1) Anlage 6
(B)
(D)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8989
(A) (C)
(B) (D)
beendet. Mitte Dezember 2005 haben wir, kurz nach
der Bundestagswahl und wegen des drohenden Endes
zukommen müssen, die sichern, dass die Kommuni-
kationsinhalte des höchstpersönlichen Bereichs nicht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes und
anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 18)
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer Ge-
setze wird ein verfassungsrechtlicher Schwebezustand
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bismarck, Carl Eduard
von
CDU/CSU 22.03.2007
Dr. Bunge, Martina DIE LINKE 22.03.2007
Ernst, Klaus DIE LINKE 22.03.2007
Friedhoff, Paul K. FDP 22.03.2007
Gabriel, Sigmar SPD 22.03.2007
Heilmann, Lutz DIE LINKE 22.03.2007
Hilsberg, Stephan SPD 22.03.2007
Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 22.03.2007
Lehn, Waltraud SPD 22.03.2007
Lopez, Helga SPD 22.03.2007
Merten, Ulrike SPD 22.03.2007
Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.03.2007
Dr. Paziorek, Peter CDU/CSU 22.03.2007
Dr. Reimann, Carola SPD 22.03.2007
Roth (Augsburg),
Claudia
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.03.2007
Runde, Ortwin SPD 22.03.2007
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 22.03.2007
Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 22.03.2007
Anlagen zum Stenografischen Bericht
der Befristung, eine Verlängerung des Zollfahndungs-
dienstgesetzes um 18 Monate beschlossen, die ange-
sichts der hohen Rechtsgüter, um die es in diesem Be-
reich geht – wichtige sicherheitspolitische Interessen
und die Abwendung von außenpolitischem Schaden
durch illegale Ausfuhren von Rüstungsgütern –, verant-
wortungsvoll war. Eine Regelungslücke wäre ange-
sichts der Gefahren, die durch die mögliche Verbrei-
tung von Massenvernichtungswaffen und des Exports
von Rüstungsgüter in Kriegs- und Krisengebiete dro-
hen, nicht zu akzeptieren gewesen.
Die damit gewonnene Zeit wurde von der Bundesre-
gierung genutzt, um einen unter den beteiligten Ressorts
abgestimmten und ausgewogenen Entwurf vorzulegen,
mit dem die verfassungsrechtlichen Anforderungen an
den Schutz des Kernbereichs der privaten Lebensgestal-
tung umgesetzt werden und gleichzeitig ein effektives
Arbeiten der Zollbehörden auch in Zukunft gewährleis-
tet wird.
Konkreter Anlass für die hier zu diskutierenden Ge-
setzesänderungen war das Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 27. Juli 2005 zum Niedersächsischen
Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Die
damalige landesrechtliche Regelung zur präventiven Te-
lekommunikationsüberwachung war, so befand das Bun-
desverfassungsgericht, wegen fehlender Erfüllung ver-
fassungsrechtlicher Vorgaben mit dem Grundgesetz
unvereinbar und daher nichtig.
Ausdrücklich machten die Verfassungsrichter in ihrer
Entscheidung deutlich, dass auch im Bereich des von
Art. 10 Abs. 1 Grundgesetz geschützten Brief-, Post-
und Fernmeldegeheimnisses Vorkehrungen zum Schutz
individueller Entfaltung im Kernbereich privater Le-
bensgestaltung erforderlich sind.
Dies liegt auf einer Linie mit dem Beschluss des Ers-
ten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März
2004 zum Außenwirtschaftsgesetz. Darin haben die
Karlsruher Richter deutlich gemacht, dass der Gesetzge-
ber bei einer Neuregelung im Außenwirtschaftsrecht die
Grundsätze zu beachten hat, die das Bundesverfassungs-
gericht in seinem Urteil vom gleichen Tag zur akusti-
schen Wohnraumüberwachung niedergelegt hat. Darin
wurde die Bedeutung des absolut geschützten Kernbe-
reichs privater Lebensgestaltung hervorgehoben.
Ausdrücklich heißt es dann in der Entscheidung vom
27. Juli 2005: Bestehen im konkreten Fall tatsächliche
Anhaltspunkte für die Annahme, dass eine Telekommu-
nikationsüberwachung Inhalte erfasst, die zu diesem
Kernbereich zählen, ist sie nicht zu rechtfertigen und
muss unterbleiben. Weiter heißt es für den in der Praxis
nicht zu verhindernden Fall, dass bei einer Telekommu-
nikationsüberwachung doch der Kernbereich privater
Lebensgestaltung erfasst wird, dass Vorkehrungen hin-
8990 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
gespeichert und verwertet werden dürfen, sondern un-
verzüglich gelöscht werden.
Damit sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben deut-
lich. Wer den Gesetzentwurf mit dem Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts vor Augen liest, sieht, wie in der
zentralen Vorschrift des Gesetzentwurfs, dem § 23 a des
Zollfahndungsdienstgesetzes, diesen Vorgaben Rech-
nung getragen wird. So wird in § 23 a Abs. 4 a Satz 1
Zollfahndungsdienstgesetz ein ausdrückliches Erhe-
bungsverbot von Kommunikationsinhalten normiert, die
allein aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung
stammen würden. Mit dieser Beschränkung des Erhe-
bungsverbots auf Fallgestaltungen, in denen die Pro-
gnose ergibt, dass allein Erkenntnisse aus dem Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung anfallen werden, bleibt
weiterhin eine effektive Durchführung von Telekommu-
nikationsüberwachungsmaßnahmen durch das Zollkri-
minalamt möglich, um so schwere Straftaten zu verhin-
dern.
Wurden ausnahmsweise dennoch solche Daten erho-
ben – was in der Praxis regelmäßig nicht auszuschließen
ist –, folgt daraus in Satz 2 ein absolutes Verwertungs-
verbot. Zudem sind sie unter Aufsicht eines Bedienste-
ten, der die Befähigung zum Richteramt hat, unverzüg-
lich zu löschen, was zu dokumentieren ist.
Wer nun wie Bündnis 90/Die Grünen darauf hinwei-
sen wird, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zur akustischen Wohnraumüberwachung vom 3. März
2004 auf die Telefonüberwachung auszudehnen ist, sei
auf eine gründliche Lektüre des Urteils des Bundesver-
fassungsgerichts vom 27. Juli 2005 verwiesen. Darin
nimmt das Verfassungsgericht eine am Wortlaut und
Sinn und Zweck der Art. 10 und 13 Grundgesetz orien-
tierte Differenzierung der verschiedenen Eingriffe vor.
So führt das Gericht aus, dass bei Eingriffen in den
durch Art. 10 Grundgesetz geschützten Telekommunika-
tionsvorgang geringere Anforderungen zu stellen sind,
als dies bei Eingriffen in den Schutzbereich von Art. 13
Grundgesetz der Fall ist, der dem Bürger als letztes Re-
fugium die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert.
Insofern lässt sich die abgestufte Regelung gegenüber
§ 100 c StPO rechtfertigen.
Der Gesetzentwurf sieht weitere Rechtsänderungen
vor, mit denen verfassungsgerichtliche Entscheidungen
umgesetzt werden, Klarstellungen erreicht werden und
auch eine Stärkung der Position zeugnisverweigerungs-
berechtigter Berufsgeheimnisträger wie Seelsorger, Ver-
teidiger und Abgeordnete verfolgt wird. Darüber hinaus
werden innerstaatliche Regelungen zur Überwachung
des grenzüberschreitenden Bargeldverkehrs an eine am
15. Dezember 2005 in Kraft getretene EU-Verordnung,
die ab Mitte Juni 2007 Anwendung findet, angepasst.
Im Rechtsausschuss werden wir den Gesetzentwurf
fachkundig beraten. Angesichts der hohen Rechtsgüter,
um die es im vorliegenden Gesetzentwurf geht – Schutz
der Bürgerrechte einerseits und die Gewährleistung einer
möglichst effektiven Arbeit des Zollkriminalamts zur
Verhinderung illegaler Rüstungsexporte andererseits –
ist eine fundierte parlamentarische Beratung notwendig.
Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Für diesen Ge-
setzentwurf kann es keinen Beifall geben, und das ob-
wohl er einiges regelt, das durchaus zu begrüßen ist. Ich
will Ihnen diesen scheinbaren Widerspruch gerne erläu-
tern:
Stellen Sie sich vor, Sie hätten zum Ende der
15. Wahlperiode irgendwo in Berlin eine Dachmansarde
angemietet. Schöner Blick. Ruhige Lage. Nette Nach-
barn. Als aber der erste Regen über die Stadt kam, er-
fasst Sie echtes Ungemach. Denn Sie bemerken, es reg-
net durch das Dach, und nicht zu knapp.
Sofort mahnen Sie ihren Vermieter, das Dach zu
schließen – und das bitte eilig. Der aber bleibt tatenlos.
Er unternimmt nichts im Jahre 2005. Auch im Jahre
2006 geschieht nichts. Sie ärgern sich und hören es trop-
fen. Erst im Frühjahr 2007 bequemt man sich und
schickt die Handwerker. Würden Sie in diesem Falle
Beifall spenden? Sicher nicht. Aller Wahrscheinlichkeit
sind Sie längst fortgezogen. Aus einer Wohnung kann
man ausziehen. Aus der eigenen Heimat jedoch nur
schwer.
Seit April 2005 lebten die Menschen dieses Landes
unter einem undichten Staatsdach.
Denn Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition, haben es seit dem Beginn dieser
Wahlperiode nicht vermocht, das Zollfahndungsdienst-
gesetz verfassungsdicht zu bekommen.
Die Menschen dieses Landes lebten daher in einer
Rechtslage, die die Zollfahndung zu unzulässigen Ein-
griffen in den Kernbereich der privaten Lebensgestal-
tung ermächtigte, in einer Rechtslage, die ich Ihnen ge-
nau von dieser Stelle am 15. Dezember 2005 in aller
Breite schon einmal darlegte, in einer Rechtslage, deren
Verfassungswidrigkeit Ihnen vor allem aufgrund der Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 27. Juli
2005 zweifelsfrei und hinlänglich bekannt war, in einer
verfassungswidrigen Rechtslage, die Sie am 15. Dezem-
ber 2005 weiter aufrecht hielten, als Sie das alte Gesetz
ungerührt bis zum 30. Juni 2007 in die Verlängerung
schickten.
Es ist die vornehmste Aufgabe des Staates, insbeson-
dere die der Legislative, die Grundrechte der Bürgerin-
nen und Bürger zu achten und zu schützen.
Diese Aufgabe war zur Problematik überschaubar
und leicht.
Man kannte den Standort des Loches im Rechtsstaat.
Man hatte eine präzise Bauanleitung zur Behebung des
Mangels vom Bundesverfassungsgericht erhalten. Es
herrschte auch kein Mangel an Baumaterial, denn kon-
struktive Hinweise und gut begründete Mahnungen gab
es reichlich. Doch erst am 16. Februar 2007 kamen die
Handwerker aus dem Justizministerium vorbei, um zu
erklären, das lecke Staatsdach jetzt endlich flicken zu
wollen.
Die Entwurfsbegründung liest sich wie ein spätes
Eingeständnis verfassungsrechtlicher Versäumnisse. Es
brauchte also ein Jahr und drei Monate und genau acht-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8991
(A) (C)
(B) (D)
zig Sitzungen des Deutschen Bundestages bis zur heuti-
gen Beratung dieses Entwurfes.
Man weiß nicht, ob man Tränen lachen oder weinen
soll, wenn man den Bearbeitungsvermerk zum Entwurf
der Bundesregierung liest: „Besonders eilbedürftig“ lau-
tet der Hinweis für die parlamentarische Befassung. Nie
gab es eine besondere Eilbedürftigkeit, die so besonders
lange angedauert hätte.
Was würde wohl geschehen, wenn sich Rettungssani-
täter, Feuerwehrmänner oder Polizisten Ihr Verständnis
von besonderer Eilbedürftigkeit zu eigen machten?
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht: Kosovo-
Verhandlungen – für eine neutrale Modera-
tion und eine eigenverantwortliche und ein-
vernehmliche Lösung zwischen Serbien und
den Kosovo-Albanern
– Beschlussempfehlung und Bericht: Kosovo-
Statusverhandlungen noch 2006 zu erfolgrei-
chem Abschluss bringen
– Beschlussempfehlung und Bericht: Eine eu-
ropäische Perspektive für das Kosovo
(Tagesordnungspunkt 17 a bis c)
Manfred Grund (CDU/CSU): Die vom UN-Sonder-
gesandten Martti Athisaari geleiteten serbisch-albani-
schen Gespräche über den künftigen Status des Kosovo
sind vor kurzem in Wien ohne Einigung zu Ende gegan-
gen. Athisaari sagte nach dem Scheitern der Gespräche,
dass die Positionen der beiden Seiten keinerlei Gemein-
samkeiten enthalten.
Die serbische Delegation mit Präsident Boris Tadic,
Regierungschef Vojislav Kostunica und Außenminister
Vuk Draskovic lehnte Athisaaris Entwurf mit der Be-
gründung ab, er laufe auf die Unabhängigkeit der formal
noch zu Serbien gehörenden Provinz hinaus.
Die Kosovo-Albaner unter Präsident Fatmir Sejdiu
und Regierungschef Agim Ceku sprachen von einem
schmerzhaften Kompromiss, der jedoch die Unabhän-
gigkeit des Kosovo bringen werde.
Der Streit um die Zukunft der Region geht jetzt vor
den UN-Sicherheitsrat. Es ist unwahrscheinlich, dass bi-
laterale oder neue Verhandlungen irgendeinen Ausweg
aus der Sackgasse eröffnen, für einen Kompromiss gibt
es nicht das geringste Anzeichen.
Dabei folgt Athisaaris Vorschlag einer Erkenntnis aus
dem Zerfallsprozess Jugoslawiens: Was nicht zusam-
mengehört, fällt auseinander und ist auch nicht durch in-
ternationalen Druck zusammenzuhalten. Das Kosovo ist
faktisch seit acht Jahren nicht mehr unter serbischer
Kontrolle. 1999 marschierte die NATO ein. Das Kosovo
bekam den Status eines autonomen Territoriums und
steht seither unter UN-Verwaltung.
Der Vorschlag Athisaaris zeigt klare Tendenzen hin
zur Unabhängigkeit der früher serbischen Albanerpro-
vinz, einer Unabhängigkeit, die von der Europäischen
Union überwacht werden soll.
Für Athisaari gab es klare Vorgaben. Gemäß einer
Richtlinie der Kosovokontaktgruppe, der neben den
USA und vier westeuropäische Staaten auch Russland
angehört, sollte das Ergebnis für die Bevölkerung des
Kosovo annehmbar sein; sie besteht zu 90 Prozent aus
Albanern. Die Kosovo-Albaner verlangen die Unabhän-
gigkeit des Kosovo, die serbische Seite bietet lediglich
eine weitreichende Autonomie an.
Doch nicht nur in Serbien stößt der Athisaari-Vor-
schlag auf Ablehnung. Aus russischen Diplomatenkrei-
sen ist seit Monaten zu hören, dass nur ein von Serbien
akzeptierter Vorschlag den UN-Sicherheitsrat passieren
wird. Zudem wird darauf hingewiesen, dass die Koso-
vofrage nur anhand allgemein gültiger Prinzipien ent-
schieden werden dürfe. Mit anderen Worten: Wer die
Unabhängigkeit des Kosovo zulässt, muss dies auch für
Transnistrien gelten lassen oder auch für die anderen
„eingefrorenen“ Konflikte im Kaukasus.
Die Verfechter der Unabhängigkeit des Kosovo halten
dem entgegen, dass das Kosovo ein Sonderfall sei. Doch
warum dies so sein soll, konnte bislang nicht überzeu-
gend dargelegt werden. Die Unabhängigkeit des Kosovo
könnte zur Rutschbahn werden. So denkt Spanien sofort
an das Baskenland und Katalonien, Rumänien an Sie-
benbürgen, und auch in Bosnien-Herzegowina dürfte das
Kosovo ein besonderes Augenmerk erfahren.
Eine Aufwertung des Status des Kosovo wird auch
Konsequenzen auf die von Albanern bewohnten Gebiete
der Region haben. Es gibt Vorstellungen, die historische
Zerstückelung der albanischen Nation rückgängig zu
machen. Niemand weiß, wie groß die Anziehungskraft
eines unabhängigen Kosovo auf die Albaner Mazedo-
niens ist; diese stellen im Nachbarland 25 Prozent der
Einwohner.
Man muss nicht alle Befürchtungen teilen, so bleibt
doch die Frage, wie ein Gebilde, herausgeschnitten aus
dem Territorium Serbiens, lebensfähig, überlebensfähig
sein kann. Unabhängigkeit hin oder her, das Kosovo war
in Jugoslawien ohne Finanzhilfe aus Belgrad nicht le-
bensfähig und hängt seit nunmehr acht Jahren am inter-
nationalen Tropf.
Etwa zwei Drittel der rund 2 Millionen Einwohner
Kosovos sind von Erträgen aus der Landwirtschaft ab-
hängig. Laut offiziellen Angaben sind 44 Prozent der
Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter ohne geregelte Be-
schäftigung, bei den Jugendlichen sind es 70 Prozent. Es
fehlte und fehlt an Arbeit. Die Folge waren Emigration,
Arbeitsaufnahme im Ausland und in Serbien. Rücküber-
weisungen von Emigranten betrugen im vergangen Jahr
rund 375 Millionen Euro und machten damit nahezu
20 Prozent des Provinzetats aus.
8992 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Das Kosovo ist die ärmste Region Europas und die
mit der höchsten Arbeitslosigkeit. Internationale Organi-
sationen klagen über Korruption, Mafiastrukturen, ille-
gale Geschäfte. Von ziviler Normalität kann keine Rede
sein. Das sind alles Dinge, mit denen kein Staat gemacht
werden sollte.
Und doch gibt es zum Athisaari-Vorschlag keine Al-
ternative oder eine, die nicht wünschenswert ist: die ein-
seitige Unabhängigkeitserklärung mit anschließend be-
ginnendem diplomatischen Anerkennungswettlauf.
Denn dann würden die jetzt mit den Kosovoverantwort-
lichen ausgehandelten Schutz- und Autonomierechte für
die im Nordkosovo wohnenden Serben kaum Realität
werden und der Vertreibungsdruck wachsen. Eine Ab-
trennung des Nordkosovo könnte folgen. Die Entwick-
lung würde aus jeder Kontrolle gleiten.
Der Athisaari-Vorschlag hat ein multiethnisches und
demokratisches Kosovo zum Ziel. Wenn man ausweis-
lich der Erfahrungen im zerfallenen Jugoslawien mit
derlei Zielen vorsichtig sein sollte – und eine fortge-
setzte zivile und militärische Präsenz der internationalen
Gemeinschaft voraussetzt –, mehr Sicherheit als durch
diesen Vorschlag kann der Kosovo-serbischen Minder-
heit bei weitgehender lokaler Selbstverwaltung nicht ge-
boten werden.
Es sei zum Abschluss an die Leitprinzipien der Kon-
taktgruppe, einschließlich Russlands, erinnert: Kein Zu-
rück zur Situation vor 1999, keine Teilung Kosovos und
auch keine Vereinigung mit Albanien. Und die Lösung
muss so sein, dass die Menschen im Kosovo Ja sagen
können.
Insbesondere für die EU stellt sich die Frage, ob die
Konflikte in und um das Kosovo mit ökonomischen
Lockmitteln dauerhaft entschärft werden können. Im
Kosovo erhofft sich ein Heer junger Arbeitsloser, dass
sich mit der Unabhängigkeit der wirtschaftliche Auf-
schwung einstellt. Zukunftsvisionen gaukeln ein Kosovo
als Energie- und Rohstofflieferant vor. Nichts aber ist in
einem Nachkriegsgebiet gefährlicher als die enttäusch-
ten Hoffnungen auf eine Wende. Auf absehbare Zeit
bleibt das Kosovo ein wirtschaftliches Notstandsgebiet.
Wenn die EU zu Athisaaris Vorschlag Ja sagt, muss in
der Konsequenz ein Arbeitsabkommen für die Beschäfti-
gungssuche der Kosovaren im europäischen Ausland
folgen und ein konkreter Zeitrahmen für die Annäherung
an die EU. Gleiches gilt auch für Serbien. Wer dauerhaft
Frieden und Stabilität auf dem Balkan will, kann sich
eine Aufnahmemüdigkeit nicht leisten. Allerdings muss
man sich über eine derart verursachte Erweiterungsrunde
auch nicht besonders freuen.
Pro Einwohner gerechnet hat die internationale Staa-
tengemeinschaft bereits jetzt im Kosovo 25-mal so viel
Geld investiert und 50-mal so viel Truppen entsandt wie
im Fall Afghanistan. Das zeigt, wie viel im Kosovo auf
dem Spiel steht und was in Afghanistan noch notwendig
wird.
Uta Zapf (SPD): In diesem hohen Hause herrscht
über fast alle Fraktionen hinweg in Bezug auf die Lö-
sung des Kosovo-Problems die – fast – einhellige Mei-
nung: Die Lösung muss möglichst schnell erfolgen, wei-
teres Verschieben über einen längeren Zeitraum ist
gefährlich, die Lösung muss durch Sicherheitsratsbe-
schluss erfolgen und den von der Kontaktgruppe festge-
legten drei Neins genügen: erstens keine Rückkehr zum
Status vor 1999, zweitens keine Teilung des Kosovo und
drittens kein Anschluss an ein anderes Land.
Der Vorschlag von Martti Ahtisaari ist ein kluger Vor-
schlag. Das Verhandlungspotenzial ist nach 14 Monaten
erschöpft. Nach 17 Verhandlungsrunden konnte keine
Einigung zwischen den Kosovaren und Serben erzielt
werden.
Der Vorschlag liegt jetzt beim Sicherheitsrat. Dieser
muss entscheiden. Am 3. April wird der Sicherheitsrat
sich mit dem Vorschlag befassen. Der Vorschlag Russ-
lands, den Verhandlungsprozess erneut aufzunehmen,
womöglich mit einem neuen Sonderbeauftragten, ist
nicht akzeptabel.
Warum ist dies nicht akzeptabel? Eine neue Verhand-
lungsrunde wird kein neues Ergebnis bringen. Serbien
wird und kann den Vorschlag der Abtrennung Kosovos
vom serbischen Territorium nicht annehmen. Keine ser-
bische Regierung könnte dies, es sei denn, sie wollte
Selbstmord begehen. Der Vorschlag Ahtisaaris enthält
weitgehende Rechte für die im Kosovo lebenden Serben
und andere Minderheiten und darüber hinaus Möglich-
keiten für Serbien, die Serben im Kosovo weitgehend zu
unterstützen: im Bildungsbereich und im Gesundheits-
bereich etwa. In der Verfassung sollen die parlamenta-
rischen Rechte der nichtalbanischen Bevölkerung in
hohem Maße geschützt werden, indem sie durch die so-
genannte doppelte Mehrheit bei der Gesetzgebung bei
einigen Gesetzen ein Quasivetorecht bekommen. Eine
angemessene Vertretung der Volksgruppen in wichtigen
öffentlichen Einrichtungen ist gewährleistet, ebenso der
Schutz des kulturellen und religiösen Erbes. Dennoch
gibt es keine Chance der Zustimmung der Serben.
Die Kosovaren haben den Vorschlag Ahtisaaris ak-
zeptiert, aber ganz sicher nicht mit Freude. Wer kürzlich
wie einige von uns die Gelegenheit hatte, die Delegation
des kosovarischen Parlaments unter Leitung des Parla-
mentspräsidenten Berisha zu treffen, hat deutlich sehen
können, dass dies ein fast unverdaulicher Brocken ist,
der nicht recht den Hals hinunter will. Die Botschaft ist
glasklar: Es kommt nichts anderes als Unabhängigkeit
infrage, sonst gilt auch der Vorschlag Ahtisaaris für uns
nicht mehr!
Was dies bedeutet, wissen wir: Kosovo wird einseitig
seine Unabhängigkeit erklären. Was dann? Was ist mit
der internationalen Präsenz? Was mit KFOR? Werden
einige Staaten, zum Beispiel die USA, Kosovo anerken-
nen?
Unruhen sind nicht ausgeschlossen, die latente Dro-
hung ist spürbar. Uns allen ist noch der März 2004 in
schlechter Erinnerung. Einzelne militante Gruppen, die
schon jetzt für Beunruhigung sorgen, könnten Zulauf
finden; Waffen sind ja noch genug vorhanden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8993
(A) (C)
(B) (D)
Die geplante Lösung der „überwachten und einge-
schränkten Souveränität“ darf nicht aufs Spiel gesetzt
werden, weil sonst eine gewünschte Umsetzung der
Standards auf dem Spiel steht. Wer mit dem „Plan B“
rechnet, spielt mit dem Feuer.
Wir alle wissen, wie notwendig eine schnelle Lösung
der Statusfrage für die gesamte Region ist. Wir alle wis-
sen, dass ohne Einsetzung eines internationalen Len-
kungsausschusses, ohne internationalen zivilen Reprä-
sentanten mit weitgehenden Eingriffsbefugnissen die
Standardimplementierung und das Heranführen Kosovos
an europäische Standards unmöglich ist.
Dies ist im Übrigen eine gigantische Aufgabe für Eu-
ropa. Die ESVP-Rechtsstaatsmission überwacht, betreut
und berät in allen Fragen der Rechtsstaatlichkeit; so ist
es geplant und darauf bereitet sich Europa vor.
Der internationale zivile Repräsentant soll Befugnisse
erhalten, auch Beschlüsse und Gesetze der kosovari-
schen Behörden außer Kraft zu setzen und Amtsträger,
deren Verhalten dem Wortlaut und Geist der Statuslö-
sung zuwiderläuft, abzusetzen. Dass wir auf die interna-
tionale Sicherheitspräsenz noch lange nicht verzichten
können, ist klar. Der Sicherheitsrat muss entscheiden
und den Ahtisaari-Plan in Kraft setzen.
Russland, das bisher in der Kontaktgruppe alle Be-
schlüsse mitgetragen hat – auch die drei Neins – mag
sich enthalten. Jedenfalls haben wir das bisher gehofft.
Die Bedingung, nur bei Zustimmung der Serben Ja zum
Ahtisaari-Plan zu sagen, ist unhaltbar und gefährlich.
Aber es geht auch nicht an, dass wir Serbien vor den
Kopf stoßen. Serbien und seine zukünftige Entwicklung
in Richtung demokratischer Reformen sind zu wichtig
für die ganze Region. Die Serben fühlen sich gedemütigt
und ausgegrenzt. Was tun wir, was tut die internationale
Gemeinschaft, was tut Europa, um ein Signal zu geben?
Ein Signal, das lautet: Ihr gehört zu uns, zu Europa, ihr
seid willkommen in der europäischen Familie.
Dieses Signal ist bitter nötig und sollte schnell kom-
men. Das Angebot der NATO, an der Partnerschaft für
den Frieden teilzunehmen, ist nicht ausreichend. Wir
haben ja die Signale von Kostunica und Tadic, dass sie
eine Regierung bilden wollen und dass diese Regierung
die Kooperation mit dem Internationalen Strafgerichts-
hof in Den Haag als oberste Priorität setzen wird und
dass die Reform des Sicherheitsapparates Priorität haben
soll. Warum gibt Europa nicht seinerseits ein Signal und
sagt jetzt die Aufnahme der Verhandlungen zum Stabili-
täts- und Assoziationsabkommen zu? Dieses Signal
könnte die Wunden nicht heilen, aber doch schließen.
Dieses Signal könnte die Bildung einer stabilen Regie-
rung in Serbien fördern. Dies ist in unserem und Europas
Interesse. Drängen wir Kostunica und Tadic zu der mög-
lichen Regierungsbildung mit Kostunica als Premier und
Tadic als Präsidenten, dann haben wir die Chance einer
stabilen Regierung als Partner im Reformprozess.
Und warum geben wir nicht den jungen Menschen,
den Schülern und Studenten, den Wissenschaftlern und
Künstlern die Chance, Europa mit eigenen Augen zu
sehen und kennenzulernen, indem wir das Visaregime
lockern?
Wer sich eingesperrt, isoliert, Chancen- und perspek-
tivlos fühlt, wird kein Vertrauen in Demokratie und
europäische Werte fassen. Strecken wir den Serben be-
herzt die europäische Hand entgegen, dann werden die
radikalen und nationalistischen alten Kräfte ihre Anzie-
hungskraft verlieren.
Monika Knoche (DIE LINKE): Die Statusverhand-
lungen über den Kosovo sind gescheitert. Der UN-Gene-
ralsekretär Ahtisaari ging mit einem Plan in die Verhand-
lungen, der sich inhaltlich nicht mit der UN-Resolution
1244 deckt. Die in seinem Plan gemachte Vorgabe nach
einer eigenen Verfassung, Nationalhymne und Flagge
für das Kosovo stellt für sich genommen noch nicht eine
rechtliche Grundlage für eine Unabhängigkeit dar. Aber
die Maßgabe, dass das Kosovo internationalen Organisa-
tionen, also auch der UN, beitreten könne, das Kosovo
über eigene militärische Strukturen verfügen solle, be-
deutet neben zum Beispiel der existierenden Euro-Wäh-
rung, de facto die Voraussetzungen für eine Unabhängig-
keitserklärung zu schaffen.
Vollkommen nachvollziehbar ist daher, dass Serbien
dem Vorhaben, ein unabhängiges Kosovo unter EU-Pro-
tektorat zu stellen, eine Absage erteilt. Die Tatsache,
dass die politische Führung in Pristina eine solch einsei-
tige Parteinahme Ahtisaaris für das Ziel, eine staatliche
Unabhängigkeit zu erlangen, prinzipiell begrüßt, aber als
noch nicht weit genug gehend erachtet, kann im Ergeb-
nis nicht gegen die serbische Position ins Feld geführt
werden. Denn schließlich ist nach der UN-Resolution
1244 der Status des Kosovo als autonomer, aber integra-
ler Bestandteil Restjugoslawiens bzw. seines internatio-
nal anerkannten Rechtsnachfolgers Serbiens, festgelegt.
Was hat sich seit 1999 entwickelt? An den zentralen
Aufgaben, die durch Resolution 1244 definiert wurden,
wie zum Beispiel diskriminierungsfreie Rückführung
der Flüchtlinge, der Schutz der ethnischen Minderheiten,
zu denen neben der serbischen auch die bosniakischen,
türkischen und anderen Volksgruppen gehören sowie
dem wirtschaftlichen Aufbau des Landes, ist die interna-
tionale Gemeinschaft, repräsentiert durch UNMIK und
KFOR, gescheitert.
Heute sind eine Arbeitslosigkeit von fünfzig Prozent
und das Vorherrschen von Korruption und Drogenhan-
del, das Fehlen einer funktionierenden Justiz maßgebli-
che Faktoren für das erstarkte ethnisch-nationalistische
Gebaren in der Provinz Kosovo. Sie zeugen davon, dass
eine Parteinahme Deutschlands für die kosovo-albani-
schen Unabhängigkeitsforderungen dem europäischen
Geist und der gelebten Praxis multiethnischen und
gleichberechtigten Zusammenlebens in Europa wider-
spricht.
Es ist der europäische Gedanke der Integration, der
Demokratie und der Rechtstaatlichkeit, der vor dem Hin-
tergrund der nationalistisch-ethnisch geleiteten Position
der kosovo-albanischen Führung eben nicht garantiert
wird, und dies ausgerechnet als Ergebnis eines Krieges
8994 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
gegen Jugoslawien, dem eine moralische Legimitation
wegen des notwendigen Erhaltes multiethnischer Identi-
täten des Balkans gegeben wurde. Das Staatlichkeitsver-
ständnis, das dem Ahtisaariplan innewohnt, reproduziert
das in Westeuropa längst überlebte nationalstaatliche
Muster.
Eine Wiederbelebung dieses Prinzips kann in Europa
nicht ernsthaft vertreten werden. Überdies lässt es auch
keine neue Sicherheit in der Region entstehen. Im Gegen-
teil: Schon heute zeigt sich, dass mit Gewaltausbrüchen
mit nationalistischem Impetus im Kosovo zu rechnen ist.
Gewaltausübung zur Erzwingung von Eigenstaatlichkeit
wird in Europa nirgends akzeptiert. Ein emanzipatori-
sches, gerechtes und friedliches Kosovo ist als Ergebnis
einer so betriebenen Unabhängigkeit nicht zu erwarten.
Befremdend wirkt auf uns Linke, dass von deutschen Po-
litikern und Politikerinnen die Option ins Spiel gebracht
wird, man könne analog der Anerkennung Kroatiens die
Staatlichkeit des Kosovo herbeiführen, um die nach dem
Völkerrecht unmögliche Staatenteilung durch den UN-
Sicherheitsrat zu umgehen. Einer solchen Außenpolitik
widersprechen wir Linke ganz entschieden.
Russland hat in letzter Zeit in der Kontaktgruppe und
im UN-Sicherheitsrat überaus deutlich seine Ablehnung
zu einem solchen Vorgehen zum Ausdruck gebracht.
Spanien und vor allem die Anrainerstaaten Ex-Jugosla-
wiens sehen darin ebenfalls große Gefährdungen für den
weiteren friedlichen Verlauf ihrer eigenen Konflikte, die
aus der multi-ethnischen Zusammensetzung ihrer Bevöl-
kerungen resultieren. Diese Befürchtungen sind ernst zu
nehmen.
Ich bin mir nicht sicher, ob bei einem Vorgehen, wie
beschrieben, die Haltung der Bundesregierung belastbar
ist, keine Bereitschaft zu Grenzveränderungen im Bal-
kan zu dulden. Denn letztlich bedeutet bereits die Unab-
hängigkeit des Kosovo eine staatliche Grenzverschie-
bung. Folgt man dem Wunsch der US-Amerikaner, die
eine schnelle Lösung herbeiführen wollen, dann muss
man die damit verbundenen Risiken nennen. Wir Linke
sind der Meinung, die Sache braucht mehr Zeit und ei-
nen Perspektivwechsel.
Vor allem bedarf es einer pragmatischen Herange-
hensweise. So können wir uns sehr gut vorstellen, dass
der Gedanke weitgehender Autonomie in einem födera-
len System unter Wahrung der Minderheitenrechte für
das Kosovo im Rahmen der territorialen Integrität
Serbiens eine Zukunftsperspektive eröffnen könnte. Eine
Aufnahme der aus Jugoslawien entstandenen Staaten in
die EU auf der Grundlage der Staatlichkeit, wie sie die
Resolution 1244 für Serbien vorsieht, kann sich befrie-
dend für den derzeitigen Konflikt auswirken, wenn Eu-
ropa bereit ist, sich dafür zu engagieren.
Als zwingend erforderlich sehen wir an, „Druck aus
dem Kessel“ im Kosovo zu nehmen. Eine großzügige
Migrationsregelung, vor allem eine Arbeitsmigration in
die EU brächte den durch soziale und wirtschaftliche
Depression perspektivlosen und national verführbaren
Menschen im Kosovo eine neue Option zur Lebensge-
staltung. Denn in die EU wollen sie. Die Menschen in
der Provinz Kosovo genauso wie die in Serbien. Wenn
selbst für Südafrika, das derzeit den Vorsitz im Sicher-
heitsrat hat, und Indonesien der Ausgang der Statusfrage
von großem Interesse ist, dann sollte das Anlass für
Deutschland sein, mit hohem Verantwortungsbewusst-
sein eine neutrale Moderation für eine eigenverantwort-
liche und einvernehmliche Lösung zwischen Serbien
und den kosovo-albanischen Repräsentanten zu finden.
Eine Lösung, die mit der multi-ethnischen Identität
Europas konform ist, ist zu unterstützen. Ein „Groß-
mächte-Skat“ zulasten eines emanzipatorisch-europäi-
schen Staatsverständnis darf Deutschland nicht mittra-
gen. Die Menschen vor Ort und nicht die Großmächte
müssen mit einer Entscheidung leben können. Daher
kann eine Lösung nur durch Verhandlungen zwischen
den beiden Konfliktparteien ohne Parteilichkeit zu einem
tragfähigen Ergebnis führen. Die internationale Gemein-
schaft muss sich auf die Moderationsrolle beschränken
und die EU den Menschen eine EU-Integrationsperspek-
tive bieten.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Die Klärung des Status für das Kosovo nä-
hert sich nun hoffentlich endlich ihrem Ende. Jetzt liegt
die Entscheidung über den Ahtisaari-Plan beim UN-Si-
cherheitsrat. Dieser ist allerdings – zumindest momentan –
blockiert durch Russland. Von dort wird öffentlich gefor-
dert, einen neuen, fähigeren Vermittler zu benennen und
die Verhandlungen neu zu beginnen.
An dieser Stelle muss klar gesagt werden: Martti
Ahtisaaris Arbeit verdient es ausdrücklich, gelobt zu
werden. Auf ihn die Schuld daran schieben zu wollen,
dass die Vermittlung zwischen Kosovo-Albanern und
Serbien gescheitert sind, ist unlauter. Jede und jeder
konnte sehen, welche Anstrengungen er machen musste
und gemacht hat. Ebenso erkennbar war die vollständige
Unvereinbarkeit der Positionen. Und hinzugefügt wer-
den sollte auch, welcher Anstrengung es aufseiten der
kosovo-albanischen Regierung bedurfte, die Einschrän-
kungen der ersehnten Unabhängigkeit hinzunehmen,
mittels derer Ahtisaari nicht zuletzt Serbien zum Einlen-
ken bewegen wollte.
Die Position Serbiens, eines Staates, der Jahrzehnte
finsterer Repression gegen die Kosovo-Albaner vertre-
ten muss, ganz abgesehen von den zwei schrecklichen
Kriegen der 90er-Jahre, ist bis heute geprägt von Unein-
sichtigkeit in diese Fehler und davon, die Niederlage des
großserbischen Nationalismus nicht einzugestehen. Auf
einer solchen Grundlage sind einvernehmliche Verhand-
lungen schwierig. Natürlich wäre es schöner, ein einver-
nehmliches Ergebnis vorweisen zu können. Dennoch:
Ich meine, es sollte einmal ausgesprochen werden, dass
der Anspruch des aggressiven serbischen Nationalismus
auf Berücksichtigung seiner Ziele nicht zu akzeptieren
ist. Das Angebot einer Kompromisssuche war so gese-
hen ein großzügiges Angebot. Mehrmals wurde oben-
drein Rücksicht auf die Zeitpläne der serbischen Innen-
politik genommen. Sogar das Referendum, in dem unter
Ausschluss der Kosovo-Albaner über sie verfügt wurde,
hat die internationale Gemeinschaft hingenommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8995
(A) (C)
(B) (D)
Wenn solche Angebote ausgeschlagen werden, liegt die
Verantwortung nicht bei dem, der sie unterbreitet, son-
dern bei dem, der sie verwirft.
Die Situation im Kosovo selbst ist noch ruhig. Aber
auch dort gibt es verhandlungs- und kompromissunwil-
lige Gruppen. Zum Glück – und bis jetzt – sind sie zwar
laut und aktiv, aber nicht mehrheitsfähig. Aber das kann
sich ändern, wenn der Prozess weiter verschleppt wird.
Trotzdem muss auch an die Adresse der Kosovo-Alba-
ner gesagt werden: Nationalismus kann nicht mit Natio-
nalismus begegnet werden. Rache an den Serben wird
weiter bekämpft werden, und wie in jedem Land hat
auch im Kosovo die Mehrheit nicht das Recht, die Min-
derheit zu unterdrücken. Einzig richtiges Ziel ist deshalb
auch hier das friedliche Zusammenleben und der privile-
gierte Schutz der Minderheitenrechte. Damit dieses Ziel
erreicht werden kann, bleibt die internationale Präsenz
im Kosovo notwendig. Und dazu gehören auch weiter-
hin Soldaten.
Aber der Druck im Kessel Kosovo wird größer, die
Entwicklung stagniert seit langem ohne die Klärung der
Zukunftsperspektive. Ganze Generationen sind dort
schon ohne Chancen aufgewachsen. Vor dem Krieg gab
es noch das Ventil der Wirtschaftsemigration, das Hun-
derttausende genutzt haben. Dies ist jetzt nicht mehr
möglich, obwohl sich für die wirtschaftliche Perspektive
faktisch wenig verbessert hat. Damit dieser Kessel nicht
platzt, brauchen die Menschen dringend eine reale Hoff-
nung. Diese kann auch unter günstigen Bedingungen al-
lenfalls langfristig im Land allein erfüllt werden. Wir
sind es uns und besonders der jungen Generation im Ko-
sovo schuldig, klar zu sagen: Nicht nur Hilfe im Kosovo
selbst ist nötig, sondern auch das Öffnen des Ventils
nach außen. Junge Leute aus dem Kosovo müssen ins
Ausland reisen dürfen, sie müssen im Ausland studieren
und auch arbeiten dürfen.
Noch einmal zurück zum UN-Sicherheitsrat: Was will
Russland? Will es einen Präzedenzfall verhindern, weil
es befürchtet, jemand könnte auf die Idee kommen, ihn
auch auf Tschetschenien anwenden zu wollen? Denn
nicht nur außerhalb Russlands gibt es sezessionistische
Ansprüche. Vielleicht sollte daran erinnert werden, dass
Russland als langjähriges Mitglied der Kontaktgruppe
die Prämissen der Verhandlungsoptionen für den UN-
Beauftragten Martti Ahtisaari mitgetragen hat. Dazu ge-
hörte, nicht zum Status quo vor dem Krieg zurückzukeh-
ren. Es ist zu hoffen, dass es Russland mit seiner Verzö-
gerungsforderung nicht auf einen neuen Gewaltausbruch
in Südosteuropa ankommen lassen will. Denn der droht,
wenn Ahtisaaris 120-Tage-Plan nicht umgesetzt werden
kann.
Europa steht in der Verantwortung für die Zukunft des
Kosovo, nicht nur, weil das Kosovo ein Teil Europas und
irgendwann auch der EU ist. Wir haben sie übernom-
men, als wir den flüchtenden Albanern zu Hilfe kamen.
Jetzt müssen wir sie einlösen.
Gernot Erler, Staatsminister beim Bundesminister
des Äußeren: Der Prozess zur Bestimmung des künfti-
gen Status des Kosovo – das momentan drängendste po-
litische Problem auf dem westlichen Balkan – tritt in
seine letzte und entscheidende Phase. Am 26. März wird
der VN-Sondergesandte, Präsident Ahtisaari, seinen Sta-
tusvorschlag an den Sicherheitsrat der Vereinten Natio-
nen in New York übermitteln.
Einige Worte zu dem Statusvorschlag: Präsident
Ahtisaari hat den Statusvorschlag Belgrad und Pristina
am 2. Februar übergeben. In den vorausgegangenen, na-
hezu einjährigen Direktgesprächen des vergangenen Jah-
res sind beide Seiten nicht in der Lage gewesen, sich ge-
meinsam auf einen tragbare Kompromisslösung zu
einigen. Gleichwohl baut der Vorschlag auf diesen Ge-
sprächen auf, schlägt die Brücke über die entgegenge-
setzten Positionen oder spiegelt Einigung in den Berei-
chen wider, wo dies möglich war.
Der Vorschlag ist ausgesprochen ausgewogen, fair und
vorwärtsschauend. Er stellt den einzig möglichen Kom-
promiss dar zwischen den kosovarischen Forderungen
nach sofortiger und unbeschränkter Unabhängigkeit einer-
seits und dem Belgrader Beharren auf „mehr als Autono-
mie und weniger als Unabhängigkeit“ andererseits. Er
trägt dem Wunsch der überwältigenden Mehrheit der Be-
völkerung im Kosovo – der Kosovo-Albaner – Rechnung,
berücksichtigt gleichzeitig aber die legitimen Interessen
Belgrads sowie der nichtalbanischen Volksgruppen, insbe-
sondere der Kosovo-Serben. Die Bestimmungen zu deren
Schutz sind sehr weitgehend – Präsident Ahtisaari hat
mehrfach darauf hingewiesen, dass rund zwei Drittel des
Statuspaketes sich mit der Absicherung der nichtalbani-
schen Volksgruppen und ihrer Rechte befassen.
Diese Rechte werden nicht lediglich auf dem Papier
bestehen. Zwar werden eine Reihe der bisher von den
Vereinten Nationen ausgeübten Zuständigkeiten auf die
kosovarischen Behörden übergehen – nach nahezu acht
Jahren internationaler Verwaltung ein längst überfälliger
Schritt.
Die Kompetenzen der internationalen Gemeinschaft
werden aber auch nach der Statuslösung beträchtlich
bleiben, und dies in dreifacher Hinsicht: Ein internatio-
naler ziviler Repräsentant, der in Personalunion EU-
Sondergesandter sein wird, wird die oberste und endgül-
tige Instanz bei der Auslegung der Statuslösung sein. Er
wird hierzu über weitgehende exekutive und korrektive
Befugnisse verfügen. KFOR wird im Kosovo verbleiben
und weiterhin für ein sicheres Umfeld sorgen. In der Zeit
unmittelbar nach der Statuslösung wird es zu keinen
Truppenreduzierungen kommen. Und schließlich wird
die EU Kosovo bei dem Aufbau von Polizei und rechts-
staatlichen Strukturen nachhaltig unterstützen. Eine
ESVP-Rechtsstaatsmission, die über nicht unmaßgebli-
che Zuständigkeiten verfügen wird, ist hierzu in Vorbe-
reitung. Mit rund 1 500 internationalen Mitarbeitern
wird es sich dabei um die bisher größte zivile ESVP-
Mission handeln.
Die Bundesregierung ist überzeugt: Nur auf Grund-
lage des von Präsident Ahtisaari vorgelegten Lösungsan-
satzes wird eine längerfristige Stabilisierung der Region
erreichbar sein.
8996 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Diese Auffassung wird von unseren EU-Partnern ge-
teilt. So haben sich die Außenminister der Union auf
dem Rat vom 12. Februar eingehend mit dem Lösungs-
vorschlag beschäftigt. Sie haben Präsident Ahtisaari ihre
volle Unterstützung ausgesprochen. Und sie haben die
Überzeugung geäußert, dass die Statusvorschläge die
Grundlage für eine nachhaltige wirtschaftliche und
politische Entwicklung des Kosovo legen sowie zur Sta-
bilisierung der Region beitragen werden.
Im Anschluss an die Übergabe des Statusvorschlags
an Belgrad und Pristina haben hierüber erneute Ge-
sprächsrunden zwischen beiden Seiten stattgefunden,
zunächst auf Expertenebene, am 10. März auch auf
höchster politischer Ebene.
Auch diese erneuten Gesprächsrunden haben gezeigt,
dass die Divergenzen zwischen beiden Seiten unüber-
brückbar sind. Pristina hat dem Statuspaket zugestimmt.
Belgrad hat es abgelehnt und zum Teil Forderungen er-
hoben, die es bei den Verhandlungen im vergangenen
Jahr bereits aufgegeben hatte.
Im Anschluss an diese letzte Runde der Gespräche hat
Präsident Ahtisaari den Entwurf des Statuspaketes über-
arbeitet und einige der bereits sehr weitgehenden Be-
stimmungen zum Schutz der nichtalbanischen Volks-
gruppen sowie der serbisch-orthodoxen Kirche weiter
ausgedehnt.
Diesen Statusvorschlag wird er nunmehr an den Si-
cherheitsrat der Vereinten Nationen zu überweisen.
Völlig zu Recht! Denn auch wenn die Verhandlungen
noch Wochen, Monate oder gar Jahre andauern würden –
die bisherige Verhandlungsgeschichte hat gezeigt, dass
eine gemeinsam getragene Kompromisslösung nicht nä-
her rückt. Die jüngste Gesprächsrunde hat dies noch ein-
mal deutlich vor Augen geführt.
Im Übrigen haben weder Belgrad, noch Pristina, noch
etwa einzelne Mitglieder der Kontaktgruppe einer Über-
weisung des Statuspakets an den Sicherheitsrat wider-
sprochen.
Aus Sicht der Bundesregierung wird es nunmehr ent-
scheidend darauf ankommen, dass der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen seiner Verantwortung gerecht wird
und das Statuspaket zügig und ohne Abstriche billigt.
In unzähligen Gesprächen mit ihren Partnern hat die
Bundesregierung dabei keinerlei Zweifel gelassen, dass
die Kosovostatuslösung – der Endpunkt der Auflösung
des ehemaligen Jugoslawiens – eine Grundvorausset-
zung für die Stabilisierung Kosovos, Serbiens und der
gesamten Region ist. Und dass dauerhafte Stabilität auf
dem westlichen Balkan – die Konflikte der 90er-Jahre
haben dies belegt – eine zentrale, ja vitale Frage deut-
scher und europäischer Sicherheit ist. Die Einigkeit der
EU – für uns als Präsidentschaft von besonderer Bedeu-
tung – ist dabei der Schlüssel zu einer dauerhaften Lö-
sung.
Ich bin überzeugt: Eine Kosovostatuslösung wird
auch die Annäherung Serbiens an die EU erleichtern.
Serbien wird sich nämlich dann mit viel mehr Energie
der EU-Annäherung widmen können. Der Ball liegt al-
lerdings weiterhin bei Serbien. Die EU jedenfalls wird
die SAA-Verhandlungen dann wieder aufnehmen, so-
bald eine neue Regierung uns davon überzeugt, dass sie
willens und in der Lage ist, endlich die Zusammenarbeit
mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehema-
lige Jugoslawien zu verbessern. Es wäre zu wünschen,
wenn dies schon sehr bald der Fall sein könnte.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Individuell för-
dern und regional gestalten – Handlungsfrei-
heit der Arbeitsgemeinschaften stärken (Ta-
gesordnungspunkt 19 a)
Karl Schiewerling (CDU/CSU): Mit der Einführung
des SGB II ist die Arge zum gesetzlichen Regelfall ge-
worden. Hier werden die Kompetenzen der Agentur für
Arbeit und die der ortsnah tätigen Kreise und kreisfreien
Städte gebündelt. Für erwerbsfähige Hilfebedürftige und
die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden
Personen ist die Arge Anlaufstelle und Ansprechpartner.
Mit dem Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe sollen die Be-
troffenen möglichst rasch wieder in den Arbeitsmarkt in-
tegriert und aus dem Leistungsbezug staatlicher Mittel
herausgeführt werden.
Im Mittelpunkt der Arbeit vor Ort steht eine schnelle
und passgenaue Integration. Dabei ist entscheidend, dass
die örtlichen Akteure des Arbeitsmarktes in den Einglie-
derungsprozess miteinbezogen werden. Denn nur die
Verbände, Kirchen, sozialen Einrichtungen und Kreis-
handwerkerschaften vor Ort kennen die lokalen Gege-
benheiten und wissen, wie sie mit den einzelnen Betrof-
fenen umzugehen haben. Denn eines ist gewiss, nur
durch individuelle Betreuung und individuelle Lösungs-
konzepte kann den Menschen geholfen werden.
Neben der unmittelbaren Integration in Arbeit ist
auch der sozialpolitische Auftrag der Leistungsträger des
SGB II zu betonen. Dieser besteht darin, die Integra-
tionshemmnisse langzeitarbeitsloser Personen schritt-
weise, aber kontinuierlich abzubauen und ihre Einglie-
derung in den Arbeitsmarkt gegebenenfalls auch durch
die Erzielung von Integrationsfortschritten zu befördern.
Ich denke, allen Verantwortlichen ist klar, dass das
SGB II möglichst kundennah, dezentral und eigenver-
antwortlich umgesetzt werden muss.
Ein geeignetes Instrument zur Verwirklichung dieser
Ziele ist der Abschluss von Zielvereinbarungen. In den
lokalen Zielvereinbarungen zwischen den Leistungsträ-
gern und den Arbeitsgemeinschaften vor Ort werden
bundesweite Zielvereinbarungen konkretisiert, Ziele der
kommunalen Träger festgelegt und regionalen Gegeben-
heiten Rechnung getragen.
Mit der Rahmenvereinbarung zur Weiterentwicklung
der Arbeitsgemeinschaften gemäß § 44 b SGB II wurde
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8997
(A) (C)
(B) (D)
festgelegt, dass die Trägerversammlung eine Zielverein-
barung mit dem Geschäftsführer der Arbeitsgemein-
schaft abschließen kann. In der Praxis hat sich der Ab-
schluss der Zielvereinbarung mit dem Arge-
Geschäftsführer durch die Trägerversammlung als best-
möglichster Weg aufgezeigt, die Ziele und Interessen
beider Leistungsträger angemessen zu berücksichtigen.
Nichtsdestotrotz müssen wir den regionalen Trägern
den Freiraum zugestehen, neue Wege ausprobieren zu
können. Nach neuen Wegen und Möglichkeiten suchen,
das ist es, was engagierte Helfer vor Ort machen müssen.
Dazu brauchen sie noch mehr Flexibilität und Entschei-
dungsfreiheit.
Wir kennen Zielvereinbarungen auch heute schon,
mir geht es aber nicht um vorgefertigte Formulare, son-
dern um grundsätzliche Vereinbarungen für einen be-
stimmten Zeitraum mit klar gemeinsam abgestimmten
Zielvorgaben hinsichtlich des Erfolges, den man mit den
zugewiesenen Integrationsmitteln erreichen will.
Wenn eine Arbeitsgemeinschaft meint, Arbeitslosen
damit helfen zu können, allen einen Führerschein finan-
zieren zu müssen, dann soll sie dies tun dürfen. Wenn sie
denn damit ihre Ziele erreicht. Diese Entscheidungsfrei-
heit kann aber nur mit Verantwortung einhergehen. Die
muss dann vor Ort auch mit allen Konsequenzen gegen-
über den Geldgebern übernommen werden. Nur das Ziel,
zum Beispiel die vorher vereinbarte Zahl von Langzeit-
arbeitslosen in ein auf Dauer angelegtes sozialversiche-
rungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zu bringen,
muss erreicht werden.
Meines Erachtens ist es vollkommen ausreichend, den
regionalen Trägern Rahmenbedingungen zu setzen, in-
nerhalb derer sie frei entscheiden können, wie und mit
welchen Mitteln sie die Menschen in Arbeit bringen,
wenn denn die vorher vereinbarten Ziele erreicht wer-
den. Diese Ziele müssen auf die jeweilige regionale
Situation abgestimmt sein. Denn in Mecklenburg-Vor-
pommern findet man andere Bedingungen als in Bayern
und am Bodensee.
Ich fasse zusammen. Mit dem Instrument klarer Ziel-
vereinbarungen können Arbeitslose besser und effekti-
ver gefördert werden. Durch Zielvereinbarungen zwi-
schen den regionalen Trägern und der Bundesagentur für
Arbeit kann die Förderung in den verschiedenen Regio-
nen zielgerichteter umgesetzt werden. Innerhalb der
Zielvereinbarungen haben die örtlichen Ebenen freie
Hand und wesentlich mehr Gestaltungsmöglichkeiten –
und zwar orientiert am echten Bedarf und den örtlichen
Gegebenheit.
Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
fehlt eine Gesamtstruktur. Wir sind strikt gegen eine Ver-
rechtlichung der Argen in Form einer Rechtsperson, ob
als e. V., GmbH oder Anstalt des öffentlichen Rechts.
Das führt nur zu einer zusätzlichen Behörde, die dann
die Neigung hat, ein Eigenleben zu entwickeln ohne
Rücksicht auf arbeitsmarktpolitische und kommunale
Gegebenheiten. Die Gefahr, dass dann Kommunen und
Agenturen sich aus einer verpflichtenden Mitverantwor-
tung herausziehen, ist nicht zu unterschätzen. Im Übri-
gen würde das SGB-II-System dann als weitere institu-
tionalisierte Form der Sozialgesetzgebung aufgebaut.
Es bleibt abzuwarten, wie die Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichtes über die Organisationsform der
Arbeitsgemeinschaften ausfällt.
Rolf Stöckel (SPD): Die Zielsetzung des hier zu Rede
stehenden Antrags der Grünen, nämlich den örtlichen
Akteuren in den Arbeitsgemeinschaften mehr Hand-
lungsspielräume zu schaffen und die individuelle Förde-
rung im Rahmen des Fallmanagements weiter zu verbes-
sern, unterstützen wir Sozialdemokraten ausdrücklich.
Dennoch bleibt eine gesamtstaatliche Verantwortung
für die Umsetzung der Arbeitsmarktmaßnahmen not-
wendig. Nicht nur der Bundesregierung und der Bun-
desagentur für Arbeit, die die Arbeitgeber und Gewerk-
schaften im Boot hat, sondern auch die Verantwortung
des Deutschen Bundestages.
Wir stellen im Bundeshaushalt erhebliche Mittel für
die Grundsicherung der Arbeitsuchenden im SGB II und
die von den Kommunen zu tragenden Unterkunftskosten
der Bedarfsgemeinschaften zur Verfügung.
Die Grünen selbst fordern in ihrem Antrag, dass die
Argen weiterhin der Aufsicht des Bundesministeriums
für Arbeit und Soziales unterliegen sollen. Andererseits
sollen zentrale steuernde Vorgaben unterbleiben. Wie
beide Ziele konkret umgesetzt werden sollen, sagt ihr
Antrag nicht.
Zielvereinbarungen, die ja bereits eingeführt sind,
können die Spannungsverhältnisse die in der Rechtskon-
struktion als Ergebnis des Vermittlungsausschusses und
in den Grenzen der föderalen Verfassung angelegt sind,
nicht allein auflösen.
Gemeinsam wollen wir die Umsetzung des SGB II
optimieren und haben in der Koalition deshalb mit der
AG Arbeitsmarkt einen intensiven Arbeitsprozess mit
dem Ziel von mehr Effizienz im SGB II begonnen.
Wir werden zum Beispiel für besonders gehandicapte
Langzeitarbeitslose eine Job-Perspektive schaffen, die
weitgehend vor Ort gestaltet werden kann. Der gesetzli-
che Evaluierungsauftrag und ein ausstehendes Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes über die Organisations-
form der Argen werden hoffentlich zusätzliche Klarheit
schaffen. Mit den Ergebnissen und den örtlichen Praxis-
erfahrungen werden wir uns im Ausschuss intensiv zu
beschäftigen haben.
Die Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen, sind,
wie ich selbst im Kreis Unna, im intensiven Kontakt mit
den örtlichen Argen und Optionskommunen in den
Wahlkreisen. Bereits unter der rot-grünen Bundesregie-
rung, war es möglich, dass die Kommunen die Ge-
schäftsführung der Argen übernehmen, Beiräte gründen
und so eine regional zugeschnittene Umsetzung in Gang
setzen.
Im Kreis Unna wurden die Spielräume unverzüglich
genutzt und auch entsprechende Fortschritte und Erfolge
bei der Beratung und Vermittlung erzielt. Dass die
8998 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
gesamte Umsetzung nach gut zwei Jahren noch nicht
überall optimal läuft, ist bei einer „lernenden Gesetzge-
bung“ und nach allen internationalen Erfahrungen
selbstverständlich. Die Eingliederungstitel sind ja noch
gar nicht ausgeschöpft worden. Das wird sich ändern.
Die Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
durch unsere gemeinsamen Reformen sind aber auch
nicht wegzureden.
Wenn sich alle Beteiligten auf die Förderung der Be-
troffenen konzentrieren und ihren gesetzlichen Auftrag
ernst nehmen, wird das SGB II, da bin ich mir sicher,
eine Erfolgsgeschichte.
Jörg Rohde (FDP): Unsere heutige Debatte führt
auf einen Antrag der Grünen zurück, der feststellt, dass
die Zuständigkeiten der örtlichen Arbeitsgemeinschaften
beim Arbeitslosengeld II klarer geregelt werden müssen.
Bevor ich auf die inhaltlichen Aspekte eingehe,
möchte ich aber kurz an die Vorgeschichte des SGB II
erinnern: Die FDP-Bundestagsfraktion hat 2004 als ein-
zige Fraktion gegen das Optionsgesetz gestimmt. Schon
damals hat Ihnen genau an dieser Stelle hier mein Kol-
lege Dirk Niebel erklärt, warum nur selbstbestimmte
Kommunen erfolgreich Arbeitsuchende in Arbeit ver-
mitteln können. Wir haben Ihnen schon damals erläutert,
dass wir am Erfolg der Argen zweifeln. Union, SPD und
auch die Grünen, die heute Verbesserungsvorschläge
vorlegen, haben diesem Gesetzesmurks – der übrigens
schon sehr häufig nachgebessert wurde – damals zuge-
stimmt.
Wäre man den schon 2003 von den Liberalen vorge-
legten Vorschlägen zur Kommunalisierung gefolgt, so
wären viele der heute in diesem Antrag angemahnten
Verbesserungen bei den Arbeitsgemeinschaften gar nicht
erst nötig. Die geteilte Trägerschaft zwischen BA, den
Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen ist der
zentrale Systemfehler von Hartz IV. Mit den Arbeits-
gemeinschaften wurde eine zusätzliche Verwaltungs-
ebene eingeführt, in der die Verantwortlichkeiten nicht
geklärt sind. Konsequenz sind die von den Grünen heute
angeprangerten Doppelzuständigkeiten, Kompetenzge-
rangel, Verwischung finanzieller Verantwortlichkeiten
und hohe Verwaltungskosten.
Die Verantwortlichkeiten für die Grundsicherung für
erwerbsfähige Langzeitarbeitslose sollten daher auf
einen Träger konzentriert werden. Dies können aufgrund
ihrer Erfahrungen aus der Sozialhilfe und ihrer Nähe
zum Bürger nur die Kommunen sein. Der Antrag der
Grünen geht von richtigen Prämissen aus, fordert aber
keine geeigneten Konsequenzen. Die Probleme der Ar-
beitsgemeinschaften sind nicht durch Korrekturen zu
beheben, sondern nur durch deren Abschaffung.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass durch Ihren An-
trag das Scheitern der rot-grünen und später dann
schwarz-roten Arbeitsmarktpolitik mal wieder Gegen-
stand einer Bundestagsdebatte wird. Völlig zurecht
stellen Sie fest, dass die Arbeitsweise der Argen im Wi-
derspruch zu den Anforderungen an ein individuelles
Fallmanagement stehen. Umgekehrt legen Vermitt-
lungserfolge vieler Optionskommunen nahe, dass die
alleinige Verantwortung der Kommunen der geeigne-
tere Weg der Arbeitsvermittlung ist. Mehr Autonomie
für die Arbeitsgemeinschaften – das ist zweifellos gut
für die Argen. Für die Arbeitsuchenden allerdings wäre
es noch besser, wenn ihre Betreuung ganz in den Hän-
den der Kommune läge.
Es ist auch absolut richtig, dass die Eingriffsmöglich-
keit der Regionaldirektionen und des BA-Vorstandes die
Aufgabenwahrnehmung durch die Argen behindern. Die
Grünen fordern deshalb die völlige Freiheit der Argen
im Einsatz der SGB-II-Instrumente. Wir von der FDP
haben einen besseren Vorschlag: Auflösung der zentra-
listischen Bundesagentur für Arbeit in ihrer jetzigen
Form und Abschaffung der Regionaldirektionen.
Die Grünen haben die Probleme doch erkannt, warum
bleiben sie bei ihren Lösungsvorschlägen dann auf hal-
bem Wege stehen?
Bei der A2LL-Software muss etwas passieren, das ist
völlig richtig. Wir haben eine schlecht funktionierende
Software bei der Bundesagentur und den Argen. Eine
Überarbeitung von A2LL kann aber so lange nicht gelin-
gen, wie durch ständige Gesetzeskorrekturen ununter-
brochen Anpassungen der komplexen Software erzwun-
gen werden. Hier muss nüchtern gerechnet werden,
welche Lösung langfristig günstiger ist: Schaffen wir die
Möglichkeiten für eine generelle Überarbeitung von
A2LL, oder suchen wir nach einem Neuanfang für die
nötige Software?
Ich möchte die Debatte aber auch nutzen, um noch ein
Wort zum leider nun jährlich wiederkehrenden Zirkus
um die Haushaltsmittel für Eingliederungsmaßnahmen
nach SGB II zu verlieren: Was im vergangenen Jahr
„Haushaltssperre“ hieß, heißt dieses Jahr „Deckungsver-
merk“. Im Ergebnis ist es das gleiche: Unzählige Träger
von Eingliederungsmaßnahmen haben keine Planungssi-
cherheit für das gesamte Jahr, weil sie nicht sicher wis-
sen, wie viel Geld ihnen für Eingliederungsmaßnahmen
zur Verfügung steht. Hauptleidtragende werden die Ar-
beitsuchenden sein, die auf diese Maßnahmen angewie-
sen sind. Für die Arbeitsvermittlung braucht man einen
langen Atem, nicht nur, aber vor allem auch finanziell.
Dazu gehört absolute Planungssicherheit. An die Kolle-
ginnen und Kollegen der Regierungskoalition appelliere
ich daher dringend: Geben Sie allen Trägern der Arbeits-
losenvermittlung die Planungssicherheit, die sie für eine
erfolgreiche Arbeit brauchen!
Die FDP fordert eine grundlegend andere Arbeits-
marktpolitik, unter anderem die Auflösung der Bundes-
agentur für Arbeit und einer Übertragung der Zuständig-
keiten für die Arbeitsvermittlung an die Kommunen.
Deshalb lehnt die FDP-Fraktion diesen Antrag der Grü-
nen ab, der zwar in weiten Teilen der Diagnose richtig
ist, aber zur Lösung des Problems nicht weit genug
reicht. Wir Liberale haben dem Parlament weiterge-
hende Vorschläge unterbreitet. Schließen Sie sich uns an,
wir holen Sie da ab, wo Sie stehen bleiben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 8999
(A) (C)
(B) (D)
Kornelia Möller (DIE LINKE): Das Thema, das von
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Antrag 16/4612 in den
Bundestag gebracht wird, ist hochaktuell, weil am Ende
dieses Jahres für mehrere tausend Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Argen und Agenturen mit getrennten
Trägerschaften die befristeten Arbeitsverträge auslaufen
und viele Beschäftigte noch mit Sorge in die Zukunft bli-
cken. Dies ist genauso auf den Reformmurks der Hartz-
Gesetze zurückzuführen wie die Gründe für dringend
notwendige Veränderungen in der Arbeitsweise der Ar-
gen, die im vorliegenden Antrag genannt werden.
Inzwischen ist längst sichtbar geworden, dass die
übereilte Verabschiedung des Hartz-IV-Gesetzes nach
dem unsäglichen Tauziehen im Vermittlungsausschuss
Ende 2004 äußerst schädliche Folgen, vor allem für die
Betroffenen – mit sich bringt, ganz abgesehen von der
völligen sozialen Schieflage dieses „Reformwerks“.
Bündnis 90/Die Grünen ist daran, wie Sie selbst wissen,
nicht ganz unschuldig. Denn die Hartz-Gesetze sind
auch von Ihnen mitzuverantworten. Ihren heutigen An-
trag betrachten wir deshalb als so etwas wie den verspä-
teten Versuch der Wiedergutmachung infolge schlechten
Gewissens. Den Betroffenen allerdings werden Ihre Re-
paraturvorschläge wenig nutzen. Ihre soziale Situation
wird sich damit kaum verbessern.
Dass die Arbeitsfähigkeit vieler Argen nach wie vor
nicht den Erwartungen und Erfordernissen entspricht,
hängt nicht allein damit zusammen, dass ihre Hand-
lungsfreiheit eingeschränkt ist, dass die fachliche Zu-
ständigkeit für ihre Arbeit bei den Kommunen und
gleichzeitig der BA liegt und dass die BA ihre Verant-
wortung für Sparsamkeit zu eng sieht, sondern es liegt
an der generellen Fehlkonstruktion der gesamten Hartz-
Gesetze, am Nicht-zu-Ende-Denken der Folgen dieser
Reformen und am viel zu hohen Tempo, mit dem sie in
Angriff genommen und umgesetzt wurden. Es ist eben
„Reformmurks“!
Die im Antrag aufgeführten Konstruktionsmängel in
der Organisation zur Bewältigung der 2005 in Gang ge-
setzten Veränderungen, die sich zuallererst nachteilig für
die Arbeitssuchenden auswirken, sind nur eine Seite.
Und angesichts der nach wie vor zu hohen Massenar-
beitslosigkeit und der Notwendigkeit, sie – und vor al-
lem die Langzeiterwerbslosigkeit – als grundlegendes
gesellschaftliches Problem mit höherem Tempo zurück-
zudrängen, setzt sich Die Linke nicht für eine totale De-
zentralisierung der Arbeitsmarktpolitik nach dem Mo-
dell der FDP ein, sondern für ein optimales Verhältnis
zwischen grundsätzlichen gesellschaftlichen Entschei-
dungen und einen möglichst großen Spielraum der regio-
nalen Arbeitsmarktakteure. Insofern unterstützen wir die
im Antrag gestellten Forderungen nach eindeutigen Auf-
gabenzuordnungen für die Argen. Die notwendige ge-
setzliche Klarstellung der Trägerschaft im SGB II muss
die vollständige Hoheit über Personal und Eingliede-
rungsbudget sichern. Eine „völlige Freiheit“ jedoch,
auch bei den Instrumenten, wie von den Grünen gefor-
dert, kann es jedoch nicht geben, weil die Schwankun-
gen des Arbeitsmarktes durchaus zum Beispiel finanzi-
elle Eingriffe durch die öffentliche Hand erforderlich
machen können, dies vor allem so lange, wie es keine
nachhaltige Beschäftigungspolitik gibt. Mehr Gestal-
tungsspielraum vor Ort – auch dieser Notwendigkeit
stimmen wir zu. Richtig ist auch die obligatorische Ein-
richtung von Beiräten, in denen die gewählten kommu-
nalen Vertreterinnen und Vertreter sowie die örtlichen
Arbeitsmarktakteure vertreten sind. Wir denken, dass in
ihnen zwingend auch die Betroffenenorganisationen ver-
treten sein sollten. Das könnte viele Konflikte verhin-
dern.
Wenn notwendige Veränderungen in der Arbeitsweise
und Effektivität der Argen auf die Tagesordnung kom-
men, dann möglichst im Komplex. Deshalb möchten wir
die Aufmerksamkeit auf einige Faktoren lenken, die die
gegenwärtige Arbeitsfähigkeit der Argen ebenfalls er-
heblich beeinträchtigen.
Zunächst ist das nach wie vor die Sicherung des bis-
her festgelegten Betreuungsschlüssels. Sicher würde ihn
die Bundesregierung am liebsten heruntersetzen, um auf
Kosten der Erwerbslosen noch mehr zu sparen, zumal
immer noch nicht klar ist, welche Perspektive auf die be-
fristet eingestellten 4 000 Beschäftigten zukommt, für
die noch keine Lösung gefunden wurde, wie die Bundes-
regierung in der vergangenen Sitzung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales eingestehen musste. Leider
konnte die Bundesregierung nicht einmal Auskunft da-
rüber erteilen, wie weit man inzwischen an den geplan-
ten Betreuungsschlüssel herangekommen ist. Hier ist
noch viel zu tun – und dies nicht allein auf dem Wege
der Stärkung der Handlungsfreiheit der Argen.
Zum Zweiten geht es darum, die Eignung der Be-
schäftigten in den Argen für ihre verantwortungsvolle
Arbeit deutlich zu verbessern. Es wird immer deutlicher,
dass es hier riesige Lücken, vor allem in der Qualifika-
tion gibt, die nicht zuletzt mit dazu beigetragen haben,
dass die Zahl der Sozialgerichtsverfahren ins Unermess-
liche gestiegen ist. Das werden Sozialrichter und An-
wälte sicher bestätigen können. Notwendig ist ein nach-
holendes Qualifizierungsprogramm vor allem für
diejenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unmit-
telbar mit Eingliederungsaufgaben betraut sind, wie zum
Beispiel Fallmanagerinnen und Fallmanager. Wie drin-
gend das ist, darauf weist eine Antwort der Bundesregie-
rung auf die Große Anfrage der Linksfraktion zu den
Folgen der Hartz-Gesetze hin. Dort wird nachgewiesen,
dass die Qualifizierung von 800 ehemaligen Telekom-
und Postmitarbeiterinnen und -mitarbeitern – von insge-
samt 3 240 Mitarbeiterinnen und -mitarbeitern –, die
nach der Privatisierung dieser ehemals öffentlichen Un-
ternehmen ihren Arbeitsplatz verloren und befristet für
neue Aufgaben in der BA sowie den Argen eingesetzt
wurden, lediglich 100 000 Euro gekostet haben soll.
Welches Niveau diese Weiterbildung wohl gehabt haben
mag, kann sich jeder selbst ausrechnen!
Wir vertreten also die Auffassung: Zusätzlich zu den
meisten im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen enthalte-
nen Forderungen sind jene personellen Voraussetzungen
zu schaffen, die genannt wurden, um die Arbeitsfähig-
keit der Argen im Interesse der Langzeiterwerbslosen zu
stärken.
9000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir wollen mehr Freiheit für die Arbeitsgemeinschaften.
Denn nur so ist eine bessere Betreuung von Langzeitar-
beitslosen möglich! Wir haben ein breites Instrumenta-
rium und geben viel Geld für aktive Fördermaßnahmen
aus, aber all das nützt nichts, wenn die Möglichkeiten
nicht ausgeschöpft werden können. Das Konzept „Hilfe
aus einer Hand für Langzeitarbeitslose unter dem Dach
der Argen“ ist richtig. Die Realität sieht aber anders aus.
Sie geht auf Kosten der Arbeitssuchenden und sorgt
letztlich auch dafür, dass die Kosten für Arbeitslosigkeit
nicht heruntergehen. Denn eine regional ausgerichtete
Arbeitsmarktpolitik und ein individuell zugeschnittenes
Fallmanagement verträgt sich nicht mit zentralistischen
Vorgaben von der Stange!
Die Arbeit der Argen leidet unter den Kompetenz-
streitigkeiten zwischen der Bundesagentur für Arbeit
und den Kommunen, unter unklaren Aufgaben, unter un-
nötigen Controlling- und Statistikaufgaben und unter der
Anwendung bürokratischer Regeln und Instrumente. Die
Argen brauchen eine eigene Identität und mehr Autono-
mie. Sie müssen endliche eine eigene „Firma“ werden
können. Die fachlichen Zuständigkeiten sind jetzt zwi-
schen Kommunen und Agenturen für Arbeit aufgeteilt
und liegen nicht bei den Arbeitsgemeinschaften selbst –
das muss sich ändern, zuallererst beim Bereich der Ar-
beitsförderung. Die Verantwortung hierfür gehört direkt
zu den Argen.
Im Moment laufen die Argen am Gängelband des
Bundes und der BA. Sie haben keine Personalhoheit. Es
kann nicht sein, dass der Geschäftsführer einer Arge mit
17 Personalräten verhandelt, nur um ein Referat neu zu
besetzen. Deshalb wollen wir, dass die Argen in Zukunft
eigenverantwortlich über ihr Personal bestimmen kön-
nen. Gleiches gilt für die Verwendung ihres Budgets.
Auch über die Verwendung des Eingliederungsbudgets
muss vor Ort entschieden werden können! Augenblick-
lich wird die Kreativität und Innovationsfreude der Ar-
gen durch den Bund und die BA behindert. Die interpre-
tieren nämlich ihre Verantwortung für Wirtschaftlichkeit
und Sparsamkeit so eng, dass die Argen die Instrumente
und Verfahren des SGB II nur in standardisierter und
vorgeschriebener Form einsetzen können. Das ist aber
genau das Gegenteil von individueller Förderung, und
entsprechend sind die Ergebnisse dieser Politik.
Ich habe angesichts der detaillierten und zahlreichen
Vorgaben häufig den Eindruck, dass die BA ihren eige-
nen Leuten vor Ort nicht traut. Aber wir haben kompe-
tente und motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in
den Argen, bei der BA und in den Kommunen, die mit
mehr Handlungsspielraum auch mehr für die Langzeitar-
beitslosen erreichen können.
Selbstverständlich sollen die Argen auf der Grundlage
des SGB II arbeiten. Und selbstverständlich muss der
Bund als Hauptkostenträger kontrollieren dürfen, ob das
funktioniert und über Ziele steuern dürfen. Aber das
doch bitte mit Augenmaß und Köpfchen. Eine gute Steu-
erung setzt auf Anreize und nicht auf Dauerkontrolle.
Mit Zielvereinbarungen lässt sich vortrefflich steuern. Es
kommt dabei auf das Ergebnis an und nicht auf den Weg
dahin. Der kann nämlich je nach Ausgangslage ganz un-
terschiedlich aussehen. Ein gutes Benchmarking sorgt
dafür, dass erfolgreiche Beispiele und Ideen sich verbrei-
ten und die Argen voneinander lernen können.
Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass durch detaillierte
Vorgaben Kosten gespart werden können. Hier werden
Arbeitskräfte durch stupides Zählen, Wiegen und Mes-
sen gebunden, die besser mit der Betreuung eines Lang-
zeitarbeitslosen betraut worden wären. Nur die erfolg-
reiche Integrationsarbeit vor Ort wird letztlich
Langzeitarbeitslosigkeit reduzieren, und nur dann wer-
den auch die Kosten sinken. Das erfordert aber aufseiten
der Argen einen gehörigen Gestaltungsspielraum bei der
Wahl ihrer Mittel. Der Kollege Brandner von der SPD
hat das erkannt und bereits öffentlich mehr Entschei-
dungsfreiheit für die Argen gefordert. Auch der Kollege
Schiewerling von der Union hat sich heute Morgen in
der Debatte ähnlich geäußert. Meine Herren, Sie haben
es begriffen, und ich hoffe, dass mit Ihrer Unterstützung
unser Antrag erfolgreich die Beratungen überstehen
wird. Die Argen und die Arbeitssuchenden werden es Ih-
nen danken.
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Arbeit und Soziales: Die Umsetzung der
Grundsicherung für Arbeitssuchende weiter zu optimie-
ren, ist ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung.
Dies wird mit dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen aufgegriffen. Bündnis 90/Die Grünen schlagen
vor, der örtlichen Ebene, also den Arbeitsgemeinschaf-
ten größere Handlungsfreiheit zu geben. Sie sollen frei
über die Haushaltsmittel disponieren können.
Steuernde Vorgaben „von oben“, also von der Bun-
desagentur für Arbeit, sollten unterbleiben. Der Bund
solle seine Verantwortung für Wirtschaftlichkeit und
Sparsamkeit ausschließlich im Rahmen der jährlichen
Zielvereinbarungen wahrnehmen.
Ich gebe zu: Das klingt zunächst einleuchtend. Wer,
wenn nicht die Praktiker vor Ort, weiß, was nötig ist, um
die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen einzugliedern? Da-
bei wird aber eines übersehen: Wenn die Arbeitsgemein-
schaften frei und nach eigenem Ermessen über die Ver-
wendung des Geldes entscheiden können, wem wären
sie dann verantwortlich? Das Geld, das die Arbeitsge-
meinschaften für die Eingliederung ausgeben, kommt
vom Bund. Haushaltsgeber sind Sie, der Deutsche Bun-
destag.
Wer den Arbeitsgemeinschaften freie Hand bei der
Ausgabe der Mittel einräumt, entzieht dem Deutschen
Bundestag die Kontrolle über deren Verwendung. Das
bedeutet, dieses Parlament könnte eine seiner ureigens-
ten Aufgaben nicht mehr wahrnehmen. Das kann doch
nicht im Ernst als Ziel angestrebt werden.
So kann es also nicht funktionieren. Wie man die Effi-
zienz des SGB II steigern kann, ist eines der Themen,
die in der Arbeitsgruppe Arbeitsmarkt unter der Leitung
von Bundesminister Franz Müntefering behandelt wer-
den. In diesem Zusammenhang werden auch die Aufga-
ben und Rollen der Beteiligten, also der Bundesagentur
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 9001
(A) (C)
(B) (D)
für Arbeit, der Kommunen, der Arbeitsgemeinschaften
und der Länder erörtert. Eine Zielsetzung ist es, die Ver-
antwortlichkeiten und Handlungsmöglichkeiten klar zu
benennen.
Ich will mögliche Ergebnisse der Arbeitsgruppe nicht
vorwegnehmen, aber wichtig ist aus meiner Sicht, dass
jeder dieser Beteiligten seine Aufgabe und ihre Grenzen
kennt. Dabei müssen sich meines Erachtens Durchfüh-
rung und Finanzierung ganzheitlich zusammenfügen.
Wer den Finanzrahmen bestimmt, trägt Verantwortung.
Die kann er nicht „wegdezentralisieren“.
Wenn es gelingt, dass alle Beteiligten ihre Rolle und
die der anderen akzeptieren, sind wir auf dem Weg zu
mehr Effizienz im SGB II ein großes Stück vorwärtsge-
kommen. Hierzu kann unsere Debatte heute auch einen
Beitrag leisten.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Einheitlicher euro-
päischer Zahlungsverkehrsraum – Einfach,
schnell und günstig für Verbraucherinnen und
Verbraucher sowie Unternehmen (Tagesord-
nungspunkt 20)
Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Ein einheitli-
cher Rechtsrahmen für den europäischen Zahlungsver-
kehr ist ein wesentlicher Bestandteil für den europäi-
schen Binnenmarkt. Bei dem Ziel, einen europäischen
Zahlungsverkehrsraum zu erreichen, in dem Bürger wie
Unternehmen grenzüberschreitende Zahlungen genauso
einfach, sicher, effizient und kostengünstig ausführen
können wie auf nationaler Ebene, sind wir uns im
Grundsatz einig. Daher haben wir als Koalitionsfraktio-
nen bereits am 31. Mai 2006 den Antrag „Grenzüber-
schreitender Zahlungsverkehr im europäischen Binnen-
markt“ im Deutschen Bundestag verabschiedet. Dieser
Antrag enthält die wesentlichen Leitlinien des deutschen
Parlaments, die wir der Bundesregierung für die Ver-
handlungen auf EU-Ebene frühzeitig mit auf den Weg
gegeben haben. Diesen Antrag wollten Sie damals leider
nicht unterstützen.
Stattdessen legen Sie heute einen Antrag auf den
Tisch, der ein Sammelsurium an unkoordinierten Vor-
schlägen darstellt und sich in keinem Fall gründlich mit
der Problemlage befasst. Sie fordern einen einheitlichen
Zahlungsverkehrsraum für Verbraucher und Unterneh-
mer und vermischen dabei wild die verschiedenen The-
menbereiche. Sie fordern auf knappen zwei Seiten – al-
lein das ist schon Indiz dafür, dass Sie sich nicht intensiv
mit dem Themengebiet auseinandergesetzt haben – so
ganz nebenbei, den Anwendungsbereich der EU-Richtli-
nie auch auf Drittstaaten zu erweitern – völlige Utopie,
da der EU-Gesetzgeber hierfür gar keine Kompetenz be-
sitzt –, ein Recht auf ein Girokonto auf Guthabenbasis,
und Sie verknüpfen SWIFT mit der Einführung von
SEPA, was wir grundsätzlich nicht für zielführend hal-
ten.
Aber wir werden noch genügend Zeit haben, uns da-
mit detailliert im Finanzausschuss zu beschäftigen.
Für CDU und CSU ist in Sachen Zahlungsverkehr im-
mer klar: Im Zentrum unseres Interesses stehen nicht nur
die Bedingungen für die Wirtschaft, sondern insbeson-
dere die Möglichkeiten der Privatkunden in ganz Eu-
ropa. Unserer Auffassung nach ist für sie eine unkompli-
zierte und kostensparende Handhabung aller Systeme
eine der wesentlichsten Voraussetzungen, damit alle An-
gebote, die der europäische Binnenmarkt anbietet, auch
genutzt werden können. Deshalb unterstützen wir einen
Rechtsrahmen, der effizient, sicher und kundengerecht
die Zahlungsverfahren für alle Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union unterstützt. Dabei allerdings auf ein
vollkommen neues europaweites System zu setzen, das
die bestehenden innerstaatlichen Zahlungssysteme ablö-
sen und darüber hinaus auch noch zusätzlich weltweite
Anforderungen aufbauen soll, halten wir für falsch. In
diesem Sinn entspricht der Ende 2005 von der Kommis-
sion vorgelegte Richtlinienvorschlag über Zahlungs-
dienste im Binnenmarkt nicht unserer Auffassung.
Wir haben daher – wie bereits erwähnt – die Bundes-
regierung mit unserem Antrag vom Mai letzten Jahres
aufgefordert, die Vorlage der Kommission in einer Reihe
von Punkten zu ändern. Der Wirtschafts- und Währungs-
ausschuss des Europäischen Parlaments hat uns dabei im
Übrigen mit einem eigenen Vorschlag zur Änderung der
Kommissionsrichtlinie weitgehend unterstützt.
Entgegen Ihrer Aussage in Ihrem Antrag stellen die
nationalen Zahlungssysteme kein Hemmnis für einen ef-
fizienten grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr dar.
Etwa 98 Prozent aller Zahlungen in den Mitgliedstaaten
haben heute keinen grenzüberschreitenden Hintergrund,
und das wird sich sicherlich auch in Zukunft nicht än-
dern. Das liegt nicht an irgendwelchen künstlichen Bar-
rieren – wie Sie behaupten –, sondern das liegt schlicht
und ergreifend an der Tatsache, dass kein erheblicher
Bedarf an grenzüberschreitenden Zahlungen vorhanden
ist. Unserer Auffassung nach müssen daher Verfahren
für rein nationale Zahlungsvorgänge, die sich heute be-
währt haben und auch kostengünstig angeboten werden,
deshalb auch in einem einheitlichen Zahlungsverkehrs-
raum erhalten bleiben. Sie bedürfen keiner europaweiten
neuen Regulierung.
In diesem Sinne fordern CDU/CSU und SPD in ihrem
Antrag vom letzten Jahr die Bundesregierung auf, die
laufenden Ratsverhandlungen kritisch zu begleiten und
alle Vorschläge der Europäischen Kommission, bezogen
auf den europäischen Zahlungsverkehr, genau zu prüfen.
Der neue Rechtsrahmen soll innerstaatliche Zahlungs-
vorgänge und -systeme nicht beeinträchtigen und die
Grenzen des EU-Rechtsraumes einhalten. Darüber hi-
naus gilt es, sich in der weiteren Regulierung alleine auf
die Harmonisierung des unbaren Zahlungsverkehrs zu
konzentrieren und gegenüber der Verwendung von Bar-
geld stets den Grundsatz der Neutralität des Zahlungs-
mittels zu wahren.
Diese Forderungen sind heute genauso aktuell wie im
Mai letzten Jahres.
9002 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Nina Hauer (SPD): Liest man den Antrag der Frak-
tion Die Grünen zum einheitlichen europäischen Zah-
lungsverkehrsraum, kommen einem die Forderungen
und Vorschläge sehr bekannt vor. Und das aus gutem
Grund: Am 31. Mai 2006 beschloss der Bundestag be-
reits den Antrag „Grenzüberschreitender Zahlungsver-
kehr im europäischen Binnenmarkt“ der Koalitionsfrak-
tionen SPD und CDU/CSU. Da die Grünen diesen
Antrag offenbar verpasst haben, bin ich gerne bereit, hier
noch einmal die wichtigsten Eckpunkte aufzuführen.
Die Koalitionsfraktionen forderten die Bundesregie-
rung auf, in den Verhandlungen darauf hinzuwirken,
dass ein einheitlicher EU-Zahlungsverkehrsraum ver-
braucherfreundlich ausgestaltet wird. Gleichzeitig sollte
die heimische Kreditwirtschaft nicht überfordert werden.
Daher waren die Koalitionsfraktionen der Meinung, die
Richtlinie solle nur für Zahlungsvorgänge in der EU gel-
ten, nicht aber für Zahlungen nach oder von Drittlän-
dern. Für die Verbraucher stellten wir mit unserem An-
trag sicher, dass innerstaatliche Zahlungsvorgänge, die
im Alltag der Verbraucher auch weiterhin eine bedeuten-
dere Rolle einnehmen als europäische Zahlungsvor-
gänge, nicht durch die Neuregelungen auf EU-Ebene be-
einträchtigt werden. Sprich, sie sollten nicht teurer,
weniger zuverlässig oder langsamer werden. Wichtig
war uns zudem, dass kein Aufsichtsgefälle zwischen
Kreditinstituten und Zahlungsdienstleistern entsteht, das
die Kreditinstitute benachteiligt und die Sicherheit von
Zahlungsvorgängen gefährdet.
Diese Forderungen sind auch im vorliegenden Antrag
zu finden. Nun ist es ja im Prinzip erfreulich, dass auch
die Fraktion Die Grünen letztendlich die Wichtigkeit
dieses EU-Projektes für die Verbraucher erkannt hat. Es
reicht aber nicht, ein hübsches Hochzeitskleid zu ha-
ben – wichtig ist, das Kleid am richtigen Tag anzuzie-
hen. Und da liegt der gewichtige Unterschied zwischen
unserem Antrag vom Mai 2006 und dem hier vorliegen-
den: Unser Antrag teilte der Bundesregierung zu einem
frühen Zeitpunkt der Verhandlungen auf EU-Ebene mit,
wie der Deutsche Bundestag dieses wichtige Thema
sieht. Zu diesem Zeitpunkt war ein solcher Antrag sinn-
voll, da er von der Bundesregierung forderte, sich für
Verbraucherschutz und die heimische Kreditwirtschaft
einzusetzen. Die Bundesregierung hat diese Leitlinien
des Bundestages in die Verhandlungen der letzten zehn
Monate einfließen lassen.
Inzwischen jedoch sind die Gespräche zwischen den
EU-Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und
dem Europäischen Parlament sehr weit fortgeschritten.
In den Zeitungen war in den letzten Wochen zu lesen,
dass die Verhandlungen in einigen Streitpunkten festge-
fahren zu sein scheinen. Die deutsche Ratspräsident-
schaft setzt sich trotzdem mit viel Engagement für eine
Einigung in diesem wichtigen Projekt ein. Am 27. März
2007, also nächste Woche, soll nach einer abschließen-
den Einigung im Ministerrat gesucht werden. Ein sinn-
voller Kompromiss wird wohl nötig sein, um den Start-
termin 2008 einhalten zu können. Daher ist es unnötig
und kontraproduktiv, jetzt durch einen Antrag mit detail-
lierten Forderungen den Handlungsspielraum der Bun-
desregierung einzuschränken. Schließlich gab bereits der
Antrag der Koalitionsfraktionen die wesentliche Aus-
richtung der deutschen Position – also Verbraucher-
schutz und keine Überbelastung der Kreditwirtschaft –
vor.
Angesichts des fortgeschrittenen Verhandlungsstatus
und dem bereits seit langem vorliegenden Antrag der
Koalitionsfraktionen stellt sich also die Frage, was die
Grünen mit diesem Antrag zu erreichen hoffen. Dieser
Antrag bringt nichts Neues und kommt zu spät – daher
wird er keine Wirkung entfalten und wird von uns abge-
lehnt.
Frank Schäffler (FDP): Nach aktuellen Meldungen
ist es auf europäischer Ebene gelungen, eine Einigung
über den einheitlichen europäischen Zahlungsverkehrs-
raum, SEPA – Single Euro Payments Area, herbeizufüh-
ren. Das ist eine gute Nachricht für den Finanzplatz
Deutschland.
Damit ist dem vorliegenden Antrag die Geschäfts-
grundlage entzogen. Im Grunde ist auf höherer Ebene
schon alles entschieden. Das ist aber auch kein Problem,
da der Bundestag mit der Verabschiedung des Antrags
„Grenzüberschreitender Zahlungsverkehr im europäi-
schen Binnenmarkt“, Drucksache 16/1646, am 1. Juni
vergangenen Jahres bereits seine Position deutlich ge-
macht hat.
Der vorliegende Antrag der Grünen ist Stückwerk und
wiederholt nun einige Punkte aus diesem Antrag. Dane-
ben stellen die Grünen einige unklare Forderungen und
schießen völlig über das Ziel hinaus.
Eine Wiederholung der Position des Bundestages fin-
det sich bei den angemessenen Eigenkapitalanforderun-
gen für Zahlungsinstitute. Hier vertreten auch wir die
Auffassung, dass das Prinzip „gleiche Risiken, gleiche
Vorschriften“ gelten muss. Nur so können gleiche Wett-
bewerbsbedingungen herrschen.
Unklar ist zum Beispiel, was Sie in Ihrem Antrag un-
ter Punkt 1 meinen, wenn Sie fordern, dass der Anwen-
dungsbereich der Richtlinie „langfristig“ auch auf Dritt-
staaten ausgeweitet werden soll. In der Debatte am
1. Juni 2006 hatte Herr Dr. Schick für die Grünen auch
noch ausgeführt, dass „die Ausweitung des EU-Zah-
lungsverkehrs auf Drittstaaten und die USA“ „zu weit“
gehe. Was ist der Sinneswandel? Heute so, morgen so?
Das müssen Sie uns schon erklären.
Zu weit gehen Ihre Vorschläge, wenn Sie in Ihrem
Antrag fordern, die Haftung der Kreditinstitute auf den
Eingang auf dem Empfängerkonto auszudehnen. Das
Kreditinstitut des Auftraggebers kann den Zahlungsweg
nur bis zum Institut des Empfängers beeinflussen. Wie
schnell dieses den Betrag dem Empfängerkonto gut-
schreibt, kann es jedoch nicht beeinflussen. Die Haftung
für das Verhalten Dritter, auf die man keinen Einfluss
hat, entspricht nicht dem rechtsstaatlichen Verständnis
der FDP-Fraktion.
Ziel der FDP ist es, bei der Verwirklichung von SEPA
eine Balance zu finden zwischen den Verbraucherinte-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 9003
(A) (C)
(B) (D)
ressen und den Belastungen für die Kreditwirtschaft.
Das heißt konkret, dass die Ausführungsfrist nicht ohne
Übergangsfrist auf einen Bankarbeitstag begrenzt wer-
den darf, wie dies die Kommission ursprünglich vorge-
schlagen hat. Dies führt zu zusätzlichem Aufwand, den
am Ende doch der Verbraucher bezahlen muss. Wir den-
ken, dass der Europäische Wirtschafts- und Währungs-
ausschuss dazu vernünftige Kompromissvorschläge ge-
macht hat.
Zur Rolle der öffentlichen Hand: Das ist wirklich ein
Armutszeugnis. 50 Prozent des Zahlungsverkehrs wird
durch die öffentliche Hand verursacht. Wenn die Kredit-
wirtschaft die gewaltige Kraftanstrengung bei der Ein-
führung von SEPA bewältigt, ist es verständlich, dass sie
als Gegenleistung eine Zusage erwartet, dass die öffent-
liche Hand SEPA auch nutzt.
Völlig am Thema vorbei geht jedoch die Forderung
nach einem europaweiten „Girokonto für jedermann“.
Wir sollten die Reform des Kontenpfändungsrechts ab-
warten. Nach Auffassung der FDP brauchen wir in
Deutschland keine gesetzliche Regelung für ein „Giro-
konto für jedermann“, und damit brauchen wir es auf eu-
ropäischer Ebene erst recht nicht. Allenfalls die Länder
können das Girokonto für jedermann einführen, wenn
sie das für sinnvoll halten. Schon heute haben zehn von
16 Bundesländern dies in ihren Sparkassengesetzen ge-
regelt, sodass das vermeintliche Problem zumindest in
diesen Ländern gar nicht vorhanden sein kann.
Lassen Sie uns die Chancen des europäischen Bin-
nenmarktes auch beim Zahlungsverkehr nutzen! Der
Verbraucher wird es uns danken.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Berlin wird an
diesem Wochenende Gastgeberin eines großen Fests
sein – 50 Jahre Römische Verträge, 50 Jahre Europäi-
sche Gemeinschaft werden quasi vor unserer Haustür
gefeiert.
Übersehen werden kann jedoch auch nicht in der Eu-
phorie dieses Jahrestages, dass nicht wenige Menschen
in dieser Gemeinschaft leben, die sie noch nicht als ihr
Zuhause empfinden, die soziale existenzielle Ängste he-
gen und das entstandene EU-Regelwerk als intransparent
und bürgerfern bewerten.
Fakt ist, dass Kapital und Markt längst europäisiert
sind, nicht aber soziale, ökologische und auch steuerli-
che Gesetze. Es gibt viel zu tun hinsichtlich einer Har-
monisierung und Transparenz von jetzigen und zukünfti-
gen EU-Richtlinien. Die Bürgerinnen und Bürger der
Europäischen Gemeinschaft wollen in ihren Rechten und
Bedürfnissen wahrgenommen werden, nur dann können
und werden sie sich auch identifizieren und einbringen.
Das trifft auch auf die Anforderungen an den europäi-
schen Zahlungsverkehrsraum zu, dessen Vereinheitli-
chung wir ausdrücklich begrüßen, aber auch kritisch be-
gleiten werden. Dieser Zahlungsverkehrsraum betrifft
vorrangig die Tätigkeit der Banken, die elektronische
Zahlungen wie Lastschriften und Überweisungen euro-
paweit nach einheitlichen Regeln abwickeln müssen.
Die EU-Richtlinie bildet hierzu den rechtlichen Rah-
men für die Kreditwirtschaft im einheitlichen Zahlungs-
verkehrsraum (EPA). Die Richtlinie regelt Fristen zur
Abwicklung für Finanztransaktionen und umfasst Vor-
schriften zum Verbraucherschutz.
Das Ziel des einheitlichen Zahlungsverkehrsraums in
Europa besteht in einem stärkeren Wettbewerb zwischen
den Anbietern. Kunden sollen künftig auf einem europa-
weiten Markt günstige und sichere Leistungen erhalten.
Das ist das Ziel oder die Vision. In der Gegenwart sieht
es so aus, dass beispielsweise elektronische Zahlungen
in jedem Land anders geregelt sind, Bezahlungen per
Lastschrift gestalten sich grenzüberschreitend schwierig.
Das sind ganz offensichtlich Kinderkrankheiten eines
zukünftigen einheitlichen europäischen Zahlungsver-
kehrsraums, die es zu überwinden gilt.
Die Gestaltung des SEPA (Single Euro Payments
Area) des europäischen Zahlungsverkehrsraums, ver-
langt eine stärkere politische und staatliche Reglemen-
tierung von Zahlungsinstituten ohne Banklizenzen, ver-
langt Angleichung einzelstaatlicher Rechtsordnungen,
verlangt eine verbesserte Informationspflicht der Anbie-
ter der Kreditwirtschaft und eine hohe technische Sicher-
heit des Zahlungsverkehrs. Eine Harmonisierung darf je-
doch nicht zulasten bestehender bewährter Regelungen
erfolgen. Hier ist das deutsche Lastschriftverfahren zu
nennen. Es sollte nicht durch Überregulierung geopfert
werden. Umgekehrt wirken die Praktiken der britischen
Kreditwirtschaft im Bereich von Finanzdienstleistungen,
besonders bei Verbraucherkrediten, disharmonierend.
Sie tragen nicht zu einem verbraucherfreundlichen ein-
heitlichen europäischen Zahlungsraum bei.
Die EU-Richtlinie umfasst zudem noch nicht alle
Zahlungen mit außereuropäischen Partnern und in Nicht-
EU-Währungen. Das halten wir für ein Problem, weil
Europa keine weltenferne Insel ist. Probleme ergeben
sich so beim Einsatz von Kreditkarten, da die Gefahr be-
steht, dass Daten ausspioniert und kopiert werden kön-
nen und außerhalb der EU betrügerisch eingesetzt wer-
den können.
Es ist vor allem im Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher, wenn sie zukünftig in ihrem Verkehrs-
zahlungsraum von der Kreditwirtschaft mit vorvertragli-
chen, vergleichbaren und verständlichen Informationen
kostenlos versorgt werden.
Der vorliegende Antrag der Bündnisgrünen fordert
Einzelmaßnahmen zur besseren Regulierung des Zah-
lungsverkehrs auf dem europäischen Binnenmarkt und
fordert die Bundesregierung auf, im Rahmen der Bera-
tungen zur EU-Richtlinie im ECOFIN Einzelforderun-
gen einzubringen.
Schon heute ist es doch alltäglich, dass immer mehr
Bürgerinnen und Bürger, insbesondere jedoch junge
Leute, in Europa mobiler werden und zeitweise oder für
immer ihr Geburtsland verlassen. Studium, Arbeit und
Bildung erfordern heute ein hohes Maß persönlicher
Mobilität. Für ein solches bewegtes Leben müssen auch
entsprechende schnelle und sichere Zahlungsverkehrsre-
geln geschaffen werden. Es kann also nicht sein, dass
9004 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Zahlungsüberweisungen von Berlin nach Barcelona
sechs Tage brauchen. Im Antrag wird eine Ausführungs-
frist von zwei Tagen gefordert. Das halten wir für ange-
messen und zeitgemäß.
Wir stimmen dem Antrag zu, weil wir politische Re-
gulierungen, wie die einer Einschränkung der Monopoli-
sierung von SWIFT (Society for Worldwide Interbank
Financial Telecommunication), für dringend geboten
halten.
Sie wissen, dass meine Fraktion einen Gesetzentwurf
zur Änderung des Gesetzes über das Kreditwesen einge-
bracht hat. So halten auch wir die EU-weite Ausdehnung
des Rechts auf ein eigenes Girokonto als Voraussetzung
für eine diskriminierungsfreie Teilnahme am einheitli-
chen europäischen Zahlungsverkehr für geboten.
Die Orientierung auf dem Marktplatz des europäi-
schen Zahlungsverkehrsraums wird für Verbraucher
nicht einfacher, wir stehen erst am Anfang einer Ent-
wicklung. Auch von einem effektiven, verbraucher-
freundlichen, transparenten einheitlichen europäischen
Zahlungsverkehrsraum wird zukünftig abhängen, wie
die Menschen Europa wahrnehmen werden. Hier stehen
wir in gemeinsamer Verantwortung.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit einem einheitlichen europäischen Zahlungsver-
kehrsraum sollen grenzüberschreitende Zahlungsströme
einfach, schnell und günstig werden, und zwar sowohl
für Bürgerinnen und Bürger als auch für Unternehmen.
In der EU wird über die konkreten Inhalte zwischen EU-
Kommission, EU-Parlament und EU-Mitgliedstaaten im
Rahmen eines EU-Richtlinienentwurfs aktuell noch hef-
tig und im Detail gestritten. Am 27. März 2007 – also
schon nächste Woche Dienstag – soll der Europäische
Rat für Wirtschaft und Finanzen entscheiden. Das ist
eine wichtige Gelegenheit, dass wir uns aktiv einmi-
schen.
Oft hatten wir in der Vergangenheit das Problem, dass
wir uns als nationales Parlament nicht rechtzeitig in die
Positionsfindungen in Brüssel einbringen konnten, weil
wir uns zu sehr auf den Informationsfluss über die deut-
sche Regierung verlassen haben. Um diesen Informa-
tionsfluss zu beschleunigen, gibt es ja seit letztem Jahr
eine dezidierte Vereinbarung zwischen Deutschem Bun-
destag und Bundesregierung. Diese hat unsere Aufmerk-
samkeit und unseren Blick für die Bedeutung der Brüs-
seler Entscheidungsprozesse natürlich noch einmal ganz
erheblich geschärft. Dies vorab zu erwähnen, ist mir ein
besonderes Anliegen, weil der Antrag, den unsere Frak-
tion zum EU-weit einheitlichen Zahlungsverkehrssystem
als Handlungsauftrag an die Regierung hier und heute
zur Entscheidung bringen will, ein Beispiel dafür ist,
dass wir die verbesserten Teilhabemöglichkeiten auch
tatsächlich nutzen wollen. Wir wollen nämlich mit die-
sem Antrag der Bundesregierung, in diesem Fall dem
Bundesfinanzminister Steinbrück, für die Entscheidung
in Brüssel, in diesem Fall im Ecofin-Rat, ganz konkrete
Handlungsanweisungen mit auf den Weg geben.
Uns geht es in dem vorliegenden Antrag im Grund-
satz darum, dass Kundeninteressen durchgesetzt werden,
ohne die Kreditwirtschaft zu überfordern. Das muss na-
türlich konkret ausformuliert werden und kommt nach
unserer Auffassung in folgenden Eckpunkten zum Aus-
druck:
Die Kundengelder müssen bei Überweisung, Last-
schrift und Kartenzahlung hinreichend abgesichert sein.
Denn die Kunden müssen sich darauf verlassen können,
dass der Zahlungsweg nicht unwägbaren Risiken unter-
liegt.
Kreditgeschäfte darf es grundsätzlich nicht außerhalb
der beaufsichtigten Geschäftstätigkeit der Banken ge-
ben. Denn sonst können sich die Kunden nicht mehr auf
die Sicherheitsstandards verlassen, die sie bei der Kre-
ditaufnahme bei einer inländischen Bank gewohnt sind.
Die Ausführungszeit, innerhalb der die Zahlung vom
Ausgangskonto abgebucht und dem Empfängerkonto
gutgeschrieben wird, darf nicht länger als zwei Tage
dauern. Denn beim aktuellen Stand der technischen Ent-
wicklung müsste es eigentlich sogar auch in der Regel
kürzer möglich sein. Die Haftung dafür, dass die Zah-
lung innerhalb der vorgegebenen Zeit auf dem Empfän-
gerkonto richtig ankommt, muss sich für die ausführen-
den Zahlungsinstitute bis zum Eingang auf dem
Empfängerkonto erstrecken. Denn die Zahlungsinstitute
haben im Vergleich zum einzelnen Kunden ganz andere
Möglichkeiten, den Zahlungsweg zu überwachen, Fehler
zu korrigieren oder auch vom empfangenden Institut
Korrekturen zu verlangen und durchzusetzen. Diesem
sind nämlich solche Einfluss- und Eingriffsmöglichkei-
ten in der Regel verwehrt.
Darüber hinaus fordern wir aber auch das Recht auf
ein Girokonto auf Guthabenbasis für alle Verbraucherin-
nen und Verbraucher in der EU. Denn nur wenn alle Bür-
gerinnen und Bürger auch ein Recht auf ein solches
Konto haben, kann der Zugang zum einheitlichen euro-
päischen Zahlungsverkehrsraum überhaupt erst ermög-
licht werden.
Schließlich möge die Bundesregierung bei SWIFT
– das ist die Abkürzung für Society for Worldwide In-
terbank Financial Telecommunication – dafür Sorge
tragen, dass sich das Datenmonopol dieser privat-
rechtlichen Gesellschaft nicht weiter verfestigt. Bei
dieser Gesellschaft in Belgien laufen nämlich alle
Zahlungsverkehrsdaten in Europa zusammen, sie
stellt faktisch eine Monopolgesellschaft bei inner-
europäischen Zahlungsvorgängen dar. Die Gefahr der
ungeprüften Weitergabe von Zahlungsverkehrsdaten
an Drittstaaten – konkret an die USA – hat uns im Fi-
nanzausschuss ja schon letztes Jahr beschäftigt. Auch
dazu werden wir einen eigenen Antrag schon nächste
Woche hier im Hohen Hause weiter debattieren.
Das ist in Kürze der Inhalt unseres Antrags. Wir set-
zen natürlich darauf, dass sich auch die anderen Fraktio-
nen an den Entscheidungsprozessen in Brüssel aktiv be-
teiligen wollen. Schließlich haben wir dies in der
Vergangenheit auch schon erfolgreich beim Regelwerk
zu Basel II praktiziert. Diese Form der Teilhabe wollen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 9005
(A) (C)
(B) (D)
wir noch weiter intensivieren. Unser Antrag ist erst der
Anfang. Deshalb fordere ich auf, unserem Antrag zuzu-
stimmen, um einen finanzmarktverträglichen Verbrau-
cherschutz in Europa zu sichern und die Stimme des
Deutschen Bundestages in Brüssel zu stärken.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Weitere Verschlech-
terung der Rechtssituation von Homosexuellen
in Nigeria verhindern (Tagesordnungspunkt 21)
Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Die nige-
rianische Regierung hat im Jahre 2005 einen umfassen-
den Gesetzentwurf gegen gleichgeschlechtliche Partner-
schaften verabschiedet. Nach diesem soll nicht nur die
Anerkennung solcher Partnerschaften ausgeschlossen
sein, nein, sogar die Eingehung einer gleichgeschlecht-
lichen Partnerschaft, Vorbereitungshandlungen hierzu
und die Mitwirkung daran sollen mit bis zu fünf Jahren
Freiheitsentzug bewehrt werden.
Gleiches soll danach für die Werbung für und die Dar-
stellung solcher Partnerschaften sowie die Eintragung
homosexueller Vereine und Clubs gelten.
Die 1999 in den nördlichen Bundesstaaten einge-
führte Scharia-Strafgesetzgebung sieht noch härtere
Strafen für Homosexualität vor, die dort als „Sodomie“
bezeichnet wird. So stellt zum Beispiel der nördliche
Bundesstaat Zamfara den gleichgeschlechtlichen Kon-
takt von zwei Frauen aufgrund der Scharia mit bis zu
50 Stockschlägen unter Strafe.
Ich möchte hier nur eine bekannte Verurteilung an-
führen:
Anfang 2002 wurde ein Mann im Bundesstaat Zam-
fara wegen Sodomie zu 100 Stockschlägen und einer
einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.
Die geringe Zahl an bekannten Verurteilungen erklärt
sich dadurch, dass die Betroffenen Schutzgelder zahlen
oder in den Süden des Landes fliehen und überhaupt sehr
vorsichtig agieren, um sich nicht „erwischen“ zu lassen
und dass zudem sehr wenige Informationen nach außen
dringen.
Durch Berichte von amnesty international ist bekannt,
dass viele Homosexuelle ein Doppelleben führen. Auf
der einen Seite führen sie eine heterosexuelle Bezie-
hung, aber nur damit sie damit ihre homosexuelle Bezie-
hung vor dem Staat verdecken können.
Am 14. Februar gab es zu dem Gesetzesvorschlag der
nigerianischen Regierung eine öffentliche Anhörung im
Repräsentantenhaus mit NROs, an der – nach anfängli-
chen Schwierigkeiten – auch Vertreter von Interessen-
gruppen der Homosexuellenverbände teilnehmen konn-
ten. Am 22. Februar wurde der Senat mit dem
Gesetzesvorschlag befasst.
Nach Einschätzungen von Beobachtern vor Ort gibt
es im Repräsentantenhaus Unterstützung für das Gesetz,
während der Senat gespalten scheint. Vor einer mögli-
chen Verabschiedung wird der Entwurf nun im Aus-
schuss für Justiz, Menschenrechte und Rechtsangelegen-
heiten des Senats behandelt. Die nigerianischen
Zeitungen berichten allerdings offen über das Thema.
Ist das was sich gerade in Nigeria abspielt ein Einzel-
fall? Mit Verlaub, NEIN! Wir haben ein solches Phäno-
men auch in dem doch so zivilisierten Europa. Der
stellvertretende polnische Erziehungsminister hat ver-
gangene Woche angekündigt, dass Lehrer, die an Schu-
len während des Unterrichtes über Homosexualität spre-
chen, entlassen werden. Das dafür geplante Gesetz, das
auch Aufklärung über Geschlechtskrankheiten durch
Homosexuelle Organisationen verbieten soll, wird der-
zeit durch die polnische Regierung erarbeitet.
Aber es gibt auch andere Staaten, die mit Homosexua-
lität und Menschenrechten weitaus offener und demo-
kratischer umgehen. Und es ist sehr erfreulich, dass sich
eines der Vorreiterländer auf dem afrikanischen Konti-
nent befinden.
Ich rede hierbei von Südafrika!
Südafrika hat als erstes afrikanisches Land die Homo-
Ehe seit dem 30. November 2006 legalisiert. Es ist nicht
zu verschweigen dass dies auch in Südafrika ein steini-
ger Weg war und die Abstimmung im Parlament sehr
knapp war. Dieser positive Ansatz muss ein Signal an
alle anderen afrikanischen Staaten sein, denn Südafrika
zeigt damit, dass es gegen jede Art von Diskriminierung
und Vorurteilen ist. Diese Offenheit Südafrikas und die
Achtung der Menschenrechte müssen unterstützt wer-
den.
Wie kann die Bundesrepublik Deutschland nun aber
den Menschen in Nigeria helfen?
Im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Ge-
setzentwurfes zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft
gab es sowohl EU-Troika – als Demarchen aller EU-
Missionschefs bei verschieden nigerianischen Dienst-
stellen. Dazu gehören unter anderem der nigerianische
Menschenrechtsbeauftragte, der Justizminister sowie der
Rechtsausschuss von Senat und Repräsentantenhaus. Bei
diesen Demarchen wurde deutlich gemacht, dass das
vorgesehene Gesetz in zahlreichen Bestimmungen im
Widerspruch zu internationalen Verträgen steht, deren
Partei auch Nigeria ist. Alle besuchten Stellen gaben da-
bei zu verstehen, dass sie davon ausgehen, dass der Ge-
setzestext in der vorliegenden Fassung auf keinen Fall
verabschiedet wird.
Wir müssen allen Staaten, die mit Deutschland zu-
sammenarbeiten wollen deutlich machen, dass eine ver-
trauensvolle Zusammenarbeit nur möglich ist, wenn das
Land die Menschenrechte achtet und auch einhält. Wir
müssen Nigeria deutlich machen, dass sie sich mit einem
solchen Gesetz, von der sich bisher positiven Entwick-
lung entfernen und in alte Zeiten zurückfallen. Nigeria
muss deutlich gemacht werden, dass die Einhaltung der
Menschenrechte ein Grundbaustein einer lebendigen
9006 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Demokratie ist und der vorliegende Gesetzesentwurf ein
Einschnitt in die Menschenrechte von Homosexuellen in
Nigeria ist und von den europäischen Ländern nicht zu
akzeptieren ist.
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Wir beschäftigen
uns heute mit einem Gesetzesvorhaben, das in das Parla-
ment eines anderen Landes, Nigeria, eingebracht wurde
und dort mit unterschiedlichen Meinungen – diskutiert
wird.
Die Beschäftigung mit Gesetzgebungsvorhaben ande-
rer Staaten hier im Deutschen Bundestag in diesem Sta-
dium ist durchaus unüblich, weil während des Gesetzge-
bungsverfahrens endgültige Ergebnisse nicht vorliegen
können und damit Endgültiges über die Haltung des
Landes bzw. die Strafgesetze noch nicht gesagt werden
kann.
Im vorliegenden Fall allerdings ist es sicherlich ge-
rechtfertigt, sich mit diesem nigerianischen Gesetzent-
wurf zu beschäftigen, weil dieser die Absicht verfolgt,
gleichgeschlechtlich orientierte Menschen nicht nur in
übler Weise zu diskriminieren, sondern mit schlimmsten
Strafen zu bedrohen, die zudem auch noch für soge-
nannte Vorbereitungshandlungen gelten sollen.
Diese Initiative muss erschrecken. Sie erinnert an die
dunkelsten Zeiten der Verfolgung von Homosexuellen,
die auch in Europa in verschiedenen Epochen an der
Tagesordnung war. Auch in der europäischen Rechts-
tradition galt lange Zeit, gleichgeschlechtlich orientierte
Menschen zu Sündenböcken zu machen und sie mit dra-
konischen Strafen zu belegen. Die Diskriminierung von
gleichgeschlechtlich orientierten Menschen widerspricht
dem Grundgedanken der Menschenrechte; unser Bemü-
hen und unsere politische Arbeit gehen dahin, Diskrimi-
nierung nicht nur in unserem Land und in Europa, son-
dern überall auf der Welt zu überwinden.
Gerade wenn es um gleichgeschlechtlich orientierte
Menschen geht, lehren uns allerdings Vorfälle auch in
Polen oder in Russland, aber auch in afrikanischen Staa-
ten immer wieder, dass ein Ende der Verfolgung von
Homosexuellen und anderen Minderheiten noch längst
nicht erreicht ist und dass wir noch längst nicht von
einem gesicherten Bestand des Menschenrechts auf
sexuelle Selbstbestimmung und auf Schutz der sexuellen
Orientierung sprechen können.
Deshalb ist es wichtig, dass gerade auch Länder wie
die Bundesrepublik Deutschland, aber auch die Europäi-
sche Union, deren Präsidentschaft die Bundesrepublik
Deutschland derzeit innehat, aufmerksam sind und
rechtzeitig Einspruch einlegen, wenn Entwicklungen
drohen, die in die Richtung der Verfolgung von Minder-
heiten und der Verletzung von Menschenrechten weisen.
Im konkreten Fall kommt hinzu, dass nach den Dis-
kussionen in der nigerianischen Öffentlichkeit, zumal
jetzt in der Zeit vor den anstehenden Wahlen, nicht aus-
geschlossen werden kann, dass aus dieser parlamentari-
schen Initiative auch tatsächlich Gesetz wird.
Die wiederholte Diskussion der Sorgen im Hinblick
auf diese Gesetzesiniative im Ausschuss für Menschen-
rechte und Humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages
war deshalb angesagt, um deutlich zu machen, dass diese
Menschenrechtsverletzungen und insbesondere die Ver-
folgung gleichgeschlechtlich orientierter Menschen auf
keinen Fall hingenommen werden können.
Wir nehmen deshalb mit Zufriedenheit zur Kenntnis,
dass die Bundesregierung und die Europäische Union
diesen gemeinsamen Standpunkt in der Bundesrepublik
Deutschland, der auch einer gemeinsamen Haltung der
im Bundestag vertretenen Parteien entspricht, den ver-
antwortlichen Machthabern in Nigeria gegenüber sehr
deutlich zum Ausdruck gebracht haben.
Diese Intervention in Menschenrechtsfragen ist erfor-
derlich; deshalb unterstützen wir die Bundesregierung
und die EU nicht nur in diesen Fragen, sondern fordern
sie auch auf, den Fortgang der Beratungen in Nigeria ge-
nau zu beobachten und gegebenenfalls geeignete Maß-
nahmen zu treffen.
Florian Toncar (FDP): Der Antrag, den wir heute
debattieren, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf einen
Missstand bei der Achtung der Menschenrechte in Nige-
ria. Unter dem Vorwand, die Verbreitung von HIV/Aids
eindämmen zu wollen, versuchen selbsternannte Moral-
wächter mit religiös-fundamentalistischen Scheinargu-
menten christlicher und muslimischer Couleur, die
Rechte von Homosexuellen in Nigeria weiter einzu-
schränken. Dazu wird im Moment im nigerianischen
Parlament ein ausgesprochen repressiver Gesetzentwurf
verhandelt, der bald verabschiedet werden könnte. Dies
wäre nicht hinnehmbar. Die Bundesregierung muss der
nigerianischen Regierung rechtzeitig im Vorfeld klarma-
chen, dass dieser Gesetzentwurf, der gleichgeschlechtli-
che Partnerschaften verbieten und deren gesamtes Um-
feld kriminalisieren soll, nicht verabschiedet werden
darf. Die FDP als Partei der liberalen Bürgerrechte setzt
sich seit jeher für die Freiheit der individuellen Lebens-
gestaltung ein. Daher teilt die FDP den Grundgedanken
des vorliegenden Antrags und wird ihm zustimmen.
Die bisherige Rechtssituation von Homosexuellen in
Nigeria ist leider schon jetzt ausgesprochen prekär. So
sind gleichgeschlechtliche Beziehungen auch heute
schon strafbar. Offiziell sieht das nigerianische Straf-
recht bis zu 14 Jahre Haft für homosexuelle Handlungen
vor. In den nördlichen Bundesstaaten Nigerias, die mus-
limisch geprägt sind und wo die islamische Sharia gilt,
kann Homosexualität sogar mit dem Tode durch Steini-
gung bestraft werden. Vertreter der nigerianischen Re-
gierung haben diese Regelung jüngst vor dem UN-Men-
schenrechtsrat mit den Worten gerechtfertigt, dass eine
Steinigung eine „angemessene und gerechte Strafe“ für
„unnatürliche Geschlechtsakte“ sei. Auch wenn unter-
schiedliche Quellen vom Auswärtigen Amt bis zu interna-
tionalen Homosexuellen-Vereinigungen davon ausgehen,
dass freiwillige homosexuelle Handlungen zwischen Er-
wachsenen in Nigeria faktisch nicht mehr bestraft wer-
den, so ist die bereits existierende Rechtslage völlig in-
akzeptabel. Das gedankliche Grundkonzept, auf dem
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 9007
(A) (C)
(B) (D)
diese intolerante Politik basiert, ist mittelalterlich und
willkürlich.
Der aktuell in Nigeria debattierte Gesetzentwurf der
„Same Sex Marriage Prohibition Bill“ sieht fünf Jahre
Gefängnis für jeden vor, der eine Beziehung mit einer
Person des gleichen Geschlechts hat oder eine gleichge-
schlechtliche Heirat durchführt, bezeugt und begünstigt.
Ebenso unter Strafe gestellt werden die Registrierung
oder der Unterhalt von Homosexuellenklubs, -vereinen
und -organisationen. Damit wird eine ganze gesellschaft-
liche Gruppe kriminalisiert; systematische Menschen-
rechtsverletzungen werden gesetzlich legitimiert.
Der Gesetzentwurf verbietet ferner die Adoption ei-
nes Kindes durch Lesben oder Schwule. Außerdem er-
klärt das Gesetz im Ausland geschlossene gleichge-
schlechtliche Lebenspartnerschaften für ungültig. Der
perfide Tiefpunkt ist, dass auch örtliche Menschen-
rechtsvertreter, welche sich für lesbische, schwule,
bisexuelle und Transgender-Rechte einsetzen, mit Ge-
fängnisstrafe belegt werden können. So soll unterbunden
werden, dass sich andere Bürger und die Zivilgesell-
schaft mit den Homosexuellen solidarisch erklären. Da-
mit wären Homosexuelle vollständig ausgegrenzt.
Die FDP hat durch eine Kleine Anfrage über „Diskri-
minierung und Verfolgung Deutscher im Ausland auf-
grund ihrer sexuellen Orientierung“ erfahren, dass auch
deutsche Schwule und Lesben bei Auslandsreisen Opfer
von Diskriminierung wurden. Es wäre fatal, wenn Nige-
ria sich offiziell in die Riege der Staaten einreihen
würde, die die Rechte Homosexueller offen verletzen.
Das könnte schlussendlich auch deutsche Staatsbürger in
Nigeria betreffen.
Die nigerianische Regierung und das dortige Parla-
ment müssen sich fragen, was für Konsequenzen dieses
Gesetz hätte. Neben der beschriebenen Verletzung der
Menschenrechte Homosexueller würde das Gesetz in Ni-
geria eine ohnehin schon stigmatisierte Gruppe weiter in
den Untergrund abdrängen. Eine solche Entwicklung
würde die ohnehin schon schwierigen Bemühungen bei
der Bekämpfung von HIV/Aids in Nigeria weiter behin-
dern. Das vorgeschobene Argument der Urheber des Ge-
setzentwurfs, die Kriminalisierung von Homosexualität
würde die Ausbreitung von Aids unterbinden, ist nicht
nur falsch. Es ist auch gefährlich, da die Ausgrenzung
und Tabuisierung die gesundheitliche Aufklärung der
Betroffenen völlig unmöglich macht.
Kurzum: Dieses Gesetz ist repressiv, intolerant und
kontraproduktiv. Die Bundesregierung muss im Rahmen
der EU-Ratspräsidentschaft nachdrücklich bei der nige-
rianischen Regierung aktiv werden, damit die Verab-
schiedung dieses Gesetzentwurfs verhindert wird. Es ist
zu begrüßen, dass die EU-Troika sowie die Botschafter
aller EU-Staaten in Nigeria dies bereits mehrfach getan
haben, als der Gesetzentwurf im Jahr 2005 von der nige-
rianischen Regierung vorgelegt wurde. Damals wurde
von nigerianischer Seite jedoch versichert, dass der Ent-
wurf niemals in der vorliegenden Fassung verabschiedet
werden solle. Jetzt verdichten sich die Anzeichen dafür,
dass der Entwurf doch von den beiden Kammern des ni-
gerianischen Parlaments verabschiedet werden könnte.
Die Bundesregierung muss der Regierung von Präsi-
dent Obasanjo und dem nigerianischen Parlament deut-
lich zu verstehen geben, dass ein solches Antihomosexu-
ellengesetz nicht akzeptabel wäre. Es steht in klarem
Widerspruch zu den internationalen rechtlichen Ver-
pflichtungen wie dem Internationalen Pakt über bürgerli-
che und politische Rechte, dem Nigeria 1993 beigetreten
ist, und verletzt darüber hinaus die Allgemeine Erklä-
rung der Menschenrechte. Dort heißt es in Art. 1:
Alle Menschen sind gleich in ihrer Würde und in
ihren Rechten geboren.
Auch wenn dieses Dokument juristisch nicht bindend
ist, so hat es einen hohen moralischen Stellenwert, den
man denjenigen Kräften entgegenhalten muss, die mit
religiös-moralischen Scheinargumenten gegen Homose-
xuelle in Nigeria vorgehen wollen.
Die FDP unterstützt den vorliegenden Antrag und for-
dert die Bundesregierung auf, ein klares Zeichen für To-
leranz und gegen die Ausgrenzung Homosexueller an
die Regierung in Nigeria zu senden. Ein solch unsägli-
ches Gesetz würde der jungen nigerianischen Demokra-
tie nur schaden. Daher muss Deutschland den Dialog mit
den toleranten Kräften vor Ort suchen, um zu einer kon-
struktiven Lösung zu gelangen.
Michael Leutert (DIE LINKE): In Nigeria soll nach
dem Willen des dortigen Justizministers Bayo Ojo ein
Gesetzentwurf gegen gleichgeschlechtliche Lebenswei-
sen oder Handlungen und deren verbale Verteidigung be-
schlossen werden, der an Unmenschlichkeit kaum zu
überbieten ist. Schon jetzt muss man in Nigeria bei ho-
mosexuellen Handlungen mit bis zu 14 Jahren Haft rech-
nen – wenn man Glück hat; in zwölf Bundesstaaten gilt
nämlich das islamische Recht, welches die Todesstrafe
durch Steinigung vorsieht. Nicht verschweigen dürfen
wir allerdings, dass die schon ausreichende Grausamkeit
von 14 Jahren Freiheitsentzug ein – offensichtlich er-
folgreicher – europäischer Export, aus der britischen Ko-
lonialzeit ist. Dieser unserer dunklen europäischen Ge-
schichte sollten wir uns an diesem Punkt durchaus
kritisch und ehrlich stellen. Dies muss Konsequenzen in
Bezug auf unser derzeitiges Engagement in der Entwick-
lungshilfe haben.
Nun jedenfalls meint der nigerianische Justizminister
diese an sich schon ausreichend inhumane Rechtslage
derart zu verschärfen, dass auch Menschen, die sich po-
sitiv zu homosexuellen Partnerschaften bzw. Handlun-
gen positionieren, mit bis zu fünf Jahren Haft bedroht
werden. Das heißt, dass Menschenrechtsaktivisten ihre
Tätigkeit in diesem Bereich untersagt wird. Dies verletzt
letztendlich die auch in der nigerianischen Verfassung
festgehaltenen und garantierten Rechte auf Meinungs-
freiheit und Versammlungsfreiheit. Der normale Men-
schenverstand befiehlt uns, diese Vorgänge aufs
Schärfste zu verurteilen.
9008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
(A) (C)
(B) (D)
Uns liegt heute ein Antrag vor, der den menschenver-
achtenden Gesetzentwurf der nigerianischen Regierung
verurteilt und die Bundesregierung auffordert, sich dafür
einzusetzen, die nigerianische Regierung dazu zu bewe-
gen, die menschenrechtlichen Standards strikt einzuhal-
ten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Antrag
keine Mehrheit im deutschen Parlament erhält. Meine
Fraktion wird diesen Antrag in vollem Umfang unter-
stützen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
In bisher nicht gekannter Form will die nigerianische
Regierung mit einem Gesetzentwurf Homosexuelle ver-
folgen. Sie will jede Diskussion über Homosexualität ta-
buisieren. Die Verletzung des Tabus soll mit fünf Jahren
Gefängnis bestraft werden.
Der neue Gesetzentwurf, der – das sei an dieser Stelle
noch einmal deutlich gesagt – zusätzlich zur bestehen-
den harten Gesetzgebung in Nigeria in Kraft treten soll,
dringt in seiner Konsequenz weit in das Leben der
Menschen ein, und er betrifft nicht nur homosexuelle
Menschen. Denn jeder, der homosexuelle Verbindungen
unterstützt und ihnen in irgendeiner Weise behilflich ist,
soll ins Gefängnis. Das bedeutet, dass man nicht einmal
Mitglied bei Amnesty International oder einer anderen
Menschenrechtsorganisation sein darf, die sich für die
Rechte von Homosexuellen einsetzt. Selbst der bloße
freundschaftliche Kontakt mit einem Homosexuellen,
das gemeinsame Mittagessen, das Besuchen einer Ge-
burtstagsfeier oder die freundschaftliche Umarmung auf
der Straße kann eine Anklage nach sich ziehen. Der Ge-
setzentwurf lässt hier bewusst viel Raum für Interpreta-
tionen. Es ist zu befürchten, dass das Gesetz dadurch
auch gegen Oppositionelle und zur Einschränkung der
Meinungs- und Pressefreiheit in Nigeria eingesetzt wer-
den kann.
Der Gesetzentwurf ist leider exemplarisch für die Si-
tuation von Homosexuellen in vielen Ländern der Welt
und leider insbesondere in Afrika. Dabei sind es nicht
immer kulturelle Gründe, die ein Klima der Angst und
Verfolgung für Homosexuelle schaffen. In vielen alten
Kulturen Afrikas ist Homosexualität durchaus akzep-
tiert, auch wenn nicht offen über sie geredet wird. Es ist
die neuere Geschichte, die Christianisierung und das
Erbe der Kolonialzeit, in der viele heute noch gültige
Gesetze gegen Homosexualität entstanden sind.
So ist es auch ein Gesetz aus der britischen Kolonial-
zeit Nigerias, das homosexuelle Handlungen zwischen
Erwachsenen mit 14 Jahren Gefängnis bestraft. Sexuelle
Beziehungen zwischen Männern werden im gesamten
nigerianischen Bundesgebiet strafrechtlich verfolgt.
Nach dem Scharia-Strafrecht, das in den zwölf nörd-
lichen Bundesstaaten geltendes Recht ist, wird Homo-
sexualität mit dem Tod durch Steinigung bestraft. Zu-
sätzlich soll nun der neue Gesetzentwurf in Kraft treten.
Leider sind es oft auch die christlichen Kirchen, die in
dieser Frage eine unheilige Allianz mit islamischen Ver-
tretern eingehen und damit die Ressentiments gegen Ho-
mosexuelle weiter schüren. So hat die Anglikanische
Kirche in Nigeria unter Primas Peter Akinola den neuen
Gesetzentwurf ausdrücklich begrüßt. Bischof Akinola ist
schon oft mit homophoben Äußerungen in Erscheinung
getreten. Er droht der Anglikanische Kirche mit Abspal-
tung, sollte sie ihre Haltung zur Homosexualität liberali-
sieren. In einem Interview mit der „New York Times“
gab er an, er sei zurückgeschreckt, als er zum ersten Mal
einem Homosexuellen die Hand gegeben hat.
Ich begrüße ausdrücklich die Äußerungen des süd-
afrikanischen Bischofs und Friedensnobelpreisträgers
Desmond Tutu, der auf einer Pressekonferenz im Rah-
men des Weltsozialforums in Nairobi die anglikanischen
Kirchenführer aus Afrika ermahnt hat, sie sollten sich
lieber um drängende Angelegenheiten wie Armut oder
HIV kümmern, statt ihren Kreuzzug gegen Homosexua-
lität fortzusetzen. Wörtlich sagte er „Ich bin tief beunru-
higt, dass wir uns angesichts der entsetzlichen Probleme
nur darauf konzentrieren, wer mit wem schläft“ und: „Es
ist ohnehin ungerecht, jemanden für seine sexuelle Aus-
richtung zu bestrafen. Denn niemand sucht sich das aus.
Das ist dasselbe, als würde wir gegen jemanden wegen
seiner Hautfarbe oder seiner Rasse vorgehen. Ich ver-
stehe nicht, warum wir eine Minderheit bestrafen, die
ohnehin schon verfolgt wird.“ Der Gott, zu dem er bete,
sehe Homosexualität nicht als höchste Priorität an.
Das geplante Gesetz wird auch Auswirkung auf die
HlV-Präventionsarbeit haben. Der UNAIDS-Repräsen-
tant in Lagos hat das Gesetz scharf kritisiert. Die Regie-
rung in Nigeria gefährdet mit diesem Gesetz ihre eige-
nen Erfolge in der HlV-Prävention, indem sie
Homosexuelle in den Untergrund treibt, die ohnehin un-
ter ihrer Stigmatisierung zu leiden haben. Dadurch wird
es schwieriger, diese Bevölkerungsteile überhaupt zu er-
reichen und medizinisch zu behandeln. Teile der bürger-
lichen Gesellschaft, die sich in der HIV-Vorbeugung en-
gagieren, werden kriminalisiert.
Sollte der Gesetzentwurf in der aktuellen Form in
Kraft treten, so wäre dies eine weltweit einmalige, ge-
setzlich verankerte massive Verletzung der Menschen-
rechte von Homosexuellen. Es wäre ein Verstoß gegen
die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, gegen
den von Nigeria ratifizierten Internationalen Pakt über
bürgerliche und politische Rechte und gegen die afrika-
nische Charta der Menschenrechte. Nach einer Anhö-
rung mehrerer Ausschüsse des nigerianischen Parlamen-
tes am 14. Februar 2007 scheint sich nun abzuzeichnen,
dass das Gesetz noch vor den allgemeinen Wahlen im
April 2007 in Kraft treten soll, obwohl sich viele zivilge-
sellschaftliche Gruppen in Nigeria gegen den Gesetz-
entwurf ausgesprochen haben. Auch die nigerianische
Menschenrechtskommission hat Zweifel an der Notwen-
digkeit des Gesetzes geäußert. Es ist zu befürchten, dass
das Gesetz Signalwirkung für andere afrikanische Staa-
ten hat, Homosexuelle noch stärker als bisher zu verfol-
gen.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, auch
im Rahmen der EU-Präsidentschaft auf die Regierung
und das Parlament in Nigeria einzuwirken, dass dieses
Gesetz nicht in Kraft tritt. Das Auswärtige Amt hat den
Menschenrechtsausschuss in seiner letzten Sitzung in-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007 9009
(A) (C)
(B) (D)
formiert, dass hierzu eine gemeinsame Demarche in Vor-
bereitung ist. Ich begrüße dies ausdrücklich und denke,
dass sie hierfür auch die volle Unterstützung des Deut-
schen Bundestages haben. Das Europäische Parlament
hat ebenfalls eine Resolution verabschiedet, in der der
Gesetzentwurf in Nigeria kritisiert wird. Ich hoffe, dass
der Deutsche Bundestag über die Fraktionsgrenzen hin-
weg schnell zu einer Entschließung kommt, bevor der
Gesetzentwurf in Nigeria verabschiedet wird.
Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag
ebenfalls auf, sich bei der nigerianischen Regierung für
die Abschaffung der Strafbarkeit von Homosexualität
einzusetzen und sich weltweit verstärkt gegen eine Dis-
kriminierung von Homosexuellen einzusetzen, insbeson-
dere auch im Rahmen der bilateralen und multilateralen
Entwicklungszusammenarbeit in Afrika. Sollte der Ge-
setzentwurf in Kraft treten, müssen auch die Kooperatio-
nen und Programme der Europäischen Union, die unter
Art. 9 des Cotonou-Abkommens mit Nigeria laufen,
überprüft werden.
Setzen Sie mit Ihrer Unterstützung für unseren Antrag
ein klares Signal, dass die massive Verletzung der
Menschenrechte von Homosexuellen, egal wo dies auf
der Welt geschieht, nicht geduldet wird! Helfen Sie mit,
dass die rechtliche Situation der Homosexuellen in Nige-
ria nicht noch weiter verschlechtert wird!
88. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 22. März 2007
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6