns alle für eine
tolerante und demokratische Gesellschaft einsetzen und
auch die Politik auf allen Ebenen – Bund, Länder und
Kommunen – moralische und finanzielle Unterstützung
anbietet, kann der Nationale Aktionsplan gegen Rassis-
mus eine sinnvolle Ergänzung sein.

Schönen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608828500

Jetzt hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Gert Winkelmeier (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608828600

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Bereits 2001 verpflichtete sich die Bundesregierung, einen
Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus zu erstellen.
Diese auf der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus im
südafrikanischen Durban eingegangene Verpflichtung ist
bis heute nicht eingelöst. Das ist ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Unser Land braucht diesen Aktionsplan dringend. Bis Ende
2007 erwarten Wissenschaftler den stärksten Anstieg
rassistischer Straftaten seit ihrer Erfassung. Heute
wurde der feige Brandanschlag auf das Baugelände einer
Moschee in Berlin-Pankow bekannt. Für das Jahr 2005
verzeichnet der Verfassungsschutz eine Zunahme rechts-
extremer Delikte, die immer auch einen rassistischen
und fremdenfeindlichen Hintergrund haben, um fast
30 Prozent gegenüber 2006. Diesen Tendenzen muss
dringend und unverzüglich etwas entgegengesetzt werden.
Die Bundesregierung ist hier in der Pflicht.

Wo liegen die Gründe, dass der Nationale Aktions-
plan gegen Rassismus seit sechs Jahren auf sich warten
lässt? Befürchtet die Bundesregierung, man wolle das
Problem des Rassismus künstlich herbeireden? Es hilft
wenig, ungeliebte Wahrheiten reflexhaft abzuwehren
oder zu bagatellisieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserem
Land ausgeprägt sind, hat aktuell die Studie „Vom Rand
zur Mitte“ der Ebert-Stiftung eindringlich belegt. Fast
40 Prozent aller Befragten halten Deutschland für in ge-
fährlichem Maß überfremdet. Das ist keine Tendenz
mehr am rechten Rand, Fremdenfeindlichkeit und Ras-
sismus haben sich längst in der Mitte der Gesellschaft
etabliert.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Gerade deshalb ist es wichtig, sowohl Nichtregierungs-
organisationen als auch Opfer einzubeziehen, wenn ein
Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus erarbeitet
wird.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Sachverstand von außen, die Erfahrungen der Opfer
müssen Grundlage für das sein, was künftig in diesem
Land gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus getan
wird. Die Bundesregierung hat seit Januar ein Programm
„Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie – gegen
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Anti-
semitismus“ aufgelegt. Das ist auch gut so. Sie sollte
darüber hinaus sehr schnell ein ähnliches Programm
starten, das die gesamte Bevölkerung unseres Landes an-
spricht. Es muss ein Programm für Toleranz und
Menschlichkeit her. Von diesem Programm müssen
Kommunen profitieren, damit ihre Aktivitäten zur Inte-
gration vor Ort eine neue Qualität bekommen.

Am Samstag fing die Internationale Woche gegen
Rassismus an. Sie erinnert traditionell an das Massaker
von Sharpeville in Südafrika am 21. März 1960. Frau
Köhler, eine Bemerkung zu Ihnen: Wenn Sie sagen, Sie
wollten Rassismus bekämpfen, dann sage ich Ihnen an
dieser Stelle: Eines Ihrer politischen Vorbilder hatte vor-
zügliche Kontakte zum Apartheidregime in Südafrika.
Ich meine Franz Josef Strauß. Diese Internationale Woche
gegen Rassismus bietet die Gelegenheit, die Debatte in
der Öffentlichkeit zu führen, und dies ist auch notwendig.
Ein Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus könnte zu
einer Bewusstseinsschärfung der Öffentlichkeit beitragen.
Er wäre zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
Rassismus ist

die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung
tatsächlicher oder fiktiver biologischer Unter-
schiede zum Nutzen des Anklägers und zum Scha-
den seines Opfers …, mit der eine Aggression ge-
rechtfertigt werden soll.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608828700

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Gert Winkelmeier (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608828800

Ich komme zum Schluss. – Das ist zitiert nach Albert

Memmi, einem französischen Schriftsteller und Wissen-
schaftler, der zu Rassismus, Emigration und dem
Lebensgefühl der Entfremdung geschrieben hat. Denken
wir bitte immer an Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und
Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewis-
sen begabt –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608828900

Herr Kollege!


Gert Winkelmeier (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608829000

– und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit

– heute würden wir auch sagen: der Schwesterlichkeit –

begegnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608829100

Ich schließe hiermit die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4201 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Annette Faße, Reinhold Hemker, Elvira






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Zukunftstrends und Qualitätsanforderungen
im internationalen Ferntourismus

– Drucksache 16/4603 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth (Quedlinburg), Ute Koczy, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Tourismus zur Armutsbekämpfung und zur
sozialen und ökologischen Entwicklung in den
Partnerländern nutzen

– Drucksache 16/4181 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierüber eine
halbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wi-
derspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Jürgen Klimke, CDU/CSU-Fraktion.


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1608829200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sylt

statt Seychellen, Borkum statt Bali – das war eine vielzi-
tierte, provokante Forderung der letzten Wochen. Sparen
wir uns das klimaschädliche Herumfliegen! Bleiben wir
zu Hause, und nutzen wir obendrein dem Wirtschafts-
standort Deutschland! Wer so etwas ernsthaft fordert, der
behindert nicht nur den technischen Fortschritt im Luft-
verkehr, sondern er schadet auch der Bekämpfung der
Armut in der Dritten Welt und reiht sich in die Phalanx
der Globalisierungsgegner ein.

Natürlich wollen wir die Energieeffizienz steigern,
und wir wollen den CO2-Ausstoß vermindern, auch im
Tourismus und ganz besonders im Luftverkehr. Reise-
verbote tragen wir jedoch nicht mit. Wir halten sie für
unrealistisch und für kontraproduktiv. Lassen Sie mich
ein Beispiel nennen: Wenn wir die Fernreisen abschaffen
würden, dann könnten die meisten Nationalparks in den
Entwicklungsländern ihre Pforten schließen. Viele Wäl-
der würden dann abgeholzt werden. Dort würden Felder
entstehen, was erhebliche Folgen hätte, auch für die
CO2-Bilanz.

Sollte unser Ziel nicht sein, den Menschen auch durch
den Tourismus ein Auskommen zu bieten, damit sie ihre
Ressourcen schonen, statt die Tropenwälder für neue
Weideflächen abzuholzen? Das würde auch der CO2-
Bilanz nutzen; denn derzeit wird durch Brände in den
Tropen und in den Subtropen mehr Energie verschleu-
dert, als wir in Deutschland insgesamt überhaupt umset-
zen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Energiesparen im Tourismus ist richtig und wichtig.
Das sollte jedoch durch einen permanenten Wettbewerb
um effiziente Technik geschehen und nicht durch ideolo-
gische Verbote bestimmter Technologien.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir brauchen mehr Ökowettbewerb in der Flugzeug-
industrie, und wir müssen auch den Ökowettbewerb in
der Reiseindustrie fördern. Dies erreichen wir, indem
wir die Touristen für Umweltfragen stärker sensibilisie-
ren, damit sie nicht nur auf den Preis achten, sondern
auch auf das Umweltengagement des Unternehmens, bei
dem sie buchen. Ich plädiere ganz eindeutig dafür, dass
die Selbstregelungsmechanismen innerhalb der Touris-
musbranche gestärkt werden, damit der geforderte Bei-
trag zum Umweltschutz auch nachhaltig umgesetzt wer-
den kann.

Generell begrüßen wir das Wachstum im Tourismus
in den Tourismusländern. In den letzten 15 Jahren ist er
von 28 auf fast 40 Prozent gestiegen. Die UNWTO – das
ist die Welttourismusorganisation – erwartet auch in Zu-
kunft überdurchschnittliche Wachstumsraten. Das be-
deutet, dass der Stellenwert des Tourismus für die Ent-
wicklungsländer immer wichtiger wird. Der Tourismus
hat sich in diesen Ländern teilweise als wichtigste Ein-
nahmequelle etabliert. Er leistet einen Beitrag, Armut zu
bekämpfen und – ganz banal – den Hunger zu stillen.

Gleichzeitig führt das Kennenlernen von Touristen
und Einheimischen zu einer stärkeren gegenseitigen
Akzeptanz, zu einem Vertrauen der Kulturen. Es gibt na-
türlich auch Auswüchse des Tourismus; das ist ganz ein-
deutig so.

Mit dem Antrag der Regierungskoalition werden wir
einen guten Beitrag leisten, weil er entscheidende Ver-
besserungen bei der Information deutscher Touristen
vorsieht und den Weg für die Etablierung des Tourismus
als Schwerpunkt im Rahmen der Entwicklungsarbeit mit
den Entwicklungsländern ebnet.

Lassen Sie mich, bevor ich zu einigen Punkten unse-
res Antrags komme, einige Worte zum Antrag der Grü-
nen sagen. Der Antrag zielt generell in die gleiche Rich-
tung. Deswegen werden die Anträge auch unter einem






(A) (C)



(B) (D)


Jürgen Klimke
Tagesordnungspunkt behandelt. Er greift einige Punkte
unseres Antrags auf. In zwei Punkten muss ich Ihnen
aber eindeutig widersprechen.

Erstens. Die Durchsetzung internationaler Sozial-
standards für die Beschäftigten der Tourismusbranche
halte ich für unrealistisch, und sie würde in verschiede-
nen Bereichen auch kontraproduktiv sein. Wir können
nicht überall Lohnniveaus und Sozialsysteme erreichen,
die mit denen bei uns vergleichbar sind. Das ist völlig
unrealistisch.

Der zweite Punkt ist der Klimawandel, der hier im
Zusammenhang mit der Kerosinsteuer angesprochen
wird. Die von den Grünen als überfällig angemahnte Ke-
rosinsteuer halten wir zumindest auf nationaler und eu-
ropäischer Ebene für falsch, weil sie zu Wettbewerbsver-
zerrungen zulasten unserer Anbieter führt. Es kann nicht
sein, dass die Kerosinsteuer dadurch, dass Landungen
dann in Zürich oder in Oslo erfolgen, unsere Luftdreh-
kreuze, meinetwegen Frankfurt oder Bremen, beschädigt
und diese Marktanteile verlieren.

Lassen Sie mich drei Punkte unseres Antrags anspre-
chen: den Nutzen der Fernreisen für Deutschland, die
Bekämpfung der negativen Aspekte im Tourismus und
die Partizipation der Einheimischen.

Deutschland profitiert als einer der größten Quell-
märkte von der Zunahme der Reisen in die Entwick-
lungsländer. Reisebüros, Reiseveranstalter spezialisie-
ren sich auf diese Reisen und schaffen dadurch auch
Arbeitsplätze in Deutschland. Deutsche Unternehmen
investieren in die Infrastruktur dieser Staaten. Dadurch
werden nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern
auch bei uns neue Arbeitsplätze geschaffen. Das ist eine
klassische Win-win-Situation. Wir profitieren davon, die
Entwicklungsländer profitieren davon.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir unterstützen diese Entwicklung mit unserem An-
trag; denn wir schaffen zukünftig zum Beispiel durch die
Aufnahme von mehr Tourismusinformationen auf den
Länderseiten des Auswärtigen Amtes eine zusätzliche
Marketingplattform auch für diese Länder. Dadurch wer-
den die Reisen in die Entwicklungsländer gefördert.

Zu den negativen Aspekten. Zum einen leiden insbe-
sondere die ökologischen Ressourcen unter dem stetigen
Wachstum – das muss man eindeutig sehen –; zum ande-
ren mangelt es vielen Reisenden einfach an Informatio-
nen über kulturelle, soziale und ökologische Gegeben-
heiten der Regionen, in die sie reisen. Dem möchten wir
abhelfen oder es jedenfalls versuchen.

Gleichzeitig wollen wir die Ausbeutung von Kindern
und Jugendlichen durch Sextourismus durch weitere
Verbindungsbeamte und durch andere Grundsätze straf-
rechtlicher Verfolgung bekämpfen. Das ist ein ganz
wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang.

Wir streben eine Verbesserung der Aufklärung der
Reisenden an, auch zum Artenschutz und zur Nachhal-
tigkeit im Tourismus, und setzen uns für eine stärkere
Berücksichtigung des Tourismus zum Beispiel in den
Lehrplänen unserer Schulen, unserer Universitäten und
vor allen Dingen der Einrichtungen ein, die sich mit
Tourismus beschäftigen, zum Beispiel der Fachhoch-
schulen und der Fortbildungseinrichtungen.

Das dritte Thema liegt mir besonders am Herzen:
Partizipation der Einheimischen. Dem Tourismus
wird immer wieder vorgeworfen, er grenze sich von den
Einheimischen ab, das sei sozusagen eine Closed-Shop-
Situation, es gebe nur wenig Wertschöpfung vor Ort. Ein
weiterer englischer Begriff macht das deutlich: all inclu-
sive. Alles das, was man in einem Hotel bekommen
kann, ist im Preis inbegriffen. Meist wird es eingeführt
und nicht in dem Entwicklungsland selbst produziert.
Von daher meinen auch wir, dass zu hinterfragen ist, ob
das sinnvoll ist. Eine Studie zu den ökonomischen, so-
ziokulturellen und ökologischen Folgen dieser Reisen
soll vorgelegt werden, damit wir zukünftig auch das auf
einer solideren Basis beurteilen können.

Untersuchungen des Studienkreises für Tourismus
und Entwicklung am Starnberger See haben ergeben,
dass die Reisenden in Entwicklungsländer durchaus be-
reit sind, die Gegebenheiten vor Ort in Augenschein zu
nehmen, in Gespräche mit der Bevölkerung einzutreten
und stärkeren Kontakt zu ihr aufzunehmen, um so ihre
Destination sozusagen besser kennenzulernen. „Land
und Leute“-Programme gibt es relativ selten. Solche
sollten unserer Meinung nach die Anbieter ins Leben ru-
fen und auch stärker gegenüber ihren Kunden bewerben;
denn damit wird der berühmte Lerneffekt beim Reisen
erzielt und Sensibilität für die sozialen und ökologischen
Realitäten der Reiseländer geweckt sowie ein stärkeres
Miteinander zwischen Touristen und Einheimischen ge-
knüpft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein letzter Punkt, meine Damen und Herren: Wir
möchten gerne, dass Tourismus in den Entwicklungs-
ländern zum Bestandteil der Entwicklungspolitik wird.
Das ist, wie ich glaube, ein ganz wichtiger Punkt. Damit
würden wir zugleich eine Kehrtwendung vollziehen:
Nicht nur Gesundheitsförderung und Armutsbekämp-
fung, sondern auch Tourismus- und damit Wirtschafts-
förderung sollen zu einem wichtigen Bereich werden.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608829300

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1608829400

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.

Mit Tourismus als sektoralem Schwerpunkt für die
Entwicklungszusammenarbeit fördern wir nicht nur die
Wirtschaft im Entwicklungsland, sondern auch unsere
eigene Wirtschaft profitiert davon. Genau das wollen wir
ja mit Entwicklungspolitik erreichen: nicht nur einseitig
Gelder geben, sondern fördern und auch für uns etwas
erreichen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608829500

Herr Kollege!






(A) (C)



(B) (D)


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1608829600

Herzlichen Dank. – Insofern ist


(Heiterkeit)


Tourismus als Wirtschaftsfaktor auch ein wesentlicher
Bereich für die Entwicklungsländer.

Danke sehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608829700

Ernst Burgbacher hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-

tion.


Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1608829800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Lieber Kollege Klimke, nach Ihrer Rede lege ich
mein Manuskript zur Seite, weil ich fast alles unter-
schreiben kann, was Sie gesagt haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Aber! Jetzt kommt es!)


Sie haben ja völlig recht: Natürlich bietet die Entwick-
lung von Tourismus hervorragende Chancen für Ent-
wicklungsländer. Da können wir eine ganze Menge tun.
Viele der Forderungen, die wir diesbezüglich erheben
müssen, sind berechtigt. Das gilt übrigens für die Forde-
rungen in Ihrem Antrag wie für die im Antrag der Grü-
nen. Viele können wir unterschreiben. Die Beratungen
im Ausschuss werden, wie ich denke, zeigen, dass an
vielen Punkten absoluter Konsens besteht.

Ich stehe genauso wie Sie dazu, dass es sinnvoll ist,
den Tourismus in unterentwickelten Ländern weiterzu-
entwickeln. Das ist für viele dieser Länder heute fast die
einzige Chance. Bei der Frage, wer die Chancen nutzen
soll und wer das Geld ins Land bringen soll, gehen un-
sere Meinungen allerdings ein wenig auseinander.
Hierzu finde ich in den Anträgen keine Aussage.

Ich möchte einmal einen Passus aus dem Antrag der
Koalitionsfraktionen zitieren. Da heißt es:

Weitere negative ökologische Auswirkungen resul-
tieren aus der auch durch den Anstieg des Ferntou-
rismus erfolgten starken Zunahme des Flugver-
kehrs. Die Verringerung der Emissionen durch eine
deutlich verbesserte Energieeffizienz der Trieb-
werke und die erhöhten Transportkapazitäten der
Flugzeuge in den kommenden Jahren wird durch
die weitere Zunahme des Flugverkehrs überkom-
pensiert.

Das war es. So steht es wörtlich in Ihrem Antrag. Aber
mehr steht nicht drin. Was wollen Sie jetzt eigentlich?


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Hört! Hört! Gute Frage!)


Wollen Sie den Tourismus ausbauen? Man kommt weder
mit dem Fahrrad noch mit dem Paddelboot in diese Län-
der. Natürlich muss man fliegen. Dann sollte man aber
auch dazu stehen

(Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


und nicht so tun, als könnte man das irgendwie vereinba-
ren und durch irgendwelche Zaubereien alle Ziele errei-
chen. Das geht nicht.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Das sollte man auch sehr deutlich sagen.

Vor diesem Hintergrund haben wir die ganze Diskus-
sion im Umfeld der ITB nicht verstanden: Plötzlich ka-
men jeden Tag zwei, drei selbst ernannte Spezialisten
– einige übrigens auch von Ihrer Seite – und haben ge-
sagt: Wunderbar, dann sollen eben mehr Leute in
Deutschland bleiben. Wie Sie das mit den Forderungen
Ihres Antrags zusammenbringen wollen, würde mich
schon sehr interessieren. Man sollte also ehrlich die ent-
sprechende Position vertreten: Damit das, was in den
Anträgen steht, umgesetzt werden kann, müssen die
Menschen noch mehr fliegen. Das ist eine Tatsache.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!)


Das Zweite – auch Sie haben darauf hingewiesen –:
Man sollte nicht so tun, als gebe es eine heile Welt, die
man am besten dadurch schützt, dass man sie unberührt
lässt. Man sollte übrigens auch nicht so tun, als könnten
wir von hier aus sagen, wie es richtig geht. Auch das ist
eine Position, die ich einfach nicht nachvollziehen kann.
Wir verdienen in Deutschland eine ganze Menge Geld
im Tourismus. Gerade wir Mitglieder des Tourismusaus-
schusses betonen immer wieder, dass Tourismus einer
der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren ist. Wir betonen die
Zahlen der Arbeitsplätze und die 8 Prozent Anteil am
Bruttoinlandsprodukt. Das hängt mit vielen Maßnahmen
zusammen. Dann können wir aber doch nicht mit Blick
auf die Entwicklungsländer sagen, sie müssten das an-
ders machen. Das ist unehrlich, und das sollten wir nicht
mitmachen.


(Beifall bei der FDP – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Steht überhaupt nicht drin!)


– Entschuldigung, wenn Sie sagen, dass irgendwo etwas
anderes steht, dann zeigen Sie mir das. In den Forderun-
gen, die ohnehin vage genug sind, ist von allen mögli-
chen Auflagen und verschiedenen Dingen, die berück-
sichtigt werden müssen, auch im Zusammenhang mit
Nachhaltigkeit, die Rede.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Bei uns auch!)


Welche Folgen das hat, auch mit Blick auf die Bürokra-
tie, steht übrigens nirgends. Das gilt für den Antrag der
Grünen noch viel mehr.

Ich bin davon überzeugt, dass viele Projekte in diesen
Ländern, gerade im Naturschutz, überhaupt nur möglich
sind, weil durch den Tourismus Geld in das Land fließt.
Viele Naturschutzprojekte erfordern geradezu die touris-
tische Nutzung. Das gilt in diesen Ländern, aber übri-
gens auch bei uns sehr häufig.

Ich sage ja gar nicht, dass das in dem Antrag steht. Ich
werfe Ihnen aber Folgendes vor – da hoffe ich, dass wir
in der Beratung ein Stück weiterkommen –: In den An-






(A) (C)



(B) (D)


Ernst Burgbacher
trägen werden hehre Ziele formuliert und wird beschrie-
ben, was alles gemacht werden soll;


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist doch gut!)


aber wie daraus ein schlüssiges Konzept werden soll und
wie wir erreichen, dass die Entwicklungsländer tatsäch-
lich am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben, steht in
diesen beiden Anträgen nicht.


(Gabriele Groneberg [SPD]: Das ergibt sich doch von allein!)


Solange das dort nicht steht, haben Sie auch kein Kon-
zept, wie es weitergehen soll.

Wir werden unseren Beitrag leisten.


(Renate Gradistanac [SPD]: Davon haben wir aber nichts gehört! Kein Vorschlag, Herr Burgbacher! Armselig!)


Vielleicht kommen wir zu einem gemeinsamen Antrag,
der mehr wert ist. Wenn nur schöne Aussagen aneinan-
dergereiht werden, führt uns das nicht weiter.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608829900

Jetzt hat Gabriele Groneberg das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Groneberg (SPD):
Rede ID: ID1608830000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es

würde mich natürlich reizen, Herrn Burgbacher direkt zu
antworten; aber ich werde mir jetzt erst einmal ein paar
andere Punkte herausgreifen, von denen ich denke, dass
sie ein bisschen interessanter sind. Dann werden wir uns
später mit Herrn Burgbacher beschäftigen.

Warum machen wir uns eigentlich Sorgen um den
Tourismus? Wir freuen uns doch, wenn wir, auch noch
kostengünstig, Urlaub an schneeweißen Palmenstränden
mit kristallklarem Wasser und unter einem makellos
blauen Himmel machen können. Die Länder, die wir be-
suchen, freuen sich über Einkommen, Herr Burgbacher,
und Arbeitsplätze; denn in vielen Entwicklungsländern
hat sich der Tourismus zu einem der wichtigsten Wirt-
schaftszweige entwickelt, wenn nicht sogar zum einzi-
gen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Gerade für Länder ohne Rohstoffe und mit schlechten
landwirtschaftlichen Bedingungen bietet der Tourismus
die einzige Möglichkeit zur Devisenbeschaffung; lassen
Sie uns das einmal festhalten.


(Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


Experten schätzen die Nettodeviseneinnahmen der Ent-
wicklungsländer und der am wenigsten entwickelten
Länder auf 60 bis 80 Prozent.
Aber der Tourismus, vor allem in seiner rücksichtslo-
sen Form, schafft auch Probleme.


(Annette Faße [SPD]: Genau!)


Unkontrollierte Infrastrukturentwicklung wie zum Bei-
spiel auf Mallorca – man sieht jetzt an den Protesten,
dass das nicht mehr akzeptiert wird – zerstört nicht nur
Flora und Fauna, sondern auch die Kulturlandschaft, und
vor allen Dingen traditionelle Werte leiden beträchtlich.
All das beeinträchtigt den Lebensraum der Menschen
vor Ort. Die negativen Auswirkungen führen letztend-
lich dazu, dass das, was den Reiz der Region ausgemacht
hat, verschwindet und die Touristen wegbleiben. Ziel
muss es daher sein, einen nachhaltigen Tourismus zu er-
reichen. So ist das, Herr Burgbacher.

Ich denke, es ist nur schlüssig und konsequent, wenn
wir uns im Bereich der Entwicklungshilfe nicht nur mit
den Chancen, die durch den Tourismus für Entwick-
lungsländer bestehen, beschäftigen, sondern auch ganz
konkrete Projekte mitfinanzieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte zur Verdeutlichung einige Beispiele nennen.

Ein gelungenes Beispiel ist das Projekt „Akha Expe-
rience“ in Laos, das im Rahmen einer Public Private
Partnership – zu Deutsch: in Zusammenarbeit von öf-
fentlicher Hand und privater Wirtschaft – entwickelt
wurde. Das Bergvolk der Akha hat kaum Zugang zu so-
zialer Grundversorgung wie Gesundheit und Bildung
und ist weitgehend von der wirtschaftlichen Entwick-
lung des Landes ausgeschlossen. Mit der Unterstützung
durch die GTZ und in Zusammenarbeit mit einem Reise-
veranstalter wurden in acht Dörfern lokale Akha-Guides
ausgebildet, die auch Englischunterricht erhielten. Das
Projekt trägt durch die Entwicklung der touristischen In-
frastruktur zur Gemeindeentwicklung und Armutsbe-
kämpfung bei – die Menschen profitieren also direkt da-
von – und hat als erstes PPP-Projekt in Laos
Modellcharakter für weitere Projekte.

In Montenegro zum Beispiel hat die positive Ent-
wicklung in der Tourismusbranche den Bedarf an quali-
fiziertem Fachpersonal steigen lassen. Allerdings stellt
der nationale Arbeitsmarkt trotz hoher Arbeitslosigkeit
nicht genügend Fachkräfte zur Verfügung. Die GTZ leis-
tet hier vor allem bei der Reform des Berufsbildungssys-
tems und durch die Ausbildung von Fach- und Füh-
rungskräften Unterstützung. Ziel des Vorhabens ist es,
das touristische Angebot in Montenegro langfristig auf
hohem Niveau sicherzustellen.

In Uganda beispielsweise haben wir über die GTZ
und die KfW die nationale Naturschutzbehörde beim
Aufbau des Murchison Falls National Park unterstützt.
Bis zum Bürgerkrieg – das ist das Traurige an der gan-
zen Geschichte – in den 70er- und 80er-Jahren war die-
ser Park mit den weltberühmten Wasserfällen eine be-
deutende Touristenattraktion. Doch während des
Bürgerkriegs wurde die Infrastruktur fast vollständig
zerstört. Der Wildtierbestand von Elefanten und Nashör-
nern hat sich erheblich verringert. Ziel war es hier, nach
dem Krieg wieder ein funktionsfähiges Schutzgebiet






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Groneberg
aufzubauen und den Tourismus zu fördern. Indem wir
Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Wildhüter durch-
geführt haben und die Infrastruktur wieder instand ge-
setzt haben, konnten wir die wirtschaftliche Grundlage
für den Tourismus wiederherstellen.

Was ist an diesen Maßnahmen bitte schön verkehrt?
Wir helfen doch direkt, explizit den Menschen vor Ort.
Ich sehe aber ein, dass das nicht reicht, auch wenn das
gute Beispiele sind. Wir sehen weiteren Handlungsbe-
darf und vor allen Dingen weiteren Diskussionsbedarf.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir in un-
serem Antrag deutlich. Zum Antrag selbst wird der Kol-
lege Hemker nachher noch einiges ausführen.

Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608830100

Jetzt hat der Kollege Ilja Seifert das Wort für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608830200

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren auf der Tribüne! Mit
Ihrer gütigen Erlaubnis, Frau Präsidentin, darf ich zuerst
Frau Mortler und Herrn Hinsken herzlich dafür danken,
dass sie mir von diesem Pult aus beste Genesungsgrüße
gesendet haben. Ich finde, das war sehr freundlich. Viele
von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben das
auf andere Weise auch getan. Vielen Dank. Sie sehen,
ich bin wieder da.

Nun zum Thema. Wir hatten gerade die Gelegenheit,
mit dem Ausschuss eine Fernreise zu unternehmen. Da-
bei haben wir zum Beispiel erlebt, wie schwer es ist,
wenn man behindert ist. Ich wundere mich sehr, dass in
keinem Ihrer Anträge – weder von den Grünen noch von
der Koalition – der Begriff barrierefreier Tourismus
auch nur auftaucht, geschweige denn, dass Sie vernünf-
tige Forderungen stellen, um ihn zu gewährleisten. Ich
bitte Sie, dass wir das in den Ausschussberatungen noch
aufnehmen, damit etwas Sinnvolles dabei herauskommt.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Dafür haben wir einen extra Antrag!)


– Das ist ein Antrag zu einem anderen Thema. Aber wa-
rum fehlt es hier?

Wenn wir über Ferntourismus reden, möchte ich
schon einmal darauf hinweisen, dass es verschiedene
Formen von Tourismus gibt. Es gibt die Urlaubsreisen-
den, es gibt die Geschäftsreisenden, es gibt die Privatrei-
senden, die Verwandte besuchen, es gibt Städtepartner-
schaften und andere Formen von Kultur-, Sport- und
Jugendaustausch. Es gibt auch die Fernreisen von Solda-
tinnen und Soldaten, also den Kriegstourismus. Den wir
vollkommen ablehnen, und dabei bleiben wir auch.

Wo sind denn eigentlich die Stellschrauben für die
Politik? Bei den Urlaubsreisen und bei dem Geschäfts-
tourismus sind die Stellschrauben hinsichtlich der Fern-
reisen gar nicht so groß.

Bei den Städtepartnerschaften und bei den verschie-
denen Formen von Kultur-, Sport- und Jugendaustausch
haben wir als Politikerinnen und als Politiker ganz an-
dere Möglichkeiten, einzugreifen. Hier können wir di-
rekt fördern, was von allen Seiten gefordert wird – dass
man Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung auf-
nimmt, dass man wirklich die Kultur des Landes, das
man besucht, kennenlernt und dass man wirklich erfährt,
wie es dort zugeht. Das ist in diesen Formen des Touris-
mus am ehesten möglich. Vor allen Dingen haben wir
hier die größten Möglichkeiten, einzugreifen. Also las-
sen Sie uns nicht so weiche, schwammige Formulierun-
gen wie „Wir wirken darauf hin“ und „Wir versuchen,
darauf Einfluss zu nehmen“ finden. Lasst uns dort för-
dern, wo wir fördern können. Lasst uns etwas Konkretes
machen.

Ein Reiseziel war zum Beispiel Cancún. Niemand
von uns hat sich in den 50 nebeneinanderstehenden
Fünfsternehotels – mehrere noch mit eigenen Golfplät-
zen – wirklich wohlgefühlt. Man hat dort von der einhei-
mischen Bevölkerung nichts gesehen, außer dann, wenn
sie als dienstbare Geister die Räume saubergemacht ha-
ben. In den oberen Etagen übrigens war die einheimi-
sche Bevölkerung, zum Beispiel die Nachfahren der Ma-
jas, nicht mehr zu sehen.

Was haben wir erfahren? Jeden Tag produziert Can-
cún 700 Tonnen Müll. Dieser Müll wird in die Land-
schaft geschüttet. Die Mangrovenwälder, die durch ei-
nen Hurrikan und die Umweltbelastungen zerstört
worden sind, werden nicht aufgeforstet. Dafür ist kein
Geld da.

Wenn wir die dortige Infrastruktur stärken und der
dortigen Bevölkerung wirklich nützlich sein wollen,
dann muss man sagen, wo die Probleme wirklich liegen.
Wir haben durchaus gesehen, wo sie liegen. Dort müssen
sie gelöst und muss die Situation geändert werden.

Deshalb lassen Sie uns die Anträge nicht so halbher-
zig formulieren. Lassen Sie uns im Ausschuss daran ar-
beiten, damit herauskommt: An dieser und an jener
Stelle kann die Politik tatsächlich eingreifen. Das muss
dann auch Hand und Fuß haben, und dafür müssen wir
auch ein bisschen Geld in die Hand nehmen. Ich denke,
da sollte man etwas investieren. In diesem Zusammen-
hang können wir zum Beispiel darüber reden, dass wir
eine Kerosinsteuer brauchen, aus deren Einnahmen wir
das bezahlen.

Wir wollen an Ort und Stelle Menschen zusammen-
bringen, zum Beispiel Jugendliche, die an einem Jugend-
austausch teilnehmen. Nicht nur unsere Jugendlichen
sollen in ferne Länder fahren. Wir sollten auch den Men-
schen dort die Möglichkeit geben, zu uns zu kommen,
uns kennenzulernen. Wenn diese weniger Geld haben als
wir, dann müssen wir ihnen Geld zur Verfügung stellen.
Das ist die Form von Tourismus, die wir unterstützen.

Lasst uns nicht nur daran denken, dass die Gutbetuch-
ten in die Fünfsternehotels fahren, sondern auch dafür
sorgen, dass sich Menschen kennenlernen und eine






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ilja Seifert
Weltanschauung durch das Anschauen der Welt ent-
wickeln können!

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608830300

Jetzt hat Undine Kurth das Wort für Bündnis 90/Die

Grünen.

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Liebe Gäste auf den Rängen! Wir sprechen hier
über Chancen und Risiken des Ferntourismus, darüber,
wie er qualitätsmäßig organisiert sein soll, darüber, wel-
che Chancen zur Armutsbekämpfung er bietet.

Es ist schon ausführlich darüber gesprochen worden:
Wir wissen, wie viele positive Chancen im Tourismus
liegen. Wir wissen, dass weltweit 235 Millionen Arbeits-
plätze durch den Tourismus gesichert werden. Das sind
ungefähr 9 Prozent aller Arbeitsplätze, die es weltweit
gibt. Es gibt also vor allem für Entwicklungs- und
Schwellenländer eine Menge Chancen, aus dem Touris-
mus wirtschaftlichen Gewinn zu ziehen. Übrigens, auch
in Deutschland zieht man guten Gewinn aus der Touris-
muswirtschaft. – Das ist die eine Seite des Unterneh-
mens.

Auf der anderen Seite wissen wir aber auch – das ist
ebenfalls schon gesagt worden –, dass es eine Menge
Verwerfungen, eine Menge Risiken und eine Menge
Umweltbelastungen geben kann, die besonders durch
eine nicht kluge Tourismusentwicklung produziert wer-
den können. Jetzt kommt es also darauf an, abzuwägen,
den richtigen Mittelweg zu finden, um aus den Vorteilen
auf der einen Seite und den Risiken auf der anderen Seite
einen vernünftigen Schluss zu ziehen und genau das
Richtige zu tun.

Herr Burgbacher, ich verstehe wirklich nicht, dass Sie
sagen, Sie hätten überhaupt nicht begriffen, worüber auf
der ITB geredet worden ist. Natürlich spielen die Touris-
muswirtschaft und das Verhalten der Touristen eine
Rolle im Hinblick auf den Klimawandel. Das ist doch
völlig normal; denn wir alle wissen, dass das Fliegen mit
seiner ganz besonders schädlichen Emissionswirkung zu
dem großen Problem des Klimawandels beiträgt. Das
heißt aber nicht, dass nie mehr geflogen werden soll. Das
ist Unsinn. Wer in dieser Debatte behauptet, es gehe da-
rum, Fernreisen zu verbieten, der verkennt wissentlich
die Bedeutung dieser Debatte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


So schlecht informiert kann niemand sein, um das, was
auf der ITB gesagt wurde, so falsch zu interpretieren.

Wenn der Generalsekretär der Weltorganisation für
Tourismus auf der ITB-Eröffnungsfeier sagt, wir brauch-
ten einen sparsameren Umgang mit Energie, dann hat er
durchaus Recht. Noch in dieser Woche hat er auf der
Madrider Klimakonferenz gesagt, die Maßlosigkeit
des Tourismus sei ein Problem. Wir müssen darauf hin-
wirken, dass es bei dieser Maßlosigkeit nicht bleibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Seit Marco Polo wissen wir alle: Reisen macht schlau,
Reisen macht Spaß und Reisen ist hilfreich bei der Ver-
ständigung der Völker. Aber vor lauter Spaß und Ver-
gnügen dürfen wir nicht darüber hinwegsehen, dass wir
uns en passant unsere eigene Erde kaputtmachen. Das
kann nicht Ziel der Entwicklung sein. Es ist also richtig,
zu sagen: Lasst uns überlegen, was man unternehmen
muss, um bessere Wege zu finden. Demzufolge ist es für
mich gar nicht schlimm, wenn zwei Drittel der Deut-
schen momentan überlegen, ob sie vielleicht einmal öf-
ter im Lande bleiben. Ich verstehe auch nicht, warum wir
Touristiker das nicht gut finden sollten. Denn der
Deutschlandtourismus kann ruhig von dieser neuen
Entwicklung profitieren. Das Schlechteste ist es ja nicht,
im eigenen Land Urlaub zu machen.


(Zuruf von der SPD: Richtig!)


Es ist doch richtig, wenn wir vorschlagen, dass es
eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe zur Erarbei-
tung und zur Umsetzung von Strategien zur Reduzierung
klimaschädlicher Emissionen geben soll. Es ist doch der
richtige Ansatz, zu schauen, was man auf diesem Gebiet
machen kann. Es geht nicht darum, etwas komplett zu
verbieten.

Es geht aber auch nicht darum, zu sagen: Dumm
gelaufen; das passiert eben dabei. Wir wollen gern das
Geschäft machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen, was für ein großes Potenzial in der Tou-
rismusentwicklung steckt. Deshalb glauben wir, dass
man richtigerweise schauen muss, in welche Richtung
wir uns zusammen mit den Zielländern entwickeln wol-
len. Die Entwicklungszusammenarbeit, die wir in
Deutschland auf den Weg gebracht haben, beschäftigt
sich erfreulicherweise sehr erfolgreich mit touristischen
Projekten.

Zu den Anträgen. Wir wollen jetzt nicht davon reden,
welcher Antrag früher oder später eingebracht wurde
und wer von wem abgeschrieben hat. Wir hatten unseren
Antrag, weil wir diesen Bereich so wichtig finden, An-
fang des Jahres eingebracht. Dann haben Sie gesagt:
Lasst uns warten, bis auch der Antrag der Koalition fer-
tig ist, damit wir die Anträge zusammen besprechen
können. Das machen wir herzlich gerne. Wir werden in
den Ausschüssen weiter darüber reden. Denn es ist ja
richtig, dass man versucht, gemeinsam etwas zu machen.

Lassen Sie uns darauf achten, dass der Antrag an die
richtige Adresse gerichtet wird, nämlich an die Bundes-
regierung, damit wir etwas ausrichten können! Da liegt
unser Arbeitsfeld. Lassen Sie uns nicht immer an andere
appellieren, dass sie etwas tun sollen. Wir selber müssen
etwas tun. Lassen Sie uns deshalb darüber reden und auf
diese Weise weiterkommen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608830400

Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Reinhold

Hemker für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Reinhold Hemker (SPD):
Rede ID: ID1608830500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Ernst Burgbacher, wir sind eigentlich schon mit-
ten in der Ausschussberatung. Aber wenn Sie genau hin-
geschaut hätten – wahrscheinlich haben Sie das getan;
aber das hätten Sie schon aufgrund Ihrer Funktion zum
Ausdruck bringen müssen –, dann hätten Sie sehen kön-
nen, dass wir unter den 14 im Antrag aufgeführten Punk-
ten Trends angeben und einige Qualitätsanforderungen
formulieren. Uns ist aber klar, dass die Situation noch
längst nicht so ist, wie sie teilweise auf der ITB von den
Veranstaltern gelobt worden ist. Denn es gibt noch
Schwächen.

Nehmen wir das Beispiel der Verbindung von Nut-
zung der Naturparks durch Menschen, die in der Nähe
wohnen – nicht nur in Entwicklungsländern –, mit der
Gestaltung solcher Räume. Das führt zu einem qualita-
tiven Naturschutz. Wenn man sich vor Augen führt,
dass das beispielsweise im Zusammenhang steht mit ei-
ner nachhaltigen Nutzung von Senken, dann ist natürlich
klar, dass Menschen dorthin fahren, die Naturerlebnisse
im Urlaub erfahren und auch einen Beitrag zur Entwick-
lung dieser Länder leisten wollen.

Dabei geht es nicht nur um Entwicklungsländer. Es
gibt eine ganze Reihe von Ländern, die mittlerweile die
Schwelle zu Industrieländern erreicht haben. Dazu ge-
hört zum Beispiel Brasilien. Auch Südafrika ist in man-
chen Bereichen eines der führenden Industrieländer
Afrikas. Es wird klar: Wir brauchen diese Verbindung,
und wir müssen uns – das hat die diesjährige ITB ein-
deutig gezeigt – den Herausforderungen bei der Weiter-
entwicklung in bestimmten Bereichen stellen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Ich möchte auf ein Heft hinweisen, das mir zum ers-
ten Mal die große Bedeutung dieser Entwicklung aufge-
zeigt hat. Es hat den Titel „Lo’Nam“. Dieser Name
kommt aus einer Volkssprache Kameruns, Feefee, und
bedeutet „Sonnenaufgang“. Das Heft beschäftigt sich
mit dem Traum, in exotischen Ländern etwas zu erleben.
Gleichzeitig werden die Investitionen von Migranten aus
Afrika, die hier in Europa und in Deutschland leben, auf-
gezeigt. Diese Migranten helfen mit, dass der Tourismus
naturnäher wird, und unterstützen Infrastrukturmaßnah-
men. Zudem organisieren sie – es ist eben schon ange-
sprochen worden – Meet-the-People-Programme, also
Begegnungen von unterschiedlichen Kulturen und von
Menschen mit unterschiedlichen Religionen.

Diese Form des Tourismus birgt die Möglichkeit, zum
Abbau von Vorurteilen beizutragen. Ich habe noch im
Ohr, was eben in der Debatte zum Rassismus gesagt
worden ist. Menschen, die im Urlaub andere Menschen
kennengelernt und als gleichberechtigte Partner wahrge-
nommen haben, ändern ihre Einstellung und sagen bei
ihrer Rückkehr: Das sind wertvolle Menschen; es ist be-
wundernswert, was in diesen Ländern geleistet wird.

In dem Heft „Lo’Nam“, das ich eben erwähnt habe
und das von Afrikanern und ihren Freunden gemacht
wird, findet sich ein Zitat eines Reisenden aus früherer
Zeit, nämlich ein Zitat von Goethe, der schon damals
festgestellt hat: „Die beste Bildung findet ein gescheiter
Mensch auf Reisen.“ Das trifft für Reisen zu, die richtig
organisiert sind. Genau das wollen wir mit den Quali-
tätsanforderungen, über die wir sprechen, erreichen: Wir
möchten, dass die Bundesregierung in Gesprächen mit
den Veranstaltern deutlich macht, dass im Vorfeld ge-
nauere Informationen gegeben werden müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das bezieht sich zum Beispiel auf die Sympathiemaga-
zine, deren Erstellung immer wieder von der Bundesre-
gierung unterstützt worden ist. Dort kann man den Rei-
senden entsprechende Informationen anbieten; sie
bekommen ein positives Bild von den Menschen in den
Ländern, in die sie reisen.

Wir können nichts versprechen. Es geht auch nicht
darum, die Bundesregierung in diesem Antrag zu loben.
Wir wollen vielmehr deutlich machen, welche Zukunfts-
trends es gibt und welche Qualitätsanforderungen ge-
stellt werden sollten. An den Qualitätsanforderungen
wollen wir – zunächst einmal in den Fachberatungen –
weiterarbeiten.

Ich komme auf die ITB in diesem Jahr zurück. Ich er-
kenne einen beachtlichen Fortschritt gegenüber dem,
was dort im letzten Jahr gezeigt wurde. Man hat sehr ge-
nau geschaut, was die Menschen eigentlich wollen, die
in diese Urlaubsgebiete fahren, wo sie etwas Neues erle-
ben können. Man hat sehr stark darauf geachtet, welche
Zielgruppen es dort gibt. So gibt es eine große Zahl von
Menschen, die bereit ist, für die Erweiterung ihres Hori-
zontes in ökologischer, kultureller und religiöser Hin-
sicht Geld auszugeben. Darauf sollte man in den Fachbe-
ratungen im Ausschuss eingehen. Ich hoffe, dass wir
dann ein gutes, weiterführendes Gespräch mit den betei-
ligten Ressorts der Bundesregierung führen können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608830600

Ich schließe die Aussprache.

Es ist verabredet, die Vorlagen auf Drucksa-
chen 16/4603 und 16/4181 an die Ausschüsse zu über-
weisen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. – Sie
sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 sowie Zu-
satzpunkt 4 auf:

13 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ekin Deligöz, Grietje Bettin, Volker Beck (Köln),






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinder-
rechtskonvention

– Drucksache 16/4205 –

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam
Gruß, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Rücknahme der Vorbehaltserklärung der
Bundesrepublik Deutschland zur Kinder-
rechtskonvention der Vereinten Nationen

– Drucksache 16/4735 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auswärtiger Ausschuss

Auch hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debat-
tieren, wobei vorgesehen ist, dass die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten Redezeit er-
hält. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
es so beschlossen.

Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile der Kolle-
gin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608830700

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! 1992 hat die Bundesrepublik Deutschland die
UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Ich denke, wir
alle hier im Hause sind uns einig, dass dies ein sehr gro-
ßer Erfolg für die Stärkung der Kinderrechte war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Miriam Gruß [FDP])


Die Konvention hat in sehr vielen Bereichen den Hand-
lungsdruck erhöht. Das haben wir an vielen Stellen ernst
genommen. In Art. 2 werden allen Kindern, die sich in
der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates befinden, die
gleichen Rechte zugestanden.

Nun erfolgte die Ratifizierung in Deutschland aber
nicht ohne Vorbehalte. Einige dieser Vorbehalte haben
wir bereits abgearbeitet. Aber noch heute gibt es einen
Punkt, der sehr sensibel ist und bei dem die Vorbehalte
gelten. Es geht um die unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingskinder in Deutschland. Das betrifft insbe-
sondere die 16- und 17-jährigen Jugendlichen, die nach
Deutschland flüchten. Dies sind Kinder und Jugendliche,
die oftmals eine Odyssee an dramatischen Erlebnissen
hinter sich haben, die unter Armut gelitten haben, die als
Kindersoldaten eingesetzt wurden, die Kriege erlebt ha-
ben, die sexuell ausgebeutet und versklavt wurden, die
traumatisiert sind und unsere Hilfe brauchen. Obwohl
wir uns in Art. 3 der Konvention dazu verpflichtet ha-
ben, das Wohl der Kinder vorrangig zu berücksichtigen,
verweigern wir ihnen noch heute die Hilfe, die zur Ver-
arbeitung dieser Erlebnisse notwendig wäre. Wir behan-
deln 16- und 17-Jährige wie Erwachsene und gestehen
ihnen keinerlei Rechte zu, die wir Kindern und Jugendli-
chen zubilligen sollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Miriam Gruß [FDP])


Nun diskutieren wir im Bundestag nicht das erste Mal
über die Rücknahme dieser Vorbehaltserklärung. Denn
der Bundestag hat bereits viermal die Rücknahme der
Vorbehalte beschlossen; viermal haben wir hier unseren
Willen dazu bekundet. Bekanntlich wurde keiner dieser
Beschlüsse umgesetzt.

Natürlich stellt sich die Frage: Woran liegt es? Liegt
es daran, dass die Bundesregierung das nicht will? Oder
liegt es daran, dass die Koalition sich in diesem Punkt
nicht einig wird? Bis jetzt wurde von der Bundesregie-
rung immer das Argument genannt, sie könne die Vorbe-
halte nicht zurücknehmen, weil die Länder ein Mitspra-
cherecht hätten. Wir haben bereits mehrfach in diesem
Hause deutlich gemacht, dass dies nur eine Rücksicht-
nahme auf die Länder ist, die in der Form aber nicht not-
wendig ist. An diesem Punkt muss man festhalten, dass
die Bundesregierung zwar rücksichtsvoll gegenüber den
Bundesländern ist, aber gleichzeitig rücksichtslos gegen-
über den Flüchtlingskindern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Miriam Gruß [FDP])


Wir diskutieren aktuell ganz viel über Familienpoli-
tik. Wir diskutieren über die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie und über Wahlmöglichkeiten. Wir diskutie-
ren über die Finanzierung von Kinderbetreuung und über
all das, was dazugehört. Gleichzeitig ist mir aber zu Oh-
ren gekommen, dass sich die Große Koalition bereits in
der Debatte über die Stärkung der Kinderrechte in der
Verfassung nicht einig werden konnte.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Sie sind sich auch nicht einig!)


– Wir sind uns einig; das ist ganz sicher. – Das heißt,
dass es Ihnen bei all den Debatten überhaupt nicht um
die Kinder geht. Es geht Ihnen nicht um das Kindeswohl.
Es geht Ihnen um ideologische Debatten. Die Kinder
bleiben bei all den Debatten auf der Strecke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn Ihnen das Kindeswohl so wichtig wäre, wenn
es für Sie so ein wichtiges Thema wäre, dann müssen Sie
sich fragen lassen: Warum lassen wir noch immer zu,
dass Kinder in Sammelunterkünften wie Asylbewer-
berheimen untergebracht werden? Warum verweigern
wir ihnen die notwendigen Jugendhilfemaßnahmen?
Warum verweigern wir ihnen die gesundheitliche
Grundversorgung und Präventionsmöglichkeiten? Wa-
rum geben wir ihnen nicht einfach die Chance, Fuß zu
fassen, eine Ausbildung zu machen oder die Schule zu
besuchen?

Ein Letztes – das entsetzt mich besonders –: Den An-
trag auf Rücknahme der Vorbehalte haben wir in diesem






(A) (C)



(B) (D)


Ekin Deligöz
Haus vor genau einem Jahr eingebracht. Seit einem Jahr
hören wir in jeder Ausschusssitzung, dass die Beratung
darüber um noch eine Woche, um noch einen Monat und
noch weiter verschoben werden soll. Sie drücken sich
vor der Verantwortung, und Sie drücken sich vor der
Entscheidung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Miriam Gruß [FDP])


Stehen Sie zu Ihrer Entscheidung! Entweder Sie wollen
die Rücknahme der Vorbehalte, dann stimmen Sie ein-
fach zu, oder Sie wollen es nicht, dann haben Sie den
Mut, dazu zu stehen. Diesen Mut haben Sie aber nicht.
Auch diese Debatte wird zeigen, dass Sie nicht den Mut
haben, sich zu den Kindern in diesem Land zu bekennen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christoph Strässer [SPD]: Wenn das mal so einfach wäre!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608830800

Jetzt möchte ich der Kollegin Ute Granold für die

CDU/CSU-Fraktion das Wort erteilen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1608830900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin, ich muss doch einiges von dem, was Sie
gerade gesagt haben, zurechtrücken. Was die von Ihnen
angesprochene unendliche Geschichte in diesem Haus
betrifft, muss ich Ihnen recht geben: Es gibt einen Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen aus dem letzten Jahr. Es
gibt eine Kleine Anfrage der Grünen aus dem Jahr zuvor.
Mittlerweile gibt es einen ganz neuen Antrag der FDP.
Es gibt eine Große Anfrage der Grünen vom Januar dieses
Jahres, die noch nicht beantwortet ist. Heute debattieren
wir wieder über dieses Thema. Ich denke trotzdem, es ist
eine Scheindebatte.

Wenn Sie hier reklamieren, wir würden das Thema
immer wieder behandeln, aber zu keinem Ergebnis kom-
men, muss ich Ihnen vorhalten, dass auch die rot-grüne
Regierung keine Notwendigkeit gesehen hat, diese
Vorbehaltserklärung zurückzunehmen, weil das einen
reinen Symbolcharakter hätte.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir haben es wenigstens beschlossen! Das Parlament hat es wenigstens beschlossen!)


Lassen Sie mich zunächst sagen: Die Bundesregierung
und das Parlament – ich denke, darin sind wir uns in diesem
Hause einig – tun alles für das Kindeswohl. Das hat die
jüngste Debatte über die Reform des Unterhaltsrechts
– heute wurde eine Einigung erzielt – gezeigt. Wir haben
sehr viel getan, und wir werden Weiteres tun, wenn
Handlungsbedarf besteht. Ich denke, wir drehen uns hier
im Kreis.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woran liegt das wohl?)

Wir haben – ich denke, auch das ist unstrittig – die
UN-Kinderrechtskonvention mittlerweile voll und ganz
erfüllt. Ich möchte die Reform des Kindschaftsrechts
in Erinnerung rufen – das gemeinsame Sorgerecht war
das Herzstück dieser Reform –, die wir 1998 auf den
Weg gebracht haben. Jetzt beraten wir koalitionsintern
die FGG-Reform. Im Scheidungsverfahren haben wir
Elemente vorgesehen, die das Kindeswohl wesentlich
stärken. Ich denke, der Staatssekretär kann nachher das
eine oder andere dazu sagen.

Wir haben einen Nationalen Aktionsplan, den wir
bis zum Jahr 2010 – das haben wir bekräftigt – fortführen
wollen. Dazu stehen wir. Dieser Aktionsplan sieht vor – das
ist die Perspektive –, dass wir uns auch um die Rücknahme
dieser Vorbehaltserklärung kümmern werden. Auch das
haben wir in unserer Koalitionsvereinbarung aufgeführt.

Ich möchte einmal klar und deutlich sagen, worum es
überhaupt geht: Die UN-Kinderrechtskonvention aus
dem Jahr 1989 ist in Deutschland 1992 in Kraft getreten.
Diese Konvention begründet keinerlei materielles Recht,
keinen einklagbaren Anspruch auf ein Aufenthalts- oder
Bleiberecht in Deutschland oder ein Recht auf Einreise
nach Deutschland. Das ist ein völkerrechtlicher Vertrag.
Die Vorbehaltserklärung bedeutet keinen Vorbehalt im
völkerrechtlichen Sinn, dass wir also Vorbehalte gegen
den Inhalt der Konvention hätten, sondern sie stellt nur
eine Interpretationsklausel dar. Frau Kollegin, das war
völlig zu Recht die Argumentation der Grünen, als sie
noch in der Regierungsverantwortung standen.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! – Irmingard ScheweGerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir doch 1992 beschlossen!)


Über diese Interpretationsklausel sollte, so meine ich,
noch einmal diskutiert werden, weil Vorbehalte bestehen.
Das ist lediglich eine Klarstellung. Die Frage, ob wir
diese Vorbehaltsklausel zurücknehmen oder nicht, hat
bloß Symbolcharakter. Es besteht grundsätzlich keine
Notwendigkeit dazu.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie sind ja noch schlimmer als Herr Schily!)


Lassen Sie mich bitte etwas Inhaltliches zu den Minder-
jährigen sagen, die nach Deutschland einreisen. Sie stellen
uns als Barbaren und Unmenschen dar.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann gehen Sie doch einmal nach Frankfurt zum Flughafen!)


Das ist nicht der Fall. Tatsache ist, dass die deutsche Ge-
setzgebung mit dem internationalen Recht konform ist.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann lehnen Sie doch einfach den Antrag ab!)


Sie wissen sehr wohl, warum eine Rücknahme der Vor-
behalte bislang noch nicht möglich war. Sie wissen sehr
wohl, dass wir zwar formal zuständig sind, wenn es darum
geht, völkerrechtliche Verträge abzuschließen, dass die






(A) (C)



(B) (D)


Ute Granold
Länder aber einzubeziehen sind, falls diese betroffen
sind; ich verweise auf Art. 32 unseres Grundgesetzes.
Sie wissen auch, dass Bund und Länder 1957 das soge-
nannte Lindauer Abkommen geschlossen haben, in dem
genau vereinbart ist, wie in solchen Fällen verfahren
wird.

Solange die Zuständigkeit der Länder betroffen ist


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie die Kinder ins Flughafenverfahren schicken!)


– lassen Sie mich doch bitte ausreden; ich habe Sie doch
auch ausreden lassen –, was hier der Fall ist – ich erwähne
als Beispiel den Strafvollzug –, müssen wir das gemeinsam
mit den Ländern machen. Die FDP hat in ihrem Antrag,
der jetzt eingegangen ist, völlig zu Recht geschrieben,
der Bundestag solle die Bundesregierung auffordern,
diese Vorbehaltserklärung „zurückzunehmen und auf die
Länder hinzuwirken, die Voraussetzungen hierfür zu
schaffen“.

Ich denke, dass wir die inhaltliche Diskussion, die
Diskussion über die Notwendigkeit der Interpretations-
klausel, dort führen müssen, wo sie hingehört, nämlich
in den Ausschüssen.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie lassen das ja nicht zu!)


Wir Rechtspolitiker sind heute erstmals damit befasst;
bislang waren es die Familienpolitiker. Aber auch wir
Rechtspolitiker setzen uns für die Rechte der Kinder ein
und werden darüber, wie es sich gehört, diskutieren.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verschieben das seit einem Jahr!)


– Frau Kollegin, allein dadurch, dass Sie schreien, wird
Ihre Argumentation nicht besser.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist eine Tatsache, dass das hier eine reine Symbol-
diskussion ist und dass Sie uns mit dieser öffentlichen
Debatte – die eine rein formale Debatte ist – in die Ecke
stellen wollen, indem Sie den Eindruck erwecken,
Deutschland tue nichts für die ausländischen Kinder. Dabei
gibt es in keinem Staat der Welt ein aus der Kinder-
rechtskonvention abgeleitetes Aufenthaltsrecht oder
Bleiberecht. Wir gehen hier konform mit Ländern in der
ganzen Welt und lassen uns auch von Ihnen in dieser De-
batte nicht den Vorwurf anhängen, dass es anders wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Ahnung! Beschäftigen Sie sich einmal mit dem Thema!)


Lassen Sie uns dort darüber reden, wo das Thema hin-
gehört, nachdem Ihre Große Anfrage beantwortet ist;
dann können wir die Punkte in Ruhe abarbeiten. Ich
denke, wir sollten in diesem Hause nicht darüber streiten,
ob wir Kinderrechte umsetzen oder nicht. Wir kämpfen
schließlich alle zusammen dafür, und so soll es auch
sein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608831000

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Haßelmann zulassen?


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1608831100

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608831200

Bitte schön.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608831300

Vielen Dank, Frau Kollegin. Sie haben gerade gefordert,

dass diese wichtige Debatte nicht hier im Plenum, sondern
in den Fachausschüssen geführt wird. Deshalb möchte ich
Sie fragen, ob Sie eigentlich wissen, dass diese Debatte seit
ungefähr einem Jahr in den Fachausschüssen eingefordert
wird und dass wir im Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, in den diese Debatte neben dem
Rechtsausschuss sicherlich gehört, seit einem Jahr mit
Anträgen konfrontiert werden, diesen Tagesordnungs-
punkt zu vertagen. Wenn wir dem nicht stattgäben, würde
abgestimmt. Deshalb ist Ihr Hinweis reine Verzögerungs-
taktik.

Wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich zu diesen Fragen
äußern und nicht hier im Plenum auf die Fachberatungen
verweisen. Wir haben die Debatte in den Fachausschüssen
führen wollen; doch das ist von der Großen Koalition
verhindert worden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Wussten Sie das eigentlich? Oder warum verweisen Sie
in dieser Debatte auf die Fachausschüsse?


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1608831400

Frau Kollegin, ich gehöre ja dem Rechtsausschuss an.

Die Diskussion im Familienausschuss kenne ich nur aus
den Protokollen. Aber ich kann Ihnen sagen: Was Sie
jetzt reklamieren, war unter Rot-Grün auf Jahre ebenso
im Stau, wie das jetzt vielleicht im Stau ist.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Es ist zweimal beschlossen worden!)


Wenn Sie die Protokolle lesen, können Sie das nachvoll-
ziehen.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)


Aber lassen Sie mich jetzt einfach sagen, ohne dass
ich mich auf Formalien zurückziehen möchte: Es gibt
dieses Abkommen zwischen dem Bund und den Ländern.
Es gibt kein einheitliches Votum der Länder dahin gehend,
die Vorbehaltserklärung zurückzunehmen. Ich denke,
wir sollten diese Vereinbarung, die wir als Bund mit den
Ländern getroffen haben, einhalten bzw. klären, wie wir
weiter verfahren können. Bis zum heutigen Tage ist dieses
Einvernehmen mit den Ländern nicht da. Schon von daher
kommen wir nicht weiter. Aber da diese Vorbehalts-
erklärung rein symbolischen Charakter hat, ist es kein
Problem, dass sie nach wie vor besteht.






(A) (C)



(B) (D)


Ute Granold

(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn sie nur symbolisch ist, dann können Sie sie doch zurücknehmen!)


Ich verweise nochmals auf den Antrag der FDP:
Wenn man der Auffassung ist, man solle sie zurücknehmen
– wie gesagt, sie hat Symbolcharakter –, dann sollte das
in den Ausschüssen diskutiert werden, und zwar mit denen,
die zuständig sind. Es wurden schon mehrere Gespräche
mit den Ländern geführt. Aber wir haben nun einmal einen
föderalen Staat, wir haben verschiedene Zuständigkeiten,
wir haben 16 Länder, die man unter einen Hut bringen
muss. Ich kann nur das sagen, was derzeit Fakt ist. So ist
die Situation, die sich aus formalen und aus inhaltlichen
Gründen ergibt. Was die Kollegin hier vorgetragen hat,
ist materiell und formell einfach nicht richtig.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608831500

Frau Kollegin, möchten Sie jetzt noch eine Zwischen-

frage der Kollegin Deligöz zulassen?


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1608831600

Nein. Sie hatten die Möglichkeit für eine Zwischenfrage;

ich denke, das reicht. Sie haben so viel dazwischengeredet,
dass es nicht unkollegial ist, keine weitere Zwischen-
frage zuzulassen.

Ich bin damit auch am Ende. Mehr brauchen wir nicht
zu sagen, weil wir uns mittlerweile im Kreis drehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie drücken sich vor den Fragen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608831700

Jetzt hat Miriam Gruß das Wort für die FDP-Fraktion.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1608831800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich bin noch nicht so lange hier im Bundestag.
Aber das, was wir hier in Sachen UN-Kinderrechtskon-
vention erleben, ist – das muss ich leider sagen – Politik
zum Abgewöhnen. Es tut mir leid, dass die Zuschauer
auf den Rängen das miterleben müssen.

Wir debattieren hier im Plenum zum wiederholten
Male über die Rücknahme der Vorbehalte. Das Thema
wird bei uns im Familienausschuss in der Tat mit Vorliebe
von der Tagesordnung abgesetzt, im Plenum auch gerne
auf die Abendstunden verlegt. Heute gab es wieder die
Diskussion, ob wir die Reden nicht einfach zu Protokoll
geben sollten. Alles wird hin- und hergeschoben, und die
Beschlüsse dieses Hohen Hauses werden schlichtweg
ignoriert. Dadurch bestätigen wir meines Erachtens die
vorherrschenden Klischees von der Politik. Die Rück-
nahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention
ist ein anderes Thema als die Verkehrsfähigkeit von
Kräutern, Tees und Gewürzen; auch dieses Thema stand
schon einmal auf unserer Tagesordnung. Es geht um die
Rechte von Kindern in Deutschland.
Aber Sie können mir nicht erklären, warum Sie sich
so verhalten. Das können Sie keinem Bürger erklären,
erst recht nicht den betroffenen Kindern. Egal, wen man
fragt – ob die betroffenen Fachpolitiker, die Verantwort-
lichen in den Ländern oder die Ministerin selbst –, alle
sind sich scheinbar darin einig, dass die Vorbehalte
zurückgenommen werden müssen. Dazu haben wir im
Übrigen auch innerhalb der Kinderkommission einen
einstimmigen Beschluss gefasst. Deswegen darf Frau
Noll heute wahrscheinlich nicht reden. Ich frage mich:
Wo liegt das Problem?


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wo ist eigentlich Frau Fischbach?)


So machen wir uns auf dem internationalen Parkett
nur lächerlich. Irritationen und Zweifel am Willen
Deutschlands, die UN-Kinderrechtskonvention uneinge-
schränkt umzusetzen, sind derzeit mehr als berechtigt.
Was für ein Licht wirft das auf Deutschland? Zusätzlich
liefern wir mit dieser Haltung anderen Staaten noch
mehr Munition, selbst Vorbehalte anzumelden. Ist dies
das Bild, das wir nach außen abgeben wollen? Ich
meine, nein.

Inhaltlich – das ist mehrfach gesagt worden – disku-
tieren wir über Menschenrechte, und zwar im Hinblick
auf die Situation unbegleiteter minderjähriger Flücht-
linge. Diese Instrumentalisierung hat zur Folge, dass
Flüchtlingskinder ab 16 Jahren im Asylverfahren wie
Erwachsene behandelt werden – Frau Deligöz hat das
schon angesprochen – und keinen juristischen Beistand
bekommen. Ihre Asylanträge werden häufig abgelehnt,
weil das Schicksal keine politische Verfolgung im Sinne
des deutschen Asylrechts darstellt.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)


Sie sind beim Schulbesuch, bei der medizinischen Versor-
gung und bei der Berufsausbildung schlechter gestellt als
deutsche Kinder und können in Abschiebehaft geraten.

Meine Damen und Herren, Kinderrechte sind Men-
schenrechte. Aber mittlerweile habe ich Zweifel, wie
ernst es diesem Land mit diesem Thema wirklich ist.
Immer, wenn es um die Rechte der Kinder geht und ih-
nen mehr Ansprüche eingeräumt werden sollen, stoßen
wir auf Widerstände.

Zum Inhalt möchte ich noch eine kurze Bemerkung
machen. Da ich heute bereits zu zwei anderen Tagesord-
nungspunkten gesprochen habe, weiß ich, dass wir auch
über das Thema Kinderschutz diskutiert haben. In
diesem Zusammenhang haben Sie die Bundesregierung
aufgefordert, Art. 24 der UN-Kinderrechtskonvention
umzusetzen. Wie schön, dass Sie einerseits die Forderung
erheben, einen einzelnen Artikel der UN-Kinderrechts-
konvention umzusetzen, obwohl Sie es andererseits noch
nicht einmal schaffen, die Vorbehalte gegen die Konvention
zurückzunehmen!


(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Miriam Gruß
Abschließend möchte ich auf unseren Antrag eingehen
– das tue ich, damit Sie mich in Zukunft richtig zitieren –:
Wir fordern die Bundesregierung zunächst einmal auf,
unverzüglich die Vorbehalte gegen die UN-Kinder-
rechtskonvention zurückzunehmen – das ist der erste
Teil des Satzes, der für sich steht – und in einem zweiten
Schritt auf die Länder hinzuwirken, die Voraussetzungen
hierfür zu schaffen.

In Zeiten, in denen die Themen Kinder, Familie und
Familienfreundlichkeit eine solche Renaissance erfahren,
wie wir es gerade erleben, darf sich Deutschland nicht
dermaßen blamieren. Die Rücknahme der Vorbehalts-
erklärung stellt ein dringend notwendiges und überfälliges
Signal für ein kinderfreundliches Deutschland dar. An-
gesichts der Absurdität der bisherigen Debatte erübrigt
sich eigentlich schon fast meine Bitte an Sie, unserem
Antrag zuzustimmen. Denn das Votum dieses Hauses
scheint hier leider nicht zu zählen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608831900

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär

Alfred Hartenbach.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt bin ich wirklich gespannt, was der dazu sagt! Das wurde immerhin schon zweimal vom Bundestag beschlossen!)


A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1608832000


Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Die Rücknahme der Vorbehalte zur UN-
Kinderrechtskonvention beschäftigt seit Jahren nicht nur
alle Fraktionen des Deutschen Bundestages und die
Kinderkommission. Auch die Bundesregierung hat sich
wiederholt mit den Möglichkeiten zur Rücknahme dieser
Erklärung auseinandergesetzt.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hat sie aber nicht umgesetzt!)


Ich sage Ihnen allen eines – hören Sie gut zu –: Alle
in diesem Hause vertretenen Fraktionen waren daran
beteiligt. Selbst die Linken waren in mindestens zwei
Länderparlamenten vertreten – Frau Jelpke, hören Sie
mir bitte zu – und hätten entsprechende Anträge einbringen
können. Dadurch hätte die Regierung unter Druck gesetzt
werden können.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten
Stein! Ich habe einmal Theologie studiert.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


– Jetzt seid doch einmal still.

Wir wissen heute, dass die Erklärung nicht notwendig
gewesen wäre. Die Kinderrechtskonvention würde ohne
die Erklärung genauso ausgelegt werden, wie wir sie
heute mit der Erklärung auslegen. Es handelt sich im
Wesentlichen um Erläuterungen, die man damals, 1992,
meinte, zu brauchen, um Fehl- oder Überinterpretationen
zu vermeiden. Dies spricht auf den ersten Blick natürlich
für eine Rücknahme der Erklärung. Sie wissen aber
auch, dass die Erklärung zur UN-Kinderrechtskonven-
tion vom 20. November 1989 auf Wunsch der Länder
aufgenommen worden ist. Die Länder waren nur unter
dieser Bedingung mit der Ratifizierung der Konvention
einverstanden.

Nun ist eine Rücknahme der Erklärung durch die
Bundesregierung allein, das heißt ohne Einbeziehung
der Länder, natürlich rein rechtlich möglich. Ein derarti-
ges Vorgehen kommt für uns aber nicht in Betracht. Soll-
ten sich die Länder also gegen eine Rücknahme der Er-
klärung aussprechen – es sieht genau so aus –, dann wird
diese Bundesregierung Rücksicht darauf nehmen. Frau
Gruß, Sie haben hier Krokodilstränen geweint. Ihre Par-
tei ist in mindestens drei Länderregierungen. Stellen Sie
doch einmal einen Antrag im Bundesrat, dass hier die
Rücknahme der Erklärung beschlossen wird, und fangen
Sie nicht an, hier Tränen zu weinen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Miriam Gruß [FDP]: Ich weine gar nicht, ich lache über die Debatte!)


– Ich bin sonst nicht so aggressiv, aber das hat mich
heute Abend gereizt.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was machen Sie denn?)


Wir sollten uns hier doch alle eines klarmachen: Die
Rücknahme der Erklärung wäre natürlich ein politisches
Signal mit symbolischer Bedeutung, mehr allerdings
nicht. Es existiert ja verbreitet die irrige Vorstellung,
Deutschland habe sich mit seiner Erklärung den Ver-
pflichtungen aus der Kinderrechtskonvention entziehen
wollen. Es wird auch behauptet, dass durch die Erklä-
rung ein angemessener und völkerrechtlich verbürgter
Schutz für die Flüchtlingskinder verhindert wird. All
dies ist falsch.


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)


Das deutsche Recht steht mit oder ohne Erklärung im
Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen, die
sich aus der Kinderrechtskonvention ergeben. Keines-
falls wird durch die Erklärung aber verhindert, dass die
rechtliche und tatsächliche Situation von Flüchtlingskin-
dern verbessert wird. Ein Beispiel dafür sind die von Ih-
nen eben kritisierten Asylbewerberunterkünfte, wo man
vieles getan hat, um die Situation der Flüchtlingskinder
erheblich zu verbessern. Mit der Erklärung wird der
Handlungsspielraum der Politik und der Rechtsetzung
also nicht eingeengt. Es hängt letztlich vom politischen
Willen aller ab – auch in den Ländern –, nicht aber von
der Rücknahme der Erklärung, ob man vernünftige und
altersangemessene Bedingungen für Flüchtlingskinder
schafft.

Nun noch ganz kurz zur Großen Anfrage: Es ist natür-
lich richtig, dass Sie solche Anfragen stellen. Wir bemü-
hen uns auch sehr, vernünftige Antworten zu geben. Es
dauert aber seine Zeit. Sie wird in naher Zukunft beant-






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
wortet werden. Ich glaube, dass das noch vor der Som-
merpause der Fall sein wird.

Sie werden dann sehen, dass diese Bundesregierung
alles getan hat und dass kein Flüchtlingskind darunter
leiden muss, dass dieser Vorbehalt bisher nicht zurück-
genommen worden ist.

Kommen Sie also bitte auf den Boden der Tatsachen
zurück und lassen Sie uns gemeinsam das tun, was getan
werden kann.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn das nur Symbolik ist, warum scheuen Sie sich dann davor?)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608832100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608832200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vor-

behaltserklärung der Bundesrepublik zur UN-Kinder-
rechtskonvention ist symptomatisch für den Umgang
mit Schutzbedürftigen in diesem Land.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Schon der Wortlaut verrät einiges über das Denken
seiner Autoren. In der Konvention heißt es nämlich: Alle
Kinder haben die gleichen Rechte. – Demgegenüber
steht im Vorbehalt der Bundesregierung – ich zitiere –:
Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern müs-
sen gemacht werden. Mit anderen Worten: Kinderrechte
sollen nur die Rechte deutscher Kinder sein. Das wider-
spricht aber dem Grundgedanken der Konvention, dem
besonderen Schutzbedürfnis von Kindern universell
Gültigkeit zu verschaffen. Diese Diskriminierung trifft
in besonderer Weise Kinder, die besonders schutzbedürf-
tig sind – meine Kollegin von den Grünen hat es schon
angesprochen –, zum Beispiel die unbegleiteten min-
derjährigen Flüchtlinge. Im Alter von 16 und
17 Jahren gelten sie nach dem Asylverfahrensgesetz
schlichtweg als Erwachsene. Um ihr Alter bestimmen zu
können, werden sie nicht einfach gefragt; vielmehr wer-
den sie entwürdigenden Behandlungen und fragwürdi-
gen medizinischen Untersuchungen unterzogen. Davon
sind selbstverständlich auch Kinder betroffen, die noch
nicht einmal 16 Jahre alt sind.

Eine weitere Konsequenz der unvollständigen Umset-
zung der Konvention ist, dass auch Minderjährige in
Abschiebehaft genommen werden. Das wurde eben be-
reits angesprochen. Herr Staatssekretär, allein im Jahr
2004 saßen in zwölf Bundesländern 240 Minderjährige
zwischen 16 und 17 Jahren in Abschiebehaft. Auch für
unbegleitete 16- und 17-jährige Flüchtlinge gilt das soge-
nannte Flughafenverfahren, das an sich schon eine sehr
fragwürdige und zweifelhafte Einrichtung ist.
Schließlich sind alle diese Jugendlichen von den Leis-
tungen der Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII aus-
geschlossen. Alle bisherigen Bundesregierungen – darin
muss man den Kollegen recht geben, die das kritisiert
haben – einschließlich der SPD-Grüne-Bundesregierung
haben diesen Vorbehalt trotz vieler Anträge nicht zu-
rückgenommen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war Schily!)


Es wird im Übrigen auch ignoriert, dass das UN-Komi-
tee für die Rechte der Kinder noch im Jahr 2004 zahlrei-
che Kritikpunkte am deutschen Asyl- und Flüchtlings-
recht äußerte.


(Zuruf des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/ CSU])


– Ich kann es Ihnen gerne geben, wenn Sie es nicht glau-
ben.

Diese Beispiele zeigen: Der Vorbehalt ist die eine
Seite des Skandals; die entsprechenden Bestimmungen
im deutschen Asyl- und Flüchtlingsrecht sind die andere
Seite. Ich nehme Sie gerne beim Wort, Herr Staatssekre-
tär, wenn Sie sagen, dass die geltenden Gesetze im Ein-
klang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen.
Wir werden auf jeden Fall darauf zurückkommen. Denn
tatsächlich müssten Sie sämtliche Gesetze im Aufent-
halts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht ändern, wenn der Vor-
behalt zurückgenommen wird.

Wir fordern die tatsächliche Gleichberechtigung aller
Kinder und den umfassenden Schutz minderjähriger
Flüchtlinge. Deswegen muss der Vorbehalt zurückge-
nommen und müssen vor allen Dingen die Gesetze den
internationalen Verpflichtungen angepasst werden.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608832300

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Christoph Strässer, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1608832400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich denke, ich habe die Erlaubnis, an dieser Stelle Klar-
text zu reden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dieser Klartext lautet, dass die SPD-Bundestagsfraktion
wie schon in der 14. und 15. Legislaturperiode klar und
deutlich die Rücknahme des letzten noch bestehenden
Vorbehaltes zur VN-Kinderrechtskonvention verlangt
und darauf hinarbeiten wird, dass es in den nächsten Mo-
naten und Jahren dazu kommt. Das ist die klare Position
unserer Fraktion.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Miriam Gruß [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Christoph Strässer
In Bezug auf das, was wir heute diskutiert haben,
möchte ich einige Fragen stellen. Ich bin nur Jurist. Viel-
leicht habe ich das eine oder andere nicht richtig verstan-
den.

Es gibt Feststellungen, dass die Erklärung nur der
Klarstellung dient, dass sie die Konvention inhaltlich
nicht berührt und keine eigene Regelungswirkung entfal-
tet. Wenn das so ist, dann frage ich Sie, wer in diesem
Land irgendeinen Schaden erleidet, wenn wir die Erklä-
rung endlich zurücknehmen. Das ist doch die Realität,
und so müsste man, glaube ich, die politische Diskussion
führen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich weiß auch – das ist ebenfalls ziemlich klar –, dass
dabei die Länder involviert sind. Darüber müssen wir
uns nicht den Kopf zerbrechen; das ist so. Ich will nicht
auf juristische Feinheiten eingehen. Ich bin aber nach
wie vor der Meinung, dass dann, wenn der politische
Wille gegeben ist – wir sollten darauf hinwirken –, die
Rücknahme der Erklärung allein durch die Bundesregie-
rung theoretisch möglich wäre.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Denn bei der Ratifizierung der Kinderrechtskonvention
mussten die Länder mit im Boot sein – das ist völlig
richtig –, weil Bereiche wie die Bildung davon berührt
waren. Aber alle Vorbehalte sind beseitigt, bis auf einen:
das Ausländer- und Asylrecht. Das liegt trotz Föderalis-
musreform weiterhin in der ausschließlichen Gesetzge-
bungskompetenz des Bundes. Daher könnte man, wenn
man wollte, diesen Vorbehalt gegen die UN-Kinder-
rechtskonvention unter gegebenen Umständen zurück-
nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Darum geht es mir aber gar nicht. Ich will hier kein
Fass aufmachen, das nicht aufgemacht werden sollte. So
sind wir über Jahrzehnte mit dem Lindauer Abkommen
gut gefahren. Deshalb sollten wir diese Fragen politisch
klären. Nach meiner Meinung ist es eine politische Ent-
scheidung. Wenn die Große Koalition – genauso wie
Rot-Grün – die Kinder- und Familienpolitik in den Mit-
telpunkt stellt – ich stehe dahinter; es stimmt auch –,
wenn wir darüber diskutieren, Kinderrechte in das
Grundgesetz aufzunehmen – was gut und richtig ist –,
und wenn wir an vielen Stellen die Kinderrechte stärken
wollen, dann passt es nicht dazu und schadet der Glaub-
würdigkeit aller, die das betreiben, wenn wir uns an ei-
ner Stelle, an der es nichts kostet, querstellen und den
Vorbehalt weiter existieren lassen. Das geht meines Er-
achtens nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Als Menschenrechtspolitiker kommt man viel in der
Welt herum. Wir fordern von vielen Regierungen in Län-
dern, die völlig andere Strukturen haben, zu Recht, sich
an die VN-Konvention zu halten, sie zu unterzeichnen,
zu ratifizieren und zu implementieren. Wenn ich in
China bin und von der chinesischen Regierung zu Recht
fordere, endlich den WSK-Pakt oder den Internationalen
Pakt über bürgerliche und politische Rechte zu unter-
zeichnen und zu ratifizieren, dann fragen mich die chine-
sischen Vertreter kalt lächelnd, was wir mit der UN-Kin-
derrechtskonvention machen. Die Tatsache, dass
Deutschland neben Österreich das einzige Land ist, das
diesen Vorbehalt noch hat, schadet seinem internationa-
len Ansehen und gibt ihm kein gutes Renommee. Daher
sollten wir alles daransetzen, um diesen Vorbehalt end-
lich zu beseitigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich weiß, dass zu den Bundesländern, die sich gegen
eine Beseitigung des Vorbehalts stellen, sozialdemokra-
tisch geführte Bundesländer und Bundesländer mit frei-
demokratischen Innenministern gehören. Wir schreiben
sie an und fordern sie dort auf, wo es uns möglich ist, zu-
zustimmen, damit dieser familienpolitische und interna-
tionale Skandal, den wir in Deutschland zu beklagen ha-
ben, endlich beseitigt wird. Der Vorbehalt muss weg.
Dafür sollten wir gemeinsam in diesem Hause streiten.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608832500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4735 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Zollfahndungsdienstgesetzes und an-
derer Gesetze

– Drucksache 16/4663 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Karl Diller.

K
Karl Diller (SPD):
Rede ID: ID1608832600


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Zoll-
fahndungsdienstgesetzes wurde die Befugnis des Zoll-
kriminalamtes zur präventiven Telekommunikations-
und Postüberwachung im Außenwirtschaftsbereich bis






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Karl Diller
zum 30. Juni dieses Jahres befristet. Bis zum Auslaufen
dieser Frist gilt es also, die Vorgaben des Bundesverfas-
sungsgerichts zum Schutz des Kernbereichs privater
Lebensgestaltung umzusetzen. Die Bundesregierung
hat ein Gesamtkonzept erarbeitet, um die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts zum Schutz des Kernbe-
reichs privater Lebensgestaltung bei allen Maßnahmen,
die Eingriffe in das durch Art. 10 des Grundgesetzes ge-
schützte Fernmeldegeheimnis in Form einer Telekom-
munikationsüberwachung vorsehen, umzusetzen.

Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer Gesetze wird
dieses Gesamtkonzept nun in einem ersten Schritt für
den Bereich der präventiven Telekommunikations- und
Postüberwachung im Außenwirtschaftsbereich umge-
setzt. Ich weise ausdrücklich auf die Bedeutung dieses
Gesetzes hin. Ohne eine fristgerechte Anschlussregelung
entfiele die Befugnis des Zollkriminalamtes zur präven-
tiven Telekommunikations- und Postüberwachung im
Außenwirtschaftsbereich. Zu diesem Zeitpunkt mögli-
cherweise laufende Überwachungsmaßnahmen müssten
dann abgebrochen werden.

Der hier in Rede stehende Bereich ist außenpolitisch
besonders bedeutsam. Die präventive Telekommunika-
tions- und Postüberwachung dient dazu, die unzulässige
Ausfuhr hochsensibler Güter zu verhindern. Die Bun-
desregierung verfolgt eine sehr restriktive Exportkon-
trollpolitik unter anderem mit dem Ziel, der Weiterver-
breitung von Massenvernichtungswaffen wirksam zu
begegnen. Hierzu haben wir uns in vielen internationa-
len Vereinbarungen verpflichtet. Beispielhaft erwähne
ich die jüngste Resolution des Weltsicherheitsrats zum
Iran. Die präventive Telekommunikations- und Post-
überwachung im Außenwirtschaftsbereich dient dazu,
den durch unzulässige Ausfuhren sensibler Güter entste-
henden außenpolitischen Schaden für die Bundesrepu-
blik Deutschland bereits im Vorfeld abzuwenden. Mit
dem Regierungsentwurf werden weitere Regelungen des
Zollfahndungsdienstgesetzes an die sich aus dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohn-
raumüberwachung ergebenden Anforderungen ange-
passt. Beispielhaft sind die Befugnisse zur Durchfüh-
rung von Eigensicherungsmaßnahmen für verdeckte
Ermittler innerhalb von Wohnungen zu erwähnen.

Die im Gesetzentwurf enthaltenen Maßnahmen sehen
im Wesentlichen Folgendes vor: Der Schutz des Kernbe-
reichs privater Lebensgestaltung greift bereits auf der
Anordnungsebene. Es ist unzulässig, Telekommunika-
tionsüberwachung anzuordnen, wenn erkennbar ist, dass
allein Gespräche, die den Kernbereich privater Lebens-
gestaltung betreffen, Gegenstand der Maßnahme sein
werden. Dennoch erlangte Erkenntnisse dürfen nicht
verwertet und müssen unverzüglich gelöscht werden.
Die vorgeschlagene Regelung gewährt in verfassungs-
konformer Weise den Schutz des Kernbereichs privater
Lebensgestaltung und trägt zugleich den Besonderheiten
einer Telekommunikationsüberwachung Rechnung.

Der Schutz von Berufsgeheimnisträgern wird ge-
stärkt. Zielgerichtete Telekommunikationsüberwachungs-
maßnahmen gegen Seelsorger, gegen Verteidiger und auch
gegen Abgeordnete sind grundsätzlich unzulässig.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abgeordnete sind wichtig!)


Ausgenommen hiervon sind lediglich die Fälle, in denen
die genannten Personen selbst an der Vorbereitung einer
in § 23 a Abs. 1 oder 3 des Zollfahndungsdienstgesetzes
genannten Straftat – dies sind Verstöße gegen das Gesetz
über die Kontrolle von Kriegswaffen – beteiligt sind.
Dem Datenschutz dient die Einführung einer Kennzeich-
nungspflicht für Daten, die aus verdeckten Maßnahmen
erlangt werden.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das reicht nicht!)


Dies gewährleistet, dass die Daten ordnungsgemäß und
zweckgebunden genutzt werden.

Der Gesetzentwurf beinhaltet neben den Änderungen
des Zollfahndungsdienstgesetzes auch Änderungen des
Zollverwaltungsgesetzes, des Außenwirtschaftsgesetzes
und des Bundesbesoldungsgesetzes. So werden zum
Beispiel die Befugnisse der Zollverwaltung zur Überwa-
chung des grenzüberschreitenden Bargeldverkehrs zum
Zwecke der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terro-
rismusfinanzierung an die einschlägige EU-Verordnung
angepasst.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf Sie
herzlich bitten, im Ausschuss zielgerichtet zu beraten,
damit wir rechtzeitig vor diesem genannten Termin die-
ses Gesetz in Kraft setzen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damit hätte man eher anfangen können!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608832700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine

Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1608832800

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und

Kollegen! Die bisherige Bilanz zu diesem Gesetzge-
bungsvorhaben ist leider eine eher traurige; denn Aus-
gangspunkt war eine Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts aus dem Jahr 2004, das genaue Vorgaben
gemacht hat, wie die präventive Telekommunikations-
und Postüberwachung durch das Zollkriminalamt
überhaupt geregelt werden könnte. In der damals vorlie-
genden Form war sie verfassungswidrig. Dann ist das
Zollfahndungsdienstgesetz, das angeblich eine solche
Neuregelung enthielt, verabschiedet worden, das – das
haben wir oft hier im Bundestag debattiert – gerade nicht
die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsurteils, und
zwar unter Berücksichtigung des Art. 10 des Grundge-
setzes, ausreichend enthalten hat. Seine Geltungsdauer
war deshalb auch nur befristet. Diese Geltungsdauer ist






(A) (C)



(B) (D)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
aber zu Beginn dieser Legislaturperiode – dies war Ge-
genstand der letzten Debatte, die wir hierzu geführt
haben – bis Juni dieses Jahres verlängert worden. Es
waren schon wieder eineinviertel Jahre vergangen, bis
ein Gesetzentwurf vorgelegt worden ist. Der Zeitrah-
men, in dem der Entwurf behandelt werden soll, ist
ziemlich begrenzt. Bis Mitte Juni dieses Jahres soll ein
verfassungskonformer Zustand hergestellt sein.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
steht in einem Zusammenhang: zum einen mit der am
selben Tag im Jahre 2004 verkündeten Entscheidung
zum Großen Lauschangriff, zum anderen – gerade was
die präventive Telekommunikationsüberwachung angeht –
mit der Entscheidung zum niedersächsischen Polizeige-
setz im Jahre 2005. Auch im Lichte dieser Entscheidun-
gen gilt dennoch bis Mitte dieses Jahres diese Regelung,
die aus unserer Sicht nicht verfassungskonform ist, was
wir immer wieder angemahnt haben.

Wenn man den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf liest,
hat man den Eindruck, dass er vielleicht eine Verbesse-
rung ist. Man macht deutlich: Man will Bedenken, die
geäußert worden sind, aufgreifen. Wir als FDP sind der
Meinung, dass sehr gründlich geprüft werden muss, ob
die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts – ihr Ziel
ist, den Kernbereich privater Lebensgestaltung mit den
Vorgaben für die Telekommunikationsüberwachung,
also nicht nur für das Abhören in Wohnungen, in Ein-
klang zu bringen – in angemessener, richtiger und geeig-
neter Weise umgesetzt werden. Ich möchte beispielhaft
zwei Punkte dieses Gesetzentwurfs herausgreifen, die
nach unserer Auffassung in dieser Form nicht beibehal-
ten werden können – ich kann hier nicht abschließend
auf sämtliche infrage kommende Punkte eingehen –:

Erstens. Die Eigensicherung durch den Einsatz
technischer Mittel außerhalb von Wohnungen soll auch
zur Aufdeckung unbekannter Straftaten möglich sein;
ich beziehe mich auf den neuen § 22 dieses Gesetzent-
wurfs. Man lehnt sich damit an eine entsprechende Re-
gelung in der Abgabenordnung zur Erforschung unbe-
kannter steuerlicher Sachverhalte an. Ich will nur
andeuten, dass schon das Ziehen dieser Parallele etwas
abwegig ist. In der Begründung heißt es ausdrücklich,
dass man Initiativermittlungen ohne Anfangsverdacht
wolle. Allerdings besagt sogar die Abgabenordnung,
dass zumindest abstrakte Anhaltspunkte dafür vorliegen
müssen, dass es sich überhaupt um ein entsprechendes
Verhalten, um einen entsprechenden Tatbestand handelt.
Wenn man eine Parallele zur Abgabenordnung zieht,
dann sollte man erkennen, dass allein schon diese Vorga-
ben in diesem Gesetzentwurf nicht eingehalten worden
sind.

Herr Staatssekretär, Sie haben hier die Regelung zum
Schutz von Berufsgeheimnisträgern ausgeführt. Ge-
rade der unterschiedliche Schutz von Berufsgeheimnis-
trägern – sie werden hier in zwei Gruppen aufgeteilt – ist
in dieser Form nicht gerechtfertigt. In meinen Augen
entspricht diese Regelung mit dieser Begründung und
dieser Aufteilung nicht den Vorgaben des Bundesverfas-
sungsgerichts. Ich denke dabei insbesondere an das Ur-
teil zur akustischen Wohnraumüberwachung.
Gerade in der Begründung dieser Bestimmungen in
diesem Paragrafen wird auf die Entscheidung zum nie-
dersächsischen Polizeigesetz Bezug genommen: Es lasse
sich nach der Erfahrung bei der Telekommunikations-
überwachung nicht ausschließen, dass kernbereichsrele-
vante Inhalte, also auch solche Gespräche, die der
Staat – auch nach Abwägung – nicht abhören darf, er-
fasst werden. Es wird aber nicht ausgeführt, dass das
Bundesverfassungsgericht festgestellt hat: Nur in Aus-
nahmefällen, nur dann, wenn konkrete Anhaltspunkte
wirklich einen Bezug auf die unmittelbar bevorstehende
Begehung einer Straftat nahelegen, ist diese Form der
Erfassung von Telekommunikationsinhalten zulässig.
Wir haben im Rechtsausschuss bereits beschlossen, eine
Anhörung durchzuführen. Es gibt mehr als genug
Gründe, um sich mit diesem Stoff zu befassen.

Eine letzte Bemerkung. Der Rechtsausschuss kann
dem, was der Bundesrat zur Nichtlöschung von beweis-
relevantem Material zum Teil ausführt, nicht zustimmen.
Ein einziger Blick in die Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts zeigt nämlich, dass es den im Bun-
desverfassungsgerichtsurteil gemachten Vorgaben ekla-
tant widerspricht. Wir wollen eine rechtsstaatlich
einwandfreie Regelung; dem haben wir uns nie ver-
wehrt. Hier haben wir noch ausreichend Beratungsbe-
darf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608832900

Der Kollege Siegfried Kauder, CDU/CSU, hat seine

Rede zu Protokoll gegeben.1)

Deswegen ist der nächste Redner Hans-Christian
Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Wir müssen hierüber diskutieren, weil die FDP das
gesprochene Wort haben wollte; das kann sie haben.

Das ist jetzt der dritte Versuch, ein verfassungsge-
mäßes Zollfahndungsdienstgesetz auf den Weg zu brin-
gen.


(Joachim Stünker [SPD]: Nein, nein, nein!)


– Doch, der dritte Versuch. – Beim zweiten Versuch wa-
ren wir dabei. Danach, bei dem halben Versuch im
Dezember 2005, waren wir schon nicht mehr dabei. Jetzt
sind wir jedenfalls so auch nicht dabei, obwohl wir
einsehen – das haben wir immer gesagt; wir halten das
für richtig und notwendig –, dass der Zoll damit zu be-
auftragen ist, zu verhindern, dass von deutschen Firmen
etwa Teile ins Ausland geliefert werden, aus denen man
Giftgasfabriken oder Ähnliches herstellen kann. Das ist
nicht reine Fantasie, sondern das war Realität, beispiels-
weise in Libyen in den 80er-Jahren. Ähnliche, vielleicht

1) Anlage 2






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Christian Ströbele
nicht ganz so bekannte und dramatische Beispiele gibt es
auch aus der Zeit danach. Wir sind uns einig: Das darf
nicht sein. Da muss man in Deutschland rechtzeitig Vor-
sorge treffen, und zwar nicht in erster Linie deshalb, weil
sonst der Ruf der Bundesrepublik Deutschland im Aus-
land beschädigt werden könnte – das ist ein Nebenaspekt –,
sondern weil es völlig unerträglich ist, wenn wir nicht al-
les tun, um zu verhindern, dass Menschen in anderen
Ländern gefährdet werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nun haben Sie einen neuen Entwurf vorgelegt. Herr
Kollege Stünker, ich darf Sie an all die Diskussionen er-
innern, die wir geführt haben. Sie hätten sich diesen
neuen Gesetzentwurf ersparen können – das muss man
hier einmal ganz klar sagen –, wenn Sie damals auf uns
gehört hätten.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Wir haben damals nach langem Hin und Her ein Gesetz
verabschiedet, das wirklich sehr viel besser ist als das,
was vorher da war, vor allen Dingen sehr viel schlanker
und ein bisschen verständlicher, wenn auch nicht voll
verständlich. Das war ein großer Fortschritt. Wir waren
auch stolz darauf, dass wir das geschafft haben. Aber
was fehlte, war eine ausreichende datenschutzrechtli-
che Regelung.

Wir haben eine solche Regelung immer angemahnt.
Wir haben gesagt: Gerade der Kernbereich privater Le-
bensführung muss tabu sein. Uns wurde dann immer ent-
gegengehalten: Wenn die vom Zoll losgehen, dann wol-
len die sowieso nicht in Wohnzimmer oder in
Schlafzimmer, sondern in Fabriken; deshalb ist da der
Schutz nicht notwendig. – Das haben wir schon damals
nicht eingesehen. Wir haben dem Gesetz dann aber zu-
gestimmt, um keine Schutzlücke entstehen zu lassen.
Wir waren uns darüber einig, dass da nachgebessert wer-
den muss, um eine bessere allgemeine datenschutzrecht-
liche Regelung für die Telekommunikationsüberwa-
chung zu erlangen.

Was Sie jetzt vorgelegt haben, ist aus mehreren Grün-
den nicht ausreichend:

Erstens fehlt – das haben wir immer wieder ange-
mahnt – das Zahlenmaterial darüber, welche Erfahrun-
gen mit dem Gesetz in der letzten Fassung eigentlich ge-
macht worden sind. Sie sind verpflichtet, das bis zum
Jahr 2008 vorzulegen. Das könnten Sie jetzt vorlegen.

Die datenschutzrechtlichen Regelungen, die Sie hier
vorsehen, werden durch eine massive Ausweitung der
Überwachung der Bürgerinnen und Bürger bzw. der
Möglichkeiten dazu eigentlich völlig aufgehoben. Sie
wollen jetzt nicht nur den Großen Lauschangriff einfüh-
ren, sondern auch den großen Guckangriff. Es steht im
Entwurf: In Zukunft soll es möglich sein, heimlich nicht
nur abzuhören, sondern auch in Wohnungen, in Ge-
schäftsräume, in Büros usw. zu sehen, das aufzunehmen
und festzuhalten. Das ist ein riesiger Schritt. Dazu hat
sich das Bundesverfassungsgericht noch gar nicht ver-
halten können, weil es so etwas in anderen Bereichen
bisher noch gar nicht gibt.
Auf einen zweiten erheblichen Mangel ist bereits hin-
gewiesen worden. Im Gesetz steht: Geschützt werden
sollen die Zollfahnder, die unterwegs sind, wenn sie in
erhebliche Lebensgefahr oder so etwas kommen. Aber
Sie schränken überhaupt nicht ein, wann denn dann ab-
gehört oder geguckt werden darf, ob das schon Wochen
vorher, einen Tag vorher, danach noch oder nur dann,
wenn die Zollfahnder in den jeweiligen Räumen sind,
möglich sein soll. Uns reicht das nicht aus.

Wir wollen mit Ihnen darüber diskutieren. Wir wollen
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in vollem Um-
fang umsetzen. Deshalb muss im Kernbereich mehr ge-
tan werden. Deshalb muss vor allen Dingen für die
Berufsgeheimnisträger viel mehr gemacht werden. Es
ist überhaupt nicht einsichtig, warum Verteidiger ge-
schützt sind, aber Rechtsanwälte weniger und Journalis-
ten noch weniger. Dafür gibt es keine ausreichende sach-
liche Begründung.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608833000

Herr Kollege Ströbele!


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das machen wir nicht mit. Wir sind aber bereit, bei
der Novellierung dieses Gesetzes mitzuwirken, weil
auch uns der Schutz der Bevölkerung in anderen Län-
dern, möglicherweise auch im eigenen Land, vor den
Folgen unerlaubter Exporte –


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608833100

Herr Kollege Ströbele! Ich erinnere Sie jetzt an Ihre

Zeit.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind schon am Ende!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– von Waffenfabriken genauso wichtig ist wie Ihnen
allen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608833200

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker,

SPD-Fraktion.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1608833300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zwei Anmerkungen, Frau Kollegin Leutheusser-
Schnarrenberger: Erstens. Die erste Verfassungswidrig-
keit, die wir zu beheben hatten, betraf ein Gesetz, das zu
Ihrer Amtszeit erlassen wurde. Zweitens. Machen Sie
Ihre Ausführungen zur Verfassungsgemäßheit im Zu-
sammenhang mit Bürgerrechten bitte auch in Nieder-
sachsen und Nordrhein-Westfalen, wo Ihre Kolleginnen
und Kollegen an den Landesregierungen beteiligt sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Joachim Stünker
Am 15. Dezember 2005 habe ich hier in diesem Ho-
hen Hause das Versprechen abgegeben, dass wir binnen
18 Monaten eine verfassungskonforme Regelung im
Bundesgesetzblatt stehen haben werden. Wir legen Ih-
nen daher heute den Entwurf vor, mit dem wir die Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juli
2005 umsetzen wollen. Wir folgen damit dem Gebot des
Gerichtes, dass auch bei Telekommunikationsüberwa-
chungsmaßnahmen Regelungen zum Schutz des Kern-
bereiches der privaten Lebensgestaltung erforderlich
sind, Herr Kollege Ströbele.

Als Neuregelung haben wir folgenden Satz vorge-
sehen: Abhörmaßnahmen

sind unzulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte
für die Annahme vorliegen, dass durch sie allein
Kommunikationsinhalte aus dem Kernbereich pri-
vater Lebensgestaltung erlangt würden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hätten wir vor zwei Jahren schon machen können!)


– Genauso ist das. – Ich bin ganz sicher, über das Wört-
chen „allein“, Herr Kollege Ströbele, werden wir lange
in der Sachverständigenanhörung und bei den Beratun-
gen im Ausschuss diskutieren. Wir haben bereits den
Termin für die Anhörung festgelegt: Sie findet am
25. April statt. Ich freue mich mit Ihnen allen auf eine
zügige Beratung.

Schönen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608833400

Der Kollege Wolfgang Nešković, Fraktion Die Linke,

hat seine Rede ebenfalls zu Protokoll gegeben.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/4663 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Bodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestal-
ten – Subsidiarität sichern, Verhältnismäßig-
keit wahren

– Drucksache 16/4736 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

1) Anlage 2
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Angelika Brunkhorst, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Angelika Brunkhorst (FDP):
Rede ID: ID1608833500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um

meinem Unverständnis hier gleich vorab Luft zu ma-
chen: Es ist mir wirklich schleierhaft, warum sich nur
meine Fraktion, die FDP, hier aktiv mit der Boden-
schutzrichtlinie auseinandersetzt. Alle anderen Fraktio-
nen sind ja scheinbar abgetaucht.


(Beifall bei der FDP – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wer schreibt, der bleibt! – Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]: Das ist Quatsch!)


Weder die Bundesregierung noch die Koalitionsfraktio-
nen haben sich bisher dazu schriftlich oder auf andere
Weise irgendwie öffentlich geäußert. Ich denke, es
scheint Ihnen ein wenig gleichgültig zu sein.


(Zuruf von der CDU/CSU: Keine voreiligen Schlüsse!)


Man muss sehen: Sie tragen mit dazu bei, dass die euro-
päische Richtlinie jetzt überreguliert wird. Das wird uns
irgendwann noch einmal auf die Füße fallen.


(Beifall bei der FDP)


In der Orientierungsdebatte des Europäischen Rates
am 20. Februar konnte sich die Bundesregierung nicht
zur Sache äußern, da sie ja derzeit den Ratsvorsitz inne-
hat. Alle anderen Mitgliedstaaten haben sich aber mehr-
heitlich für rechtsverbindliche Vorgaben zum Boden-
schutz unter Wahrung von Subsidiarität und
Verhältnismäßigkeit ausgesprochen. Es ist sehr schade,
dass es im Umweltausschuss des Deutschen Bundesta-
ges, obwohl wir zunächst auf einem guten Wege waren,
nicht möglich war, einen interfraktionellen Entschlie-
ßungsantrag zum Richtlinienentwurf auf den Weg zu
bringen. Genau das hätte der europäische Bodenschutz
gebraucht.


(Beifall bei der FDP)


Es ist bekannt – das ist ja kein Geheimnis –, dass der
vorliegende Antragstext von den Kollegen Petzold und
Müller auf den Weg gebracht wurde. Sie müssen jetzt
dieses Desaster miterleben. Mein herzliches Beileid,
liebe Kollegen!

Insbesondere die Bedenken des Bundesrates sind in
den Antrag mit eingeflossen, vor allem – das richte ich
besonders an die Kollegen von der CSU – die Bedenken
des Freistaats Bayern.


(Michael Kauch [FDP]: Hört! Hört!)


Ich weiß nicht, warum dieser Antrag nun am Veto der
CSU scheitert; ich bin völlig irritiert.






(A) (C)



(B) (D)


Angelika Brunkhorst

(Beifall bei der FDP – Markus Löning [FDP]: Die CSU versteht man sowieso nicht!)


– Ich weiß auch nicht, was in Bayern los ist.

Der Umweltausschuss hat dieses EU-Dokument nur
zur Kenntnis genommen. Das heißt, dass das Thema von
der Tagesordnung verschwunden ist. Wir haben damit
eine wichtige Gelegenheit verpasst, mitzubestimmen,
wie diese EU-Richtlinie ausgestaltet wird. Mit diesem
Versäumnis lassen wir auch die Unternehmen, die auf
Wettbewerbsgleichheit hoffen, im Prinzip im Stich.

Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag
der Liberalen ist Ihre letzte Chance, die Bundesregie-
rung aufzufordern, im Sinne der deutschen Interessen
beim europäischen Bodenschutz aktiv zu werden. Ich
hoffe sehr, Sie sind sich Ihrer Verantwortung bewusst.

Wir haben in Deutschland einen sehr hohen Standard
im vor- und nachsorgenden Bodenschutz. Es ist nicht er-
forderlich, dass die auf EU-Ebene geplanten Regelungen
über die in Deutschland vorhandenen Vorleistungen hi-
nausgehen.

Der geforderte integrative Ansatz, wie er in Art. 3 der
EU-Richtlinie verlangt wird, wird in Deutschland durch
nationales und auch durch EU-Recht schon heute prakti-
ziert. Weitere europäische Vorgaben sollten auf das not-
wendige Mindestmaß beschränkt werden.

Insbesondere – das wurde auch vom Bundesrat, ins-
besondere von Bayern, betont – ist uns wichtig, dass die
Subsidiarität und der Erhalt des in Deutschland erreich-
ten Bodenschutzstandards gewahrt bleiben.


(Beifall bei der FDP)


Wir meinen, dass die Standards und Berichtspflichten so
ausgestaltet werden sollen, dass zum Beispiel aus-
schließlich Tätigkeiten, nicht aber pauschal Anlagenty-
pen berichtspflichtig werden. Denn sonst würde das über
das hinausgehen, was sinnvoll ist.

Wichtiger Maßstab sollten in Zukunft einzig und al-
lein die zu erzielenden Erfolge beim Zustand der Böden
sein. Gerade im Hinblick auf die östlichen und südlichen
Länder der Europäischen Union ist die Verbesserung der
Bodenpolitik insgesamt wünschenswert. Hier kann die
Bundesregierung auf Basis der in Deutschland gewonne-
nen Erfahrungen konstruktiv auf den weiteren Verhand-
lungsprozess und den Gesetzgebungsprozess Einfluss
nehmen. Dazu fordern wir Sie mit unserem Antrag heute
auf. Unsere Vorschläge – ich kann es nicht oft genug
wiederholen – entsprechen dabei dem Beschluss des
Bundesrates; das ist nahezu identisch.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beklagen uns
als Parlamentarier oft genug darüber, dass wir auf die
EU-Vorlagen mitunter nur noch reagieren können und
dass wir hinterhergaloppieren. Diesmal hätten wir wirk-
lich agieren und aktiv Einfluss nehmen können. Wir ha-
ben diese Chance wahrscheinlich verpasst. Ich appelliere
an Ihre Verantwortung, sich den Aufgaben des Boden-
schutzes in Europa zu stellen und die Verpflichtung ge-
genüber den betroffenen Unternehmen und Betrieben
wahrzunehmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608833600

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1608833700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Liebe Frau Brunkhorst, es ist jetzt 21.38 Uhr, und
wir debattieren über das Thema. Von Gleichgültigkeit
kann also keine Rede sein.

Es geht hier aus unserer Sicht vielleicht gar nicht
schwerpunktmäßig um die Frage des Bodenschutzes,
sondern um ein sehr viel wichtigeres Thema, nämlich
die Zuständigkeit der Europäischen Union. Die Poli-
tik der Europäischen Union leidet in besorgniserregen-
der Weise unter einem Demokratiedefizit und einer fak-
tischen Aufhebung der Gewaltenteilung. Das sage nicht
ich, sondern das sagt kein Geringerer als der ehemalige
Bundespräsident Roman Herzog. Ich meine, er hat damit
recht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie ist ein Nährbo-
den für ebendiese Analyse, für ebendiesen Eindruck. Es
ist bodenlos, wenn 84 Prozent unserer Rechtsakte im
Zeitraum von 1998 bis 2004 substanziell aus Brüssel
stammen. Es ist bodenlos, wenn wir der parlamentari-
schen Demokratie mehr und mehr den Boden entziehen.
Die Bodenschutzrahmenrichtlinie ist ein Musterbeispiel
und bester Beleg dafür, dass Roman Herzog recht hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist doch unstrittig, dass die EU jedenfalls nicht
ausschließlich zuständig ist. Jetzt ist die Frage: Ist die
Europäische Union überhaupt zuständig? Wenn sie nicht
ausschließlich zuständig ist, dann gilt das Subsidiari-
tätsprinzip: Die Gemeinschaft wird nur tätig, sofern die
Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der
Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht
werden können. Die Bundesrepublik Deutschland – da
geben Sie mir hoffentlich recht – hat doch gezeigt, dass
wir das Thema Bodenschutz selber in nationaler Zustän-
digkeit – und zwar vorbildlich – regeln können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das, meine ich, sollte unstrittig sein. Deshalb ist die Eu-
ropäische Union an der Stelle nicht zuständig; da kann
man Anträge formulieren, soviel man will.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Endlich, dass das mal einer anspricht! – Zuruf von der FDP)


– Aber Ignoranz vonseiten der Europäischen Union,
nicht von uns; denn sie sagt, sie sei für Dinge zuständig,
für die sie faktisch nicht zuständig ist.

Man muss sich einmal fragen, wo an dieser Stelle das
Einfallstor für die Europäische Union ist. Als die De-
batte losging, habe ich scherzhaft gesagt: Wahrschein-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Georg Nüßlein
lich wird eine grenzüberschreitende Bodenerosion
behauptet. Da haben alle gelacht. Als ich das entspre-
chende Dokument aufgeschlagen habe, habe ich nicht
gelacht; denn genau das wird darin behauptet: Es gebe
eine grenzüberschreitende Bodenerosion durch Flüsse.
Das ist vollständig lächerlich.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Bodenlos!)


Wo ist denn das Realität, wo spielt denn das eine Rolle?
Nirgends, meine Damen und Herren! Offensichtlich ha-
ben auch die Kollegen auf der europäischen Ebene, die
das geschrieben haben, gemerkt, dass das hanebüchen
ist. Daher haben sie dann natürlich das angehängt, was
immer das generelle Einfallstor für die Europäische
Union ist, nämlich das Thema Binnenmarkt und Wettbe-
werbsverzerrungen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Damit können sie letztendlich jede Kompetenz, die sie
von der nationalen Seite holen wollen, an sich ziehen.
An dieser Stelle sollte man aber bitte nicht ansetzen; da
gibt es ganz andere, besser geeignete Baustellen, zum
Beispiel im Bereich des Steuerrechts und im Bereich des
Sozialrechts.

Jedenfalls bin ich der Meinung, dass man den Boden-
schutz subsidiär in nationaler Zuständigkeit und indivi-
duell regeln kann. Es macht einen Unterschied, ob es um
Boden in Spanien oder um Boden bei uns geht. Auch das
sollten wir an dieser Stelle einmal sagen.

Ihrem Antrag – in dem viel Gutes steht, nämlich das,
was Sie vom Bundesrat und von der bayerischen Seite
abgeschrieben haben – kann man unter dem Strich des-
halb nicht zustimmen, weil darin steht, die Subsidiarität
sei gewahrt, wenn man eine solche Rahmenrichtlinie be-
schließt, und weil der Brüsseler Allmachtsanspruch da-
rin ausdrücklich begrüßt wird.

Wir müssen uns aber natürlich auch überlegen, was
nun passieren wird und wie es jetzt weitergeht. Der Ein-
fluss des Parlaments wird nicht so sein, wie er an der
Stelle sein müsste. Wir werden erleben, dass sich die
Fachminister einig sind und dass sie auf die Gewaltentei-
lung, auf die parlamentarische Demokratie und auf die
Subsidiarität schlichtweg pfeifen werden. Wir werden
auch erleben, dass es eine Illusion ist, zu glauben, wir
könnten den deutschen Standard vorgeben und sagen:
Über das hinaus, was wir schon haben, darf nichts ge-
schehen. – Wir werden erleben, dass es eine Illusion ist,
zu glauben, dass die EU nicht über das Ziel hinaus-
schießt.

Betroffen werden am Ende die Landnutzer sein, die
Land- und Forstwirtschaft, diejenigen, bei denen ein Ei-
geninteresse des Eigentümers vorliegt und bei denen
man auf Eigenverantwortung setzen kann – zu Recht,
wie ich meine.


(Zuruf des Abg. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU])


G
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1608833800
Wir werden wieder einmal Bürokratie statt Ei-
genverantwortung als neue Perspektive erleben. Die
Bürgerinnen und Bürger in diesem Land spüren das ganz
genau. Deshalb geht die Akzeptanz der Europäischen
Union auch permanent zurück. Bevor jemand schreit, ich
sei ein Europagegner – das versucht man ja, der CSU all-
enthalben in die Schuhe zu schieben –, sage ich: Nein,
ganz im Gegenteil, wir sind glühende Verehrer des euro-
päischen Gedankens. Aber wir erleben in den letzten
Jahren, dass das Pferd Europa, das uns zu Frieden und
Wohlstand getragen hat, von den Brüsseler Bürokraten
nach und nach zu Tode geritten wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Brand [CDU/CSU]: Gut, dass das einer anspricht! – Angelika Brunkhorst [FDP]: Aber eine bayerische Bundespolitik wollen wir dann auch nicht!)


– Eine bayerische Bundespolitik wollen Sie nicht, weil
dann die FDP keine Rolle spielen würde;


(Angelika Brunkhorst [FDP]: Doch, zunehmend!)


das ist mir schon klar. Denn dann hätten wir auch hier
natürlich eine klare Mehrheit.

Wir wollen ein Europa der Bürger, ein Europa der
Nationalstaaten und der Parlamente. Ich kann an die
Kolleginnen und Kollegen Umweltpolitiker nur appel-
lieren: Lassen Sie sich nicht vom Charme europäischer
Umweltpolitik blenden! Wenn die EU auch noch beim
Thema Bodenschutz, bei einem Thema, das keinerlei
grenzüberschreitende Bedeutung hat – außer einer, die
an den Haaren herbeigezogen ist –, an Boden gewinnt,
dann können wir in der Konsequenz die komplette Um-
weltpolitik sofort nach Brüssel abgeben und brauchen uns
jedenfalls mit diesem Thema nicht mehr zu beschäftigen.
Wir können dann Voten abgeben, die lauten: Kenntnis-
nahme und Übernahme. Das wäre die Konsequenz dessen.
Ich kann an dieser Stelle, wenn wir, wie Sie vorhin
gesagt haben, im Boot bleiben wollen, nur eines tun,

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1608833900
Die
Europäische Union ist nicht zuständig. Das ist und bleibt
ein nationales Thema.

Ich kann an die Kolleginnen und Kollegen hier im
Deutschen Bundestag nur appellieren: Hier geht es doch
nicht um irgendein umweltpolitisches Randthema. Hier
geht es doch um unser Selbstverständnis im Deutschen
Bundestag,


(Beifall bei der CDU/CSU)


darum, dass uns, so wie es das Bundesverfassungsgericht
im Maastrichturteil formuliert, letztendlich substanzielle
Rechtssetzungskompetenz verbleiben muss. Das ist
doch unser Anspruch. Da geht es doch an erster Stelle
um uns und darum, dass wir das tun, was die Bürgerinnen
und Bürger von uns verlangen, wofür wir uns letztendlich
parlamentarisch-demokratisch verantworten müssen.

Ich meine, es geht nicht allein um den Bodenschutz.
Es geht um den Boden unserer Demokratie und um den
Boden des Deutschen Bundestages. Den würde ich mir
ganz ungern einfach von der EU entziehen lassen.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Georg Nüßlein
Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Brand [CDU/CSU]: Das war bodenständig!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608834000

Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva Bulling-

Schröter, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1608834100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Bodenschutzstrategie und der Entwurf der Rahmen-
richtlinie werden nicht nur von der FDP kritisiert. Auch die
Umweltverbände sind unzufrieden, allerdings auf andere
Weise. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen
verrate, wessen Kritik wir im Wesentlichen teilen.

Das Europäische Umweltbüro stellt fest, dass die
Rahmenrichtlinie kaum konkrete Ziele oder einheitliche
Qualitätsstandards festschreibt. Auch wir meinen, durch
ihre Unbestimmtheit wird das Tor für Ausweichmanöver
jener Mitgliedstaaten geöffnet, die momentan wenig
Interesse an einem EU-koordinierten Bodenschutz
zeigen, beispielsweise Großbritannien oder auch Öster-
reich. Wien will nicht einmal Risikogebiete ausweisen,
weil dies den Bodenwert negativ beeinflussen könne und
damit ein Eingriff in das Eigentum sei. Das befürchtet
offensichtlich auch die FDP. Sie will ja mit ihrem Antrag
die Richtlinie auch in diesem Punkt verwässern.

Die Linke begrüßt dagegen ein europäisches Gesetz
für den Bodenschutz.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist doch bodenlos!)


Denn bisher werden die Böden in der EU nur lückenhaft
und indirekt über EU-Rechtsakte mit anderen Grundzielen
geschützt.

Es stimmt, Deutschland hat mit der Verabschiedung des
Bundes-Bodenschutzgesetzes für dieses Umweltmedium
bereits einen Rechtsrahmen geschaffen; da stimmen wir
der FDP zu. Die Liberalen übersehen jedoch, dass die
Richtlinie nicht für Deutschland, sondern für alle Mit-
gliedsländer gemacht wird. Manche davon haben hier
größere Defizite. Das spricht unserer Ansicht nach für
eine europäische Gesetzgebung. Wir wollen eine mit Biss.

Zudem ist auch der deutsche Bodenschutz nicht der
Gipfel der Nachhaltigkeit. Zwar haben wir auf dem Gebiet
der Altlastenerfassung und -sanierung einige Fortschritte
gemacht. Allerdings sind die meisten davon im Osten
erzielt worden. Die neuen Grundstückseigentümer wurden
nach der Wende ja nur dann von der Treuhand von der
Sanierung der Altlasten befreit, wenn diese zuvor in einer
bestimmten Frist ermittelt wurden. Das hatte eine hektische
Altlastensuche großen Umfangs zur Folge. Schließlich
hat der Staat ja allen Investoren und auch Spekulanten
die Sanierung bezahlt.
Im Westen – machen wir uns nichts vor – liegen noch
jede Menge unentdeckter Altlasten in den Böden, von
denen wir noch gar nichts oder nur wenig wissen. Bei
der Sanierung wird im Bundes-Bodenschutzgesetz das
jeweilige Sanierungsziel abhängig gemacht von der jeweils
nachfolgenden Nutzung. Wir haben das damals schon
kritisiert. Dieses Vorgehen hat nur wenig mit vorsorgendem
Bodenschutz zu tun. Denn so wird der Boden nur als
Wirtschaftsgut und nicht in seiner Funktion als Lebens-
raum und Wasserspeicher begriffen.

Die neue Bodenschutzstrategie könnte also auch
Deutschland auf die Sprünge helfen. Leider sind die viel-
fach unpräzisen Formulierungen des Richtlinienentwurfs
da wenig hilfreich. Bleibt es dabei, dann wird tatsächlich
nur jene Bürokratie erzeugt, die die FDP befürchtet.

Noch zum Schluss. Wir hatten im Umweltausschuss
eine Diskussion über eine Veränderung beim Boden-
schutzgesetz. Die Linke hatte das beantragt. Es ging um
den Standort Schonungen bei Schweinfurt.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Von Altlasten verstehen Sie ja was!)


Dort wurden Menschen ins Elend getrieben und mussten
für Dinge bezahlen, die sie nicht verursacht hatten. Es
ging um Arsen, um tausendfach höhere Werte als erlaubt.
Damit so etwas nie mehr passiert und damit die Menschen
gesund leben können, brauchen wir eine gute Boden-
schutzrahmenrichtlinie. Das ist dringend notwendig. Ich
appelliere an Sie: Da muss wirklich etwas passieren, damit
sich so etwas wie in Schonungen an anderen Altlasten-
standorten nie mehr wiederholen kann.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608834200

Das Wort hat der Kollege Detlef Müller von der SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Detlef Müller (SPD):
Rede ID: ID1608834300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Brunkhorst, ich muss und ich will Ihnen
ein Kompliment aussprechen: Sie haben die gute Qualität
des ursprünglichen Entschließungsantrages der Koalitions-
fraktionen nicht nur erkannt. Nein, Sie haben den Antrag
sogar noch konstruktiv weiterentwickelt. Sie, verehrte
Kollegen der FDP, haben im Vergleich zur ursprünglichen
Fassung unter anderem die Zeile „fordert der Ausschuss
auf“ durch die Zeile „fordert der Deutsche Bundestag
auf“ ausgetauscht. Für diese inhaltliche Mitarbeit haben
Sie Respekt verdient.

Nein, Spaß beiseite, es soll nur gezeigt werden, worum
es Ihnen wirklich geht: nicht um die wichtige Sache
Bodenschutz an sich, sondern nur um Populismus und
die Vorführung der Koalitionsfraktionen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Iris Gleicke [SPD]: So hat sich das angehört!)







(A) (C)



(B) (D)


Detlef Müller (Chemnitz)

Sie haben sich gar nicht erst an die Arbeit gemacht,
konstruktiv an unserem Antrag mitzuarbeiten. Da hilft
Ihnen im Übrigen auch Ihre eigene Pressemitteilung
vom 7. März nicht unbedingt weiter, wenn Sie da aus-
führen – ich zitiere –:

… dass sich Rot, Schwarz und Gelb nach intensiven
Vorgesprächen in dieser Problematik einig waren.

Wann war denn Gelb eigentlich dabei? Sie haben im Forde-
rungsteil unseren Antrag eins zu eins übernommen, kurz
gesagt: abgeschrieben. Sie haben dafür aber im Feststel-
lungsteil unterschiedlichste Positionen der Koalition, der
Agrarlobby und des Bundesrates zusammengetragen und
den eigentlichen Zielansatz vollkommen verkleistert. Sie
benutzen den Antrag heute nur als Werkzeug, um einen
Keil zwischen die Koalitionsfraktionen zu treiben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Christoph Strässer [SPD]: Das geht aber nicht! Wir stehen wie eine Eins!)


Ich muss zugeben, dass es wegen des Entschließungs-
antrages Differenzen zwischen den Umwelt-Arbeits-
gruppen der SPD und der Union gab, vor allem deshalb,
weil Herr Petzold und ich lange konstruktiv über diesen
Antrag beraten haben


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)


und uns nach wochenlangen Verhandlungen endlich am
Ziel wähnten. Leider hat die Union dann kurz vor der
Ausschusssitzung ihre Zustimmung zurückgezogen.
Dadurch wurde die Chance verpasst, schon im Vorfeld
der Beratungen in Brüssel eine Stellungnahme des
Deutschen Bundestages abzugeben. Das war und das ist
bedauerlich.

Unser Boden erfüllt eine ganze Reihe lebenswichtiger
Funktionen für Mensch und Umwelt. Er ist Lebensraum
an sich und dient zur Erzeugung von Lebensmitteln, ist
Teil der Landschaft und des kulturellen Erbes und nicht
zuletzt auch Rohstofflieferant. Er erfüllt damit unverzicht-
bare ökologische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Funktionen und soll somit auch als Lebensgrundlage für
künftige Generationen dienen.

Etwas ganz Wichtiges muss in diesem Zusammenhang
noch einmal gesagt werden: Weil der Boden eben keine
erneuerbare Ressource darstellt, kommt seinem Schutz
eine herausragende Bedeutung zu. Wenn es auch manch-
mal auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist, können
Verschlechterungen der Bodenqualität gravierende Aus-
wirkungen auf andere Bereiche wie Wasser, Gesundheit,
Klimawandel, Naturschutz oder unsere Artenvielfalt haben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es steht außer Frage, dass die Böden in Europa einer
vielfachen Beanspruchung und Belastung ausgesetzt
sind. Aus Sicht der Europäischen Kommission gilt es
deshalb, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die
Böden vor Überlastung zu schützen, insbesondere weil
in letzter Zeit viele ost- und südosteuropäische Länder
Mitgliedstaaten der Europäischen Union geworden sind,
die sich noch mit den Hinterlassenschaften aus vergan-
genen Zeiten herumschlagen müssen. Außerdem sind
zunehmend auch in Europa Überschwemmungen, Erd-
rutsche und Versteppungen zu beobachten, die ernste
Hinweise auf negative Veränderungen darstellen.

Die Europäische Kommission verfolgt mit ihrem
Vorschlag für eine europäische Bodenschutzrichtlinie
hauptsächlich das Ziel, dass es zu einer Harmonisierung
des europäischen Bodenrechtes kommt. Der Vorschlag
der Kommission hat in den meisten Mitgliedstaaten
grundsätzliche Zustimmung erfahren: Für viele Mit-
gliedstaaten ist es nachvollziehbar, dass der Bodenschutz
einer europäischen Regelung bedarf; daher unterstützt
auch die Bundesregierung grundsätzlich den Richtlinien-
vorschlag.

Allerdings formierte sich im Bundesrat, hier vor allem
im Agrarausschuss, erheblicher Widerstand gegen den
Entwurf der Kommission. Der Bundesrat argumentierte,
diese Richtlinie sei überflüssig, da in Deutschland im
Bereich des Bodenschutzes in Gesetzgebung und Praxis
bereits seit Jahren ein hoher Standard existiere. In der
Tat gibt es in Deutschland bereits nationale und regionale
Bodenschutzkonzepte. So haben die Bundesländer eigene
Bodenschutzgesetze. Der Bund hat seit 1998 ein eigenes
Bodenschutzrecht. Nach Auffassung des Bundesrates
rechtfertigt das Argument, dass einzelne Mitgliedstaaten
noch kein entsprechend hohes Schutzniveau vorweisen
können, nicht das Harmonisierungsbestreben der Kom-
mission. Der Bundesrat lehnte die von der Kommission
beabsichtigten Regelungen auch aus Furcht vor einem
Mehr an Bürokratie ab.

Zwar muss man die Einwände des Bundesrates ernst
nehmen – die Kritik am ersten Entwurf war zum Teil
gerechtfertigt –, aber man muss auch festhalten, dass
sich der Richtlinienvorschlag der Kommission dafür
ausspricht, bereits bestehende, bewährte nationale oder
regionale Bodenschutzkonzepte und gesetzliche Rege-
lungen nicht infrage zu stellen sowie den Spielraum der
Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Bodenschutz-
politik zu wahren. Die Richtlinie steht eben nicht im
Gegensatz zum deutschen Bodenschutzrecht und sieht
auch keine Verschärfung vor. Im Gegenteil: Das deutsche
Bodenschutzrecht könnte vielmehr als Grundlage für
nationale Bestrebungen im Bereich des Bodenschutz-
rechtes anderer Mitgliedstaaten dienen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sollten Sie sich das mal auf die Fahne schreiben!)


Das Bundesumweltministerium und die Koalitions-
fraktionen im Bundestag haben nach mehreren Verhand-
lungsrunden die Änderungswünsche des Bundesrates
akzeptiert; zum Teil wurde sogar eine Verschärfung der
Bundesratsempfehlungen vorgenommen, zum Beispiel im
Bereich des Bergbaurechtes. Weil wir als Berichterstatter
der Koalitionsfraktionen die Kritik des Bundesrates ernst
genommen und die Änderungswünsche aufgegriffen ha-
ben, spricht nach meiner Ansicht, Herr Dr. Nüßlein,
nichts für eine generelle Ablehnung der Bodenschutz-
strategie.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Detlef Müller (Chemnitz)

Sowohl das BMU als auch die SPD-Fraktion im
Bundestag gehen weiterhin von der Notwendigkeit eines
europäischen Rechtsrahmens für den Bodenschutz aus;
denn eine wirklich durchdachte Bodenschutzstrategie
kann nicht an den Grenzen enden. Deutschland braucht
doch gar keine Furcht vor einer europäischen Boden-
schutzstrategie zu haben; denn Deutschland ist – das
wurde schon festgestellt – gewissermaßen Vorreiter für
ein gut funktionierendes Bodenschutzrecht.

Deutschland ist durch seine Gesetzgebung und vor allem
durch seine erfolgreiche Altlastensanierung seit 1991 ein
Musterbeispiel. Wir sind mit unserem Bodenschutzrecht
gut aufgestellt und können den Anforderungen gerecht
werden. Wir brauchen eine europäische Bodenschutz-
richtlinie, weil wir nur in einem größeren Rahmen die
massiven Umweltherausforderungen bewältigen können.

Eine europäische Richtlinie ist notwendig, weil bisher
nur neun von 27 Mitgliedstaaten ein eigenständiges Boden-
schutzrecht haben. Durch die europäische Rahmenricht-
linie werden endlich auch die anderen Mitgliedstaaten
aufgefordert, eigene nationale Regelungen zum Schutz
des Bodens zu schaffen. Ein einheitlicher Rechtsrahmen
stärkt somit den Bodenschutz auf EU-Ebene und wird
ihm mehr Bedeutung verleihen.

Für Deutschland ist auch aus Wettbewerbsgründen
ein europäischer Rechtsrahmen im Bereich des Boden-
schutzes notwendig. Für deutsche Unternehmen ist es
nämlich gerade wegen des vergleichsweise hohen Stan-
dards der deutschen Gesetzgebung wichtig, dass in den
anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ebenfalls
entsprechende Vorsorgemaßnahmen veranlasst werden.
Angeglichene Umweltvorschriften verhindern Wettbe-
werbsverzerrungen durch Umweltdumping und helfen,
zum Beispiel die landwirtschaftliche Produktion am
Standort Deutschland zu erhalten und sie vor Wettbe-
werbsverzerrungen durch Mitgliedstaaten mit niedrigeren
Anforderungen zu schützen. Eine europäische Lösung
ist besser als eine Vielzahl zersplitterter Einzellösungen
in den Mitgliedstaaten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wie man das Blatt auch dreht und wendet: Es zeigt
sich, dass wir eine europäische Bodenschutzrichtlinie
benötigen. Deutschland kann viel zum europäischen Bo-
denschutz beitragen. Wir sollten uns daher konstruktiv
für ein schlankes und effektives EU-einheitliches Bo-
denschutzrecht einsetzen und damit einen zukunftsorien-
tierten Beitrag zur Behebung der absehbaren europäi-
schen Bodenprobleme leisten.

Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen
war ein guter Kompromiss. Meine Fraktion und ich sind
im Rahmen der parlamentarischen Beratung weiterhin
daran interessiert, den Entwurf der europäischen Boden-
schutzrichtlinie aktiv mitzugestalten.

Wir brauchen eine kritische Prüfung der Regelungen,
die über den deutschen Standard hinausgehen. Aber das
geht nur gemeinsam mit den Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union, im europäischen Rahmen, und eben nicht
im Alleingang.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was wir nicht brauchen, ist eine pure Ablehnung der
Richtlinie, weil bestimmte Lobbygruppen unbegründete
Ängste verbreiten, und Populismus, wie wir ihn auch
heute hier im Deutschen Bundestag erlebt haben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608834400

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608834500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Worte des Kollegen Müller habe ich
gerne gehört. Denn wir Grünen begrüßen das Vorhaben
einer EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie und die Vorlage
einer Bodenschutzstrategie durch die EU-Kommission.
Das hat nicht nur umweltpolitische Gründe.

Ein europäischer Bodenschutzstandard ist auch wirt-
schaftspolitisch sinnvoll; denn unsere deutschen Unter-
nehmen müssen das deutsche Bodenschutzrecht einhalten.
Das heißt, dass sie im Fall notwendiger Altlastensanie-
rungen häufig mit Kosten belastet werden. Wenn in an-
deren EU-Mitgliedstaaten keine solchen Verpflichtungen
bestehen, dann profitieren die Unternehmen dort von ei-
nem Ökodumping, welches deutsche Unternehmen im
Wettbewerb benachteiligt. Das kann nicht im Interesse
Deutschlands sein.

Vor diesem Hintergrund, Kollege Nüßlein, ist es kurz-
sichtig, dass Unions-, SPD- und FDP-Politiker das Pro-
jekt Bodenschutzrahmenrichtlinie in den letzten Mona-
ten vollständig abgelehnt haben. Jetzt höre ich hier
andere Töne, was mich, wie gesagt, sehr freut. Beson-
ders kurzsichtig ist es, dass Sie diese Ablehnung mit
dem Verweis auf das aus Ihrer Sicht ausreichende deut-
sche Bodenschutzrecht begründen. Wie kann eine EU-
Regelung verzichtbar sein, nur weil Deutschland bereits
ein Bodenschutzgesetz hat?


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Die Zuständigkeit, Frau Kollegin! Sie haben nicht zugehört!)


Es geht doch darum, wie es um den Bodenschutz in Eu-
ropa steht.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Sie wollen immer draufsatteln!)


– Ja, ja, Sie wollen immer eins zu eins umsetzen; das
weiß ich.

Die EU-Kommission weist darauf hin, dass sich der
Zustand der Böden europaweit seit Jahren verschlech-
tert: Die Flächenversiegelung konnte nicht eingedämmt
werden. Die Erosion durch Wasser betrifft 12 Prozent
der Böden. 45 Prozent weisen einen abnehmenden Ge-






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Behm
halt an Humus auf. Geschätzte 3,5 Millionen Hektar sind
kontaminiert. – Auch Deutschland hat trotz Bundes-Bo-
denschutzgesetzes mit diesen Problemen zu kämpfen.

Bisher haben nur neun Mitgliedstaaten – das sagte
Kollege Müller schon – Maßnahmen zum Bodenschutz
ergriffen. Wer auch nur im Ansatz ein umweltpolitisches
Interesse hat, der kann nicht ernsthaft dagegen sein, dass
die restlichen Länder endlich nachziehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war positiv
überrascht, dass sich die FDP in ihrem Antrag zur Verab-
schiedung einer Richtlinie bekennt. Sehr erfreut war ich
auch, dass die FDP es als im deutschen Interesse liegend
bewertet, wenn in allen EU-Staaten ein angemessenes
Bodenschutzrecht gilt, damit deutsche Unternehmen im
Standortwettbewerb keine Nachteile erleiden.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Man wundert sich über die Opposition!)


Aber zu früh gefreut: Die FDP hält über das deutsche
Bodenschutzrecht hinausgehende Anforderungen für
nicht erforderlich. Schlimmer noch: Der gesamte Antrag
macht klar, dass die FDP den EU-Bodenschutzstandard
deutlich unter das von der Kommission vorgeschlagene
Niveau senken will. Das ist mehr als bedauerlich.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sieben Jahre lang haben Sie nichts zum Bodenschutz gemacht, Frau Kollegin!)


Ist es denn so, dass Deutschland bereits alle Ziele
beim Bodenschutz erreicht hat? Nein. Ich als Branden-
burgerin kann ein Lied, ein Klagelied davon singen. Alt-
lasten werden noch lange Risiken für Menschen und
Umwelt sowie wirtschaftliche Hemmnisse bleiben. Oft
werden Flächen in Deutschland deswegen nicht recycelt,
weil Investoren nach wie vor die mit Altlasten verbunde-
nen Kosten scheuen.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Jetzt wird mit der Wirtschaft argumentiert!)


So wird weiter auf der grünen Wiese gebaut. Deswegen
müssen wir Flächenrecycling zukünftig attraktiver ma-
chen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen dafür sorgen, dass Altlasten nicht nur zur
akuten Gefahrenabwehr, sondern systematisch beseitigt
werden, wohl wissend, dass es viel Geld kostet, sollten
wir diesen Punkt in unsere Bodenschutzstrategie aufneh-
men. Erfolgreiche Modellprojekte belegen, dass das
volkswirtschaftlich sinnvoll ist.

Wir Grüne plädieren dafür, die Richtlinie ambitionier-
ter auszugestalten. Vor allen Dingen ist es notwendig,
konkrete Zielvorgaben, also einen EU-Bodenschutz-
standard, festzulegen. Der fehlt im Entwurf bisher. Die-
ser Mangel hätte zur Folge, dass allein die Nationalstaa-
ten festlegen, welche Ziele sie erreichen wollen. Dann
bliebe auch die Harmonisierung der Wettbewerbsbedin-
gungen Stückwerk. Hier muss dringend nachgebessert
werden.

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608834600

Frau Kollegin!


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1608834700

Alles in allem bin ich entsetzt darüber, wie national

zentriert die Debatte über diese Richtlinie hierzulande
geführt wird. Noch entsetzter bin ich aber über den Man-
gel an umweltpolitischen Ambitionen, den ich dabei ins-
besondere bei der Union zutage treten sehe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608834800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4736 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether
Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN

Kosovo-Verhandlungen – für eine neutrale
Moderation und eine eigenverantwortliche
und einvernehmliche Lösung zwischen Ser-
bien und den Kosovo-Albanern
– Drucksachen 16/3093, 16/3707 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Dr. Rainer Stinner
Kerstin Müller (Köln)

Dr. Norman Paech

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses

(3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten

Dr. Rainer Stinner, Dr. Karl Addicks, Christian
Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Kosovo-Statusverhandlungen noch 2006 zu er-
folgreichem Abschluss bringen
– Drucksachen 16/588, 16/3708 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Markus Meckel
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Marieluise Beck (Bremen)


c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise
Beck (Bremen), Rainder Steenblock, Volker Beck






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Eine europäische Perspektive für das Kosovo

– Drucksachen 16/3520, 16/3830 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Dr. Rainer Stinner
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller (Köln)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Rainer Stinner, FDP-Fraktion.


(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt müssen Sie auch etwas bieten! Sonst gibt es Klassenkeile!)



Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1608834900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Einige

von den Kollegen, die heute Abend hier sitzen, wissen es
vielleicht, die Kollegen, die nicht hier sind, das Bundes-
tagspräsidium und die Öffentlichkeit wissen es sicher-
lich nicht: Im Kosovo stehen wir bezüglich der europäi-
schen Außen- und Sicherheitspolitik vor einer Situation,
gegenüber der das, was wir bei der Raketendiskussion
erlebt haben, Peanuts sind. Uns stehen erhebliche Gefah-
ren bevor, auf die ich hinweisen möchte. Deshalb rede
ich in dieser Debatte.

Angesichts der dramatischen Situation im Kosovo
– ich werde gleich sagen, warum ich das so sehe – bin
ich erstaunt, dass die Debatte über das Kosovo, wenn wir
schon einmal darüber sprechen, an den Rand der Tages-
ordnung geschoben wird und ich mir als Einziger die
Freiheit nehme, dazu zu reden. Ich finde das sehr be-
denklich, sehr bedeutsam und sehr interessant.

Die Anträge, über die wir heute diskutieren, spiegeln
die Dramatik nicht wider; sie sind einige Tage alt. Der
Antrag der Linken besagt im Prinzip, dass alles so wei-
tergeht wie bisher. Es wird bis zum Sankt-Nimmerleins-
Tag weiterverhandelt, dann werden wir alle schwarz sein
und wissen genau, dass die beiden Seiten auch in
120 Jahren keine einvernehmliche Lösung zustande
bringen werden.

Unser Antrag ist auch schon etwas älter. Wir sagen:
zügig verhandeln und Ende 2006 bzw. jetzt Anfang 2007
zum Ende kommen. Unser Antrag liegt voll auf der Li-
nie von Herrn Ahtisaari. Wir haben ihn schon geschrie-
ben, bevor Herr Ahtisaari seine zeitlichen Vorstellungen
vorgebracht hat. Wir liegen voll auf seiner Linie. Wir
meinen nämlich, dass weiteres Verhandeln nichts bringt.
Die internationale Gemeinschaft hat die Aufgabe, jetzt
zu entscheiden, damit der Status endlich definiert wird
und wir im Kosovo weiterkommen.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Michael Brand [CDU/CSU])

Der Antrag der Grünen fasst vieles Richtige und vie-
les Wichtige zusammen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da haben Sie recht!)


Aber, sehr verehrte Frau Kollegin, er hat einen Riesen-
haken. Es wird nämlich vorgeschlagen, dass wir unmit-
telbar mit SAA-Verhandlungen beginnen. Das halte ich
angesichts der völlig unklaren Situation im Kosovo im
Augenblick für völlig unmöglich, weil wir gar nicht wis-
sen, wie es in der nächsten Woche aussieht.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Absolut richtig!)


Die Anträge, die uns vorliegen, spiegeln also die ak-
tuelle Gefahr nicht wider. Die Gefahr ist nämlich: Der
Sicherheitsrat findet zu keiner gemeinsamen Resolution,
das Kosovo erklärt sich für unabhängig, die USA erken-
nen dies an, einige europäische Länder machen mit, an-
dere europäische Länder machen nicht mit.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Aber das ist doch keine Gefahr!)


Damit würde ein weiteres Mal bewiesen, dass die Euro-
päische Union in außen- und sicherheitspolitischen Fra-
gen völlig zerstritten, nicht handlungsfähig ist. Doch die
Region, über die wir sprechen, ist bedeutsam; denn das
ist unsere Region, das ist nicht weit weg, das ist mitten
in Europa. So etwas hätte dramatische Folgen.


(Jörg Tauss [SPD]: Russland haben Sie gar nicht erwähnt!)


– Russland könnte ich auch noch erwähnen; ich kann die
halbe Stunde ja ausnutzen, wenn die Präsidentin es er-
laubt.


(Iris Gleicke [SPD]: Bitte nicht!)


Meine Damen und Herren, ohne Sicherheitsratsreso-
lution gibt es auch keine europäische Mission im Ko-
sovo; das hat Solana in den letzten Tagen noch einmal
sehr deutlich klargemacht. Das heißt, es gibt dann keine
Ablösung der Resolution 1244, sondern es bleibt bei
dieser Resolution. Damit sind UNMIK und KFOR ver-
pflichtet, bei Verstößen gegen die Resolution 1244 ein-
zuschreiten. Das kann zu der absurden Situation führen,
dass, wenn das Kosovo sich einseitig für unabhängig er-
klärt und die Amerikaner und einige Europäer dies aner-
kennen, die Soldaten ebendieser Länder, die den Kosovo
anerkennen, also gegen die Resolution 1244 verstoßen,
im Auftrage von KFOR und UNMIK gegen die Unab-
hängigkeit vorgehen müssten, die kosovarische Regie-
rung und vielleicht sogar die Botschafter festnehmen
müssten. Auch wenn ich jetzt ein bisschen übertreibe:
Das ist eine kafkaeske Situation, die wir unter allen Um-
ständen vermeiden müssen.


(Jörg Tauss [SPD]: Machen Sie einen Vorschlag!)


Ich frage die Bundesregierung, ob sie die Dramatik
der Situation erkannt hat und was sie zu tun gedenkt, da-
mit es nicht dazu kommt. Denn tatsächlich hat Russland
in der Kontaktgruppe angedeutet, dass man einer sol-
chen UN-Resolution eventuell nicht zustimmen wird.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Rainer Stinner
Dann wird genau die Situation eintreten, die ich aufge-
zeichnet habe. Ich frage, ob die Bundesregierung, auch
im Rahmen ihrer EU-Präsidentschaft, die Gefahr er-
kennt, die eine europäische Sicherheitspolitik mit sich
bringen würde, die das nicht verhindert. So etwas hätte
die Spaltung der Europäischen Union zur Folge.

Wir alle wissen: Korruption und organisierte Kri-
minalität sind im Kosovo ein Riesenproblem. Wir ken-
nen viele Studien, auch neuere Studien, die sehr deutlich
darauf hinweisen, dass dieses Problem völlig ungelöst
ist. Wenn ich mir dann vorstelle, dass es keine internatio-
nale Präsenz im Kosovo mehr gäbe, dass der Kosovo ge-
zwungen würde, solche Dinge alleine zu regeln, dann
wäre das eine Horrorvision. Damit wäre für den Kosovo
der Weg nach Europa meines Erachtens versperrt. Wir
haben ihm aber in Thessaloniki die europäische Perspek-
tive eröffnet, und an dieser Perspektive wollen wir arbei-
ten. Deshalb ist nach meinem Dafürhalten eine europäi-
sche Präsenz, eine internationale Präsenz im Kosovo
unbedingt notwendig. Ich fordere die Bundesregierung
auf, alles dafür zu tun, damit das erreicht werden kann.

Schönen Dank und einen schönen Abend.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1608835000

Die Kolleginnen Uta Zapf, Monika Knoche,

Marieluise Beck (Bremen) sowie der Kollege Manfred
Grund und der Staatsminister Gernot Erler haben ihre
Reden zu Protokoll geben.1)


(Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD])


Deswegen schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Kosovo-Verhandlungen – für eine neu-
trale Moderation und eine eigenverantwortliche und ein-
vernehmliche Lösung zwischen Serbien und den Ko-
sovo-Albanern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3707, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3093 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.

Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Ko-
sovo-Statusverhandlungen noch 2006 zu erfolgreichem
Abschluss bringen“.


(Jörg Tauss [SPD]: 2006 ist lange vorbei!)


Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/3708, den Antrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/588 abzulehnen. – Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD und der

1) Anlage 3
CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktionen des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP angenommen.

Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen mit dem Titel „Eine europäische Perspektive für das
Kosovo“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/3830, den Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/3520 abzulehnen. – Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen
der Grünen und Zustimmung der anderen Fraktionen an-
genommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN

Individuell fördern und regional gestalten –
Handlungsfreiheit der Arbeitsgemeinschaften
stärken

– Drucksache 16/4612 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Die Redner Karl Schiewerling, Rolf Stöckel, Jörg
Rohde und der Parlamentarische Staatssekretär Gerd
Andres sowie die Kolleginnen Kornelia Möller und
Brigitte Pothmer haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4612 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Birgitt Bender, Dr. Thea
Dückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Einheitlicher europäischer Zahlungsverkehrs-
raum – Einfach, schnell und günstig für Ver-
braucherinnen und Verbraucher sowie Unter-
nehmen

– Drucksache 16/4611 –

Die Redner Georg Fahrenschon, Frank Schäffler,
Dr. Gerhard Schick sowie die Kolleginnen Nina Hauer
und Dr. Barbara Höll haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben.3)

Wir kommen zum Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4611 mit

2) Anlage 4
3) Anlage 5






(A) (C)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

dem Titel „Einheitlicher europäischer Zahlungsver-
kehrsraum – Einfach, schnell und günstig für Verbrau-
cherinnen und Verbraucher sowie Unternehmen“.

Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wünscht
Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen von CDU/
CSU und SPD wünschen Überweisung, und zwar feder-
führend an den Finanzausschuss und mitberatend an den
Rechtsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz sowie an den Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union.

Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschuss-
überweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage
deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist die
Überweisung so beschlossen. Damit stimmen wir heute
nicht über den Antrag auf Drucksache 16/4611 ab.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Birgitt Bender, Kai Gehring, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN

Weitere Verschlechterung der Rechtssituation
von Homosexuellen in Nigeria verhindern

– Drucksache 16/4747 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)


Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Die Redner Hartwig Fischer (Göttingen), Florian
Toncar, Michael Leutert, Volker Beck (Köln) sowie die
Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.1)

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/4747 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe und zur Mitberatung an den Auswärtigen Aus-
schuss sowie an den Ausschuss für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung zu überweisen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 23. März 2007, 9 Uhr,
ein.

Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen sowie
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Zuschau-
ern auf der Tribüne einen schönen Abend.

Die Sitzung ist geschlossen.