Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie
herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen.
Heute feiert der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber sei-
nen 71. Geburtstag. Er ist dennoch hier.
Lieber Kollege Riesenhuber, ich gratuliere Ihnen im Na-
men des ganzen Hauses und wünsche Ihnen alles Gute.
Ich vermute, dass bei den gestrigen Feierlichkeiten im
anderen Amt in der Parlamentarischen Gesellschaft
schon eine ähnlich stattliche Anzahl von Kolleginnen
und Kollegen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht
hat, Ihnen persönlich zu gratulieren.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Errichtung gemeinsamer
Dateien von Polizeibehörden und Nachrich-
tendiensten des Bundes und der Länder
Redet
– Drucksachen 16/2950, 16/3292 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ergänzung des Terrorismus-
– Drucksache 16/2921 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-
ausschusses
– Drucksache 16/3642 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Klaus Uwe Benneter
schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 16/3646 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Bettina Hagedorn
Jürgen Koppelin
Roland Claus
Alexander Bonde
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Petra Pau, Jan Korte, Kersten Naumann und
der Fraktion der LINKEN
Erhaltung des Trennungsgebots – keine
Errichtung gemeinsamer Dateien von Poli-
zeibehörden und Nachrichtendiensten des
ext
Bundes und der Länder
– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Volker Beck , Silke Stokar von
Neuforn, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für
die Anti-Terror-Dateien unter Beibehaltung
der Trennung von Polizei und Nachrichten-
diensten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Max
Stadler, Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weite-
geordneter und der Fraktion der FDP
ierung des Terrorismusbekämpfungs-
es präziser gestalten
rer Ab
Evalu
gesetz
7092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Präsident Dr. Norbert Lammert
– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Volker Beck , Silke Stokar von
Neuforn, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bessere Evaluierung der Anti-Terror-
Gesetze
– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Volker Beck , Jerzy Montag,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Anti-Terror-Gesetze – Zeitliche Befristung
beibehalten und Rechtsschutz der Betroffe-
nen verbessern
– Drucksachen 16/2624, 16/2071, 16/2671,
16/2072, 16/2081, 16/3642 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Klaus Uwe Benneter
Gisela Piltz
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Ralf Göbel für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
debattieren heute abschließend über zwei wichtige Ge-
setze, die die Sicherheitsarchitektur in unserem Land
verbessern werden. Zum einen ziehen wir die Konse-
quenz aus der Evaluierung des Terrorismusbekämp-
fungsgesetzes aus der vergangenen Wahlperiode und
verbessern die Möglichkeiten unserer Sicherheitsbehör-
den zur Bekämpfung des Terrorismus. Zum anderen ent-
scheiden wir heute über die Antiterrordatei, deren Auf-
bau und Inhalte uns in diesem Hause schon seit Jahren
beschäftigt haben.
Die Gott sei Dank misslungenen Kofferbomben-
anschläge auf die Regionalzüge in Nordrhein-Westfalen
und Rheinland-Pfalz sowie der vereitelte Sprengstoff-
anschlag auf ein Verkehrsflugzeug am Flughafen Frank-
furt zeigen, wie präsent die Bedrohung durch Terroristen
in Deutschland ist. Wir sind daher gegenüber der Bevöl-
kerung in der Pflicht, ständig zu überprüfen, ob unsere
Sicherheitsbehörden die geeigneten und die erforderli-
chen Kompetenzen haben, um bereits im Vorfeld solche
Planungen aufdecken und Verbrechen verhindern zu
können.
Schon vor der Anhörung war uns klar, dass wir uns in
einem komplizierten Spannungsfeld zwischen Sicher-
heit und Freiheit bewegen. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 Grund-
gesetz verpflichtet den Staat, die Menschenwürde zu
achten und zu schützen. Nach dem Verfassungsrichter
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em es nach langen Jahren des Streites gelungen ist, eine
emeinsame Position der Innenminister zwischen Bund
nd Ländern zu erarbeiten. Dies hat die erfolgreiche Ar-
eit erst ermöglicht.
Mit der gemeinsamen Datei schaffen wir einen spe-
iellen Informationsverbund der 38 Behörden des
undes und der Länder,
eren Aufgabe die Bekämpfung des internationalen Ter-
orismus ist. Unter sehr stark einschränkenden Voraus-
etzungen können weitere Behörden der Länder, denen
auerhaft die Aufgabe zur Bekämpfung des internationa-
en Terrorismus übertragen wird, an diesem Informa-
ionsverbund teilnehmen.
Ich denke, dies ist eine sachgerechte Lösung; denn sie
ässt den Ländern Raum für konkrete Ausgestaltungen
hrer Organisationshoheit. Die Lösung ist auch angemes-
en; denn die Bekämpfung des internationalen Terroris-
us ist eine Aufgabe, die Bund und Länder nur gemein-
am wahrnehmen können, aber auch wahrnehmen
üssen. Nur wenn diese Zusammenarbeit optimal orga-
isiert ist, können wir erfolgreich sein.
Entscheidend für die verfassungsrechtliche Bewer-
ung ist auch, dass durch die gemeinsame Datei keine
eue Datenerhebung stattfindet. Die Personen, die in
iese Datei eingestellt werden, sind bereits aufgrund ge-
etzlicher Vorschriften in den bestehenden Dateien der
olizeien und der Nachrichtendienste des Bundes und
er Länder erfasst. Mit der Antiterrordatei versetzen wir
ie Sicherheitsbehörden aber erstmals in die Lage, einen
chnellen bundesweiten Überblick über vorhandene Er-
enntnisse zu bestimmten Personen oder Vereinigungen
u erhalten. Die Kenntnis dieser Daten muss dabei für
ie Aufklärung oder Bekämpfung des internationalen
errorismus mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland
rforderlich sein.
Mit einem sehr differenzierten System stellen wir si-
her, dass die einstellenden Behörden Herr über ihre Da-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7093
)
)
Ralf Göbel
ten bleiben und dass die Persönlichkeitsrechte derjeni-
gen, die in diese Datei eingestellt sind, gewahrt bleiben.
So erhält die abfragende Behörde im Fall eines Treffers
nur den Zugriff auf die Grunddaten. Will sie ergänzende
Informationen, so genannte erweiterte Grunddaten zu
dieser Person haben, muss sie mit der einstellenden Be-
hörde Kontakt aufnehmen. Diese einstellende Behörde
entscheidet dann, ob die besonders sensiblen Daten
übermittelt werden.
Soweit besondere Geheimhaltungsinteressen oder
– das ist ein Ergebnis der Anhörung – besonders schutz-
würdige Interessen des Betroffenen dies ausnahmsweise
erfordern, kann eine beschränkte oder verdeckte Spei-
cherung erfolgen.
Kritisiert wurde in der Sitzung des Innenausschusses
die Eilfallregelung, wonach die abfragende Behörde un-
ter äußerst eng beschriebenen Voraussetzungen auf die
erweiterten Grunddaten zugreifen darf, wenn die er-
suchte Behörde nicht rechtzeitig reagieren kann.
Ich vermag beim besten Willen nicht zu erkennen, wie
man hier zu der Erkenntnis kommen kann, dass der Eilfall
in der Praxis zum Regelfall werden soll. Neben den be-
schriebenen materiellen Voraussetzungen für diesen be-
sonderen Zugriff haben wir im Gesetz noch erhebliche or-
ganisatorische Hürden aufgebaut, die nach meiner
langjährigen Erfahrung in Sicherheitsbehörden gewähr-
leisten, dass ein Missbrauch nicht stattfindet. Ganz da-
von abgesehen gehe ich bis zum Beweis des Gegenteils
davon aus, dass sich bundesdeutsche Behörden an Recht
und Gesetz halten und ein solches Misstrauen gegenüber
den Sicherheitsbehörden völlig unangebracht ist.
Nur am Rande will ich noch erwähnen, dass jeder,
wirklich jeder Zugriff auf diese Datei protokolliert wer-
den muss und sowohl die Zugriffsregelungen als auch
die Protokolldaten der Kontrolle durch die Datenschutz-
beauftragten des Bundes und der Länder unterliegen.
Insgesamt haben wir eine Regelung gefunden, mit der
das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit an-
gemessen austariert wird. Die verfassungsrechtlichen
Anforderungen sind dabei, wie es die meisten wichtigen
Experten bei der Anhörung dargestellt haben, eingehal-
ten. Auch das viel zitierte Trennungsgebot, das es nach
Meinung namhafter Rechtslehrer in der vor 1990 vertre-
tenen Form gar nicht mehr gibt, wäre durch dieses Ge-
setz nicht verletzt. Es wäre im Übrigen auch geradezu
widersinnig, wenn Nachrichtendienste und Polizei Infor-
mationen über extrem gefährliche Personen nicht austau-
schen dürften. Damit würde ihr verfassungsrechtlicher
Auftrag zum Schutz der Bevölkerung ad absurdum ge-
führt werden.
Abschließend will ich noch auf den Entschließungs-
antrag der großen Koalition hinweisen, in dem die Bun-
desregierung aufgefordert wird, einen Entwurf eines
Gesetzes zur Umsetzung der verfassungsgerichtlichen
Entscheidung zur Wohnraumüberwachung aus dem
Jahre 2004 für den Bereich der Nachrichtendienste vor-
zulegen. Wir zeigen damit, dass wir mit der Verfassung
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Es ist schön, dass wenigstens Sie mir Beifall klatschen.
ie CDU schafft das nicht. – Die FDP unterstützt selbst-
erständlich die Sicherheitsbehörden im Kampf gegen
en internationalen Terrorismus und hat sich schon seit
angem für eine reine Indexdatei zur Bekämpfung des
nternationalen Terrorismus eingesetzt. Dass diese In-
exdatei weder in den vergangenen Jahren noch jetzt
ealisiert wurde, liegt nicht an uns, sondern an den Län-
erministern, die von CDU und SPD gestellt werden;
as musste einmal gesagt werden.
ir haben bei dem vorliegenden Entwurf allerdings
uch rechtsstaatliche Bedenken.
Zuerst aber ein Wort zum Verfahren – das kann ich
hnen nicht ersparen –: Es gab eine kurzfristig anbe-
aumte Anhörung. Diesem Vorgehen haben wir zuge-
timmt, um diese Datei, von der wir einmal dachten, sie
ürde als Indexdatei ausgestaltet, schnell auf den Weg
u bringen. Die große Koalition hat dann drei Wochen
ebraucht, um am Ende Änderungsanträge, die nicht ein-
al zwei DIN-A4-Seiten umfassen, vorzulegen.
s wurden zwei Berichterstattergespräche angesetzt, die
icht stattgefunden haben, weil Sie sich immer noch
icht geeinigt hatten. Besonders schön fanden wir es,
ass wir dann am späten Dienstagabend das entspre-
hende Fax mit den Änderungsanträgen bekamen. So
onnten wir uns damit in den Fraktionen überhaupt nicht
useinander setzen.
Interessant ist auch, was die Kollegen im Innenaus-
chuss zu diesem Gesetzentwurf gesagt haben. Herr
iefelspütz sagte zum Beispiel, er hätte noch nie so hart
n einem Gesetzentwurf gearbeitet wie an diesem.
7094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Gisela Piltz
Herr Göbel hat gesagt, es handele sich eigentlich nur um
kleinere Änderungen. Was stimmt denn nun?
Herr Kollege Wiefelspütz, soll ich die Parlaments-
ärztin unterrichten oder bekommen wir das noch so gere-
gelt?
Herr Wiefelspütz, wenn das alles ist, was Sie zustande
bringen, dann graut mir vor den nächsten drei Jahren.
Unsere größten Kritikpunkte sind im Übrigen von den
Sachverständigen bestätigt worden. Bezüglich des Zu-
griffs auf die erweiterten Grunddaten von aa) bis qq)
– so heißt es so schön – haben auch wir verfassungsmä-
ßige Bedenken; denn jede Speicherung und Weitergabe
von Daten ist ein Eingriff in das Recht auf informatio-
nelle Selbstbestimmung und jeder Eingriff bedarf einer
Rechtfertigung. Wir können aber nicht erkennen, dass
dies hier in jedem Fall gegeben ist. Wir haben insbeson-
dere bei der Religionszugehörigkeit unsere Zweifel.
Auch viele Praktiker haben – das haben sie in der Anhö-
rung bestätigt – ihre Zweifel an der Praktikabilität dieser
erweiterten Grunddaten.
Auch die Anzahl der beteiligten Behörden sehen
wir kritisch. Wir hätten uns gewünscht, dass darüber ge-
meinsam mit dem Bundestag entschieden wird.
– Herr Wiefelspütz, es wird nicht besser, wenn Sie so
laut rufen. –
Was Sie jetzt vorgelegt haben, ist lediglich im Einver-
nehmen mit dem Innenminister beschlossen worden.
Das kann sich ein Parlament nicht bieten lassen.
Auch zum Freitextfeld haben wir Kritikpunkte. Hier
verlassen Sie aus unserer Sicht die ursprünglich vorgese-
hene Indexdatei; denn nun dürfen Bewertungen, Hin-
weise und Bemerkungen hinsichtlich der Grunddaten
und der erweiterten Grunddaten weitergegeben werden.
Das ist erstens vom Aufwand her unpraktikabel – wer
soll das eingeben, wer soll das pflegen? –, zweitens für
den Betroffenen absolut unkalkulierbar – er kann die Da-
ten nicht einsehen und weiß nicht, was an persönlichen
Bewertungen über ihn gespeichert wird – und hat drit-
tens nichts mit Objektivität zu tun, sondern es handelt
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um Anwärter für diese Datei macht. Von daher lehnen
ir das ab.
Das Schlimmste aus unserer Sicht ist aber die so ge-
annte Eilfallregelung. Gemeinsam mit dem Freitext-
eld birgt sie die Gefahr, dass ausländische Geheim-
ienste uns ihre Informationen gar nicht mehr
eitergeben. Bisher galt das Opportunitätsprinzip; sie
onnten selbst entscheiden, ob sie Informationen einstel-
en oder nicht. Das gilt jetzt nicht mehr. Im Eilfall kann
ede Behörde jederzeit auf die Daten zugreifen. Das
eißt, auch jede ausländische Behörde muss damit rech-
en, dass eine Behörde, von der sie nicht möchte, dass
ie auf diese Daten Zugriff hat, im Eilfall darauf zugreift.
All das, was Sie, Herr Kollege Göbel, hier zum Eilfall
esagt haben, kann mich nicht überzeugen. Es gibt min-
estens fünf unbestimmte Rechtsbegriffe in Ihrer Vor-
chrift, die man zunächst auslegen muss. Was da konkret
nd präzise geregelt sein soll, kann ich nicht erkennen.
anz im Gegenteil, Sie gefährden mit dieser Regelung
ie internationale Zusammenarbeit. Für mich und meine
raktion macht Terrorismus nicht an der Grenze halt und
ält sich übrigens auch nicht an unsere üblichen Büro-
eiten in den Behörden. Mit Blick auf die Eilfallregelung
rage ich mich, wie Sie den internationalen Terrorismus
inschätzen. Es kann doch wohl nicht sein, dass Sie
lauben, dass man einen Eilfall nicht bei allen Sicher-
eitsbehörden rund um die Uhr bearbeiten könnte.
errorismus müssen wir rund um die Uhr bekämpfen
nd nicht nur, wenn der bayerische Verfassungsschutz-
räsident meint, dass er einen Notdienst fürs Wochen-
nde braucht. Ich glaube, so kann man den internationa-
en Terrorismus nicht bekämpfen.
Frau Kollegin Piltz!
Ich komme zum Schluss – mit einem letzten Gedan-
en. Wirklich nachdenklich hat mich gestimmt, dass Sie
nseren Änderungsantrag – mit dem Inhalt, dass Infor-
ationen, bei denen Tatsachen die Annahme begründen,
ass die unter offensichtlicher Verletzung der Menschen-
echte erhoben wurden, nicht gespeichert werden – ab-
elehnt haben. Es ist schön, wenn Sie sonntags davon re-
en, dass wir auf das Folterverbot unbedingt Rücksicht
ehmen müssen und unter Folter erhaltene Informatio-
en nicht verwendet werden dürfen. Wenn Sie das bei
er Ausarbeitung eines Gesetzes aber nicht berücksichti-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7095
)
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Gisela Piltz
gen, dann finde ich das sehr bedenklich. Das lässt tief
blicken auf den Zustand dieser großen Koalition.
Aus all diesen Gründen können wir dieser Antiterror-
datei nicht zustimmen. Wir hätten es gerne getan. Wir
haben Ihnen unsere Mitwirkung angeboten; aber Sie ha-
ben davon keinen Gebrauch gemacht. Auch das hat mit
parlamentarischem Brauch nichts zu tun.
Vielen Dank.
Klaus Uwe Benneter ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ge-
sundheitlichen Befindlichkeiten des Kollegen
Wiefelspütz haben wir ja schon erörtert. Aber, Frau Kol-
legin Piltz, eine gute Speise muss eben heiß auf den
Tisch. Deshalb konnten wir Ihnen vorher nicht noch ein-
mal die Gelegenheit geben, sich den Mund daran zu ver-
brennen.
Warum ist Deutschland bisher weitgehend von terro-
ristischen Anschlägen verschont geblieben? Wir hatten
sicherlich Glück. Es lag auch an einer klugen Außenpo-
litik, aber ebenso an der klugen und vorausschauenden
Politik im Bereich der inneren Sicherheit in den letzten
fünf Jahren.
An dieser Stelle sollte man ausdrücklich unseren Kolle-
gen Otto Schily erwähnen.
Man sollte ihm für das danken, was er für die innere Si-
cherheit in Deutschland geleistet hat. Herzlichen Dank,
Otto Schily!
Es sind in der Vergangenheit sicher weit mehr als ein
Dutzend Anschläge in Deutschland durch rechtzeitige
Aufklärung verhindert worden. Deshalb ist die Frage zu
stellen, was wir eigentlich mit einer rechtzeitigen Ter-
rorbekämpfung im engeren Sinne leisten. Natürlich
muss Terrorbekämpfung auch die Ursachen angehen und
die Rekrutierung von Terroristen in den Entwicklungs-
ländern verhindern. Terrorbekämpfung im engeren Sinne
bedeutet, dass man rechtzeitig, also wenn Terroraktionen
geplant werden, handelt und nicht hinterher, wenn es so-
zusagen um das Aufräumen geht.
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Es ist unsere Aufgabe, die Bürgerrechte zu gewähr-
eisten und zu schützen. Das ist der Grund, warum wir
error bekämpfen.
s geht hier nicht nur darum, allgemeine Persönlich-
eitsrechte und das Recht auf eine freie Entfaltung der
ersönlichkeit zu schützen;
s geht nicht nur darum, die Informations- und Mei-
ungsfreiheit zu schützen.
Ja, aber auch. – Aber erst recht muss das Recht auf
icherheit geschützt werden.
s ist eines der vornehmsten und wichtigsten Bürger-
echte, das der Staat zu garantieren hat; denn die Bürger
elbst können es nicht. Der Staat ist also gefragt, wenn es
m das Recht auf Sicherheit geht.
Das Recht auf Sicherheit steht im gesamten Grundge-
etz.
Das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz und
as Gemeinsame-Dateien-Gesetz sind die rechtsstaatli-
he Grundlage dafür, dass wir verlässliche Informatio-
en für intelligente und rechtzeitige Analysen von Ge-
ährdungssituationen sammeln können. Das ist keine
underwaffe, aber Teil eines sensiblen und klugen
rühwarnsystems.
Lassen Sie mich nun auf das Terrorismusbekämp-
ungsergänzungsgesetz eingehen. Das Terrorismusbe-
ämpfungsgesetz war auf fünf Jahre befristet. Es ging
7096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
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Klaus Uwe Benneter
nun um die Frage, ob dieses Gesetz verlängert werden
sollte oder ob es einfach auslaufen sollte. Es hat in die-
sem Zusammenhang eine Evaluierung stattgefunden, die
allein vom Zeitablauf gesehen unseren Ansprüchen auf
eine ausreichende Evaluierung nicht genügen kann.
Gemäß dem Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz
gibt es in fünf Jahren eine neue Evaluierung, aber dies-
mal – wenn ich das richtig verstanden habe, war das
auch Ihr Anliegen, Herr Kollege Wieland – mit externem
Sachverstand.
– Es wird kein Alibisachverständiger sein. Er wird vom
Parlament bestimmt werden.
Das ist schon ein wesentlicher Fortschritt, der eigentlich
Ihrem Anliegen gerecht werden müsste.
Es gibt keine Ausdehnung auf den Extremismusbe-
reich. Es bleibt dabei, dass es ein Terroristenbekämp-
fungsgesetz ist. Ich sage ganz deutlich, dass es sich um
terroristische Bestrebungen handeln muss. Extremisti-
sche Meinungsäußerungen, auch wenn sie einem nicht
passen, reichen nicht aus, um hier Auskünfte einholen zu
können. Außerdem müssen immer tatsächliche Anhalts-
punkte vorliegen, wenn dieses Gesetz in Anwendung
kommen soll.
Uns ist es auch gelungen – darauf bin ich besonders
stolz –, dass, wenn der Zweck der Maßnahme nicht mehr
gegeben ist, alle Betroffenen zu benachrichtigen sind. Es
ist ein ganz wichtiger Punkt in der Demokratie, dass man
das selber nachprüfen lassen kann.
Was das Gemeinsame-Dateien-Gesetz angeht, wird
oft der Hinweis gegeben, hiermit werde das Trennungs-
gebot verletzt. Egal ob es ein verfassungsrechtlich ge-
schütztes Trennungsgebot gibt oder nicht, eine Trennung
zwischen Nachrichtendiensten und Polizei ist aus der
Natur der Sache heraus erforderlich. Die Polizei arbeitet
mit anderen Methoden und auf Basis anderer Rechts-
grundlagen als Nachrichtendienste. Nachrichtendienste
haben die Möglichkeit, sehr früh im Vorfeld Ermittlun-
gen zu führen und Informationen einzuholen. Die jewei-
ligen Informationen haben unterschiedlichen Charakter
und unterschiedliche Belastbarkeiten und stammen aus
völlig unterschiedlichen Quellen. Polizeiquellen müssen
Quellen sein, die auch vor Gericht standhalten können,
während die Quellen der Nachrichtendienste natürlich in
der Regel nicht vor Gericht zu verwerten sind. Aber sie
sind im Kampf gegen den Terror wichtig. Daher ist es
bedeutsam, solche Informationen rechtzeitig einzuholen.
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Ü
ei den Verfassungsschutzämtern ist es von der Natur
er Sache her so, dass die einzelnen Dienststellen ent-
prechend voneinander abgeschottet und getrennt sind.
eshalb nützt es Ihnen nichts, einen 24-Stunden-Bereit-
chaftsdienst zu haben, wenn Sie die gerade Zuständi-
en, diejenigen, die Sie für eine verlässliche Information
rauchen, nicht erreichen können.
s sollte Ihnen einleuchten, dass man hier eine Eilfall-
egelung benötigt. Aber auch diese Eilfallregelung ist so
bgesichert, dass sie nicht zum Regelfall wird und kein
issbrauch erfolgen kann. Nehmen Sie das doch endlich
inmal zur Kenntnis!
Zu den Kontaktpersonen; davon haben Sie gar nicht
ehr gesprochen.
s war ja Ihre Forderung, deutlich zu machen, dass Kon-
aktpersonen nur dann in eine solche Datei aufgenom-
en werden können, wenn es sich nicht um zufällige
der flüchtige Kontakte handelt. Das ist nun ausdrück-
ich in den Gesetzestext aufgenommen worden. Dies
tand schon vorher in der Begründung. Aber weil es Ihr
nliegen war, dies deutlicher festzulegen, haben wir
iese Regelung in den Gesetzestext aufgenommen.
as sollte ein Grund mehr für Sie sein, zustimmen zu
önnen.
Eines ist ganz wichtig: In dieser gemeinsamen Datei
efinden sich keine neuen Daten. Es sind keine neuen
bermittlungsvorschriften geschaffen worden. Es bleibt
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7097
)
)
Klaus Uwe Benneter
alles beim Alten. Was bisher von Nachrichtendienst zu
Polizei von Hand zu Hand und von Mund zu Mund wei-
tergegeben werden konnte, wird jetzt in der Weise mo-
dernisiert, dass dies auch automatisiert weitergegeben
werden kann. Das ist der einzige Unterschied.
Dem Abwehrkampf gegen den Terrorismus sind wir es
schuldig, dass wir solche modernen Möglichkeiten nut-
zen und entsprechend einführen.
Wer zielsichere, belastbare Einschätzungen und Be-
wertungen abgeben will, braucht diese von uns zu Recht
geschaffenen rechtsstaatlichen Instrumente. Erfolgreiche
Terrorbekämpfung braucht taugliche Mittel für eine er-
folgreiche Recherche. Deshalb gibt es diese neuen Ge-
setze. Sie bauen auf alten, bewährten Regelungen auf,
führen sie weiter und entwickeln sie.
Dem Netzwerk der Terroristen stellen wir ein Netz-
werk der Sicherheit entgegen.
Es ist wichtig, die Informationen möglichst frühzeitig zu
erhalten; denn nur so können wir bei der Terrorbekämp-
fung Erfolg haben. Die frühzeitige Information ist ein
Grund dafür, dass wir in Deutschland von Terroranschlä-
gen bisher weitgehend verschont geblieben sind.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
machen Sie den Menschen nicht länger Angst.
Wir gefährden keine Bürgerrechte, sondern wir wahren
alle Bürgerrechte. Alle Bürgerrechte, auch das Bürger-
recht auf Sicherheit, waren und sind bei uns in besten
Händen. Das wird so bleiben.
Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Jan Korte, Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nicht die Opposition verbreitet Angst, sondern Sie von
der Koalition. Sie sind die wahren Sicherheitspopulisten.
In Ihrer Argumentation gibt es nämlich einen Wider-
spruch: Auf der einen Seite stellen Sie Berichte vor, mit
denen Sie argumentieren, die Bundesrepublik sei eines
der sichersten Länder auf der ganzen Erde; auf der ande-
ren Seite erzählen Sie aber ununterbrochen, dass wir be-
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Nun zur Antiterrordatei. Ich glaube, dass das, was wir
eute diskutieren, in den Gesamtkontext eingeordnet
erden muss, um überhaupt kenntlich machen zu kön-
en, was Sie beabsichtigen. Der Kollege Göbel hat heute
orgen etwas sehr Entscheidendes gesagt – das trifft
en Kern –,
ämlich dass Sie an einer völlig neuen Sicherheitsarchi-
ektur arbeiten. Das Problem dabei ist, dass die Balance
wischen Freiheit und Sicherheit heute abermals zuun-
unsten der Freiheit gekippt werden soll. Das ist das ent-
cheidende Problem Ihrer neuen Sicherheitsarchitektur.
Es gilt, den Gesamtrahmen zu beachten. Ich erinnere an
as Programm zur Stärkung der inneren Sicherheit; ne-
en den Haushaltsberatungen wurde über diese hochgra-
ig fragwürdige Angelegenheit abgestimmt. Ich erinnere
n die Vorratsdatenspeicherung. Hochgradig problemati-
che Vorhaben werden von Ihnen durchgeprügelt. All
as bildet den Gesamtkontext. Sie bringen eine neue Si-
herheitsarchitektur zulasten der Freiheit auf den Weg.
as ist wahrlich populistisch und für die Grundrechte
efährlich.
Nun zu den heutigen Vorhaben.
Erstens. Selbstverständlich wird hiermit die Tren-
ung von Polizei und Geheimdiensten weiter aufgeho-
en. Das ist doch gar keine Frage.
ch kann nicht oft genug wiederholen, warum es diese
rennung gibt: Sie beruht auf den Erfahrungen, die wir
n der deutschen Geschichte gemacht haben. Dieses
hema ist aktueller denn je, weil es auch heute darum
ehen muss, eine unkontrollierbare Machtkonzentration
ei den Sicherheitsdiensten zu verhindern.
ede Woche gibt es einen neuen Skandal, weil die Situa-
ion offensichtlich nicht mehr kontrollierbar ist. Das ist
nser Problem. Deswegen ist dieses Trennungsgebot ak-
ueller denn je.
Dazu hat der ehemalige BND-Präsident und Staats-
ekretär Geiger, der nun wahrlich nicht verdächtig ist,
ozialist, geschweige denn Kommunist zu sein, Treffli-
hes gesagt.
7098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
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Jan Korte
Er hat in der Anhörung gesagt: Hier sollen personenbe-
zogene Kenntnisse zusammengeführt werden, die von
Behörden erhoben wurden, die organisatorisch zu Recht
getrennt sind, die unterschiedliche Aufgaben und Befug-
nisse haben. – Darüber gehen Sie einfach hinweg, ob-
wohl das nicht irgendjemand, sondern der ehemalige
BND-Präsident gesagt hat. Recht hat er.
Zweitens. Die erweiterten Grunddaten – Kennwort:
Religionszugehörigkeit – sind schon angesprochen wor-
den. Was soll das? Was hat diese Angabe in der Datei zu
suchen? Hier wird wieder eine Stigmatisierung vorge-
nommen, die, wie immer, in erster Linie die Migrantin-
nen und Migranten in diesem Land trifft. Deswegen leh-
nen wir das ab.
– Die Vorurteile schüren Sie, nicht wir.
Drittens, das Freitextfeld: Es ist gerade schon einmal
zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Polizei
aufgrund von Tatsachen und Fakten ermittelt, während
Geheimdienste bekanntermaßen auch aufgrund von Ver-
mutungen agieren und Gesinnungen nachspüren. Es ist
doch völlig logisch, dass es zu Fehlschlüssen mit gege-
benenfalls verheerenden Folgen für die Betroffenen
kommen muss, wenn man beides zusammenrührt. Da-
rüber kann man nicht einfach hinweggehen.
Viertens, die Kontaktpersonen – auch dieser Punkt
ist schon genannt worden –: Da haben Sie eine kleine
Änderung vorgenommen. Sie ist aber so vage gehalten,
dass das Kernproblem bleibt. Der Bundesdatenschutzbe-
auftragte hat es an einem Beispiel gezeigt: Wenn ich
meinen Nachbarn einmal am Kiosk treffe, ist es wohl
kein Problem. Wenn ich ihn aber drei- oder viermal
treffe und mit ihm vielleicht sogar noch einen Kaffee
trinke, dann gerate ich ganz schnell in die Datei hinein.
Das ist das Kernproblem.
Auch dazu hat Herr Geiger etwas Treffendes festge-
stellt:
Wie wird sichergestellt, dass insbesondere Unbetei-
ligte, ich denke an Kontaktpersonen, nicht allein
schon durch die Tatsache der Speicherung erhebli-
che Nachteile erleiden?
Auch das haben Sie nicht beantwortet. Es ist ein Skan-
dal, was Sie hier heute vorgelegt haben und wie Sie ein-
fach über die Probleme hinweggehen.
Ein Verwendungsverbot von Daten, die unter Folter
erlangt wurden – ich erinnere an den Fall Zammar in
Syrien: die „Früchte der Folter“, die es offensichtlich
gibt –, wird von Ihnen nicht aufgenommen. Es gibt ja ei-
nen Untersuchungsausschuss, der sich mit diesen Fragen
befasst.
Das sind nur einige Gründe, warum die Linksfraktion
Ihr Gesetz ablehnen wird. Es geht hier, um es einmal
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llerdings wäre es jetzt, fünf Jahre später, an der Zeit, in
ich zu gehen und zu überprüfen, ob die Verhältnismä-
igkeit gewahrt wurde. Es Evaluierung zu nennen,
enn das Ministerium sein eigenes Gesetz evaluiert, ist
eradezu absurd. Das ist so, als ob sich Produzenten von
ammelfleisch ein Ökosiegel geben würden. Das ist
eine Evaluierung.
ätte man eine unabhängige und kritische Evaluierung
ugelassen, wären uns vielleicht die wöchentlichen Ge-
eimdienstskandale erspart geblieben. Auch das muss
ngemerkt werden.
Ich fasse zusammen. Heute ist wieder einmal ein trau-
iger Tag für die Grund- und Freiheitsrechte in diesem
and. Ich habe beim letzten Mal schon gefragt und frage
eute wieder: Bis wohin wollen Sie gehen? Jede Woche
ibt es eine neue Verschärfung des Gesetzes und neue
ingriffe in die Grundrechte. Wann soll damit Schluss
ein? Das frage ich mich wirklich; denn das ist das Pro-
lem. Die Schreierei der SPD hier
äuscht nur darüber hinweg, dass auch Sie hochgradige
edenken an dem haben, was Sie auf den Weg gebracht
aben.
ie wissen ganz genau – seit langem wird das bei Ihnen
emunkelt –, dass das Gesetz vor dem Bundesverfas-
ungsgericht landen wird.
Abschließend noch einmal kurz zum Verfahren; zum
nhalt wurde schon einiges gesagt. Dass die Kollegen in
er CDU/CSU so etwas durchpeitschen, überrascht
icht, weil es dort durchaus einen Hang zu autoritärem
erhalten gibt
Etwas charmanter gesagt, weil ja bald Weihnachten ist:
ie haben einen Hang zu preußischer Disziplin. – Das
ill mich nicht überraschen. Aber dass das in der SPD in
ieser Art und Weise durchgepeitscht wird, verwundert
ich schon, obwohl mich nicht mehr vieles verwundert.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7099
)
)
Jan Korte
Man hat doch mitbekommen, dass Sie hochgradige Be-
denken hatten. Sie sollten überlegen, ob Sie nicht wieder
einmal Ihr Gewissen dem Koalitionszwang entgegen-
stellen. Darüber sollten Sie einmal nachdenken. Das
Gute an der Linksfraktion ist, dass dort die Fraktionsdis-
ziplin mit dem Gewissen gleichgeht. Das ist das Schöne
an der Linksfraktion. Deswegen lehnen wir diesen Ge-
setzentwurf ab.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Wieland,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Benneter hat eben das Spiel der Koalition mit der Angst
vor Terrorismus, Verbrechen und anderem vorgeführt.
– Nein, in Wirklichkeit tut es die Koalition. Das ist das
Problem.
Wir sind gerade hier ganz bedacht und folgen dem
Präsidenten des BKA, Herrn Ziercke. Er sprach von fünf
verhinderten Terroranschlägen seit dem 11. September.
Wenn man Frankfurt am Main dazurechnet, muss man
von sechs verhinderten Terroranschlägen sprechen. Die
wurden durch gute Arbeit – auch ohne Antiterrordatei –
verhindert.
Der Anschlag von Köln wurde nur durch einen Zufall
verhindert. Nur die falsche Übertragung von Internet-
bauplänen in die Realität hat dazu geführt, dass wir Köln
heute nicht in einer Reihe mit Madrid und London nen-
nen müssen. Dieser Anschlag hätte auch durch eine An-
titerrordatei nicht verhindert werden können. Daher
muss über die Ausgestaltung einer solchen Datei ruhig,
ohne Hektik und ohne dieses Thema als „heiße Kiste“ zu
präsentieren, auf parlamentarischem Wege verhandelt
werden. Wir hatten dazu circa 20 Änderungsvorschläge
gemacht, die FDP genauso viele. Diese Vorschläge ha-
ben Sie nicht zur Kenntnis genommen. Sie lagen noch
nicht einmal auf Ihrem Verhandlungstisch.
Es gibt noch nicht einmal eine ablaufende Frist für diese
Datei.
Daher sage ich: Sie haben sich bewusst von der Op-
position abgekoppelt. Nun kommen Sie mit dummen
Schuldzuschreibungen an uns. Sie wollen dieses Thema
jetzt abschließen, diese Diskussion nicht mehr führen
und die Flucht nach vorne antreten. Machen Sie das ru-
hig, glauben Sie aber nicht, dass wir als Opposition da-
bei mitmachen und Ihnen zustimmen.
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Sie stellen sich hierhin
nd sagen: Hurra, data habemus! Jetzt haben wir die Da-
ei. Das, was Rot-Grün in sieben Jahren nicht geschafft
at, haben wir in nur einem Jahr geschafft.
Lieber Kollege Binninger, wir sind stolz darauf, dass
ir einen solchen Datenmoloch, wie Sie ihn planen, ver-
indert haben.
Auf eine Kurzformel gebracht bedeutet Ihre Datei:
iel zu viele Daten von viel zu vielen Personen aus viel
u vielen Quellen mit viel zu vielen Zugangsberechtig-
en. Das ist der Inhalt dessen, was Sie uns vorlegen.
Ja, eben. So viele Daten haben wir.
Stichwort: zu viele Daten. Die Nachrichtendienstli-
he Verbunddatei, NADIS, hat zurzeit einen Bestand von
034 514 personenbezogenen Einträgen.
eim BKA umfasste allein die Datei „Innere Sicherheit“
it der Aufgabenstellung der Verhütung und Aufklärung
on politisch motivierten Straftaten, die länderübergrei-
ende, internationale oder erhebliche Bedeutung haben,
age und schreibe 1 451 605 Datensätze. Solche Daten-
erge sind bereits vorhanden.
Sie schlagen nun nicht etwa vor – was logisch wäre –,
ass wir diese Datenberge zunächst einmal entrümpeln
nd überprüfen, anschließend entscheiden, welche Daten
n die Datei aufgenommen werden, und sie dann zusam-
enfügen. Stattdessen wählen Sie ein Verfahren, das
ine gesetzliche Verpflichtung vorsieht: Es soll gespei-
hert werden, ohne dass zuvor eine Prüfung des Altbe-
tandes stattgefunden hat. Das ist wirklich unsinnig. Das
ntspricht nicht dem Gebot der Datenknappheit. Auch
ierzu können wir nur Nein sagen.
Stichwort: zu viele Personen. Herr Fromm vom Bun-
esamt für Verfassungsschutz hat die Hoffnung geäu-
ert, dass der Umfang der Datei wohl nicht fünfstellig
ird. Wir sagen: Angesichts dessen, dass diese Datei,
ber deren Einführung wir jahrelang diskutiert haben,
7100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Wolfgang Wieland
eine absolut stigmatisierende Wirkung haben wird – das
ist gar nicht anders möglich; wer dort dringsteht, wird
als Terrorist gelten –, sollte man sich sehr genau überle-
gen, wen man in die Datei aufnimmt. Das tun Sie nicht.
Sie definieren noch nicht einmal entsprechende Krite-
rien.
In der Sachverständigenanhörung kam es doch gera-
dezu zu einer Art heiterem Personenraten, wer wohl in
diese Datei aufgenommen wird: Kommt Peter Handke
rein? Kommt Ahmadinedschad rein?
– Ja. Von der Linksfraktion wurde auch der Name
Joschka Fischer genannt. –
Muss US-Präsident George W. Bush rein?
Nach Ihrer Definition müsste jeder, der auf internationa-
ler Ebene die Anwendung von Gewalt befürwortet, ge-
schweige denn tatsächlich Gewalt anwendet, in die Datei
aufgenommen werden. Das geht viel zu weit und ist viel
zu unbestimmt.
Auch zu den Kontaktpersonen möchte ich Ihnen
gerne etwas sagen. Ihr Versuch der Einschränkung ist
untauglich. Die Definition, die Sie zugrunde legen wol-
len, umfasst das gesamte soziale Umfeld, sofern es dau-
erhaft ist. Die Ärztin, der Arzt, die Familienangehörigen,
die Anwältin und der Anwalt – für alle besteht das Ri-
siko, in diese Datei aufgenommen zu werden.
An die Stelle harter Fakten setzen Sie Gesinnungsele-
mente. Ein nachdenklicher Sachverständiger hat darauf
hingewiesen, dass es sich oftmals um Menschen handelt,
die den Schritt vom Meinen zum Handeln noch gar nicht
vollzogen haben. Das alles hat in einer solchen Datei
wirklich nichts zu suchen.
Stichwort: zu viele Quellen. Der Streit, ob es eine
Volltextdatei oder eine Indexdatei sein soll, ist doch
nicht umsonst erbittert geführt worden! Wir Grüne woll-
ten die Datei – um das deutlich zu sagen –; aber wir
wollten sie immer als Indexdatei, als Fundstellendatei.
Weil jetzt gesagt wird, in den Eilfällen unterstellten wir
als Opposition Missbrauch, stelle ich klar: Wir unterstel-
len keinen Missbrauch. Aber der Eilfall ist vom Wesen
des Terrorismus her der Regelfall, da ist immer Eile an-
gesagt, die gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben ist
impliziert in der terroristischen Gefahr. Sie wollen doch
nicht im Ernst behaupten, dass, wenn ein Name der Kof-
ferbomber bekannt gewesen wäre, das kein Eilfall gewe-
sen wäre! Natürlich, und so wird es immer sein. Daher
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Herr Kollege Wieland, gestatten Sie eine Zwischen-
rage des Kollegen Benneter?
Ja, gestatte ich gerne.
Herr Kollege Wieland, sind Sie in der Lage, zur
enntnis zu nehmen,
ass es im Gesetzestext im Hinblick auf Kontaktperso-
en ausdrücklich heißt:
Personen, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte die
Annahme begründen, dass sie …
it Terrorverdächtigen
in Verbindung stehen und durch sie Hinweise für
die Aufklärung oder Bekämpfung des internationa-
len Terrorismus gewonnen werden können …
as zusätzliche Erfordernis ist, dass
die Kenntnis der Daten für die Aufklärung oder Be-
kämpfung des internationalen Terrorismus mit Be-
zug zur Bundesrepublik Deutschland erforderlich
ist. Satz 1 gilt nur für Daten, die die beteiligten Be-
hörden nach den für sie geltenden Rechtsvorschrif-
ten automatisiert verarbeiten dürfen.
as ist die Definition von Kontaktpersonen in dem Ge-
etzentwurf. Können Sie das zur Kenntnis nehmen?
Ich nehme das zur Kenntnis. Doch ich habe von dem,
as ich ausgeführt habe, Kollege Benneter, nichts zu-
ückzunehmen. Denn in Ihrer Definition fehlt das Ele-
ent, dass diese Personen irgendetwas wissen von den
erroristischen Verflechtungen der anderen Person.
ein, dass sie etwas wissen müssen, ist keine Vorausset-
ung für eine Erfassung ihrer Grunddaten; da genügt es,
ass sie objektiv Kontakt haben zu dieser Person.
ass sie Kenntnis von deren Gefährlichkeit haben, ist
eine Bedingung. Eine Kontaktperson kann also der
hepartner sein, jeder, der nur nicht zufällig Kontakt zu
hr hat, zum Beispiel auch eine Anwältin oder ein An-
alt,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7101
)
)
Wolfgang Wieland
mit dem die Person in Geschäftsbeziehung steht. Weil es
hier um nachrichtendienstliche Daten geht, sind wir uns
doch wohl einig, dass auch viele undolose – wie Sie im
Ausschuss sagten –, also absichtslose Kontaktpersonen
dort gespeichert sind. Gerade das Wissen eines Anwaltes
ist sehr interessant für nachrichtendienstliche Kreise.
Würden Sie vielleicht auch dem Kollegen Binninger
die Freude machen?
Ich bin ja zur Gleichbehandlung verpflichtet hier.
Deswegen soll auch der Kollege Binninger fragen dür-
fen.
Herr Kollege Wieland, Sie haben gerade behauptet,
dass die Kontaktpersonen nicht wissen müssten über
Terrorismus und deshalb nahezu jeder in diese Datei
kommen könnte. Wären Sie bereit, mir zuzugestehen,
dass im Gesetz etwas anderes steht, nämlich Folgendes
– ich nehme nur den letzten Halbsatz –:
… und durch sie
– es geht um die Kontaktpersonen –
Hinweise für die Aufklärung oder Bekämpfung des
internationalen Terrorismus gewonnen werden kön-
nen.
Sie müssen also etwas wissen, sonst kommen sie nicht in
die Datei. Wären Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen
und Ihre Aussagen zu revidieren?
Nein, das nehme ich nicht zur Kenntnis. Möglicher-
weise wollten Sie das zum Ausdruck bringen. Aber Sie
haben es nicht zum Ausdruck gebracht.
Es genügt, dass die Behörden sich vorstellen, dass sie
über die Kontaktpersonen in ihren Ermittlungen weiter-
kommen. Es steht nicht drin, dass die Kontaktperson ir-
gendetwas wissen muss davon, dass der Hauptverdäch-
tige in Terrorismus involviert ist. Diese Verbindung
haben Sie nicht gewählt. Wir haben Ihnen eine entspre-
chende Formulierung vorgeschlagen. Aber, Kollege
Binninger, Sie waren ja wenigstens so ehrlich, zu sagen,
dass Sie die noch nicht einmal gelesen haben. Wie sich
jetzt an Ihrer Zwischenfrage zeigt, rächt sich das.
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as alles hätte diesem Hause gut zu Gesicht gestanden
nd die Umsetzung der praktischen Erfahrungen und der
rlebnisse des vergangenen Jahres bedeutet.
In einem geradezu gottvollen Entschließungsantrag
ppellieren Sie nun an die Bundesregierung, doch end-
ich die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Tele-
ommunikationsüberwachung umzusetzen. Warum haben
ie das nicht selbst in Ihren Gesetzentwurf für ein
errorismusbekämpfungsergänzungsgesetz eingearbei-
et? Dies ist nicht nur ein Wortungeheuer, sondern auch
in Monstrum an sich und ein Etikettenschwindel: Mit
iesem Gesetz wird die Terrorismusbekämpfung nicht
rgänzt; vielmehr gibt man sämtlichen Nachrichten-
iensten alle Instrumente, die zur Terrorismusbekämp-
ung entwickelt wurden, für die ganz normalen nachrich-
endienstlichen Felder, den Kampf gegen den Rechts-
nd den Linksextremismus, an die Hand. Das hat mit
valuierung nichts zu tun und das hat auch damit nichts
u tun, dass es nötig ist, gegen den Terror vorzugehen.
ie wollen die Möglichkeiten einfach nur ausdehnen und
ie staatlichen Befugnisse ins Uferlose wachsen lassen.
Abschließend zitiere ich Peter Schaar, den Bundes-
eauftragten für den Datenschutz.
Ja, deswegen werden Sie dem, was er dazu gesagt hat,
uch zustimmen. – Er sagte: Diese Gesetze atmen den
eist der Überwachungsgesellschaft. – Damit hat er
eine Behörde korrigiert.
Warten Sie einmal ab, Herr Wiefelspütz.
Für mich stellen diese Dateien weniger eine gesell-
chaftliche Frage dar. Der Staat erstellt sie, wir beschlie-
en sie. Deswegen präzisiere ich etwas: Leider atmen
7102 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Wolfgang Wieland
diese beiden Gesetze den Geist des Überwachungsstaa-
tes. Wir lehnen sie ab.
Herr Kollege!
Es wäre möglich gewesen, eine gute und datenschutz-
feste Regelung zu treffen. Die Vorschläge lagen auf dem
Tisch. Was hier heute geboren werden soll, bedeutet
gleich an zwei Stellen einen rechtsstaatlichen Damm-
bruch. Dazu sagen wir: Nein.
Für die Bundesregierung hat nun der Bundesminister
des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, das Wort.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des In-
nern:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
den Sprechern der Opposition unvoreingenommen zu-
hört, dann hat man das Gefühl, dass die eigentliche Be-
drohung in unserem Lande von den Organen der inneren
Sicherheit ausgeht. Ich glaube, das ist eine etwas ver-
zerrte Wahrnehmung.
Ich bin mir auch ganz sicher, dass die Bundesrepublik
Deutschland, die Ordnung unseres Grundgesetzes mit ei-
nem Überwachungsstaat nun wirklich nichts zu tun hat,
sondern dass wir uns im Rahmen, in den Grenzen und
auf der Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen
und rechtsstaatlichen Verfassung bemühen, in einer Zeit
großer Bedrohungen und Gefahren das Menschenmögli-
che an Sicherheit zu gewährleisten.
Um nur die letzten Wochen in Erinnerung zu rufen:
Da sind zunächst die fehlgeschlagenen Sprengstoff-
anschläge auf zwei Regionalzüge Ende Juli in Koblenz
und Hamm. Es waren relativ kleine handwerkliche Feh-
ler, die verhindert haben, dass schlimme Unglücksfälle
passiert sind. Wenige Wochen danach wurde eine
Gruppe von Personen aus drei größeren Städten im
Ruhrgebiet festgenommen, die sich in unmittelbarer
zeitlicher und räumlicher Nähe zu einem Nena-Konzert
so verdächtig verhalten haben, dass ein Anschlag auf das
Konzert angenommen werden musste.
Vor ein paar Wochen hat die Polizei in Osnabrück ei-
nen Iraker festgenommen und seine Wohnung durch-
sucht. Der Beschuldigte hat mutmaßlich vielfach Audio-
und Videobotschaften von Osama Bin Laden, al-Zawa-
hiri und Mussab al-Sarkawi über das Internet verbreitet
und dadurch den Terrorismus von al-Qaida unterstützt.
Vor zwei Wochen haben BKA und die Landespolizei
neun Wohnungen im Rhein-Main-Gebiet durchsucht. Im
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Das ist ein anhängiges Verfahren.
Das alles sind Nachrichten aus den letzten paar Wo-
hen. Sie aber tun so, als gehe die Bedrohung von den
icherheitsbehörden aus. Ich danke den Mitarbeiterin-
en und Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden, dass sie
n schwieriger Zeit das Menschenmögliche leisten, um
nsere Sicherheit zu gewährleisten.
Es ist zwar richtig, dass die Antiterrordatei die ge-
lanten Anschläge auf die Regionalzüge nicht verhindert
ätte.
Das spricht nicht gegen die Datei.
Wir müssen ja auch nicht letzten Anschlagsversuch
erhindern, sondern versuchen, den nächsten zu verhin-
ern.
ie Untersuchungen des amerikanischen Kongresses ha-
en ergeben, dass theoretisch alle notwendigen Informa-
ionen vor dem 11. September 2001 vorhanden gewesen
ären, um die Planungen in Bezug auf das World Trade
enter zu erkennen; sie waren nur nicht miteinander ver-
nüpft. Das ist keine Kritik. Aber man muss für die Zu-
unft daraus lernen. Deswegen haben wir uns nun fünf
ahre bemüht, die notwendigen Informationen, über die
8 verschiedene für die innere Sicherheit verantwortli-
he Behörden und Dienststellen von Bund und Ländern
erfügen, so zu verknüpfen, dass wir effektiv präventive
rbeit leisten können.
Gerade derjenige, der sich für das Trennungsgebot
zw. für unterschiedliche Aufgabenstellungen von Poli-
ei und Nachrichtendienst einsetzt, darf nicht verhin-
ern, dass die Nachrichtendienste die von ihnen be-
chafften Informationen den Polizeibehörden zur
erfügung stellen. Sonst bräuchten wir keine Nachrich-
endienste. Das muss vernünftig geregelt sein.
Ich bin im Übrigen der festen Überzeugung, dass uns
ie föderale Ordnung unseres Grundgesetzes eine opti-
ale Voraussetzung für Schutz, Prävention und vorzüg-
iche Polizeiarbeit bietet.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7103
)
)
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
Wir haben das zuletzt bei der Fußballweltmeisterschaft
erlebt, die nicht so hervorragend verlaufen wäre, wenn
die Polizeien der Länder und des Bundes nicht so erfolg-
reich und effizient zusammengearbeitet hätten. Aus die-
sem Grund muss man die Voraussetzung für eine effi-
ziente und vertrauensvolle Zusammenarbeit schaffen.
Eine solche Voraussetzung ist die Antiterrordatei, in der
die Dienststellen, die Polizeien und Nachrichtendienste
von Bund und Ländern ihre Informationen einstellen –
unter Gewährleistung des notwendigen Datenschutzes,
im Rahmen unserer Verfassung, auf einer einwandfreien
gesetzlichen Grundlage!
Ich bin dankbar, dass wir das geschafft haben, und ich
bin froh, dass wir es im Einvernehmen mit den Ländern
erreicht haben. Nur so ist es möglich; es würde sonst
nicht mehr Sicherheit geben, sondern weniger.
Deswegen möchte ich mich auch beim Bundestag ins-
gesamt und insbesondere bei den Mitgliedern des Innen-
ausschusses und den Kollegen der Koalitionsfraktionen
dafür bedanken, dass es gelungen ist, die Gesetze so
rechtzeitig zu beraten, dass sie rechtzeitig in Kraft treten
können. Das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz
muss in Kraft treten; sonst kommen wir in eine Situa-
tion, die niemand verantworten kann.
Schon im September waren wir uns weitgehend einig,
dass die Antiterrordatei möglichst ab nächstes Jahr funk-
tionsfähig sein soll. Dazu brauchen wir die gesetzliche
Grundlage. Ich habe schon Anfang September mitgeteilt,
dass ich das Bundeskriminalamt beauftragt habe, sich
entsprechend vorzubereiten, sodass, wenn das Gesetz in
Kraft tritt, es funktionsfähig ist, das muss ja auch umge-
setzt werden.
Ich bin auch dankbar dafür, dass wir in den Haus-
haltsberatungen in der vergangenen Woche die notwen-
digen Mittel zur Verfügung gestellt haben. Denn auch
das gehört zu den Voraussetzungen, die wir schaffen
müssen.
Es ist, wie gesagt, richtig, dass es keine hundertpro-
zentige Sicherheit gibt. Wenn es aber keine hundertpro-
zentige Sicherheit gibt, dann ist es umso wichtiger, dass
man bei einer anhaltenden, wahrscheinlich sich eher ver-
schärfenden Bedrohungslage durch den internationalen
Terrorismus das Menschenmögliche unternehmen muss,
um so viel Sicherheit wie möglich zu gewährleisten.
Sie haben vorher mit dem Kollegen Benneter darüber
diskutiert, wo das im Grundgesetz steht. Dass der Staat
die Aufgabe hat, seine Bürgerinnen und Bürger zu schüt-
zen, ist in der abendländischen Geschichte fast ein Stück
weit konstitutiv gewesen.
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Herr Minister Schäuble, es ist doch völlig unstreitig:
er Staat hat selbstverständlich eine Schutzpflicht ge-
enüber den Bürgerinnen und Bürgern. Aber bei den
ethoden, die er anwendet, ist er an die Grundrechte ge-
unden.
7104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Dr. Max Stadler
Deswegen ist sehr wohl über die Details zu diskutie-
ren.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 haben
die Geheimdienste Befugnisse bekommen wie nie zuvor.
Das war in gewissem Umfang sogar notwendig. Aber es
bleibt ein Grundproblem. Geheimdienste versuchen,
schon im Vorfeld Informationen zu gewinnen. Die Poli-
zeiarbeit setzt dagegen bei konkreten Gefahren bzw.
konkreten Verdachtsmomenten an. Geheimdienste erfas-
sen notwendigerweise viele Unschuldige. Deswegen
muss ein Gegengewicht durch eine entsprechende Kon-
trolle der Geheimdienstarbeit gesetzt werden. Meine
Damen und Herren von der Koalition, Sie wollen heute
die Geltungsdauer der Schily-Gesetze, die 2002 sehr ei-
lig durch das Parlament gebracht wurden, verlängern.
Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, endlich eine bessere
Kontrolle der Geheimdienste als Gegengewicht einzu-
führen.
Es ist mir völlig unbegreiflich, warum Sie die Gele-
genheit der heutigen Gesetzgebung nicht nutzen, endlich
auf unsere Vorschläge einzugehen, aus denen hervor-
geht, wie die Arbeit des Parlamentarischen Kontrollgre-
miums besser und effektiver gestaltet werden könnte.
Noch einmal: Wir von der FDP könnten notwendigen
Maßnahmen, die durchzuführen Sie den Geheimdiensten
erlauben wollen, durchaus zustimmen, wenn Sie auf der
anderen Seite bereit wären, die Kontrolle zu verbessern.
Das sind Sie leider nicht.
Es ist schon gesagt worden, dass die Evaluierung, auf
die Sie sich bei der Verlängerung der Schily-Gesetze be-
rufen, nicht zureichend war. Dem stimme ich völlig zu;
denn diese Evaluierung, die die Frage betrifft, wie sich
die Gesetze in der Praxis ausgewirkt haben, ging einzig
und allein vom Blickwinkel der Anwender aus und hatte
überhaupt nicht im Blick, wie sich die neuen Vorschrif-
ten auf die Betroffenen auswirken, zum Beispiel, ob
Menschen in Dateien aufgenommen worden sind, ohne
etwas davon zu wissen, und dann berufliche Nachteile
davon hatten. Das hätte evaluiert werden müssen, wenn
Sie dies zur Grundlage einer Gesetzgebung machen wol-
len. Auch deswegen können wir nicht zustimmen.
Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Die Koalitions-
fraktionen bringen heute einen Entschließungsantrag
ein. Es lohnt sich, ihn wörtlich zu zitieren. Er hat folgen-
den Text: „Die Bundesregierung wird aufgefordert, zeit-
nah einen Gesetzentwurf vorzulegen...“ – jetzt fasse ich
zusammen –, der das Urteil des Bundesverfassungsge-
richts zum großen Lauschangriff berücksichtigt. Meine
Damen und Herren, das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
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ie hatten ein Jahr Zeit, dies in die heutigen Gesetze ein-
uarbeiten. Das haben Sie nicht gemacht. Ihr Entschlie-
ungsantrag zeigt, dass Ihnen diese Lücke bewusst ist.
Sie machen folgende Politik: Heute beschließen Sie
in Gesetz, das verfassungswidrig ist, weil es ein Urteil
us Karlsruhe nicht berücksichtigt; dann sagen Sie: Um
en Grundrechtsschutz kümmern wir uns morgen oder
bermorgen.
Meine Damen und Herren, Sie können nicht erwarten,
ass die Opposition bei einem solchen Verfahren mit-
acht.
Nun erhält auch offiziell der Kollege Dr. Dieter
iefelspütz für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
erren! Es ist heute ein guter Tag für unser Land, es ist
in guter Tag für die innere Sicherheit.
ir haben heute zwei sehr wichtige Gesetze auf der Ta-
esordnung, die die innere Sicherheit unseres Landes
achhaltig verbessern. Ich danke den Kolleginnen und
ollegen von den Koalitionsfraktionen, dass es uns ge-
ungen ist, heute zeitnah eine Punktlandung vorzuneh-
en. Zwei wichtige Gesetze werden zum 1. Januar des
ommenden Jahres in Kraft treten können.
Wir würden heute Morgen eine ganz andere Debatte
ühren, wenn die Bomben von Köln und anderswo ex-
lodiert wären. Wir haben hier in Deutschland keine
ysterikerdebatte, was innere Sicherheit angeht, aber
ir sind auch nicht naiv. Terrorismus ist keine Sache, die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7105
)
)
Dr. Dieter Wiefelspütz
nur jenseits unserer Grenzen stattfindet und bekämpft
werden muss. Terrorismus ist eine akute Gefahr in un-
serem Land, für Männer, Frauen und Kinder. Das ist kein
Irrsinnsszenario, sondern eine ganz konkrete Realität.
Ich will niemandem Angst einjagen, aber wer kann in
dieser Sekunde, in der wir zusammen beraten, eigentlich
ausschließen, dass in diesem Volk von 82 Millionen
Menschen an der einen oder anderen Stelle Menschen
beisammensitzen, die planen, Unschuldige in die Luft zu
sprengen?
– Niemand kann das ausschließen, das ist richtig. – Des-
wegen haben wir die verdammte Pflicht, das Menschen-
mögliche zu tun, um die Sicherheit unseres Landes und
unserer Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Das ist
doch eine selbstverständliche Pflicht.
Ich verstehe gar nicht, wieso man überhaupt ernsthaft
daran zweifeln kann. Wofür haben wir den Rechtsstaat,
wenn es nicht seine vornehmste Pflicht wäre, das Men-
schenmögliche zu tun, damit seine Bürgerinnen und
Bürger in Frieden, Freiheit und Sicherheit leben können?
Das ist eine elementare staatliche Pflicht.
Terrorismus wird in Deutschland im Rahmen des
Rechtsstaates bekämpft. Ich kann mich nicht entsinnen,
dass wir in den letzten Jahren im Bereich der Terroris-
musbekämpfung auch nur ansatzweise an die rote Linie
– sie existiert in einem qualifizierten Rechtsstaat in die-
sem Bereich immer – herangekommen wären.
Man kann die rote Linie plakativ mit folgende Maßnah-
men benennen: Angriffskrieg, Irakkrieg, Guantanamo,
Folter, Rendition, das Verschwindenlassen von Men-
schen. Das ist die rote Linie, die der bundesdeutsche
Rechtsstaat nie auch nur ansatzweise berührt hat. Das
wird auch in Zukunft so bleiben.
Es gibt niemanden, der bei uns in Deutschland ernsthaft
Mittel und Methoden wählt, durch die der Rechtsstaat im
Kampf gegen Terrorismus beschädigt und deformiert
wird.
Wenn wir das täten, würden wir unsere eigenen Grundla-
gen deformieren.
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Soeben ist ein früherer Innenminister erwähnt wor-
en. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, das segensrei-
he Wirken des Kollegen Ströbele in den vergangenen
egislaturperioden zu erwähnen.
ir haben heute Gesetze zu verabschieden, die auf dem
ufbauen, was in früheren Jahren verabschiedet worden
st.
Herr Kollege Wiefelspütz, der Kollege Ströbele
öchte sich mit einer Zwischenfrage persönlich an der
ürdigung seiner Arbeit beteiligen.
Diese Gelegenheit sollten wir ihm geben.
Bitte schön, Herr Kollege Ströbele.
Herr Wiefelspütz, Sie reden die ganze Zeit über die
ekämpfung des internationalen Terrorismus. Sie sagen,
as sei der Grund für dieses Gesetzeswerk. Können Sie
ir sagen, was die gesetzlichen Vorschriften, die Sie
etzt einführen möchten, mit Terrorismus und Terroris-
usbekämpfung zu tun haben? Entgegen alldem, was
nter Rot-Grün gemacht worden ist, findet hier ein Ge-
etz, das angeblich im Zeichen des Kampfes gegen den
errorismus geschaffen wurde, Anwendung bei rechts-
nd linksradikalen Bestrebungen. Geben Sie mir Recht,
enn ich sage: Das ist ein Missbrauch der Bedrohungs-
age in der Welt für ganz andere Zwecke?
Herr Ströbele, wenn es so wäre, wäre ich auf Ihrer
eite. Wir haben in einem sehr frühen Stadium, schon
ei Einbringung der Gesetze, in der Koalition sehr inten-
iv darüber gesprochen. Es gab eine ganz klare Maß-
abe: Wir machen Terrorismusbekämpfungsgesetze und
ichts anderes. Bei allen Abgrenzungsschwierigkeiten
ibt es einen großen Unterschied zwischen Extremismus
nd Terrorismus.
7106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Dr. Dieter Wiefelspütz
Ich sage es mit meinen Worten: Das Spezifische für Ter-
rorismus ist die Bereitschaft, der konkrete Wille zur Ge-
waltanwendung. Diese Bereitschaft ist beim Extremis-
mus nicht notwendigerweise vorhanden. Deswegen
haben wir diesbezüglich eine klare Trennung vorgenom-
men, mit einer einzigen Ausnahme – ich sage es summa-
risch –: Wir schaffen mit diesem Gesetz die Möglichkeit,
mit nachrichtendienstlichen Mitteln gegen einen Hass-
prediger vorzugehen, der in der Tat zur Gewaltanwen-
dung aufruft oder dessen Agitation dazu führen kann,
dass Menschen Gewalt anwenden.
Wir legen großen Wert darauf, dass es sich bei unse-
ren Gesetzen nicht um Extremismusbekämpfung – den
bekämpft man auf andere Weise – handelt, sondern um
Terrorismusbekämpfung. Schauen Sie sich die Gesetze
bitte genau an! Wenn Sie Fragen haben, dann kommen
Sie zu mir: Ich erläutere sie Ihnen.
Ich wiederhole: Es handelt sich ausschließlich um Ge-
setze zur Terrorismusbekämpfung und um nichts ande-
res.
Herr Kollege Wiefelspütz, Ihr Vorschlag, die Diskus-
sion privat fortzusetzen, ist deswegen besonders liebens-
würdig, weil er uns hilft, die vereinbarten Redezeiten
einzuhalten. Gleichwohl hat sich Frau Kollegin Piltz zu
einer Zwischenfrage gemeldet, die Sie vermutlich eben-
falls zulassen möchten.
Selbstverständlich, aus Respekt vor der Kollegin.
Möchte noch jemand eine Zwischenfrage stellen?
Herr Wiefelspütz, ich glaube nicht, dass Sie die Rolle
des Präsidenten einnehmen sollten.
– Wenn Sie das möchten, dann müssen Sie das in der
SPD-Fraktion demnächst anders als bisher regeln.
Sie haben auf die Frage des Kollegen eben geantwor-
tet, dass das, was Sie hier vorlegen, einzig und allein der
Terrorismusbekämpfung dient. Wenn es so wäre, dann
wäre es schön. Ich frage mich, wie Sie das mit § 6
– „Weitere Verwendung der Daten“ – des Gemein-
same-Dateien-Gesetzes vereinbaren. Dort steht, dass
diese Daten weitergegeben werden können, wenn „dies
zur Verfolgung einer besonders schweren Straftat oder
zur Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben, Gesundheit
oder Freiheit einer Person geboten ist …“
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Frau Piltz, schönen Dank für die Frage. Es ist völlig
indeutig. Ich will die Gelegenheit ergreifen, um auf et-
as sehr Grundsätzliches einzugehen – Herr Benneter
at das schon einmal kurz angedeutet –: Was das Ge-
einsame-Dateien-Gesetz angeht, war, ist und bleibt
anz wichtig, dass wir keine neuen Übermittlungsregeln
chaffen. Diese Datei ist nur eine Datei; das ist nur eine
Computergeschichte“. Die materiellen Regelungen für
olizei und Geheimdienste, wie sie Informationen zuläs-
igerweise übermitteln dürfen, werden durch das Ge-
einsame-Dateien-Gesetz um keinen Millimeter verän-
ert. Schauen Sie sich dieses Gesetz und insbesondere
eine Begründung an! Das war uns ganz wichtig.
Wenn man etwas hätte ändern wollen, beispielsweise
n Bezug auf das Ausland, dann hätte man diese Rege-
ungen ausdrücklich ändern müssen. Genau das haben
ir nicht getan. Folgendes ist ganz wichtig: Es dürfen
usschließlich bei den Sicherheitsbehörden vorhandene,
egal gespeicherte Daten über die Antiterrordatei ver-
etzt weitergegeben werden. Das darf aber nur dann ge-
chehen, wenn das materielle Recht dies zulässt. Wir ha-
en daran nichts geändert. Haben Sie das verstanden,
err Ströbele?
Herr Ströbele wackelte so mit dem Kopf, Frau Piltz;
eswegen habe ich ihn direkt angesprochen.
Aber das wollen Sie doch in einem privaten Gespräch
ertiefen.
Schon zu Beginn der Beratungen war mir sehr wich-
ig, dass das völlig klar gestellt wird: Wir schaffen keine
euen Übermittlungsvorschriften, die das materielle
echt an dieser Stelle verändern.
Kurz und gut, die Gesetze, die wir heute verabschie-
en, haben Maß und Mitte. Sie bauen auf früheren Ge-
etzen auf. Das Terrorismusbekämpfungsergänzungsge-
etz baut auf einem Gesetz auf, an dem im Jahre 2002
ollegen wie Herr Ströbele mitgewirkt haben. Wir er-
änzen es, indem wir einige unwesentliche Lücken
chließen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7107
)
)
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dieses Gesetz wird für weitere fünf Jahre in Kraft ge-
setzt.
Ich möchte noch einige Worte zum Gemeinsame-Da-
teien-Gesetz verlieren. Herr Minister, mich stört eher,
dass wir diese Datei nicht schon seit zwei oder drei Jah-
ren haben. Nun will ich das hier nicht besserwisserisch
kommentieren oder kritisieren. Ich bin froh, dass wir
dieses Gesetz heute verabschieden können. Ich lege Wert
darauf, hier auf Folgendes hinzuweisen: Diese Anti-
terrordatei ist gelebter funktionierender Sicherheitsfö-
deralismus. Sie funktioniert nur in konkretem vertrau-
ensvollem Zusammenwirken aller Sicherheitsbehörden
auf der Bundes- und der Länderebene.
Wir versprechen uns davon eine erhebliche Verbesse-
rung der informationellen Zusammenarbeit, aber nicht in
dem Sinne, dass neues Recht geschaffen wird, sondern
in dem Sinne, dass eine neue Praxis eingeführt wird, so-
dass es keine Informationspannen gibt, dass man in Bay-
ern das weiß, was man auch in Schleswig-Holstein in
den Akten hat, und man in Berlin die Informationen hat,
die auch im Saarland verfügbar sind. Das ist in der Zu-
kunft eine große Hilfe.
Wir haben es mit zwei Gesetzen zu tun, die mit sehr
viel Augenmaß erarbeitet worden sind, wobei rechts-
staatliche Kriterien eine ganz große Rolle gespielt ha-
ben. Deswegen waren die Beratungen auch außerordent-
lich intensiv. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir
mit diesen Gesetzen keine verfassungsrechtlichen Pro-
bleme haben werden; ganz im Gegenteil: Es sind eher
zusätzliche Sicherungen eingebaut worden, von denen
ich hoffe, dass sie in Zukunft auch in anderen Gesetzen
Standard werden. Wir befristen und evaluieren die Ge-
setze. Wir sehen im Bereich von Bürgerrechten Doku-
mentationspflichten vor. Ich will an dieser Stelle dem
Bundesdatenschutzbeauftragten Schaar noch einmal aus-
drücklich danken – wir haben ihn im Vorfeld der Bera-
tungen intensiv beteiligt –, auf dessen Anregung das eine
oder andere ins Gesetz aufgenommen worden ist. Kurz
und gut: Die Sache ist, wie ich finde, rund und wichtig.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Gedanken
ansprechen, die auch hier in der Debatte schon eine
Rolle gespielt haben.
Erstens. Der Gesetzgeber hat bis heute eine außeror-
dentlich wichtige Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts nicht berücksichtigt, Herr Dr. Stadler.
Sie haben die Lücke nicht selbst erkannt, sondern wir
sind – ich sage das durchaus selbstkritisch – in der An-
hörung von einigen Sachverständigen darauf aufmerk-
sam gemacht worden. Ich muss Ihnen sagen, dass ich
von mir selbst als Parlamentarier enttäuscht bin, dass uns
das nicht schon früher aufgefallen ist.
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ei unseren Debatten hat dann die Wand gewackelt. Wir
aben gesehen: Dieses Urteil ist nun schon gut zwei
ahre alt. Wir haben im Bereich der Strafprozessordnung
eränderungen vorgenommen, aber in anderen Berei-
hen noch nicht. Dieses Parlament und diese Bundes-
egierung, Herr Schäuble, haben allen Grund, das sehr
ald nachzuholen.
Ich will Sie aber auf Folgendes hinweisen, Herr
tadler: Die Entscheidung des Bundesverfassungsge-
ichts gilt natürlich. Unsere Verfassungsschutzbehörden
alten sich selbstverständlich – das ist völlig klar und
nzweifelhaft – an diese Entscheidung. Wir werden sehr
ald Gelegenheit haben, zu den spezifischen Fachberei-
hen, auch zu denen, über die wir heute reden, entspre-
hende Vorlagen zu erarbeiten. Das ist dringend nötig.
Zweitens. Die Nachrichtendienste gehören nicht an
en Rand unserer Debatte. Sie gehören in das Zentrum
es Rechtsstaats und sie sind Teil der wehrhaften Demo-
ratie. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir auch
ier im Parlament eher zu wenig über Nachrichten-
ienste reden. Ich denke, dass wir aus Gründen der Ta-
esaktualität und deshalb, weil wir mit Tagesarbeit zuge-
chüttet sind, nicht immer über den Tellerrand
inausschauen. Wir sollten das nächste Jahr nutzen, um
nabhängig von tagesaktuellen Gesetzesvorhaben zu de-
attieren: über den Stellenwert von Geheimdiensten im
eutschen Rechtsstaat, über die Frage der Notwendigkeit
on Diensten,
ber insbesondere auch über Fragen von Bürgerrechten,
ontrollen und Kontrollmechanismen im Parlament.
Die Gesetze in diesem Bereich haben sich in vielen
chichten über Jahre entwickelt. Ich bin ganz sicher,
ass es mancherlei Widersprüchlichkeiten und vielleicht
uch Systemwidrigkeiten gibt. Es lohnt sich, das einmal
uf Sinnhaftigkeit zu überprüfen. Das wollen wir vonsei-
en der SPD-Bundestagsfraktion uns vornehmen und
offen auf gute Gespräche mit den Kollegen und Kolle-
innen der Koalition, aber auch mit den anderen Fraktio-
en im Parlament, denen das ein Anliegen ist.
Ich denke, dass wir heute dem Deutschen Bundestag
ute, vernünftige Gesetze, die strikt rechtsstaatlich sind,
ur Beschlussfassung vorlegen. Das Grundgesetz wird
ingehalten, mehr als eingehalten. Die Gesetze tragen
azu bei, dass es für unsere Bürger noch ein Stück weit
icherer wird. Sie tragen auch dazu bei, dass die gute Si-
herheitsarbeit in Deutschland noch ein bisschen besser
ird.
Wir dürfen uns vor den Herausforderungen angesichts
er Gefahren des internationalen Terrorismus nicht zu-
ücklehnen. Diese Koalition nimmt ihre Verantwortung
m Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger wahr.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
7108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Das Wort hat nun der Abgeordnete Gert Winkelmeier.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Eine Auszeichnung haben die Innenminister des Bundes
und der Länder für den Gesetzentwurf zur zentralen
Anti-Terror-Datei ja bereits erhalten, den „Big Brother
Award 2006“. Die beiden Hauptgründe für diese eher
zweifelhafte Würdigung sind von Verfassungsrechtlern
wie auch von Datenschützern immer wieder benannt
worden. Das ist zum einen das Trennungsgebot für Poli-
zei und Geheimdienste, das in den vergangenen Jahren
bereits aufgeweicht worden ist. Dieses Trennungsgebot
hat historische Wurzeln. Eine unkontrollierte Machtkon-
zentration der Sicherheitsapparate und eine neue politi-
sche Geheimpolizei sollten verhindert werden.
Jetzt hat die Bundesregierung ein Gesetz auf den Weg
gebracht, mit dem im Eilfall sogar per Knopfdruck das
von Westalliierten aus gutem Grund festgeschriebene
Trennungsgebot ausgehebelt werden kann. Ich sage Ih-
nen schon heute voraus, dass dieses Gesetz, sollte sich
ein Kläger finden, vor dem Bundesverfassungsgericht
keinen Bestand haben wird. Dem Gesetz zur zentralen
Anti-Terror-Datei wird es genauso ergehen wie dem Ge-
setz zum großen Lauschangriff und dem Luftsicherheits-
gesetz. Es wird von den Bundesrichtern kassiert werden.
Der zweite schwerwiegende Grund, diesen Gesetzent-
wurf abzulehnen, ist der, dass auch die persönlichen Da-
ten von so genannten Kontaktpersonen erfasst werden.
Es reicht nicht aus, ins Gesetz zu schreiben: „flüchtige
und zufällige Kontakte werden nicht erfasst“, denn letzt-
endlich ist die Definition, was flüchtig und zufällig ist,
Ermessenssache der Behörden und ist im Gesetz nicht
klar geregelt. Da gerät zum Beispiel ein Kioskbesitzer
ins Visier der Terrorfahnder, nur weil sich ein Verdächti-
ger jeden Morgen die Zeitung bei ihm holt. Oder: Ein
Vermieter wird in die Antiterrordatei eingespeist, weil
ein mutmaßlicher Terrorist in einer seiner Wohnungen
lebt. Hier wird eine Kontaktkriminalisierung aufgebaut,
die keine Grenzen mehr kennt. Ein wirksamer gesetzli-
cher Datenschutz findet nicht statt.
Die Sammelwut der Bundesregierung und der Nach-
richtendienste kennt keine Grenzen. Es gibt schon jetzt
160 Dateien, die dem Kampf gegen den Terrorismus
bzw. der Kriminalität gewidmet sind. Dort sind
60 Millionen Datensätze über Personen oder Personen-
gruppen gespeichert: 60 Millionen Datensätze in einem
Land, in dem 80 Millionen Menschen leben. Das zeigt
die Überwachungshysterie in unserem Lande, die unter
dem Deckmäntelchen der Terrorismusbekämpfung be-
gründet wird.
Es ist sehr einfach, zufällig und unwissentlich in eine
solche Datei zu geraten. Umso schwieriger dürfte es je-
doch sein, aus dieser sinnlos aufgeblähten Datei wieder
gestrichen zu werden. Zwar ist das im Gesetz geregelt,
aber es ist auch vor allem eine Ermessenssache der agie-
renden Behörden.
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Es ist umso unverständlicher, dass Sie nun, wo Sie
eine Bürgerrechtsdebatte führen wollen, den Antrag der
FDP, die Vorschrift aus Art. 4 Abs. 4 Europol-Gesetz zu
übernehmen, nicht angenommen haben. In dieser Vor-
schrift wird doch die rote Linie markiert, die Sie richti-
gerweise hier auch erwähnt haben, nämlich dass Daten,
die unter Folter gewonnen wurden, nicht verwendet wer-
den dürfen.
All das ist der Hintergrund dafür, dass mich Ihr Ge-
ständnis etwas erschüttert hat, lieber Herr Wiefelspütz.
Zur Erwiderung, Herr Kollege Wiefelspütz.
Erschütterung hin oder her, Frau Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger, ich bin dafür, dass man
Dinge, die uns im Rahmen der Gesetzgebungsberatun-
gen aufgefallen sind, ehrlich anspricht.
Wir diskutieren seit vielen Jahren im Innenausschuss
über Terrorismusbekämpfung, wie Sie ja wahrschein-
lich auch im Rechtsausschuss. Ich kenne – ich spreche
jetzt nur von mir – keinen einzigen Beitrag, wo das von
mir eben Gesagte angesprochen worden wäre. Ich stelle
einfach fest: Wir haben uns viel zu viel Zeit genommen.
Während das besagte Urteil Eingang in die Strafprozess-
ordnung gefunden hat, haben wir es in unserem Bereich
noch nicht umgesetzt. Es gilt allerdings und – das ist völ-
lig klar – die Behörden halten sich daran. Ich lege des-
halb großen Wert darauf, dass wir nun so rasch wie mög-
lich zur Tat schreiten. Darauf hinzuweisen, ist ein Gebot
der Ehrlichkeit.
Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn wir das unter-
schlagen hätten, Frau Leutheusser-Schnarrenberger?
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Da gerade dieser Disput sicher nicht nur für die Kol-
eginnen und Kollegen, sondern auch für die anwesen-
en Zuschauer sehr informativ war, habe ich das in ei-
em Zeitrahmen zugelassen, der, woran ich erinnern
öchte, über die Regelungen hinausgeht, die wir in der
7110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Präsident Dr. Norbert Lammert
Geschäftsordnung für Kurzinterventionen und Erwide-
rungen vorgesehen haben.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt er-
hält der Kollege Clemens Binninger für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Lange haben wir in Deutschland ge-
glaubt, wir seien nur Rückzugs- oder Ruheraum für Ter-
roristen. Seit den gescheiterten Kofferbombenanschlä-
gen und den entdeckten Planungen für den Anschlag auf
dem Frankfurter Flughafen wissen wir, dass Deutschland
auch Zielgebiet für den Terrorismus ist. Die Bedrohung
ist unmittelbar und real. Wir müssen dagegen etwas un-
ternehmen. Die große Koalition unternimmt mit dem
Sicherheitspaket, das wir heute verabschieden, etwas
und gibt die richtige Antwort. Deshalb ist das ein guter
Tag für die Sicherheit in unserem Lande.
Wir sind der Bedrohung nicht hilflos ausgeliefert.
Terroristen und ihre Helfer müssen sich im öffentlichen
Raum bewegen, sie müssen telefonieren, sie kommuni-
zieren im Internet, sie tätigen finanzielle Transaktionen;
sie hinterlassen also Spuren. Deshalb ist es umso wichti-
ger, dass unsere Nachrichtendienste Instrumente und
Befugnisse – und zwar alle Nachrichtendienste die glei-
chen – erhalten, mit denen sie genau diese Spuren auf-
spüren können.
Deshalb werden wir heute im Terrorismusbekämp-
fungsergänzungsgesetz den Nachrichtendiensten Befug-
nisse geben, dass sie bei Post, Bank, Luftfahrtunternehmen
und Telekommunikationsunternehmen Auskunftsrechte
bekommen. Sie können zukünftig online Halterfeststel-
lungen vornehmen und der Zoll kann Geld nicht nur bei
Geldwäscheverdacht, sondern auch bei Terrorismusver-
dacht sicherstellen.
Wir werden den Personenkreis, auf den diese Instru-
mente angewandt werden können, auf eine Tätergruppe
erweitern, die man die dritte Generation nennt. Es sind
Täter, wie wir sie in Madrid und London hatten, der so
genannte Homegrown Terrorism. Das ist eine notwen-
dige Änderung, mit der wir der Bedrohungslage die rich-
tige Antwort entgegensetzen. Deshalb sind diese Ge-
setze so wichtig und notwendig und deshalb ist es gut,
dass wir sie heute beschließen.
Wir schließen aber auch – daran will ich erinnern –
eine Sicherheitslücke, die uns die Grünen beim Luft-
sicherheitsgesetz eingebrockt haben. Sie haben damals
ihrem Koalitionspartner eine maßvolle Verfassungs-
änderung verweigert und mussten dann aus dem Luft-
sicherheitsgesetz so viel streichen und es so zu-
rechtmurksen, muss man sagen, dass es nicht mehr
zustimmungspflichtig war.
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ir schließen diese Lücke und tragen damit wieder in
inem sehr hohen Maß zur Sicherheit an deutschen Flug-
äfen bei.
Sie haben diese Lücke ganz allein verursacht und müs-
en aushalten, dass man Ihnen das heute vorhält. Sie ha-
en aus rein ideologischen Motiven gehandelt und haben
ie Sicherheit an deutschen Flughäfen diesen Motiven
um Teil geopfert. Es ist gut, dass wir diese Lücke heute
chließen.
Wir geben unseren Nachrichtendiensten, aber auch
er Polizei Instrumente an die Hand, um Informationen
u gewinnen. Die Sicherheitsbehörden brauchen aber
uch ein Instrument, mit dem sie diese Informationen
usammenführen können. Es gibt eine föderale Sicher-
eitsarchitektur: 38 Sicherheitsbehörden befassen sich
it dem Terrorismus. Wir brauchen deshalb, wie gesagt,
in Instrument, mit dem die Informationen über den Ter-
orismus zielgenau, sehr schnell und präzise zusammen-
eführt werden können: die Antiterrordatei. Ich bin
berzeugt, dass diese Datei ein Quantensprung sein
ird, was die Verbesserung der Zusammenarbeit zwi-
chen Polizei und Nachrichtendiensten angeht.
Ich will das an einem konkreten Beispiel aus der
achverständigenanhörung deutlich machen. BKA-Prä-
ident Ziercke hat auf meine Frage, wie lange eine Ant-
ort auf eine LKA-Anfrage dauert, ob irgendein Nach-
ichtendienst in Deutschland irgendwelche Erkenntnisse
ber eine terrorverdächtige Person hat, geantwortet: Das
ann schon einmal Tage, vielleicht sogar Wochen dau-
rn. – Tage oder Wochen! Wir reden hier aber über Ter-
orismusbekämpfung. Mit der Antiterrordatei wird es
eine Tage oder Wochen, sondern nur noch wenige Se-
unden dauern, bis ein LKA weiß, ob Erkenntnisse vor-
iegen. Das ist nicht nur ein großer Gewinn für die Si-
herheit der Menschen in diesem Lande, sondern auch
in großer Gewinn für die Zusammenarbeit der
8 Sicherheitsbehörden. Diese Zusammenarbeit ist un-
erzichtbar. Deshalb ist es richtig, dass wir heute die An-
iterrordatei beschließen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7111
)
)
Clemens Binninger
Die Antiterrordatei ist quasi das elektronisch gebün-
delte Wissen von 38 – so könnte man sagen – Spe-
zialeinheiten. Sie ist keine neue Datenerhebung, sondern
die praxisgerechte Verwendung bereits erhobener Daten.
Sie bedeutet keine Missachtung des Trennungsgebotes,
sondern eine sinnvolle Zusammenführung von Wissen,
das bei den Nachrichtendiensten und bei der Polizei vor-
liegt. Die Antiterrordatei verhindert eine tagelange oder
wochenlange Warteschleife. Sie gibt dringend benötigte
Antworten und wichtige Informationen in Sekunden-
schnelle.
Ich will auf einen Kritikpunkt, der vorhin genannt
wurde, eingehen. Auf den Vorwurf der FDP, wir würden
mit dieser Antiterrordatei die internationale Zusammen-
arbeit zwischen Sicherheitsbehörden gefährden, muss
ich sagen: Ganz im Gegenteil! Wenn jemand in den letz-
ten Wochen und Monaten die Arbeit unserer Sicherheits-
behörden sehr gefährdet hat, indem er ihre Arbeit in der
Öffentlichkeit sezieren wollte, dann waren es Sie im
BND-Untersuchungsausschuss. Das müssen Sie sich
vorhalten lassen.
Um die Empörung etwas abzukürzen, will ich sagen:
Ich bin sehr dafür, dass Missstände aufgeklärt werden
und dass man Fehlern nachgeht. Aber Sie müssen schon
zugeben, dass nach der mehrmonatigen Arbeit des Aus-
schusses nichts Wesentliches herausgekommen ist. Sie
stören sich auch an der Tatsache, dass der Ausschuss
häufig geheim tagt. Er tut dies aus guten Gründen; denn
die Information über die Arbeit der Sicherheitsbehörden
und der Nachrichtendienste muss geheim sein, ansonsten
wären es keine Nachrichtendienste mehr. Ihre Kritik, wir
würden die internationale Zusammenarbeit gefährden,
ist daher fehl am Platze.
Die große Koalition schafft etwas, an dem sich Rot-
Grün, aber auch andere Innenpolitiker in den letzten fünf
Jahren vergeblich versucht haben: Wir werden heute
eine Antiterrordatei beschließen. Deshalb ist der heutige
Tag nicht nur ein guter Tag für die Sicherheit in unserem
Land; er ist auch ein besonderer Tag für die Innenpoliti-
ker – für Bundesinnenminister Schäuble, für die Landes-
innenminister und vor allen Dingen für die Innenpoliti-
ker der großen Koalition –, die dieses Gesetz erarbeitet
haben.
Herzlichen Dank.
Nun erhält für eine letzte Kurzintervention der Kol-
lege Ströbele das Wort.
Herr Kollege, Sie haben versucht, den Grünen etwas
zuzuschieben, was den Grünen nicht zugeschoben wer-
den darf.
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em die Grünen bekanntlich nicht vorstanden.
Zweitens. Der Grund für diese Änderungen war nicht,
ass die Grünen oder die Koalition das so wollten; wir
ätten diese Änderungen gerne unterlassen. Der Grund
ar, dass die Länder, vor allem die von der Union domi-
ierten Länderregierungen, klar erklärt haben, dass sie
ie vorgesehene Evaluierung und Mitteilungspflicht
icht unterstützen. Das heißt, wir haben, damit das Ge-
etz nicht insgesamt infrage gestellt wurde, lediglich
arauf Rücksicht genommen, was die Länder damals ge-
ordert haben. Wenn irgendwo eine Schuld bestand,
ann lag diese bei den von der Union dominierten Län-
ern.
Drittens. Auch nach Wegfall der Bestimmungen, die
rsprünglich im Gesetzentwurf vorgesehen waren, war
s keineswegs so, dass die Länderverfassungsschutz-
mter oder andere Länderbehörden daran gehindert wur-
en, den Bundesbehörden ihre Informationen über die
icherheit an Flughäfen mitzuteilen und sie zu evaluie-
en. Sie sind nach den Ländergesetzen auch ohne dieses
esetz dazu verpflichtet, alle Informationen, die etwas
ber eine Gefährdung der Sicherheitslage bzw. eine Ge-
ahr für die Bevölkerung aussagen, weiterzugeben.
Viertens. Sie verschweigen, dass das Beispiel, das Sie
mmer wieder nennen, der Vorfall auf dem Frankfurter
lughafen, nicht realistisch ist. Denn es lag Gott sei
ank keine konkrete Gefährdung vor. Das ergibt sich
chon daraus, dass von den zunächst Festgenommenen
lle bis auf einen inzwischen aus der Haft entlassen wor-
en sind. Der eine ist nicht etwa wegen dieses Vorwurfs
n Haft geblieben, sondern deswegen, weil er eine alte
trafe wegen einer ganz anderen Angelegenheit zu ver-
üßen hat.
Das heißt, aus vier Gründen ist das, was Sie gesagt
aben, völlig daneben gewesen.
Möchten Sie noch erwidern? – Bitte schön, Herr Kol-
ege Binninger.
Herr Präsident, vielen Dank, dass Sie mir diese Gele-
enheit geben.
7112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Clemens Binninger
Herr Kollege Ströbele, ich will festhalten, dass Sie
mit an der Regierung waren. – Das ist Fakt eins.
Fakt zwei. Sie haben das Gesetz hier beschlossen und
tragen insofern auch die Verantwortung. Zwischen der
ersten und der zweiten bzw. dritten Lesung wurden in
dem Entwurf eines Luftsicherheitsgesetzes Streichungen
vorgenommen, die hinterher zu einer Sicherheitslücke
geführt haben. Sie haben mit zugestimmt. Sie haben die-
ses Gesetz im Parlament verteidigt. Daher tragen Sie die
Verantwortung.
Fakt drei. Sie erzeugen immer den Eindruck, als ob
verhinderte Anschläge nur eine Lappalie seien; Sie ha-
ben das gerade wieder versucht. Dazu muss ich an die
Adresse der Grünen, falls Sie das immer noch nicht be-
griffen haben, sagen: Die Menschen in diesem Land
haben keine Angst vor Datenbanken der Sicherheitsbe-
hörden; sie haben keine Angst vor Videokameras der Si-
cherheitsbehörden. Sie haben vielmehr Angst vor An-
schlägen. Wir tun etwas, um Anschläge zu verhindern,
und Sie nicht.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehör-
den und Nachrichtendiensten des Bundes und der Län-
der. Hierbei handelt es sich um die Drucksachen 16/2950
und 16/3292. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3642,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in die-
ser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? –
Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koali-
tion gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit ist
der Gesetzentwurf mit den gleichen Mehrheiten, mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-
tion, angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Innenausschuss erstens, den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung auf Drucksache 16/2921 zur Ergänzung
des Terrorismusbekämpfungsgesetzes in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Dann ist auch dies mit gleichen Mehrheiten in
zweiter Beratung so beschlossen.
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Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU, der Abgeordneten Christel Riemann-
Hanewinckel, Dr. Wolfgang Wodarg, Dr. Sascha
Raabe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD, der Abgeordneten Dr. Karl Addicks,
Christian Ahrendt, Daniel Bahr , weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie
der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe,
Renate Künast, Fritz Kuhn und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Welt-Aids-Tag 1. Dezember 2006 – Die beson-
dere Verantwortung für Entwicklungsländer
unterstreichen
– Drucksache 16/3610 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens
Spahn, Annette Widmann-Mauz, Peter Albach,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Peter
Friedrich, Elke Ferner, Dr. Carola Reimann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Maßnahmen zur Bekämpfung von HIV/Aids
in Deutschland
– Drucksache 16/3615 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Addicks, Hellmut Königshaus, Detlef Parr, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Missfallen an der südafrikanischen Aids-Poli-
tik betonen und weitere deutsche Entwick-
lungszusammenarbeit an Bedingungen knüp-
fen
– Drucksache 16/3097 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
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Beck , Birgitt Bender, Irmingard Schewe-
Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsam gegen Aids – Verantwortung und
Solidarität stärken
– Drucksache 16/3616 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl
Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Werner
Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Den Südsudan beim Wiederaufbau unterstüt-
zen und vor AIDS bewahren
– Drucksachen 16/586, 16/2364 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer
Gabriele Groneberg
Dr. Karl Addicks
Hüseyin-Kenan Aydin
Ute Koczy
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
ussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
iderspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vorab möchte ich eine kleine Regieanweisung geben:
it Blick auf das vereinbarte Ende der heutigen Plenar-
ebatte bitte ich darum, von nicht dringend erforderli-
hen Zwischenfragen und Kurzinterventionen abzuse-
en, weil die vereinbarte Gesamtdebattenzeit sonst
chwer einzuhalten ist.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
er Kollege Dr. Wolfgang Wodarg für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
aben auf dieser Welt seit 25 Jahren ein neues Problem.
eute denken wir daran besonders; denn heute ist Welt-
idstag. Vor 25 Jahren begann alles sehr langsam und
einer konnte so richtig ahnen, dass die Aidserkrankung,
ie HIV-Infektion und ihre Folgen, heute eine der
7114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Dr. Wolfgang Wodarg
häufigsten Todesursachen auf einigen Kontinenten unse-
res Globusses ist. In Afrika sterben die meisten 15- bis
50-Jährigen an Aids. Wir haben in der Zwischenzeit viel
darüber diskutiert. Wir haben viel unternommen. Es gibt
weltweit viele Anstrengungen, dieser Seuche Herr zu
werden.
Aber Aids hat viele Gesichter. Dem müssen wir Rech-
nung tragen. Die Koalition hat deshalb zwei Anträge zu
Aids eingereicht. Wir haben uns darüber unterhalten, ob
das denn der richtige Weg ist, ob wir uns nicht auf einen
einzigen Antrag einigen können. Wir haben dann be-
schlossen: Nein, das entspricht dem Problem. Aids hat
eben zwei Gesichter. Diese sind unterschiedlich, zum
Beispiel in Deutschland und in Afrika.
Während sich in Deutschland überwiegend Männer
infizieren – sie werden zum Glück bei uns behandelt,
trotzdem sterben noch viele; 600 waren es im letzten
Jahr –, so sind es in Afrika überwiegend Frauen, die Op-
fer von HIV/Aids werden und leider viel zu selten be-
handelt werden können. Sie sterben in großer Zahl. Täg-
lich sind es weltweit 8 000 Menschen, die durch Aids
den Tod finden, die allermeisten in Afrika. Eine Trend-
wende ist hier nicht zu erkennen. Während in Deutsch-
land Aids überwiegend ein männliches Gesicht hat und
mit Sexindustrie und Lifestyleelementen verknüpft ist,
während in Deutschland jeder, der Behandlung benötigt,
behandelt wird, so geht Aids in Afrika mit Armut, Ah-
nungslosigkeit, Gewalt gegen Frauen, Hilflosigkeit und
fehlendem Zugang zu Therapie einher. Sie bestimmen
dort das Gesicht dieser Seuche.
Deshalb muss auch das, was wir dagegen unterneh-
men wollen, in Deutschland und in Afrika verschieden
sein. Wir müssen völlig unterschiedliche Strategien ent-
wickeln. Das spiegelt sich eben in den beiden vorliegen-
den Anträgen wider. In Deutschland sahen wir bisher
über viele Jahre eine etwa gleich hohe Infektionsrate. Je-
des Jahr infizierten sich etwa 2 000 Menschen. Im letz-
ten Jahr und auch im ersten Halbjahr dieses Jahres waren
es etwa 13 Prozent mehr. Das heißt, es gibt erstmals wie-
der eine Zunahme der HIV-Infektionen. Es wird mit
Sicherheit auch zu einer Zunahme der Zahl der Aids-
erkrankten kommen. Wir werden uns auch in Deutsch-
land im Kampf gegen Aids mehr anstrengen müssen.
Ich bin froh, dass diesen Erfordernissen auch im
Haushalt 2007 entsprochen wurde. Der Haushalt des Ge-
sundheitsministeriums wurde um 3 Millionen Euro auf-
gestockt. Nachdem er viele Jahre entsprechend der Neu-
infektionsrate bei 9,2 Millionen Euro lag, wurden jetzt
13,2 Millionen Euro eingestellt. Ich denke, das ist not-
wendig. Wir müssen sehr gezielt, zum Beispiel in Ge-
fängnissen und dort, wo Sex gewerblich angeboten wird,
wo man sich trifft und Lifestylesex gedankenlos betrie-
ben wird, mehr für Prävention tun. Wir müssen hier auf-
klären und auch in Deutschland wieder aktiver werden.
Weltweit ergibt sich jedoch eine völlig andere Per-
spektive. Denn Aids ist in Bezug auf Entwicklungslän-
der ein Querschnittsthema. Aids kann nicht nur als
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Wenn ein Mensch an einer Immunschwächekrankheit
leidet, versucht sein Körper vergeblich, etwas abzuweh-
ren, was für ihn gefährlich werden könnte. Wenn diese
Schädigung stärker wird, stirbt er daran. Auch unser
Globus leidet an neuen Krankheiten wie Marktdomi-
nanz, Desintegration und anderen Globalisierungsfol-
gen. Diese Krankheiten müssen wir abwehren. Dafür
müssen wir zunächst ihre Ursachen erkennen. Wir müs-
sen erkennen, dass dadurch auch die Erforschung und
die Entwicklung neuer Medikamente eine Rolle spielen.
Wir müssen sehr schnell sehr viel leisten. Wenn wir es
nicht schaffen, die Prozesse zur Abwehr dieser Seuche
zu organisieren, dann wird dieses Problem bald so groß
sein, dass es unbeherrschbar wird.
Die Vereinten Nationen haben sich vorgenommen, bis
zum Jahr 2015 eine weltweite Wende herbeizuführen.
Dabei müssen wir helfen. Angesichts des Engagements,
das alle UN-Mitgliedstaaten in New York, Toronto und
Genf zum Ausdruck gebracht haben, bin ich zuversicht-
lich, dass wir HIV/Aids besiegen können.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort Kollegen Karl Addicks, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir behandeln heute, am Weltaidstag, verschie-
dene Anträge, die sich mit der Bekämpfung von Aids be-
fassen. Ich freue mich sehr, dass es uns gelungen ist, ei-
nen interfraktionellen Antrag zustande zu bringen. Das
ist für mich über die Parteigrenzen hinweg ein wichtiges
Zeichen der Verbundenheit im Kampf gegen Aids.
Zwar sind in Deutschland und in Westeuropa insge-
samt Erfolge zu verzeichnen. Aber leider scheinen diese
Erfolge bei einigen zu Sorglosigkeit zu führen. Die Zahl
der Neuinfektionen ist deutlich gestiegen. Deshalb
möchte ich an dieser Stelle alle auffordern, wieder mehr
auf ihren Schutz zu achten.
In Osteuropa breitet sich das Virus rasant aus, ganz
zu schweigen vom afrikanischen Kontinent, auf dem
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n drei der acht MDGs geht es um Gesundheit. Aber wir
eben gerade einmal 8 Prozent des Etats des Bundes-
inisteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
ntwicklung für gesundheitsbezogene Ziele aus. Auch
m entwicklungspolitischen Teil der Koalitionsvereinba-
ung kommen diese Ziele ganz klar zu kurz; deutlicher
ill ich jetzt nicht werden. Doch eines ist klar: Das kann
icht so bleiben, vor allen Dingen weil immer noch erst
in sehr kleiner Teil der Infizierten, insbesondere in
frika, mit den überlebenswichtigen antiretroviralen
edikamenten behandelt wird.
Eine Heilung von Aids ist leider noch lange nicht
öglich. An Impfstoffen wird geforscht; aber auch hier
st eine Intensivierung notwendig. In einigen Ländern
frikas ist durch Aids die Lebenserwartung stark gefal-
en, zum Beispiel in Namibia von früher einmal 65 Jahre
uf heute 40 Jahre. Das ist eine der drastischsten Zahlen.
ie Feminisierung von Aids nimmt zu. Die Zahl der
idswaisen in Afrika ist Legion. Wir hätten gerade vor
er EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands und der G-8-
räsidentschaft Deutschlands ein deutliches Zeichen set-
en können. Neben mehr Geld wäre auch ein effiziente-
er Einsatz der knappen Mittel sehr wichtig.
An dieser Stelle möchte ich zu unserem Antrag zur
üdafrikanischen Aidspolitik kommen. Wir geben den
üdafrikanern im Rahmen der finanziellen Zusammen-
rbeit jedes Jahr 19 Millionen Euro für die Bekämpfung
on Aids. Doch wir müssen hören, dass in Südafrika
5 Prozent der 15- bis 24-Jährigen nicht wissen, wie sie
ich vor Aids schützen sollen. Ein Minister sagt öffent-
ich, dass er sich durch Duschen nach dem Sex schützt.
tatt eine umfassende Kampagne in den Medien zur
ufklärung über Aids zu machen, hat die südafrikani-
che Regierung zugelassen, dass die antiretrovirale The-
apie diffamiert wird und dass den Leuten weisgemacht
ird, mit Vitaminen und Mineralstoffen könne man sich
or Aids schützen.
Ja! – Und so etwas finanzieren wir indirekt im Rahmen
nserer finanziellen Zusammenarbeit!
7116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Dr. Karl Addicks
Ich sage das hier und heute, weil die Bundesregierung
unser Missfallen an der südafrikanischen Aidspolitik
bisher nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht hat.
Deshalb sollten Sie unserem Antrag zustimmen. Ich
denke, wir müssen hier Klartext reden: Das kann so
nicht bleiben, bei aller Liebe!
Bitte, Herr Kollege Wodarg.
Ich darf noch einmal daran erinnern: Ursprünglich
war im Interesse des Grünen-Parteitages vereinbart, bis
13 Uhr mit der Tagesordnung zu Ende zu sein. Wir wer-
den jetzt etwa bei 14.30 Uhr liegen. Es wird durch Zwi-
schenfragen, Kurzinterventionen und Redezeitüber-
schreitungen deutlich verlängert.
Ich erteile dem Kollegen Wodarg das Wort zu einer
Zwischenfrage.
Herr Kollege Addicks, in Ihrem Antrag fordern Sie,
dass wir keine Unterstützung gewähren sollten, wenn die
südafrikanische Regierung nichts gegen die Kampagne
von Herrn Rath unternimmt. Meinen Sie nicht, dass es
falsch ist, die Leidenden, die jetzt noch von dem profitie-
ren, was wir tun, zu Geiseln zu machen, auch wenn Sie
in der Sache Recht haben?
Sie haben unsere volle Unterstützung, wenn es darum
geht, diesen Herrn Rath zu verurteilen, der in Südafrika
sein Unwesen treibt und behauptet, er habe die allein
mögliche Lösung gefunden, und der einfach alles miss-
achtet, was in der Wissenschaft Konsens ist.
Wir haben Flugblätter bekommen, auf denen die FDP
und auch Sie zum Ziel von Angriffen geworden sind, auf
denen Sie persönlich diffamiert und bedroht worden
sind. Auch deshalb habe ich mich zu Wort gemeldet: Wir
nehmen Sie in Schutz; ich drücke Ihnen ausdrücklich
meine Solidarität aus. Ich finde es wichtig, dass wir hier
als Haus zusammenstehen und nicht zulassen, dass
Wahrheit so verdreht wird. Wir dürfen nicht zulassen,
dass mit Diffamierungen versucht wird, notwendige
Hilfe zu verhindern.
Danke, Herr Kollege Wodarg, dass Sie darauf hinwei-
sen und mich in Schutz nehmen. Selbstverständlich ist
dieser unser Antrag nicht gegen die Betroffenen in Süd-
afrika gerichtet. Wir wollen mit diesem Antrag nur errei-
chen, dass die Bundesregierung ihr Missfallen an dieser
Politik öffentlich deutlich kundtut.
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Ich denke, dass die Tabuisierung und die Marginali-
ierung von Aidsinfizierten endlich aufhören müssen;
enn ansonsten werden wir der Seuche nicht Herr. Aids
ird nun einmal in erster Linie durch menschliche
exualität und erst in zweiter Linie durch Körperflüssig-
eiten übertragen. – So steht es leider in dem gemeinsa-
en Antrag. Das ist genau die Sprache der Tabuisierung,
ie wir nicht sprechen sollten.
Ich schließe heute mit einem Wort des Dankes an all
iejenigen, die bisher ihr Scherflein zum Kampf gegen
ids beigetragen haben. Besonders möchte ich auch al-
en danken, die in den NGOs diesen Kampf gegen Aids
ühren. Ihnen gelten unser Dank und unsere Unterstüt-
ung.
Haben Sie vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile Kollegin Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU-Frak-
ion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ids ist keine Krankheit nur in den Entwicklungslän-
ern. Aber keine anderen Länder leiden so unter Aids
ie die Entwicklungsländer. Besonders betroffen ist der
frikanische Kontinent.
In diesem Zusammenhang möchte ich Ihre Aufmerk-
amkeit auf folgende dramatische Entwicklung lenken:
aren vor zehn Jahren nur 12 Prozent aller Infizierten
eltweit Frauen, so sind es heute fast 50 Prozent. In
ubsahara-Afrika sind es sogar 60 Prozent. Mehr als
0 Prozent aller Schwangeren im südlichen Afrika sind
it HIV infiziert. Weltweit werden pro Jahr 2 Millionen
IV-positive Frauen schwanger. In den Entwicklungs-
ändern hat eine schleichende Feminisierung stattgefun-
en. Aids hat ein weibliches Gesicht bekommen.
Einer der Gründe für diese schlimme Entwicklung
iegt meiner Meinung nach vor allem in der Tatsache be-
ründet, das HIV/Aids auch mit der sozialen und wirt-
chaftlichen Ungleichbehandlung von Frauen zu tun
at; denn HIV/Aids ist mehr als nur ein medizinisches
roblem. Diese Krankheit umfasst gesellschaftliche,
olitische und kulturelle Dimensionen. Sie hat etwas mit
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7117
)
)
Sibylle Pfeiffer
althergebrachten Strukturen und mit sexueller Gewalt zu
tun.
Ein wichtiges Potenzial der HIV/Aids-Bekämpfung
wird nicht ausreichend genutzt. Ich denke an den Be-
reich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Die-
ser Begriff umfasst weit mehr als nur die reine Familien-
planung. Die sexuelle und reproduktive Gesundheit
betrifft alle Aspekte des uneingeschränkten körperli-
chen, seelischen und sozialen Wohlbefindens in Bezug
auf Sexualität und Fortpflanzung. Der Gesundheit von
Frauen wird dabei besondere Aufmerksamkeit ge-
schenkt.
1994 fand in Kairo zu diesem Thema die Konferenz
über Bevölkerung und Entwicklung, ICPD, statt. In An-
wesenheit der Vertreter von mehr als 170 Staaten und
über 3 000 Nichtregierungsorganisationen hat sich ein
Paradigmenwechsel in der Bevölkerungspolitik vollzo-
gen. Es wurde ein Aktionsprogramm verabschiedet, mit
dem neue Richtlinien für die internationale Bevölke-
rungspolitik festgelegt wurden, die auch für den Kampf
gegen Aids enorm wichtig sind.
Bis zum Jahre 2015 soll dadurch allen Menschen der
Zugang zur Aufklärung und Familienplanung, zur Ge-
sundheitsversorgung rund um Schwangerschaft und Ge-
burt sowie zum Schutz vor HIV/Aids ermöglicht wer-
den; denn das zentrale Problem war zu jener Zeit und ist
es auch heute noch, dass in vielen Entwicklungslän-
dern Frauen kein selbstbestimmtes Leben führen kön-
nen: Sie können nicht frei entscheiden, ob sie schwanger
werden, sie können nicht entscheiden, wie oft sie
schwanger werden, sie haben keinen Zugang zu Verhü-
tungsmitteln und sie haben keinen Zugang zu Gesund-
heitsdiensten. Das zu ändern, ist eine unserer wichtigsten
Aufgaben. Wenn wir dies nicht schaffen, können wir
auch den Kampf gegen HIV/Aids in den Entwicklungs-
ländern niemals gewinnen.
Es gibt einen engen wechselseitigen Zusammenhang
zwischen Gesundheit und Entwicklung in den armen
Regionen dieser Welt: Ohne Gesundheit keine Entwick-
lung, ohne Entwicklung keine Gesundheit. Die repro-
duktive Gesundheit ist ein wesentlicher Teil der Gesund-
heit.
Auch mit den Millenniumszielen wurde der sexuel-
len und reproduktiven Gesundheit eine zentrale Bedeu-
tung eingeräumt. Drei der acht Millenniumsziele betref-
fen direkt die reproduktive Gesundheit: Ziel 4 sieht die
Senkung der Kindersterblichkeit vor, Ziel 5 die Senkung
der Müttersterblichkeit und Ziel 6 die Bekämpfung von
HIV/Aids.
Zu Recht werden für die Eindämmung der schreckli-
chen Entwicklung von HIV/Aids enorme Anstrengungen
unternommen. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass wir
dadurch Vorhaben bei der reproduktiven Gesundheit ver-
nachlässigen. Diese beiden Bereiche schließen sich nicht
aus. Im Gegenteil: Sie ergänzen sich nach dem Motto
„Das eine tun und das andere nicht lassen“.
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enn in der Praxis ist diese Unterscheidung kaum mög-
ich: Ist ein Kondom für die Verhütung von HIV oder für
ie Verhütung einer Schwangerschaft gedacht? Ich
enke, für beides.
Die Programme der reproduktiven Gesundheit sind in
ielen Städten und Dörfern der Entwicklungsländer be-
eits lange etabliert, oft wesentlich länger als die Ein-
ichtungen zur HIV-Bekämpfung. Sie haben in der Be-
ölkerung einen guten Ruf und werden akzeptiert. Ich
inde, wir sollten diese Programme nutzen.
Maßnahmen der sexuellen und reproduktiven Ge-
undheit und Bekämpfung von HIV/Aids sind zwei Sei-
en einer Medaille.
ogar die WHO betont mittlerweile, welche Bedeutung
ie Vernetzung dieser Maßnahmen hat, um insbesondere
ie Weiterverbreitung dieser fürchterlichen Krankheit zu
erhindern. Ich glaube, diese Aussage dürfen wir nicht
gnorieren.
HIV/Aids wird in den Entwicklungsländern zum
berwiegenden Teil durch heterosexuelle Kontakte über-
ragen. Die diesjährige Weltaidskonferenz in Toronto hat
rneut die enorme Bedeutung der HIV-Prävention be-
egt. Nur damit keine Missverständnisse aufkommen:
ch bin sehr wohl für die Förderung von Behandlung. Ich
laube, dass Prävention und Behandlung zusammenge-
ören. Aber vor allem bei Aids gilt: Vorbeugen ist im-
er besser als Heilen.
Von ausschlaggebender Bedeutung ist, dass Frauen
elbstbestimmt über die Prävention entscheiden können.
ur so sind sie nicht dem Willen ihres Partners ausgelie-
ert. Prävention darf nicht allein in den Händen der Män-
er liegen. In diesem Zusammenhang sind Femidome
on großer Bedeutung. Mikrobizide können von großer
edeutung werden. Beides kann selbstbestimmt und
hne die Zustimmung des Mannes genutzt werden.
Die Marktreife von Mikrobiziden wird aber frühes-
ens im Jahr 2010 erwartet. Es ist zu begrüßen, dass das
MZ die Mikrobizidforschung unterstützt.
Kondome bleiben nach wie vor das wichtigste Verhü-
ungsmittel. Leider stehen Männern zum Beispiel in
frika nicht genügend Kondome zur Verfügung: Pro
7118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Sibylle Pfeiffer
Jahr sind es nur sechs bis acht Kondome pro Mann. Wer
sich in Afrika auskennt, weiß, was das bedeutet.
Ermutigend ist hingegen, was aus dem Vatikan zu hö-
ren ist. Kollege Addicks hat schon darauf hingewiesen.
Ich denke, es ist wichtig, dass dort offensichtlich eben-
falls ein Umdenken begonnen hat. Die derzeit einzige
wirklich wirksame Vorbeugung gegen Aids ist das Wis-
sen darüber, wie man sich vor Ansteckung schützen
kann. Wissen rettet Leben.
Sexualaufklärung umfasst immer auch Aidsaufklä-
rung und ist ein wichtiger Teil der Prävention. Gerade
junge Leute – insbesondere junge Frauen – müssen des-
halb über Aids aufgeklärt werden.
Ich fasse zusammen: Erstens. Gerade in Entwick-
lungsländern hat Aids ein weibliches Gesicht. Besonders
der Schutz von Mädchen und Frauen muss im Kampf ge-
gen HIV/Aids eine noch größere Rolle spielen.
Zweitens. Wir müssen auf internationaler Ebene da-
rauf bestehen, dass die Rechte der Frauen gestärkt wer-
den. Wir leisten dort mithilfe unserer Entwicklungs-
ministerin Unterstützung. Ich halte es für den richtigen
Weg, in den einzelnen Ländern die Frauen stärker in
Aidsbekämpfungsprogramme mit einzubinden.
Drittens. Der Zugang zu Mitteln der Familienplanung
und zu finanzierbaren Medikamenten muss verbessert
werden.
Viertens und letztens. Vor allem die Trennung von
HIV/Aids-Bekämpfung und sexueller und reproduktiver
Gesundheit ist nicht zu rechtfertigen. Beide gehören zu-
sammen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch allen Berichter-
stattern im AwZ für die sehr konstruktive Zusammen-
arbeit sowie meinen Vorstandskollegen aus dem Parla-
mentarischen Beirat der Deutschen Stiftung
„Weltbevölkerung“ danken. Ich denke, wir haben vor al-
lem bei diesem wichtigen Thema gezeigt, dass wir sehr
wohl in der Lage sind, gemeinsam anzupacken.
Bei der Erarbeitung des fraktionsübergreifenden An-
trags haben wir festgestellt, wie wichtig einerseits und
wie umfassend andererseits dieses Thema ist und wie
wenig wir letztendlich auf den vielen Seiten unseres An-
trags untergebracht haben.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegin Monika Knoche, Frak-
tion Die Linke.
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Dass wir in Deutschland mit dieser Problematik sehr
ut zurechtkommen, führe ich maßgeblich auf das starke
ivilgesellschaftliche Engagement und insbesondere
uf das Engagement der homosexuellen Gruppen zu-
ück, die viel dazu beigetragen haben, dass wir einen
ehr entwickelten Stand auch in der medizinischen Ver-
orgung und Forschung haben. Auch unser Gesundheits-
esen hat bislang viel dazu beigetragen, dass alle HIV-
nfizierten und Aidserkrankten die volle Sachleistung er-
alten, dass wir also ein sehr hohes Versorgungsniveau
aben.
Obwohl dem so ist und wir wissen, dass einigen HIV-
nfizierten und Aidskranken, die spritzdrogenabhängig
ind, sehr gut geholfen werden könnte, wenn weiterhin
eroinsubstitution betrieben würde – auch ein wichtiges
hema, das wir heute nicht außen vor lassen sollten –,
in ich der Auffassung, dass die Welt vor der Gefahr
teht, den Kampf gegen Aids zu verlieren. In Europa ist
as nicht so, genauso wenig in Nordamerika. In Latein-
merika sind viele wichtige Initiativen gestartet worden.
ber insbesondere in Afrika besteht die Gefahr, dass
ir – ich sage bewusst „wir“, weil wir alle dafür Verant-
ortung tragen – den Kampf gegen Aids verlieren.
In diesen Tagen wird darüber gesprochen, dass sich
er G-8-Gipfel des Themas HIV/Aids annimmt. Ich
ünsche mir eher, dass in diesen Fragen die UN und ins-
esondere die UNAIDS gestärkt werden und mehr Ver-
andlungskompetenz bekommen und dass der Global
und von deutscher Seite sehr stark finanziell gefeatured
ird.
as ist leider nicht der Fall. Wenn wir aber schon beim
-8-Gipfel sind, möchte ich sagen: Dorthin gehört auch
ie Frage, um die es im Hinblick auf Afrika zentral geht.
s geht um das TRIPS-Abkommen, um die Verweige-
ung des Zugangs zu Medikamenten. Noch immer un-
erliegen über 70 Prozent der HIV-Medikamente und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7119
)
)
Monika Knoche
Aidsmedikamente dem Patentschutz. Es ist den betroffe-
nen Menschen und den Regierungen nahezu unmöglich,
unter diesen Kautelen eine adäquate und vor allen Din-
gen kostengünstige Aidsbehandlung durchzuführen.
Hier muss eine radikale Revision, ein Umdenken in der
Patentschutzpolitik stattfinden. Sonst kann das Pro-
blem Aids nicht bewältigt werden.
Natürlich muss auch der IWF genannt werden, wenn
wir schon die Welt ins Auge fassen; denn vieles, was die
betroffenen Staaten im Rahmen ihrer medizinischen In-
frastruktur nicht leisten können, hat mit dem Staatszer-
fall und der Deregulierungspolitik zu tun. Ich habe ins-
besondere in einigen afrikanischen Ländern, die ich
besucht habe – ich nenne nur Namibia als Beispiel, für
das Deutschland eine besondere historische Verpflich-
tung hat –, gesehen, dass die NGOs, die oftmals die Ein-
zigen sind, die Maßnahmen ergreifen können, häufig ein
Nebeneinander von Hilfsmaßnahmen pflegen und dass
eine konzertierte staatliche Gesundheitspolitik und
eine entsprechende Versorgungsinfrastruktur nicht mög-
lich sind. Auch in dieser Hinsicht sollten die Entwick-
lungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker stärker
darauf achten, wie die NGOs im Rahmen der Entwick-
lungszusammenarbeit unterstützt werden können, damit
der staatlichen Gesundheitsversorgung die Priorität zu-
kommt, die sie haben sollte.
Die vielen HIV/Aids-Waisen – dazu ist schon vieles
gesagt worden, was ich nicht zu wiederholen brauche –
zeigen, dass im Gegensatz zu Europa und Nordamerika,
wo die Krankheit im Wesentlichen homosexuelle Men-
schen und Spritzdrogenabhängige betrifft, in Afrika Aids
hauptsächlich bei Heterosexuellen auftritt. Das hängt
auch damit zusammen, dass die Stellung der Frau völlig
anders ist als bei uns. Viele Sexualpraktiken, die zur
Übertragung des Virus beitragen, sind in die Kultur inte-
griert. Das darf bei der Aufklärung nicht tabuisiert wer-
den. Die mitunter brutale männliche Sexualität im afri-
kanischen Raum muss zum Thema gemacht werden,
damit Präventionsstrategien überhaupt greifen können.
Wenn Frauen über sexuelle Praktiken nicht selbst ent-
scheiden dürfen, dann ist es schlichtweg nicht möglich,
dass sie sich schützen.
Darauf muss bei der Aufklärung besonderer Wert ge-
legt werden. Sonst können Präventionsstrategien nicht
erfolgreich sein. Auch wenn wir den schwangeren
Frauen mit Medikamenten helfen können, die Übertra-
gung des Virus während der Geburt zu vermeiden, so be-
steht immer noch das Problem, dass die Frauen nicht die
Kraft und nicht die gesellschaftliche Stellung haben, ih-
ren Schutz beim Sexualverkehr durchzusetzen. Die Ge-
fahr der Reinfektion besteht nach wie vor, weil die
Frauen keine sexuelle Autonomie haben. Diese Pro-
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Machen wir uns die Dramatik bewusst. Es werden im-
er mehr heterosexuelle Menschen mit dem HIV-Virus
nfiziert. In Deutschland sind es vorwiegend junge
chwule Männer, die aufgrund der guten medizinischen
ersorgung schon vergessen haben, dass es sich bei Aids
m eine tödliche Erkrankung handelt. Wir haben noch
iniges zu tun. Ich möchte Ihnen sagen: Lassen Sie die
deologischen Barrieren beiseite! Schließen Sie emanzi-
atorische linke Kräfte ein! Wir haben einen guten Draht
uch zu jungen Menschen.
s ist gut, wenn wir alle im Hause zusammenstehen.
assen Sie uns das in Zukunft so handhaben.
Danke.
Ich erteile das Wort Kollegin Ute Koczy, Fraktion des
ündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen
nd Kollegen! Weltaidstag, ein Tag, an dem die Welt ge-
ahnt ist, nicht nur innezuhalten, sondern auch zu han-
eln, gemeinsam zu handeln; denn Aids ist Gegenwart,
ederzeit, überall. Deshalb ist es auch gut, dass es neben
ier weiteren einen interfraktionellen Antrag gibt, der
ie gemeinsame Verantwortung für Entwicklungslän-
er unterstreicht. Noch besser wäre es aber gewesen, die
inken einzubeziehen und angesichts der Sachlage groß-
oalitionäre Taktikspielchen hintanzustellen.
HIV/Aids ist eine Krankheit, deren Bekämpfung
ehr braucht als nur Information. Der Kampf gegen
ids kann nur da gewonnen werden, wo es gelingt,
7120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Ute Koczy
menschliche Verhaltensweisen zu verändern. Das ist die
größte Herausforderung. Deshalb ist es so wichtig, ohne
moralischen Zeigefinger und mit unverstelltem Blick
quer zu patriarchalen, heterosexuellen Traditionen die
Verbreitung von HIV/Aids zu bekämpfen.
Wir haben gehört, welche enormen Schäden, welch
unermessliches Leid diese Krankheit anrichtet – und das
in einer so kurzen Zeit; erst vor 25 Jahren wurde das
HIV-Virus entdeckt. Bitter ist: HIV/Aids ist inzwischen
weiblich geworden. In Afrika, südlich der Sahara, infi-
zieren sich überproportional viele Frauen und Mäd-
chen mit dem Virus, zum einen, weil sie biologisch an-
fälliger sind, und zum anderen, weil sie ganz einfach
weniger Rechte haben, weil sie es schwer haben, sexu-
elle Praktiken einzufordern, die sie schützen, weil sie
nicht sagen können: He, du, nimm ein Kondom! Dazu
haben sie nicht die Rechte. Letztlich verweigert ihnen
diese Rechtlosigkeit auch den Schutz gegenüber ihrer
Person oder gegenüber ihrer Familie. Deswegen müssen
wir daran arbeiten, dass sich das verändert.
Weltweit liegt die Lebenserwartung von Frauen im
Durchschnitt circa fünf Jahre höher als bei Männern. In
Simbabwe ist das anders. Dort hat das HIV/Aids-Virus
inzwischen zu einer der weltweit niedrigsten Lebenser-
wartungen geführt; dort werden Frauen im Schnitt nur
noch 34 Jahre alt, sie sterben drei Jahre früher als Män-
ner.
Wir müssen uns fragen: Berücksichtigen die Metho-
den der Aidsbekämpfung die Bedürfnisse von Frauen
und Mädchen? Nein, sie tun es zu wenig. Frauen brau-
chen einen besseren Zugang zu Informationen über die
Krankheit und ihre Übertragungswege. Es gibt einfach
zu wenig frauenkontrollierte Methoden der HIV/Aids-
Prävention. Auch das muss geändert werden.
Das Beispiel Kenia zeigt ja, dass es funktioniert. Dort
sind die Prävalenzraten unter jungen, schwangeren
Frauen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen.
Wie hat man das geschafft? Man hat Informationen wei-
tergegeben; man hat dazu aufgefordert, das Sexualver-
halten zu verändern. Jetzt kennen mehr junge Menschen
das Risiko; weniger junge Menschen gehen die Risiken
ein; mehr junge Menschen benutzen Kondome. Also
kann sexuelle Aufklärung viel bewirken.
Kommen wir nun zu Uganda. Dort zeigt sich, dass es
eine negative sexuelle Aufklärung geben kann. Es gab
einmal eine positive Entwicklung in Uganda; sie hat sich
verändert. Jetzt deuten die Zahlen darauf hin, dass die
Fortschritte, die dort festgestellt werden konnten, wieder
verloren gingen, und zwar deswegen, weil sich die Nut-
zung von Kondomen im außerehelichen Geschlechtsver-
kehr verringert hat. Wie konnte es dazu kommen? Neue
Studien von Menschenrechtsorganisationen verdeutli-
chen, dass Uganda seine HIV-Präventionsstrategie in
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Darunter haben insbesondere auch Homosexuelle zu
eiden, deren Menschenrechte ohnehin in vielen Ländern
ingeschränkt und missachtet werden. In über 75 Län-
ern ist Homosexualität strafbar. Doch wenn Menschen
egen ihrer Liebe ins gesellschaftliche Abseits gedrängt
erden, wenn Homosexualität tabuisiert wird, dann ist
ine wirksame Aidsprävention unmöglich. Auch daran
üssen wir im internationalen Kampf gegen Aids arbei-
en.
Ein weiterer Punkt. Es gibt seit zehn Jahren in den In-
ustrieländern antiretrovirale Medikamente. Diese
edikamente können HIV/Aids nicht heilen, aber sie
erringern ganz deutlich das Leid der Krankheit und er-
öglichen es Menschen mit HIV/Aids, weiterzuleben.
erade für Menschen in Entwicklungsländern wäre es
ichtig, dass sie Zugang zu diesen Medikamenten bekä-
en. Den haben sie aber nicht. Ja, es hat Verbesserungen
egeben. Aber die Versorgungslücke bleibt immens.
estenfalls eine von zehn Afrikanerinnen bzw. Afrika-
ern und eine von sieben Asiatinnen bzw. Asiaten erhiel-
en letztes Jahr diese dringend benötigte Therapie. Der
rund war auch, dass diese Medikamente zu teuer sind.
uch daran werden wir arbeiten müssen; denn das ist ein
kandal.
Weiterer Handlungsbedarf besteht in der pharmazeu-
ischen Forschung. Wir brauchen endlich einen Aids-
mpfstoff und wir brauchen Medikamente, die in ihrer
orm und in ihren Eigenschaften den Bedürfnissen von
enschen in Entwicklungsländern gerecht werden, zum
eispiel durch kindgerechte Dosierungen.
Ich komme zum letzten Punkt, zum Geld. Ja, es hat
och eine Steigerung im Haushalt gegeben.
och gemessen an den Bedürfnissen und an der Finan-
ierungslücke sind solche kleinen Steigerungen noch
ange nicht ausreichend.
NAIDS und die WHO schätzen, dass zur Finanzierung
er unmittelbaren Maßnahmen der HIV/Aids-Bekämp-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7121
)
)
Ute Koczy
fung im Jahr 2007 noch eine Lücke von 8 Milliarden
Dollar besteht.
Nächstes Jahr gibt es besonders gute Gelegenheiten,
den Kampf dagegen aufzunehmen. Deutschland wird die
Präsidentschaft der G 8 haben. Die Staaten der G 8 ha-
ben das Versprechen abgegeben, einen universellen Zu-
gang zu Medikamenten zu ermöglichen. Wir wollen hof-
fen, dass sie das auch tun. Deutschland ist nächstes Jahr
auch Gastgeber einer Konferenz zur Wiederauffüllung
des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuber-
kulose und Malaria. Deutschland zahlt im Jahr 2007
– das ist anzuerkennen – 87 Millionen Euro in diesen
Fonds. Doch angesichts der Finanzierungslücke von
5,9 Milliarden US-Dollar und angesichts der wirtschaft-
lichen Möglichkeiten ist das viel zu wenig.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir müssen mehr
tun. Packen wir es an! Wir haben dazu nächstes Jahr die
Chance.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staats-
sekretär Rolf Schwanitz.
R
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte mich zunächst bei Ihnen allen herz-
lich dafür bedanken, dass Sie dem Thema HIV/Aids
nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen Jahren
im Deutschen Bundestag einen so hohen Stellenwert zu-
kommen ließen. Das gilt auch im Hinblick auf die in die-
ser Debatte vorgelegten Anträge. Ich glaube, dass das
Zusammenstehen über Parteigrenzen, über gesellschaft-
liche Grenzen hinweg ein Stück weit den Erfolg der
Strategie Deutschlands in den vergangenen Jahren aus-
gemacht hat. Ich möchte, dass das in der Zukunft so
bleibt.
Ende 2006 leben bei uns etwa 56 000 Menschen mit
HIV und/oder Aids. 15 Prozent davon sind Frauen. Die
Zahl der Neudiagnosen in diesem Jahr liegt, geschätzt,
bei 2 700. Dieses Betroffenheitspotenzial ist im Hinblick
auf die internationale, auch auf die europäische Dimen-
sion dieser Pandemie vergleichsweise niedrig. Ich will
ausdrücklich sagen: Für uns ist jeder Einzelne, jede, die
sich in Deutschland neu infiziert, eine Person zu viel.
Der Anstieg der Anzahl der Neuinfektionen muss uns
Anlass sein, unsere Anstrengungen nicht zurückzuneh-
men; vielmehr müssen wir uns auch auf nationaler
Ebene auf diese neuen Anforderungen einstellen.
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ede Einschränkung bei Beratung und Thematisierung
ieses wichtigen Problems in den Medien, ob privat oder
ffentlich-rechtlich, ist falsch und hat negative Konse-
uenzen im Schutzverhalten vieler.
7122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Parl. Staatssekretär Rolf Schwanitz
Die Bundesregierung ist sich der internationalen Ver-
antwortung, die mit dem Thema HIV und Aids verbun-
den ist, sehr wohl bewusst. Weltweit besteht die Gefahr
– verschiedene Redner haben bereits darauf aufmerksam
gemacht –, dass die rasante Ausbreitung von HIV und
Aids alle Anstrengungen, die zur Eindämmung dieser
Seuche unternommen worden sind, wieder zunichte
macht. Im Jahr 2005 betrug die Zahl der Aidstoten
2,8 Millionen. Nicht nur im afrikanischen Bereich sind
die Zahlen besorgniserregend, sind die Todesraten
erschreckend und mahnen zum Handeln; auch im ost-
europäischen und asiatischen Bereich ist das so. Bei-
spielsweise ist der Umstand zu nennen, dass die Behand-
lungsrate der Infizierten in Osteuropa bei sage und
schreibe nur 5 Prozent liegt. Wir müssen hier also mehr
tun, meine Damen und Herren. Qualifikation des Perso-
nals ist sicherlich eine richtige Reaktion. Der Kampf ge-
gen Stigmatisierung und gegen Benachteiligung der Be-
troffenen ist das zentrale Thema.
Lassen Sie mich noch etwas zu dem sagen, was Sie
vorhin ausgeführt haben, Herr Dr. Addicks. Ich stimme
Ihnen zu, was die Frage angeht, welche Erwartungen wir
an die katholische Kirche haben. Es gibt auch Mut ma-
chende Signale und wir hoffen, dass sie endlich umge-
setzt werden. Bezogen auf die deutliche Ansprache der
Bundesregierung gegenüber Verantwortlichen in Süd-
afrika, gegenüber der dort ihr Unwesen treibenden
Dr. Rath Health Foundation usw. ist nichts zu bemän-
geln. Sowohl die Ministerin Wieczorek-Zeul als auch
das Auswärtige Amt und meine Ministerin lassen keine
Gelegenheit aus, in aller Deutlichkeit darauf hinzuwei-
sen, wie wir die Dinge sehen, und zu betonen, dass ein
Umsteuern dringend erforderlich ist.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
R
Meine Damen und Herren, wir werden HIV/Aids zu
einem zentralen Thema unserer Präsidentschaft im
nächsten Jahr machen. Es ist wichtig. Deswegen richtet
man zu Recht Erwartungen an uns.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Detlef Parr, FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf dem
Weg zum Bahnhof Friedrichstraße fällt den Passanten
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Wir begrüßen auch die Aufstockung der Finanzmittel
ür Aufklärungsmaßnahmen der Bundeszentrale für ge-
undheitliche Aufklärung im Haushalt 2007. Damit setzt
ie Bundesregierung ebenso richtige Akzente wie die
rivaten Krankenversicherungen, die die Bundeszentrale
it immerhin über 3 Millionen Euro jährlich unterstüt-
en, und viele andere private Initiativen.
Meine Damen und Herren, dabei dürfen wir den Weg
er informativen Aufklärung mit dem Ziel der Stärkung
er Eigenverantwortung nicht verlassen. Wer wie im An-
rag der großen Koalition die Verschärfung des Straf-
echts bei ungeschütztem Sex bereits Infizierter fordert,
etzt auf Repression und damit auf das am wenigsten ge-
ignete Mittel. Das lehnen wir Liberalen ab.
Und wer wie die Grünen klammheimlich so ein wich-
iges Projekt wie die kontrollierte Heroinabgabe an
chwerstabhängige als Spiegelstrich zur Abstimmung
tellt, kann auch nicht mit unserer Unterstützung rech-
en, ebenso wenig wie bei einem Bleiberecht für HIV-
nfizierte.
Jetzt sind wir gespannt, was aus dem von Herrn
chwanitz gerade beschriebenen Aktionsplan wird. Es
st schon etwas seltsam, wenn die Koalitionsfraktionen
ie Bundesregierung zur baldigen Umsetzung auffordern
üssen. Wir schließen uns diesem Petitum aber sehr
erne an.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7123
)
)
Detlef Parr
Gut, dass sich alle Fraktionen nicht nur am Welt-
aidstag einig sind, dass wir auch national den Kampf
gegen diese heimtückische Immunschwächekrankheit
entschlossen weiterführen müssen. Nur im engen Schul-
terschluss haben wir eine Chance auf Erfolg. Niemand
von uns will und darf die Betroffenen im Stich lassen.
Und das ist auch gut so.
Ich erteile das Wort Kollegen Jens Spahn, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
dankbar, dass es gelungen ist, dass wir heute am Welt-
aidstag in der Debatte im Deutschen Bundestag deutlich
machen, wie sehr wir gemeinsam – zum Teil auch mit
unterschiedlichen Positionen; dazu komme ich gleich,
Herr Kollege Parr – dafür eintreten, in der Welt, in
Europa, aber auch in Deutschland mit Prävention und
guter Behandlung der Betroffenen das Bestmögliche für
alle zu erreichen.
Dabei ist es so, dass wir zum ersten Mal seit Jahren
im Deutschen Bundestag über die Entwicklung von
HIV/Aids in Deutschland debattieren. Meine Kollegin
hat gerade schon die Position zur Entwicklungshilfe und
zur Situation in Afrika und Osteuropa thematisiert. Von
daher möchte ich mich auf die deutsche Situation kon-
zentrieren.
Wir können konstatieren, dass die Präventionsarbeit
in Deutschland in den vergangenen 25 Jahren wie in
kaum einem anderen Land der Welt erfolgreich war. Wir
haben mit die niedrigsten Infektionsquoten, die es gibt.
Wir haben sehr gute, auch ehrenamtliche Arbeit vor Ort,
sehr gute Strukturen mit den Aidshilfen, der Aidsstiftung
und den vielen Verbänden, die sich engagieren.
Nichtsdestotrotz müssen wir neue Entwicklungen
– ich möchte auf einige eingehen – zur Kenntnis neh-
men. Da ist zum Ersten das Risikobewusstsein meiner
eigenen Generation. Meine Generation hat das große
Sterben der 80er-Jahre nicht mitgemacht, hat die Debat-
ten Süssmuth, Gauweiler – all die Kontroversen, die es
damals gegeben hat – nicht mitgemacht. In vielen Wer-
bungen wird suggeriert, dass es Heilung gäbe, obwohl es
am Ende nur Linderung gibt. Gerade diese Entwicklung
macht sehr deutlich, dass Prävention immer wieder neu
ansetzen muss, immer wieder neue Gruppen und nach-
wachsende Generationen erreichen muss. Darauf müs-
sen wir unsere Arbeit ausrichten.
Zweitens haben wir die Entwicklung – das wurde
schon angesprochen –, dass Infektionen auf entsprechen-
den Partys bzw. Veranstaltungen, die im Internet angebo-
ten werden, bewusst in Kauf genommen werden. Hinter
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In diesem Zusammenhang möchte ich auf die For-
schungsförderung des Bundes hinweisen, auf die auch
im Antrag der Koalitionsfraktionen eingegangen wird.
Zum einen geht es um Grundlagenforschung, zum ande-
ren aber um die Frage der Anwendungsforschung. Hier
ist insbesondere ein Projekt zu nennen, das vom Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung gefördert wird:
Das Kompetenznetzwerk HIV/Aids hat eine Kohorte
von 14 500 Patienten, die regelmäßig betreut werden,
bei denen geschaut wird, wie deren Entwicklung ver-
läuft, und die entsprechend unterstützt werden. Gemein-
sam müssen wir mit der Wirtschaft, die hier auch in der
Verantwortung steht, und der Wissenschaft schauen, wie
es gelingen kann, dieses Projekt, aus dem auch weltweit
wichtige Erkenntnisse gewonnen werden können, fort-
zuführen.
Die neuen Entwicklungen, die ich gerade genannt
habe, spiegeln sich – es ist schon gesagt worden – in den
auch in Deutschland steigenden Zahlen wider. Das
Ganze befindet sich natürlich noch immer auf einem
niedrigen Niveau; aber jede Zahl ist eine zuviel. Wir hat-
ten im Jahr 2001 etwa 1 500 Neuinfektionen; im Jahr
2006 werden es etwa 2 700 Neuinfektionen sein, was
eine Steigerung von fast zwei Dritteln innerhalb kürzes-
ter Zeit bedeutet. Wenn wir uns dieser Herausforderung
nicht stellen würden – was wir unter anderem durch eine
Erhöhung der Mittel in dem Bereich um immerhin ein
Drittel tun –, würde sich diese Dynamik fortsetzen und
dann kämen noch ganz andere Dimensionen auf uns zu.
Deswegen ist es richtig, früh darüber zu reden und die-
sen neuen Entwicklungen angemessen zu begegnen.
Hinsichtlich der Entwicklung der Präventionsarbeit
und der Frage, was zu tun ist, nehme ich alle in die Ver-
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Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
ollegen Volker Beck.
Herr Kollege, Sie haben gesagt, es gehe nicht um eine
riminalisierung. Gleichzeitig spricht die Koalition in
hrem Antrag von einem Prüfauftrag für strafrechtliche
egelungen in dem Kontext von Bareback-Partys und
areback-Profilen im Internet. Ich glaube, der Erfolg der
eutschen Aidspräventionspolitik in der Vergangenheit –
orhin ist der Name Rita Süssmuth genannt worden –
ag gerade darin, dass wir auf Aufklärung, Information
nd das verantwortliche Handeln der Bürgerinnen und
ürger in unserem Lande gesetzt haben. Darauf sollten
ir weiter setzen.
Wir haben gegenwärtig beim Thema Aufklärung und
nformation natürlich Defizite. Wir haben in der Aids-
rävention nicht nachvollzogen, was für die sexuelle
ontaktaufnahme, gerade in der Gruppe der Homo-
exuellen, heute das Internet bedeutet. Die Kontaktauf-
ahme hat sich von konkreten Bars an Orte in der vir-
uellen Welt verlagert. Die Aidshilfen nutzen noch nicht
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7125
)
)
Volker Beck
die personalkommunikativen Möglichkeiten, die das
Medium Internet bietet.
Wir müssen bei der Aufklärung dem Wandel entspre-
chen. Es hat überhaupt keinen Sinn, dass wir bestimmte
Phänomene durch Kriminalisierung in den Untergrund
treiben und damit den Einfluss auf die Menschen und
den Zugang zu ihnen völlig verlieren.
Herr Kollege, so lange es aus diesem Haus Interven-
tionen gegenüber dem Bundesgesundheitsministerium
und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
gegen die Verbreitung bestimmter Broschüren der Aids-
hilfen, auch über das Internet, gibt, die explizit über se-
xuelle Verhaltensweisen sprechen – die vielleicht nicht
jedem hier im Hause gefallen und nicht dem guten Ge-
schmack entsprechen – und die die Menschen, die das
praktizieren, aufklären, wie sie sich schützen können, so
lange uns der gute Geschmack mehr wert ist als die
Frage, wie die Menschen umfassende Kenntnis darüber
erlangen, wie sie sich schützen können, so lange ist es
heuchlerisch, wenn wir gleichzeitig über Strafrecht re-
den.
Die Koalition hat trotz des positiven Ergebnisses der
Studie über die Heroinabgabe an Schwerstabhängige
nicht den Mut, endlich eine Regelversorgung auf den
Weg zu bringen. Stattdessen lässt sie das Modellpro-
gramm praktisch auslaufen, indem keine Neuzugänge zu
dem Programm mehr möglich sind, obwohl alle Fach-
leute sagen, dieses Programm habe sich bewährt; es
würde denjenigen Menschen, die HIV-positiv sind, hel-
fen, ihre Gesundheit zu stabilisieren, und es würde dieje-
nigen Menschen, die nicht HIV-positiv, aber schwerstab-
hängig sind, davor schützen, sich mit HIV zu infizieren.
Ich finde es daher doppelt heuchlerisch, dass wir in die-
sem Zusammenhang gleichzeitig über das Strafrecht re-
den.
Kollege Spahn.
Herr Kollege Beck, man würde sich wünschen, Ihre
Fraktion hätte Ihnen zu diesem Thema Redezeit zuge-
standen; denn Sie haben im Grunde genommen eine
Rede gehalten, durch die alle Themen in diesem Zusam-
menhang abgedeckt wurden.
Zum Ersten. Wir erkennen in unserem Antrag die er-
folgreiche Präventionsarbeit in Deutschland, die insbe-
sondere von den Aidshilfen seit 25 Jahren geleistet wird,
ausdrücklich an und wollen, dass ihre Arbeit weitergeht.
Das habe ich in meiner Rede klar und deutlich gesagt.
Zum Zweiten. Es geht nicht um die Frage des guten
Geschmacks. Die einzige Broschüre, in der es, soweit
ich weiß, um das ging, worüber Sie geredet haben, ent-
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Ich rede von dem bestehenden regulären Angebot. – Es
ibt Spritzentausch und eine Methadonversorgung auf
inem – richtigerweise – sehr hohen Niveau. Sie tun aber
o, als gäbe es keine Angebote für Schwerstabhängige.
Wir von der Union sagen: Wenn sich einige mit dem
leichen Engagement, mit dem sie für die Abgabe einer
er härtesten Drogen, die es gibt, kämpfen, für die
ethadonabgabe und für den Ausstieg aus der Sucht bei
chwerstabhängigen einsetzen würden,
ann würden wir in diesem Bereich wesentlich mehr er-
eichen können. Das würde ich mir von Ihnen wünschen.
7126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Ich erteile das Wort Kollegin Christel Riemann-
Hanewinckel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Ich bitte jetzt um Aufmerksamkeit für das, was ich
Ihnen sagen möchte.
Ich möchte Sie bitten, mit mir einen Blick auf die
Gruppen weltweit zu werfen, die in einer ganz besonde-
ren Art und Weise von HIV/Aids betroffen sind. Wir ha-
ben viel gehört über das Ausmaß und die Auswirkungen
der Aids-Pandemie. Ich möchte vor allen Dingen Ihren
Blick auf die Kinder und die Jugendlichen lenken. Sie
wissen, dass vor allen Dingen junge Menschen auf die
unterschiedlichste Art und Weise von Aids bedroht sind.
Junge Menschen, die Mutter oder Vater werden wollen
und die für die Kindererziehung einstehen wollen, sind
für die soziale Sicherung und das wirtschaftliche Leben
in ihrem Land und in ihrer Gesellschaft unentbehrlich.
Wir haben schon gehört, dass die Frauen überdurch-
schnittlich stark betroffen sind – und das nicht nur in
Afrika, sondern auch in Osteuropa und in Zentralasien.
Immer wieder sind sehr junge Frauen und sogar Mäd-
chen entweder durch bestimmte Sexpraktiken oder auch
dadurch, dass ihnen Gewalt angetan wird, massiv von
Aids betroffen.
Wir verfügen inzwischen über ziemlich genaue Zah-
len; sie sind dramatisch. Es gibt inzwischen weltweit
14 Millionen verwaiste Kinder, deren Vater oder Mutter
– oder beide Elternteile – an Aids gestorben sind. Diese
Zahl übersteigt die Zahl der Kinder und Jugendlichen in
Deutschland um 2 Millionen. Was das bedeutet, kennen
wir aus verschiedenen Sendungen im Fernsehen und Be-
richten in Zeitungen.
Ich finde es in der heutigen Debatte besonders wich-
tig, auf die Gruppe aufmerksam zu machen, die zum Teil
noch nicht aidsinfiziert ist, und zu sehen, was das für un-
sere Arbeit bedeutet. Denn auf Kinder und Jugendliche
kommt nicht nur eine mögliche Aids/HIV-Infizierung
zu. Sie werden vielmehr doppelt und dreifach eingeengt.
Armut, Hunger, Gewalt, Stigmatisierung und Aids be-
günstigen sich in diesen Ländern immer gegenseitig.
Kinder und Jugendliche, denen die Eltern, Verwandte,
Lehrerinnen und Lehrer sowie Ärztinnen und Ärzte und
andere Personen im medizinischen Bereich einfach weg-
sterben, verlieren jegliche Zukunft und jede Lebens-
perspektive. Sie werden ausgegrenzt; sie können oft
nicht zur Schule gehen. Sie müssen Verantwortung über-
nehmen, der sie oft überhaupt noch nicht gewachsen
sind, indem sie ihre Geschwister großziehen. Ihnen droht
Kinderarbeit, weiterhin sexuelle Ausbeutung und dann
auch immer wieder die HIV-Infektion.
Wenn wir Politikerinnen und Politiker heute in
Deutschland über dieses Thema reden, dann ist es mir
besonders wichtig, dass wir diese Kinder, obwohl sie
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Bei allen Maßnahmen, die wir ergreifen, und bei allen
erpflichtungen, die wir international eingehen und ein-
egangen sind, muss dieser Zusammenhang aus meiner
icht immer wieder im Mittelpunkt stehen. Schätzungen
ufolge wird die Zahl der Aidswaisen bis zum Jahre
025 auf rund 25 Millionen ansteigen. Wenn wir es so
eit kommen lassen, dann haben wir kaum noch Chan-
en, wirklich etwas zu tun. Deshalb ist es jetzt an der
eit und notwendig, mit entsprechenden Projekten, Pro-
rammen und Überlegungen einzusteigen.
Das heißt im Moment, dass wir Verwandte und Fami-
ien, vor allem aber auch die Großmütter, die Aidswai-
en aufgenommen haben bzw. für sie sorgen, stärken
üssen. Wir müssen für einen universellen Zugang zu
flege, Behandlung und Medikamenten sorgen, um die
ebenserwartung erkrankter Eltern zu verlängern. Wir
üssen vor allen Dingen auch darauf drängen, dass,
enn es um infizierte Kinder geht, endlich kindgerechte
idsmedikamente entwickelt bzw. die Medikamente, die
ir jetzt haben, entsprechend weiterentwickelt werden.
ie Kinder, die für andere Kinder sorgen müssen – das
st der wichtigste Punkt –, haben in der Regel kein Geld
ur Verfügung. Deshalb müssen diese Medikamente für
inder zu angemessenen Preisen abgegeben werden. Da
ind dann wirklich alle gefragt.
Jungen und Mädchen muss der Schulbesuch ermög-
icht werden und es muss altersgerecht über HIV/Aids
ufgeklärt werden. Bis heute haben zwei Drittel aller Ju-
endlichen in den so genannten Entwicklungsländern
ein Wissen darüber, wie sie sich vor Aids schützen kön-
en.
ädchen und Frauen muss ihr Recht auf sexuelle
elbstbestimmung vermittelt werden; das haben die
ollegin Pfeiffer und andere sehr deutlich ausgeführt.
ie brauchen politische Teilhabe, um mitentscheiden zu
önnen, wie es in der Prävention und der Begleitung de-
er, die betroffen sind, weitergehen kann.
owohl Männer als auch Frauen brauchen Zugang zu
erhütungsmitteln, zu Diensten der Familienplanung
nd der Schwangerschaftsvorsorge sowie zu Präventions-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7127
)
)
Christel Riemann-Hanewinckel
maßnahmen zur Verhinderung von Mutter-Kind-Über-
tragungen.
Die Regierungen der betroffenen Länder brauchen
Unterstützung, um ihre Verantwortung im Kampf gegen
Aids wahrnehmen zu können. Wir haben aber schon
weltweite Vereinbarungen, die vor allem Kinder und Ju-
gendliche schützen sollen. Ich erinnere an die UN-Kin-
derrechtskonvention, die auch Deutschland unterzeich-
net hat. Diese Konvention schreibt fest, dass Kinder
Rechte haben und nicht bloß Adressaten von Hilfeleis-
tungen sind.
Mehr als die Hälfte der 40 in dieser Konvention for-
mulierten Kinderrechte werden durch die Auswirkungen
der Epidemie mit Millionen von Aidswaisen ganz unmit-
telbar verletzt. Wenn wir uns auf diese Rechte beziehen
und international entsprechend handeln, dann setzen wir
nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention um, sondern
lassen den betroffenen Kindern und Jugendlichen welt-
weit das zukommen, was ihnen zusteht: nicht nur Kin-
derrechte, sondern vor allem das Recht auf Leben.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3610, 16/3615, 16/3097 und 16/3616
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 27 e: Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/2364
zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Den
Südsudan beim Wiederaufbau unterstützen und vor
AIDS bewahren“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 16/586 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der
Linksfraktion und der Grünen gegen die Stimmen der
FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und b sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
28 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Forderungen an die deutsche EU-Ratspräsi-
dentschaft – Ratspräsidentschaft für eine
zukunftsfähige EU nutzen
– Drucksache 16/3327 –
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Königshaus, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007 zur
Reform der Entwicklungszusammenarbeit der
Europäischen Union nutzen
– Drucksache 16/2833 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
P 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen,
Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Justizpolitische Agenda für die deutsche EU-
Ratspräsidentschaft 2007
– Drucksache 16/3622 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
ussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
raktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
rhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
eschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
ainder Steenblock, Fraktion des Bündnisses 90/Die
rünen, das Wort.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
nd Kollegen! Die Bundesregierung hat gestern Mittag
hr Programm für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft
eröffentlicht. Die vorliegenden Anträge bieten eine
ute Gelegenheit, darüber zu diskutieren.
Die bündnisgrüne Fraktion hat diesem Haus einen
ehr umfassenden Antrag zur Beratung vorgelegt, der
ie Anforderungen enthält, die nach unserer Auffassung
rfüllt sein müssen, um die EU-Ratspräsidentschaft er-
olgreich gestalten zu können. Es ist ein bisschen traurig,
ass der Zeitplan, den die Regierung gesetzt hat, dazu
ührt, dass wir in diesem Hause, im deutschen Parla-
ent, in den Ausschüssen und im Plenum, im Grunde
icht genug Zeit haben, um die EU-Ratspräsidentschaft
uch von der Seite des Parlaments her vorzubereiten.
as bedauern wir sehr. Wir finden das gerade vor dem
intergrund der Vereinbarung zwischen Bundestag und
undesregierung kontraproduktiv, in der man sich da-
7128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
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Rainder Steenblock
rauf verständigt hat, dass man während der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft die Frage klären will, wie man
in Europa zu einer besseren Kooperation kommen kann.
Lassen Sie mich zu den Inhalten kommen – es sind
vier Punkte –, die für uns wichtig sind:
Der erste, historisch vielleicht wichtigste Punkt ist,
dass die Bundesregierung während ihrer Präsidentschaft
einen Ausweg aus der Verfassungskrise weisen muss.
Wir stehen vor dieser Verantwortung. Es zeichnet sich
ab, dass die Bundesregierung den Weg der Geheimdiplo-
matie beschreitet und der Öffentlichkeit und dem Parla-
ment keine Auseinandersetzung über die Verfassung und
über die Möglichkeiten, wie wir aus dieser Krise heraus-
kommen können, anbieten will. Ich will hier sehr deut-
lich sagen, dass ich das für falsch halte.
Europa braucht mehr Öffentlichkeit und mehr Trans-
parenz. Wenn wir die Bürgerinnen und Bürger mitneh-
men wollen, müssen wir mit ihnen diskutieren und nicht
hinter verschlossenen Türen Lösungen erarbeiten, von
denen wir glauben, dass sie gut sind. Wenn wir die Kom-
munikation mit den Bürgern nicht schaffen, dann wird
dieser Weg – genau wie Nizza – scheitern. Deshalb ap-
pellieren wir an die Bundesregierung, sich zu öffnen und
eine öffentliche und transparente Debatte über die euro-
päische Verfassung in diesem Lande zu führen.
Der zweite für uns zentrale Punkt ist, dass Europa vor
dem Hintergrund des Klimawandels – er ist unbestritten
und wir erhalten jeden Tag dramatische neue Meldungen
dazu – dringend eine nachhaltige Energie- und Klima-
politik braucht. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ist
gefordert, hier voranzugehen. Wir stellen fest, dass in
dem Programm zur EU-Ratspräsidentschaft wichtige
Punkte angesprochen sind. Aber es reicht nicht aus, zu
den notwendigen, zentralen Punkten zu sagen, dass sie
wichtig sind. Wenn man fragt, wie es umgesetzt werden
soll, erhält man die Antwort: Das ist wichtig. Wir brau-
chen konkrete und ambitionierte, aber auch verbindliche
Ziele hinsichtlich der erneuerbaren Energien. Wir brau-
chen innerhalb der EU, wenn sie Vorreiter für den Kli-
maschutz sein soll – das unterstützen wir alle –, die Ver-
pflichtung, bis 2020 30 Prozent der Treibhausgase
einzusparen. Solche zentralen Ziele sind wichtig.
Es ist doch absurd, dass der Luftverkehr, der Klima-
schädling Nummer eins unter den Verkehrsmitteln, im-
mer noch steuerlich hoch subventioniert wird. Wir brau-
chen die Einbeziehung des Luftverkehrs in Kioto II, in
den Emissionshandel. Auch das ist ein wichtiges ener-
giepolitisches Ziel.
Wir brauchen Wettbewerb. Wir alle im deutschen
Parlament reden immer von Wettbewerb. Wenn wir uns
die Energiemärkte ansehen, erkennen wir, dass wir im
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Ja, das machen wir gerne.
Der dritte Punkt ist die Außen- und Sicherheitspoli-
ik. Nach den jüngsten Waffenstillstandsabkommen und
ereinbarungen ist es gerade für Nahost wichtig, dass
ie deutsche Bundesregierung ihre Verantwortung und
ie historischen Chancen nutzt, um die Roadmap neu zu
eleben. Deshalb glauben wir, dass der Bereich Nahost
ine der großen Herausforderungen ist.
Die zweite ist sicherlich die Ostpolitik. Hier brauchen
ir eine kohärente Politik. Wir brauchen eine Zentral-
sienstrategie und auch Verhandlungen mit Russland.
ußerdem brauchen wir die Schwarzmeerkooperation.
ie Länder von der Ukraine über den südlichen Kauka-
us bis Aserbaidschan müssen in das Konzept der drei
äume der neuen Ostpolitik integriert werden. Wir sa-
en auch: Es geht nicht nur um wirtschaftliche Interes-
en. Wenn man über diese Regionen spricht und mit ih-
en Nachbarschaftsassoziationsabkommen abschließen
ill, dann stehen für uns Fragen zu Demokratie und
enschenrechten genauso im Vordergrund wie die wirt-
chaftliche Kooperation.
Der vierte Punkt. Wir brauchen angesichts des Flücht-
ingsdramas an den Südgrenzen der EU eine verantwor-
ungsvolle europäische Migrations- und Asylpolitik.
ass im Atlantik und im Mittelmeer Hunderte von Men-
chen beim Versuch, nach Europa zu kommen, ertrinken,
ann nicht hingenommen werden. Wir brauchen kon-
rete Lösungen für dieses Problem. Dafür muss die Bun-
esregierung Verantwortung übernehmen.
Wir unterstützen die Bundesregierung sehr, wenn es
arum geht, konkrete Ziele für die weitere Integration
uropas zu erreichen. Aber wir brauchen die Bundes-
egierung nicht – so stellt es sich hier dar – als zögerli-
hen Moderator eines Integrationsprozesses, sondern wir
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7129
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Rainder Steenblock
brauchen eine kraftvolle Präsidentschaft mit konkreten
Zielen. Die Bürgerinnen und Bürger in Europa wollen,
dass man ihnen diesen Weg weist. Sie wollen an dieser
Diskussion beteiligt werden.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit deutlich über-
zogen.
Ich komme zu meinem letzten Satz. – Ich glaube, un-
sere einzige Chance, die Menschen zurückzugewinnen,
besteht darin, konkrete Wege aufzeigen und keine allge-
meinen Wolkenkuckucksheime zu beschreiben.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Steffen Reiche, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Selten ist eine EU-Ratspräsidentschaft so gut vorbereitet
worden
und selten gab es zugleich so hohe Erwartungen. Das
zeigt zweierlei: das Vertrauen in Deutschland und die
Tiefe der Krise der Europäischen Union. Die Europäi-
sche Union ist nicht so weit, wie sie sein könnte und sein
müsste, um die Interessen der Europäer zu vertreten, ih-
ren Wohlstand zu gewährleisten und ihn für die Zukunft
zu sichern. Gäbe es auf europäischer Ebene und weltweit
weniger Probleme, dann könnten wir uns gewiss weni-
ger Europa leisten. Da die Herausforderungen aber sehr
groß sind, brauchen wir mehr Europa, als wir zurzeit ha-
ben.
Ich bin dankbar dafür und habe großen Respekt da-
vor, dass die deutsche Regierung schon jetzt klar sagt,
dass sie die Verfassung befürwortet, und dass sie Vor-
schläge erarbeitet hat, wie sie auf den Weg gebracht wer-
den kann.
Lieber Kollege Steenblock, Sie wissen doch: Wenn man
diese Vorschläge jetzt an die Öffentlichkeit bringen
würde, dann würden sie zerredet. Es geht darum, sie mit
den Regierungen der anderen Länder abzustimmen, da-
mit sie dieser Roadmap im nächsten Halbjahr zustimmen
und sie mittragen.
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eider ist das Projekt der Europäischen Verteidigungs-
nion im Jahre 1954 gescheitert. Im Rahmen der EU-
atspräsidentschaft haben wir jetzt, wie ich denke, die
eit und die Möglichkeit, das Angebot zu machen,
chritte in Richtung größerer militärischer Integration
u gehen, mit dem Ziel, die einzelnen nationalen Ar-
een durch eine europäische Armee zu ersetzen, über
eren Einsatz natürlich das Europäische Parlament zu
ntscheiden hätte.
7130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Steffen Reiche
Aufgrund der neuen Struktur würde sich dann auch die
Diskussion über die Wehrpflicht, die, wie ich finde, von
vielen falsch angegangen wird, erübrigen.
Wenn man das Memorandum des belgischen Minis-
terpräsidenten Guy Verhofstadt liest, stellt man fest, dass
dieser Vorschlag schon von verschiedenen Regierungen
gemacht worden ist. Einer seiner sechs Vorschläge zielt
ganz zentral auf dieses Thema.
Es hat lange gedauert, bis in Europa eine gemeinsame
Währung eingeführt wurde. Die Währungsfrage gehört
nun wirklich zum Kernbestand der Rechte der Nationen.
Es dauerte von Willy Brandts Vorschlag im Jahre 1970
bis zum Jahr 2002. Erst dann wurde der Euro eingeführt.
Wir könnten auf einem solchen Weg viel Geld sparen
oder mit dem gleichen Geld mehr Sicherheit für uns und
andere erlangen. Deshalb sollte auch über diese Frage
während unserer EU-Ratspräsidentschaft geredet wer-
den.
Europa ist auch, ja vor allem Kultur. Das ist die Seele
Europas. Doch diese Seele muss auch leben. Die Begeis-
terung für Europa ist außerhalb Europas oft größer als
bei uns. Deshalb brauchen wir eine bessere Präsentation
Europas auf den anderen Erdteilen. Diese sollte nicht
durch nationale Kulturinstitute, sondern durch europäi-
sche Erasmus-Institute, die die Kulturen Europas in der
Welt präsentieren, erfolgen.
Unsere Verantwortung in der und für die Welt können
wir als weltweit größter Entwicklungshilfegeber besser
wahrnehmen, wenn wir die Erfahrungen Europas aus
zwei Weltkriegen und einem Marshallplan zur Entwick-
lung umsetzen, also tun, was Radermacher mit seiner
„Global Marshall Plan Initiative“ seit Jahren vorschlägt:
Schritte zu mehr Integration gehen. Vielleicht gibt es
auch in dieser Richtung Anregungen vonseiten der deut-
schen EU-Ratspräsidentschaft.
Ich hoffe und wünsche – und glaube auch –, lieber
Herr Steenblock, dass wir eine starke, kraftvolle deut-
sche EU-Ratspräsidentschaft und im Ausschuss eine
gute Begleitung haben werden.
Ich wünsche uns jetzt einen frohen ersten Advent!
Ich erteile das Wort Kollegen Hellmut Königshaus,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte für die FDP-Fraktion der Bundesregierung und
der Bundeskanzlerin eine glückliche Hand bei der EU-
Ratspräsidentschaft wünschen.
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enn große Aufgaben stehen ihr bevor und es gibt große
rwartungen. Herr Reiche, Sie haben angekündigt, dass
rgendwann noch Vorschläge kommen werden. Das ist
icht ganz so schön. Wir hoffen, dass wir mit unseren
andreichungen, mit unseren Anträgen ein bisschen be-
ilflich sind. Unser Vorgehen ist schon etwas konkreter
ls das, was Sie hier angekündigt haben und was wir von
er Bundesregierung bisher gehört haben.
Der Antrag der Grünen ist leider keine Hilfe. Allein
hn zu lesen, dauert schon relativ lang. Herr Steenblock
at ihn euphemistisch als „sehr umfassend“ bezeichnet.
eshalb bin ich sehr froh, dass ihm von vornherein eine
inute mehr Redezeit zuerkannt wurde, als ihm eigent-
ich zustand, damit er ihn erklären konnte. Jetzt haben
ir wenigstens etwas zu einigen Schwerpunkten gehört.
nsonsten war es nur ein Griff in den Wühltisch von Be-
indlichkeiten.
Die Anträge der FDP zeigen konkrete Problem- und
andlungsfelder auf. Ich denke, das wird hier hilfreich
ein. Das gilt speziell für die justizpolitische Agenda.
ie Kriminalitätsbekämpfung kann in Zukunft nicht
ie bisher nationalstaatlich angegangen werden. Wir ha-
en durch den Wegfall der Grenzen eine Bewegungsfrei-
eit der Kriminellen. Dieser haben wir noch nicht in
ngemessenem Umfang eine Bewegungsfreiheit der Kri-
inalitätsbekämpfung entgegengesetzt. Europäischer
aftbefehl und Europäische Staatsanwaltschaft sind die
tichworte. Wir müssen dabei darauf achten, dass wir
uch die Rechte der Beschuldigten auf dem gebotenen,
ewohnt hohen Niveau gewährleisten. Wir müssen ferner
icherstellen – leider ist das nicht selbstverständlich –,
ass auch im Zeichen des internationalen Terrorismus
ie Strafverfolgung im europäischen Rahmen Aufgabe
er Justiz und der von ihr kontrollierten Polizei bleibt
nd nicht zur Aufgabe der Geheimdienste und anderer
rganisationen wird.
Ein zweiter wichtiger und drängender Punkt bleibt die
eform der europäischen Entwicklungspolitik. Hier
aben wir die größte Chance, etwas zu verändern, und
ier besteht auch großer Bedarf; darüber haben wir oft
esprochen. Die Entwicklungspolitik braucht eine kla-
ere Zielbestimmung, als wir sie heute haben. Die euro-
äische Entwicklungszusammenarbeit muss ihre Rolle
nnerhalb der verschiedenen bilateralen Aktivitäten der
itgliedstaaten finden.
Der Europäischen Union steht für die Entwicklungs-
usammenarbeit der unbegreifliche Betrag in Höhe von
2 Milliarden Euro zur Verfügung, eine Summe, die man
ich kaum vorstellen kann. Nach unserem Eindruck – ich
laube, man kann das auch belegen – wird dieser Betrag
orrangig nach bisherigem Muster verteilt, nach Ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7131
)
)
Hellmut Königshaus
sichtspunkten der Besitzstandswahrung und konflikt-
scheu gegenüber denen, die davon traditionell profitie-
ren. Das muss aufhören. Ich glaube, durch die
Präsidentschaft haben wir die Möglichkeit, entspre-
chende Weichenstellungen vorzunehmen.
Ich will einige Beispiele nennen: Der Europäische
Entwicklungsfonds, über den wir schon mehrfach ge-
sprochen haben, muss in den EU-Haushalt integriert und
damit der parlamentarischen Kontrolle des Europäi-
schen Parlaments unterstellt werden.
Trotz verschiedener Gegenargumente – teilweise Schein-
argumente – wie unterschiedliche Beitragsbemessungen
und Ähnliches müssen wir die parlamentarische Kon-
trolle sicherstellen; denn es ist das Geld des Steuerzah-
lers.
Allein dafür zahlen wir in Zukunft über 700 Millio-
nen Euro pro Jahr. Wie gesagt: Über die Vergabe wird
nicht im Europäischen Parlament, sondern in Gremien
entschieden, wo wir kaum wirkliche Kontroll- und Ein-
flussmöglichkeiten haben. Wir haben festgestellt, dass
das BMZ wechselnde Vertreter aus seinem Fachreferat
– also aus einer unteren Fachebene – in diese Entschei-
dungsgremien entsendet. Das reicht bei einem solchen
Betrag nicht. Mitwirkung und Kontrolle müssen wieder
die Rolle spielen, die sie immer dann spielen müssen,
wenn mit dem Geld der Steuerzahler umgegangen wird.
Es ist somit auch kein Wunder, dass auf diesem Weg
auch Entwicklungsmaßnahmen in den überseeischen
Ländern und Gebieten, also die territorialen Besitztümer
der EU-Mitgliedstaaten, mitfinanziert werden. EU-Kom-
missar Louis Michel, der kürzlich im AwZ-Ausschuss
darüber gesprochen hat, hat dies völlig zu Recht verur-
teilt. Er sagte aber: Solange das politisch so beschlossen
ist, kann das nicht geändert werden. – Wir müssen poli-
tisch beschließen, dass wir das ändern.
Wir haben in diesem Bereich auch kein Problembe-
wusstsein, weil alles unter das Primat der ODA-Quote
gestellt wird. Nach meinem Eindruck ist es im Wesentli-
chen egal, was mit abfließendem Geld wirklich ge-
schieht, solange das ODA-anrechnungsfähig ist. Das
kann aber nicht der Sinn sein. So kann man mit dem
Geld des Steuerzahlers nicht umgehen.
Das Problembewusstsein, das hier besteht, konnten
wir kürzlich erkennen, als ein leitender Mitarbeiter aus
dem BMZ sagte: Was regen Sie sich eigentlich darüber
auf? Es geht hier doch schließlich nur um 300 Millionen
Euro für diese überseeischen Gebiete. – Diese Grundhal-
tung müssen wir brechen und beseitigen. So geht das
nicht.
– Das sage ich nachher.
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ier ist jedoch Realismus gefordert; denn die Ratspräsi-
entschaft dauert keine sechs Jahre, sondern lediglich
echs Monate.
In enger Abstimmung mit den nachpräsidierenden
ändern Portugal und Slowenien hat die Bundesregie-
7132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
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Gunther Krichbaum
rung hier die Schwerpunkte definiert und benannt. Ich
denke, wir sollten an dieser Stelle der finnischen Rats-
präsidentschaft Dank aussprechen, die sehr engagiert
gearbeitet hat und insbesondere im Bereich der Nachbar-
schaftspolitik und in der Politik für die nördliche Dimen-
sion eigene Akzente setzen konnte. Wir werden am
1. Januar den Staffelstab übernehmen.
Lassen Sie mich einige Aspekte der deutschen Rats-
präsidentschaft näher beleuchten. Ich halte es für eines
der wichtigsten Ziele, dass wir die europäische Verfas-
sung voranbringen. Sie muss gefördert werden; denn sie
ist letztlich die Gebrauchsanweisung für Europa, die wir
dringend benötigen.
Die alten Strukturen des Europa der Zwölf bieten uns
keine Antworten für ein Europa der 27 bzw. – wenn es
zu einem Beitritt Kroatiens und anderer Staaten kommt –
der 28 oder mehr. Deswegen brauchen wir eine vernünf-
tige Handlungsgrundlage. Notwendig sind die Neuord-
nung der Institutionen und vor allem klare Kompetenz-
abgrenzungen. Wie das Ganze letztlich genannt wird
– ob Vertrag, Verfassung oder Gesetz –, ist zweitrangig.
Es geht vor allem darum, dass wir einen entscheidenden
Schritt nach vorne kommen.
Ich kann Ihnen in keiner Weise beipflichten, Herr
Kollege Steenblock, wenn Sie sagen, es finde keine
öffentliche Auseinandersetzung über die europäische
Verfassung statt.
Wir bekommen als Abgeordnete zu keinem anderen
Thema mehr Informationen und Positionspapiere von
Verbänden, Bürgern und anderen zugeschickt. Es läuft
doch bereits eine rege öffentliche Diskussion.
Wer hier so auf die Bundesregierung schaut, der muss
– damit hat der Kollege Steffen Reiche völlig Recht –
auch berücksichtigen, dass wir letztlich alle mit ins Boot
bekommen müssen. Es reicht nun einmal nicht, wenn
nur 18 Mitgliedstaaten den Vertrag ratifiziert haben – ei-
nige von ihnen durch Volksabstimmung –; letztlich müs-
sen alle dem Vertrag zustimmen. Eventuell müssen noch
hier und da Kompromisse gefunden werden, aber mit der
europäischen Verfassung – ich denke, darin sind sich zu-
mindest die großen Parteien einig – ist im Grunde schon
ein Kompromiss gefunden worden.
Wir brauchen Akzente für die Wirtschaft und die so-
ziale, aber auch ökologische Zukunft. Auch das wurde
völlig zu Recht festgestellt. Ein Schlagwort ist allerdings
wieder etwas in den Hintergrund getreten, und zwar die
Lissabonstrategie. Hier müssen im Rahmen der EU-
Ratspräsidentschaft wichtige Akzente gesetzt werden. In
diesem Zusammenhang besteht Handlungsbedarf.
Die Ziele sind ehrgeizig; es gibt kein Wenn und Aber.
Ich denke, wir müssen mit Maßnahmen zugunsten einer
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as erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns. Des-
egen muss die polizeiliche Zusammenarbeit verstärkt
nd illegaler Migration wirksam begegnet werden. Zu-
em muss die Rechtssicherheit der Bürgerinnen und
ürger weiter verbessert werden.
Lassen Sie mich abschließend auf einen zentralen
unkt zu sprechen kommen, und zwar die Außen- und
icherheitspolitik. Auch hierbei geht es um verschie-
ene Aspekte. Bei der Entwicklung auf dem westlichen
alkan ist es leider zu Stillständen gekommen. Ich
enke zum Beispiel an den Stillstand beim Reformpro-
ess in Bosnien-Herzegowina. Hier brauchen wir drin-
end neue Impulse. Diese Länder brauchen unsere Un-
erstützung. Sie werden es nicht alleine schaffen. Die
ooperation Serbiens mit dem Internationalen Strafge-
ichtshof muss weiterhin angemahnt werden, damit wir
uch hier im Rahmen der Stabilisierungs- und Assoziie-
ungsabkommen weiterkommen.
Das neue Partnerschafts- und Kooperationsabkom-
en mit Russland wurde schon angesprochen. Auch in
iesem Zusammenhang stehen bekanntlich zurzeit sehr
chwierige Verhandlungen an. Allerdings – ich denke,
ass wir hier mit einer Stimme sprechen können – ist es
rforderlich, dass wir Solidarität mit Polen üben und im
tillen auf Polen einwirken und uns um Kompromisse
emühen. Aber wir dürfen auch nicht zulassen, dass
ussland die Europäische Union mit verschiedenen bila-
eralen Abkommen diversifiziert. Wir wollen keine Auf-
plitterung. Die Europäische Union muss im eigenen In-
eresse mit einer Stimme sprechen.
Herr Kollege Tauss, ich widerspreche an dieser Stelle
icht. Wie ich bereits sagte, müssen wir auch auf unsere
olnischen Freunde und Partner einwirken; denn letzt-
ich muss man sich fragen, welcher Grund eine Verschie-
ung des gesamten Prozesses rechtfertigt. Hier bin ich
it Ihnen sicherlich völlig einer Meinung.
Wir brauchen eine Neuausrichtung der europäischen
achbarschaftspolitik. Ich denke hier insbesondere an
nsere östlichen Nachbarländer. Die Grenzen werden
ich nach dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien ver-
ndern. Damit meine ich auch Länder, die manchmal ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7133
)
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Gunther Krichbaum
wissermaßen im Schatten der öffentlichen Diskussion
stehen, wie die Republik Moldau. Solche kleineren Län-
der brauchen unsere Unterstützung und Solidarität.
Am 1. Januar 2007 wird die EU um Bulgarien und
Rumänien erweitert. Diese weitere Erweiterungsrunde
ist – ich darf wohl sagen, dass wir uns darüber freuen –
sicherlich erforderlich. Aber wir müssen darauf achten,
dass die Standards eingehalten werden. Wir haben be-
reits in der letzten europapolitischen Debatte gefordert,
dass die Schutzklauseln in den Bereichen konsequent
greifen, in denen die Voraussetzungen nicht erfüllt wer-
den; das erwarten wir.
Die Schutzklauseln müssen mit dem 1. Januar 2007 wir-
ken; denn es gibt noch immer bestimmte Defizite im
Justizbereich der Beitrittsländer. Man muss sich fragen,
was tatsächlich passieren muss, damit die Schutzklau-
seln greifen. Wir dürfen vor diesem Hintergrund nicht
zulassen, dass deutsche Staatsbürger – wenn auch nur
theoretisch für eine juristische Sekunde – nach Bulgarien
ausgeliefert werden. Hier müssen wir um der Glaubwür-
digkeit der Europäischen Union willen konsequenter
auftreten. Ich glaube, dass das verstanden wird. Das ist
auch im Hinblick auf den Fortgang der Türkeidebatte
wichtig. Die CDU/CSU ist der Auffassung, dass wir hier
eine Atempause brauchen, wenn sich abzeichnet – so
sieht es im Augenblick aus –, dass das Ankaraprotokoll
nicht implementiert wird.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Die deutsche
Ratspräsidentschaft bietet die große Chance, die Akzep-
tanz der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Euro-
päischen Union zu fördern. Wir unterstützen die Bundes-
regierung in ihren Bemühungen. Wir haben gerade vor
dem Hintergrund des markanten Datums „50 Jahre
Römische Verträge“ die Chance, die Europäische
Union und ihre Bedeutung nach vorne zu bringen. Sie
war in den letzten 50 Jahren ein Garant für Demokratie,
Friedenssicherung, Wohlstand, Freiheit und Recht.
Wenn ich sehe, was in den letzten 50 Jahren gelungen
ist, dann ist mir vor den Fragen der Zukunft, insbeson-
dere vor der Globalisierung, nicht bange. Hierauf ist die
Europäische Union, ein integriertes Europa, die beste
und glaubwürdigste Antwort.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Kollegen Alexander Ulrich, Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
werden uns in der nächsten Sitzungswoche nochmals in-
tensiv mit Europa und der deutschen Ratspräsidentschaft
befassen. Aber die Grünen brauchten heute 30 Minuten
zum Warmlaufen. Wir wollen es ihnen gönnen.
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7134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
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Alexander Ulrich
Wer in seiner Regierungszeit völkerrechtswidrige Kriege
und einen Sozialabbau in einem bisher nicht gekannten
Ausmaß mitverantwortete, macht sich unglaubwürdig,
wenn er von einer friedlichen und sozialen Union schwa-
droniert.
Den Antrag der Grünen könnte man als Antrag auf Auf-
nahme in die große Koalition verstehen. Ich gehe aber
davon aus, dass weder die SPD noch die CDU/CSU die
Koalition um die Grünen erweitern möchten. Wir, die
Linke, wollen keinen weiteren Ausbau der militäri-
schen Strukturen in Europa, wie es die Grünen wollen,
sondern wir wollen die zunehmende Militarisierung Eu-
ropas stoppen. Wir fordern deshalb die Abschaffung der
schnellen Eingreiftruppe und der Battlegroups mit dem
Ziel, auf eine strukturelle Nichtangriffsfähigkeit der EU
hinzuwirken.
Die Grünen sind von Ihrem Anspruch, eine Friedenspar-
tei zu sein, weit abgekommen, wie dieser Antrag be-
weist.
Wir haben gestern die Chance gehabt, im Europaaus-
schuss mit dem Kommissionspräsidenten Barroso zu
diskutieren. Was er zur EU-Verfassung gesagt hat, war
mehr als enttäuschend. Wenn Herr Krichbaum und Herr
Reiche sagen, es sei Ausdruck der Zurückhaltung der
Diplomatie, jetzt keine Vorschläge zu machen, ist das
nur das Eingeständnis, dass man keine Vorstellungen
hat, wie die EU-Verfassung zu retten ist. Das ist ein Ar-
mutszeugnis für die deutsche Bundesregierung.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Wodarg,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte die Bundesregierung dazu beglückwünschen,
dass sie eine klare Zielvorstellung formuliert hat und
dass sie sehr wohl weiß, welche Ziele sie auch in Bezug
auf die europäische Verfassung verfolgen wird. Ich
denke, wir sind verpflichtet, das Mögliche so schnell wie
möglich anzugehen.
Es ist richtig, dass die Bevölkerung in Europa mehr als
Wirtschafts- und Handelsregelungen erwartet. Es gibt ei-
nen Konflikt zwischen Handelsregelungen und zum Bei-
spiel ethischen Werten in der Politik und der Entwick-
lungspolitik.
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ir wissen, dass wir hier etwas ändern müssen. Das
eiß die Bundesregierung auch. Ich freue mich sehr,
ass sie ausdrücklich in ihr Programm geschrieben hat,
ass sie in der Wirtschaftspolitik entwicklungspolitische
rioritäten setzen und ihre Verantwortung wahrnehmen
ill.
Ich möchte auf einen Punkt, der mir sehr wichtig ist,
u sprechen kommen. Ich meine den Zugang zu Medi-
amenten. Auch in dieser Hinsicht hat die Europäische
nion eine riesige Verantwortung. Es gibt den Plan
darüber bin ich sehr froh –, die Zeit bis 2016 zu nutzen
nd in den Least Developed Countries, in den am we-
igsten entwickelten Ländern, Medikamente herzustel-
en, die nicht dem Patentschutz – Stichwort TRIPS – un-
erliegen. Auf diese Weise darf man Medikamente
erstellen und die Pharmaindustrie kann das nicht
lockieren. Das ist gut so und das müssen wir nutzen.
ir müssen Länder ausfindig machen, die das können;
ir müssen sie fördern, damit überall Medikamente zur
erfügung stehen.
Wir haben über Aids gesprochen. Nur 1,6 Millionen
enschen bekommen Medikamente, aber 6 Millionen
rauchen Medikamente. Mehr als 4 Millionen Kranke
ekommen sie nicht und sterben – letztlich aus wirt-
chaftlichen Gründen. Ich will Ihnen ein Erlebnis, das
ür mich ein Schlüsselerlebnis war, nicht vorenthalten.
ch war bei der Generalversammlung der Weltgesund-
eitsorganisation in diesem Mai dabei. Da ging es um
ie Vogelgrippe und einen Impfstoff dagegen. Es gab ei-
en Antrag aus Kenia – unterstützt von Thailand –, der
erlangte, dass dieser Impfstoff, wenn er denn herge-
tellt werden könnte, keinen Patentschutz erhalten sollte.
enn wenn die Vogelgrippe tatsächlich käme, wäre es
ine Seuche, die weltweit viele Menschen das Leben
osten würde. Da darf es keine Priorität für Monopole
eben; da darf es keine Blockaden geben. Ein Impfstoff
uss dann schnell von möglichst vielen produziert wer-
en und er muss allen zur Verfügung stehen.
ie Amerikaner saßen am Tisch und haben gesagt: No.
s ist wichtiger, dass das Geschäft läuft und dass unsere
roßen pharmazeutischen Unternehmen ihre Patent-
echte wahrnehmen können, als dass überall in der Welt
mpfstoff hergestellt werden kann. – Das geht nicht; das
önnen wir nicht tolerieren. Das ist Geschäftemachen
it dem Leben Tausender von Menschen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7135
)
)
Dr. Wolfgang Wodarg
Zum Glück laufen jetzt bei der WHO entsprechende
Verhandlungen. Da wird auch die Europäische Union
mit verhandeln. Ich bitte die Bundesregierung, in dem
Sinne, wie ich das hier angedeutet habe, zu verhandeln.
Es ist klar: Erfinder müssen belohnt werden; Forschung
muss sich lohnen. Mit guten Forschungsergebnissen soll
man auch Geld verdienen dürfen. Aber es darf nicht zur
Bildung strategischer Monopole kommen, die dazu füh-
ren, dass Medikamente Menschen vorenthalten werden,
die von diesen Medikamenten abhängig sind und die
ohne sie sterben würden.
Das gilt für Aids; das gilt aber auch für viele Armuts-
krankheiten. Aufgrund der Forschungsförderung über
Patente werden bestimmte Medikamente gar nicht mehr
entwickelt; denn es lohnt sich nicht. Arme Leute können
keine teuren Medikamente kaufen. Allerdings haben
arme Leute andere Krankheiten als reiche Leute. Wenn
wir hier Forschungsförderung betreiben wollen, wenn
wir hier wirtschaftliche Regelungen aufstellen wollen,
wenn wir geistiges Eigentum schützen wollen, dann
müssen wir das so machen, dass auch an diesen Krank-
heiten geforscht wird. Auch dafür haben wir eine große
Verantwortung. Ich freue mich, dass die Erfahrungen aus
der Entwicklungspolitik in unsere Programmatik für die
EU-Ratspräsidentschaft einfließen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/3327, 16/2833 und 16/3622 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und 29 b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und des
Finanzausgleichsgesetzes
– Drucksache 16/3269 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Zweiten Buches Sozialge-
setzbuch und des Finanzausgleichsgesetzes
– Drucksache 16/3572 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
– Drucksache 16/3677 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Karl Schiewerling
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schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 16/3678 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Waltraud Lehn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Heidrun Bluhm, Katrin Kunert, Dr. Gesine
Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Bundesweite Mindeststandards für angemes-
senen Wohnraum und Wohnkosten für Bezie-
herinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II
– Drucksachen 16/3302, 16/3677 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Karl Schiewerling
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat den Ge-
etzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des
weiten Buches Sozialgesetzbuch und des Finanzaus-
leichsgesetzes nicht in seine Beschlussempfehlung mit
inbezogen. Dieser Gesetzentwurf soll heute nicht ab-
chließend beraten werden. – Ich sehe, Sie sind damit
inverstanden. Dann verfahren wir so.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
ussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
einen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und teile mit, dass wegen
es Parteitages der Grünen die Rednerinnen und Redner
hre Reden zu Protokoll geben. Es sind dies: Angelika
rüger-Leißner, SPD-Fraktion, Jörg Rohde, FDP-Frak-
ion, Karl Schiewerling, CDU/CSU-Fraktion, Katja
ipping, Fraktion Die Linke, der Parlamentarische
taatssekretär Franz Thönnes, Markus Kurth für die
raktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Max
traubinger für die CDU/CSU-Fraktion. Damit schließe
ch die Aussprache.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
raktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
esetzentwurf zur Änderung des Zweiten Buches So-
ialgesetzbuch und des Finanzausgleichsgesetzes,
rucksache 16/3269. Der Ausschuss für Arbeit und So-
iales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
ehlung auf Drucksache 16/3677, den Gesetzentwurf in
er Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
ie dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
en wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
en? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit
n zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU
nd SPD bei Ablehnung der Fraktion Die Linke und
Anlage 2
7136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Enthaltung der Fraktionen der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie
zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 b: Beratung der Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 16/3677 zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Bundesweite Mindeststandards für
angemessenen Wohnraum und Wohnkosten für Beziehe-
rinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II“. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung, den Antrag auf Drucksache 16/3302
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, SPD und FDP bei Ablehnung der Fraktion Die
Linke und Stimmenthaltung der Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Joachim Otto , Christoph Waitz, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
National bedeutsames Kulturgut wirksam
schützen
– Drucksache 16/3137 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als letz-
ten Tagesordnungspunkt debattieren wir heute ein
Thema, dessen Bedeutung nicht nur den kulturpoliti-
schen Bereich erfasst und sensibel gehandhabt werden
muss. Die Irritation, ja Empörung über die Umstände des
Verlustes der „Berliner Straßenszene“ von Ernst Ludwig
Kirchner reißen nicht ab. Die Furcht geht um, es könnten
zahlreiche weitere Exponate aus öffentlichen Sammlun-
gen verschwinden.
Lassen Sie mich eingangs eines klarstellen. Die mora-
lische Verpflichtung Deutschlands, ungeachtet aller Ver-
jährungsfristen NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kul-
turgut zu restituieren, darf von niemandem und in keiner
Weise in Zweifel gezogen werden. Wir bekennen uns zu
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Ich erteile das Wort Kollegin Monika Grütters, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Otto, mir drängt sich ein bisschen der Ver-
dacht auf, als wollten Sie auf den letzten Drücker am
Freitag mit Ihrem Antrag noch schnell nicht nur das na-
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ondern ebenso schnell auf den fahrenden Zug der Ko-
lition aufspringen. Gut gemacht, was die Taktik angeht;
eine Frage. Aber viele Ihrer Ideen sind natürlich bereits
ntwickelt worden. Also beraten wir heute in klassischer
ppositionsmanier ein Thema, das von der Bundesregie-
ung und natürlich auch im Parlament – Sie haben selbst
esagt: Die UNESCO-Konvention ist bei uns schon
ange auf der Agenda – sehr wohl bearbeitet wird;
auptsache, wir haben auch hier noch einmal darüber
esprochen.
Sie haben natürlich in einem Recht. Es lohnt sich im-
er, über national bedeutsames Kulturgut zu sprechen,
esonders dann, wenn es bedroht ist oder zumindest be-
roht zu sein scheint. Damit es sich lohnt, Herr Otto, ha-
en Sie ganz viele Aspekte in Ihren Antrag hineinge-
ischt: den Schutz ausländischen nationalen Kulturguts,
en Schutz unseres nationalen Kulturguts und die ak-
uelle Praxis der Restitution von NS-Raubkunst. Den
erkauf von Kulturgütern haben Sie auch noch erwähnt.
ch finde, dass Ihr Gemisch aber manchmal ein wenig
chal schmeckt.
Nun zur Sache, zu den drei Forderungen in Ihrem An-
rag. Sie möchten das Verzeichnis national wertvollen
ulturguts aktualisieren und vervollständigen lassen.
nseres Erachtens ist das Verzeichnis aktuell; denn alle
on den Ländern gemeldeten Eintragungen werden di-
ekt in das Gesamtverzeichnis national wertvollen Kul-
urguts übernommen.
Nein. Vollständigkeit kann nur erlangt werden, wenn
ie Länder auch Kenntnis von dem Kulturgut haben, was
ei Privatbesitz natürlich schwierig ist.
Nein, Auskunftsrechte der Länder gibt es nicht. Auch
ine Offenbarungspflicht der Eigentümer ist mit dem
rundgesetz kaum in Einklang zu bringen.
Außerdem möchten Sie, dass es eine Entschädigung
ür die Wertminderung gibt, die mit der Eintragung in
as Verzeichnis verbunden ist, weil die Verwertungs-
öglichkeiten erschwert würden. Aber das ist kaum
inanzierbar.
Heikler finde ich da schon Ihre Forderung, die Hand-
eichung und die Gemeinsame Erklärung in Bezug auf
estitutionsfragen zu überarbeiten. In der Tat – da haben
ie natürlich Recht – hat die Restitution des Kirchner-
ildes „Berliner Straßenszene“ die Kunstwelt zu Recht
ufgewühlt, weil das sehr strittig ist. Ob diese Rückgabe
ber hätte verhindert werden können, wenn die Hand-
7138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Monika Grütters
reichung anders lauten würde, weiß ich nicht. Diese In-
kunabel des Expressionismus in die Liste nationalen
Kulturguts der Bundesrepublik aufzunehmen – das über-
legen Sie ja; wir haben das der Presse entnommen –,
wäre sehr fragwürdig. Man könnte es uns als Trick aus-
legen, wenn wir das Depotgut in deutschen Museen in
die Liste aufnehmen; man könnte meinen, wir täten dies,
nur um es vor dem Verlust zu schützen.
Wir müssen uns meiner Meinung nach hüten – das ha-
ben Sie zu Recht gesagt –, diesem knallhart kommerzia-
lisierten Restitutionshandel, an dem vor allem amerika-
nische Anwaltskartelle zu verdienen scheinen, mit einer
Einschränkung unserer moralischen Verpflichtung zu be-
gegnen. Diese Gegenüberstellung ist natürlich außeror-
dentlich schwierig. Eine Aushöhlung der moralischen
Verpflichtung darf es aber gerade in Deutschland nicht
geben, so sinnvoll möglicherweise der Blick auf Nach-
barländer ist. Deutschland hat hier natürlich eine singu-
läre Stellung, weil wir das Volk der Täter waren.
Ob ein Feuerwehrtopf finanzierbar wäre, mit öffent-
lichen oder privaten Mitteln, ist angesichts der Summen,
die bei den Versteigerungen erzielt werden, schwer zu
beantworten; das wissen Sie. Eher sollte man meiner
Meinung nach ahnungslosen Staatssekretärinnen, die
meinen, sie könnten jenseits der Öffentlichkeit solch
schwer wiegende Fälle meistern, das Handwerk legen.
Frau Kisseler hat die Limbach-Kommission nicht einmal
angerufen. Aber im Kabinett eines Herrn Wowereit
wurde die Betreffende zu allem Überfluss auch noch zur
Chefin der Senatskanzlei befördert.
Um derart unprofessionelles Treiben künftig zu unter-
binden, wäre eine bessere Dokumentation, also die Pro-
venienzforschung, tatsächlich eine wichtige Vorausset-
zung für einen sachgerechteren Umgang mit kritischen
Restitutionsfällen. Deshalb hat der Staatsminister bereits
die Initiative ergriffen und Museumsfachleute zu einer
Konferenz über diese Fragen eingeladen. Ein Termin mit
der Jewish Claims Conference wird folgen. Das ist der
richtige Rahmen, um mögliche Verbesserungen der
Handreichung – durch Experten und nicht durch die
Politik – zu erarbeiten.
Für die Provenienzforschung müssen Gelder bereitge-
stellt werden. Das, Herr Otto, ist in der Tat wieder unsere
Aufgabe, die des Parlaments.
– Ja, das tun wir auch.
Sehr verehrter Herr Kollege, die CDU/CSU-Fraktion
wird Ihren Antrag trotzdem ablehnen. Erstens vermischt
er uns zu viele Sachverhalte zum Schutz nationalen Kul-
turguts. Außerdem greifen wir den Ergebnissen der
durch den Staatsminister initiierten Gespräche mit Fach-
leuten ungern vor, auch nicht mit einem solchen
Antrag – bei allem Verständnis für die ein wenig im
Schatten der Regierung stehende Opposition. Die Fach-
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Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Dorothee Bär,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Selbstverständlich werde ich meine Rede bei diesem
wichtigen Thema nicht zu Protokoll geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wollen un-
ser Kulturgut wirksam schützen. Deswegen ist für mich
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1) Anlage 3
enauso ist es für uns aber eine Selbstverständlichkeit,
ass Deutschland aufgrund der historischen Vergangen-
eit gegenüber jüdischen Familien eine besondere Ver-
ntwortung hat und eine besondere Sensibilität beweisen
uss. Die Frage der Rückgabe von NS-verfolgungsbe-
ingt entzogenem Kulturgut ist deshalb äußerst kompli-
iert. Diese Kunstwerke hängen häufig in Museen und
erden von zahlreichen Menschen täglich betrachtet.
ir alle können von diesen Kunstwerken viel über un-
ere Geschichte lernen. – Herr Kollege Otto, wenn Sie
ir zuhören würden, würden Sie vielleicht auch verste-
en, wie wir uns im Anschluss an diese Debatte zu Ih-
em Antrag entscheiden werden.
Natürlich sind die Eigentumsansprüche zu respektie-
en. Dazu gibt es die so genannte Washingtoner Erklä-
ung von 1998. Gleichzeitig besteht aber ein öffentliches
nteresse – ich würde sagen: unser aller Interesse –, diese
ertvollen Kulturgüter für die Öffentlichkeit zu erhalten
nd weiterhin zugänglich zu machen. Auch unsere Museen
aben ein Interesse daran. Deshalb wurde unter der frü-
eren Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta
imbach, eine Kommission für die Rückgabe NS-ver-
olgungsbedingt entzogener Kulturgüter eingesetzt. Die-
es hochrangig besetzte Gremium, in dem unter anderem
ltbundespräsident Richard von Weizsäcker, die Juristin
utta Limbach und die ehemalige Bundestagspräsidentin
rofessor Rita Süssmuth sitzen, vermittelt im Falle einer
neinigkeit zwischen der Bundesregierung bzw. ande-
en öffentlichen Institutionen der Bundesrepublik und
en ehemaligen Eigentümern der Kunstwerke oder deren
rben.
Fernab der rechtlichen Frage allerdings entscheidet
iese Kommission und nimmt die moralische Bewertung
or. Dies sind harte Entscheidungen, die umso härter
reffen, wenn wertvolle Gemälde mit hohem Preis auf
nderen Auktionen versteigert werden.
as sind Dinge, die man beklagen kann. Trotzdem müs-
en wir nach wie vor mit hoher Sensibilität mit diesem
hema umgehen.
Wir müssen aber auch realisieren, Herr Kollege Otto,
ass durch diese Regelung bereits mehr als 1 000 Kunst-
erke ohne große Diskussion geräuschlos zurückgege-
en worden sind.
n zwei, drei spektakulären Fällen entzündet sich nun
ine Diskussion. Diese Fälle stellen aber nicht das ge-
amte Vorgehen infrage.
7140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006
)
)
Dorothee Bär
Wichtig ist für uns, dass solche Rückgaben besser
vorbereitet werden. Durch die Forschung nach der
Herkunft von Kunstwerken erkennt man die Probleme,
die auf einen zukommen. Man löst das Problem dann im
Einzelfall.
Die FDP fordert eine Unterstützung dieser Forschung.
Die Bundesregierung wird das prüfen. Sie fordern in Ih-
rem Antrag,
die Balance zwischen den Interessen der Alteigen-
tümer und den Anliegen der Museen ... neu zu jus-
tieren.
Diese Balance, Herr Kollege Otto, wird unter anderem
durch die Arbeit der Kommission hergestellt.
Sie fordern eine Überarbeitung der Handreichung
für die Museen. Unser Kulturstaatsminister hat eine sol-
che Überarbeitung jedoch bereits angekündigt. Eine ei-
gens dafür gegründete Arbeitsgruppe wird diese Arbeit
übernehmen.
Ihr Antrag ist vielleicht in einigen Punkten richtig,
aber doch überholt. Deswegen besteht für uns kein
Grund zur Zustimmung zum jetzigen Zeitpunkt.
Vielen herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Tauss, SPD-Frak-
tion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Ich will mit derselben Ein-
gangsbemerkung wie die Kollegin Bär beginnen: Auch
ich halte es für richtig, dass wir diese Debatte führen.
Nichtsdestotrotz halte ich die Art und Weise, in der wir
es jetzt tun, für nicht in Ordnung. Wir haben die Verein-
barung getroffen – ich hoffe nicht, dass wir das einmal
wegen der FDP tun müssen –, dass mit Rücksicht auf
den Parteitag der Grünen heute um 13 Uhr Plenarende
ist.
Wir haben darüber hinaus vereinbart, dass wir um
13 Uhr mit dem Kulturausschuss nach Sachsenhausen
fahren. Aus diesem Grunde fühle ich mich unwohl, zu-
mal mein Kollege Reiche seine Rede im Vertrauen auf
getroffene Absprachen zu Protokoll gegeben hat. Ich
will das nur in aller Klarheit sagen; darüber sollten wir
uns in aller Freundschaft noch einmal unterhalten.
Ansonsten ist natürlich richtig, dass wir hier eine inte-
ressante Debatte haben. Die Linke wird marktwirtschaft-
lich radikal und die FDP stellt sich gegen den internatio-
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nter anderem wollte die baden-württembergische Lan-
esregierung ein Kunstwerk, das bereits im Besitz des
andes ist, für 8 Millionen Euro vom Haus Baden zu-
ückkaufen. Man bezahlt also für ein Kunstwerk, das ei-
em schon gehört, 8 Millionen Euro und gibt dieses
eld an Dritte weiter.
Wir können also offensichtlich nicht mehr davon aus-
ehen – ich glaube daher, dass die Initiative des Kultur-
taatsministers an dieser Stelle richtig ist –, dass das, was
eute teilweise seit Jahrhunderten im öffentlichen Besitz
nd Eigentum ist, noch geschützt ist. Können wir uns ei-
entlich noch darauf verlassen, dass das, was in öffentli-
hen Museen vorhanden ist, tatsächlich dort bleibt, oder
üssen wir damit rechnen, dass diese Dinge Gegenstand
on Spekulationen werden?
Frau Kollegin Jochimsen, ich habe die FDP an dieser
telle in der Tat nicht so verstanden, dass sie den interna-
ionalen Kunstmarkt nicht mehr wolle. Ich glaube, wir
lle bekennen uns dazu.
Ich war vor einiger Zeit in einem anderen Zusammen-
ang an der Universität von Harvard. Das war sehr
pannend.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7141
(C)
)
Jörg Tauss
– Ein Neffe von mir hat dort gelehrt. Ich habe daher ganz
gute Beziehungen dorthin.
Schönes Wochenende.
Nur wenige wissen, dass diese Universität ein unglaub-
lich faszinierendes Museum hat. Insbesondere befinden
sich dort Gegenstände der so genannten entarteten
Kunst, die dadurch gerettet worden sind.
Ich habe aufgrund unserer Diskussion in Harvard ge-
fragt, ob man dort bereit wäre, Kunstgegenstände zu ver-
kaufen. Man hat mir geantwortet, es sei völlig ausge-
schlossen, dass etwas, das im Bestand von Harvard ist,
veräußert würde. Es ist eine unabänderliche Tatsache,
dass diese Gegenstände dort bleiben. Das ist auch so fi-
xiert.
Ich habe mich dann an unsere Debatte erinnert. Es ist
meines Erachtens dringend erforderlich, dass wir uns
auch über die Frage unterhalten, ob die Liste der ge-
schützten Kulturgüter, wie sie im Moment angelegt ist
– in diesem Zusammenhang ist das Vorkommnis aus Ba-
den-Württemberg ein trauriges Beispiel – noch ausrei-
chend ist. An dieser Stelle muss eine erweiterte Diskus-
sion geführt werden.
Ich bin froh – wir haben entsprechende Vorbereitun-
gen schon in der letzten Legislaturperiode getroffen –,
dass der Kulturstaatsminister diese Diskussion aufge-
griffen hat. Ich denke, dass wir etwas Vernünftiges auf
den Weg bringen werden. Ich sage noch einmal: Ich
würde mich freuen, wenn dies parteiübergreifend mög-
lich wäre, auch unter dem Gesichtspunkt – ich zitiere
einmal ausnahmsweise die „Frankfurter Allgemeine Zei-
tung“ von heute –: „Kulturgut ist kein Spielzeug“. Dem
stimme ich ausdrücklich zu.
Es wird in diesem Lande zunehmend der Eindruck er-
weckt, als sei Kulturgut – egal ob in Baden-Württemberg
oder anderswo – beliebige Dispositionsmasse für die Sa-
nierung von Haushalten oder eines bankrotten Adelshau-
ses. Diesen Eindruck darf Deutschland nicht vermitteln,
zumal wir uns mit Blick auf Kriegsgebiete empören, wie
dort mit Kulturgütern umgegangen wird. Damit kein
Missverständnis besteht: Selbstverständlich ist das, was
im Irak mit Kulturgütern geschieht, eine Katastrophe.
Aber für mich ist es ebenso eine Katastrophe, dass bei
uns im tiefsten Frieden aufgrund fiskalischer Zwänge
mit Kulturgütern so umgegangen wird, als seien sie
Spielzeug.
Ich freue mich auf die Diskussion. Ich will einmal
nett zur FDP sein und betonen, dass sie einen kleinen
Beitrag zu dieser Debatte geliefert hat. Den größeren
Beitrag haben natürlich wieder wir geleistet. So ist es
halt im Leben. Damit muss sich die FDP abfinden.
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Damit kann ich die Aussprache schließen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
rucksache 16/3540 an die in der Tagesordnung aufge-
ührten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
erstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
o beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
rdnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
estages auf Mittwoch, den 13. Dezember 2006, 13 Uhr,
in.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
reundliches Adventswochenende.