Protokoll:
16060

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 16

  • date_rangeSitzungsnummer: 60

  • date_rangeDatum: 26. Oktober 2006

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: None Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:16 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 16/60 tur für Arbeit für weitere Beitragssen- Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Walter Kolbow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . Bernd Siebert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Werner Hoyer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Eckart von Klaeden (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . kungen verwenden (Drucksache 16/3091) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) Petra Ernstberger (SPD) (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) . . . . . . . . Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5782 D 5786 A 5787 C 5789 B 5790 C 5792 C 5794 A 5796 A 5797 C 5799 B 5805 B 5805 B 5806 D 5806 D 5807 A 5807 C 5810 A 5811 C Deutscher B Stenografisc 60. Sit Berlin, Donnerstag, d I n h a Gedenkworte zum 50. Jahrestag des Volksauf- standes in Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrüßung einer Parlamentariergruppe aus der Mongolei und Afghanistan . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 7 c und 28 Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Tagesordnungspunkt 4: Abgabe einer Erklärung durch die Bundesre- gierung: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspo- litik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr 5781 A 5840 B 5782 B 5782 B 5782 B Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5800 C 5801 C undestag her Bericht zung en 26. Oktober 2006 l t : Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Brigitte Pothmer, Volker Beck (Köln), Fritz Kuhn und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zu- kunft der Arbeit gestalten statt Arbeits- losigkeit verwalten (Drucksache 16/2792) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Überschüsse der Bundesagen- 5802 D 5803 D 5805 A Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . 5813 B 5813 C II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) . . . . . . Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Grotthaus (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Peter Rauen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Klaus Ernst, Lutz Heilmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Ent- wurfs eines Dritten Gesetzes zur Ände- rung des Bundes-Bodenschutzgesetzes (BBodSchG) (Drucksache 16/3017) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Vereinheitlichung von Vorschrif- ten über bestimmte elektronische Informations- und Kommunikations- dienste (Elektronischer-Geschäftsver- kehr-Vereinheitlichungsgesetz – ElGVG) (Drucksachen 16/3078, 16/3135) . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Ratifizierung des IAO- Übereinkommens über Heimarbeit (Drucksache 16/2677) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Marie-Luise Dött, Ingbert Liebing, Katherina Reiche (Potsdam), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- ordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Sensible Ökosysteme in der Tiefsee besser schützen (Drucksache 16/3089) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Naturparke – Chancen für Natur- schutz und Regionalentwicklung konse- quent nutzen (Drucksache 16/3095) . . . . . . . . . . . . . . . . 5815 A 5816 D 5819 C 5820 C 5821 A 5821 D 5823 C 5825 A 5826 C 5827 C 5829 B 5829 C 5829 C 5829 C 5829 D Zusatztagesordnungspunkt 1: Antrag der Abgeordneten Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Kosovo-Verhandlungen – für eine neutrale Moderation und eine eigenverant- wortliche und einvernehmliche Lösung zwi- schen Serbien und den Kosovo-Albanern (Drucksache 16/3093) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Über- stellungsausführungsgesetzes und des Gesetzes über die internationale Rechts- hilfe in Strafsachen (Drucksachen 16/2452, 16/3154) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Aufbauhilfefondsgesetzes (Drucksachen 16/2704, 16/3159) . . . . . . . c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rahmenabkom- men vom 22. Juli 2005 zwischen der Re- gierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die grenzüberschrei- tende Zusammenarbeit im Gesundheits- bereich und zu der Verwaltungsverein- barung vom 9. März 2006 zwischen dem Bundesministerium für Gesundheit der Bundesrepublik Deutschland und dem Minister für Gesundheit und Solidarität der Französischen Republik über die Durchführungsmodalitäten des Rah- menabkommens vom 22. Juli 2005 über die grenzüberschreitende Zusammen- arbeit im Gesundheitsbereich (Drucksachen 16/2859, 16/3152) . . . . . . . d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 6. Februar 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kroatien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksachen 16/2955, 16/3136) . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bun- desregierung über die Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung im 5829 D 5830 A 5830 C 5830 D 5831 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 III Straßenverkehr 2004 und 2005 (Unfall- verhütungsbericht Straßenverkehr 2004/ 2005) (Drucksachen 16/2100, 16/3085) . . . . . . . f) – o) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116 und 117 zu Petitionen (Drucksachen 16/2979, 16/2980, 16/2981, 16/2982, 16/2983, 16/2984, 16/2985, 16/2986, 16/2987, 16/2988) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Man- gel an Studienplätzen – Mögliches Schei- tern des Hochschulpaktes Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ilse Aigner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Barth (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Eva-Maria Stange, Staatsministerin (Sachsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Hirsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Annette Schavan, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Frankenberg, Minister (Baden-Württemberg) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dieter Grasedieck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (Drucksachen 16/2293, 16/3155, 16/3160) b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Rechtsvorschriften des Bundes infolge 5831 B 5831 B 5832 C 5833 D 5834 D 5835 D 5837 D 5838 D 5840 B 5841 C 5842 D 5844 C 5845 D 5846 D 5847 C 5848 C 5850 A des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (Drucksachen 16/2954, 16/3147) . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen (Drucksache 16/3090) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Susanne Kastner, (SPD) . . . . . . . . . . Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Markus Meckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streit- kräfte bei der Unterstützung der gemeinsa- men Reaktion auf terroristische Angriffe ge- gen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags so- wie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Drucksache 16/3150) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5850 B 5850 C 5850 C 5852 A 5853 A 5855 A 5855 D 5857 D 5859 B 5860 D 5862 B 5863 C 5865 A 5866 D 5869 A 5867 B 5867 C 5871 A 5872 C 5873 D 5875 B IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 Jörn Thießen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Werner Hoyer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Maurer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Jürgen Koppelin, Otto Fricke, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Begren- zung der Staatsverschuldung durch res- triktive Haushaltsregeln (Drucksache 16/2659) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Biokraft- stoffquote durch Änderung des Bundes- Immissionsschutzgesetzes und zur Ände- rung energie- und stromsteuerrechtlicher Vorschriften (Biokraftstoffquotengesetz – BioKraftQuG) (Drucksachen 16/2709, 16/3035, 16/3156, 16/3178, 16/3161) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Marko Mühlstein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Drucksache 16/1444) . . . . . . . . . . . . . . . . 5876 C 5878 A 5879 A 5879 B 5879 C 5881 C 5882 A 5882 B 5882 C 5882 D 5883 C 5884 D 5886 B 5886 D 5887 D 5889 A 5889 B 5890 C 5891 C 5892 C b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes (Drucksache 16/3015) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . Klaus Uwe Benneter (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Werner Dreibus (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer „Bundesstif- tung Baukultur“ (Drucksachen 16/1945, 16/1990, 16/3081, 16/1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Roth, Parl. Staatssekretärin BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . . Renate Blank (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Weis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, Birgitt Bender, Dr. Harald Terpe, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN: Kinder entschlossen vor Vernachlässigung schützen (Drucksache 16/3024) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antje Blumenthal (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Katharina Landgraf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5892 D 5892 D 5893 D 5895 C 5896 D 5897 B 5898 C 5899 C 5899 D 5901 A 5902 A 5903 C 5904 D 5905 D 5907 B 5908 B 5909 A 5909 B 5910 B 5911 B 5912 B 5913 B 5914 B 5915 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 V Tagesordnungspunkt 14: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Versiche- rungsvermittlerrechts (Drucksachen 16/1935, 16/2475, 16/3162) . . . Tagesordnungspunkt 15: a) Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Exzellenzwettbewerb – Fachhochschu- len (Drucksache 16/2838) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Kai Boris Gehring, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Exzellenzinitiative erweitern – herausragende Lehre prämieren (Drucksache 16/3094) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset- zes zur Modernisierung der Justiz (2. Jus- tizmodernisierungsgesetz) (Drucksache 16/3038) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider (Saarbrü- cken), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der LINKEN: Europäisches Jahr der Chancengleichheit – Recht auf Bildung realisieren (Drucksache 16/1446) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von den Abgeordneten Josef Philip Winkler, Hans-Christian Ströbele, Monika Lazar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeits- rechtes (Drucksache 16/2650) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Bei Wa- 5916 B 5916 D 5916 D 5917 A 5917 B 5917 C renetikettierung mit RFID-Chips den Da- tenschutz sichern (Drucksache 16/2673) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ulrike Höfken, Ute Koczy, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Den Hunger in Entwick- lungsländern wirksam bekämpfen – Das Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche Entwicklung fördern (Drucksache 16/3019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: In der EU-Mittelmeerpolitik mehr auf Demo- kratisierung und Good Governance drän- gen (Drucksache 16/848) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Günter Krings und Michael Grosse- Brömer (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Ru- mäniens zur Europäischen Union (Tagesord- nungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Veronika Bellmann, Günter Baumann, Klaus Brähmig, Robert Hochbaum, Dr. Peter Jahr, Dr. Michael Luther, Maria Michalk und Marco Wanderwitz (alle CDU/CSU) zur na- mentlichen Abstimmung über den Entwurf ei- nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (Ta- gesordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes 5917 D 5918 A 5918 C 5918 D 5919 A 5919 C 5920 A VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäni- ens zur Europäischen Union (Tagesordnungs- punkt 7 a) Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Maria Flachsbarth, Josef Göppel, Katherina Reiche (Potsdam), Franz-Josef Holzenkamp, Johannes Röring, Dr. Max Lehmer und Ulrich Petzold (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Ge- setzes zur Einführung einer Biokraftstoff- quote durch Änderung des Bundes-Immis- sionsschutzgesetzes und zur Änderung energie- und stromsteuerrechtlicher Vorschrif- ten (Biokraftstoffquotengesetz – BioKraft- QuG) (Tagesordnungspunkt 10) . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts (Tagesord- nungspunkt 14) Kai Wegner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Lange (Backnang) (SPD) . . . . . . . . Martin Zeil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Exzellenzwettbewerb – Fachhochschulen – Exzellenzinitiative erweitern – herausra- gende Lehre prämieren (Tagesordnungspunkt 15 a und b) Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Barth (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5920 D 5921 A 5921 B 5922 A 5922 B 5922 C 5923 C 5925 C 5927 A 5927 C 5928 D 5929 D 5930 D 5931 C 5932 C Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Mo- dernisierung der Justiz (2. Justizmodernisie- rungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 16) Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Joachim Stünker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Europäisches Jahr der Chancen- gleichheit – Recht auf Bildung realisieren (Tagesordnungspunkt 17) Marcus Weinberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Hirsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes (Tagesordnungs- punkt 18) Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Bei Warenetikettierung mit RFID- Chips den Datenschutz sichern (Tagesord- nungspunkt 19) Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Bürsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5933 C 5934 B 5935 A 5936 B 5937 B 5938 A 5939 B 5941 D 5943 A 5944 A 5944 C 5945 B 5946 B 5947 A 5947 D 5948 C 5949 D 5951 B 5952 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 VII Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Den Hunger in Entwicklungslän- dern wirksam bekämpfen – Das Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche Entwick- lung fördern (Tagesordnungspunkt 20) Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Addicks (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: In der EU-Mittelmeerpolitik mehr auf Demokratisierung und Good Gover- nance drängen (Tagesordnungspunkt 21) Joachim Hörster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Addicks (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5953 A 5953 D 5954 D 5956 A 5957 D 5959 A 5960 A 5961 B 5963 A 5964 A 5965 B 5965 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5781 (A) (C) (B) (D) 60. Sit Berlin, Donnerstag, d Beginn: 9
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    3) Anlage 13 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5919 (A) (C) (B) (D) * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO hebliche Enttäuschungen und negative Folgen für die Entwicklung beider Länder nach sich ziehen müsste. Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Andres, Gerd SPD 26.10.2006 Bätzing, Sabine SPD 26.10.2006 Bülow, Marco SPD 26.10.2006 Drobinski-Weiß, Elvira SPD 26.10.2006 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 26.10.2006 Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 26.10.2006 Goldmann, Hans- Michael FDP 26.10.2006 Großmann, Achim SPD 26.10.2006 Kasparick, Ulrich SPD 26.10.2006 Pieper, Cornelia FDP 26.10.2006 Ramelow, Bodo DIE LINKE 26.10.2006 Dr. Schwanholz, Martin SPD 26.10.2006 Seehofer, Horst CDU/CSU 26.10.2006 Stiegler, Ludwig SPD 26.10.2006 Dr. Stinner, Rainer FDP 26.10.2006* Toncar, Florian FDP 26.10.2006 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.10.2006 Ulrich, Alexander DIE LINKE. 26.10.2006 Wieczorek-Zeul, Heidemarie SPD 26.10.2006 Wieland, Wolfgang BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.10.2006 Wolf (Frankfurt), Margareta BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.10.2006 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 26.10.2006 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Günter Krings und Michael Grosse-Brömer (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (Ta- gesordnungspunkt 7 a) Wir stimmen dem Gesetzentwurf zum Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union zu. Gleichwohl haben wir erhebliche Bedenken bei dieser Entscheidung, nicht nur im Hinblick auf die Beitrittsfähigkeit der Kan- didaten, sondern insbesondere wegen der derzeit er- schöpften Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union. Der Monitoring-Bericht über den Stand der Beitritts- vorbreitungen Bulgariens und Rumäniens der Europäi- schen Kommission vom 26. September 2006 lässt zwar weitere Fortschritte beider Länder bei der Vorbereitung ihres Beitritts erkennen, in fundamentalen Bereichen be- stehen aber nach wie vor schwerwiegende Probleme, die von den Ländern bislang nicht gelöst wurden. Dies gilt unter anderem für das wichtige Justizwesen. In Bulga- rien bestehen etwa nach wie vor Probleme bei der Durchführung von Strafprozessen, in Rumänien ist eine umfassende und konsistente Auslegung und Anwendung der Gesetze durch alle Gerichte noch nicht gewährleis- tet. Besorgnis erregende Defizite existieren auch im Be- reich der Korruptionsbekämpfung, des Agrarfonds und der Auszahlung von Agrarausgaben für beide Länder. Entscheidend ist: Die Aufnahmefähigkeit der EU ist derzeit an ihre Grenzen gelangt. Vor allem die geschei- terten Referenden über die Europäische Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden sowie die wach- sende Skepsis der Bevölkerung gegenüber der EU und weiterer Erweiterungen zeigen, dass die Union Gefahr läuft, sich und ihre Bevölkerung mit der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien zu überfordern. Die momenta- nen Entscheidungsfindungsprozesse in der EU stellen die Handlungsfähigkeit und die globale Konkurrenzfä- higkeit der Union schon jetzt infrage. Mit der Erweite- rung wird sich das Problem noch weiter verschärfen. Die letzte Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer hat bei den Ver- handlungen über den Beitritt Bulgariens und Rumäniens die Interessen Deutschlands und der EU nicht ausrei- chend beachtet und die erschöpfte Aufnahmefähigkeit der EU ignoriert. Wir stimmen nur deshalb dem Beitritt Bulgarien und Rumäniens zur EU zu, weil eine Ablehnung zum jetzi- gen späten Zeitpunkt für beide Beitrittskandidaten über- raschend käme und nicht zu verantworten ist, weil sie er- 5920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Veronika Bellmann, Günter Baumann, Klaus Brähmig, Robert Hochbaum, Dr. Peter Jahr, Dr. Michael Luther, Maria Michalk und Marco Wanderwitz (alle CDU/ CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (Tagesordnungspunkt 7 a) Ich stimme dem Gesetz und damit dem Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union zu. Zusätzlich möchte ich aber folgende Erklä- rung abgeben: Der letzte Fortschrittsbericht der Europäischen Kom- mission, der am 26. September 2006 veröffentlicht wurde, bescheinigte beiden Ländern große Fortschritte auf ihrem Weg in die EU. Allerdings bestehen laut Be- richt auch noch immer erhebliche Defizite insbesondere in den Bereichen innere Sicherheit, Justiz, Landwirt- schaft, Lebensmittelsicherheit und bei der Korruptions- bekämpfung. Daher wird eine strenge Überwachung der Beitrittsländer vorgeschlagen. Gegenstand der Überwa- chungen sollen vor allem die Reformen nach dem Bei- tritt beider Länder sein. Dass die EU-Kommission dennoch empfohlen hat, Bulgarien und Rumänien im nächsten Jahr in die EU aufzunehmen, war absehbar und ist vor allem das Ergeb- nis schlecht verhandelter Verträge der rot-grünen Vor- gängerregierung und der vormaligen EU-Kommission unter Romano Prodi sowie Erweiterungskommissar Verheugen (SPD). Die Europäische Union hat Bulgarien und Rumänien bereits kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine Beitrittsperspektive eröffnet. Ich teile die Überzeugung, dass beide Länder den Weg in die Europäi- sche Union finden müssen. Die Verhandlungen hierüber haben zeitgleich mit den zehn mittel- und osteuropäi- schen Staaten begonnen, die schon 2004 der EU bei- getreten sind. Die Beitrittsakte sieht nun die Aufnahme beider Staaten in die EU zum 1. Januar 2007 vor und be- inhaltet die Möglichkeit einer Verschiebung auf den 1. Januar 2008. Mit der festen Zusage eines Beitritts spätestens im Jahr 2008 haben sowohl die Vorgängerregierung, als auch die vorherige EU-Kommission ihren Nachfolgern eine schwierige Altlast hinterlassen, die durch feste ver- tragliche Bindung nur noch äußerst geringe Handlungs- spielräume gestattet. Zwar hätte die Kommission den Beitritt von Bulgarien und Rumänien um ein Jahr ver- schieben können, aber diese Verschiebung wäre nicht mit zwingend einzuhaltenden Auflagen im Zeitraum zwischen beabsichtigtem Beitritt 2007 und tatsächli- chem Beitritt 2008 verbunden gewesen, sodass der Re- formdruck auf die beiden Länder völlig abgebrochen wäre. Insofern war diese Vertragsklausel eine Scheinbe- stimmung. Sie hätte lediglich Stillstand bedeutet, ohne die Aufnahme beider Länder in die EU wirklich verhin- dern oder zur Beitrittsreife bzw. Erfüllung der Beitritts- kriterien zum 1. Januar 2008 führen zu können. Aus diesem Grunde sind die Ankündigungen der EU- Kommission, Schutzmaßnahmen vorzusehen, als bedeu- tend wirksamer einzuordnen, sofern es nicht bei den An- kündigungen bleibt. Hier liegt eine besondere Verant- wortung bei den Mitgliedstaaten und insbesondere bei der deutschen Bundesregierung. Sie muss darauf achten, dass die Schutzmechanismen zum Zeitpunkt des Beitritts und nicht erst danach wirksam werden. Da die Schutzklauseln gemäß entsprechender Bestim- mungen in den Beitrittsverträgen sowohl von der EU- Kommission als auch von einzelnen Mitgliedstaaten be- antragt werden können, fordere ich die Bundesregierung auf, diesen Antrag unverzüglich bei der EU-Kommis- sion zu stellen. Obgleich nun der Beitritt von Bulgarien und Rumä- nien faktisch nicht mehr zu stoppen ist, sind für zukünf- tige Erweiterungsstrategien entsprechende Schlüsse zu ziehen. Erstens. Die Verhandlungsführung sollte an sachli- chen Erwägungen orientiert werden und nicht aus- schließlich politischem Kalkül dienen. Zweitens. Vor weiteren Beitritten ist die Aufnahme- und Integrationsfä- higkeit der EU zu prüfen. Drittens. Es dürfen vertraglich keine festen Beitrittstermine mehr vereinbart werden, die die Erfüllung von Beitrittskriterien auf eine sekun- däre Stufe stellen. Im Übrigen müssen Schutzmaßnahmen für die Zu- kunft als Auflagen und nicht als Sanktionen in die Bei- trittsverträge aufgenommen werden. Für Auflagen ist es nicht notwendig, erneute Fortschrittsberichte abzuwar- ten. Sie wirken unmittelbar nach dem Beitritt ohne Zeit- verzögerung. Ich gehe davon aus, dass diese Erkenntnisse Bestand- teil der deutschen Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr sein werden. Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Ent- wurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (Tagesordnungspunkt 7 a) Gitta Connemann (CDU/CSU): Ich stimme dem Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Eu- ropäischen Union zu. Denn beiden Ländern ist durch die rot-grüne Bundesregierung zugesichert worden, dass Deutschland ihren Beitritt unterstützen wird. Aus Grün- den des Vertrauensschutzes sehe ich mich heute an diese Erklärungen gebunden. Ich verstehe den Antrag der Koalitionsfraktionen als kluge Einschränkung, denn er beinhaltet, dass die im Vertrag vereinbarten Schutzmaßnahmen bereits zu Be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5921 (A) (C) (B) (D) ginn des Beitritts beider Länder zu aktivieren sind, so- weit die von der Europäischen Kommission festgestell- ten Umsetzungsdefizite nicht bis zum 1. Januar 2007 beseitigt worden sind. Auf diese Weise werden die Ängste der Bevölkerung sowie die im Monitoring aufge- zeigten Mängel ernst genommen. Dennoch sehe ich große Probleme in Verbindung mit dem Beitritt. Schließlich zeigt sich, dass die Aufnahme- fähigkeit der EU erschöpft ist. Zusätzlich lassen mich die schwierigen Verhältnisse vor allem in den Justizwe- sen beider Länder an deren Beitrittsfähigkeit zweifeln. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich erkenne an, dass sowohl Bulgarien als auch Rumänien historisch bedingt Bestandteil von Europa sind und ein Beitritt der beiden vorgenannten Länder in die Europäische Union in jedem Fall erfolgen soll. Nachdem die EU-Kommission jedoch in ihrem Fortschrittsbericht vom 28. September 2006 beiden Ländern Defizite bei der Reform der Justiz und der Bekämpfung der Korruption bescheinigt hat, halte ich einen Beitritt Bulgariens und Rumäniens ohne zeit- gleiche Aktivierung so genannter Schutzklauseln insbe- sondere im Bereich des Innern und des Justizwesens nicht für angezeigt. Bulgarien und Rumänien müssten nach meinem Da- fürhalten zum Beitrittszeitpunkt nachweisen, dass sie ein Auszahlungssystem aufgebaut haben, das den Miss- brauch bei EU-Subventionen verhindert. Deshalb kommt für mich ein Beitritt nur dann in Betracht, wenn bereits vom 1. Januar 2007 an die Schutzklausel im Be- reich Justiz und Inneres durchgesetzt werden kann. Die Bemühungen der beiden Länder, sich für einen Beitritt zur Europäischen Union „fit“ zu machen, will ich nicht verkennen. Gleichwohl reichen diese zum jetzi- gen Zeitpunkt noch nicht aus, um einen Beitritt bereits zum 1. Januar 2007 zu ermöglichen. Ich erlaube mir abermals, darauf hinzuweisen, dass vom Grunde her der Beitritt beider Länder zur EU gebo- ten ist. Jedoch sollte die „Beitrittsreife“ der Länder bei dem Beitrittsbeschluss nicht gänzlich außer Acht blei- ben. Ich trage große Sorge, dass sich die Europäische Union selbst unglaubwürdig machen wird, sofern bei al- len bestehenden Kritikpunkten der Beitritt ohne entspre- chende Schutzklauseln zum jetzigen Zeitpunkt so durch- geführt wird. Es wird möglichen zukünftigen Beitrittskandidaten schwer zu vermitteln sein, ob sie die ihnen auferlegten Beitrittskriterien überhaupt noch beachten sollten, wenn diese im Fall von Bulgarien und Rumänien so großzügig ausgelegt werden. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die fünfte Stufe der EU-Erweiterung ist ein historisches Projekt, das mit der Aufnahme von Rumänien und Bul- garien zum 1. Januar 2007 abgeschlossen werden wird. Die Erweiterung der EU ist politisch notwendig und ökonomisch sinnvoll. Die Überwindung der historischen Teilung Europas war und bleibt der zentrale Baustein des Friedens in Europa. Alle Beitrittsländer müssen politische und wirtschaft- liche Kriterien erfüllen und das Gemeinschaftsrecht so- wie die EU-Normen in vollem Umfang übernehmen und anwenden. Dies ist in Rumänien und Bulgarien in unter- schiedlichem Maße bislang nicht geschehen, wie den Fortschrittsberichten der Europäischen Kommission zu entnehmen ist. Rumänien hat bei einigen wirtschaftlichen Kriterien und vor allem im Bereich der Bekämpfung von Korrup- tion – teilweise auf höchster Ebene – noch große He- rausforderungen zu meistern. Für Bulgarien gibt der Fortschrittsbericht eine verschärfte Einschätzung in den- selben Bereichen ab. Hinzu kommen hier immense Defi- zite im Bereich des Justizwesens. Dies sind unter ande- rem Zweifel an der Unabhängigkeit der Richterschaft, Unklarheiten bei der Rechenschaftspflicht des Justizsys- tems sowie Unklarheit bestimmter Aspekte im Zusam- menhang mit der Funktionsweise des Obersten Justiz- rates. In beiden Ländern gibt es zudem deutlichen Nachhol- bedarf beim Schutz von Minderheiten, allen voran von Sinti und Roma. Gerade dieser letzte Punkt ist besonders gravierend. Wenn die Europäische Union sich als Werte- gemeinschaft versteht, dann darf sie keine Rabatte in Fragen der Minderheiten- und damit Menschenrechte geben. Dies gilt für die alten Mitgliedstaaten, die leider auch nicht in allen Belangen vorbildlich sind, aber eben auch für die neuen. Solche essentiellen Defizite wider- sprechen dem Gründungsanspruch der EU. Auch für zu- künftige Beitrittskandidaten muss gelten, dass prioritär die menschenrechtlichen Kriterien erfüllt sind. Rumänien und Bulgarien haben die politischen und wirtschaftlichen Kriterien und das Gemeinschaftsrecht sowie die EU-Normen noch nicht in vollem Umfang übernommen und umgesetzt. Ihre Aufnahme ist also mit faktisch gegebenen Rabatten in elementaren Bereichen der Europäischen Union verbunden. Daher sollten zum 1. Januar 2007 gleichzeitig die möglichen Schutzklau- seln aktiviert werden. Trotzdem werde ich dem Antrag zur Aufnahme dieser beiden Länder in die Europäische Union zum 1. Januar 2007 zustimmen. Die Verhandlungen mit beiden Län- dern waren mit einem verbindlichen Zeitplan versehen. Würden Rumänien und Bulgarien nicht zum 1. Januar 2007 in die EU aufgenommen werden, so müssten sie – nach vertraglicher Vorfestlegung – spätestens zum 1. Januar 2008 aufgenommen werden, unabhängig da- von, wie weit sie bis dahin in der Umsetzung der Bei- trittskriterien vorangeschritten sind. Künftig sollte aus dieser Erfahrung die Lehre gezogen werden, Beitritts- verhandlungen nicht mehr mit einem festen Zieldatum zu verknüpfen. Ich bin der Überzeugung, dass die Übernahme und Anwendung der Beitrittskriterien in vollem Umfang un- ter der Beobachtung und Anleitung der Europäischen Kommission eher vorangetrieben werden, wenn beide Länder jetzt aufgenommen werden. Im Gegenzug würde die Verzögerung des Beitritts um ein Jahr ein politisch falsches Signal setzen. Es würde auch die jetzt wirkende Motivation der Länder und ihrer reformorientierten 5922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Regierungen, sich unter dem EU-Monitoring den euro- päischen Standards anzupassen, eher schwächen. Für mein Abstimmungsverhalten ist also trotz aller Bedenken entscheidend, dass ich darauf setze, dass die beschriebenen Probleme und Mängel in Rumänien und Bulgarien als Teil der EU schneller aufgelöst werden und somit das Jahr 2007 nicht vergeudet wird. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Zum jetzigen Zeit- punkt erfüllen Rumänien und Bulgarien die Kopen- hagener Kriterien nicht. Trotz entsprechender, durchaus zu würdigender Anstrengungen sind noch immer ener- gische Maßnahmen in den Bereichen Justiz, Korrup- tionsbekämpfung, Aufbau eines ordnungsgemäßen Kontroll- und Verwaltungssystems in der Landwirt- schaft und Interoperabilität mit dem Steuersystem der EU erforderlich. Einmal mehr belegt das jetzt angestrebte Vorgehen den inakzeptablen Automatismus, der da lautet: Wenn Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden, ist der Beitritt beschlossene Sache – am Ende der Wegstrecke könnte als Worst-case-Szenario allenfalls ein Beitritts- vertrag mit „safe guard clauses“ folgen. Einen derartigen Automatismus halte ich für höchst bedenklich, ganz be- sonders dann, wenn er auf Länder wie die Türkei über- tragen wird. Eine solche Europapolitik gefährdet das In- tegrationspotenzial der EU und damit die herausragende Idee der Europäischen Union. Im Übrigen halte ich das insofern gesetzte Zeichen im Hinblick auf die Beitritts- verhandlungen mit der Türkei für absolut verfehlt. Ich werde dem Beitritt trotz dieser Bedenken zustim- men, da ich mit meiner Gegenstimme in der Fraktion un- terlegen bin. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Maria Flachsbarth, Josef Göppel, Katherina Reiche (Potsdam), Franz- Josef Holzenkamp, Johannes Röring, Dr. Max Lehmer und Ulrich Petzold (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Biokraftstoffquote durch Änderung des Bundes-Immissionsschutzgeset- zes und zur Änderung energie- und stromsteuer- rechtlicher Vorschriften (Biokraftstoffquotenge- setz – BioKraftQuG) (Tagesordnungspunkt 10) Die de facto stattfindende Beendigung einer Förde- rung von Biodiesel aus tierischen Fetten ist aus umwelt- politischer Sicht fachlich nicht zu rechtfertigen. Sie stellt innerhalb der EU einen deutschen Sonderweg dar und widerspricht zudem einem eindeutigen Petitum des Bun- desrats. Außerdem fand die Anregung der Union, mit dem Ziel des Erhalts des Altöls der Kategorie 1 auf die steu- erliche Förderung der Verbrennung von Altölen in ener- gieintensiven Betrieben zu verzichten, aus beihilferecht- lichen Erwägungen im Gesetzgebungsverfahren keine Zustimmung. Wir sind jedoch nach wie vor der Auffas- sung, dass hochwertige Altöle der Kategorie 1 aus Grün- den der Ökologie, der Ressourcenschonung und Import- unabhängigkeit der Reraffination zugeführt werden sollten und werden diesbezügliche parlamentarische Ini- tiativen ergreifen. Insgesamt stellt der Gesetzentwurf mit den entspre- chenden Änderungsanträgen jedoch die gelungene Um- setzung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Förderung von Biokraftstoffen dar, sodass wir dem Biokraftstoff- quotengesetz nach Abwägung aller Aspekte trotz der oben genannten Kritikpunkte zustimmen. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Versicherungsvermittler- rechts (Tagesordnungspunkt 14) Kai Wegner (CDU/CSU): Die Umsetzung der Versi- cherungsvermittlerrichtlinie der EU aus dem Jahr 2002 in nationales Recht ist ein wichtiges Thema für die Ver- sicherungsbranche und natürlich auch für die Versiche- rungsnehmer selbst. Somit besteht dringender Hand- lungsbedarf. Die Große Koalition hat sich trotz des zeitlichen Drucks aus Brüssel die Zeit für eine sorgfäl- tige Beratung genommen. Schließlich geht es hier um mehr als eine halbe Million Menschen aus der Branche und um noch viel mehr Verbraucher. Im Rahmen einer Anhörung sind die betroffenen Gruppen zu Wort gekom- men. Als Ergebnis der Anhörung hat die Große Koali- tion nochmals Veränderung im Sinne der Branche und der Verbraucher vorgenommen. Der Kern des Gesetzes ist es nicht nur die Rechte des Verbrauchers durch umfangreiche Informations-, Bera- tungs- und Dokumentationspflichten des Versicherungs- vermittlers zu stärken, sondern vor allem die Qualität der Beratung für den Versicherungsnehmer zu verbessern. Diese Zielstellung ist absolut richtig und auch im ureige- nen Interesse der Versicherungsunternehmen. Denn bis- her leidet die Branche unter einem schlechten Image, welches in den meisten Fällen zu Unrecht besteht. Das Gesetz wird schon allein deshalb nicht nur dem Kunden dienen, sondern auch dazu führen, teilweise verlorenes Vertrauen in die Branche wieder aufzubauen. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal kurz zusam- menfassen was ein Versicherungsvermittler zukünftig zu erfüllen hat, um im Bereich der Versicherungsvermitt- lung tätig zu sein: Entscheidend für die Zulassung sind der Nachweis einer angemessenen Sachkunde in Form einer Prüfung, geordnete Vermögensverhältnisse, ein gu- ter Leumund sowie der Abschluss einer Berufshaft- pflichtversicherung und die Registrierung in einem für den Verbraucher einsehbaren Register. Ich denke diese Anforderungen stehen in einem vernünftigen Verhältnis zu den Aufgaben und der Verantwortung, die ein Versi- cherungsvermittler wahrnimmt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5923 (A) (C) (B) (D) Verbraucherschutz ist ein hohes Gut. Trotzdem kann es nicht in unserem Interesse liegen, die Branche durch Überregulierung zu lähmen. Deshalb ist es umso erfreu- licher, dass es bei der Neuregelung zum Versicherungs- vermittlerrecht gelungen ist, modernen Verbraucher- schutz auch ohne unnötige Bürokratie zulasten der Wirtschaft umzusetzen. Ich möchte in diesem Zusam- menhang dem Bundeswirtschaftsministerium danken. Es ist gelungen unterschiedliche Interessen zu bündeln und insbesondere im Sinne der Bürokratievermeidung wurde sehr gute Arbeit geleistet. Auch in der Anhörung wurde dies noch mal deutlich. Ich denke, dass es keine Norma- lität ist, dass ein Gesetzentwurf bereits am Anfang von einem Sachverständigen ausdrücklich gelobt wird. Zwei Regelungen garantieren im Wesentlichen eine schlanke Linie des Gesetzes. Zum einem ist da die Tren- nung der Vermittler in gebundene und ungebundene zu nennen. Diese eröffnet den Versicherungsunternehmen die Möglichkeit, ihre Mitarbeiter von der Erlaubnis- pflicht zu befreien und selber für das geforderte Ausbil- dungsniveau zu sorgen. Die in der Anhörung geäußerten Bedenken, dies könne zu einem unterschiedlichen Aus- bildungsniveau führen, wurden durch eine entspre- chende Klarstellung des Gesetzgebers ausgeräumt. Au- ßerdem darf nicht vergessen werden, dass nur dann eine Erlaubnisbefreiung möglich ist, wenn das Unternehmen auch für seinen Mitarbeiter haftet. Schon deshalb und aufgrund der Kontrollrechte der Finanzaufsichtsbehör- den besteht für die Versicherungsunternehmen ein Ei- geninteresse, ein gleichwertiges Ausbildungsniveau im Vergleich zum ungebundenen Vermittler zu gewährleis- ten. Zum anderen ist es durch die Schaffung der Katego- rie des so genannten produktakzessorischen Vermittlers gelungen, Erleichterungen für die Branchen zu schaffen, die Versicherungen lediglich im Rahmen ihres Hauptge- schäfts vertreiben. Es macht auch einfach keinen Sinn beispielsweise einem Kfz-Verkäufer, der nach dem Ver- kauf eines PKW seinem Kunden eine Garantieverlänge- rung anbietet, die gleiche Prüfung ablegen zu lassen, wie ein hauptberuflicher Versicherungsvermittler, der seinen Kunden das volle Produktspektrum bis hin zur Lebens- versicherung anbietet. Ich denke auch hier ist die vorge- nommene Differenzierung sinnvoll und notwendig, um bestehende, für den Kunden bequeme Vertriebswege nicht unnötig zu verteuern oder gar zu verschließen. In diesem Zusammenhang konnten darüber hinaus für produktakzessorische Kleinstversicherungen weitere Er- leichterungen in der parlamentarischen Beratung durch- gesetzt werden. Es handelt sich dabei um für den Ver- braucher überschaubare Versicherungen wie Garantie- und Reparaturleistungen für Brillen oder auch Reisever- sicherungen, die sich ohne die durchgesetzten Erleichte- rungen extrem verteuern oder gar nicht mehr vor Ort an- geboten würden. Das kann nicht im Interesse des Verbrauchers sein und würde darüber hinaus Einbußen insbesondere für die mittelständische Wirtschaft bedeu- ten. Deshalb haben wir uns hier erfolgreich für Erleich- terungen stark gemacht. Abschließend möchte ich nochmals betonen: Der uns vorliegende Gesetzentwurf schafft die Grundlage für ei- nen modernen Verbraucherschutz im Versicherungsver- mittlerrecht nach Vorgabe der entsprechenden EU-Richt- linie. Er wird vor allem die Qualität der Beratung verbessern. Der Schlüssel dazu sind die Sicherstellung einer angemessen Grundqualifikation und zukünftig nor- mierte Informations-, Beratungs- und Dokumentations- pflichten des Vermittlers gegenüber dem Verbraucher. Aber nicht nur die Verbraucher werden die Gewinner sein. Die steigende Qualität der Beratungen wird auch dazu führen, teilweise verlorenes Vertrauen in die Bran- che wieder aufzubauen. Es wird Zeit, dass sich die Versi- cherungsbranche von ihrem – in den meisten Fällen un- verdienten – schlechten Image erholt. Statt die Branche undifferenziert mit einer Erlaubnispflicht zu überziehen, wird hier Verbraucherschutz intelligent umgesetzt. Das führt zu einer Minimierung von Bürokratie, ohne den Verbraucherschutz dabei zu beschneiden. Der heute zur Abstimmung vorliegende Gesetzent- wurf ist ein guter Ausgleich zwischen den Interessen der Versicherungswirtschaft und den Interessen des Verbrau- chers. In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung des Gesetzentwurfs. Christian Lange (Backnang) (SPD): Das vorgelegte Gesetz dient der Umsetzung der Richtlinie 2002/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Dezember 2002 über Versicherungsvermittlung. Die Richtlinie, die den Verbraucherschutz und die Harmoni- sierung des Vermittlermarktes zum Ziel hat, hätte von Deutschland bis 15. Januar 2005 in nationales Recht um- gesetzt werden müssen, sodass Eile geboten ist. Zu der Verzögerung kam es vor allem durch den anhaltenden Widerstand der Länder gegen das vorgeschlagene Kon- zept zur Umsetzung der Richtlinie. Inzwischen zeigten sich aber auch die Länder bereit, das vorgestellte Grund- konzept zu akzeptieren. Einer zügigen Verabschiedung der Neuregelung steht nun nichts mehr im Wege. Denn es geht nicht nur darum, der Pflicht zur Umset- zung der EU-Richtlinie zu genügen, sondern es geht um Verbraucherschutz – die Verbraucher sollen durch die Re- gistrierungspflicht und die Normierung der Informations- und Dokumentationspflichten des Vermittlers geschützt werden – und darum, die deutschen Versicherungsver- mittler fit zu machen gegen die europäische Konkurrenz. Die Tätigkeit des Versicherungsvermittlers in einem zu- sammenwachsenden Europa wird harmonisiert und grenzüberschreitende Vermittlungen werden vereinfacht. Vonseiten der Versicherungsvermittler wird die beruf- liche Aufwertung, die mit einer Erlaubnispflicht einher- geht, auch sehr geschätzt. Denn es geht auch darum, schwarze Schafe aus diesem Gewerbe herauszufiltern. Das dient den Verbrauchern, aber auch den vielen seriö- sen und kompetenten Vermittlern und Beratern in dieser Branche. Diese grundsätzliche Zustimmung wurde auch bei der Anhörung am 18. Oktober 2006 noch einmal betont. Die Versicherungswirtschaft ist sich einig, dass es sich um ein gelungenes und positives Gesetzesvorhaben handelt. Den Vorgaben der Richtlinie entsprechend wird der bislang frei zugängliche Beruf des Versicherungsvermitt- 5924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) lers einer Erlaubnis unterworfen. Es ist vorgesehen, dass die Industrie- und Handelskammern Erlaubnis- und Re- gistrierungsstellen für die circa 500 000 einzutragenden Versicherungsvermittler werden. Damit einher gehen Vorschriften über die Qualifikation von Vermittlern, eine Kundengeldsicherung, eine obligatorische Berufshaft- pflichtversicherung sowie Beratungs-, Informations- und Dokumentationspflichten gegenüber dem Kunden. Nach der Richtlinie waren auch die bisher im Rechtsbera- tungsgesetz geregelten Versicherungsberater in das neu geschaffene System für Versicherungsvermittler zu inte- grieren. Nach Rücksprache mit dem Bundesjustizminis- terium und der Kommission gab es für eine Ausnahme – leider, leider – keinen Spielraum. Es gibt circa 400 000 Vermittler, die ausschließlich an ein Versicherungsunternehmen gebunden sind – so genannte Ausschließlichkeitsvertreter oder gebundene Vermittler. Des Weiteren gibt es so genannte ungebun- dene Vermittler oder auch Mehrfachvertreter genannt, die für mehrere Versicherungen Produkte vermitteln. Ein Makler muss als Sachwalter des Kunden seinen Rat auf eine hinreichende Zahl von auf dem Markt an- gebotenen Versicherungsverträgen und Versicherern stützen, die er im Wege einer objektiv ausgewogenen Marktuntersuchung zu ermitteln hat. Bislang unterliegt die Versicherungsvermittlung keinerlei Berufszugangs- beschränkungen. Er ist nur zur Anzeige seiner Tätigkeit gemäß § 14 Gewerbeordnung verpflichtet. Wichtig ist uns bei der Umsetzung der Richtlinie vor allem, dass das Gesetz zur Neuregelung des Versiche- rungsvermittlerrechts und die Verordnung über die Ver- sicherungsvermittlung den zwangsläufig entstehenden bürokratischen Aufwand auf ein Minimalmaß be- schränkt und dabei das Gleichgewicht zwischen den Ver- braucherschutzzielen und den Interessen der Wirtschaft wahrt. Ich bin davon überzeugt, dass dies gelungen ist. Die Regelungen im Einzelnen. Grundsätzlich bedür- fen alle Versicherungsvermittler nach dem neuen § 34 d Gewerbeordnung, GewO, einer Erlaubnis der IHK und müssen sich dort registrieren lassen. Sie sind auch für den Widerruf und die Rücknahme der Genehmigung zustän- dig. Die IHKs bedienen sich für die Registerführung des DIHK als gemeinsamer Stelle. Dabei ist die Transparenz des Registers bezüglich gebundener und ungebundener Vermittler für den Kunden entscheidend. Nach der geplanten Verordnung über Versicherungsver- mittlung, § 5 VersVermV, soll aus dem Register hervorge- hen, ob ein Versicherungsvermittler als gebundener Versi- cherungsvertreter im Sinne von § 34 d Abs. 4 GewO-E tätig wird oder einer anderen Kategorie angehört. Versi- cherungsvermittler sind unter Bußgeldbewehrung ver- pflichtet, sich in das Vermittlerregister eintragen zu lassen. Außerdem werden die Versicherungsunternehmen ver- pflichtet, nur mit Vermittlern zusammenzuarbeiten, die in das Register für Versicherungsvermittler eingetragen sind. Erlaubnisvoraussetzungen sind Zuverlässigkeit, Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung sowie Sachkundenachweis. Für produktakzessorische Vermittler, wie zum Beispiel Autohändler, ist ein vereinfachtes Zulassungsverfahren vorgesehen. Vermittler, die in diesem Marktsegment tätig sind, dürfen gemäß § 34 d Abs. 9 Nr. 3 GewO nicht nur Verbraucherdarlehen, wie zunächst vorgesehen, sondern auch Leasingverträge vermitteln. Die Ausweitung auch auf Leasingverträge wurde nach der Anhörung am 18. Oktober 2006 beschlossen, um der Wirklichkeit im Wirtschafts- und Verkaufsprozess besser zu entsprechen. In zunehmendem Maß verlangen sowohl Privatkunden als auch Gewerbetreibende Absicherungen bei gewerblichen Darlehens- sowie privaten und gewerblichen Leasing- verträgen. Die Formulierung „Darlehens- und Leasing- verträge“ trägt diesem Umstand Rechnung. Privatper- sonen wie auch Gewerbetreibende haben trotz des Ausnahmetatbestands hinreichend Schutz, da die Jahres- prämie auf 500 Euro beschränkt ist. Diese Grenze ist von der Richtlinie 2002/92/EG über Versicherungsvermitt- lung vorgegeben. Der Sachkundenachweis wird durch eine IHK-Prüfung erbracht, die der bereits seit 1991 von der Branche etab- lierten Ausbildung zum Versicherungsfachmann/-frau des Berufsbildungswerks der Deutschen Versicherungswirt- schaft, BWV, entspricht. Dazu haben DIHK und BWV be- reits einen Rahmenvertrag abgeschlossen. Gleichwertige staatliche Abschlüsse werden anerkannt. Versicherungs- vermittler, die schon seit dem 31. August 2000 tätig wa- ren, genießen Bestandsschutz. Ich möchte betonen, dass der Gesetzentwurf sowohl für die ungebundenen, als auch die gebundenen Vermittler Qualifikationsanforderungen aufstellt, die dem Vermittler das Rüstzeug für eine entsprechende Beratung geben. Die ungebundenen Vermittler weisen ihre Qualifikation im Rahmen eines Erlaubnisverfahrens grundsätzlich durch eine Sachkundeprüfung bei der IHK nach. Zur Büro- kratievermeidung konnte man jedoch für die gebun- denen Vermittler auf diese Vorabprüfung verzichten. Diese angebliche Ungleichbehandlung lässt sich wie folgt erklären: Das Versicherungsunternehmen über- nimmt für diese Vermittler die volle Verantwortung und ist gesetzlich verpflichtet, auch deren Qualifikation sicherzustellen. Im Rahmen der Versicherungsaufsicht überprüft die BAFin die Einhaltung dieser Vorschrift. Das bedeutet, dass auch der gebundene Vermittler mit einem vollen Produktspektrum über die Sachkunde- prüfung oder eine gleichwertige Qualifikation verfügen muss. Zudem hat die Versicherungswirtschaft in der Anhörung vom 18. Oktober 2006 bekräftigt, dass sie sowohl ihre Angestellten als auch die gebundenen Ver- mittler der Sachkundeprüfung unterwerfen wird. Damit ist ein gleichmäßiges Qualifikationsniveau sicher- gestellt. Gleichzeitig kann der gebundene Vermittler mit seinem IHK-Zeugnis problemlos in eine Tätigkeit als ungebundener Vermittler wechseln. Das heißt, die Durchlässigkeit des Systems ist gewährleistet. Vertragsspezifische anlassbezogene Beratungs-, Infor- mations- und Dokumentationspflichten sowie die Haftung für eine Falschberatung werden normiert. Alle Vermittler, die nicht auf dieser Grundlage beraten, haben dem Kun- den die Namen der ihrem Rat zugrunde gelegten Ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5925 (A) (C) (B) (D) sicherer anzugeben. Der Vermittler muss dem Kunden noch vor Beginn des Beratungsgespräches mitteilen, ob er als Versicherungsmakler, als Versicherungsvertreter oder Versicherungsberater tätig ist. Durch Normierung dieser statusbezogenen Informationspflichten in der Ver- ordnung über die Versicherungsvermittlung soll dem Kunden schon vor Beginn der Beratung größtmögliche Transparenz ermöglicht werden. Mitteilungs- und Beratungspflichten wurden nach in- tensiver Aussprache in der Anhörung für so genannte Kleinversicherungen, insbesondere Reiseversicherun- gen, aber auch andere Kleinversicherungen, aufgehoben, insbesondere weil dies über die Vorgaben der Richtlinie 2002/92/EG über die Versicherungsvermittlung hinaus- gehen würde. Deutschland wäre das einzige europäische Land, das hier eine Verschärfung der EU-Richtlinie vornehmen würde. Zudem ist das auch sachlich nicht geboten, denn es würde nur zusätzliche Belastungen für Kleinversiche- rungen bedeuten, die sich für die Anbieter nicht mehr rechnen würden. Es bestünde sogar die Möglichkeit, dass diese am Markt nicht mehr angeboten würden. Für den Verbraucherschutz sind keine negativen Auswirkun- gen zu befürchten, da es sich um zeitlich und sachlich eng begrenzte Kleinversicherungen handelt. Im Übrigen gilt: Die Dokumentations-, Beratungs- und Informations- pflichten für alle anderen Versicherungsvermittler blei- ben in vollem Umfang erhalten. Die Versicherungen haben zur Umsetzung ihrer Dokumentations-, Beratungs- und Informationspflich- ten bereits Protokolle entwickelt, die sich künftig aus den § 42 ff. Versicherungsvertragsgesetz ergeben sollen. Es gibt auch Protokolle, die von versicherungsunab- hängigen Gremien ausgearbeitet wurden, zum Beispiel von Professor Schwintowski Uni Berlin, die von Mak- lern eingesetzt werden können. Jedenfalls hat sich die Branche auf die neuen Beratungs- und Informations- pflichten nach dem Versicherungsvermittlergesetz seit über einem Jahr intensiv vorbereitet, sodass die Anfor- derungen des Gesetzes nicht mit größeren Schwierigkei- ten verbunden sein werden. Grundsätzlich müssen Versicherungsvermittler, die Zahlungen der Kunden annehmen, ohne dazu bevoll- mächtigt zu sein, in Anlehnung an die Makler- und Bau- trägerverordnung eine Sicherheit stellen. Die Versicherungswirtschaft wird als Beschwerde- und Schlichtungsstelle privatrechtlich organisierte Ombuds- leute schaffen, was ich sehr begrüße. Außerdem wird es eine faktische Übergangszeit von zwei Jahren geben, in der ausreichend Zeit und Gelegen- heit geboten sein wird, dass sich Versicherungsvermittler nachqualifizieren können. Auch den Industrie- und Han- delskammern wird damit genügend Zeit für die techni- sche Vorbereitung des Erlaubnis- und Registrierungsver- fahrens zur Verfügung gestellt. Ich bin zuversichtlich, dass die notwendige Umset- zung der europäischen Vermittler-Richtlinie in deutsches Recht mit geringstmöglichem bürokratischen Aufwand gelungen ist. Der Verbraucherschutz wird gestärkt, Ver- braucher erhalten mehr Transparenz in dem bislang eher unübersichtlichen Vermittlermarkt. Und nicht nur die Verbraucher haben etwas davon! Auch die Versiche- rungswirtschaft profitiert. Schwarze Schafe haben zu- künftig in dieser Branche keine Chance – das stärkt das Ansehen dieses Berufsbildes. Gleichzeitig vereinfachen wir grenzüberschreitende Vermittlungen und machen da- mit die Versicherungswirtschaft europafest. Martin Zeil (FDP): Die EU-Richtlinie über Versiche- rungsvermittlung zielt darauf ab, den Verbraucherschutz zu stärken und eine Harmonisierung des EU-Vermittler- marktes zu erreichen. Wir begrüßen diese Zielsetzung, zumal die Richtlinie einen großen Spielraum für die Um- setzung in nationales Recht gelassen hat. Die Bundesre- gierung hat sich allerdings so lange Zeit gelassen, dass das vor dem EuGH anhängige Verletzungsverfahren schon fast vor dem Abschluss steht. Man mag ja grundsätzlich die Frage stellen, ob es im- mer einer Richtlinie bedarf und ob Inhalt und Umfang von Richtlinien immer richtig sind. Diese Frage stellt sich gewiss auch im Fall der Versicherungsvermittlungs- richtlinie. Wenn aber eine solche Richtlinie mit deut- scher Zustimmung verabschiedet worden ist, stellt es kein Ruhmesblatt dar, wenn ausgerechnet Deutschland die rote Laterne bei der Umsetzung trägt. Diese Verspätung wurde nun auch als Argument für ein sehr gedrängtes parlamentarisches Verfahren heran- gezogen, in dem kaum Zeit blieb, die ausführliche und auch aufschlussreiche Anhörung sorgfältig auszuwerten. Das Ergebnis sind eher mit heißer Nadel gestrickte Än- derungsanträge und erläuternde Entschließungsanträge der Koalition, die zwar in die richtige Richtung gehen, von denen aber unklar ist, ob sie auch das gewünschte Ziel erreichen. Grundsätzlich ist zu bedauern, dass die schwarz-rote Koalition im gesetzgeberischen Übereifer immer noch bei einigen Punkten über die Anforderungen der EU- Richtlinie hinausgeht. Damit bricht die Koalition einmal mehr ihr in der Koalitionsvereinbarung gemachtes Ver- sprechen, EU-Richtlinien grundsätzlich nur noch 1 : 1 umzusetzen. Außerdem enthält der Gesetzentwurf nach wie vor ei- nige Regelungen, die wettbewerbsverzerrend wirken und auch aus der Sicht des Verbraucherschutzes weder gerechtfertigt noch sinnvoll sind. Will man Versicherungen vermitteln, so muss man sich künftig registrieren lassen, ein Erlaubnisverfahren durchlaufen und eine Sachkundeprüfung absolvieren, die sich am Ausbildungsgang „Versicherungsfachmann“ orientiert, der vom Berufsbildungswerk der Deutschen Versicherungswirtschaft angeboten wird. Das sind alles sehr bürokratisch ausgestaltete Regelungen, die weit mehr fordern, als die EU-Richtlinie verlangt, nämlich den Nachweis „angemessener Kenntnisse und Fertigkei- ten“. Die Ablegung einer Sachkundeprüfung vor der IHK als Erlaubnisvoraussetzung und damit als Berufszu- gangsregelung ist beispielsweise durch die Richtlinie überhaupt nicht gefordert. Wir glauben, dass die 5926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Bundesregierung gut beraten gewesen wäre, den vorge- sehenen Erlaubnis- und Sachkundeprüfungsdschungel gründlich zu lichten und auf den von der EU-Richtlinie geforderten Standard zurückzuführen. Wir haben vorgeschlagen, die Regelung über die Sachkundeprüfung als Berufszugangsvoraussetzung da- hin gehend zu ändern, dass zertifizierte Ausbildungs- gänge innerhalb der Versicherungswirtschaft, die den Anforderungen der Richtlinie entsprechen, als Nachweis der Sachkunde ausreichen. Dies hätte auch dem Anliegen Rechnung getragen, wie es nun in dem auf Antrag der Koalitionsfraktionen mit unserer Zustimmung gefassten Beschluss des Aus- schusses zum Ausdruck kommt. Gerade die Anhörung hat gezeigt, dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass hinsichtlich der geforderten Qualifikation „Waffen- gleichheit“ herrscht. Das ist nur gewährleistet, wenn nicht nur die ungebundenen Vermittler, sondern auch die gebundenen Vermittler eine ihrer Tätigkeit gemäße Sachkunde nachweisen müssen. Im Übrigen hat die Ver- sicherungswirtschaft in der Anhörung klar gesagt, dass sie schon aufgrund der vorhandenen Ausbildungsgänge und -abschlüsse damit überhaupt kein Problem hätte. Die gesetzliche Mindestqualifikation wird jetzt nur von der verhältnismäßig kleineren Anzahl der Vermitt- ler, die als Makler, Berater oder freie Mehrfachagenten tätig sind, gefordert. Die weitaus größere Zahl der ge- bundenen Vermittler bleibt außen vor. Es besteht deshalb die Gefahr, dass gerade diejenigen in ihrer Marktposition geschwächt werden, die bei der Versicherungsvermitt- lung objektiv sind. Ob das im Sinne des Verbraucher- schutzes ist, darf bezweifelt werden. Gebundene Vermittler, die nur die Versicherungspro- dukte eines bestimmten Versicherungsunternehmens verkaufen, brauchen nach dem Entwurf keine behördli- che Berufszulassung, wenn ihnen der Versicherer be- scheinigt, „angemessene“ Berufskenntnisse zu haben. Was im Einzelfall als „angemessen“ gilt, soll der Ent- scheidung des Versicherers überlassen werden. Daran ändert auch der im Ausschuss gefasste Beschluss nichts. In diesem Zusammenhang darf man einen Aspekt nicht übersehen: Die neue Regelung schafft auch neue Abhängigkeiten. Der Weg in die Selbstständigkeit ist für einen gebundenen Vermittler nicht gerade leicht, denn er kann entweder keinen Sachkundenachweis oder nur ei- nen solchen erbringen, der den gesetzlichen Erfordernis- sen nicht genügt. Das bedeutet jedoch, dass er nach der jetzt geschaffenen Rechtslage auch nach langjähriger Berufspraxis nochmals eine Prüfung vor der IHK able- gen muss. Zudem: Wenn man schon eine Sachkundeprüfung for- dert, dann muss man fairerweise sicherstellen, dass sie sich auch an den Bedürfnissen der Makler und nicht nur an denen des Versicherungsfachmanns des Berufsbil- dungswerks der Deutschen Versicherungswirtschaft ori- entiert. Die Makler sind von der Neuregelung besonders betroffen. Sie haben einen Beratungsansatz, der zum Teil deutlich von dem der gebundenen Vermittler abweicht. Deshalb sind auch ihre Bedürfnisse bei der Festlegung der Mindestqualifikation unbedingt zu berücksichtigen. Zudem haben wir dafür plädiert, die Einbeziehung des Berufs des Versicherungsberaters, geregelt im § 34 e, ersatzlos zu streichen. Die Dienstleistung des Versiche- rungsberaters ist allein auf die Beratung und nicht, wie bei einem Vermittler, auf den Abschluss eines Vertrages ausgerichtet. Der Anwendungsbereich der Richtlinie ist damit nicht zwingend eröffnet. Der Bundesverband der Versicherungsberater hat erklärt, dass die Umsetzung des Gesetzentwurfs ohne Not einen Beruf gefährdet, der eine wichtige verbraucherpolitische Bedeutung hat. Es handelt sich um den einzigen versicherungsfachlich ge- prägten Expertenberuf, der ein Korrektiv und eine Kon- trollinstanz für Versicherungsvermittler darstellt. Im Einheitsbrei der Vermittlergesetzgebung würde der Be- ruf nivelliert und damit faktisch zerstört. Diese Argu- mentation erscheint mir logisch und nachvollziehbar. Deshalb sollte die berufsrechtliche Verankerung des Ver- sicherungsberaters dort verbleiben, wo sie jetzt ist: im Rechtsberatungsgesetz. Noch ein paar Beispiele für diejenigen Regelungen, die aus unserer Sicht nicht geglückt sind. Nur der unge- bundene Vermittler muss eine Berufshaftpflichtversiche- rung nachweisen. Hier wäre es angemessen gewesen, die Regelung für die gebundenen Agenten nach § 2 Abs. 10 KWG zu übernehmen, der zufolge auch der gebundene Agent eine Vermögensschadenhaftpflichtversicherung nachzuweisen hat. Völlig unverständlich ist auch, warum in Streitfällen die Kosten von Schlichtungsverfahren in der Regel den Vermittlern aufgebürdet werden. Hier wird eine Kosten- tragungspflicht selbst dann festgeschrieben, wenn sich eine Beschwerde als grundlos bzw. unberechtigt heraus- stellt. Das ist nicht akzeptabel. Es wäre angemessen ge- wesen, die Kosten demjenigen aufzuerlegen, dessen Pflichtverletzung den Anlass für das Verfahren gegeben hat. Zwei Punkte möchte ich positiv hervorheben. Für den Kunden ist es wichtig, zu wissen, für welchen Vermittler er sich entscheidet, für einen gebundenen oder ungebun- denen, einen haupt- oder nebenberuflichen usw. Ich be- grüße es deshalb, dass durch die in Aussicht gestellte Änderung der Vermittlungsverordnung nun bei der Re- gistrierung eine Differenzierung nach Qualifikation und Sachkunde vorgenommen werden soll. Das kann aus meiner Sicht dem Verbraucherschutz nur dienlich sein. Schließlich hat der Gesetzgeber jetzt doch eine eini- germaßen angemessene Übergangsfrist zur Ablegung der Sachkundeprüfung für diejenigen Vermittler festge- schrieben, die vor In-Kraft-Treten des Gesetzes schon tä- tig waren. Wenn die ungebundenen Vermittler nun schon als einzige ihre Mindestqualifikation durch die Able- gung einer Sachkundeprüfung nachzuweisen haben, dann müssen sie dafür wenigstens so viel Zeit bekom- men, dass sie in ihrer Berufsausübung nicht nachhaltig beeinträchtigt werden. Lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen: Der Gesetzentwurf zielt in die richtige Richtung, ist aber in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5927 (A) (C) (B) (D) einigen wichtigen Punkten unausgewogen, zu bürokra- tisch und praxisfremd. Die Bemühungen der Koalition, wenigstens in letzter Minute noch einige Verbesserungen anzubringen, rechtfertigen keine Zustimmung zu dem Gesamtpaket, aber eine Enthaltung durch meine Frak- tion. Ulla Lötzer (DIE LINKE): Mehr Wettbewerb und eine Besserstellung der Verbraucher sollten die Ziele der Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechtes sein. Dabei spielt die Qualifikation der Berater eine entschei- dende Rolle. Insofern ist es sicher ein Fortschritt, wenn erstmals ein Sachkundenachweis für Versicherungsver- mittler eingeführt wird. Schade nur, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koali- tionsfraktionen, dass Sie die an ein Versicherungsunter- nehmen gebundenen Vermittler nach wie vor ausnehmen. Viele, nicht nur die Verbraucherzentrale, auch Herr Thiel vom Verband der unabhängigen Finanzdienstleistungs- unternehmen, haben dies in der Anhörung letzte Woche als ein zentrales Problem der Neuregelung dargestellt. Erstens liegt das Problem im Interesse der Beschäftig- ten selbst: Ein an die Versicherung gebundener Vermitt- ler, der gekündigt wird, müsste den Sachkundenachweis nachträglich erbringen. Das heißt, für ihn und seine Fa- milie gibt es in diesem Zeitraum keinen Verdienst, weil er die Ausbildung machen muss. Angesichts des Perso- nalabbaus, der in den großen Versicherungen läuft, schafft das weiterhin Zukunftsängste, Unsicherheit und eine massive Abhängigkeit von seiner Versicherung. Zweitens liegt das Problem im Interesse der Verbrau- cher, um Schadensfälle aufgrund von Fehlberatung zu verhindern. Der dritte Grund ist, wie Herr Thiel ausführte, die unerträgliche Ungleichbehandlung von Neueinsteigern. Denn die Versicherung kann ihm nach zwei Monaten bestätigen, dass er angemessen qualifiziert sei, eine bestimmte Versicherung zu verkaufen. Unabhängige Vermittler müssen erst die gesamte Ausbildung durch- laufen und den Sachkundenachweis erbringen. Doch auf dem Ohr des Verbraucher- und Beschäftigten- schutzes waren Sie in der Anhörung offensichtlich taub. In den Änderungen sind Sie weiter vor den Interessen der Versicherungsunternehmen eingeknickt. Ihre im Wirtschaftsausschuss eingebrachte Änderung setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Statt einer Festschreibung des Sachkundenachweises für alle setzen Sie auf eine Selbstverpflichtung der großen Versicherungsunterneh- men, diese Sachkundeprüfung freiwillig zu veranlassen. Nur, das hat niemand von denen verbindlich zugesagt. Und wenn es so wäre, schaffte das weder Rechtsverbind- lichkeit für Verbraucher noch für Beschäftigte. Ein weiteres gravierendes Manko der Neuregelung ist die Möglichkeit der Verzichtserklärung auf Dokumenta- tion der Beratung. Damit hebelt man das neu eingeführte Beratungsprotokoll gleich wieder aus. Herr Scholl als Vertreter der Verbraucherzentrale hat darauf hingewiesen: Verzichtserklärungen, insbesondere wenn sie im Gesetz festgeschrieben sind, laden geradezu dazu ein, sie auszu- nutzen. Er berichtete auch, dass er bereits einen Unfallver- sicherungsvertrag der Signal Iduna gefunden hat, in dem die Verzichtserklärung bereits eingebaut ist. Es kann sich doch jeder leicht ausdenken: Versicherungsvermittler sind geschult, potenzielle Kunden zum Abschluss eines Vertrages zu bringen. Ihr Interesse wird sein, den Kun- den gleich auch noch zu einer Verzichtserklärung zu überreden. Wer sagt dem Kunden denn in dem Fall, dass er seine Nachweissituation im Schadensersatzprozess verschlechtert? Jemand, der dann noch unterschreibt, wäre ja mit dem Klammerbeutel gepudert. Wo bleibt da der Verbraucherschutz? Eine vernünftige Verbraucherentscheidung für eine Versicherung gründet sich auf eine gute Beratung und auf Transparenz. Zu dieser Transparenz gehört auch, dass der Kunde weiß, wie hoch die Provision des Beraters ist. Ma- chen wir uns doch nichts vor: Ein Vermittler, der für den Abschluss eines Lebensversicherungsvertrages eine Pro- vision von 1 400 Euro bekommt, will den Abschluss, ob dieser im Interesse des Kunden ist oder nicht. Wir lehnen die Neuregelung in der vorliegenden Form ab. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, die zwingende Umsetzung der EU-Richtlinie möglichst schmerzfrei für die großen Versicherungsunternehmen zu regeln. Die Chance, wichtige Verbesserungen für Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem milliardenschweren Markt zu verabschieden, haben Sie ausgeschlagen. Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eine Vorbemerkung: In diesem Monat bin ich seit zwölf Jahren Mitglied in diesem Hohen Hause. In dieser Zeit habe ich noch nie erlebt, dass dem Ansinnen, einen Gesetzentwurf in Zweiter und Dritter Lesung im Parla- ment zu debattieren, nicht stattgegeben wurde. Mit Aus- nahme von meiner Kollegin Lötzer (DIE LINKE) wei- gern sich insbesondere die Koalitionsfraktionen, sich der Debatte im Deutschen Bundestag zu stellen, indem sie ihre Reden zu Protokoll zu geben. Ich erspare mir und dem Rest des Parlamentes die Farce, allein zu reden, denn ohne Kenntnis der Argumente der anderen Kolle- ginnen und Kollegen wird von einer Debatte nicht die Rede sein können. Und nun zur Sache: Es geht bei diesem Gesetz um Regelungen, die mehr als 500 000 Versicherungsvermitt- ler in Deutschland unmittelbar betreffen. Jede Minute vermitteln die deutschen Versicherungsvermittler Versi- cherungsverträge in einem Gegenwert von über 100 000 Euro an die Verbraucher. Das zeigt uns, von was für einem gigantischen Markt wir hier reden. Wir sind in einem erheblichen Verzug und ohne die strenge Vorgabe der EU-Richtlinie wären die im Gesetz zur Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts ent- haltenen Verbesserungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher wohl nie in deutsches Recht umgesetzt wor- den. Wie so oft, und besonders im Bereich der Finanz- dienstleistungen, bedarf es der EU, um überfällige Rege- lungen im Sinne der Bürgerinnen und Bürger durchzusetzen. 5928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Das Ergebnis ist leider dennoch enttäuschend, weil die Spielräume der EU, für einen präventiven Verbrau- cherschutz zu sorgen, nicht im vollen Umfange ausge- nutzt wurden. Besonders in der Frage der Qualifizierung der Vermittler ist die Neuregelung mangelhaft, Sie schafft zwei Welten: Ungebundene Vermittler dürfen nur dann tätig werden, wenn sie sich der künftig geltenden Sachkundeprüfung unterziehen, während die Sachkunde gebundener Vermittler ins Benehmen der Versicherungs- wirtschaft gestellt wird. Denn laut Gesetz bestimmen die Unternehmen selber über das Qualifikationsniveau ihrer Vermittler. Die Koalitionsfraktionen haben auch nicht die Kraft gefunden, von den Versicherungsunternehmen für die gebundenen Vermittler im Gesetz die gleichen Qualifikationsanforderungen zu fordern, obwohl dies unbürokratisch möglich gewesen wäre. Ein Sieg für Teile der Versicherungswirtschaft über die Verbraucher und den Wettbewerb. In Zeiten, in denen die Versiche- rungskonzerne trotz hoher Gewinne massenhaft entlas- sen, werden auch die gebundenen Vermittler einen ho- hen Preis für diese Unterlassung zu zahlen haben. Werden sie entlassen, ist nicht sichergestellt, dass sie künftig als ungebundene Vermittler tätig werden können, weil der Gesetzgeber sich mehrheitlich weigert, das im Gesetz vorzusehen. Der Grundtenor des Gesetzes lautet doch: Der Ver- braucher soll klagen, wenn er sich falsch beraten fühlt. Aber angesichts der Tatsache, dass der Verbraucher auf Grund der Verjährung nur fünf Jahre nach Abschluss der Versicherung klagen darf; ist das bei Verträgen, die zum Teil extrem kostenintensiv sind und durchschnittlich im- merhin über 30 Jahre laufen, doch ein ziemlich stumpfes Schwert. Wesentlich effizienter wäre es hier gewesen, präventiv von allen Vermittlern von vorneherein eine festgelegte Mindestqualität an Fachkunde und Beratung zu verlangen. Denn wir sind der Meinung, dass vorsor- gender Verbraucherschutz dann ansetzen sollte, wenn die Gefahr besteht und nicht erst greifen darf, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Aber der Ge- setzentwurf sieht für einen Großteil der Vermittler gar keine definierten Mindeststandards vor. Dies betrifft hauptsächlich die bereits genannten Vermittler, die keine Freiheit bei der Auswahl ihrer Produkte haben und au- ßerdem fest an ein bestimmtes Unternehmen gebunden sind. Hier verlangt das Gesetz, dass auch diese Vermitt- ler „angemessen qualifiziert“ sein müssen. Das zu beur- teilen, liegt aber allein in der Hand der Versicherungsun- ternehmen, die nach Gutdünken entscheiden dürfen, ob sie ihren Vermittlern eine Qualifikationsbescheinigung ausstellen oder nicht. Noch einmal: Für die Vermittler eine fatale Situation, denn sie brauchen die Qualifikationsbescheinigung, wenn sie unabhängig vom Unternehmen Versicherungen vermitteln wollen. Und da der Arbeitgeber noch nicht einmal bei einer Kündigung des Mitarbeiters verpflichtet ist, ihm ein Qualifikationszertifikat auszustellen, kann es einem arbeitslos gewordenen Versicherungsmakler pas- sieren, dass er auf eigene Kosten eine mehrmonatige Ausbildung und Prüfung bei der IHK absolvieren muss, obwohl er als Vertreter eines Unternehmens schon jahr- zehntelang teure Versicherungen an die Frau oder den Mann gebracht hat. Begründet wird diese absurde Son- derregelung von den Regierungsfraktionen mit Bürokra- tieabbau durch den Verzicht auf gesonderte Prüfungen für gebundene Versicherungsvermittler. Dafür darf ab jetzt die BAFin neben der Prüfung der Versicherungsun- ternehmen auch noch die circa 400 000 gebundenen Ver- mittler in ihre Aufsichtsarbeit einbeziehen. Ich denke, hier wäre es hilfreich gewesen, vorab das Sachverständ- nis der BAFin einzuholen. Insgesamt stellt sich folgendes Bild dar: Die Regie- rungsfraktionen haben ein Gesetz beschlossen in treuem Vertrauen auf den guten Willen der Versicherungsbran- che. Aber dieser Weg führt in eine Sackgasse. Denn selbst unter den Versicherungsvorständen traut man der eigenen Branche nicht recht über den Weg, wie eine Um- frage der Ratingagentur Assekurata jüngst ergeben hat. Daher kann ich nur feststellen: Die Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts hat in doppelter Hinsicht versagt. Sie berücksichtigt weder in angemessener und vorsorgender Weise die Verbraucherinteressen, noch gibt sie der Vermittlerseite ein einfaches und verständliches Regelwerk an die Hand! So gesehen ist es kein Wunder, dass sich CDU/CSU und SPD der Debatte im Parlament weder bei der Ersten Lesung noch bei der abschließen- den Debatte stellen wollten. Und doch ist es für den Ge- setzgeber beschämend. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Exzellenzwettbewerb – Fachhochschulen – Exzellenzinitiative erweitern – herausra- gende Lehre prämieren (Tagesordnungspunkt 15 a und b) Monika Grütters (CDU/CSU): Das ist heute wirk- lich ein bemerkenswerter Tag: Zuerst eine Aktuelle Stunde zum Thema Hochschulpakt und nun auch noch die Diskussion um die Exzellenzinitiative für Fachhoch- schulen. Da können wir Bildungspolitiker uns nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen. Und das alles just an dem Tag, an dem Napoleon Bonaparte vor genau 200 Jahren durch das Brandenburger Tor nach Berlin einmarschierte. Er holte die Quadriga von unserem Na- tionalmonument und brachte sie im Triumphzug nach Paris. „Das Wort unmöglich gibt es nur im Wörterbuch von Narren!“ – Dieser Devise ist er treu geblieben. Warum nehmen wir uns diese herrliche Devise nicht zum Vorbild? Die Anstrengungen, den Hochschulpakt zu verhandeln, mögen ja gelegentlich Züge des Unmögli- chen tragen, die Exzellenzinitiative, die gerade so erfolg- reich ihren ersten Durchgang an den Universitäten er- lebte, ist nicht nur möglich, sondern ein enormer Schritt in eine wettbewerbsorientierte Zukunft der deutschen Hochschulen. Streng nach Leistungskriterien und frei von jeder politischen Beeinflussung sind die besten Unis, Forschungscluster und Graduiertenkollegs ermit- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5929 (A) (C) (B) (D) telt und ausgezeichnet worden. Für die Besten gibt es richtig viel zusätzliches Geld. Das ist natürlich nicht nur diese, sondern jetzt für alle, die noch soweit weg sind, ein enormer Anreiz, das eigene Profil zu stärken und in den kommenden Durchgängen dabei zu sein. Da kann ich es gut verstehen, dass auch die Fach- hochschulen berücksichtigt werden möchten. Sie spielen in der deutschen Hochschullandschaft eine wichtige Rolle, gerade in der eher berufsständigen Ausbildungs- struktur und in der anwendungsorientierten Forschung, die dort geleistet wird. Den Arbeitsmarktbedürfnissen entspricht sicher auch eine signifikante Erhöhung der Absolventenquote an den Fachhochschulen. Aber ist die Exzellenzinitiative, die an den Unis in einem ersten Durchgang erfolgreich war, tatsächlich so analog auf die Fachhochschulwelt anzuwenden? Es ist richtig, dass die Fachhochschulen im Bereich der angewandten Forschung und in der praxisorientier- ten Lehre die deutsche Hochschullandschaft maßgeblich mitprägen. Sie bringen wichtige Innovationen in Koope- ration mit Unternehmen schnell und unbürokratisch voran und bilden Fachkräfte gezielt für den Bedarf der Wirtschaft aus. Dieses kreative Potenzial muss gestärkt werden. Deshalb hat die Bundesregierung kürzlich die Mittel für die Forschung an Fachhochschulen deutlich erhöht: Standen 2005 noch 10 Millionen Euro zur Verfü- gung, so sind es im laufenden Jahr schon 15 Millionen Euro. Diese Summe soll bis 2088 auf circa 30 Millionen Euro steigen. Damit ist vonseiten der Bundesregierung bereits ein klares Signal in Richtung Stärkung der Fach- hochschulforschung gesetzt worden. Wenn in dem vorliegenden Antrag beklagt wird, dass die Fachhochschulen bei der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder größtenteils ausgeschlossen sind, so hat das sicher zwei Gründe: Zum einen ist das strategische Ziel der Exzellenzinitia- tive in erster Linie der Ausbau international sichtbarer Spitzenforschung an deutschen Universitäten, um im in- ternationalen Wettbewerb um Köpfe und Ideen noch besser aufgestellt zu sein als bisher. Exzellenz in der Forschung wird hier eindeutig international definiert, nicht national oder regional. Zielgruppe dieses Wettbe- werbs sind damit tatsächlich in erster Linie die Universi- täten. Zum zweiten sollte allerdings auch nicht unerwähnt bleiben, dass die Programmlinie „Exzellenzcluster“ die Einbeziehung der Fachhochschulen als Kooperations- partner ausdrücklich vorsieht. Ein Förderkriterium für die Förderung dieser Exzellenzcluster sind die Qualität des Wissenstransfers und die wirtschaftliche Relevanz der Forschungsergebnisse, zu der Fachhochschulen sehr viel beitragen könnten. Es bleibt allerdings die Hürde, dass diese Forschungsexzellenz international anerkannt sein muss. Das ist eine Hürde, die für viele Fachhoch- schulen schwer zu überspringen sein dürfte. Die Stärken der Fachhochschulen liegen hier – wie bereits erwähnt – in den Bereichen anwendungsnahe Forschung in Kooperation mit regionalen kleinen und mittleren Unternehmen und in der praxisorientierten Lehre. Diese Stärken sollen mit dem vorliegenden An- trag unterstützt werden. Auf die Angabe der Exzellenz- kriterien verzichten Sie allerdings lieber – wie der Titel vermuten lässt –; stattdessen wird hier eher ein „Exzel- lenzwettbewerb“ eingefordert, der eher das Etikett „Aus- bau der Fachhochschulen“ verdiente. Unter falschem Label wollen wir die gerade so erfolgreich gestartete tat- sächliche Exzellenzinitiative nicht verwässern. Ein Aus- bau der Fachhochschulen und die Umsetzung der so ge- nannten Bolognareform, auch an den Fachhochschulen, ist nach der Föderalismusreform einmal mehr Ländersa- che. Beim Stichwort „bedarfsgerechte Bereitstellung neuer Studiengänge“ verweise ich auf die derzeit laufenden Verhandlungen zum Hochschulpakt. In diesem Rahmen hat der Bund eine prioritäre Berücksichtigung der Fach- hochschulen beim Kapazitätsausbau angeregt. Die Ent- scheidung darüber, welche konkreten Maßnahmen zur Umsetzung des Hochschulpaktes ergriffen werden und wie diese ausgestaltet sind, liegt aber bei den Ländern. Und das ist leider zurzeit das Problem. Deren schrilles Beharren auf ihrer Zuständigkeit in Bildung und Wissen- schaft im Rahmen der Föderalismusreform findet im Moment leider gar keinen adäquaten Ausdruck in der Bereitschaft, neue Studienplätze bereitzustellen, um die zusätzlich erwarteten 90 000 Studierenden in den nächs- ten Jahren mit Bildung versorgen zu können. Hier rufen sie wieder alle nach dem Bund und können sich nicht auf einen gemeinsamen Weg einigen, wie die Bundesgelder verteilt werden sollen. Aber auch das Problem wird gelöst werden, da bin ich sehr zuversichtlich; denn: Am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch alles.Wir müssen den vorliegenden Antrag der FDP zur Exzellenzinitiative für die Fachhochschulen aus strukturellen Gründen – wie dargelegt – leider ableh- nen. Für einen Ausbau der Fachhochschulen allerdings setzen wir uns aus voller Überzeugung – in geradezu na- poleonischen Überzeugung – ein, damit „Unmögliches“ nur im Wörterbuch von Narren steht, nicht aber Teil der deutschen Fach- und Hochschullandschaft ist. René Röspel (SPD): In letzter Zeit wimmelt es ja geradezu von Exzellenz: Die Ergebnisse der ersten Runde der Exzellenzinitiative sind uns am 13. Oktober präsentiert worden und schon heute liegen uns die Anträge der Opposition vor. Die FDP möchte jetzt auch gerne einen Exzellenzwettbewerb – für die Fachhoch- schulen – und die Grünen möchten die Exzellenzinitia- tive erweitern und „herausragende Lehre prämieren“. Eigentlich kann man dieses Verhalten als großes Lob für die Urheber der Exzellenzinitiative verstehen. Ich nehme das deshalb mit Interesse und Dank zur Kenntnis. Es war die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung mit der Forschungsministerin Bulmahn, die diese Initiative ins Leben gerufen und dank einer Kraftanstrengung mit erheblichen finanziellen Mitteln – immerhin 1,9 Milliar- den Euro von Bund und Ländern – ausgestattet hat, um Bewegung in die Hochschullandschaft zu bringen und deutsche Forschung auch international sichtbarer zu ma- chen. Dass dies schon gelungen ist, zeigen die Berichte, 5930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) die wir im Forschungsausschuss in dieser Woche von den Vertreterinnen und den Vertretern der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Hochschulrektorenkon- ferenz und des Wissenschaftsrates hören konnten. Allein der Wettbewerb an sich habe die Landschaft und die Hochschulen in Bewegung gebracht und damit schon ei- nen positiven Effekt bewirkt. Zu hören war – unabhän- gig vom Wettbewerb – die den einen oder anderen über- raschende Aussage der ausländischen Gutachter: Man sei überrascht von der Qualität und Leistungsfähigkeit der deutschen Hochschulen, hieß es dort. Allerdings ist das Ergebnis der ersten Förderrunde auch mit Unverständnis aufgenommen worden. Ob berechtigt oder nicht: Es stellen sich auch schon jetzt Fragen, die mindestens für weitere Initiativen beden- kenswert sind. Ist es richtig, Universitäten nur vom Status quo her zu betrachten, ohne Betrachtung ihrer über die Forschungsqualität hinausgehenden Funktion? Kann man Nordrhein-Westfalen mit einer Vielzahl von erst in den 60er- und 70er-Jahren gegründeten Hoch- schulen und einem breiteren Angebot vergleichen mit Bayern, das die Strategie verfolgt, unter eigenem Bedarf Studienplätze anzubieten und seine Mittel lieber auf weniger Unis zu verteilen? Welche Konsequenzen wird die Initiative für eine regionale Verteilung der Mittel haben? Diese Fragen werden noch in anderen Debatten zu diskutieren sein, haben aber auch für das heutige Thema Relevanz. Ausdrücklich will ich betonen, dass ich das Grund- anliegen der vorliegenden Anträge für ehrenhaft und gut finde. Es freut mich, dass die FDP die Fachhochschulen entdeckt hat. Übrigens hat die damalige rot-grüne Koali- tion schon bald nach der Regierungsübernahme 1998 den Stellenwert der Fachhochschulen mit der sukzes- siven Erhöhung der Mittel für angewandte Forschung an Fachhochschulen erkannt und den Dornröschenschlaf beendet. So sehr ich die Zielsetzung der FDP verstehen kann; die Zweifel, ob das vorgeschlagene Instrument das rich- tige ist, sind erheblich. Die Übertragung des Exzel- lenzwettbewerbs auch auf Fachhochschulen scheint mir eher sogar ein schädlicher und destruktiver Vorschlag zu sein. Zu Recht schreibt die FDP in ihrem Antrag, dass die Fachhochschulen „einen herausragenden Beitrag bei der praxisnahen Ausbildung der Studierenden“ leisten. Im 2004 vom Bundesministerium für Bildung und For- schung herausgegebenen Bericht „Die Fachhochschulen in Deutschland“ findet sich auf Seite 8 unter der Über- schrift „Auftrag und Profil“ die folgende Einschätzung: „Das Profil der Fachhochschulen ist nicht einheitlich. Es gibt hinsichtlich der Studentenzahl und der jeweils ange- botenen Studiengänge eine erhebliche Variationsbreite. Dies ist auf das jeweils unterschiedliche regionale Um- feld der Fachhochschulen und den jeweiligen Einzugs- bereich zurückzuführen. Sie nehmen in besonderem Maße auf die Bedürfnisse der regionalen Wirtschaft Rücksicht.“ Damit ist der zentrale Unterschied benannt. Die regionale Einbindung, der Zuschnitt einzelner Fach- bereiche auf die Anforderungen regionaler Unternehmen machen Fachhochschulen nicht ohne weiteres unterei- nander vergleichbar. Das deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen. Die in meinem Wahlkreis befindliche Fachhochschule Süd- westfalen ist als „University of Applied Sciences“ inter- national aufgestellt, aber bei den Industriekontakten eben vor allem regional etabliert und eingebunden, bis hin zu dem anspruchsvollen Verbundstudiengang, bei dem berufsbegleitend ein Fachhochschulabschluss erworben wird. Einen Wettbewerb – der per se nichts Schlechtes ist – zu starten, etwa um verstärkte Forschungstätigkei- ten anzuregen, setzt voraus, dass vergleichbare Start- bedingungen vorliegen oder man einen Weg findet, un- terschiedliche Zielsetzungen zu objektivieren. Das bedarf noch jeder Menge Hirnschmalz. Über dieses System der Fachhochschulen einfach eine Exzellenzinitiative zu stülpen, deren Ziel es ja ist, international sichtbare „Leuchttürme“ zu generieren, wäre ein Fehler. Dass dies die FDP in Teilen genauso sieht, erkennt der geneigte Antragsleser an den im FDP- Antrag beschriebenen Förderkriterien: Die „bedarfs- gerechte Bereitstellung neuer Studienplätze“ mag eine sinnvolle Forderung sein genauso wie „Chancen der Absolventen auf dem Arbeitsmarkt“ und „Einführung neuer Studiengänge“. Aber als Förderkriterien für einen „Exzellenzwettbewerb Fachhochschulen“ taugen sie si- cher nicht. Mit diesem Widerspruch im eigenen Antrag zeigt die FDP, dass sie zwar in Teilen die Probleme erkennt, aber letztlich doch wieder einmal am Ende der Versuchung erliegt, einen populistischen Schnellschuss abzufeuern. Anerkennung will ich ausdrücklich auch aussprechen für den Antrag der Grünen, nicht nur exzellente For- schung zu prämieren, sondern dies auch auf die Lehre auszuweiten. Auch hier sprechen bei genauerem Nach- denken die Probleme im Detail eher dafür, sich mehr Zeit zu nehmen als im Antrag vorgeschlagen. Wie ist „gute Lehre“ denn eigentlich definiert, wie ist sie objektivier- bar? Wie ist ein Wettbewerb um gute Lehre wirklich ini- tiierbar? Allein die „Anstrengungen für exzellente Lehre“ zu belohnen – wie im Antrag vorgeschlagen – reicht si- cher nicht aus. Die Intentionen der vorliegenden Anträge sind erkenn- bar, die Instrumente aber nicht tauglich. Schnellschüsse machen keinen Sinn. Lassen Sie uns in den Ausschuss- beratungen ernsthaft beraten, wie Fachhochschulen noch mehr unterstützt und Lehre verbessert werden kann. Uwe Barth (FDP): Die Fachhochschulen haben in unserer Hochschullandschaft einen festen Platz, ihre Ausbildungs- und ihre Forschungsleistung sind unum- stritten anerkannt. Nicht zuletzt ihre Praxisnähe ist dabei ein wesentliches Qualitätsmerkmal. Nun hat gestern die „FAZ“ die schmerzhafte Feststel- lung gemacht, dass 163 staatliche und staatlich aner- kannte Fachhochschulen, mit ihrem Fächerspektrum aus Ingenieur-, Wirtschafts- und Naturwissenschaften, aber auch Sozial- und Gesundheitswissenschaften trotz dieser Wertschätzung sinkende Drittmitteleinnahmen zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5931 (A) (C) (B) (D) verzeichnen haben. Einen Vorschlag, wie dieser Miss- stand zu beheben ist, haben wir Ihnen bereits mit unse- rem Antrag zur Forschungsprämie unterbreitet. Die Re- gierung will aber offenbar nicht in der Breite die externe Forschung der Wirtschaft an Fachhochschulen fördern. Sie will, dass die Forschungsprämie – die übrigens di- rekt an die Fachhochschulen ausbezahlt werden soll – nur für die Zusammenarbeit mit sehr kleinen KMU, und das auch nur als Pilotprojekt, angewandt wird. Anstatt also die angewandte Forschung an Fachhoch- schulen konsequent zu fördern, den Fachhochschulen eine wirkliche Drittmittelfähigkeit zu geben und den Studierenden die Möglichkeit des wissenschaftlichen Arbeitens in der gesamten Ausbildung zu ermöglichen, fährt diese Bundesregierung mit dem Programm „Forschung an Fachhochschulen mit Unternehmen (FHprofUnd)“ einen Schlingerkurs. Sie ist sich durchaus bewusst, wie wichtig angewandte Forschung an Fach- hochschulen ist. „FHprofUnd“ ist im Grundsatz ein rich- tiger Schritt. Davon zeugt allein schon die Anhebung der Mittel im Haushalt 2007 auf 27 Millionen Euro. Auf der anderen Seite ist sie nicht bereit, ihren Anteil zur Unter- stützung der Drittmitteleinwerbung zu leisten. Der Wissenschaftsrat gab uns die Empfehlung, den Ausbau der Fachhochschulen verstärkt voranzutreiben und die Qualifizierungspotenziale sowie die Akademi- sierung von Berufsfeldern auszuschöpfen. „Innovatio- nen brauchen Ideen!“ Dieser Satz gilt mittlerweile als Binsenweisheit. Die wichtigste Ressource für Ideen ist die Kreativität der Menschen. Von der Exzellenzinitiative der Bundesregierung blei- ben die Fachhochschulen aber größtenteils ausgeschlos- sen. Daher ist es ein dringendes Erfordernis, einen „Ex- zellenzwettbewerb Fachhochschulen“ auszuleben. Unser dahin gehender Vorstoß hat bei den Rektoren ein sehr positives Echo hervorgerufen. Wir wissen, warum wir neben der Lehre auch die angewandte Forschung in die Auswahlkriterien für einen „Exzellenzwettbewerb Fach- hochschulen“ aufgenommen haben. Auch das haben die Fachhochschulen sehr begrüßt. Insbesondere der Ansatz, die anwendungsorientierte Forschung besonders zu för- dern und die Forderung nach weniger Bürokratie in der Forschungsförderung ist auf sehr positive Resonanz bei den Betroffenen gestoßen. Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grü- nen, wir lassen auch den für uns wesentlichen Aspekt der Lehre keineswegs außer Acht. Wir wollen, dass ge- rade solche Kriterien wie die bedarfsgerechte Bereitstel- lung neuer Studienplätze, die Forderung nach einer Steigerung des Anteils von Studierenden an Fachhoch- schulen auf 40 Prozent, die Einrichtung von gestuften Studiengängen mit Bachelor- und Masterabschluss und die Qualitätssicherung durch Akkreditierung sowie die Einführung von Diploma Supplements deutlich hervor- gehoben werden. Ich appelliere an Ihr Verantwortungsbewusstsein und werbe damit zugleich um Unterstützung, wenn ich sage, dass gerade bei Fachhochschulen ein wichtiges Krite- rium des Wettbewerbs die späteren Chancen der Absol- venten auf dem Arbeitsmarkt sind. Hier zeigt sich, wie bedarfsgerecht, wie praxisnah und wie gut ausgebildet wurde und vor allem wie die Fachhochschulen ihren Lehrauftrag erfüllen. Lassen Sie uns gemeinsam das Nötige und vor allem das Richtige dafür tun, dass die Fachhochschulen ihren Platz in unserem Hochschulsystem auch weiterhin be- haupten können! Stimmen Sie unserem Antrag für einen „Exzellenzwettbewerb Fachhochschulen“ zu. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Man möchte meinen, im Lande sei eine neue Therapieform entwickelt wor- den: die Exzellenztherapie oder auch Exzellenzinitiative. Mit deren Hilfe sollen langfristig Universitäten, Fach- hochschulen und vielleicht bald auch Kunsthochschulen oder auch einzelne Leistungen der Einrichtungen wie Forschung, Lehre, Weiterbildung, Lehramtsausbildung und anderes mehr von ihren Schwächen befreit werden. Bevor man so etwas befürwortet, sollte man erst ein- mal einen genauen Blick auf die Wirkungsweise, die Ri- siken und Nebenwirkungen der bereits laufenden Exzel- lenzinitiative für die Universitäten werfen: Mit der aktuell laufenden ersten Runde der Exzellenzinitiative können Universitäten dieses Landes auf einen zusätzli- chen Schub durch erhebliche Fördermittel aus dem Bun- deshaushalt und den Länderhaushalten rechnen. Einrich- tungen, die mit ihrem Zukunftskonzept, Exzellenzcluster und/oder ihren Graduiertenschulen den Exzellenzkrite- rien entsprechen konnten, sind nunmehr in die so ge- nannte Bundesliga der Spitzenuniversitäten aufgestie- gen. Harvard, Stanford, die ETH Zürich und andere Eliteuniversitäten sollen das große Vorbild sein. Gemes- sen an den zu erlangenden Mitteln in der deutschen Bun- desliga, spielen die erwähnten Eliteuniversitäten mit ih- ren Etats auf intergalaktischen Ligen. Erheblich sind die Fördergelder also ausschließlich nach bundesdeutschen Maßstäben. Und da liegt bereits das Problem. Bevor man wie Bündnis 90/Die Grünen und die FDP meint, die Exzellenzinitiative nun als durchgängiges Prinzip, also sowohl für die Lehre als auch für die Fachhochschulen, einführen zu müssen, sollte der Rahmen, innerhalb dessen das Prinzip verortet wird, eingeblendet werden: Diese Exzellenzinitiative wird innerhalb eines Hochschulsystems aufgelegt, wel- ches in Gänze hoffnungslos unterfinanziert ist. Insofern erhalten auch die glücklichen Sieger nur eine solche Fi- nanzspritze, mit der sie ihre Hochschulhaushalte auf Normal fahren könnten. Dafür aber sind die Mittel eben nicht einsetzbar. Sie beziehen sich auf konkret in Anträgen konzipierte Projekte und sind daher auch ausschließlich für diese zu verwenden. Dass das für eine Universität eine ganz wert- volle Bereicherung ist, soll überhaupt nicht bestritten werden. Sie geben der Entwicklung ganz sicher neue Im- pulse. Allerdings werden andere Bereiche der Hoch- schulen an ihrer Situation nicht wirklich etwas ändern können. Sie kränkeln weiter vor sich hin. Gleiches gilt erst recht für rund 100 andere Universitäten, die über- haupt keinen Erfolg mit ihren Bewerbungen hatten. 5932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Zeitgleich zu dieser Exzellenzinitiative, die also ver- gleichsweise nur wenigen Hochschulen und nur wenigen ausgewählten Projekten zugute kommt, wird zwischen Bund und Ländern der Hochschulpakt 2020 verhandelt. Dieser soll nach der Föderalismusreform seinerseits Mit- tel in einer Höhe in das Hochschulsystem einspeisen, die abermals deutlich unter den Berechnungen von Wissen- schaftsorganisationen wie der Hochschulrektorenkonfe- renz oder dem Wissenschaftsrat bleibt. Es wird sich demzufolge in absehbarer Zeit nichts an der Unterfinan- zierung ändern. In diesem Kontext stellt sich zwangsläufig die Frage: Was bringt dann die Exzellenzinitiative dem Gesamtsys- tem? Wem ist innerhalb dieses Systems wirklich gehol- fen? Die Studierendenvertretungen haben die Exzellenz- initiative abgelehnt, weil sie – zu Recht, wie wir finden – einen verstärkten Ausdifferenzierungsprozess der Hoch- schulen befürchten. Bereits jetzt besteht ein Nord-Süd- Gefälle. Die ostdeutschen Hochschulen haben innerhalb der Exzellenzinitiative eine völlig marginale Rolle ge- spielt. Hochschulen dieser Länder werden infolge der demografischen Entwicklung erheblich unter Rechtferti- gungsdruck geraten, wenn sie sich einer Absenkung der Studienkapazitäten und der Mittel widersetzen. Die be- sonders unterfinanzierten Geistes- und Sozialwissen- schaften, die Lehramtsausbildung und Weiterbildung ha- ben kaum Berücksichtigung gefunden. Stattdessen werden Natur- und Ingenieurwissenschaften überpropor- tional gefördert. Länder, deren Hochschulen deutlich über den eigenen Bedarf ausbilden, müssen Mittel für Studium und Lehre einsetzen, die andere Länder mittels restriktiver Schulpolitik und konsequenter Begrenzung von Aufnahmekapazitäten ihrer Hochschulen für For- schung einsetzen können. Fazit: Wer hat, dem wird ge- geben. Und wer zu wenig hat, der wird auch noch be- straft. Deshalb ist es so wichtig, dass die Exzellenzinitiative nicht vom Hochschulpakt und seinen Folgen abgekop- pelt wird. Der Hochschulpakt muss eine Lösung für die ostdeutschen Länder und für Länder, die über eigenen Bedarf ausbilden, beinhalten. Wenn das nicht gelingt, wird ein weiteres Auseinanderdriften der Hochschulen nicht zu verhindern sein. Es ist nicht hinnehmbar, dass man bald in völliger Normalität von reichen und armen Hochschulen, von erstklassigen Forschungs- und zweit- klassigen Lehruniversitäten spricht. Notwendig ist eine transparente und öffentliche Debatte zu Voraussetzun- gen, die langfristig allen Hochschulen eine Chance ge- ben, sich in Studium, Lehre und Forschung zu profilie- ren. Die Exzellenzinitiative hätte es in dieser Form nicht geben müssen, wenn es eine verlässliche, ausreichende Finanzierung gegeben hätte. Dabei wären Kriterien, wie sie der FDP-Antrag in Bezug auf die Fachhochschulen benennt, ein Anfang, um Mittel ganz gezielt zu verge- ben. Diese Kriterien müssten ergänzt werden. Es gehö- ren Möglichkeiten des Wechsels von Fachhochschulen zu Universitäten, die Durchlässigkeit zwischen Bache- lor- und Masterausbildung, Nachwuchsförderung, ge- schlechterspezifische Förderangebote und anderes mehr dazu. Sockelfinanzierung und leistungsbezogene Kom- ponenten böten Förderung in der Breite ohne Gleichma- cherei und ohne so genannte Gießkanne. Wenn wir den Ansatz „Exzellenzinitiative“ jetzt auf Fachhochschulen übertragen, dann bleibt außer Acht, dass es in einigen Ländern gerade Fachhochschulen wa- ren, die in den vergangenen Jahren die Rolle der Spar- schweine vieler Finanzminister übernehmen mussten. Aber auch die Einführung einer Exzellenzinitiative für die Lehre nach Vorstellung von Bündnis 90/Die Grünen wäre nur ein Herumdoktern, das aber die Löcher in der Breite nicht zu schließen vermag. Nötig ist eine Debatte über gerechtere Voraussetzungen, gesetzliche Rahmenbe- dingungen, finanzielle Bedingungen, personelle Ausstat- tungen, Beschäftigungschancen des wissenschaftlichen Nachwuchses und anderer Beschäftigter im wissen- schaftlichen und nichtwissenschaftlichen Bereich von Hochschulen. Die Stärke des deutschen Hochschulsystems – das heißt die Einheit von Forschung und Lehre – droht verlo- ren zu gehen. Wollte man dem Kassenpatienten aus die- ser Situation jeweils mit Exzellenzinitiativen heraushel- fen, käme man zwangsläufig an den Punkt, dass es nicht selektive oder punktuelle Initiativen sind, die nachhaltig wirken. Nötig ist eine Hochschul- und Wissenschaftspo- litik, die sich aus Länderegoismen durch einen tragfähi- gen Gesamtansatz befreit. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Ex- zellenzinitiative ist ein Erfolg. Sie hat die Hochschul- landschaft in Bewegung gebracht – und das ist gut so. Diese Bewegung verläuft aber, zumindest was die Prämierung und die Finanzen betrifft, entlang einer Einbahnstraße. Denn in erster Linie wandert das Geld für Exzellenzcluster, Graduiertenkollegs und Spitzen- universitäten in den Süden: 86 Prozent der Exzellenz- mittel gehen dorthin. Ähnliches wird die im Rahmen des Hochschulpakts vorgesehene Forschungsförderung bewirken: Denn Voll- kosten werden natürlich nur dort finanziert, wo auch DFG-Anträge bewilligt werden. Dies ist wiederum vor allem in Süddeutschland der Fall. Der von der Bundes- regierung geplante Hochschulpakt und die Exzellenzini- tiative werden demnach vor allem eines bewirken: einen weiteren „Aufbau Süd“. Diesem Trend müssen wir ent- gegensteuern. Denn er belohnt die fatale Herangehens- weise, vordringlich in Forschung zu investieren und bei Lehre und Kapazitätsausbau zu sparen. Diejenigen Hochschulen, die bislang überproportional ausgebildet und sich um gute Lehre gekümmert haben, sind nach der Ernennung der Spitzenunis die Deppen der Republik. Die Bundesregierung muss zudem zahlreiche Fragen beantworten, die nach der Prämierung der Gewin- neruniversitäten bleiben: Wie schaffen wir es, neben der Spitze die Breite zu erhalten? Wie schaffen wir es, dass die Studierenden davon profitieren? Wie schaffen wir es, dass Sozial-, Geistes- und Ingenieurwissenschaften nicht zu kurz kommen? Wie ermöglichen wir die Chance auf Aufstieg für nicht prämierte Universitäten? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5933 (A) (C) (B) (D) Mit dem bisherigen Rezept „viel Forschung, wenig Lehre“ lässt sich auf Dauer keine ausgewogene Kost für die Hochschulen zubereiten. Das Erfolgsrezept der deut- schen Hochschulen besteht vielmehr in der Einheit von Forschung und Lehre bei genügend ausfinanzierten Stu- dienplätzen. Dieses Zukunftskonzept müssen wir belohnen. Dazu dient aus meiner Sicht erstens ein Hochschulpakt, der zuallererst die bedarfsgerechte Schaffung neuer Studien- plätze finanziert. Dazu gehört zweitens, die Prämierung herausragender Forschung zügig um die Belohnung ex- zellenter Lehre zu ergänzen. Genau diese qualitative Erweiterung der Exzellenz- initiative schlagen wir in unserem Antrag heute vor: Um die Qualität und die Innovationskraft in der Hochschul- lehre nachhaltig zu verbessern, muss die Förderung der Hochschulen durch Bund und Länder schon im kommen- den Jahr um einen Wettbewerb zur Förderung exzellenter Lehre ergänzt werden. Eine solche Wettbewerbskom- ponente belohnt Anstrengungen für exzellente Lehre und etabliert einen höheren Stellenwert sowie ein neues Qua- litätsverständnis für herausragende und innovative Lehre. Auch in der Lehre muss sich Leistung lohnen. Der von uns vorgeschlagene Wettbewerb für herausragende Lehre hat mehrere Vorteile: Hochschulen erhalten finan- zielle Anreize dafür, ein eigenes Profil als Standort für exzellente Lehre zu entwickeln. Damit erhalten auch diejenigen Hochschulen Aussicht auf Fördermittel, die aufgrund ungleicher Voraussetzungen im Wettbewerb um Forschungsexzellenz vorerst keine Chance haben. Die von vielen geforderte Anschlussfähigkeit in der Hochschullandschaft, der Aufstieg in die „Bundesliga“, wird leichter möglich. Dem einzelnen Professor, der sich außerordentlich in der Lehre engagiert, winken zudem Reputation und Fördergelder, nicht bloß der Beifall nach den Sonntagsreden. Daher sagen wir: Ab 2011 muss die bestehende Ex- zellenzinitiative um eine Linie zur Förderung exzellenter Lehre erweitert werden. Das heißt: Künftig kann eine Hochschule nur als Spitzenuniversität mit überzeugen- dem Zukunftskonzept gelten, wenn sie auch exzellente Leistungen in der Lehre bringt. Exzellenz bedeutet dann, weder das Standbein Forschung noch das Standbein Lehre zu vernachlässigen. Möglicherweise kann auch ein Exzellenzwettbewerb der Fachhochschulen, wie im FDP-Antrag vorgeschlagen, ein sinnvoller Baustein sein. Mit den von Ihnen geforder- ten mageren 2,5 Millionen Euro offenbaren Sie jedoch eher eine Geringschätzung für die Fachhochschulen. Auch halte ich es für falsch, zahlreiche unpassende und nicht operationalisierbare Förderkriterien detaillistisch durch die Politik vorzugeben. Mein Fazit: Es wird dringend Zeit, dass wir die Fehl- anreize im deutschen Hochschulsystem korrigieren: mit einem wirksamen und gerechten Hochschulpakt für mehr Studienplätze und mit einem Wettbewerb für heraus- ragende Lehre. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- setzes zur Modernisierung der Justiz (2. Justiz- modernisierungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 16) Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Wir beraten heute in erster Lesung das 2. Justizmodernisierungsgesetz. In dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist ein Bündel von Maßnahmen vorgesehen, die nahezu alle Bereiche der Justiz betreffen. Ziel des Gesetzgebungsvorhabens ist es, durch Entbürokratisierung und Kostenreduzierung die Zügigkeit und Kostengünstigkeit gerichtlicher Ver- fahren weiter zu steigern, ohne dabei rechtsstaatliche Standards zu mindern. Zudem dient das Gesetz der Ver- besserung der Übersichtlichkeit des Verfahrensrechts, um die Rechtsanwendung im Justizalltag zu erleichtern. Das Gesetz knüpft an das 1. Justizmodernisierungsge- setz aus dem Jahre 2004 an, das der Deutsche Bundestag einstimmig verabschiedet hat und mit dem bereits eine Reihe von Maßnahmen zur Effektivierung gerichtlicher Verfahren vorgenommen wurde. Wie der Name dieses Gesetzes schon sagt, war der Modernisierungsbedarf – damals bereits erkennbar – damit noch nicht gedeckt. Deshalb befassen wir uns nunmehr mit dem Ergebnis der Fortsetzung der Arbeit, dem 2. Justizmodernisierungsge- setz. Mit dem 2. Justizmodernisierungsgesetz sollen 26 verschiedene Gesetze verändert und modernisiert wer- den. Bereits diese Zahl macht deutlich, dass es sich um ein facetten- und auch umfangreiches Gesetzgebungs- vorhaben handelt. Ich möchte hier nur auf einige Vor- schriften hinweisen, wie zum Beispiel auf die Einfüh- rung und Ausweitung des unbaren Zahlungsverkehrs bei Gerichten und Justizbehörden, Änderungen im Kosten- recht zur Steigerung der Klarheit und Systematik, die Er- höhung der Zügigkeit im Mahnverfahren durch Einfüh- rung der Antragstellung in maschinell lesbarer Form, die effizientere Ausgestaltung des Sachverständigenbewei- ses oder die Einführung eines Wiederaufnahmegrundes bei vom Europäischen Gerichtshof festgestellten Men- schenrechtsverletzungen. Der bisherige Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens hat sich als außerordentlich konsensorientiert dargestellt. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zu dem Ge- setzentwurf eine Reihe von Prüfbitten und Änderungs- vorschlägen unterbreitet. Die Bundesregierung hat die- sen Anliegen in ihrer Gegenäußerung in großem Umfang entsprochen, in einigen Fällen eine Prüfung zugesagt, und lediglich zu zwei Punkten Ablehnung empfohlen. Ich halte diese Verfahrensweise im Hinblick auf den Be- ratungsgegenstand auch für absolut angemessen und ver- antwortungsbewusst. Sowohl der Bund als auch die Län- der haben ein vitales Interesse an einer funktionierenden und effizienten Justiz. Ich gehe davon aus, dass sich dieser sachorientierte Ansatz im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfah- rens fortsetzen wird. Der Stellungnahme der Bundesre- gierung können wir im Wesentlichen beipflichten. Das 5934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) betrifft insbesondere auch die vorgesehene moderate Er- weiterung des Instruments der Verwarnung mit Strafvor- behalt im Strafgesetzbuch. Vor dem Hintergrund des Umstandes, dass § 59 StGB gegenwärtig kaum angewendet wird, sind wir der Auf- fassung, dass die vorgesehene Änderung den Bedürfnis- sen der Rechtspraxis entspricht, weil sie eine sinnvolle Möglichkeit darstellt, auf reuige Straftäter einzuwirken. Zudem bietet die Neuregelung aus unserer Sicht eine gute Ergänzung zu der Vorschrift des § 153 a StPO. Einige Anliegen des Bundesrates, zu denen sich die Bundesregierung eine weitere Prüfung vorbehalten hat, halten wir hingegen für berechtigt. Das betrifft etwa die Möglichkeit, im Jugendgerichtsverfahren auch die Vor- führung des unentschuldigt nicht erschienenen Beschul- digten anordnen zu können, wenn dies mit der Ladung zum Verhandlungstermin angedroht worden ist. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Regelung zur Er- möglichung der Nebenklage halten wir vom Ansatz her für sinnvoll und notwendig. Aus Opferschutzgründen ist es geradezu dringlich, hier zu einer Erweiterung der Möglichkeiten der Opfer, auf den Gang der Verhandlung Einfluss nehmen zu können, zu gelangen. Die bisherige Rechtslage hat insoweit nahezu ausschließlich die Be- dürfnisse des Täters im Blick, indem sie Antragsrechte des Opfers bzw. seines Anwalts ausschließt. Allerdings darf in diesem Zusammenhang in der Tat nicht vergessen werden, dass im Jugendstrafrecht der Erziehungsge- danke im Vordergrund steht. Von daher sollte über einen Kompromiss nachgedacht werden, der die Opferinteres- sen zumindest in Fällen schwerster Kriminalität besser als bislang schützt. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass das Gesetzgebungsvorhaben eilbedürftig ist, weil damit auch Rechtsvorschriften geändert werden sollen, die ohne ent- sprechende Änderung aufgrund bisheriger Befristung zum Jahresende auslaufen würden. Dies betrifft etwa die Besetzungsreduktion der großen Strafkammern und der Jugendkammern, die mit dem Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege eingeführt worden war. Die insoweit ur- sprünglich vorgesehene Befristung soll nochmals verlän- gert werden, weil sich die Regelungen in der Praxis bewährt haben. Gleiches gilt für die mit der ZPO-Re- form geschaffene Begrenzung der Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde auf Streitwerte von mehr als 20 000 Euro. Auch diese Regelung hat sich in der Praxis bewährt und die bislang vorgesehene Befristung kann nochmals verlängert werden. Für unsere weitere Beratung bestehen deshalb auch zeitliche Notwendigkeiten: Wir müssen zu einem zügi- gen Abschluss des Gesetzgebungsvorhabens gelangen. Gründlichkeit und Schnelligkeit sind angesagt. Joachim Stünker (SPD): Wir beraten heute den Ge- setzentwurf der Bundesregierung für ein Zweites Justiz- modernisierungsgesetz. Mit diesem Vorhaben knüpfen wir an das Erste Justizmodernisierungsgesetz an, das wir im Juli 2004 beschlossen haben. Seinerzeit haben wir ei- nen ersten wichtigen Schritt hin zu einer Vereinfachung, Beschleunigung und flexibleren Gestaltung von Ge- richtsverfahren getan. Dieses Ziel wollen wir nun konsequent weiterverfol- gen. Deshalb haben wir heute einen umfangreichen Ka- talog von Vorschlägen eingebracht, die zu einer Verbes- serung des geltenden Verfahrensrechts beitragen sollen. Die jeweilige Verbesserung betrifft entsprechend der Fülle der geplanten Maßnahmen jeweils verschiedene Aspekte verschiedener Prozessordnungen. So geht es um die Steigerung der Zügigkeit und Kostengünstigkeit ge- richtlicher Verfahren im Interesse der Rechtsuchenden, aber auch um einen besseren Opferschutz oder die effek- tivere Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Da- bei sollen selbstverständlich bestehende rechtsstaatliche Standards erhalten werden. Der Entwurf umfasst eine Fülle von Maßnahmen in verschiedenen Verfahrensarten, auf die ich hier im Ein- zelnen nicht eingehen kann. Daher will ich meine Aus- führungen auf zwei mir besonders am Herzen liegende Teile des Entwurfes beschränken: das Strafrecht – Sank- tionensystem – und das Jugendstrafverfahren. Hierzu hat sich der Bundesrat in seiner Stellungnahme geäußert. Er hat verschiedene Alternativvorschläge unterbreitet, mit denen wir uns sachgerecht auseinander setzen werden. Für Verbesserungen sind wir offen. Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen: Das bewährte Sanktionensystem wollen wir zur Fle- xibilisierung von Strafverfahren ausbauen. Dazu schla- gen wir eine moderate Erweiterung der Möglichkeiten vor, in der die so genannte Verwarnung mit Strafvorbe- halt Anwendung finden kann. Dieses Sanktionsmittel – sozusagen eine Geldstrafe auf Bewährung – gibt den Gerichten die Möglichkeit, Straftaten mit geringem Un- rechtsgehalt angemessen zu sanktionieren, ohne dass unmittelbar eine Strafe ausgesprochen und vollstreckt wer- den müsste. Die Vollstreckung der angedrohten Geld- strafe erfolgt nur im Fall des Bewährungsversagens. Diese Sanktionsform ist dann angemessen, wenn einer- seits eine Verfahrenseinstellung nicht infrage kommt, andererseits aber ein direkter Eingriff im Wege der Straf- vollstreckung – möglicherweise auch im Hinblick auf Bewährungsauflagen – nicht erforderlich ist. Der Bundesrat hat diesen Vorschlag zu meinem Be- dauern zurückhaltend aufgenommen. Er hat sich darauf gestützt, dass der Vorschlag zu „nicht kompensierbaren Einnahmeausfällen bei den Ländern“ führen werde, da die Verwarnung mit Strafvorbehalt die Geldstrafe ver- drängen würde. Ich hoffe sehr, dass der Bundesrat seine in dankenswerter Klarheit formulierte Position noch ein- mal überdenkt. Unser strafrechtliches Sanktionssystem sollte in erster Linie darauf ausgerichtet sein, den Ge- richten Sanktionsmittel zur Verfügung zu stellen, die eine möglichst differenzierte schuldangemessene Reak- tion des Staates auf Straftaten ermöglichen. Sanktions- mittel dienen aus meiner Sicht hingegen nicht der Ge- währleistung bestimmter Staatseinnahmen. Bestandteil des Regierungsentwurfes ist auch eine Verbesserung des Opferschutzes, insbesondere im Ju- gendstrafverfahren. Der Entwurf erstreckt die geltenden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5935 (A) (C) (B) (D) Regelungen der Schutz- und Informationsrechte des Ver- letzten – einschließlich der Bestimmungen über den Op- feranwalt – auch auf Strafverfahren gegen Jugendliche. Der Bundesrat plädiert dagegen für die einge- schränkte Zulassung der Nebenklage. Ich gestehe ein, dass ich dabei im Hinblick auf den erzieherischen Zweck des Jugendstrafverfahrens Bedenken habe. Ein Neben- kläger möchte – legitim und nachvollziehbar – im eige- nen Interesse das Strafverfahren mitgestalten. Ich sehe hier einen gewissen Konflikt mit dem erzieherischen Grundansatz des Jugendstrafverfahrens. Eine Neben- klage ist daher im Jugendstrafverfahren allenfalls unter besonders einschränkenden Voraussetzungen vorstellbar, wie zum Beispiel bei schwersten Straftaten und schwerer körperlicher oder seelischer Beeinträchtigung des Op- fers. Mit diesen und anderen Vorschlägen werden wir uns im Ausschuss zu beschäftigen haben. Ich hoffe, dass wir in den anstehenden Beratungen konstruktiv zusammen- arbeiten werden und das Gesetzgebungsverfahren im Interesse von Gerichtspraxis und Rechtsuchendem zu ei- nem erfolgreichen und zügigen Abschluss bringen kön- nen. Mechthild Dyckmans (FDP): In regelmäßigen Ab- ständen befasst sich der Deutsche Bundestag mit Gesetz- entwürfen zur Reform der Justiz. Justizbeschleunigung, Justizentlastung, Justizanpassung und Justizmodernisie- rung sind nur einige der Schlagwörter, mit denen die Re- formgesetze in den vergangenen Jahren etikettiert waren. Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich Reformen, die geeignet sind, die Justiz tatsächlich zu modernisieren, ohne gleichzeitig die Qualität und Leistungsfähigkeit des Rechtsstaates zu beschneiden, nie verschlossen. Die FDP hat jedoch Bedenken, wenn ein Justizmodernisie- rungsgesetz auf das andere folgt. In der 14. Wahlperiode ist die große ZPO-Reform in Kraft getreten. Erst 2004 hat die Bundesregierung das l. Justizmodernisierungs- gesetz auf den Weg gebracht. Bereits zwei Jahre später beraten wir das 2. Justizmodernisierungsgesetz. Justiz ist in besonderer Weise auf Kontinuität an- gewiesen. Reformschritte in schneller Folge werden zu Unsicherheit bei den Rechtsanwendern führen. Die Ge- fahr ist groß, dass die Justiz mit immer neuen Reformen überfordert wird. Eine Qualitätssteigerung in der Justiz wird so nicht erreicht. Hinzu kommt, dass die Reform- initiativen grundsätzlich vom Spardiktat der Länder- finanzminister bestimmt werden. Auch die Gesetzes- begründung weist auf die Sparzwänge der öffentlichen Haushalte hin. Leitlinie des Gesetzentwurfs sei, so die Begründung, dass die gerichtlichen Verfahren kosten- günstiger durchgeführt werden können. Es wird auch darauf hingewiesen, dass durch die im Entwurf enthalte- nen Vereinfachungen des gerichtlichen Verfahrens Ein- sparungen in den Länderhaushalten zu erwarten sind. Reformen, die nur mit dem Ziel der Kostenreduktion be- trieben werden, werden in der FDP keine Verbündeten finden. Die FDP-Bundestagsfraktion erkennt jedoch an, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung einige Regelun- gen enthält, die grundsätzlich zu begrüßen sind. Dies gilt zunächst für die Einführung des neuen Wiederaufnahme- grundes: wenn der Europäische Gerichtshof für Men- schenrechte eine Verletzung der Europäischen Men- schenrechtskonvention festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht. Einen entsprechenden Wieder- aufnahmegrund haben wir bereits in § 359 Nr. 6 StPO. Es ist daher sachgerecht, einen entsprechenden Wieder- aufnahmegrund auch in der Zivilprozessordnung zu ver- ankern. Auch die Regelungen zum Opferschutz finden die Zu- stimmung der FDP. Es ist zu begrüßen, dass der Gesetz- entwurf den Wiedergutmachungsansprüchen des Opfers bei der Vollstreckung von Geldstrafen einen Vorrang einräumt. Dies entspricht einer langjährigen Forderung der Opferschutzverbände. Erfreulich sind auch die vorgesehenen Neuregelungen im Jugendgerichtsverfahren. Seit vielen Jahren wird in der Rechtspolitik gefordert, den Opferschutz im Jugend- gerichtsverfahren stärker zu verankern. Die FDP-Bundes- tagsfraktion hat hierzu in den vergangenen Jahren immer wieder Initiativen in den Bundestag eingebracht. Die Änderungen, die der Gesetzentwurf vorsieht, entspre- chen auch langjährigen Forderungen des Weißen Rings. Die FDP-Bundestagsfraktion wendet sich entschieden gegen die Behauptung, die Bereitstellung eines Opfer- anwalts und die Einführung des Adhäsionsverfahrens im Jugendgerichtsverfahren kollidiere mit den Grundsätzen des Jugendstrafrechts. Der Erziehungsgedanke des Ju- gendstrafverfahrens darf nicht dazu führen, dass dem Opfer wesentliche Rechte versagt werden. Gerade ju- gendliche Straftäter sollen erkennen, was sie dem Opfer angetan haben; dies entspricht gerade dem Erziehungs- gedanken des Jugendstrafrechts. Es wäre wünschens- wert, wenn diese wichtigen Änderungen zur Stärkung des Opferschutzes im Deutschen Bundestag eine breite Mehrheit finden würden. Wo Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten. Dies gilt auch für diesen Gesetzentwurf. Neben Regelungen, die die Zustimmung der FDP finden, enthält der Gesetzent- wurf auch Forderungen, die wir für sehr problematisch halten. Dies gilt insbesondere für den Vorschlag, Straf- täter künftig auch dann in Haft zu lassen, wenn sie eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erreichen. Mit dieser Konstellation haben sich die deutschen Gerichte wiederholt befasst. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtspraxis in seiner Entscheidung vom 18. August 2005 ausdrücklich für unzulässig erklärt. Es hat entschieden, dass ein erledigter Haftbefehl grund- sätzlich unwirksam ist. Es muss daran erinnert werden, dass eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Rechtskraft der Verurteilung durchbricht und eine Fort- setzung des Verfahrens erforderlich macht. Es ist schon bedenklich, wenn der Gesetzgeber gerade für solche Fälle eine gesetzliche Regelung schafft und damit den Zustand normiert, den das Bundesverfassungsgericht für unzulässig erklärt hat. Darüber hinaus ist fraglich, ob tatsächlich Bedarf für eine solche Regelung besteht. 5936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Wenn ein Haftgrund vorliegt, kann gegen die betroffene Person in der überwiegenden Zahl der Fälle bereits nach geltendem Recht Untersuchungshaft angeordnet werden. Im Ergebnis geht es der Bundesregierung darum, hier ein neues Haftbefehlsverfahren zu umgehen. In der Be- gründung des Gesetzentwurfs wird auch offen darauf hingewiesen, dass eine sofortige erneute Inhaftierung sehr aufwendig sei. Wir halten diese reinen Zweckmäßig- keitserwägungen in diesem Zusammenhang für unzuläs- sig. Bedenken haben wir auch gegen die Regelung in § 26 Nr. 8 EGZPO. Dort ist vorgesehen, dass die Nichtzulas- sungsbeschwerde nach § 544 ZPO bis zum 31. Dezem- ber 2006 nur bei Beschwerdewerten von mehr als 20 000 Euro eröffnet ist. Da sich diese Vorschrift bewährt habe, so der Gesetzentwurf, wird diese Übergangsrege- lung bis zum 31. Dezember 2011 verlängert. Ich halte diese Regelung für unehrlich. Man kann nicht von einer Übergangsregelung sprechen, wenn eine Norm zehn Jahre Bestand haben soll. Die vormals als Übergangsregelung vorgesehene Vorschrift verliert durch eine weitere Ver- längerung um fünf Jahre ihren vorläufigen Charakter. Zudem wird mit dieser Regelung die Nichtzulassungs- beschwerde bei Beschwerdewerten von weniger als 20 000 Euro ausgeschlossen. Es handelt sich dabei nicht um Bagatellfälle. In diesen Fällen ist eine höchstrichter- liche Überprüfung nicht mehr möglich. Die Bundesregierung trägt zur Begründung vor, der Bundesgerichtshof sei mit neu eingegangenen Revisio- nen und Nichtzulassungsbeschwerden überlastet. Wenn man mit diesem Problem ehrlich umgeht, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man stattet den Bundes- gerichtshof personell und sachlich besser aus oder man gibt zu, dass man sich eine Nichtzulassungsbeschwerde bei Fällen unter 20 000 Euro künftig nicht mehr leisten kann. Dann sollte man aber auch eine ehrliche Lösung wählen und die Regelung nicht im Einführungsgesetz der ZPO verstecken, sondern direkt in der ZPO verankern, und zwar nicht nur als Übergangsregelung. Nur so wird für den Rechtsanwender die nötige Transparenz geschaf- fen. Reformen die dazu dienen, die Leistungsfähigkeit und Effizienz der Justiz tatsächlich zu steigern, sind zu be- grüßen. Eine Verschlankung der Justiz darf jedoch nicht mit einer Qualitätsminderung einhergehen. An diesen Grundsätzen werden wir den Gesetzentwurf messen. Wolfgang Nešković (DIE LINKE): In einer einzi- gen Hinsicht ist der vorliegende Gesetzentwurf zur Mo- dernisierung der Justiz eine echte Glanzleistung. In rein semantischer Hinsicht. Denn der Entwurf wird zwar nicht die Justiz modernisieren, vielleicht aber die deut- sche Sprache. Die Entwurfsersteller erproben für den Begriff modern einen schwindelerregenden Bedeutungs- wandel. Jene Sinnumkehr, die der alten Bundesregierung mit dem Begriff der „Reform“ geglückt ist, setzt die ak- tuelle Koalition mit dem Begriff „modern“ fort. Ich fasse in der Kürze der Zeit exemplarisch einmal zusammen, was man im Justizministerium neuerdings unter Moder- nität versteht. Sie werden verstehen, dass ich in der kur- zen Redezeit, die mir gewährt wurde, kein Loblied auf die wenigen auch sinnvollen Aspekte des Entwurfes an- stimmen werde. Modern ist es in der Sprache des Justizministeriums, die Richter im Land gesetzlich zu Fortbildungen zu ver- pflichten, ohne dabei die Tatsache zu berücksichtigen, dass Fortbildungen nicht nur Geld, sondern vor allem Zeit erfordern. Zeit steht den Richtern zur Erledigung ih- rer täglichen Arbeit schon lange und bei weitem nicht mehr ausreichend zur Verfügung. Der Amtsrichterver- band brachte es in seiner Stellungnahme zum Entwurf auf den Punkt: Wenn die Fortbildung (…) zu oft kurz kommt, so liegt dies nicht am fehlenden Bewusstsein, sondern an der längst untragbar gewordenen Belastung – be- sonders bei den Amtsgerichten. Der Entwurf sieht das offenbar anders: Eine gesetzli- che Verpflichtung zu Fortbildung soll ohne echte Entlas- tung der Richterschaft dennoch zu mehr Fortbildung führen. Das geht eigentlich nicht. Die Logik des Vor- schlages ist dennoch interessant. Hätte man sich diese Logik bei den Diskussionen zur Gesundheitsreform zu Eigen gemacht, hätten sich die Koalitionäre sehr viel schneller einigen und sich damit viel Verdruss ersparen können. Man hätte nur die Kranken ganz einfach gesetz- lich verpflichten müssen, endlich wieder gesund zu wer- den. Modern ist es also, die Tatsachen zu ignorieren und das Unmögliche zur Pflicht zu machen. Modern ist es weiterhin in der Sprache des Entwurfs, den unbaren Zahlungsverkehr an den Gerichten in vielen Rechtsbereichen zur Regelsache zu machen. Für den ef- fektiven Justizgewähranspruch unterscheiden wir in Deutschland künftig Menschen mit einem Konto und solche ohne ein Konto. Von letzteren gibt es nicht we- nige. Denn alle bisherigen politischen Absichtserklärun- gen zum Konto für Jedermann blieben bis jetzt nur hoh- les Gerede. In unserem Land lebt heute eine ganz beträchtliche Zahl von Menschen, die kein eigenes Konto haben. Oft sind es Alte, Behinderte, sozial Schwache, Analphabeten oder Arbeitslose. Auf der Su- che nach ihrem Recht werden diese Menschen künftig auf die gnädige Gestattung einer Barzahlung im Ausnah- mefall angewiesen sein, wie sie § 40 Abs. 3 des Entwur- fes bestimmt – und dies auch nur, wenn es um Zahlun- gen aufgrund bundesrechtlicher Vorschriften geht. Was ist weiterhin modern am Entwurf? Der Entwurf sieht vor, für die Nichtzulassungsbeschwerde die hohe Beschwerdewertgrenze von 20 000 Euro zu verlängern. Wir wissen jetzt, dass man es im Justizministerium im- mer noch als modern ansieht, für die Gewährung von Rechtsmitteln zwischen wohlhabenden und armen Men- schen zu unterscheiden. Für das Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft sind 19 999 Euro und 99 Cent mögli- cherweise nur eine interessante Summe Geld. Für viele andere Menschen kann es bei dieser Summe im Zweifel um ihr gesamtes Vermögen und ihre Existenz gehen. Interessant ist auch, dass diese Ungleichbehandlung im Recht mit einer Überlastung des Bundesgerichtshofes begründet wird. Diese gibt es: das ist wahr. Mich wun- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5937 (A) (C) (B) (D) dert nur, dass das auch der Entwurf ganz freiherzig ein- räumt. Als nämlich meine Fraktion im Haushalts- und im Rechtsauschuss für ein paar Pappenstiele kämpfte, um endlich jedem Richter der obersten Gerichtshöfe ei- nen wissenschaftlichen Mitarbeiter zu Seite zu stellen, da lehnte man dies mit dem Bemerken ab, diese hätten keinen Bedarf an Entlastung. Modern ist es ganz offen- bar, die Überbelastung der Justiz dort schlicht abzustrei- ten, wo sie objektiv mehr Finanzen nötig macht, und dort wiederum einzuräumen, wo man Rechtsmittel kür- zen möchte. Modern, modern, modern. So geht das munter weiter. Ein wenig aber wird das Bild uneingeschränkter Moder- nität durch einen schmalen Passus gleich im Eingang der Gesetzesbegründung getrübt. Da heißt es gewisserma- ßen ganz altmodisch und vertraut, man müsse bei allen Gesetzesänderungen darauf achten, rechtstaatliche Stan- dards nicht zu mindern. Das hört sich gut an und ist auch völlig richtig. Leider macht es für den Inhalt eines Ge- setzespaketes keinerlei Unterschied, was Sie auf die Ver- packung schreiben. Darin unterscheidet sich Gesetzge- bung von keiner anderen Form der Produktion. Was hier als Inhalt produziert wurde, ist aber genau die wieder- holte Minderung von rechtstaatlichen Standards für die immer breiter werdende Schicht der sozial Benachteilig- ten. Das ist nicht hinnehmbar. Und noch aus einem anderen, gar nicht modernen Grund ist der Gesetzentwurf abzulehnen. Gestatten Sie mir die Verwendung eines sehr altmodischen Wortes, um das zu begründen: Ehrlichkeit. Es ist schlicht eine Sache der politischen Ehrlichkeit, die Verpackung gemäß dem Inhalt zu beschriften. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Modernisierung der Justiz ist keine Erfindung der gro- ßen Koalition und der Regierung Merkel. Sie ist ange- sichts des europäischen Einigungsprozesses, des vielfäl- tigen gesellschaftlichen Wandels und weiterhin knapper finanzieller Ressourcen eine fortwährende Herausforde- rung der Politik. Dabei gilt es, die Bürgerrechte zu wahren, den Rechtsstaat zu erhalten und die Justizge- währung zu optimieren. Mit dem Justizmodernisierungs- gesetz 2004 hat die rot-grüne Koalition diese Aufgabe bereits angepackt. Die Union hat in der Opposition durchgesetzt, das Justizmodernisierungsgesetz 2004 als ein „erstes“ JuMoG zu bezeichnen. Nunmehr legt die Bundesregierung – insoweit folgerichtig – ein „zweites“ JuMoG vor. Wir Grünen werden die Vorschläge dahin- gehend prüfen, ob sie die Justiz tatsächlich modernisie- ren, ohne Bürgerrechte zu verletzen und die rechtsstaatli- chen Standards abzubauen. Eine erste Bewertung nach diesen Kriterien fällt durchaus gemischt aus. Wir begrüßen es, dass in der Zivilprozessordnung ein neuer besonderer Wiederaufnahmegrund für vom Euro- päischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte Menschenrechtsverletzungen eingeführt wird. Wir be- grüßen ausdrücklich die Einführung einer Fortbildungs- verpflichtung für Richterinnen und Richter. Die Länder sind hier in der Pflicht, den Richterinnen und Richtern auch Gelegenheit und Zeit für eine qualifizierte Weiter- bildung zur Verfügung zu stellen. Die Stärkung des un- baren Zahlungsverkehrs und des Mahnverfahrens in ma- schinell lesbarer Form findet unsere grundsätzliche Zustimmung. Wir fordern schon lange, dass Wiedergut- machungsleistungen an Opfer Vorrang vor der Vollstre- ckung einer Geldstrafe haben. Dies stärkt die berechtig- ten Interessen der Opfer auf Entschädigung. Positiv ist auch der Vorschlag, die Verwarnung mit Strafvorbehalt auszuweiten, da dies dem Richter ermög- licht, flexibler und damit angemessener auf Straftaten zu regieren. Allerdings fänden wir es eine richtige Bank- rotterklärung schwarz-roter Rechtspolitik, wenn damit die seit Jahren überfällige Sanktionenrechtsreform gleichsam beerdigt würde. Diese Reform, zu der es aus der Zeit der rot-grünen Regierung beste Vorarbeiten gibt, ist dringend notwendig, um mehr Flexibilität der straf- rechtlichen Sanktionen zu erreichen und unnötige Er- satzfreiheitsstrafen zu vermeiden. Die Ausweitung der Opferinformations- und Bei- standsrechte im Jugendstrafverfahren wird von uns im Grundsatz begrüßt. Allerdings muss gesichert sein, dass der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts nicht zu- gunsten von Genugtuungsinteressen zurückgedrängt wird. Deshalb wird noch im Einzelnen sorgfältig zu prü- fen sein, ob die Einschränkung der Akteneinsicht für Opferanwälte, soweit der höchstpersönliche Lebensbe- reich jugendlicher Angeklagter berührt ist, ausreichend konsequent im Gesetz umgesetzt ist. Neben diesen positiven Punkten enthält der Gesetz- entwurf jedoch eine ganze Reihe fragwürdiger, zumin- dest jedoch noch ausführlich zu überprüfender Regelun- gen. Dazu gehört die Regelung, wonach Haft- und Unterbringungsbefehle bei Wiedereinsetzungsentschei- dungen „wiederaufleben“ sollen. Das Bundesverfassungs- gericht hat in seiner Entscheidung – 2 BvR 1357/05 – aus- geführt: „Ein einmal gegenstandslos gewordener Haftbefehl bleibt gegenstandslos. Liegen die Vorausset- zungen für eine Anordnung von Untersuchungshaft vor, so ist (gegebenenfalls) ein neuer Haftbefehl zu erlassen. Jede andere Sichtweise ist mit der wertsetzenden Bedeu- tung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) und den in Art. 104 Abs. 1 GG ent- haltenen formellen Gewährleistungen unvereinbar.“ Sie wollen entgegen dieser klaren verfassungsrechtli- chen Bewertung mit einer Gesetzesänderung Haft- und Unterbringungshaftbefehle doch wieder unmittelbar wirksam werden lassen. Die Betroffenen verweisen sie auf gerichtliche Entscheidungen, die diese unmittelbar wirksamen Freiheitsentziehungen im Nachhinein been- den können. Es bedarf sorgsamer Überprüfung im weite- ren parlamentarischen Verfahren, ob damit die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eingehalten sind. Wir werden allein schon wegen dieser neuen Regelung eine Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss beantra- gen. Auch die geplante Ausweitung des Adhäsionsverfah- rens auf heranwachsende Straftäter, die nach Jugend- strafrecht verurteilt werden, erscheint uns ausgesprochen problematisch. Wir haben erst vor kurzem zum 1. September 2004 das Adhäsionsverfahren erheblich 5938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) ausgeweitet. Es wäre mehr als sinnvoll, nach einigen Jahren zu überprüfen, wie die Gerichte diese neue Mög- lichkeit der Konzentration von Straf- und Zivilverfahren nutzen, bevor man sich an weitere Ausweitungen macht. Doch auch in der Sache stehen wir Grünen diesem aus der Feder der Union stammenden Vorschlag kritisch ge- genüber. Das Jugendstrafrecht, das auf Heranwachsende mit Reiferückständen Anwendung findet, dient in erster Linie einer Erziehung der straffälligen Täter. Alles, was diesen Grundgedanken des Jugendstrafrechts stört, sollte aus dem Jugendstrafverfahren herausgehalten werden. Die Begründung, mit der die Bundesregierung die Aus- dehnung des Adhäsionsverfahrens auf straffällig gewor- dene Jugendliche ablehnt, hat auch bei Verfahren gegen Heranwachsende, auf die Jugendrecht zur Anwendung kommt, Bestand. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die Geltendmachung ganz hoher Schadensersatzansprü- che nicht notwendigerweise zu einer anwaltlichen Ver- tretung oder Pflichtverteidigung führt. Dieser Missstand ist in Jugendstrafverfahren besonders problematisch und sollte beseitigt werden. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz: Im Jahr 2004 haben wir mit dem Ersten Justizmodernisierungsgesetz eine Vielzahl von Regelungen auf den Weg gebracht, die eine Verbes- serung des Verfahrensrechts bewirken sollten und auch bewirkt haben. Der Regierungsentwurf eines Zweiten Justizmodernisierungsgesetzes verfolgt dasselbe Ziel. Mit zahlreichen gezielten Rechtsänderungen soll dazu beigetragen werden, dass Gerichtsverfahren zügiger und kostengünstiger ablaufen. Die vorgeschlagenen Rechts- änderungen haben eine ganz unterschiedliche Dimension und betreffen insgesamt 26 Stammgesetze. Vieles hat da- bei rechtstechnischen Charakter und soll notwendige Korrekturen bewirken. Zugleich enthält der Entwurf aber auch sachlich wichtige Neuerungen. Im Bundesrat haben die Vorschläge des Regierungs- entwurfs überwiegend Zustimmung erhalten und der von den Ländern angemeldete Änderungsbedarf kann aus der Sicht des Bundesjustizministeriums in vielen Punkten mitgetragen werden. Das gilt zum Beispiel für vorge- schlagene Änderungen zum ZPO-Teil und zur Vereinfa- chung der Regelungen über die Schecksicherheit bei der Zwangsversteigerung. Dieses hohe Maß an Konsens ist erfreulich und wich- tig; denn wir können uns mit diesem Gesetz nicht belie- big viel Zeit lassen. Der Regierungsentwurf enthält viel- mehr drei Vorschläge, mit denen für die Praxis wichtige Regelungen verlängert werden sollen, die andernfalls zum 31. Dezember dieses Jahres auslaufen würden. Es geht dabei um die Verlängerung der Besetzungsreduk- tion bei großen Strafkammern in Art. 5 des Entwurfs, die für die Länder große praktische Bedeutung hat, und um zwei Punkte, die für die Bundesgerichte wichtig sind, nämlich die Verlängerung der Wertgrenze für Nichtzu- lassungsbeschwerde in allgemeinen Zivilsachen und die Verlängerung des Ausschlusses der Nichtzulassungsbe- schwerde in allen Familiensachen – beides steht in Art. 9 des Entwurfs. Wenn wir bei diesen Punkten der gerichtlichen Praxis in Bund und Ländern erhebliche Probleme ersparen wol- len, muss das Gesetz zum Ende dieses Jahres in Kraft treten. Deshalb hoffe ich sehr und bin auch zuversicht- lich, dass es im Zuge der weiteren Beratungen gelingen wird, auch für die Punkte eine konsensfähige Lösung zu finden, in denen wir bislang mit den Ländern noch nicht einig sind. Das gilt vornehmlich für einzelne Punkte des straf- und jugendstrafrechtlichen Teils des JuMoG 2. Bei den Änderungsvorschlägen des Regierungsent- wurfs im allgemeinen Strafrecht ist der zentrale und gleichzeitig vom Bundesrat bekämpfte Punkt die Erwei- terung des Anwendungsbereichs der Verwarnung mit Strafvorbehalt. Damit wollen wir den Gerichten mehr Flexibilität bei der Sanktionierung von Kleinkriminalität geben. Durch die vorgeschlagenen Änderungen wird die bis- lang verkümmerte Verwarnung mit Strafvorbehalt zu einer wertvollen Ergänzung im System der vorgerichtli- chen und gerichtlichen Diversion. Ihr Anwendungsbe- reich erfasst Fälle, in denen eine Benennung des began- genen Unrechts notwendig, eine Bestrafung jedoch nicht unbedingt erforderlich ist. In diesen Fällen kommt eine Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen nicht in Be- tracht. Im Übrigen kann die Verwarnung mit Strafvorbe- halt auch in Fällen angewendet werden, in denen eine Verfahrenseinstellung an dem Fehlen der notwendigen Zustimmung des Beschuldigten oder der Staatsanwalt- schaft im gerichtlichen Verfahren bzw. des Gerichts im Ermittlungsverfahren scheitert. Da sie auch im Strafbe- fehlsverfahren verhängt werden kann – § 407 Abs. 2 Nr. 1 StPO –, liegt der mit der Verwarnung mit Strafvorbehalt verbundene Aufwand nicht notwendigerweise über dem- jenigen einer Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO. Der Bundesrat hat seine Ablehnung der Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt fast wortgleich mit der ablehnenden Stellungnahme des Bundesrates gegen- über dem Gesetzentwurf der früheren Bundesregierung zur Reform des Sanktionenrechts begründet. Er berück- sichtigt dabei nicht, dass die jetzigen Vorschläge in zen- tralen Punkten von den damaligen abweichen. Wir haben davon abgesehen, § 59 StGB als zwingende Regelung – „Muss-Regelung“ – auszugestalten. Damit wurde dem damals und jetzt wieder vom Bundesrat geäußerten Be- denken Rechnung getragen, dass „die Geldstrafe in brei- tem Maße durch die Verwarnung mit Strafvorbehalt ver- drängt würde“. Darüber hinaus haben wir darauf verzichtet, die Erteilung von Auflagen oder Weisungen zur gesetzlich vorgeschriebenen Regel zu machen. Da- mit sind wir Befürchtungen entgegengekommen, der Ausbau der Verwarnung mit Strafvorbehalt verursache einen „gravierenden Mehraufwand“ in der Praxis. Unser neuer Regelungsvorschlag ist demnach bereits ein Kompromiss, aber kein „fauler“, wie ich betonen möchte. Denn beide Änderungen sind durchaus im Sinne der erstrebten Flexibilisierung: Das Spektrum der Reak- tionen auf geringfügige Straftaten wird erweitert, ohne dass das Gericht zu bestimmten Reaktionen gezwungen wird. Bei den Änderungsvorschlägen zum Jugendstrafrecht betrifft ein Schwerpunkt eine Verbesserung der Rechts- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5939 (A) (C) (B) (D) stellung des Verletzten – also des Opferschutzes – auch im Jugendstrafverfahren. Die angemessene Behandlung der Opfer im Strafverfahren liegt mir besonders am Her- zen. Dies gilt gegenüber mutmaßlichen Tätern, die noch Jugendliche sind, ebenfalls. Es entspricht letztlich auch dem jugendstrafrechtlichen Erziehungsgedanken, ihnen zu verdeutlichen, dass es in dem Strafverfahren nicht nur um ihre Probleme geht, sondern dass dessen Anlass in dem begangenen Unrecht und den dem Opfer zugefüg- ten materiellen und immateriellen Verletzungen liegt. Der Entwurf sieht deshalb neben Verbesserungen im Bereich des Adhäsionsverfahrens und der Anwesen- heitsrechte ausdrücklich die Anwendbarkeit der Schutz- und Informationsrechte des Verletzten, die die Strafpro- zessordnung bei erwachsenen Beschuldigten einräumt, auch bei Jugendlichen vor. Der Bundesrat will darüber hinaus gegen Jugendliche die Nebenklage zulassen, wenn Gründe der Erziehung nicht entgegenstehen. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme eine noch- malige Prüfung dieser wichtigen Frage zugesagt. Wir haben sie unter Berücksichtigung der Argumente der Opferschutzverbände vorgenommen und wollen den Vorschlag nur in modifizierter Form aufnehmen. Die Lösung des Bundesrates erscheint zum einen zu eng: Wegen der einschränkenden Voraussetzungen, die in jedem Einzelfall vom Gericht für die Zulassung der Ne- benklage zu beachten wären, würden die mit ihr verbun- denen Verbesserungen des Opferschutzes in der Praxis wahrscheinlich zu einem großen Teil ins Leere laufen. Zum anderen stehen die offensiven Rechte der Neben- klage generell im Konflikt mit einer Orientierung des Verfahrens am Erziehungsgedanken und der entspre- chenden Zielsetzung des Jugendstrafrechts. Sie enthalten außerdem die Gefahr von Verfahrensverzögerungen, ins- besondere durch Beweisanträge und Rechtsmittel, die dem besonderen Beschleunigungsgebot bei Jugendlichen und damit der anzustrebenden möglichst zeitnahen Sank- tionierung zuwiderlaufen. Bei schwersten Straftaten mit schwerer Verletzung des Opfers fallen derartige zusätzli- che Belastungen des Verfahrens durch die Nebenklage jedoch weniger ins Gewicht. Hier würde es der Position des Opfers nicht ausreichend gerecht, dieses im Wesent- lichen weiterhin auf eine weitgehend passive Rolle zu beschränken. Mit einer Begrenzung auf schwerste Ver- brechen, wie sie zukünftig auch eine Sicherungsverwah- rung von jugendlichen Straftätern ermöglichen könnte, sollte deshalb die Nebenklage eröffnet werden – und zwar dann ohne die weiteren Einschränkungen des Bun- desrates. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Europäisches Jahr der Chancengleichheit – Recht auf Bildung rea- lisieren (Tagesordnungspunkt 17) Marcus Weinberg (CDU/CSU): Vor dem Hinter- grund des Europäischen Jahres der Chancengleichheit fordert Die Linke einen „Rat für Chancengleichheit im Bildungswesen“. Ziel des Rates soll unter anderem sein: Diskriminierungsverhältnisse im Bildungssystem aufzu- decken, politische Maßnahmen zur Beseitigung dersel- ben zu erarbeiten und Integration von chronisch Kranken und behinderten Kindern und Jugendlichen. Die Beset- zung, der genaue Auftrag und die Kompetenzen des ge- forderten Rates sollen auf Grundlage einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung erarbeitet und anschließend dem Bundestag und Bundesrat zur Verabschiedung vor- gelegt werden. Begriffe wie „Chancengleichheit“ und „Verschärfung der sozialen Ungleichheit“ dürfen nicht falsch verstan- den werden und man sollte sie vor allem nicht inflationär verwenden oder gar missbrauchen. Wirkliche Chancengleichheit hat mit Eigeninitiative, Verantwortung, Freiheit und Arbeit zu tun. Das muss man fordern und fördern. Eltern müssen in die Pflicht genommen werden und der Staat muss kompensatorisch bestehende Defizite ausgleichen. Das Tragen von Ver- antwortung, Liebe und die Sorge um die eigenen Kinder sind leider nicht mehr selbstverständlich in unserem Land. Wer Leistungen und Verantwortung vom Staat will, muss selbst auch welche erbringen und nicht aus- schließlich nach dem Staat rufen. Es gilt das Prinzip der Subsidiarität. Die Errichtung von Institutionen, von denen wir schon viel zu viele haben, die noch mehr Verwaltungs- strukturen schaffen – davon sollte man dann Abstand nehmen, wenn die Ziele bereits durch bestehende Struk- turen erreicht werden. Überinstitutionalisierung hält kein Staat aus. Verwaltungsstrukturen sind kostenintensiv. Der Nutzen steht hier in keinem Verhältnis zum Einsatz der Mittel. Auch im Bildungsbereich geht es um einen effizienten Einsatz der Mittel – für mehr Bildungsquali- tät – für alle Kinder. Man muss davon wegkommen, Kitas und Schulen als reine Verwahr- und Verwaltungsapparate zu betrachten. Ähnlich wie in mittelständischen Unternehmen ist und sollte das Produkt die Qualität der Lehre sein. Unter die- sem Gesichtspunkt bekommt man eine Dynamik die wegbewegen kann von teuren aufgeblasenen Verwal- tungsstrukturen und nivellierten Bildungskontrollen, die zur Versteinerung jeglichen Denkens führen. Zur Chan- cengleichheit gehört auch Freiheit und Wettbewerb. Das kann man nicht trennen. Das eine bedingt das andere! Wir wollen und brauchen Bildungsqualität, um in der Zukunft bestehen zu können. Unsere Reserven für nach- folgende Generationen sollten und dürfen wir nicht ver- brauchen. Schauen wir uns Berlin an: Eine rot-rote Regierung, die einen 61 Milliarden Euro Schuldenberg angehäuft hat. Sie haben ihre Flexibilität verbraucht, die Kitage- bühren erhöht und Schulen geschlossen, auch wegen der Kosten durch die Überinstitutionalisierung. Inhalt und Qualität der Lehre und des Umgangs miteinander ver- schlechterten sich zunehmend, nicht nur wegen des Leh- rermangels. 5940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Statt Wettbewerb unter den Schulen zu fördern, legen sie ihn lahm. Ein Wettbewerb aber kann maßgeblich die Dynamik steigern und damit Bildungsqualität fordern und fördern. Es wundert wenig, dass das Interesse der Eltern an Privatschulen steigt, auch in sozial schwachen Familien. Der Staat muss Eigeninitiative fordern und fördern. Er sollte den Menschen die Eigeninitiative nicht abnehmen. Dann würden sie unmündig. Das kennen wir schon aus der Geschichte. Verantwortung füreinander übernehmen und tragen, kommunizieren, miteinander sprechen, Netzwerke bilden, sich austauschen, das ge- hört zum Leben. Das kann keine teuer geschaffene, Steu- ergelder verbrauchende Institution ersetzen, deren Auf- gaben bereits erfüllt werden. Im Antrag heißt es, auf europäischer Ebene und auf der Grundlage der Lissabonstrategie hätten getroffene Vereinbarungen zur Bildungspolitik bisher keinen Bei- trag zur Realisierung der Chancengleichheit geleistet und wirkten sogar häufig in die gegenteilige Richtung. Dieser Satz ist schlichtweg falsch. Ein Beispiel: Ausge- hend von einem Beschluss des Deutschen Bundestages vom 1. Juli 2004 wurde im Jahr 2004 durch ein Natio- nalkomitee bei der Deutschen UNESCO-Kommission ein Nationaler Aktionsplan für die Dekade entwickelt, der das Hauptziel verfolgt, den Gedanken der nachhalti- gen Entwicklung in allen Bildungsbereichen in Deutsch- land zu verankern. Das Nationalkomitee hat 2005 einen durch konkrete Maßnahmen angereicherten Nationalen Aktionsplan vorgelegt. Die Länder werden innerhalb der Dekade zunehmend aktiv. Seit Beginn der Dekade im Jahr 2005 werden Projekte und Initiativen aus Deutsch- land, die dem Ziel der Bildung für eine nachhaltige Ent- wicklung entsprechen, als offizielle Dekadeprojekte aus- gezeichnet. Bisher haben bereits mehr als 250 Projekte die Auszeichnung erhalten. Die UN-Dekade ist bisher ausgesprochen positiv und mit großer öffentlicher Reso- nanz verlaufen. Sie ist ein gutes Beispiel für eine wirkungsvolle Kooperation von Bund, Ländern und zivilgesellschaftlichen Akteuren innerhalb eines zu- kunftsrelevanten Bildungsthemas. Der Föderalismus ist hier kooperativ und fördernd. Es funktioniert doch! International werden die deutschen Aktivitäten sehr positiv wahrgenommen. Sie gelten als weit entwickelt und als beispielhaft für andere Staaten. Für Punkt 3 Ihres Antrages gilt dasselbe. Sie sagen: Das europäische Jahr der Chancengleichheit solle zum Anlass genommen wer- den, um die bisherige Bildungspolitik in Europa, im Bund, in den Ländern und den Kommunen kritisch zu evaluieren und bildungspolitische Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die dazu beitragen, das Recht auf Bil- dung zu realisieren. Das ist längst geschehen. Sie haben nicht zugehört und schauen weg. Zudem haben sich Bund und Länder auf die Grundla- gen einer gemeinsamen Zusammenarbeit in den Berei- chen Bildung und Forschungsforderung gemäß der im Juni und Juli 2006 von Bundestag und Bundesrat be- schlossenen Föderalismusreform bereits verständigt, beispielsweise bei internationalen Vergleichsstudien im Bildungsbereich, bei der Fortschreibung des Nationalen Bildungsberichts und der gemeinsamen Forschungsför- derung einschließlich der Förderung von Forschungs- bauten an Hochschulen und Großgeräten. Mit der Föderalismusreform und der Neuformulie- rung des Art. 91 b GG wurde ein Handlungsspielraum eröffnet, der es ermöglicht, die gemeinsame Verantwor- tung von Bund und Ländern wahrzunehmen. Die neue Gemeinschaftsaufgabe zur Finanzierung von Vorhaben der Wissenschaft und Forschung an Hochschulen er- möglicht auch die gemeinsame Förderung der Lehre an Hochschulen, gerade auch im Hinblick auf die steigen- den Studierendenzahlen. Die Vereinbarungen tragen den im Grundgesetz verankerten neu geregelten Verantwort- lichkeiten im Bildungsbereich Rechnung. Gemeinsames Ziel von Bund und Ländern ist die Stärkung des Bildungs- und Forschungsstandorts Deutschland im internationalen Vergleich. Im Bereich der Forschungsförderung wird künftig eine Gemeinsame Wissenschaftskonferenz, GWK, an die Stelle der Bund- Länder-Kommission für Bildungsplanung und For- schungsförderung, BLK, treten. Ihr gehören die für Wis- senschaft und Forschung sowie die für Finanzen zustän- digen Ressortchefs des Bundes und der Länder an. Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz wird alle Bund und Länder gemeinsam berührenden Fragen der Forschungsförderung, der wissenschafts- und for- schungspolitischen Strategien und des Wissenschaftssys- tems behandeln. Ziel ist, in enger Koordination auf dem Gebiet der nationalen, europäischen und internationalen Wissenschafts- und Forschungspolitik die Leistungsfä- higkeit des Wissenschafts- und Forschungsstandortes Deutschland zu steigern. Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz wird tätig in Fällen von überregionaler und gesamtstaatlicher Be- deutung, bei der Förderung von Einrichtungen und Vor- haben der wissenschaftlichen Forschung außerhalb von Hochschulen, Vorhaben der Wissenschaft und For- schung an Hochschulen und Forschungsbauten an Hoch- schulen einschließlich Großgeräten. Als übergreifendes Ziel sehen Bund und Länder die Verbesserung der investiven Voraussetzungen der deut- schen Hochschulen für eine erfolgreiche Teilnahme am nationalen und internationalen Wettbewerb in der For- schung. Der Wissenschaftsrat wird seine Grundaufträge „Beobachtung und Fortentwicklung des Wissenschafts- systems“ einerseits sowie „Qualitätssicherung der Wis- senschaft“ andererseits auch in Zukunft in bewährter Form wahrnehmen. Die Gemeinschaftsaufgabe Bil- dungsplanung ist mit der Föderalismusreform entfallen. Künftig werden Bund und Länder im Bildungsbereich bei der Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungs- wesens im internationalen Vergleich zusammenwirken. Wesentliche Vorhaben im Bereich der neuen Gemein- schaftsaufgabe werden in Zukunft in regelmäßigen Zu- sammenkünften der Bundesministerin bzw. des Bundes- ministers für Bildung und Forschung mit den für Bildung zuständigen Ministerinnen und Ministern, Sena- torinnen und Senatoren der Länder erörtert. Nachdem Einvernehmen über die jeweiligen Vorhaben hergestellt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5941 (A) (C) (B) (D) worden ist, werden die Ergebnisse der Öffentlichkeit ge- meinsam vorgestellt. Das Abkommen, das mit Wirkung zum l. Januar 2007 in Kraft treten soll, sieht darüber hinaus Übergangsver- einbarungen nach dem Außer-Kraft-Treten der Rahmen- vereinbarung Modellversuche für die über den 31. Dezember 2006 hinaus laufenden Vorhaben der Bil- dungsplanung vor. Bund und Länder verpflichten sich damit, in enger Abstimmung für einen geordneten Über- gang der Vorhaben und für ihre Ausfinanzierung Sorge zu tragen. Die Übergangsregelungen betreffen laufende Vor- haben der Bildungsplanung – BLK-Modellversuchs- programme, BLK-Verbundprojekte, BLK-Einzelmodell- versuche, Projekte im BLK-Förderschwerpunkt „Fernstudium“ und Projekte zur Förderung des Einsatzes neuer Medien in der Lehre –, bundesweite Schüler- und Jugendwettbewerbe, die Deutsche Schüler Akademie, Medienprogramme und Medienprojekte im Schulbereich sowie Internetportale im Bildungsbereich. Bildung, Forschung und Technologie sind elementare Voraussetzungen für ein zukunftsfähiges Europa. Sie be- gründen Innovation für ein nachhaltiges Wachstum, mehr Beschäftigung und den kulturellen und sozialen Zusammenhalt. Vor dem Hintergrund der Frage nach der Zukunft Europas und der angestrebten Wiederbelebung des europäischen Verfassungsprozesses findet die deut- sche Ratspräsidentschaft im Bereich der Bildung und Forschung folgende übergreifende Rahmenbedingungen vor: Lissabonstrategie zur Stärkung der Wettbewerbsfä- higkeit Europas, 50 Jahre Römische Verträge am 25. März 2007, Start des Bildungsprogramms für lebens- langes Lernen, verbunden mit einer größeren Synergie zwischen nationalen und europäischen Maßnahmen, Start des 7. Forschungsrahmenprogramms einschließlich der Etablierung des Europäischen Forschungsrates, ERC, und des Sicherheitsforschungsprogramms. Deutschland wird die Ratspräsidentschaft 2007 nut- zen, um die neuen EU-Rahmenprogramme in Bildung und Forschung transparent und nutzerfreundlich zu im- plementieren und Initiativen anzustoßen, die zu einem nachhaltigen Ausbau eines global wettbewerbsfähigen europäischen Raums der Bildung und Forschung führen. Bildung ist der Schlüssel für individuelle Lebens- chancen – die Chance auf kulturelle, wirtschaftliche und soziale Teilhabe des Einzelnen. Dieser Erkenntnis fol- gend erklärt sich die zentrale Rolle der Bildungspolitik im Rahmen der Lissabonstrategie der EU: Die Summe der individuellen Lebenschancen der Bürgerinnen und Bürger in Europa entscheidet über die Wettbewerbsfä- higkeit der europäischen Wirtschaft, den sozialen Zu- sammenhalt in der Gesellschaft und nicht zuletzt über das Zusammenwachsen der Mitgliedstaaten auf der Ba- sis eines gemeinsamen Verständnisses von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Werten. In diesem Selbstver- ständnis und mit diesem bildungspolitischen Anspruch werden wir die zentralen Handlungsfelder der europäi- schen Bildungszusammenarbeit vorantreiben: Zu nennen sind unter anderem die Bildungsprogramme SOKRA- TES und LEONARDO. Mit dem Start des Programms für lebenslanges Lernen unter deutscher Ratspräsident- schaft ist die Grundlage geschaffen, diese Erfolgsge- schichte fortzuführen und weiter auszubauen. Zu diesem Anlass wird der deutsche Ratsvorsitz in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission am 6. und 7. Mai 2007 in Berlin eine große europäische Startkonferenz durchführen. Das Programm Laufzeit 2007 bis 2013 unterstützt mit einem Budget von rund 7 Milliarden Euro die grenzüberschreitende Mobilität von Lehrenden und Lernenden aller Bildungsstufen so- wie die Zusammenarbeit von Bildungseinrichtungen aus verschiedenen europäischen Ländern. Forderungen nach Verankerung von Rechtsansprüchen auf Gebührenfrei- heit von Bildung im Grundgesetz weist die CDU/CSU- Fraktion zurück. Es entspricht nicht der Funktion und dem Charakter des Grundgesetzes, konkrete monetäre Rechtsansprüche des Bürgers gegenüber dem Staat fest- zulegen. Die Konkretisierung erfolgt im Rahmen der einfachen Gesetzgebung auf der Grundlage der jeweili- gen Gesetzgebungskompetenz. Die Gesetzgebungskompetenz für die Erhebung von Studiengebühren liegt nach Rechtsprechung des Bundes- verfassungsgerichts bei den Ländern. Das Bundesverfas- sungsgericht hat gleichzeitig die sozialstaatliche Ver- pflichtung der Länder in seinem Urteil vom 26. Januar 2005 betont. Das Urteil hat damit gleichzeitig deutlich gemacht, dass das Sozialstaatsprinzip der Erhebung von Gebühren im Bildungssystem nicht entgegensteht, so- lange die Chancengleichheit durch angemessene soziale Abfederung der Gebühren gewährleistet bleibt. Dem ist nichts hinzuzufügen. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Die Fraktion Die Linke nimmt das Europäische Jahr der Chancen- gleichheit zum Anlass, die Bundesregierung aufzufordern, in Zusammenarbeit mit den Ländern und den Kommunen einen Rat für Chancengleichheit im Bildungswesen ein- zurichten. Der Antrag ist kurz, die Begründung mager, der Vorschlag wohlfeil. Dieses Mal habe ich mich dabei über einen Antrag der Fraktion Die Linke nicht nur ge- wundert, sondern auch ein Gutteil geärgert. Denn was hier so leichthin mal eben aufgeschrieben wird, verrät wirklich nicht viel von gedanklicher Durchdringung und konzeptioneller Anstrengung. Schon der Anlass wirkt sehr vordergründig. Braucht die Linkspartei ein Europäisches Jahr der Chancen- gleichheit, um zu einem solchen Vorschlag zu kommen? Soll dieser Rat für Chancengleichheit nur so lange wirk- sam sein, wie das Europäische Jahr ausgerufen ist? Was hat dieser Rat für Chancengleichheit eigentlich mit Eu- ropa zu tun? Den Fragen hierzu ließen sich weitere fin- den. Auch die Herleitung der sozialen Begründung ist faden- scheinig und unsauber aufgebaut. Natürlich trifft der erste Satz der Analyse noch den Kern, nämlich dass in keinem anderen vergleichbaren Land in Europa der Bil- dungsstand so stark von der sozialen Herkunft abhängig ist wie in der Bundesrepublik Deutschland, nur sind die weiteren Erläuterungen dann doch sehr widersprüchlich und fragwürdig. Sicherlich gibt es mehr Ursachen als 5942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) nur die Einstellung der Lernmittelfreiheit und die Ein- führung der Studiengebühren, die zu einer Verschärfung der sozialen Ungleichheit führen können. Die Debatte um Bildungsarmut, die kürzlich auch im Bundestag geführt worden ist, hat hierzu doch schon tieferes Verständnis aufgezeigt, hinter das wir jetzt nicht zurück- fallen sollten. Vollends ärgerlich werden dann aber Sätze wie der folgende im Antrag der Linkspartei, dass die Verschärfung der sozialen Ungleichheit vor allem chro- nisch Kranke und behinderte Jugendliche im Bildungs- system diskriminiere. Diese Gruppe der chronisch Kran- ken und behinderten Jugendlichen soll zugleich, wie aus der abschließenden Forderung des Antrags der Linken hervorgeht, zu einem Schwerpunkt des angesprochenen Rates für Chancengleichheit im Bildungswesen gemacht werden. Damit kein Missverständnis entsteht: Dass chronisch Kranke und behinderte Jugendliche eine besondere Auf- merksamkeit aller Beteiligten erfahren müssen, um im Bildungssystem eben nicht diskriminiert, sondern inte- griert, gefördert oder in ihren Möglichkeiten gestärkt zu werden, ist ausdrücklich anzuerkennen und wird von der SPD breit und nachhaltig unterstützt. Auch der Fraktion Die Linke sollte nicht entgangen sein, dass es hierzu in den letzten Jahren das ernsthafte Bemühen um deutliche Verbesserungen gegeben hat, von der verstärkten und verantwortlichen Frühförderung über die Einrichtung von pädagogischen Zentren an den Förderschulen der verschiedenen Art bis hin zu der Öffnung von Regel- unterricht für die Integration von Kindern und Jugend- lichen mit Behinderungen in Form von Integrationsklas- sen, Integrationsgruppen und Ambulatorien. Dass es hier immer noch zu weiteren Verbesserungsmöglichkeiten kommen kann, steht gleichwohl außer Frage, außerdem dass wir wachsam sein müssen in Bezug auf ein mögli- cherweise nachlassendes Interesse, Verdrängungswett- bewerbe, Beschneidung der besonderen Förderung die- ser besonders betroffenen Kinder und Jugendlichen durch konkurrierende Interessen und andere Prioritäten in der Schule, wird hier im Hause sicherlich genauso von allen Kräften geteilt. Nur einen Rat für Chancengleichheit im Bildungswe- sen speziell mit den Anliegen dieser Gruppe zu begrün- den, wäre sicherlich sehr kurz gesprungen. Ich wage die Hypothese: Zu einem anderen Zeitpunkt hätte die Frak- tion Die Linke die besondere Zielsetzung eines solchen Bildungsrates anhand der Jugendlichen mit Migrations- hintergrund, zu einem zweiten Zeitpunkt anhand der Kinder- und Jugendlichen aus sozialer Armut, zu einem dritten Zeitpunkt mit Blick auf die bildungsfernen Mi- lieus hergeleitet. Dieses Hochziehen ständig wechseln- der Problemgruppen wird dem durchaus berechtigten Anliegen der Fraktion Die Linke keineswegs gerecht, dass das Bildungswesen in Deutschland wahrlich durch- lässiger, unabhängiger von der sozialen Herkunft und leistungsfähiger in Bezug auf die Förderung aller Kinder und Jugendlicher werden muss. Um es polemisch zu sa- gen: Dieses Problemgruppen-Hopping ist dem großen und berechtigten Anliegen von mehr Chancengleichheit nicht angemessen, ja unwürdig. Es bleibt schließlich der entscheidende Punkt, wes- halb wir von der Sozialdemokratie aus die schnell hinge- schriebene Forderung nach einem Rat für Chancen- gleichheit im Bildungswesen nur als wohlfeil und politisch vordergründig ansehen können. Auch der Frak- tion Die Linke wird bekannt sein, welche Ergebnisse bis hin zu harten Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern die Föderalismusreform gehabt hat. Instru- mente, an denen die auch von uns im Bundestag ge- wollte gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen für die Bildungsentwicklung jetzt anset- zen kann, sind die Bildungsberichterstattung, die Bil- dungsforschung und einige sehr konkrete Aufgaben, wie wir sie beispielhaft mit dem Hochschulpakt aktuell dis- kutieren und nach vorne bewegen. Passend zu dem Zeit- punkt, da die Bund-Länder-Kommission, durchaus zum Bedauern der Sozialdemokraten hier im Bundestag, vor ihrer Auflösung steht, mag Die Linke hier noch einmal eine alternative Duftmarke setzen wollen, nur wirklich- keitsnah und strategisch ist dieses auch nicht. Die Forderung nach einem solchen Bildungsrat ist auch deshalb aktuell wohlfeil, weil es ja tatsächlich schon einen Bildungsrat in der großen Reformzeit der 70er-Jahre aus der gemeinsamen Regierungsarbeit der sozialliberalen Koalition und den damals noch aus Über- zeugung oder Taktik aufgeschlossenen CDU-regierten Ländern gegeben hat. Nur auch hier kennt die Fraktion Die Linke den Verlauf der Geschichte; denn nach ersten hoffnungsvollen Anstrengungen, die gemeinsam ergrif- fen wurden, ist dieser Bildungsrat dann genauso schnell als Institution ins Abseits gedrängt worden. Schließlich bleiben die Erfahrungen mit dem Forum Bildung, das sehr erfolgreich von der Bundesministerin Edelgard Bulmahn am Anfang der rot-grünen Regie- rungszeit eingerichtet worden ist und das im Wechsel- spiel nicht zuletzt mit dem damaligen bayerischen Kul- tusminister Zehetmair zu einer überzeugenden Reihe von Ergebnissen gekommen ist, was Analyse, Hand- lungsfelder und Lösungsvorschläge angeht. Die Schrif- tenreihe aus diesem Forum Bildung steht durchaus gleichberechtigt neben den Schriften aus dem damaligen ersten Bildungsrat, die ja schon zu legendären analytisch- programmatischen Bänden, wie dem über Begabung und Lernen, geführt hat. Und dennoch auch hier: Viel Papier kann geduldig sein und immer neues Papier muss noch keinen Fort- schritt erbringen. Die Bereitschaft in Deutschland, einen Bildungsrat mit der notwendigen Weite der Aufgaben- stellung, der Offenheit der Lösung wie der Verbindlich- keit der Ergebnisse einzurichten, muss offensichtlich noch wachsen. So schnöde kann Realpolitik sein. Aber wir haben jetzt anzufangen und anzuknüpfen an den In- strumenten der Bildungsberichterstattung, der Bildungs- forschung, der gemeinsamen Arbeit von Bund und Län- dern in der beruflichen Bildung, an den Hochschulen sowie in der Weiterbildung, an der Verpflichtung von Bund, Ländern und Kommunen zur Umsetzung solcher konkreter Arbeitsansätze wie der Integration von zuge- wanderten Kindern und Jugendlichen und ihren Familien, die jetzt durch den Integrationsgipfel angestoßen worden ist, der gemeinsamen und verbindlichen Verabredungen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5943 (A) (C) (B) (D) in der KMK und der Intensivierung der Zusammenarbeit von Ländern mit Kommunen in regionalen Bildungs- plänen, aus denen am Ende auch wieder ein nationaler Bildungsplan und ein nationaler Bildungsrat erwachsen können. Der Weg ist hier nicht das Ziel, aber ohne einen solchen Weg wird man realistischerweise nicht zum Ziel kommen können. Der Antrag der Fraktion Die Linke liegt neben diesem Weg und führt deshalb auch nicht zum Ziel. Wir lehnen eine solche Initiative zum jetzigen Zeitpunkt deshalb ab. Patrick Meinhardt (FDP): Chancengleichheit für alle ist die ureigene Philosophie der Liberalen. Deswe- gen ist ein „Europäisches Jahr der Chancengleichheit“ ein liberales Jahr. Wenn aber nach dem Willen der euro- päischen Gremien dieses Jahr zugleich Auftakt des ers- ten Jahres der Antidiskriminierungsrichtlinie sein soll, werden wir Liberale hellhörig. Das Gesetz, für das Rote und Schwarze auf der Grundlage der Koalitionsverein- barungen von Rot-Grün im Jahre 2002 die Hände geho- ben haben, ist nun wirklich kein Grund für ein eigenes Jahr – außer einem Trauerjahr; denn dieses so genannte Antidiskriminierungsgesetz hilft keinem. Nein, es ver- schärft Diskriminierung in Deutschland. Wir erwarten deshalb, dass der Etat der EU für dieses Europäisches Jahr von 13,6 Millionen Euro nicht sinnlos für unge- zielte Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit ausgegeben wird. Gemeinsam können wir feststellen, dass die Chancen auf Bildung in Deutschland ungerecht verteilt sind. Die soziale Herkunft bestimmt in deutschen Schulen zu stark den Verlauf des persönlichen Bildungswegs. So weit teilt die FDP die Bestandsaufnahme, danach hört sie aber auch genau so schnell wieder auf. Richtig ist, dass Kin- dergärten in Deutschland jahrzehntelang nicht als erste Bildungseinrichtung gesehen wurden. Diese Fehler of- fenbarten sich spätestens mit PISA I und II. Aus dem Vergleich mit unseren Nachbarländern sollten die Bun- desregierung und die Länder endlich wirkliche Schluss- folgerungen ziehen. Die FDP-Bundestagsfraktion for- dert, dass frühkindliche Bildung und Betreuung zu einem politischen Schwerpunkt werden. Frühkindliche Bildungsangebote sind eine wichtige Voraussetzung für eine der zentralen Forderungen der FDP an die Bil- dungspolitik: Die Chancen am Start müssen für alle gleich sein, nicht jedoch die Ergebnisse am Ziel. Frühkindliche Bildung ist auch notwendig, um Kin- dern eine gezielte Förderung zu geben, die Deutsch nicht als Muttersprache haben. So haben sie bei Schulantritt die gleichen Chancen wie andere Kinder. Wir brauchen verbindliche Sprachtests und anschließend gezielte För- derung für alle Kinder. Denn gerade 25 Prozent der deut- schen Kinder kommen mit erheblichen sprachlichen Mängeln in die Grundschulen. Jahrzehntelang wurden Kindergärten nur als Betreuungseinrichtung gesehen: Dies ist mit verantwortlich dafür, dass Deutschlands Bil- dung im internationalen Vergleich zurückgefallen ist. Der Kindergarten muss endlich zur ersten Bildungsein- richtung werden. Damit verbessern wir am effektivsten die Ergebnisse von Schülern während der Schulzeit und verbessern auch wesentlich die Bildungschancen von Kindern von Migranten. Entschieden weist die FDP die Feststellung zurück, dass das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland für die mangelnden Chancen verantwortlich ist. Diese Fest- stellung hat ihren Ursprung wohl eher in Ihren Partei- doktrinen als in aktuellen wissenschaftlichen Erhebun- gen. Ich bin ein Fan einer Schullandschaft, die sich am Talent orientiert und nicht an Parteiideologien. Unter den PISA-Spitzenreitern finden sich mit den Niederlan- den und Südkorea gleich mehrere Länder, die ihre Schü- ler keineswegs nur in Einheitsschulen schicken. Gerade bei den Niederlanden fällt auf, dass es dort eine Vielfalt der Schulen gibt und sich die Schulen durch eine große Selbstständigkeit auszeichnen. Das ist die eigentliche Botschaft: Nicht Bundeszentralismus, nicht Landeszen- tralismus, sondern selbstständige Schulen vor Ort sind für unsere Bildungslandschaft das richtige Zeichen. Je weniger Bürokratie von oben kommt, je mehr Freiheit wir den Schulen vor Ort einräumen, desto mehr erhöhen wir die Chancen jedes einzelnen Schülers. Vielfalt und Wettbewerb um die besten Köpfe sichern einerseits die Qualität der Bildungslandschaft und andererseits die op- timale Betreuung und Bildung für jeden Einzelnen. Frei werdende Mittel im Bildungsbereich, die durch sinkende Schülerzahlen entstehen, müssen in den Bil- dungshaushalten bleiben und konsequent in eine Verbesse- rung der frühkindlichen Bildung, ein Qualitätsprogramm für Hauptschüler und in eine offensive Weiterbildung in- vestiert werden. Klar muss auch sein: Jeder Schritt zu mehr integrativer Bildung ist richtig. Immer mehr behin- derte und nichtbehinderte Jugendliche sollen gemeinsam unterrichtet werden. Sowohl die FDP-Bundestagsfrak- tion als auch die ALDE-Fraktion unterstützen ein wirkli- ches Jahr für Chancengleichheit. Die von Ihnen in Ihrem Antrag eingeforderten Maß- nahmen und Förderprogramme sind ein weiteres Bei- spiel für linken Aktionismus ohne Konzept. Ihr Rat für Chancengleichheit ist so überflüssig wie ein Kropf. Ihr Vorschlag erinnert mich an den alten Spruch: „Und wenn man nicht mehr weiter weiß, gründe einen Arbeitskreis!“ Bedauerlich, nein vielmehr schädlich sind Vorbehalte gegen private Bildungseinrichtungen. Gerade im sonder- pädagogischen Bereich arbeiten Schulen in privater Trä- gerschaft mit viel Leidenschaft, Kompetenz und En- gagement. Wir Liberale glauben, dass ein Mehr an Vielfalt durch private Bildungsträger auch ein Mehr an Bildung mit sich bringt. Europa und Deutschland haben bei der Dienstleistungsrichtlinie leider nicht den Mut ge- habt, wirkliche Angebotsvielfalt bei Bildungseinrichtun- gen zu schaffen. Und trotzdem gilt: Der Lissabonprozess ist richtig. Das Ziel ist richtig, die EU innerhalb von zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischs- ten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Europa muss ein dynamischer Wissenschafts- und Bildungsraum wer- den – durch weniger Bürokratie, weniger Richtlinien, weniger Vorurteile und mehr Vielfalt, mehr Selbststän- digkeit und mehr Freiheit. 5944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Das bundesrepubli- kanische Bildungssystem weist einen der höchsten Zu- sammenhänge zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft auf. Dieser Missstand wurde durch Studien wie PISA oder die Kritik des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung auch einer breiteren Öffentlich- keit bekannt. Anstatt jedoch Maßnahmen zu entwickeln, die diesen Missstand aufheben, schieben Bund, Länder und Kommunen sich gegenseitig die Verantwortung für die Misere zu. Auch bei den auf europäischer Ebene ge- troffenen Vereinbarungen zur Bildungspolitik steht die soziale Dimension im Hintergrund. Die Fraktion Die Linke hält das für falsch. Wir for- dern, dass Bund und Länder gleichermaßen ihre Bil- dungspolitik an dem Ziel orientieren, soziale Ungleich- heit in allen Bildungsphasen abzubauen und soziale Durchlässigkeit zu erhöhen. Bisher geht die Politik von Bund und Ländern statt- dessen in die entgegengesetzte Richtung: In den Ländern wird die Lernmittelfreiheit aufgehoben, mit großer Ve- hemenz wird am gegliederten Schulsystem festgehalten und konkrete Schritte hin zu einem quantitativen und qualitativen Ausbau der frühkindlichen Bildung stehen auch noch viel zu selten auf der Tagesordnung. An den Hochschulen werden in immer mehr Bundesländern all- gemeine Studiengebühren eingeführt. Auch der Bund nimmt seine Verantwortung für eine soziale Entwicklung des Bildungssystems nicht wahr. Unter anderem wird schon seit Jahren ein Ausbau der BAföG-Förderung verschleppt. Ein zweites Beispiel ist die Zulassung zu den Hochschulen. In ihrem Koalitions- vertrag hatten sich Bund und Länder noch darauf ver- ständigt, dass ein Berufsabschluss grundsätzlich als Hochschulzugangsberechtigung anerkannt werden soll. Das wäre ein wichtiger Schritt hin zu mehr sozialer Durchlässigkeit. Auf unsere Nachfrage an die Bundesre- gierung zum Stand dieses Vorhabens, erhielten wir nun allerdings die Auskunft, dass der Bund sich dafür nicht zuständig fühle und die Länder sich stattdessen darum kümmern sollten. Wir halten das für falsch. Der Zugang sollte bundeseinheitlich geregelt werden. Es ist nicht ak- zeptabel, dass die Bundesregierung sich ausgerechnet von den wenigen sinnvollen Vorhaben des Koalitions- vertrages verabschiedet. Die Vereinbarung zu einem „Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle“ in der Europäischen Union steht in einem merkwürdigen Kontrast zu der übrigen Politik. Die auf europäischer Ebene im Rahmen der Me- thode der offenen Koordination und auf Grundlage der Lissabonstrategie getroffenen Vereinbarungen zur Bil- dungspolitik leisten bisher keinen Beitrag zum Abbau von sozialer Ungleichheit. Bildung wird primär unter ökonomischen Verwertbarkeitsaspekten und weniger als ein zu garantierendes Grundrecht betrachtet. Bildungs- privatisierungen werden von der EU-Kommission aus- drücklich begrüßt. Damit verschärft sich soziale Aus- grenzung. Diese Entwicklung geht zulasten der großen Mehrheit der Bevölkerung. Auf die Gestaltung der Bildungspolitik können die Betroffenen selbst bisher kaum Einfluss neh- men. Wir fordern deshalb, dass das „Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle“ von der Bundesregie- rung zum Anlass genommen wird, um endlich einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs über Ziele und Struktur unseres Bildungssystems anzustoßen. Dabei sollen allen voran die Interessenvertretungen der Schüle- rinnen und Schüler, Auszubildenden, Studierenden und der Beschäftigen in die bildungspolitische Diskussion einbezogen werden. Ziel sollte es sein, bildungspoliti- sche Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die dazu bei- tragen, das Recht auf Bildung zu realisieren. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das Europäische Jahr der Chancengleichheit kann und soll zum Anlass genommen werden, die Bil- dungspolitik in den Mittelpunkt zu stellen. Denn der Zu- gang zu sozialer Teilhabe, zu Ausbildung und Arbeits- welt kann entscheidend durch Bildung befördert werden. Dies sollten wir auch im Zuge der aktuellen Debatte über „neue Armut“ immer wieder deutlich machen. Ebenso wichtig ist Bildung für den sozialen Zusam- menhalt in unserer Gesellschaft, für die persönliche Ent- wicklung und für die demokratische Mitwirkung eines und einer jeden Einzelnen. Die Politik hat daher die Auf- gabe, gleiche Chancen für alle beim Zugang zu Bildung zu schaffen und der Ausgrenzung entgegenzuwirken. Insbesondere Benachteiligungen im Bildungswesen auf- grund von Behinderung oder Krankheit muss die Politik strukturell bekämpfen. Was der von der Linksfraktion geforderte „Rat für Chancengleichheit im Bildungs- wesen“ in Deutschland in diesem Zusammenhang leisten soll, ist uns allerdings mehr als schleierhaft. Wenn ich die Forderung nach einem solchen Rat höre, fällt mir un- willkürlich ein: Wenn du nicht mehr weiterweißt, gründe einen Arbeitskreis. Natürlich ist es richtig, dass das deutsche Bildungs- wesen überprüft und auf Chancenungleichheit abge- klopft werden muss. Aber diese Evaluation des Bil- dungssystems erfolgt doch bereits. Seit Jahren zeigen uns internationale und nationale Studien wie TIMSS, PISA, PISA-E oder IGLU die Stärken und Schwächen des deutschen Bildungssystems. Es gibt das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, das mit Hoch- druck an der Einführung von Bildungsstandards arbeitet und Lehrerfortbildung sowie Schulevaluation unter- stützt. Nicht zuletzt haben wir die Ergebnisse der von Bund und Ländern in Auftrag gegebenen nationalen Bil- dungsberichterstattung. Der dieses Jahr vorgelegte Be- richt mit dem Schwerpunkt „Migration“ macht ja auch noch einmal deutlich, wo wir in Deutschland noch Pro- bleme mit der Chancengleichheit für diese spezielle Gruppe haben. Hinsichtlich der nationalen Berichterstattung ist übri- gens nicht unwichtig zu erwähnen, dass das zuständige Konsortium unabhängig ist. Die Besetzung wurde nicht zwischen Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat „aus- gedealt“. Die Linksfraktion fordert nun aber mit ihrem Rat für Chancengleichheit genau ein solches politisch zusammengesetztes Organ, das von Bundestag und Bundesrat den Segen erhalten soll. Dem können wir nicht zustimmen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5945 (A) (C) (B) (D) Politische Schlussfolgerungen aus den Bildungs- berichten muss natürlich die Politik ziehen. Es ist daher gut, dass Anfang nächsten Jahres im Ausschuss für Bil- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung eine Anhörung zur Bildungsberichterstattung stattfinden wird. Vielleicht kommen wir dann als Konsequenz aus dieser Anhörung zu der Forderung, den nächsten Schwerpunkt der nationalen Bildungsberichterstattung auf das Thema „Inklusion“ zu legen. Die Fraktionen könnten dann der Regierung den Auftrag geben, dass sie dies mit der Kultusministerkonferenz vereinbart. Es ist richtig, dass die Schlussfolgerungen aus der Bildungsberichterstattung schließlich in bildungspoliti- sche Maßnahmen münden müssen, wie es Die Linke in ihrem Antrag formuliert. Doch leider hat die große Ko- alition durch die Föderalismusreform den Gestaltungs- spielraum des Bundes sehr stark eingeschränkt. Die Bundesseite hat keine Chance mehr, Programme zu ent- wickeln, um das Bildungssystem zu verbessern. Erst am Montag wurde die Auflösung der Bund-Länder-Kom- mission für Bildungsplanung, BLK, beschlossen. Es ist aus unserer Sicht mehr als fraglich, was der von der Lin- ken geforderte Rat an dieser Situation ändern könnte. Natürlich ist es weiterhin nötig, über öffentliche Dis- kussion, politischen Druck und die Unterstützung der Bildungsforschung von Bundesseite Defizite aufzu- zeigen und Reformen im Bildungswesen anzumahnen. Dafür muss aber kein neu gegründetes Gremium zustän- dig sein. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes (Ta- gesordnungspunkt 18) Günter Baumann (CDU/CSU): Bündnis 90/Die Grü- nen gehen bei ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes von einer völlig falschen Grundannahme aus: Für Sie, Bündnis 90/Die Grünen, geht die Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit einher mit einer automatischen Integration. Jedoch eine Erleichterung zum Zugang der deutschen Staatsangehö- rigkeit bedeutet eben nicht eine gleichzeitige Integration jener ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Dies bewies uns der Schiffbruch des Multikultiansat- zes Ihrer Partei, nachdem die Integration jahrzehntelang als Selbstläufer betrachtet wurde. Das Nebeneinander- Leben in einer Gesellschaft bedeutet mitnichten ein Mit- einander-Leben. Diese Erkenntnis, dass Multikulti ins- besondere in den deutschen Großstädten gescheitert ist, muss sich auch bis zu den Grünen herumgesprochen ha- ben. Die Grünen waren doch schon mit Ihrer Politik in- aktiv in Integrationsfragen unter der vorangegangenen Regierung. Erneut begehen Sie mit diesem Gesetzent- wurf den Fehler, anzunehmen, dass dauerhaft hier le- bende Migranten automatisch integriert wären. Schon allein unter dem Aspekt der inneren Sicherheit Deutschlands kann man ihrem Vorhaben nicht zustim- men. In der heutigen Bedrohung durch den internationa- len Terrorismus, der, wie wir seit Ende Juli – versuchte Kofferbombenattentate – wissen, auch nicht vor Deutsch- land Halt macht, brauchen wir genaue gesetzliche Rege- lungen, wer für den Erhalt einer deutschen Staatsbürger- schaft infrage kommt. Hierzu gehören eben auch die Einschränkungen, die das Staatsangehörigkeitsgesetz vom 1. Januar 2005 macht. Mit Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie zum Beispiel die vollständige Aufhebung des Grundsatzes der Vermei- dung von Mehrstaatigkeit oder zumindest eine generelle Hinnahme der Mehrstaatigkeit bei bestimmten Gruppen erreichen. Darüber hinaus schlagen die Kolleginnen und Kollegen des Bündnisses 90/Die Grünen im Falle der nicht generellen Aufhebung der Vermeidung der doppel- ten Staatsangehörigkeit eine höchst interessante Verän- derung vor. Mehrstaatigkeit soll, erstens, innerhalb der Europäischen Union nicht mehr von der Gegenseitigkeit abhängig gemacht werden und, zweitens, auch „assozi- ierte Staaten“, deren Assoziationsverhältnis auf einen Beitritt in die EU gerichtet ist, in den gleichen Genuss bringen. Hierbei haben Sie gleich zwei Problemfelder miss- achtet: Erstens. Die Beitrittskandidaten für die EU sind eben noch keine Mitgliedstaaten der Europäischen Union und können deshalb nicht die gleichen Privilegien nutzen wie Staaten, die den Schengenstatus sicher ein- halten. Außerdem hat sich innerhalb der EU-Staaten das Prinzip der Gegenseitigkeit bewährt. Zweitens. Durch diese angedachte Regelung wird dem Missbrauch von Staatsangehörigkeiten Tür und Tor geöffnet. Mittels des Grundsatzes der Vermeidung der Mehrstaatigkeit will der Gesetzgeber verhindern, dass sich die Bürgerinnen und Bürger nur ihre Vorteile aus der einen oder anderen Staatszugehörigkeit ziehen; denn mit der Einbürgerung hat man wie alle anderen deutschen Staatsbürger nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Es würde dem Gleichheitsgrundsatz widersprechen, wenn sich ein Staatsbürger seiner Pflichten durch eine zweite Staatszu- gehörigkeit eines anderen Landes entledigen kann. Weiterhin begehen die Grünen, wie eingangs schon erwähnt, immer wieder den gleichen Fehler. Sie gehen davon aus, dass ein Migrant mit Niederlassungserlaubnis schon voll integriert wäre, da er schon seit mindestens fünf Jahren im Land ist. Aus dieser Überzeugung wollen Sie die Prüfung der Sprachkenntnisse, die für eine Ein- bürgerung Voraussetzung ist, für über 54-Jährige, die seit mindestens 15 Jahren in Deutschland leben und für unter 14-Jährige, die hier die Schule besuchen, abschaf- fen. Hierbei lassen Sie aus der jüngsten Vergangenheit gewonnene Erkenntnisse völlig außer Acht. Ein 15-jäh- riges Verweilen in Deutschland setzt nicht automatisch genügend deutsche Sprachkenntnisse voraus. Wenn je- ner ausländische Mitbürger in einem „geschlossenen System“ lebt, bei dem er nie Deutsch sprechen muss, dann kann man nicht behaupten, dass genügend Sprach- kenntnisse vorliegen. Den großen Integrationsbedarf verdeutlicht auch die Jahresbilanz des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge für das Jahr 2005, dass fast 5946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) die Hälfte der Teilnehmer an Integrationskurse in Abso- lutzahlen 54 050, schon länger in Deutschland leben und den Antrag auf besonderen Integrationswillen beim BAMF selbst gestellt haben. Die zweite Kritik an Ihrem Vorschlag ist, dass unter 14-jährige, die auch hier in Deutschland die Schule be- suchen, nach Ihrem Dafürhalten genügend Deutsch- kenntnisse besitzen und deshalb keine Sprachprüfung ablegen müssen. Diese Annahme ist angesichts der Er- fahrungen aus den letzten Wochen und Monaten völlig haltlos. Der Integrationsgipfel hat verdeutlicht, dass Kin- der und Jugendliche mit Migrationshintergrund weniger Chancen auf gute Bildung und Lehrstellen haben, da sie nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Spra- che verfügen. Weiterhin hat der Integrationsgipfel die Schlüsselposition der deutschen Sprache in der Integra- tion hervorgehoben. Somit läuft diese Forderung völlig konträr zu den derzeitig geplanten und angeschobenen Maßnahmen zu einer Verbesserung der Chancen für diese Kinder und Jugendlichen. Denn eines muss auch, den Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grü- nen klar sein: Die Erlangung der Staatsangehörigkeit steht am Ende eines erfolgreichen Integrationsprozesses und sollte nicht als Geschenk im Voraus wahllos verteilt werden. Anhand des Evaluierungsberichtes des Bundesminis- teriums des Innern zu dem am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes hat sich das Staatsan- gehörigkeitsrecht auch im Zusammenhang mit der auto- matischen Aberkennung der deutschen Staatsbürger- schaft bei Wiederannahme einer anderen bewährt. Somit ist die von den Grünen geschilderte Fallkonstellation nicht nachvollziehbar. Denn es war auf Grundlage des Staatsangehörigkeitsgesetzes nicht unklar, dass im Falle einer Annahme einer anderen Staatsbürgerschaft die deutsche automatisch erlischt. Des Weiteren kann man den Vorschlag, dass erst bei Erkenntnis der Behörden über die Annahme einer anderen Staatsangehörigkeit die deutsche erlischt, nicht unterstützen, da diese Vorge- hensweise dem Prinzip der Mehrstaatigkeit entsprechen würde. Schon allein diese angeführten Punkte zeigen, dass Ihr Vorschlag unausgegoren und damit nicht zustim- mungsfähig ist. Wir wollen in Deutschland keine Paral- lelgesellschaft verfestigen, sondern Integration in eine Gesamtgesellschaft fördern. Dazu gehören eben auch bestimmte Voraussetzungen für den Erwerb einer Staats- angehörigkeit um Mitglied in dieser Gesamtgesellschaft werden zu können. Die Integration ist als Angebot des Staates zu verstehen; aber es ist auch die Pflicht jedes einzelnen Antragstellers, für die Anerkennung der deut- schen Staatsbürgerschaft diese Angebote wahrzunehmen und sich in unser Land zu integrieren. Somit denke ich, dass diese Voraussetzungen durch das Staatsangehörig- keitsgesetz vom 1. Januar 2005 gerecht gefasst worden sind. Rüdiger Veit (SPD): Zu diesem Gesetzentwurf will ich hier und heute nur in wenigen Beispielen mit drei Bemerkungen Stellung nehmen. Erstens. Sie schlagen unter anderem vor, Flüchtlingen nach lediglich drei Jahren Aufenthaltszeit im Bundesge- biet den Rechtsanspruch für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit einzuräumen. Dies ist für mich nicht nachvollziehbar; denn wir haben gerade mit dem Zu- wanderungskompromiss erst erreicht, dass Asylberech- tigte und GfK-Flüchtlinge nach dreijährigem Aufenthalt den Anspruch auf den dauerhaften Status einer Nieder- lassungserlaubnis haben. Diesen Personenkreis stattdes- sen nach drei Jahren gleich einzubürgern wäre system- widrig und eine sachliche Begründung vermag ich nicht zu erkennen. Zweitens. Einige Ihrer Vorschläge werden auch von der jetzigen Koalition bei dem Richtlinienumsetzungs- gesetz sowieso schon ganz oder teilweise aufgegriffen. Dabei handelt es sich zum Beispiel um die Hinnahme von Mehrstaatigkeit hinsichtlich der Mitgliedstaaten der EU und der Schweiz – konsequenterweise auch mit Aus- wirkungen auf den Verlusttatbestand des § 25 StAG –, aber auch um eine dringend erforderliche umfassende Härtefallklausel für die Anforderung ausreichender Sprachkenntnisse, und zwar nicht nur, wie von Ihnen vorgeschlagen, für die über 54-Jährigen. Eine solche Härtefallklausel ist im Übrigen umso not- wendiger, als die Innenministerkonferenz der Bundes- länder am 4./5. Mai 2006 eine Anhebung des Sprach- niveaus auf die Orientierung am Ziel B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens, GER, vorschlägt. Politisch wichtig ist in diesem Zusammen- hang, darauf hinzuweisen, dass dieser Vorschlag der In- nenministerkonferenz nicht strikt am Bestehen des Sprachtests auf dem Niveau B 1 anknüpft, sondern ganz bewusst den Begriff der Orientierung verwendet und so- mit mehr das Ziel, aber keinen harten Ausschlussgrund formuliert hat. Ferner soll vorgesehen werden, dass bei besonderen Integrationsleistungen die Mindestfrist für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft von bisher sieben auf dann sechs Jahre verkürzt wird. Zumindest für eine kleine Gruppe wird damit auch dem Ziel Ihres Gesetz- entwurfes einer regelmäßigen Abkürzung auf sechs statt acht Jahren Rechnung getragen werden können. Drittens. Ihr Gesetzentwurf mit weiteren Vorschlägen zur Hinnahme von Mehrstaatigkeit, vor allem aber zur Streichung der so genannten Optionslösung im § 29 StAG, enthält Ziele, zu deren Realisierung 1999 die Kraft der rot-grünen Koalition hier im Bundestag nicht ausge- reicht hat. Bekanntlich mussten im damaligen Verfahren zur umfassenden Reform des Staatsangehörigkeitsrechts erhebliche Zugeständnisse an die unionsregierten Länder im Bundesrat gemacht werden. Da können dann aber weder Sie noch ich – so sehr wir dies auch bedauern mö- gen – erwarten, dass heute eine schwarz-rote Mehrheit im Bundestag den damals gefundenen Kompromiss voll- ständig wieder aufknotet. Man mag manches zwar sach- lich für notwendig oder politisch für wünschenswert hal- ten, man sollte dabei jedoch stets auf dem Boden der Realität des derzeit politisch Machbaren bleiben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5947 (A) (C) (B) (D) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Der Antrag der Grünen mutet wie ein Überständer aus der guten alten Zeit der Multikulti-Ideologie an. Die Diskussion um die Probleme der Integration, wie sie in den letzten fünf Jah- ren in ganz Europa geführt worden ist, haben die Grünen tapfer ignoriert. Die Grünen verschließen sich einer ver- nünftigen Debatte nach dem Motto: mehr Fundis, weni- ger Realos. Die Grünen fordern die Abschaffung des Options- modells. Die Auswertung der Erfahrungen mit dem Op- tionsmodell wollen die Grünen gar nicht erst abwarten. Für in Deutschland aufgewachsene junge Menschen ist es nach Auffassung der Grünen nicht zumutbar, sich bei Volljährigkeit für die deutsche Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Sie halten auch die Mehrstaatigkeit für hin- nehmbar. Emotionale Bindungen ans Herkunftsland ei- nes Migranten sollen in Form der Staatsangehörigkeit beibehalten werden können und zusätzlich soll die deut- sche Staatsangehörigkeit möglich sein. Diese Verknüpfung von emotionalen Bindungen und Staatsangehörigkeit ist sachfremd. Vielmehr ist es not- wendig, dass sich auch Migranten der Realität stellen: Integration in die deutsche Gesellschaft kann nur gelin- gen, wenn man sich mit gleichen Rechten und Pflichten wie die anderen Staatsbürger in die deutsche Gesell- schaft integriert und dazu steht. Doppelstaatsangehörigkeit ist, außer in Sonderfällen, zum Beispiel bei Kindern aus binationalen Ehen, durch- aus problematisch. Sie kann die Integration behindern, wenn Migranten mit Doppelstaatsangehörigkeit dem Irr- tum verfallen, man könne politisch und kulturell zwei Nationen gleichzeitig angehören. Migrantenschicksale zeigen oft, dass dies eben nicht möglich ist. Wer weder ganz hier sein noch ganz dort bleiben will, ist nirgendwo als gleichberechtigter Mitbürger akzeptiert – ganz unab- hängig vom formalrechtlichen Status. Die Staatsangehö- rigkeit sollte für Migranten genauso eindeutig entschie- den sein wie für geborene Mitbürger. Die Grünen möchten die Fristen für die Einbürgerung generell verkürzen. Sie möchten den Erwerb der deut- schen Staatsangehörigkeit möglichst billig machen. Da- mit sinkt der Wert dieser Staatsangehörigkeit für die, die sie haben, und die, die sie bekommen sollen. Die Ab- sicht der Grünen ist Ausdruck von mangelndem staats- bürgerlichen Selbstwertgefühl. Offensichtlich halten die Grünen die deutsche Staatsangehörigkeit nicht für son- derlich wertvoll. Die Grünen folgen mit ihrer Politik der irrigen Vor- stellung, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht seien ein Mittel der Integration. Gerade beim Wahlrecht wird deutlich, dass Voraussetzung für demokratische Partizi- pation die Teilnahmemöglichkeit am gesellschaftlichen Diskurs ist. Dafür ist die deutsche Sprachkompetenz es- senziell. Deshalb muss die Staatsangehörigkeit Resultat der Integration sein. Wird nicht integrierten Migranten die Staatsangehörigkeit verliehen, wird lediglich der Zu- sammenhalt der Gesellschaft der Staatsbürger untergra- ben. Ein Anreiz zur Integration kann davon nicht ausge- hen. Eine Einbürgerung nach vier oder gar drei Jahren, wie die Grünen sie fordern, wird natürlich Folgen haben. Ich frage mich aber, ob die Grünen das wollen. Durch eine solche unkritische und massive Einbürgerungspraxis wird sich das Werte-Koordinatensystem unserer Gesell- schaft massiv verschieben. Es ist nicht unwahrschein- lich, dass dies – besonders örtlich – zu einer Verände- rung der Rolle der Frau, zur Zurückdrängung der Freiheit der Meinungsäußerung zugunsten des Schutzes der Religionsausübung und auch zu einer sprachlichen Desintegration unserer Gesellschaft führen wird. Die Gefahr von Parallelgesellschaften wächst. Die Grünen scheinen das ausdrücklich zu wollen, etwa indem sie Kinder unter 14 Jahren von der Überprüfung der Sprach- kenntnisse ausnehmen wollen. Bei allen wohlmeinenden Bemühungen um das Ab- senken von Hürden zur Zuerkennung staatsbürgerlicher Rechte an Migranten sollten wir die Menschen nicht aus den Augen lassen, die bisher deutsche Staatsangehörige sind. Eine Einbürgerungsregelung, die von weiten Teilen der Bevölkerung nicht akzeptiert wird, stärkt keinesfalls die Akzeptanz von Migranten. Das allerdings wäre kon- traproduktiv und hilft auf dem Weg zu wirklicher Integra- tion von Migranten in unsere Gesellschaft nicht weiter. Die Vorschläge der Grünen würden den bisherigen Grundfehler deutscher Zuwanderungs- und Integrations- politik verschärfen. Dieser Fehler ist die Ignoranz, also so zu tun, als gäbe es keine Probleme bei der Integration und als gäbe es keine Anforderungen und keine Werte in der deutschen Gesellschaft, die zu bewältigen, zu beher- zigen oder abzuverlangen sind. Deutschland hat in seiner Zuwanderungspolitik sich bis heute den Luxus erlaubt, das Gegenteil von dem zu tun, was die erfolgreichen Zuwanderungsländer praktizieren, nämlich Steuerung der Migration durch Berücksichtigung der Qualifikation von Zuwanderern, Berücksichtigung des eigenständigen Erwerbs des Lebensunterhalts, Überprü- fung der sprachlichen Kompetenz und Verpflichtung auf die Verfassung. Die Grünen haben die Diskussion der letzten fünf Jahre zum Thema „Toleranz durch Wegschauen“ ver- schlafen und wollen tapfer den Weg forcieren, der über- haupt erst in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und anderswo die Integrationsprobleme verursacht hat. Die FDP lehnt diesen Antrag ab. Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): Wir debattieren den Gesetzentwurf der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- nen zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts leider zu dieser späten Abendstunde. Ich finde dies bedauer- lich, da es sich um ein äußerst wichtiges Thema handelt, das die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenle- bens in Deutschland mehr als stark berührt. Die Fraktion Die Linke will die bestehenden Pro- bleme, auf die ich näher eingehen werde, im Interesse der Betroffenen lösen. Eine rein parteipolitische Kontro- verse mit gegenseitigen Schuldzuweisungen hilft den Betroffenen nicht weiter. Davon bin ich zutiefst über- zeugt. 5948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Wie der Gesetzentwurf der Grünen exemplarisch ver- deutlicht, weist das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht erhebliche Defizite auf. Es ist für einen demokratischen Rechtsstaat schlichtweg inakzeptabel, dass rund sieben Millionen Menschen, die hier zum Teil schon seit meh- reren Jahrzehnten leben oder sogar hier geboren wurden, noch immer unter den Sonderstatus eines „Ausländers“ fallen. Hinzu kommt, dass durch die Staatsangehörig- keitsreform im Jahr 2000 die tatsächlichen Einbürge- rungsmöglichkeiten insbesondere für die erste und zweite Einwanderergeneration massiv erschwert wur- den. Dies wird durch die Einbürgerungsstatistik eindeu- tig belegt. Seit Mitte der 90er-Jahre wurden durch- schnittlich zwischen 200 000 und 300 000 Personen pro Jahr eingebürgert. Mit dem In-Kraft-Treten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts sank dagegen die Zahl der er- folgten Einbürgerungen von 186 688 im Jahr 2000 auf lediglich 117 241 Personen im Jahr 2005. Dies bedeutet im genannten Zeitraum einen Rückgang von 37 Prozent. Die Ursache dieser fatalen Entwicklung ist, dass man von den Einbürgerungsbewerbern verlangt, ihre ur- sprüngliche Staatsbürgerschaft aufzugeben. Wie Ihnen bekannt ist, verliert nach § 25 Abs. 1 Staatsangehörig- keitsrecht, StAG, seit dem 1. Januar 2000 ein in Deutsch- land lebender deutscher Staatsangehöriger automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit immer dann, wenn der oder die Eingebürgerte eine ausländische Staatsangehö- rigkeit freiwillig oder auf Antrag annimmt und keine Beibehaltungsgenehmigung vorliegt. Das ist völlig para- dox; denn so verlieren auch diejenigen ihre Staatsbürger- schaft, die vor dem In-Kraft-Treten des neuen Gesetzes die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten und den Rück- erwerb der alten Staatsbürgerschaft beantragt haben, diese jedoch erst nach dem Jahr 2000 wiedererlangten. Hiervon sind laut Schätzungen rund 50 000 Doppelstaat- ler türkischer Herkunft sowie möglicherweise mehrere Tausend Einwanderer jüdischen Glaubens betroffen. Ihr Aufenthaltsstatus verschlechtert sich aufgrund dieser Regelung massiv. Die deutsche Politik muss sich der damit verbunde- nen menschlichen Probleme und Ängste unverzüglich annehmen. Die Fraktion Die Linke, fordert deshalb mit Nachdruck, dass alle ehemaligen Deutschen ausländi- scher Herkunft, die aufgrund dieser Neuregelung die deutsche Staatsangehörigkeit verloren haben, automa- tisch ihren alten, gesicherten Aufenthaltsstatus umge- hend zurückerhalten. Dieser Personenkreis muss dann ohne erneute Prüfungsverfahren und Gebühren wieder eingebürgert werden. Darüber hinaus ist in der Einbürge- rungspolitik ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel dringend notwendig. Die Fraktion Die Linke fordert, dass das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht dahin ge- hend überarbeitet und vereinfacht wird, dass alle in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshinter- grund nach Erfüllung bestimmter Kriterien die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Bei der ersten und zweiten Einwanderergeneration ist die Beibehaltung der ur- sprünglichen Staatsbürgerschaft zu tolerieren. Von dieser Personengruppe sollten – wie vor dem Jahr 2000 – nur „einfache“ deutsche Sprachkenntnisse nachgewiesen werden müssen. Die Beibehaltung der alten Staatsange- hörigkeit darf in Deutschland nicht mehr länger ein Ein- bürgerungshindernis sein. Eine erleichterte Einbürgerung ist in der Tat der ent- scheidende Faktor, ob Integration gelingt oder nicht. Erst durch den Erhalt der vollen Bürgerrechte werden diese kulturellen Minderheiten zu gleichberechtigten Bürge- rinnen und Bürgern. Das ist nicht nur recht und billig, sondern ein Gebot des demokratischen Rechtsstaats. Dies würde den solidarischen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken sowie die rechtliche und politische Ausgrenzung von Menschen nicht deutscher Herkunft verhindern. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes durch die rot-grüne Koalition war ein entscheidender ge- sellschaftspolitischer Fortschritt, mit dem das Recht an die elementaren Notwendigkeiten eines Einwanderungs- landes angepasst wurde. Die Praxis zeigt jedoch, dass das System an einer Reihe von Stellen weiter ausgebaut werden muss und Fehler in der Gesetzesanwendung kor- rigiert werden müssen. Denn es ist auf Dauer nicht hin- nehmbar, dass ein großer Teil der Gesellschaft von der aktiven Partizipation durch Wahlen und Abstimmungen ausgeschlossen ist. Die Politik eines neuen gesellschaft- lichen Integrationsvertrages erfordert deshalb auch wei- tere Verbesserungen bei den Regeln über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. Kernbestandteile des vorliegenden Reformvorschla- ges sind folgende Punkte: Der Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt im Inland (Geburtsrecht) wird ausgebaut. Dabei wird auf das so genannte Optionsmodell verzichtet, das die Be- troffenen zwingt, sich mit der Volljährigkeit für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Es ist integrations- politisch kontraproduktiv, Menschen, die von ihrer Ge- burt an Teil dieser Gesellschaft sind, dazu zu zwingen, mit ihrer Volljährigkeit eine Entscheidung zu treffen, die ihre Zugehörigkeit zu diesem Staat infrage stellt. Auch unter Gesichtspunkten der Gleichbehandlung ist die bis- herige Optionsregelung problematisch. Bei anderen Staatsangehörigen, die sich in einer vergleichbaren Situa- tion befinden (zum Beispiel Kinder, die aus binationalen Partnerschaften stammen), gibt es eine derartig bedingte Staatsangehörigkeit nicht. Die Fristen für die Einbürgerung werden verkürzt. Dabei werden auch neue Ansprüche – insbesondere für staatsangehörigkeitsrechtlich besonders schutzbedürf- tige Gruppen (Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konven- tion, Staatenlose) – verankert. Im Bereich der Staatenlo- sigkeit sieht der Entwurf darüber hinaus eine Reihe von Regeln vor, die – entsprechend der international aner- kannten Zielrichtung – zu ihrer Beseitigung beitragen und ihre Entstehung verhindern. Der Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit ist – angesichts oft bürokratischer Entlassungsverfahren und emotionaler Bindungen gerade älterer Ausländer ans Herkunftsland – immer noch ein wesentlicher Grund da- für, dass die Einbürgerungsquote zu niedrig ist. Es gibt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5949 (A) (C) (B) (D) für ihn keine ausreichende Begründung. Aus diesem Grunde ist es nach wie vor vertretbar, diesen Grundsatz vollständig aufzugeben. Zumindest aber muss es auf dem Weg zu einer generellen Hinnahme von Mehrstaa- tigkeit Lösungen für bestimmte problematische Fall- gruppen geben. Ebenso muss dem Zusammenwachsen Europas Rechnung getragen werden. Wir sehen daher Ausnahmen vom Grundsatz der Vermeidung von Mehr- staatigkeit vor. Bei Einbürgerungen von Unionsbürgern, Schweizer Bürgern und Angehörigen bestimmter, beson- ders eng assoziierter Staaten (Türkei) soll generell die Hinnahme von Mehrstaatigkeit erfolgen. Bei den türki- schen Staatsangehörigen ist dies in besonderem Maße gerechtfertigt, weil ihr Rechtsstatus sich dem der Uni- onsbürger weitgehend angenähert hat – und weil wir po- litisch davon ausgehen, dass es zu einem EU-Beitritt der Türkei kommen wird. Nach der Rechtsprechung des Bundsverwaltungsge- richtes, die vom Bundesverfassungsgericht auch unter grundrechtlichen Aspekten gebilligt worden ist, kann eine rechtswidrige Einbürgerung unter bestimmten Vo- raussetzungen zurückgenommen werden. Das Bundes- verfassungsgericht hat dabei allerdings auch darauf hin- gewiesen, dass es sinnvoll sein könnte, dass der Gesetzgeber diesen Bereich näher ausregelt, da sich an- gesichts der grundlegenden Statusfunktion der Staatsan- gehörigkeit hier insbesondere bei Kindern der rechtswid- rig Eingebürgerten schwerwiegende Fragen stellen können. Der Entwurf beschränkt die Rücknahmemög- lichkeit angesichts der grundlegenden Zuordnungsfunk- tion der Staatsangehörigkeit daher zum einen auf einen Zeitraum von fünf Jahren nach der Einbürgerung. Zum anderen ist es wegen der grundlegenden Zuordnungs- funktion der Staatsangehörigkeit nicht sinnvoll, dass rückwirkend in diese Zuordnung eingegriffen werden kann. Die Rücknahme soll daher nur mit Wirkung für die Zukunft vorgenommen werden können. Der Grundsatz, dass jederzeit möglichst klar ersicht- lich sein soll, wer deutscher Staatsangehöriger ist, ist da- bei auch Grund für weitere Änderungen. So ist es jüngst in einer Reihe von Fällen unklar gewesen, ob Deutsche ihre Staatsangehörigkeit durch die Wiederannahme einer anderen Staatsangehörigkeit (automatisch) verloren hat- ten. Deshalb sieht der Entwurf vor, dass dieser Verlust erst wirksam wird, wenn er von der Behörde festgestellt wird. Damit wird auch in anderen Rechtsbereichen kla- rer ersichtlich (etwa dem Wahlrecht), wer Deutscher ist und wer nicht. Gegenwärtig werden Einbürgerungsanträge von Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention regelmäßig vom Bundesamt für Migration und Flücht- linge (BAMF) zum Anlass genommen, um bei einer ent- sprechenden Anfrage der Einbürgerungsbehörde die Flüchtlingsanerkennung zu überprüfen. Dies hat eine ab- schreckende Wirkung auf die Antragstellung von einbür- gerungswilligen Flüchtlingen. Ein derartiger Umgang mit Einbürgerungsanträgen von Flüchtlingen ist welt- weit beispiellos. Die Praxis des BAMF steht überdies in offenem Widerspruch zu den Zielen der Genfer Flücht- lingskonvention. Denn nach Art. 34 der Konvention ist die Einbürgerung von anerkannten Flüchtlingen mög- lichst weit gehend zu erleichtern. Damit steht es nicht in Einklang, wenn Flüchtlinge mittelbar mit der Drohung, ihr Status werde bei Stellung eines Einbürgerungsantra- ges überprüft, von einer Antragstellung abgehalten wer- den. Die vorgeschlagene Regelung im grünen Gesetzes- antrag macht die beschriebene Praxis deshalb unmöglich. Der Entwurf sieht damit insgesamt an einer Reihe von Stellen die notwendigen Problemlösungen im Staatsan- gehörigkeitsrecht vor. Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass mit diesen Änderungen nicht alle Probleme zu lösen sind, sondern dass auch eine vernünftige, einheitliche und den gesetzlichen Regelungen entsprechende Verwal- tungspraxis in den Ländern nötig ist. Im Gegensatz zu Regelungsvorschlägen aus der Ko- alition im Rahmen des EU-Richtlinienumsetzungsgeset- zes und zu Beschlüssen der Innenministerkonferenz, die auf eine Erschwerung der Einbürgerung hinzielen und die deshalb integrationspolitisch kontraproduktiv sind, setzen Bündnis 90/Die Grünen auf Erleichterungen beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. Wir setzen uns beim Staatsangehörigkeitsrecht schon seit langem dafür ein, dass für Menschen, die in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt gefunden haben, die hier arbeiten und Steuern zahlen, keine unzumutba- ren Hürden beim Einbürgerungsverfahren aufgebaut werden dürfen. Denn wir haben schon lange zu wenige Einbürgerungen, nicht zu viele. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Bei Warenetikettie- rung mit RFID-Chips den Datenschutz sichern (Tagesordnungspunkt 19) Beatrix Phillip (CDU/CSU): Und sollten die Ängste von Verbrauchern vor der RFID-Technologie zum Teil oder völlig unbegründet sein: Wir müssen sie ernst neh- men und versuchen, sie abzubauen. Eine Technologie wie RFID wird sich auf dem Markt langfristig nur dann durchsetzen können, wenn auch die Verbraucher die Vor- teile erkennen und Vertrauen entwickeln können. Bester Beweis dafür ist die Reaktion eines großen Konzerns, der seine Kundenkarte zurückgezogen hat. Auf dem An- trag zur Ausstellung einer solchen Kundenkarte fehlten die notwendigen Hinweise über die Verwendung eines Chips auf derselben. Wir werden uns an keiner Panikmache beteiligen, die die Befürchtungen von Bürgern vor Überwachung oder gar Datenspionage unter dem Deckmantel des Fort- schritts schürt. Was wir brauchen, ist Transparenz, also Information der Menschen über RFID-Technologie. Dazu gehört es, den Bürgerinnen und Bürgern zu sa- gen: Erstens. RFID-Chips unterscheiden sich von dem bis- herigen Barcode oder Strichcode auf jeder Verpackung 5950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) lediglich dadurch, dass der Zahlencode auf dem Chip durch Radiowellen vom Lesegerät abgerufen wird. Zweitens. RFID-Chips enthalten derzeit keine perso- nenbezogenen Daten. Drittens. Die RFID-Technologie ist noch keine eta- blierte, das heißt, ausgereifte, Technologie und wird bis- her fast ausschließlich im Bereich Handel und Logistik angewendet. Sie wird zwar auch für Eintrittskarten wie zum Beispiel bei der Fußballweltmeisterschaft oder auch als Wegfahrsperre beim Auto genutzt, hat aber noch nicht auf unmittelbarer Verbraucherebene im Alltag Ein- zug gehalten. Viertens. Zweifellos ist mit dieser Technologie neben berechtigten Bedenken auch und gerade für den Vorrei- ter Deutschland ein hoher Nutzen und hohes Wirt- schaftspotenzial verbunden. Deutschland nimmt eine in- ternationale Spitzenstellung im Bereich Logistik ein. 2,5 Millionen Beschäftigte in Deutschland erwirtschaf- ten pro Jahr einen Umsatz von rund 170 Milliarden Euro. Die RFID-Materie ist vielfältig und technisch so kompliziert, dass eine politische und datenschutzrechtli- che Bewertung erst in den jeweiligen konkreten Anwen- dungsbereichen erfolgen kann und sollte. Im Bereich des Handels ergeben sich bei der Anwendung von RFID- Chips zweifelsfrei andere Datenschutzfragen als im be- sonders sensiblen Bereich der Gesundheit, zum Beispiel bei der Gesundheitskarte. Aus datenschutzrechtlicher Sicht ist also nicht der RFID-Chip selbst, sondern dessen Verwendung bzw. Zweckentfremdung für die Beurtei- lung relevant. Drei wesentliche Datenschutzaspekte bei möglichen Verwendungen möchte ich im Folgenden er- wähnen: Erstens. Möglichkeit der Personenbeziehbarkeit. Theo- retisch ist es möglich, dass durch den RFID-Code, zum Beispiel an Kleidungsstücken, Bewegungsprofile von Objekten erstellt werden. Da der Chip selbst aber keine personenbezogenen Daten enthält, greift hier das Daten- schutzrecht nicht. Dennoch: Mit Blick auf sorgenvolle Mienen und Verständnis für Unsicherheiten sprechen wir uns für eine Kennzeichnungspflicht und die Notwendig- keit der Deaktivierung von RFID-Chips „nach Ge- brauch“ aus. Zweitens. Möglichkeit der Verknüpfung mit persönli- chen Daten. Die über das Lesegerät ausgelesenen Daten des RFID-Codes könnten einer bestimmten Person zuge- ordnet werden. So ist der Einsatz von RFID-Chips in Verbindung mit EC- oder Kundenkarten datenschutz- rechtlich nur dann bedenklich, wenn die im Bundesda- tenschutzgesetz vorgeschriebenen Informations- und Hinweispflichten sowie der Grundsatz der Zweckbin- dung nicht erfüllt sind. Für die Datenverarbeitung in Kundenbindungssystemen – wie im Falle einer Kunden- karte – ist nach geltendem Recht eine Einwilligung des Betroffenen notwendig. Bei einer automatisierten Verar- beitung der Daten begründet § 6 Bundesdatenschutzge- setz noch weiter gehende Informationspflichten. Nach § 35 Abs. 2 Nr. 3 Bundesdatenschutzgesetz ist eine Lö- schung der mit RFID erhobenen Daten geboten, sobald die Datenspeicherung nicht mehr zur Erfüllung des Zwecks erforderlich ist. Schließlich ist auch bei der RFID-Technologie datenschutzrechtlich nach wie vor gewährleistet, dass jeder Bürger bestimmen kann, wem er zu welchem Zweck seine persönlichen Daten gibt. Drittens. Möglichkeit des Auslesens der Daten durch Dritte. Da bei der RFID-Technologie die Übertragung von Daten per Funk erfolgt, wird häufig die Befürchtung geäußert, dass diese Daten ohne Wissen der Betroffenen durch unbefugte Dritte ausgelesen werden können. Diese Befürchtung kann nicht von der Hand gewiesen werden. Technisch wäre dies auch machbar, aber es ist verboten. Zugleich sind aber im Verbraucheralltag be- reits etablierte Technologien wie das Handy weitaus ge- eigneter als RFID-Chips, wenn es zum Beispiel um die Ortung, das heißt Verfolgung, von Personen geht. Wir verschließen uns hier keiner kompetenten und sachgerechten Prüfung, inwieweit zum Beispiel ein Kennwort oder Ähnliches zusätzlichen Datenschutz ge- währleisten könnte. Nach dem derzeitigen Entwick- lungsstand sind die Anwendungen der RFID-Technolo- gie in Deutschland durch unser Bundesdatenschutzgesetz hinreichend abgedeckt. Als zusätzliche Rechtsgrundlage dient unter anderem auch die EU-Richtlinie über die Verarbeitung personen- bezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation vom 12. Juli 2004. Der von der FDP-Fraktion in ihrem Antrag angespro- chene datenschutzrechtliche Handlungsbedarf bei nicht löschbaren RFID-Chips steht derzeit nicht zur Debatte, da es derartige Chips in der Praxis noch nicht gibt. Hier zeigt sich, dass noch erheblicher Forschungsbedarf be- steht. Experten erwarten eine flächendeckende Einfüh- rung der RFID-Chips ohnehin erst in circa 30 Jahren. Bereits jetzt wird aber erfolgreiche Forschungsarbeit zum Beispiel auf dem Gebiet der Verschlüsselung von RFID-Codes betrieben. Summa summarum. Wir sehen derzeit keinen gesetz- geberischen Handlungsbedarf. Wir sprechen uns deut- lich gegen eine übereilte Überregulierung aus, stehen aber einem weiterem Diskussionsprozess zugunsten der Datensicherheit und Verbraucherfreundlichkeit offen ge- genüber. Das gilt auch für die in dem Antrag gestellte Forde- rung nach einer Selbstverpflichtung der RFID-Anwen- der. Selbst der Bundesdatenschutzbeauftragte hat sich in einem Interview mit der Zeitschrift „Das Parlament“ am 21. August dieses Jahres dahin gehend bereits zuver- sichtlich geäußert. Ich zitiere Herrn Schaar: Und inzwischen spüre ich in der Wirtschaft die Be- reitschaft, über Selbstregulierung und Selbstver- pflichtungen den Einsatz der Funkchips daten- schutzgerecht zu gestalten. Das veranlasst auch uns zu Hoffnung und Gelassenheit. Die Konsumgüterwirtschaft hat bereits Leitlinien zum Umgang mit RFID erarbeitet und veröffentlicht. Deren Entstehung wurde von der Bundesregierung moderie- rend begleitet. Derartige einheitliche Standardvorgaben könnten als Vorbild für weitere Branchen dienen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5951 (A) (C) (B) (D) Und schließlich: Die datenschutzrechtlichen und ver- braucherrelevanten Faktoren der RFID-Technologie wer- den seit längerer Zeit intensiv mit allen Beteiligten de- battiert. Das dürfte der antragstellenden Fraktion nicht entgangen sein, deshalb hätte es des Antrages nicht be- durft. Im Folgenden sei auf die wichtigsten Aktivitäten ver- wiesen: Erstens. Auf Bundesebene gibt es unter der Fe- derführung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie seit 2004 ein Diskussionsforum „RFID und Verbraucherschutz“, welches allen offen steht. Zweitens. Im vergangenen Jahr hat das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik eine Studie mit dem Titel „Risiken und Chancen des Einsatzes von RFID-Syste- men“ herausgegeben. Drittens. Im Juni dieses Jahres hat das Bundeswirtschaftsministerium eine RFID-Dialog- plattform eingerichtet, die verstärkt dazu beitragen soll, den Informationsaustausch zu bündeln, gemeinsame Positionen abzustimmen und in die aktuelle Diskussion auf EU-Ebene einzubringen. Viertens. Auf europäischer Ebene beschäftigt sich die EU-Kommission intensiv mit dem Thema RFID. Seit 2005 gibt es dort eine dienststel- lenübergreifende RFID-Gruppe. In diesem Frühjahr wurden fünf Workshops zum Thema „Potenzial und Ge- fahren der RFID-Technik“ abgehalten. Fünftens. Vor nicht einmal zwei Wochen, am 16. Oktober 2006, tagte die Abschlusskonferenz der EU-Kommission zu RFID. Die so genannte Art.-29-Datenschutzgruppe – ein un- abhängiges EU-Beratungsgremium in Datenschutzfra- gen – befasst sich seit zwei Jahren mit dem Thema RFID. Den Vorsitz hat – wie Ihnen bekannt sein dürfte – der deutsche Bundesdatenschutzbeauftragte inne, der selbstverständlich auch in den gesamten Diskussionspro- zess auf Bundesebene eingebunden ist. Wichtige Ergeb- nisse dieser thematischen Auseinandersetzung stehen noch bis Ende dieses Jahres an. So wird die EU-Kommission basierend auf den Er- gebnissen des Konsultationsprozesses auf europäischer Ebene voraussichtlich bis Ende dieses Jahres eine Kom- missionsmitteilung herausgeben. Das Europäische Parla- ment wird möglicherweise Anfang 2007 eine Richtlinie zu dem bereits bestehenden und erwähnten Regelwerk formulieren. Das Ergebnis eines Gutachtens des Bundes- wirtschaftsministeriums zu Stand und Perspektiven von RFID-Anwendungen soll bis Ende des Jahres vorliegen. Im Sinne einer sachlichen Lösung wäre es sicherlich klug, die Vorschläge der EU-Kommission und die Er- gebnisse des Gutachtens abzuwarten. Da es aber so viele Aktivitäten auf diesem Gebiet gibt, in der „Pipeline“ jede Menge noch nicht ganz ausgereifter Projekte sind, kommt es auf die Beratung eines weiteren Antrages nicht mehr an. Der Überweisung in den Ausschuss stimmen wir zu. Dr. Michael Bürsch (SPD): Zunächst ist Aufklärung geboten. Was sind überhaupt RFID-Chips? RFID steht für Radio Frequency Identification, was so viel heißt wie Funkfrequenzerkennung. Ein RFID-System besteht aus einem Sender, dem so genannten Transponder, der mit einer sehr kleinen Antenne ausgestattet ist, und einem Empfänger, dem Lesegerät. Der Transponder enthält auf einem Chip gespeicherte Daten, die berührungslos und ohne Sichtkontakt mittels elektromagnetischer Wellen an das Lesegerät übertragen werden können. RFID-Systeme werden von vielen Fachleuten als Technologie mit Zukunft gesehen, die bald in vielen Bereichen des Lebens einsetzbar ist und uns das Leben erleichtern soll. Mit dem RFID-System kann man Infor- mationstechnik in den Alltag einbauen. Normale All- tagsprodukte können über diese Technik miteinander kommunizieren. Das klingt zunächst beängstigend nach Science-Fiction. Deshalb ein paar lebensnahe Beispiele für den Einsatz von RFID-Systemen: RFID-Systeme können in Bibliotheken eingesetzt werden. Die Bücher werden mit RFID-Chips ausgerüstet und so ist eine selbstständige Ausleihe und eine Rückgabe außerhalb der Öffnungszeiten problemlos möglich. Die Wiener Hauptbibliothek hat ihr Ausleihsystem bereits auf RFID umgestellt. Museen können ihre Ausstellungsstücke mit Chips versehen. Das würde es den Museumsbesuchern mittels eines Zusatzinstruments ermöglichen, auf die Datenbank des Museums und damit auf Hintergrund- informationen zu den einzelnen Ausstellungsstücken zuzugreifen. RFID-Chips werden bereits jetzt zur Zeit- messung bei Sportveranstaltungen genutzt. Außerdem werden sie bereits seit längerem, integriert in Halsbänder oder Ohrmarken, zur Tieridentifikation benutzt. Die FDP hat in ihrem Antrag ein weiteres, uns alle be- treffendes Anwendungsfeld herausgegriffen: die Nutzung von RFID-Systemen bei der Warenetikettierung. Es ist denkbar, dass RFID-Chips bald die heute gebräuchlichen Barcodes ablösen werden. Barcodes müssen an der Super- marktkasse mit einem Scanner erfasst werden. Mit RFID- Chips ist eine Erfassung ohne Sichtkontakt möglich und damit eine Abrechnung, ohne dass der Einkaufswagen ausgepackt werden muss. Die Nutzung dieses neuen Sys- tems bei der Warenetikettierung soll aber vor allem auch die Rückverfolgung von Produkten in der Lieferkette er- leichtern und damit Fehler im Lieferprozess reduzieren und insgesamt die Logistik verbessern. Es lassen sich noch viele andere Möglichkeiten für den Einsatz dieser neuen Technik denken und es wird auch bereits über eine Vielzahl weiterer Anwendungsfel- der nachgedacht. Neue Technologien können aber neben vielen Chancen auch immer Risiken bergen und deshalb ist es richtig, dass die FDP auf den Datenschutz im Zu- sammenhang mit der RFID-Technologie hinweist. In der Tat können bei dem Einsatz von RFID-Chips Datenschutzrechte betroffen sein, wenn beispielsweise der RFID-Chip selbst personenbezogene Daten enthält, was bei der Warenetikettierung allerdings in der Regel nicht der Fall sein wird, und diese durch die Lesegeräte abgerufen werden. Es können aber auch dann Daten- schutzrechte betroffen sein, wenn die auf einem Chip ge- speicherten, nicht personenbezogenen Daten über zusätz- liche Informationen einer bestimmten oder bestimmbaren Person zugeordnet werden können. Kauft ein Kunde im Supermarkt mit RFID-Chips etikettierte Ware und legt er zur Bezahlung seine Kunden- oder EC-Karte vor, dann können die Produktdaten mit den Kundendaten ver- knüpft werden. 5952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) An dieser Stelle müssen wir uns aber klar machen: In den Fällen, in denen eine Zuordnung zu einer bestimmten oder bestimmbaren Person möglich ist, ist das Bundes- datenschutzgesetz anwendbar und damit gelten auch die datenschutzrechtlichen Grundsätze der Zweckbindung, Datensparsamkeit und Vertraulichkeit. Darüber hinaus ist nach § 4 Bundesdatenschutzgesetz die Erhebung, Verar- beitung und Nutzung personenbezogener Daten nur zuläs- sig, soweit das Bundesdatenschutzgesetz oder eine andere Rechtsvorschrift dies ausdrücklich erlaubt oder anordnet oder der Betroffene eingewilligt hat. Nach § 9 Bundesda- tenschutzgesetz müssen die Stellen, die personenbezogene Daten nutzen, diese durch geeignete technische und orga- nisatorische Maßnahmen vor dem unbefugten Zugriff Dritter schützen. Datenschutz ist uns sehr wichtig; das habe ich schon letzte Woche bei der Diskussion über das Daten- schutzaudit ganz deutlich gemacht. Die informationelle Selbstbestimmtheit des einzelnen Bürgers ist für uns ein besonders schützenswertes Gut. Aber deshalb sollten wir nicht in übertriebenen Aktivismus verfallen und bei dem Auftauchen einer neuen Technologie sofort nach Selbst- verpflichtungserklärungen oder neuen Gesetzen rufen. Wir sollten erst einmal gründlich prüfen, ob nicht die bestehenden Datenschutzgesetze ausreichen, um die Persönlichkeitsrechte von Bürgerinnen und Bürgern zu schützen. Das ist unserer Ansicht nach derzeit der Fall. Das Bundesdatenschutzgesetz schützt den Einzelnen vor dem unbefugten Umgang mit seinen personenbezogenen Daten, unabhängig davon, welche Technik für die Er- hebung und Verarbeitung der Daten genutzt wird. Es ist bewusst technikneutral formuliert worden und das ist auch sachgerecht. Anderenfalls müsste es bei jeder der vielen technischen Neuerungen auch eine Gesetzesände- rung geben. Deshalb sehen wir derzeit keinen Gesetzgebungs- bedarf im Hinblick auf die RFID-Technik. Es ist aber richtig und selbstverständlich, dass wir die Entwicklung der RFID-Technologie und ihre Verwendung weiter ge- nau beobachten und die geltenden Gesetze laufend dahin gehend überprüfen, ob sich Schutzlücken ergeben oder nicht. Gisela Piltz (FDP): Stellen Sie sich einmal folgende leider nur zu realistische Zukunftsvision vor: Sie, meine Damen und Herren, betreten in nicht allzu ferner Zu- kunft ein Geschäft und ziehen sich dafür einmal nicht Ih- ren neuesten, sondern einen immer noch neu aussehen- den und hochwertigen, aber älteren Mantel an. In den folgenden Tagen finden Sie ungefragt Post über die aktu- ellen Angebote an hochwertigen Mänteln in Ihrem Brief- kasten. Sie fragen sich nun, ob diese Post vielleicht ihren Ursprung darin hat, dass der Chip in Ihrem Mantel am Tag zuvor in dem besagten Ladengeschäft sein Alter preisgab und sodann Ihre persönlichen Daten aus dem Personalausweis abgefragt wurden. Selbst wenn die Post nur purer Zufall war, die Ungewissheit, ob nicht doch ein Zusammenhang zu den Einkäufen vom Vortag be- steht, die bleibt. Und nun frage ich Sie: Ist eine solche mögliche zu- künftige Situation geeignet, die Zustimmung zum Einsatz von RFID-Chips zu erhöhen und damit dessen Vermark- tungschancen als Technologie zu verbessern? Ich denke nicht. Die Radiofrequenz-Identifikation (RFID) ermöglicht es, Objekte eindeutig und kontaktlos zu erkennen. Diese Technologie findet einen immer größeren Anwendungs- bereich in allen Bereichen der Wirtschaft und dabei zu- nehmend auch bei der Produktauszeichnung im Einzel- handel. Seit mehr als eineinhalb Jahren versucht die Bundes- regierung, der Wirtschaft eine Selbstverpflichtungserklä- rung abzuringen, welche den Datenschutzerfordernissen genügt. Herausgekommen ist bisher eine Erklärung, wel- che von der Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. als „wischi-waschi“ und völlig unzureichend bezeichnet wird. Und das mit Recht. Eine Selbstverpflichtungser- klärung muss geeignet sein, das Vertrauen in die Daten- sicherheit und Datensparsamkeit zu gewährleisten; diese Anforderungen erfüllt die vorhandene Vorlage für eine Selbstverpflichtungserklärung nicht. Wir brauchen end- lich einen echten Fortschritt bei diesem Thema, damit diese aufstrebende Technik nicht durch Misstrauen ge- bremst wird. Wir haben die Probleme der Datensicherheit nun schon anhand von verschiedenen Anwendungen der RFID-Technologie in diesem hohen Haus diskutiert. Wir haben als FDP-Fraktion Anträge wegen der heiklen Da- tensituation in unseren Ausweispapieren gestellt. Bei den Reisepässen ist das Sicherheitsrisiko virulent, bei den Personalausweisen werden wir Ähnliches im nächs- ten Jahr nach der Einführung des elektronischen Perso- nalausweises erleben. Wir brauchen nun endlich einen verantwortungsvollen Umgang mit dieser neuen Techno- logie, den Funkchips. Nur wenn es uns gelingt, die Datensicherheit zu ge- währleisten, nur dann werden die Bürger und Konsu- menten diese neue Technologie auch annehmen. Denn eins ist doch sicher: Wenn die Menschen im Ungewissen bleiben, was mit ihren Daten passiert, dann ist das bei ei- ner Technologie, bei der weder der Abrufvorgang noch der Verarbeitungsvorgang von außen erkennbar sind, eine schwere Bürde für den Einsatz und die Vermarktung der Technik. Die Unkontrollierbarkeit, das Gefühl, nicht feststellen zu können, ob gerade Daten abgerufen wer- den, erzeugt bei den Menschen Misstrauen. Das ist doch nur zu verständlich. Wenn wir hier keine klaren Regeln für den Umgang mit den RFID-Chips finden, dann bleibt das Misstrauen gegenüber den Verarbeitungs- und Ab- rufvorgängen, und die Technologie erhält ein negatives Image als „Schnüffelchips“. Deswegen brauchen wir ein Optimum an „Abhör- sicherheit“ für die per Funk übertragenen Daten. Da ist bei den Ausweispapieren noch viel zu tun. Und wir brauchen Datensicherheit bei demjenigen, der die Daten von den Funkchips bestimmungsgemäß abruft. Dies gilt nicht nur für den Staat, sondern generell. Daher brauchen wir auch für den Einsatz dieser Techno- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5953 (A) (C) (B) (D) logie im privaten Sektor dort, wo die persönlichen Daten der Konsumenten betroffen sind, Regeln, welche die Menschen vor einem Verlust der Kontrolle über das ei- gene öffentliche Erscheinungsbild bewahren. Wenn Sie letztlich von der Zukunft dieser Miniatur- funkchips überzeugt sind, dann stimmen Sie mit uns für Regeln zu einem verantwortungsvollen Einsatz dieser Technologie. Am liebsten wäre uns natürlich der Weg über eine wirkungsvolle Selbstverpflichtung der Wirt- schaft. Nur wenn dieser von der Wirtschaft nicht einge- schlagen wird, dann sollte der Staat selbst für die nötigen Regeln sorgen. Dabei dürfen wir uns natürlich auch nicht auf den Sankt Nimmerleinstag vertrösten lassen. Von daher stellt dieser Antrag eine ausgewogene Lösung für die Förderung der Akzeptanz dieser Technologie in der Bevölkerung dar und ich werbe um Ihre Unterstüt- zung. Jan Korte (DIE LINKE): Mit RFID ist es wieder so eine Sache. Es mag ja ganz nett sein, wenn der Kühl- schrank von alleine Bier und Käse bestellt oder vor der längst vergammelten Milch warnt. Jeder mag selbst ent- scheiden, welche Machtbefugnisse er seinen Haushalts- geräten einräumen will. Der Komfort, den ein emanzi- pierter Kühlschrank bietet, relativiert sich jedoch durch die Risiken, die RFID-Technologie in sich birgt. Aus diesem Grunde müssen die Verbraucher in der Lage sein, abschätzen zu können, welche Daten die Etiketten auf Produkten an welchen Empfänger funken. RFID ist nämlich nicht nur eine Komfort-Angelegen- heit. Lassen Sie mich dazu zwei Beispiele benennen. Eine Anwendungsmöglichkeit von RFID-Tags ist der Einzelhandel. Durch diese Technologie wird jeder Joghurtbecher eindeutig identifizierbar. Problematisch ist das, wenn eine Kombination der Produktseriennum- mer mit persönlichen Daten stattfindet, also beispiels- weise dann, wenn die Zahlung mit Kreditkarte oder per Bankeinzug erfolgt oder wenn eine Kundenkarte zum Einsatz kommt. Dann lassen sich recht problemlos Kun- denprofile anlegen. Wird dann der RFID-Tag nicht deak- tiviert, funkt er weiterhin Daten, die von dritter Stelle ausgelesen werden könnten. Beispielsweise in einem an- deren Geschäft einer Handelskette. So wird aus einem Kunden- und Konsumprofil ein weit reichendes Bewe- gungsprofil. Zweitens. Die Universität Massachusetts hat einen Versuch mit Kreditkarten gemacht, in die RFID-Tags eingebaut waren. Das Ergebnis lässt aufhorchen: In 20 von 20 Fällen funkten die Kreditkarten den Namen des Inhabers, die Kreditkartennummer und das Verfallsda- tum der Karte durch den Umschlag. Jeder, der über ge- ringe technische Kenntnisse verfügt, kann die Daten empfangen, auswerten und entsprechend Schindluder damit treiben. Sicherungsmaßnahmen, die ein Durch- leuchten des Umschlages verhindern sollen, erscheinen vor diesem Hintergrund niedlich. Unabhängig von diesen Risiken sollte es eine Selbst- verständlichkeit sein, dass Verbraucher selbst entschei- den können, welche Daten sie wem preisgeben. Das er- fordert ein hohes Maß an Transparenz seitens der Unternehmen, die RFID-Technologie einsetzen wollen. Das bedeutet konkret, dass Betroffene über den Einsatz und den Verwendungszweck von RFID-Tags einfach und umfassend informiert werden müssen. Das betrifft auch den Inhalt der Chips und die Weiterverarbeitung der Daten. Ein verborgener Einsatz verbietet sich damit. Es muss gewährleistet sein, dass die Chips deaktiviert werden können. Das Unternehmen sollte dies von sich aus sicherstellen. Es muss aber zusätzlich auch für den Kunden eine Möglichkeit geben, die Deaktivierung der Chips vorzunehmen – auch nachträglich. Und selbstver- ständlich darf es keinen direkten oder indirekten Nut- zungszwang von RFID-Chips geben. Der vorliegende Antrag der FDP-Fraktion verfolgt all diese Ziele sicherlich. Allein das Problem ist, dass das achtbare Ansinnen, den Datenschutz zu gewährleisten, mit der wirtschaftsliberalen Grundposition der FDP kol- lidiert. Anders kann ich mir nicht erklären, dass die FDP zunächst auf eine Selbstverpflichtungserklärung der Wirtschaft setzt. Eine solche setzt Vertrauen voraus. Sie werden mir nachsehen, dass ich dieses Vertrauen in die Wirtschaft nicht setzen kann. Nicht nach den Erfahrun- gen, die bisher mit der praktischen Anwendung von RFID-Technologie gemacht wurden. Nehmen Sie nur den Future-Store der Metro AG. Er ist nicht nur ein Mo- dellprojekt für moderne Technologie in Supermärkten, er ist auch ein Modell für die völlige Ignoranz, die der Einzelhandel der Privatsphäre seiner Kunden entgegen- bringt. Völlig zu Recht hat die Metro deshalb im Jahr 2003 den „Big-Brother-Award“, den Überwachungs- oscar, für ihre RFID-Anwendung bekommen. Entgegen aller Beteuerungen hat das Unternehmen die Kunden nicht nur nicht über den Einsatz der Chips informiert, sondern durch aktives Handeln die Kunden über das Ausmaß der Datenverarbeitung getäuscht. Ich bin daher der Auffassung, dass wir gleich zu Punkt zwei Ihres Antrages springen und eine gesetzliche Regelung durchsetzen sollten. Im Sinne der Verbrauche- rinnen und Verbraucher sollten wir das tun, anstatt auf nutzlose Selbstverpflichtungserklärungen zu setzen, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die RFID-Technologie bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Datenschutz und Verbraucher- schutz auf der einen Seite und ökonomischen Interessen auf der anderen Seite. In den unterschiedlichsten Foren wird derzeit der Versuch unternommen, einen Rahmen für die Anwendung der kleinen Funkchips mit großer Wirkung zu finden. Blamabel gescheitert ist der Bundeswirtschaftsminis- ter Glos. Das Forum „RFID und Verbraucherschutz“ ist zwar nicht aufgelöst, tagt aber seit dem Sommer nicht mehr. Sowohl der Bundesverband der Verbraucherzen- tralen als auch der Bundesbeauftragte für den Daten- schutz und die Informationsfreiheit haben im Sommer erklärt: Die Bereitschaft der Wirtschaft, sich in einer Selbstverpflichtung an Datenschutz- und Verbraucher- schutzstandards zu halten, ist völlig unzureichend. 5954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Irritiert waren alle Beteiligten über die ständig wech- selnde Besetzung des Forums durch die Bundesregie- rung. Mal war das Wirtschaftsministerium da, dann das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und auch das Innenministerium schaute vorbei. Die Bundesregierung weiß offensichtlich bis heute nicht, wer zuständig ist und eine abgestimmte Position hat sie auch nicht. Hier sehen wir an einem praktischen Beispiel, welchen Stellenwert Innovation in dieser Regierung wirklich hat. Keiner ist zuständig und jeder sagt etwas anderes. Teil einer Lösung kann man so nicht sein. So kursieren nach wie vor die unterschiedlichsten Po- sitionspapiere, Gutachten und Grundsatzerklärungen. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Zuständigkei- ten zu klären und einen verlässlichen und verbindlichen Dialogprozess aufzunehmen, denn wir brauchen eine Klärung im Interesse des Verbraucherschutzes und im Interesse der Wirtschaft. Spannend war das Online-Consulting der EU-Kom- mission. Hierbei traten erstaunliche Zahlen zutage: Nur 15 Prozent der Befragten glaubten daran, dass die Indus- trie die Privatsphäre mit ihren Selbstregulierungsvor- schlägen ausreichend schützt. 55 Prozent wünschten sich gesetzliche Regelungen, die diesen Schutz gewährleis- ten. 67 Prozent der Befragten wollten die Risiken und Chancen der Chips genauer untersuchen lassen. Diese Zahlen belegen deutlich, dass die RFID-Technologie ein erhebliches Akzeptanzproblem hat. Schlussfolgerungen aus dem Online-Consulting will die EU-Kommission bis zum Ende des Jahres 2006 vorlegen. Es soll ein Fahrplan für ein „solides rechtliches Rahmenwerk“ vorgelegt wer- den. Zahlreiche Studien haben sich in jüngster Vergangen- heit mit der RFID-Technologie befasst: In einer Studie des BSI zu „Risiken und Chancen des Einsatzes von RFID-Systemen heißt es: „Wenn die Bewegung und Be- nutzung von Alltagsgegenständen Datenspuren hinter- lässt, die sich zunehmend der Kontrolle des Benutzers entziehen, so kann dies tief greifende Auswirkungen für unser Verständnis von Sicherheit und Privatsphäre ha- ben.“ Die TAUCIS-Studie des Unabhängigen Landeszen- trums für Datenschutz und der Humboldt-Universität kommt zu dem Ergebnis, dass vor allen Dingen die Be- treiber in der Pflicht für eine datenschutzkonforme Ge- staltung stehen. Nicht zuletzt hat auch der Bundestag ei- nen Auftrag zur Untersuchung der Technologiefolgen von RFID an das TAB vergeben. Nur dieser kurze Ausblick macht deutlich, wie kom- plex das Thema ist. Der Antrag der FDP greift einige Fragestellungen richtig auf, in meinen Augen kommt er allerdings zu früh und greift in der Lösung zu kurz. Wir wollen den Druck auf die Wirtschaft aufrecht- erhalten. Wir erwarten eine verbindliche Selbstverpflich- tung aller Marktanbieter. Gleichzeitig bin ich der Auf- fassung, wir werden darüber hinaus Details auch rechtlich regeln müssen. Bevor wir an das nationale Recht gehen, sollten wir abwarten, welche Vorschläge die EU, wie angekündigt, bis zum Ende des Jahres vor- legt. Waren mit RFID-Tags werden zukünftig auch aus den USA oder China zu uns kommen. Hier stößt eine globale Technik auf die Grenzen des nationalen Rechts. Wir schaffen keine Verbrauchersicherheit, wenn wir einen Paragrafen im Bundesdatenschutzgesetz ändern oder hinzufügen, hier macht es sich der FDP-Antrag zu leicht. Wir brauchen ein Bündel von Maßnahmen, national, eu- ropäisch und international, um hier Datenschutz und Verbraucherschutz zu gewährleisten. In den Forderungen, die wir umsetzen wollen, herrscht weitestgehend Einigkeit: Wir fordern Transparenz: über Einsatz, Verarbeitung und Inhalt von RFID-Chips muss umfassend informiert werden. RFID-Chips mit unlöschbarer Seriennummer müssen einer Kennzeichnungspflicht unterliegen. Wir wollen, dass die RFID-Tags spätestens an der Kasse deaktiviert werden, ohne dass Nachteile für Ser- vice und Beratung entstehen. Datenschutz muss integraler Bestandteil der Technik sein, unbefugtes Auslesen der Daten muss technisch ver- hindert werden. Wir brauchen eine wirksame Kontrolle und bei Ver- stößen auch die Möglichkeit für Sanktionen. Das Datenschutz-Audit, das auch hier ein sinnvolles und hilfreiches Instrument wäre, habe ich hier in einem Antrag bereits in der letzten Sitzungswoche gefordert. Wir sollten im Innenausschuss eine Anhörung durch- führen und mit Experten beraten, mit welchen Instru- menten wir unsere Ziele am ehesten erreichen. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Den Hunger in Ent- wicklungsländern wirksam bekämpfen – Das Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche Entwicklung fördern (Tagesordnungspunkt 20) Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Den Hunger auf der Welt zu bekämpfen, ist eine der dringendsten und wich- tigsten Aufgaben der internationalen Politik. Weltweit leiden heute über 850 Millionen Menschen an Hunger, das heißt, dass jeden Tag bis zu 100 000 Menschen an Hunger oder seinen Folgen sterben. Insofern ist die In- tention des Antrags, den Hunger weltweit zu bekämpfen und das Recht auf Nahrung umzusetzen, auf jeden Fall unterstützenswert. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass der Adressat der „freiwilligen Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung“ zuallererst die nationalen Regie- rungen sind. Dabei können und müssen wir ihnen helfen, diese Hilfe entbindet sie aber nicht aus ihrer Verantwor- tung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5955 (A) (C) (B) (D) Auch dürfen wir nicht glauben, dass die deutsche Ent- wicklungszusammenarbeit allein in der Lage wäre, den Hunger auf der Welt zu bekämpfen. Diese Aufgabe ist zu gewaltig und bedarf vielmehr einer internationalen, ko- ordinierten Kraftanstrengung, zu der sich die Staatenge- meinschaft auf dem Welternährungsgipfel in Rom 1996 auch bekannt hat. Doch wir wissen auch, dass wir dem Ziel, den Hunger auf der Welt bis 2015 zu halbieren – abgesehen von einigen Erfolgen in China und Indien – leider noch nicht viel näher gekommen sind. Insofern muss auch darüber diskutiert werden, ob die richtigen Instrumente und Institutionen zum Erreichen dieses ehr- geizigen Ziels eingesetzt werden. Als zentrale Institution zur Hungerbekämpfung nennt der Antrag die Welternährungsorganisation FAO. Diese leistet dazu sicherlich wichtige Beiträge und ist ein be- deutendes Forum. Doch ich bin mir nicht sicher, ob die FAO wirklich in der Lage ist, ein solches Mammutpro- jekt federführend zu meistern. Vielmehr vermisse ich im vorgelegten Antrag den Verweis auf andere wichtige in- ternationale Gremien, wie beispielsweise die „global donor platform for rural development“. Welche dieser Institutionen am besten in der Lage ist, den Hunger zu bekämpfen, vermag ich pauschal – anders als im vorge- legten Antrag – nicht zu sagen. In dieser Frage wäre es vielleicht empfehlenswert, auf die Expertise des Welt- entwicklungsberichts 2008 – agriculture for rural de- velopment – zurückzugreifen. Ich bin sicher, dass dieser bestimmt auch im Deutschen Bundestag eingehend be- handelt werden wird. Der Antrag bemängelt, dass „Fair-Trade“-Produkte nicht ausreichend gefördert werden. Ich glaube, dass es gerade im Bereich des „Fair-Trade“ die deutsche Politik geschafft hat, durch diverse Programme und Öffentlich- keitsarbeit eben diese Produkte zu fördern und gleichzei- tig in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die sozialen Belange der Menschen in Entwicklungsländern zu schaf- fen. Allein im letzten Jahr wurde in Deutschland mit Produkten, die das Trans-Fair-Siegel tragen, ein Umsatz von 130 Millionen Euro gemacht. Daher teile ich diese Kritik nicht und glaube, dass es wichtigere Baustellen zur Bekämpfung des Hungers als diese gibt. Den Bauern in Entwicklungsländern müssten viel- mehr ein verbesserter Zugang zu den Ergebnissen der CGIAR – Consultative Group on International Agricul- tural Research – ermöglicht werden, die bedeutende For- schungsarbeit für die Landwirtschaft in unterentwickel- ten Regionen leistet. Gerade in den letzten Jahren hat diese Forschungseinrichtung – anders als im Antrag be- hauptet – wichtige Beiträge geleistet, die sich an den Be- dürfnissen der Bauern orientieren, die keinen Zugang zu Bewässerung oder ertragreichen Böden haben. Denn ei- nes darf man nicht vergessen: 50 Prozent der Hungern- den sind Kleinbauern, die von dem leben, was sie selbst anbauen. Dieser vermeintliche Widerspruch hat eine einfache und doch sehr schwer zu durchbrechende Logik: Klein- bauern sind in der Regel arm, können keine ausreichen- den Flächen für den Anbau von Nahrungsmitteln kaufen und sind von Hunger bedroht, wenn ihre Ernte schlecht ausfällt. Dies ist ein Teufelskreis, aus dem nur sehr müh- sam durch Landreformen, Vergabe von Kleinstkrediten oder Verbesserung des Ertrags ausgebrochen werden kann. Allein daraus lässt sich ablesen, wie schwer es ist, Lö- sungen für diese gewaltige Aufgabe der Bekämpfung des Hungers zu finden. Wir müssen auch über Wege nachdenken, die über die Anstrengungen hinausgehen, die wir bisher unternommen haben. So ist im Antrag zu lesen, dass wir die Markt verzerrenden Agrarsubventio- nen senken sollen. Ich glaube, auf Dauer reicht das nicht. Wir müssen die Agrarexportsubventionen nicht nur sen- ken, sondern langfristig ganz abschaffen. Daher hat die EU mit Unterstützung der Bundesregierung auf der WTO- Ministerkonferenz in Hongkong im Dezember 2005 ange- kündigt, die Agrarsubventionen bis 2013 auslaufen zu lassen, und nicht nur das, auch die von anderen Staaten angewandten Exportsubventionen wie Exportkredite, kommerzielle Nahrungsmittelhilfen oder der Export durch Staatshandelsunternehmen sind darin mit einge- schlossen. Ich glaube, dass dies ein großer Schritt zur Bekämpfung des Hungers und ein wichtiger Beitrag für faire Handelsbeziehungen zwischen Industrie- und Ent- wicklungsländern ist. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit bemüht sich, der Herausforderung, den Hunger auf der Welt zu bekämpfen, gerecht zu werden. Sie hat den Haushalts- titel für Entwicklungszusammenarbeit in den letzten zwei Jahren um rund 600 Millionen Euro erhöht und die Bekämpfung von Hunger zum Schwerpunktthema er- klärt. Sie versucht, vor Ort für eine ausreichende Pro- duktion von Nahrungsmitteln zu sorgen oder den Zu- gang zum Erwerb von Nahrungsmitteln zu ermöglichen. Nur über das Vorantreiben der ländlichen Entwicklung lässt sich auf Dauer Hunger wirksam bekämpfen. Dies unterstützt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung durch den Bau von Infrastrukturprojekten wie Straßen, der Implementierung von Märkten, Landreformen oder Projekten zur Verbes- serung der Wasserversorgung. Dies allein reicht aber nicht aus! Oftmals hapert es leider auch an guter Regie- rungsführung in den entsprechenden Ländern, an nicht angebotenen Mikrokrediten, die auf die Bedürfnisse von Kleinbauern abgestimmt sind, oder an fehlenden oder mangelhaft durchgeführten Landreformen. Vielfach fin- det man auch die Situation, dass ein Entwicklungsland, in dem ein Nahrungsüberschuss erwirtschaftet wird, die- sen nicht im Nachbarland, in dem Hunger herrscht, an- bieten kann, weil es einfach an entsprechenden Handels- beziehungen und -abkommen mangelt. Dies ist ein Bereich, in dem die deutsche Entwicklungszusammenar- beit – ohne viel Geld in die Hand nehmen zu müssen – durch Beratung und Vermittlung viel erreichen kann. Über das Ziel, den Hunger in der Welt zu bekämpfen und das Recht auf Nahrung weltweit durchzusetzen, herrscht Einigkeit. Diesem Ziel sind wir alle verpflichtet, und ich glaube, dass wir es schaffen, auch gemeinsam an Lösungen für dieses gewaltige Problem zu arbeiten. Da- bei dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass jede Re- gion andere soziale, politische, wirtschaftliche und öko- logische Bedingungen hat und es dementsprechend 5956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) keine Patentrezepte gibt, die überall auf der Welt gelten. Der vorliegende Antrag hat viele wichtige und richtige Punkte und diese unterstütze ich ausdrücklich. Aller- dings ist er an vielen Stellen zu pauschal und tendenziös und lässt wichtige Elemente wie die Forderung nach ei- ner verbesserten internationalen Koordination vermis- sen. Daher lehnt ihn die Fraktion der CDU/CSU im Deutschen Bundestag ab und hofft, im Vorfeld des schon genannten Welternährungsberichts einen fraktionsüber- greifenden Antrag einbringen zu können, der die vorge- brachten Kritikpunkte aufgreift. Die Bekämpfung von Hunger ist Voraussetzung für Entwicklung – und nicht umgekehrt. Nur wenn wir den Hunger in der Welt in den Griff bekommen, werden wir auch die Armut bekämp- fen können. Dies ist ein Ziel, für das sich jede Anstren- gung lohnt. Dr. Sascha Raabe (SPD): Der Antrag „Den Hunger in Entwicklungsländern wirksam bekämpfen – Das Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche Entwicklung fördern“ der Bundestagsfraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen, der heute zur Debatte steht, ist meiner Mei- nung nach in der Zielsetzung prinzipiell zu unterstützen. Ich bin mir sicher, dass wir uns als Entwicklungspoliti- ker aller Couleur darüber einig sind, dass wir den Kampf gegen Hunger in der Welt mit allen Kräften weiter füh- ren müssen. Das erste Millenniumsentwicklungsziel, bis zum Jahr 2015 die Zahl der Hungernden zu halbieren, ist und bleibt unsere Richtmarke. Natürlich wollen wir da- rüber hinaus so schnell wie möglich erreichen, dass überhaupt kein Mensch mehr hungern muss. Wie der vorliegende Antrag richtigerweise aufführt, leben etwa 800 Millionen hungernde Menschen in Ent- wicklungsländern. Davon leben über drei Viertel auf dem Land. Aufgrund dieser Fakten wird dem landwirt- schaftlichen Sektor in der Entwicklungszusammenarbeit weiterhin ein sehr hoher Stellenwert beigemessen. Wenn man den Antrag der Grünen durchliest, scheint diese Aussage zunächst wie ein Widerspruch zu klingen. Schließlich sind die Mittel der meisten Geberländer für diesen wichtigen Bereich in den letzten Jahren zurück- gefahren worden. An dieser Stelle scheint es mir zunächst angebracht festzuhalten, was unter „ländlicher Entwicklung“ zu ver- stehen ist. Eine verkürzte Vorstellung reduziert den Be- reich vor allem auf die technische Hilfe zur Subsistenz- landwirtschaft. Sprich: Es wird einer kleinbäuerlichen Familie in einem Land wie Guatemala oder Tansania bei ihrer Selbstversorgung geholfen. Diese Vorstellung mag in einigen Fällen richtig sein, doch insgesamt ist sie nicht mehr zeitgemäß. Spätestens nachdem unsere Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul Ende der 90er-Jahre ein neues Verständ- nis der Entwicklungszusammenarbeit in die Regierungs- arbeit einführte, kam es zu einem Paradigmenwechsel. So versteht sich die Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland heute auch als globale Strukturpolitik und fordert Kohärenz ein. Vor diesem Hintergrund ist für mich die Förderung des ländlichen Raumes mehr als technische Landwirtschaftshilfe. Sie betrifft andere poli- tische Sektoren wie insbesondere die Handels- und Landwirtschaftspolitik. Um es anschaulicher zu formu- lieren: Was macht es für einen Sinn, einem Bauer in ei- nem Entwicklungsland mit einem Traktor zu helfen, wenn es sich aufgrund der momentan globalen unge- rechten Handelsbedingungen und der landwirtschaftli- chen Subventionspolitik in Europa für ihn nicht rentiert zu produzieren? Deshalb verstehen wir unter „ländlicher Entwick- lung“ viel mehr. Das Ziel, die Menschen im ländlichen Raum zu entwickeln, umfasst neben einem kohärenten Handeln in den bereits genannten Politikbereichen wei- tere Maßnahmen, wie beispielsweise: Auf politischer Ebene umfasst sie die Unterstützung der Regierungen der Partnerländer bei einer entwick- lungsorientierten Politik, die geeignete Rahmenbedin- gungen für eine nachhaltige ländliche Entwicklung schafft. Hierzu zählen unter anderem Menschenrechte und demokratische Strukturen, Rechtssicherheit und Ge- schlechtergerechtigkeit, Transparenz staatlichen Han- delns und Korruptionsbekämpfung, marktwirtschaftliche Reformen, ein gesicherter Zugang der Landbevölkerung zu produktiven Ressourcen und eine breitenwirksame Bildungs- und Gesundheitspolitik. Im sozialen Bereich umfasst sie die Förderung von Mechanismen des gesellschaftlichen Interessenaus- gleichs und der Konfliktbewältigung, die Förderung von Partizipation und Gleichberechtigung und die Entwick- lung leistungsfähiger sozialer Sicherungssysteme. In ökologischer Hinsicht umfasst sie die Unterstüt- zung der ländlichen Bevölkerung bei der Entwicklung und Anwendung ressourcenschonender und umweltver- träglicher Ansätze der Landnutzung, welche Bodenero- sion vermeiden, Wasser sparsam einsetzen und die vor- handene Biodiversität bewahren. Auf wirtschaftlichem Gebiet umfasst sie die Unter- stützung der wirtschaftlichen Akteure bei der Schaffung produktiver und entlohnter Beschäftigung auch über den landwirtschaftlichen Bereich hinaus, und die Förderung dienstleistungsorientierter Institutionen für den ländli- chen Raum, zum Beispiel in den Bereichen Finanz- dienstleistungen, Beratungsdienste und Vermarktung. Eine auf die nachhaltige Förderung ländlicher Ent- wicklung abzielende Gesamtstrategie muss sich also im Sinne globaler Strukturpolitik auch eine Reform ent- wicklungshemmender internationaler Rahmenbedingun- gen zur Aufgabe machen. Das erfordert eine faire und entwicklungsförderliche Ausgestaltung der Handels-, Agrar-, Finanz-, Wirtschafts- und Umweltpolitik der In- dustrieländer. Während wir Geberländer uns um gerechtere Außen- bedingungen kümmern sollten, sind die Empfängerlän- der größtenteils selber für die gerechte Verteilung beim Zugang zu Land, für Bildung und für die Infrastruktur- planung zuständig. Diese sind der Schlüsselbereich für die Armutsbekämpfung. Es verlangt also auch den poli- tischen Willen unserer Partner, diese Stellschrauben zu verändern. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5957 (A) (C) (B) (D) Der Antrag der Grünen fokussiert sich insbesondere im Forderungsteil zu sehr auf ein zu enges Verständnis von ländlicher Entwicklung und wird den komplexen Herausforderungen des Themas nicht gerecht. Ich möchte zwei weitere Aspekte erwähnen, die ich für nicht richtig halte und die es uns nicht ermöglichen, den An- trag zu unterstützen. Der Antrag der Grünen legt, wie nicht anders zu erwar- ten, einen sehr hohen Stellenwert auf den ökologischen Anbau. Im Prinzip ist dies nicht falsch; doch ich würde den Schwerpunkt richtigerweise auf „Nachhaltigkeit“ le- gen. Die Forderung zur Förderung des ökologischen Landbaus greift meiner Meinung nach viel zu kurz. Wichtiger als die Orientierung auf eine Marktnische ist die breitenwirksame Förderung verbesserter standortge- rechter und nachhaltiger Anbaumethoden – dies erst recht vor dem drohenden Hintergrund radikaler Verände- rungen infolge des Klimawandels. Eine weitere Forderung der Grünen lautet, sich an landwirtschaftlichen Projekten, bei denen gentechnisch manipuliertes Saatgut verwendet wird, nicht zu beteiligen. Ich bin kein glühender Verfechter der Gentechnik, aber es ist doch absurd zu glauben, dass sich die Verbreitung der Gentechnik durch einen deutschen Rückzug aus ent- sprechenden Landwirtschaftsprojekten stoppen lassen würde. Außerdem ist der Wille der jeweiligen Länder zu respektieren. Bei allen Risiken dieser Technik kann sie auch Chancen für die Ernährungssicherheit bieten. Ent- scheidend sind die Rahmenbedingungen. Es muss unter anderem sichergestellt werden, dass einheimisches Saat- gut nicht durch genmanipuliertes Saatgut verloren geht und nicht eine teure Abhängigkeit von transnationalen Biotechnologiekonzernen entsteht. Gerade weil die Gen- technologie Risiken birgt, die nur durch gute Rahmenbe- dingungen in den Griff zu bekommen sind, ist es notwen- dig, dass wir denjenigen Entwicklungsländern, die sich für Gentechnik in der Landwirtschaft entscheiden, dabei helfen, diese Technologie verantwortungsvoll einzuset- zen. Der Antrag der Grünen weist also trotz richtiger Ziel- setzung erhebliche Schwächen auf. Die SPD-Bundes- tagsfraktion hat in der letzten Legislatur mit dem grünen Koalitionspartner, aber auch in der jetzigen Legislatur mit der CDU/CSU bessere Anträge zu dem Thema in den Deutschen Bundestag eingebracht. So hatten wir zum Beispiel in der 15. Legislaturperiode zwei Anträge eingebracht, die auf einen gerechteren Welthandel abzielen. Auch in der momentan von uns geführten großen Koalition steht das Thema weit oben auf der Tagesordnung. Anfang dieses Jahres haben wir den Antrag „Erfolgreichen Abschluss der laufenden Doha-Welthandelsrunde bis Ende 2006 sicherstellen“, Drucksache 16/556, im Bundestag verabschiedet. In den Anträgen fordern wir ganz konkret den Abbau interner handelverzerrender Subventionen in Europa sowie die Öffnung der Märkte für landwirtschaftliche Produkte aus Entwicklungsländern. Gleichzeitig soll es den Entwick- lungsländern im Rahmen eines „Special and Differential Treatments“ möglich sein, ihre Märkte zu schützen, bis sie wettbewerbsfähig sind. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung ist in über 30 Ländern in Programmen der ländlichen Entwicklung engagiert. Im vergangenen Jahr wurden dafür rund 350 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Trotzdem ist es wahr, dass in den letzten Jahren insgesamt die bilateralen Mittel für ländli- che Entwicklung und für den Agrarsektor zurückgegan- gen sind. Eine Ursache liegt in der geringen Rentabilität unter marktverzerrten Rahmenbedingungen. Denn die internationalen Handels- und Preisverzerrungen, vor al- lem ausgelöst durch Exportsubventionen der reichen Länder zusammen mit einer weitgehenden Marktöffnung der Entwicklungsländer, verursachen, dass Nahrungs- mittel zu Dumpingpreisen die Entwicklungsländer über- schwemmen und die eigene Landwirtschaft von ihrer lo- kalen Nachfrage abkoppeln. Es lohnt sich rein wirtschaftlich oft nicht mehr, in Landwirtschaft zu inves- tieren. Das soll aber nicht heißen, dass wir uns aus dem Bereich zurückziehen sollten. Nein, im Gegenteil, eine Doppelstrategie wird hier verlangt: Förderung der ländli- chen Entwicklung bei gleichzeitiger Errichtung eines ge- rechten Welthandels. Sehr wichtig in diesem Zusammenhang sind die derzeit stattfinden EPA-Verhandlungen, Economic Partnership Agreements, mit verschiedenen afrikanischen und karibi- schen Entwicklungsländern. Zusätzlich zu den EPA-Ver- handlungen sollte natürlich aber auch die WTO-Verhand- lungsrunde endlich erfolgreich abgeschlossen werden. Denn letztlich müssen für alle Entwicklungsländer ge- rechte Handelsbedingungen geschaffen und das Verspre- chen einer „Entwicklungsrunde“ eingelöst werden. Vor wenigen Tagen – am 16. Oktober – hatten wir den Welternährungstag. Es ist kein Tag zum Feiern, solange wir wissen, dass weiterhin 30 000 Menschen täglich an den Folgen von Hunger sterben. Dennoch habe ich Hoff- nung, dass die internationale Gemeinschaft sich des The- mas endlich durchgreifend annimmt. Mut macht zum Beispiel auch die Auswahl von Herrn Muhammad Yunus als Friedensnobelpreisträger für seine jahrzehntelange Tätigkeit im Bereich der Mikrokreditvergabe an arme Menschen, zumal die meisten der von ihm unterstützten Kreditnehmer im ländlichen Sektor zu finden sind. Nun sollten die Industrieländer aber auch ihren Friedensbei- trag leisten, indem gerechte Wirtschafts- und Handelsbe- dingungen geschaffen werden. Wenn nicht, wären auch die Anstrengungen von Herrn Yunus umsonst. Dr. Karl Addicks (FDP): Die Nahrungssicherung und die Verbesserung der ländlichen Entwicklung sind eines der elementaren Probleme der Armutsursachenbe- kämpfung und eine globale Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen. Denn ohne ausreichende Ernährung kann keine Entwicklung stattfinden und somit auch keine wirtschaftliche Entwicklung, Gesundheit oder Bil- dung. Der aktuelle Bericht der Welthungerhilfe hat wie- der einmal verdeutlicht, dass es noch keine sichtbaren Erfolge bei der Halbierung der Zahl der Hungernden bis 2015 gibt, wie es sich die Weltgemeinschaft vorgenom- men hat. Das Gegenteil ist der Fall. Die Zahlen steigen. 5958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Anhand dieser Zahlen wird deutlich, dass die bisheri- gen Konzepte und Strategien in der Entwicklungszusam- menarbeit nicht ihr gewünschtes Ziel erreicht haben. Da fragt man sich, was kann und muss anders gemacht wer- den? Die Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen versuchen in ihrem An- trag Lösungsansätze auf diese Frage zu finden. Manche vernünftigen Vorschläge mache ich mir auch zu Eigen, zum Beispiel ländliche Entwicklung stärken oder ge- rechter Agrarhandel. Das sind aber nur einige Maßnah- men, die allein zu keiner Verbesserung führen. Indessen müssen wir alle endlich begreifen, dass die wirksame Bekämpfung des Hungers nicht isoliert betrachtet wer- den kann. Wo bleibt die gute Regierungsführung oder Demokratie, Rechtsstaatlichkeit? Das habe ich in Ihrem Antrag an keiner Stelle gefunden. Sie werden einwen- den, gute Regierungsführung, Demokratie und Rechts- staatlichkeit könne man nicht essen. Richtig. Aber diese sind die Voraussetzung jeder Entwicklung, die die Men- schen letztlich in die Lage versetzt, sich selbst zu versor- gen. Warum hungern Menschen? In vielen Ländern Afri- kas gibt es geradezu ideale Anbaubedingungen. Afrika könnte 2 Milliarden Menschen versorgen. In vielen Ge- bieten sind ohne weiteres zwei bis drei Ernten im Jahr möglich; in anderen Gebieten bei entsprechender Be- wässerung auch. Warum also der Hunger? Ich kann Ihnen die Antwort geben: wegen der unaufhörlichen Misswirtschaft, wegen der Korruption, wegen Zweck- entfremdung, Diebstahl und Veruntreuung von Mitteln. Schauen Sie nach Simbabwe. Was in dem Lande an Nahrungsmittelproduktion möglich war, haben frühere Zeiten gezeigt. Wie beseitigen wir also die Ursachen? Ich meine da- mit die kausale Bekämpfung der Armut und des Hun- gers. Dafür weigere ich mich auch, von Armutsbekämp- fung zu sprechen, sondern ich spreche konsequent von Armutsursachenbekämpfung. Denn hier liegt der Schlüssel zum Erfolg. Wer will schon ewig Placebos verteilen? Wir wollen eine kausale Therapie. Also nen- nen Sie doch die Dinge beim Namen. Nennen Sie die Begriffe gute Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung von HIV/Aids, Freiheit, Demokratie und lassen Sie uns danach handeln. Im aktuellen Hungerindex der Deutschen Welthun- gerhilfe werden diese Faktoren genannt, wenn es um die Beseitigung von Hunger geht. Gerade in Afrika sind HIV/Aids oder fehlende gute Regierungsführung die Hauptgründe für Hunger und Armut! Dies muss in der Betrachtung berücksichtigt werden. Denn nur wenn rechtsstaatliche Strukturen vorhanden sind, kann auch der in Ihrem Antrag geforderte Zugang zu Land realisiert werden. Nur wenn Rechtssicherheit herrscht, die vor Enteignung schützt, oder ein Katasterwesen vorhanden ist, kann auch ländliche Entwicklung umgesetzt werden. All dies wurde in Ihrem Antrag leider nicht berücksich- tigt. Ich möchte gerne weitere Punkte anführen, die eine Zustimmung meiner Fraktion zu Ihrem Antrag unmög- lich machen. Ein zentraler Punkt, der für die FDP nicht nachvollziehbar ist, betrifft den Einsatz von Gentechnik. Sie lehnen dies kategorisch ab; verdammen sie gera- dezu! Warum, frage ich mich. Verlassen Sie doch end- lich dieses Dogma!! Selbst die FAO-Food and Agricul- ture Organization – beurteilt den Anbau von BT-Mais in China als sehr positiv, weil dadurch in großem Umfang Unfälle mit Pflanzenschutzmitteln vermieden werden können. So schädlich kann also der Anbau von gentech- nisch veränderten Pflanzen dann nicht sein. Darüber hi- naus haben Kleinbauern in Entwicklungsländern auch einen finanziellen Nutzen vom Anbau gentechnisch ver- änderter Pflanzensorten. Warum wollen Sie das nicht? Lassen Sie doch Ihre Denkverbote endlich hinter sich! Abgesehen von den wirtschaftlichen Vorteilen, liegt es mir als Arzt am Herzen, Ihnen anhand der gesundheit- lichen Auswirkungen von Unterernährung darzulegen, welch Vorteil in dem Anbau von beispielsweise gentech- nisch verändertem Reis liegt. Der Goldene Reis, angerei- chert mit Karotin, schützt vor Erblindung. Diese bzw. Sehstörungen sind die Folgen eines Vitamin-A-Mangels, wie er häufig bei Kindern in Entwicklungsländern vor- zufinden ist. Lassen Sie mich dieses Problem anhand ei- ner Zahl verdeutlichen: 50 Millionen Menschen erblin- den jährlich aufgrund von Karotinmangel. Wenn dies beseitigt werden kann, dann bin ich für den Einsatz der Grünen Gentechnik in der ländlichen Entwicklung und Landwirtschaft. Es ist zynisch, auf diese Möglichkeit zu verzichten. Wenn Pflanzen dadurch resistenter gegen- über Wasserknappheit bzw. Schädlingen sind, dann be- fürworte ich den Einsatz der Grünen Gentechnik. Ich kann und will ihre völlige Abneigungen gegenüber die- ser nicht verstehen, finde Sie auch verantwortungslos gegenüber den Betroffenen. Auch die Wirtschaft hat die Notwendigkeit der Gen- technik in der Entwicklungspolitik erkannt, denn rund 70 Firmen haben, um noch einmal auf den Goldenen Reis zurückzukommen, auf Lizenzgebühren für ihre Pa- tente verzichtet. Ein wichtiger Schritt, auch für die Ent- wicklungspolitik. Damit möchte ich jetzt nicht Tür und Tor für die Grüne Gentechnik öffnen, sicherlich muss in diesem Zusammenhang für die Entwicklungsländer, die sich für einen Einsatz der Grünen Gentechnik entschlos- sen haben, auch die nötige rechtliche Beratungsleistung zur Verfügung stehen und müssen auch entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden, um einen ver- antwortungsvollen Umgang mit der Grünen Gentechnik zu erreichen. Ein weiterer Punkt, der mir in Ihrem Antrag aufgefal- len ist, betrifft die Festlegung von Sozial- und Ökostan- dards und Labels. Darüber brauche ich gar nicht lange zu reden, denn Handelshemmnisse, die dadurch erzeugt werden, können und wollen wir Liberalen nicht unter- stützen. Ein ganz zentrales Problem in Ihrem Antrag ist, dass Sie zwar mehr Geld für die ländliche Entwicklung for- dern, aber nicht sagen, wo das Geld herkommen soll? Wissen Sie, mehr Geld zu fordern, ist immer einfach, doch Vorschläge zu machen, wie auch mit dem vorhan- denen Geld eine Verbesserung erreicht werden kann, das ist schwer und wird leider häufig nicht gemacht. Bevor Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5959 (A) (C) (B) (D) mehr Geld gefordert wird, sollte über Geberharmonisie- rung nachgedacht werden, sollten Effizienzreserven mo- bilisiert werden, sollten die oben genannte Fehlverwen- dung und der Fehlabfluss gestoppt werden und, und, und. Denn nur so können doppelte Arbeit vermieden und die Gelder dann auch effizient eingesetzt werden. Das allein führt meist schon zu verbesserten Ergebnissen. Glauben sie mir. Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Ein Antrag, der die weltweite Hungerbekämpfung ins Zentrum der Politik stellt, findet die Zustimmung der Linksfraktion. Insbesondere begrüßen wir die Absicht, die Ergebnisse der zweiten Weltkonferenz für Agrarreform und ländli- che Entwicklung – ICAARD – vom März 2006 auf die Tagesordnung des Bundestages zu stellen. Ich erinnere daran, dass diese Konferenz von der Bundesregierung, wie auch vielen anderen Regierungen, sträflich vernach- lässigt wurde. Die Ursache dafür ist nicht schwer auszumachen. Die erste Weltkonferenz, die den Zusammenhang zwischen Hunger und ungerechter Landverteilung zum Inhalt hatte, fand 1979 statt. Danach brach diese globale De- batte ab. Seit den 80er-Jahren wird sie stattdessen von Konzepten dominiert, die die enthemmte Privatisierung staatlich geschützter Bereiche in der Dritten Welt als ei- nen Beitrag zur Entwicklung verkaufen. Das Ergebnis ist bekannt. Die so genannten Struktur- anpassungsprogramme der 80er- und 90er-Jahre von Weltbank und IWF haben die Massenarbeitslosigkeit in vielen Entwicklungsländern in unerträgliche Höhen ge- schraubt und so die vorangegangenen Erfolge von zwei Jahrzehnten Armutsbekämpfung vernichtet. Lassen Sie mich eines betonen: In den meisten Hungerepidemien fehlt es nicht an Nahrungsmitteln, sondern an Geld, um Essen zu kaufen. So wurden während der Hungerkata- strophe in Niger von 2005 noch Nahrungsmittel in das benachbarte Nigeria ausgeführt, während die Armen im eigenen Land starben. Eine Beeinträchtigung der Ernte um rund 10 Prozent genügte, um die Getreidepreise so zu steigern, dass sich viele Menschen im Niger schlicht- weg kein Essen mehr leisten konnten. Armut ist das Ergebnis des globalen Kapitalismus. Sie kann nur durch staatliche Eingriffe gedämpft wer- den. Die WTO-Verhandlungen aber zielen seit zehn Jah- ren darauf ab, den von IWF und Weltbank angestoßenen Prozess der Zerstörung der staatlichen Grundversorgung in den Entwicklungsländern fortzusetzen. Die Bundes- regierung hält an den neoliberalen Dogmen fest, ob- gleich die Liste der gescheiterten Entwicklungsprojekte jährlich länger wird. Nehmen wir das Beispiel Tansania. Im August 2003 gewährte die tansanische Regierung City Water, ein privates deutsch-britisch-tansanisches Gemeinschaftsunternehmen, die Übernahme der Was- serversorgung in der Hauptstadt Dar es Salaam. Das Pri- vatisierungsprojekt war Ergebnis der Verhandlungen im Rahmen des vom IWF aufgelegten Strukturanpassungs- programms von 1996 bis 1999, sowie des Armutsredu- zierungsprogramms der Jahre 2000 bis 2003. Dem Kon- sortium brachte der Vertrag Gewinne, den Armen neue Not. Die Wasserpreise stiegen, ebenso die Anfälligkeit für Cholera. Die Bilanz des „Entwicklungsprojektes“ war so miserabel, dass sich die tansanische Regierung nach nicht einmal zwei Jahren im Mai 2005 gezwungen sah, den Vertrag mit City Water wieder zu kündigen. Staatlicher Schutz vor Marktmechanismen ist auch in ländlichen Gebieten entscheidend im Kampf gegen ex- treme Armut und Hunger. Eine wichtige Funktion üben in diesem Zusammenhang Zölle aus, mit denen die Ent- wicklungsländer ihre Landwirtschaft vor den Agrar- exporten aus dem Norden abschirmen. Wenn Milch aus subventioniertem Milchpulver der Industriestaaten billi- ger ist als die Frischmilch der einheimischen Viehzüch- ter, dann wird die Existenzgrundlage der Kleinbauern in den Entwicklungsländern vernichtet. Dieses Phänomen lässt sich in vielen subsaharischen Staaten Afrikas be- obachten. Es erklärt, warum der größte Teil der Hun- gernden selbst auf dem Land lebt. Die im Zuge der jüngsten WTO-Verhandlungen erhobene Forderung nach einer Absenkung der Schutzzölle für Entwicklungs- länder hätte diesen Prozess weiter verschärft. Insofern kann man das Scheitern der Verhandlungsrunde nicht be- dauern. Es ist deshalb im höchsten Maße irreführend, wenn die Grünen in ihrem ansonsten unterstützenswerten An- trag die Hoffnung auf eine Wiederbelebung des „Ent- wicklungsmandates der WTO-Verhandlungen“ ausspre- chen. Bei den Verhandlungsteilnehmern in der so genannten Doha-Entwicklungsrunde handelte es sich um die Vertreter der Wirtschaftsministerien. Ihr einziger Auftrag bestand in der Durchsetzung der globalen Inte- ressen der eigenen Unternehmen. Sie verfügten über kein Entwicklungsmandat, sondern über ein reines Pri- vatisierungsmandat. Im Interesse der Armen in den Ent- wicklungsländern sollten wir den Mut haben, solche Fehlentwicklungen klar auszusprechen. Drei Viertel der weltweit 852 Millionen Hungernden leben auf dem Lande. Die extrem ungleiche Verteilung von Land ist eine der Hauptursachen für die Existenz von Hunger. Dazu wurde während der ICAARD festge- stellt: Landwirtschaftliche Modernisierung durch die Inte- gration in die Weltmärkte, gewöhnlicherweise nicht begleitet von Veränderungen in den ländlichen Strukturen, haben oft ungewollte Konsequenzen: Ein Anstieg von Einkommensungleichheiten und Landkonzentration, eine Verminderung der Wettbe- werbsfähigkeit, eine verstärkte Existenzunsicher- heit für Familienbetriebe, Umweltzerstörung … Ein hohes Maß an ökonomischer und ländlicher Kon- zentration stellt eine Hürde für die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit dar, die Millionen nicht die Ausübung ihrer vollen Staatsbürgerrechte erlaubt. Diese Erkenntnis will ich unterstreichen. Die Be- kämpfung von Hunger erfordert in vielen Ländern der Erde mutige Schritte zu ausgedehnten Landreformen. Nur wenn Großgrundbesitzer zugunsten der Landlosen enteignet werden, kann das Übel an der Wurzel gepackt werden. Ich betone: Es geht nicht um blinde Aktionen, die wie in Simbabwe nur dazu führen, die ländliche 5960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Produktion zu untergraben. Es geht um die Demokrati- sierung der armen Gesellschaften. Es ist deshalb kein Zufall, dass an der zweiten Welt- konferenz für Agrarreform und ländliche Entwicklung in Porto Alegre einige Tausend Bauern teilnahmen. Denn auch in Brasilien geht die versprochene Landreform viel zu langsam vonstatten. Die Ausrichtung der Lula-Regie- rung auf das große exportorientierte Agrarkapital bringt den Landlosen wenig. Hinzu kommt, dass viele brachlie- gende Latifundien einfach nicht enteignet werden. In den vergangenen zehn Jahren haben 600 000 Landlose eine Scholle erhalten. Aber immer noch gibt es mehr als vier Millionen landlose bäuerliche Haushalte. Es ist bitter, dass sich die Zahl der Hungernden und extrem Armen seit Verkündung der Millenniumsziele nicht reduziert hat. Dies zeigt, dass bloße Absichtserklä- rungen nichts ausrichten, solange die grundlegenden Ur- sachen für die extreme Armut in weiten Teilen der Welt nicht beseitigt werden. Die Linke steht für die Sicherung und Wiederherstellung von Ernährungssouveränität durch den Schutz ländlicher Strukturen in den Entwick- lungsländern, für den Wiederaufbau staatlicher Daseins- vorsorge und die Umverteilung von Land zugunsten der Landlosen. Dies allein kann dafür sorgen, auf dem Weg zu einer effektiven Armuts- und Hungerbekämpfung vo- ranzukommen. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bis- her gab es unter den Fraktionen dieses Hauses bei der Frage der Ernährungssicherheit in vielen Punkten Kon- sens. Es waren die Regierung Kohl, die auf dem Welter- nährungsgipfel 1996 in Rom das Menschenrecht auf Er- nährung anerkannt hat, und vor allem Ministerin Künast, die den Prozess finanziell und politisch unterstützt hat. Dieser Welternährungsgipfel jährt sich jetzt zum zehnten Mal und es bleibt festzuhalten, dass es dennoch im Kampf gegen den Welthunger unter dem Strich kaum positive Ergebnisse vorzuweisen gibt. Vielmehr muss festgestellt werden, dass es statt zu einer Verminderung der Zahl der Hungernden zu einem Anstieg der Betroffe- nen gekommen ist. Da helfen auch keine statistischen Tricks, die die Zahlen schöner färben sollen und statt von der absoluten Zahl der Betroffenen von dem relati- ven Anteil der Hungernden an der Weltbevölkerung zu reden. Ziel der Millennium Developement Goals war es, die Zahl der Hungernden bis 2015 auf 400 Millionen zu senken. Das auch nur als ein erstes Etappenziel. De facto sind wir aber heute bei über 850 Millionen Kindern, Frauen und Männern, die vom Tod bedroht sind, und werden 2015 voraussichtlich immer noch erst bei 600 Millionen Hungernden angelangt sein. Der gerade erschienene „Welthungerindex“, heraus- gegeben von der Welthungerhilfe und dem International Food Policy Research Institute, zeigt, dass Hunger und Unterernährung sehr ungleich verteilt sind in den Regio- nen der Welt. Die Ursachen hierfür sind zum Beispiel Krieg, Armut, schlechte Regierungsführung und die Seuche Aids. Leider zeichnet sich ab, dass Afrika wei- terhin der Kontinent sein wird, der am meisten Besorg- nis erregt. Lebensmittel für die Weltbevölkerung gäbe es heute genug. Doch paradoxerweise sind es vor allem diejeni- gen, die auf dem Land leben, die am stärksten unter Hunger zu leiden haben. Gerade dort, wo die Lebensmit- tel erzeugt werden könnten, ist Unterernährung das Hauptproblem. Das heißt aber auch, dass gerade dort an- gesetzt werden muss. Hier wird man an der Frage der Landrechte und der Umverteilung der Ressource Boden nicht vorbei kommen, ebenso wenig wie an einer ge- rechteren Regelung des Agrarhandels. Von besonderer Bedeutung ist daher, dass der „ländli- chen Entwicklung“ in der Entwicklungszusammenarbeit eine hohe Priorität eingeräumt wird. Etwa kann eine Ent- wicklungszusammenarbeit, die sich viel stärker als bis- her an der Umsetzung des Rechts auf Nahrung orientiert, dem Hunger entgegenwirken. Die 2004 auf Initiative von Renate Künast von allen 184 Mitgliedstaaten der Welternährungsorganisation FAO beschlossenen interna- tionalen Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nah- rung könnten ein hervorragendes Instrument sein, der Bekämpfung des Hungers mehr Gewicht zu verleihen. Dazu braucht es aber Staaten, die diese Richtlinien enga- giert anwenden. Nach diesen Leitlinien wäre jedes Land verpflichtet, zunächst Rechenschaft darüber abzulegen, welche Be- völkerungsgruppen in welchen Regionen chronisch un- terernährt sind, um dann mit einem nationalen Strategie- plan zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung auf diese Missstände zu antworten. Nach den von den FAO-Mitgliedsstaaten beschlosse- nen Leitlinien wird unter dem Recht auf Nahrung vor al- lem das Recht gemeint, ausreichend Lebensmittel an- bauen oder erwerben zu können. Dies bedeutet unter anderem Zugang zu Land, Wasser und Saatgut – vor al- lem für Kleinbauern, die in vielen Ländern der Welt von Großgrundbesitzern und transnationalen Konzernen ent- rechtet und verdrängt werden. Eine wichtige Aufgabe der Entwicklungszusammen- arbeit müsste es sein, Unterstützung bei der Umsetzung von Landreformen zu geben und vor allem den Anbau von Grundnahrungsmitteln für regionale Märkte zu för- dern. Programme zur Förderung der Agrarexportwirt- schaft sind nur dann zu verantworten, wenn sie der Er- nährungssicherung der Menschen in den Anbauländern nicht zuwiderlaufen. Die Mittel und Methoden der „grü- nen Gentechnik“ sind unserer Meinung nicht geeignet, einen Beitrag zur Bekämpfung des Hungers zu leisten. Ganz im Gegenteil: In vielen Entwicklungs- und Schwellenländem haben sie zu ökologischen und sozia- len Verwerfungen geführt und die prekäre Situation der Kleinbauern noch weiter verschlechtert. Deutschland sollte im nächsten Jahr im Rahmen sei- ner G-8- und EU-Ratspräsidentschaft zu einer Umset- zungskonferenz der „Recht auf Nahrung“-Leitlinien ein- laden und darauf achten, dass auch in bi- und multilateralen Zoll- und Handelsabkommen das Recht auf Nahrung gefordert und nicht konterkariert wird. Ebenso fordern wir die Bundesregierung auf, fol- gende wichtige Elemente umzusetzen: Den fairen Agrar- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5961 (A) (C) (B) (D) handel in der WTO voranzubringen, das heißt, sich für die Senkung von Agrarsubventionen, die sich besonders Markt verzerrend auswirken, in den Industrieländern einzusetzen, damit die Produzenten in den Entwick- lungsländern nicht weiter durch Agrardumping geschä- digt werden. Im Bundeshaushalt deutlich mehr Mittel für die ländliche Entwicklung in Entwicklungsländern zur nachhaltigen Bekämpfung des Hungers bereitzustellen. Durch die Schaffung von ökologischen und sozialen Standards und Labels insbesondere bei Soja, Mais und anderen als Futtermittel dienenden oder Energie liefern- den Pflanzen darauf hinzuwirken, dass Vertreibung von Indigenen und Kleinbauern sowie die Zerstörung der na- türlichen Lebensgrundlagen und der biologischen Viel- falt unterbleiben. Aber auch wir können als Konsumenten etwas tun: „Grün leben“, einen nachhaltigen Lebensstil und Kon- sum zu praktizieren, ist heute „cool“. Einmal in der Wo- che Biomilch trinken, weniger Fleisch essen, faire Pro- dukte kaufen: Es gibt viele Möglichkeiten zu verhindern, dass mit Gen-Soja sich die agrarindustrielle Produktion weiter breit macht und die Lebensräume der Armen, ihre landwirtschaftlichen Nutzflächen und die Wälder der Entwicklungs- und Schwellenländer weiter zerstört. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: In der EU-Mittel- meerpolitik mehr auf Demokratisierung und Good Governance drängen (Tagesordnungs- punkt 21) Joachim Hörster (CDU/CSU): Der Antrag der FDP-Fraktion, über den wir heute reden, enthält einige gute Ansätze. Er zeichnet ein recht genaues Bild des mo- mentanen Zustands der EU-Mittelmeerpolitik. Ich teile die Auffassung, dass das Strategiepapier, das die Europäische Kommission 2004 vorgestellt hat, ein guter Ansatz ist, der Europäischen Nachbarschaftspolitik – ENP – neue Impulse zu geben. Auch eine Zusammen- führung der Finanzierungsprogramme MEDA und TACIS zum neuen Nachbarschafts- und Partnerschafts- instrument ENPI halte ich für sinnvoll. Die Europäische Union muss mehr Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten haben, was mit ihrem Geld passiert. Bei ENPI wird stär- ker auf die Reformwilligkeit der betreffenden Länder ab- gestellt. Das ist wichtig, denn wir wollen auch nachhal- tige Erfolge sehen. Sie erwähnen den so genannten Barcelonaprozess und schlussfolgern, seine Ergebnisse seien ernüchternd. Das würde ich so negativ nicht formulieren. Mehr als zehn Jahre ist es her, dass der Barcelonaprozess, der inzwi- schen in die neue Europäische Nachbarschaftspolitik in- tegriert ist, in Gang gesetzt wurde. Der Europäische Rat in Essen hat 1994 auf Grundlage eines während der deut- schen EU-Ratspräsidentschaft unter Bundeskanzler Helmut Kohl erarbeiteten Berichts zur Mittelmeerpolitik die Weichen für die Konferenz der Außenminister der Europäischen Union im November 1995 in Barcelona gestellt. Nach 20 Jahren intensiver bilateraler Handels- und Entwicklungszusammenarbeit wurde in Barcelona die heutige Euro-Mittelmeer-Partnerschaft ins Leben ge- rufen. Der mit dieser Konferenz in Gang gesetzte Barce- lonaprozess gliedert die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und den Mittelmeerstaaten Nord- afrikas und des Nahen Ostens in drei Bereiche, so genannte Körbe: erstens politische und sicherheitspoliti- sche Partnerschaft, zweitens Wirtschafts- und Finanzpart- nerschaft und drittens soziale, kulturelle und menschliche Partnerschaft. Die Hervorhebung der menschlichen Dimension in Korb 3 sollte ein politisches Signal sein, dem alle Part- ner des Barcelonaprozesses, insbesondere im Bereich der Menschen- und Bürgerrechte, der Sozialpartner- schaft und der Rechte auf freie wirtschaftliche Betäti- gung auch außerhalb der Regierungsebene eine beson- dere Bedeutung beimessen. Ende 2005 wurde in Barcelona der zehnte Jubiläums- gipfel des Barcelonaprozesses gefeiert. Unglücklicher- weise fehlten bei den Feierlichkeiten die meisten Staats- und Regierungschefs des Südens. Warum? Ich denke, dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen liegt es wohl daran, dass viele Länder, die mit der Europäischen Union getroffenen Vereinbarungen nicht umgesetzt haben. Daran sind größtenteils regionale Konflikte schuld – im Nahen Osten stärker, in den Staa- ten Nordafrikas etwas weniger. Zum anderen sind aufs- eiten der Europäischen Union Kompetenzen teilweise unklar und Überprüfungskriterien zu schwammig formu- liert. Ich möchte an dieser Stelle die Euromediterrane Par- lamentarische Versammlung – EUROMED-PV – erwäh- nen, der wir auch in unserem Hause mehr Aufmerksam- keit schenken sollten, weil sie ein wichtiges Organ in diesem Zusammenhang ist. Von den Außenministern der Teilnehmerstaaten des Barcelonaprozesses im Dezember 2003 in Neapel als Nachfolgeorgan des Euromediterra- nen Parlamentarischen Forums beschlossen, wurde die EUROMED-PV in einer beratenden Eigenschaft in den Rahmen des Barcelonaprozesses aufgenommen. Der Deutsche Bundestag trat der EUROMED-PV mit Be- schluss vom 10. März 2004 bei. Die Versammlung soll den Gedankenaustausch zwischen den Parlamenten der Partnerländer fördern und der euromediterranen Zusam- menarbeit durch die stärkere Institutionalisierung der parlamentarischen Dimension neue Impulse verleihen. Sie setzt sich zusammen aus 240 Parlamentariern, von denen jeweils die Hälfte aus den Partnerländern im Mit- telmeerraum und der Europäischen Union entsendet werden. Das Europäische Parlament schickt 45 Mitglie- der in die Versammlung. Nach der Konstituierung im März 2004 fand ein Jahr später, im März 2005, die erste mehrtätige Plenarsitzung dieses Gremiums in Kairo statt. Neben den oben Genannten waren Bulgarien, Li- byen, Mauretanien und Rumänien bei der Plenarsitzung in Kairo als Beobachter vertreten, genauso wie Vertreter der Arabischen Parlamentarischen Union, der Interparla- mentarischen Union und der Parlamentarischen 5962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Versammlung des Europarates. Im Rahmen der Plenar- sitzung wurden mehrere Resolutionen verabschiedet. Zu deren wesentlichen Elementen gehörten die Bekräfti- gung des Barcelona-Prozesses als der zentrale Rahmen der künftigen Zusammenarbeit sowie die Würdigung der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Die Auffassung vieler Kritiker, die den Barcelona- Prozess schön häufiger für – fast – tot erklärt haben, tei- len die Mitglieder der EUROMED-PV nicht. Mehrere Redner hatten während der Plenarsitzung die Befürch- tung geäußert, dass die Europäische Nachbarschafts- politik die Bemühungen der EU, im Rahmen des Barcelonaprozesses mit den Mittelmeeranrainern zusam- menzuarbeiten, in den Hintergrund drängen könnte. Die Delegierten betonten außerdem, dass der ungelöste Nah- ostkonflikt kein Vorwand für mangelnde Reformen sein dürfe. Die Roadmap wurde als Referenzrahmen für die Lösung des Nahostkonfliktes bestätigt. Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Ich bin der Meinung, dass in diesem Gremium genau die richtigen Akteure zusammensitzen, um die wichtigen Ziele dieser euromediterranen Zusam- menarbeit zu erreichen, nämlich den Aufbau eines Rau- mes von Frieden, Demokratie und Stabilität und einer Freihandelszone im Mittelmeerraum. Wir sollten uns also bemühen, dieses wichtige Gremium entsprechend zu würdigen und seine Arbeit zu unterstützen, anstatt es schlecht zu reden und seine Bedeutung infrage zu stel- len. Die FDP kritisiert in ihrem Antrag, Aufbau und Stär- kung der Zivilgesellschaft im südlichen und östlichen Mittelmeerraum seien im Barcelonaprozess sträflich ver- nachlässigt worden. Der Anteil der EU-Fördergelder, der Akteuren der Zivilgesellschaft zugute komme, sei im Mittelmeerraum geringer als bei allen anderen Entwick- lungsregionen. Obwohl 90 Prozent der Mittel für Pro- jekte zur Stärkung der wirtschaftlichen Konkurrenzfä- higkeit der Mittelmeernachbam ausgegeben worden seien, habe sich die Erwartung, dadurch werde auch ein politischer Reformprozess ausgelöst, in den meisten Ländern nicht erfüllt. Ich habe diese Zahl nicht eigens überprüft, stimme mit Ihnen aber insoweit überein, dass der Entwicklung der Zivilgesellschaft die Schlüsselposition im Wandel hin zu Frieden, Demokratie und Stabilität zukommt. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir es mit vie- len verschiedenen Staaten zu tun haben, die oft einen un- terschiedlichen geschichtlichen und politischen Hinter- grund haben. Es gibt insofern keine Universalstrategie. Ein differenzierter Ansatz für die spezifischen Probleme in den einzelnen Ländern wird benötigt. Am wenigsten gewinnbringend wäre es, wenn bei unseren Partnerlän- dern im südlichen und östlichen Mittelmeerraum der Eindruck entstünde, man wolle ihnen Lösungen für regio- nale Konflikte aufpfropfen. Die Aussicht wäre schön, um Europa herum einen Kreis von Staaten zu wissen, die unsere Auffassungen von Demokratie und Frieden teilen. Wir haben allerdings unlängst in Palästina gesehen, was passieren kann, wenn Wahlen nach unserem Dernokratieverständnis zwar frei und fair ablaufen, am Ende aber eine Regierung demo- kratisch gewählt ist, die etablierte internationale Normen vollständig zurückweist und insofern von niemandem anerkannt wird. Gerade in ethnisch gespaltenen Gesellschaften – wir beobachten dies gerade im Irak – können freie und faire Wahlen zu Instabilität führen, wenn die nationale Identi- tät schwach ist und ethno-religiöse Trennlinien mobili- siert werden. Wir müssen also früher ansetzen. Wir sollten uns zum Ziel setzen, die Fundamente der Demokratie zu stärken, insbesondere die Förderung der nationalen Integration, die Entwicklung der Medien, die Schaffung von Rah- menbedingungen für kollektives Handeln und der Aus- bau des Rechtsstaates. Nur so werden mittels freier und fairer Wahlen auch – aus unserer Sicht – akzeptable Per- sönlichkeiten in Führungspositionen gewählt werden. Ein zentrales Anliegen hin zu mehr Demokratisierung muss sein, die hartnäckig hohen Analphabetenquoten, insbesondere bei Frauen, zu reduzieren und den Zugang zu Bildungseinrichtungen, seien es Schulen oder Hoch- schulen, entscheidend zu verbessern. Der Bericht der Vereinten Nationen zur menschlichen Entwicklung in den arabischen Staaten – Arab Human Development Re- port – zeichnet gerade in diesen wichtigen Bereichen menschlichen Lebens gravierende Defizite in der arabi- schen Welt nach. Gerade die Zivilgesellschaft ist hier ge- fordert, sich zu engagieren, natürlich mit unserer Hilfe, aber auch so, dass Erfolge endlich sichtbar werden und somit die Verwendung der Mittel, die vonseiten der Eu- ropäischen Union in diesem Bereich investiert werden, auch eine Rechtfertigung haben. Aber auch Europa muss erkennen, dass hier Handlungsbedarf besteht. Die im Rahmen der Mittelmeerkomponente der Europäischen Nachbarschaftspolitik zu vereinbarenden Aktionspläne müssen die Bereiche Bildung und Forschung ganz klar priorisieren. Insoweit stimme ich der FDP zu. Ich will zum Schluss kurz auf den Nahostkonflikt ein- gehen, der oft als Bremse im Barcelonaprozess genannt wird. Der Antrag der FDP beschäftigt sich ja ebenfalls mit dem Thema. Ich stimme mit Ihnen überein, dass das Stocken des Friedensprozesses im Nahen Osten keine Entschuldigung für reformunwillige Regime sein darf. Die Araber und auch Israel betrachten diesen Kon-flikt sehr emotional. Das würden wir auch tun, wenn wir um unsere Existenz bangen würden. Die internationale Staa- tengemeinschaft muss positive Ansätze zur Lösung die- ses Konfliktes finden. Bereits genannt habe ich die Roadmap. Erwähnen möchte ich aber auch den Frie- densplan des saudischen Kronprinzen Abdallah, den die Arabische Liga auf ihrem Gipfeltreffen in Beirut im Jahr 2002 verabschiedet hat. Er enthält konkrete Friedensvor- schläge und fordert die Sicherheit und Souveränität des Staates Israel. Dieser Plan ist aus arabischer Sicht abso- lut unverdächtig und sollte mehr in die Verhandlungen einbezogen werden. Die FDP-Fraktion schließt ihren Antrag mit einem umfangreichen Forderungskatalog ab. Die parlamentari- schen Beratungen werden zeigen, ob, und, wenn ja, wel- che, Forderungen machbar und in diesem Hause kon- sensfähig sind. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5963 (A) (C) (B) (D) Dr. Rolf Mützenich (SPD): Seit über einem Jahr- zehnt verfolgt die EU im Rahmen des Barcelonapro- zesses eine multilaterale Nachbarschaftspolitik mit den Mittelmeeranrainern. Doch der euro-mediterrane Dialog scheint festzustecken. Wesentliche Erfolge der euro- mediterranen Partnerschaft sind bis heute ausgeblieben. Abgesehen von Marokko, sind in den südlichen Nach- barländern der EU bisher kaum Fortschritte bei der De- mokratisierung und den Menschenrechten erzielt worden Innerhalb der EU ist man sich zu oft nicht einig, wie mit der Menschenrechtssituation in solchen Ländern um- gegangen werden soll, die autoritär regiert werden. Die Glaubwürdigkeit der EU-Mittelmeerpolitik leidet auch darunter, dass oftmals Menschenrechte gegen Zuge- ständnisse in der Sicherheitspolitik regelrecht einge- tauscht werden. Die Bundesregierung sollte sich daher in Brüssel da- für einsetzen, dass die finanzielle Förderung künftig noch stärker als bisher an deutliche Fortschritte bei der Demokratisierung gebunden wird. Deshalb ist es auch richtig, dass die EU in Zukunft ihre finanzielle Unter- stützung für die südlichen Mittelmeeranrainer verstärkt Nichtregierungsorganisationen zukommen lassen will. Bislang ist nämlich der Aufbau der Zivilgesellschaft in diesen Ländern vernachlässigt worden. Der Anteil der EU-Fördergelder, der den Akteuren der Zivilgesellschaft zugute kommt, muss also deutlich erhöht werden. Vor al- lem die Förderung der Bildung muss in den betroffenen Ländern stärker berücksichtigt werden. Der Ausbau von Wissenskapazität ist eine sichere Investition in die Zu- kunft der Menschen, vor allem vor dem Hintergrund, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung in den medi- terranen Partnerstaaten unter 15 Jahren alt ist. Der Nahostkonflikt belastet weiterhin die Beziehun- gen zwischen den Partnern: Bereits nach dem Beginn der zweiten Intifada im September 2000 traten die Grenzen des Dialogs deutlich zutage. So boykottierten die syri- sche und die libanesische Delegation die Ministerkon- ferenzen von Marseille 2000 und Valencia 2002 und pro- testierten damit gegen die israelische Besetzung der Palästinensergebiete. Der Nahostkonflikt hat sich damit immer wieder als das große Hindernis für den Barcelonaprozess erwiesen. Hier muss – vor allem auf bilateraler Ebene – klar- gemacht werden, dass der Konflikt keine Entschuldi- gung für reformunwillige oder gar -unfähige Regime sein darf. Natürlich muss sich auch die EU insgesamt weiterhin verstärkt um eine Fortführung des Nahost- Friedensprozesses bemühen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, wenn Sie in Ihrem Antrag eine Lösung des Nahostkonflikts als Voraussetzung für Fort- schritte im EU-Mittelmeerdialog anmahnen, wieso ha- ben Sie dann gegen den Libanoneinsatz der Bundeswehr gestimmt, der im Rahmen von UNIFIL einen wichtigen Beitrag hierfür leistet? Für neue Impulse in der EU-Mittelmeerpolitik ist al- lerdings auch eine grundsätzliche Reformbereitschaft der südlichen EU-Nachbarländer notwendig. Ohne ein verstärktes Engagement der EU werden diese Ziele kaum erreicht werden können. Doch nicht nur für die EU-Anrainerstaaten des Mittel- meeres sind gute Beziehungen zu den nordafrikanischen Staaten wichtig. Der Mittelmeerraum und die Erweite- rung sind für die Europäische Union von gemeinsamem Interesse. Der politische Dialog mit diesen Ländern muss auch auf religiöser und kultureller Ebene vertieft werden. Letztlich muss den Menschen in Nordafrika eine wirtschaftliche und soziale Perspektive geboten werden. Und: Die EU-Mittelmeerpolitik wird nur erfolg- reich sein, wenn der Nahostkonflikt gelöst wird. Die Förderung und Achtung der Demokratie, der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Grund- freiheiten sind eine wesentliche Grundlage für die Ent- wicklung des Mittelmeerraums. Ich möchte hier den Forderungskatalog des Euro- päischen Parlaments ausdrücklich unterstützen, der die Unterzeichner der Europa-Mittelmeer-Assoziierungs- abkommen unter anderem dazu auffordert, die Men- schenrechts- und Demokratieklausel durch ein Aktions- programm zur Stärkung und Förderung der Achtung der Menschenrechte aufzuwerten. Auf einen Punkt möchte ich abschließend besonders hinweisen. Es ist meines Erachtens von besonderer Be- deutung, die Zusammenarbeit zwischen der Euro- päischen Union und den Mittelmeerländern auch im Bereich der Sicherheit fortzusetzen und zu vertiefen. Die Aufnahme von Klauseln über die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen in die jüngsten Abkommen und Aktionspläne weist in die richtige Richtung. Lang- fristig bleibt das Ziel, den Mittelmeerraum zu einem massenvernichtungswaffenfreien Raum zu erklären. Dabei darf die künftige Zusammenarbeit sich nicht nur an sicherheitspolitischen oder anderen damit verbun- denen Bedürfnissen der Europäischen Union orientieren. Vielmehr muss der Zusammenhang zwischen den drei Bereichen der Zusammenarbeit – Frieden, Handel und Zivilgesellschaft – stärker in den Vordergrund gerückt werden. Angesichts der Schwächen des Barcelonaprozesses in der Vergangenheit sind der politische Wille und eine pragmatische Betrachtungsweise jetzt mehr denn je Grundvoraussetzungen für das Gelingen der Partner- schaft. Ich stimme deshalb den Kollegen von der FDP insofern zu, als die Beziehungen zwischen den Mittel- meerländern dringend neue Impulse benötigen, und for- dere insbesondere alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf, sich konzentriert darum zu bemühen, dem Barcelonaprozess neuen Schwung zu verleihen. Die Achtung der Menschenrechte, die Stärkung der Demokratie, die bessere Beteiligung der Bürger wie der Zivilgesellschaft an politischen Entscheidungen, die Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie die Meinungs- und Informationsfreiheit, außerdem der Kampf gegen den Terrorismus sowie die Nichtverbrei- tung von Massenvernichtungswaffen sind wichtige Punkte der Nachbarschaftspolitik. Nicht zuletzt gründet sie auf den Prinzipien der Marktwirtschaft und der nach- haltigen Entwicklung. 5964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Dr. Karl Addicks (FDP): Zehn Jahre nach Beginn des Barcelonaprozesses ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Leider fällt die Bilanz ernüchternd aus. Ich sage bewusst leider, denn 1996 ist man mit großen Zielen angetreten, um eine bessere Zusammenarbeit zwischen der EU und den Mittelmeeranrainerstaaten zu erreichen. Doch, bis auf Marokko, zeigen sich keine erwähnenswerten Fort- schritte bei der Demokratisierung und der Durchsetzung von Menschenrechten. Die Fortschritte in Marokko habe ich erst kürzlich selbst gesehen, als ich gemeinsam mit Frau Bundes- ministerin Wieczorek-Zeul das Land besuchen konnte. In Gesprächen mit dem Premierminister und anderen Ministern der marokkanischen Regierung sowie mit Par- lamentarierinnen wurden vor allem die Fortschritte des Landes in den letzten Jahren sichtbar. Dort wurde eine sehr ermutigende neue Politik in Gang gesetzt. Aber lei- der stellt Marokko eine Ausnahme dar. Im Zuge der EU-Osterweiterung hat die Europäische Kommission im Jahr 2004 ein Strategiepapier zur neuen europäischen Nachbarschaftspolitik vorgelegt. Darin wird eine Vertiefung der Beziehungen der EU zu ihren Nachbarländern angestrebt. Der Barcelonaprozess ist in diese neue europäische Nachbarschaftspolitik integriert. Ein guter Ansatz ist in diesem Zusammenhang die Neustrukturierung der finanziellen Förderung der ENP- Partnerländer. Ab 2007 werden MEDA und TACIS zu dem neuen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstru- ment ENPI zusammengefasst. Dabei soll zukünftig stär- ker auf die Reformwilligkeit der betreffenden Länder ab- gestellt werden. Länder, die diese Reformwilligkeit nicht erkennen lassen, müssen dann auch mit entsprechenden Kürzungen oder dem Wegfall der finanziellen Förderung durch die EU rechnen. Die Gelder der EU sollten dann nämlich direkt an anerkannte Nichtregierungsorganisa- tionen vergeben werden. Um solche Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen, muss ein zeitnahes Monitoring durch Sub-Comittees die Fortschritte in den Ländern umfassend bewerten. Ich denke dass wir uns in diesem Punkt einig sind. Es müssen sichtbare Fortschritte in den Bereichen der Menschenrechte, Demokratisierung, eine transparente Mittelverwendung, die Ablehnung des Ter- rorismus sowie bei Good Governance erkennbar sein, um eine weitere finanzielle Förderung zu gewährleisten. Dies sind für meine Fraktion die grundlegenden Ele- mente für eine Zusammenarbeit. Die letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass diese Be- dingungen nicht gestellt wurden oder nicht nachdrück- lich eingefordert wurden. Der Bertelsmann Transforma- tionsindex 2006 bestätigt meine Einschätzung über den bisherigen Erfolg des Barcelonaprozesses. Denn keinem der arabischen euromediterranen Partnerländer ist es bis 2005 gelungen demokratische Reformprozesse einzulei- ten. Laut Index sind alle Staaten nach wie vor als autori- tär geführt anzusehen, wobei hier auch Marokko wieder gesondert zu betrachten ist. Ich weiß nicht, ob der Bertelsmann Transformationsindex die neueste Politik Marokkos und anderer Länder schon berücksichtigt. Die europäische Nachbarschaftspolitik ist angetreten, um Stabilität, Sicherheit und Wohlstand aller Betroffe- nen zu stärken. Sie werden mir zustimmen, wenn ich Ih- nen sage, dass alle drei Ziele nur durch eine Öffnung der politischen Systeme, eine Stärkung des Rechtsstaates, die Bekämpfung von Korruption und die Ausweitung der demokratischen Rechte der Bevölkerungen zu errei- chen sind. Ein friedliches, freiheitliches und demokrati- sches Klima in den Ländern des Maghreb und des Nahen Ostens zu schaffen, muss eine der Kernaufgaben europäi- scher Nachbarschaftspolitik sein. Mit einer kurzfristigen Stabilisierung des Status quo in der Region ist keinem geholfen, ganz im Gegenteil: Es würden verschärfte Spannungen innerhalb der Gesellschaften entstehen, die nicht im Interesse der Europäischen Union sind. Die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten und auch der Karrikaturenstreit zeigen, wie wichtig die Ein- beziehung und Bedeutung der Maghreb-Region und des Nahen Ostens ist. Dialog der Kulturen ist nur ein Stich- wort, das ich in dem Zusammenhang ansprechen möchte. Die Islamkonferenz war dabei auch ein Schritt in die richtige Richtung. Auf diesem Gebiet steht uns noch viel Arbeit bevor, die aber gemacht werden muss und an der sich alle beteiligen müssen! Der ungelöste Nahost-Konflikt hat sich in der Vergangenheit immer wieder als ein fast unüberbrückbares Hindernis für den Barcelonaprozess erwiesen. Das kann nicht länger hin- genommen werden. Wir und auch die EU müssen uns stärker um eine Vermittlung zwischen Israel und Paläs- tina bemühen und uns stärker im Nah-Ost-Quartett enga- gieren. Es ist noch gar nicht so lange her, da hat sich der Deutsche Bundestag mit einem Einsatz der Bundeswehr im Libanon befasst. Nun kann man anscheinend wieder die Hände in den Schoß legen. Ich selbst und auch die Mehrheit meiner Fraktion hat gegen eine deutsche Betei- ligung an einem Libanoneinsatz gestimmt, weil wir nicht glauben, dass dies für Deutschland der richtige Weg ist. Es muss ein außenpolitisches Ziel Deutschlands sein, ohne eigene militärische Beteiligung, einen Friedenspro- zess im Nahen Osten in Gang zu setzen, an dessen Ende eine Zweistaatenlösung auf Grundlage der Roadmap steht. Die Anerkennung dieser Lösung muss auch die EU in ihrer Nachbarschaftspolitik von ihren Partnern einfordern. Ich will Sie alle ermuntern, hier mutiger als bisher voranzugehen und wirklich daran zu arbeiten, dass es endlich zu Gesprächen kommt: Während des Libanonkrieges haben die UN und die europäischen Außenminister gefordert, dass nun endlich eine politische Lösung für den Nahostkonflikt gefunden werden muss. Nach den akuten Kriegsereignissen ist der Waffenstillstand im Libanon fragil, der Nahostkonflikt schwelt weiter. Daher darf die Politik jetzt nicht die Hände in den Schoß legen, sondern wir müssen die Zeit nutzen, um nach Wegen zu einer politischen Lösung zu suchen. An- gesichts der Gefahr neuer, vielleicht atomarer Aufrüs- tung in Nahost darf es nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben. Politische Lösungen brauchen Gespräche. Wer nicht miteinander spricht, kann nicht zu politischen Lösungen kommen. Bisher sind Gespräche an den jeweiligen Vor- bedingungen gescheitert, die von offiziellen Vertretern Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5965 (A) (C) (B) (D) beider Seiten als Maximalbedingungen abgelehnt wer- den. Es gibt indessen gemäßigte und pragmatische Kräfte auf beiden Seiten, die zur Anbahnung von Ge- sprächen ohne Vorbedingungen bereit wären. Wobei das Existenzrecht Israels und das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat keine Vorbedingung in diesem Sinne darstellen. Diese gemäßigten Kräfte müssen an einen Tisch gebracht werden. Unter gemäßigten Kräften ver- stehen wir Politiker, die ihren Willen zu einer politischen Lösung bekunden und die kein Blut an den Händen ha- ben. Solche Gespräche ohne Vorbedingungen wären mög- licherweise ein Ausweg aus der Sackgasse von Gewalt und gegenseitiger Verweigerung; sie könnten den Weg zu offiziellen Gesprächen ebnen und damit Bewegung in den Konflikt bringen. Dazu müssen jedoch dogmatische Positionen geräumt und Denk- und Sprechverbote über- wunden werden, wie seinerzeit im Ost-West-Konflikt. Eine neue Nahostpolitik sollte heute ebenso auf Wandel durch Gespräch und Annäherung setzen, wie dies seiner- zeit die neue deutsche Ostpolitik tat; dadurch wurde letztlich die Ost-West-Konfrontation überwunden. Einen erheblichen Beitrag hat damals die Konferenz für Si- cherheit und Zusammenarbeit in Europa – KSZE – ge- leistet. Wir Liberale fordern deshalb schon seit längerem eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Nahost, KSZNO! Wir Deutschen haben erfahren, was ein neues Denken bewirken kann; deshalb sind wir auch in diesem Konflikt besonders gefordert. Unterstützen Sie unseren Antrag für mehr Demokratisierung und Good Governance in der EU-Mittelmeerpolitik! Monika Knoche (DIE LINKE): Die FDP legt heute einen Antrag vor, den wir interessant finden. Es ist aus unserer Sicht durchaus als ein Verdienst der Freidemo- kraten anzusehen, dass sie – wenn Sie mir gestatten, das so auszudrücken – sich von der auf Osteuropafixierung reduzierten deutschen Europapolitik nunmehr lösen und auf den südlichen Mittelmeerraum ausweiten wollen. Geschichtlich ist es natürlich verständlich, wenn nach dem Fall der Systemgrenze zwischen Ost und West ge- rade Deutschland seine Ostpolitik herausstellt. Dennoch: Den Südmittelmeerraum kann man schon deshalb nicht zum alleinigen politischen Aktionsraum der südeuropäi- schen Staaten machen, weil es eine Aufgabenteilung nicht geben kann, wenngleich die Südstaaten stark von den Flüchtlingen aus Nordafrika betroffen sind und da- mit die direkteste Beziehung zu den neuen Herausforde- rungen haben, denen sich Europa in migrationspoliti- scher Hinsicht hinzuwenden hat, um eben nicht zur Festung Europa zu degenerieren. Schon die Flüchtlinge aus Albanien nach Italien haben Europa vor Jahren vor Augen geführt, dass die Transformationsprozesse in den Herkunftsgesellschaften der Migrantinnen und Migran- ten mehr Bezug zu deutscher, respektive europäischer Außen- und zum Teil Kriegspolitik aufweisen, als das gemeinhin wahrgenommen wird. In Ihrem Antrag, meine Herren und Damen von der FDP, er ist datiert vom 8. März 2006, konnten Sie die Li- banon-Israel-Kriegsfrage genauso wenig voraussehen, wie die unerträgliche Repression Israels im Gazastreifen und die gravierenden Konflikte, die jetzt zwischen Ha- mas und Fatah gewaltförmig ausgetragen werden. Dass im südlichen Mittelmeer deutsche Marine kreuzt, hat Ihre Zustimmung nicht gefunden. Das erken- nen wir als Linke an. Sie werden es mir daher nicht ver- übeln, wenn ich sage, dass irgendwie doch schon zu viel Zeit drüber vergangen ist, um den Antrag noch als wirk- lich aktuell anzusehen. Das tut der damit verfolgten In- tention jedoch keinen Abbruch, sondern verweist viel- mehr auf die jetzt anstehenden Ausschussberatungen. Die FDP legt großen Wert auf den Aufbau und die Stärkung der Zivilgesellschaften im südlichen und östli- chen Mittelmeerraum. Ich sage: Vergessen Sie dabei die Frauen nicht! Die politischen Bedrängungen und die re- ligiösen Pressuren, denen Frauen zunehmend ausgesetzt sind, stellen im Ergebnis auch ein Hindernis im Zugang zu Wissen und Bildung dar. Diese jedoch stellen Sie zu Recht ins Zentrum Ihrer Bemühungen. Wir Linken bereiten gerade eine Fraktionsfrauenreise in den Nahen Osten vor, um die Stellung und unsere Pro- tektion für Friedensfrauen im gesamten Nahen Osten he- rauszustellen. Wie sehr gerade der Libanonkrieg wieder mal Frauen in die Rolle der Opfer verweist, die zugleich die Wunden eines nicht verschuldeten Krieges heilen müssen, wird ein Thema sein. Die daraus gewonnen Er- gebnisse unserer Reise möchten wir gerne in die Aus- schussberatungen einfließen lassen. Vielleicht kommen wir gemeinsam zu dem Ergebnis, dass – wie Sie vorschlagen – für Good Governance di- rekt Fördermittel an NGO-Frauen weiterzuleiten geeig- net ist, die Ziele effektiv zu erreichen, die die europäi- sche Nachbarschaftspolitik benennt. Darüber hinaus halte ich es aber für erforderlich, auch in diesem Rahmen darauf hinzuwirken, dass eine Nah- ostkonferenz wie wir Linken sie vorschlagen und deren Sitz in Berlin sein soll, unbedingt NGOs und Frauen als Repräsentantinnen der Zivilgesellschaft am Friedenspro- zess beteiligt sein müssen. Weniger Sympathie hingegen haben wir für Ihre Posi- tion, die vorliegenden Programme der NATO und G 8 weiter zu entwickeln. Sie erscheinen uns zu einseitig eine US-amerikanisch protegierte und die undifferen- zierte Pro-Israel-Regierungsmeinung auszudrücken, die die Sache Palästinas fallenlässt. Es ist anzuerkennen, dass Sie die Zweistaatenlösung in Ihren Antrag hervor- heben. Wenn Sie diese jedoch mit der NATO und G-8- Strategie zusammenbringen, bringt es jedenfalls einen gewissen Widerspruch hervor. Ich sehe also den Aus- schussberatungen entgegen. Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die EU-Nachbarschaftspolitik spielt für die Au- ßenbeziehungen der EU eine zentrale Rolle, denn die Stabilisierung und Demokratisierung unseres Umfeldes gehört zur ursprünglichen Idee des europäischen Integra- tionsprozesses als Friedensprojekt. 5966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 (A) (C) (B) (D) Die wenigsten Regierungen in den Ländern des Mittelmeerraums haben bisher ein Interesse an demokra- tischen Reformen gezeigt. Darauf muss die Nachbar- schaftspolitik reagieren. Die Bedingungen für die Mittel- vergabe müssen darauf eingestellt werden, Fortschritte bei der Garantie der Menschenrechte, der Stärkung des Rechtsstaats und der Demokratisierung der Gesellschaft zur Voraussetzung für weitere Förderungen zu machen. Wirtschaftliche Dynamik, so sie denn entsteht, erzeugt keinen Automatismus für politische Reformen. Gleichzeitig ist eine Überprüfung der inhaltlichen Prioritätensetzungen des Mitteleinsatzes notwendig. Ein Schwerpunkt müssen Investitionen in Bildung und For- schung sein. Die Entwicklungshemmnisse in den EU- Nachbarschaftsstaaten des Barcelonaprozesses sind nicht zuletzt Defiziten auf diesem Gebiet zu verdanken. Im Umkehrschluss heißt das: Demokratie, wirtschaftli- che Entwicklung und wachsender Wohlstand als Voraus- setzungen für Stabilität entstehen im Mittelmeerraum wie überall auf der Welt umso eher, je gebildeter und ausgebildeter die Menschen sind. Diese Erkenntnis muss toritäre und repressive Regime ohnehin nicht erfolgreich und dauerhaft überwunden werden. Eine Anmerkung schließlich noch zum Nahostkon- flikt: Die EU muss sich auch unabhängig von der Nach- barschaftspolitik spätestens seit der Ausweitung des UNIFIL-Mandats deutlich stärker um einen Friedenspro- zess im Nahen Osten bemühen. Aber die Nachbar- schaftspolitik kann auch dazu beitragen, die Bedingun- gen dafür zu verbessern. Ohne die Anerkennung einer von beiden Seiten akzeptierten Zweistaatenlösung, ohne Ablehnung des Terrorismus als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele kann keine Regierung damit rechnen, von der EU-Nachbarschaftspolitik unterstützt zu wer- den. Die deutsche sowie die EU-Politik müssen auch da- rauf gerichtet sein, die Kooperation in den jeweiligen Regionen zu stärken und zu unterstützen. Damit muss die Nachbarschaftspolitik ein deutliches Zeichen setzen, dass kooperative Ansätze auf Dauer profitabler sind als eine nach ebenso kurzfristigen wie Ungewissen Vortei- len strebende Wettbewerbspolitik zwischen den Staaten, die potenzielle Synergien verschenkt: Die regionale Grundlage von Förderzielen und Mittelvergaben sein. Eine weitere Voraussetzung für Erfolge in der Zusam- menarbeit ist eine transparente und kontrollfähige Mit- telverwendung über das Nachbarschafts- und Partner- schaftsinstrument ENP. Dazu gehört natürlich auch die Evaluierung der Ergebnisse. Dies ist nicht nur eine tech- nische Aufgabe. Institutionen, die sich als nicht effektiv oder kooperativ im Sinne der inhaltlichen Zielsetzung erweisen, können nicht auf dauerhafte Unterstützung rechnen. Das kann auch Regierungen betreffen. Gleich- zeitig sind Initiativen aus der Zivilgesellschaft oft nicht nur unterstützungsbedürftig, sondern auch unterstüt- zungswürdig. Und um dem möglichen Argument, in vie- len Ländern sei die Zivilgesellschaft zu schwach, zuvor- zukommen: Umso notwendiger ist ihre Förderung, denn ohne eine funktionierende Zivilgesellschaft können au- Kooperation, die Fähigkeit der einzelnen Staaten, effek- tiv und friedlich mit seinen Nachbarn zusammenzuarbei- ten und eine Interessengemeinschaft zu bilden, ist Vo- rrausetzung für jedwede Annäherung an die EU. Vor diesem Hintergrund sprechen wir uns dafür aus, die ENP so weiterzuentwickeln, dass die östliche und südliche Dimension voneinander getrennt werden. Wir brauchen eine stärkere Differenzierung zwischen der Nachbarschaftspolitik für die osteuropäischen Staaten bis zum Kaukasus, die eine grundsätzliche Beitrittsper- spektive haben, und einer Nachbarschaftspolitik für die südlichen und östlichen Mittelmeeranrainer. Für beide Räume sollten die Instrumente der Nachbarschaftspolitik stärker genutzt werden, um die Entwicklung der Zivilge- sellschaft zu unterstützen und die Grundwerte der De- mokratie zu fördern. 60. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11 Anlage 12 Anlage 13
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1606000000

Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen und
uns einen schönen und hoffentlich erfolgreichen Tag.

Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich mit eini-
gen Hinweisen des 50. Jahrestages des ungarischen
Volksaufstandes gedenken.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Tagen ist
es 50 Jahre her, seit das ungarische Volk im Oktober und
November 1956 aufstand, um sich gegen Unrecht und
Unterdrückung zu wehren, die kommunistische Herr-
schaft abzuschütteln und individuelle Freiheit und natio-
nale Selbstbestimmung zu erkämpfen. Was mit einer
Studentendemonstration begann, wuchs rasch zu einer
Volksbewegung. Der Aufstand war nicht vorhersehbar,
wohl aber sein Ausgang. Der Aufstand endete in einer
blutigen Tragödie, weil die Staatsmacht mit brutaler
Härte zurückschlug, unterstützt von sowjetischen Pan-
zern. Die Opfer zählten nach Tausenden und die Unter-
jochung der nach Freiheit strebenden Menschen hinter-
ließ Bitterkeit und tiefe Wunden in Ungarns Seele.

Als sowjetische Truppen in Ungarn einmarschierten,

Rede
löste das in der freien Welt Empörung und Entsetzen aus
und die ohnmächtige Wut, zuschauen zu müssen, wie
der Freiheitswille eines Volkes mit Waffengewalt nieder-
geknüppelt wurde. Der Bundestag kam damals spontan
zu einer Sondersitzung zusammen. Bundeskanzler
Adenauer sagte damals vor den Abgeordneten dieses
Hauses – ich zitiere –:

Ich glaube, daß wir allen Anlaß haben, voller Be-
wunderung dieses Freiheitskampfes zu gedenken,
der noch immer andauert. Das Wissen darum, daß
die ungarische Nation in ihrem Freiheitskampf al-
lein steht, daß sie wohl die moralische Unterstüt-
zung aller freien Völker der Welt genießt, aber daß
die nackte Gewalt stärker zu sein schei
roischen Anstrengungen dieses Volkes
diesen Tagen quälen und sollte niem
rührt lassen, für den die Worte „Dem
„Freiheit“ mehr bedeuten als ein unverbindliches
zung

en 26. Oktober 2006

.00 Uhr

Lippenbekenntnis. Es ist keine unzulässige Ein-
mischung in die inneren Verhältnisse eines anderen
Volkes, wenn die Bundesregierung heute und hier
an dieser Stelle ihre Bewunderung für diesen Frei-
heitskampf zum Ausdruck bringt …

Damals hat weder Konrad Adenauer noch irgendje-
mand sonst wissen können, dass die „Einmischung“ Un-
garns in die inneren Verhältnisse des deutschen Volkes
33 Jahre später eine der wesentlichen Voraussetzungen
für die Überwindung der deutschen Teilung wurde.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutschen fühl-
ten damals wie viele andere im freien Teil Europas mit
den Ungarn. Sie konnten es sehr offen tun – im unfreien
Teil unseres Landes und Europas, wenn überhaupt, nur
mit verdeckter Sympathie. Viele Ungarn, die nach dem
Aufstand flüchten mussten, haben Zuflucht in Deutsch-
land gefunden.

Der ungarische Volksaufstand von 1956 ist, wie wir
heute noch besser wissen als damals, eines der herausra-
genden Ereignisse in der jüngeren ungarischen und euro-
päischen Geschichte. Er ist ein Glied in der Kette des
mutigen und schließlich doch erfolgreichen Widerstands
gegen Unfreiheit und Unterdrückung durch kommunisti-

text
sche Diktaturen. Wie der Arbeiteraufstand vom 17. Juni
1953 in der DDR und der Prager Frühling im Jahr 1968
in der Tschechoslowakei zählt er zu den Bestrebungen
nach mehr Freiheit und nach Reformen, die zunächst am
militärischen Eingreifen der Sowjetunion scheiterten
und in der Niederlage am Ende dennoch triumphierten.
Denn damals wurden die Keime für die friedlichen Re-
volutionen von 1989 gelegt.

Die großen Veränderungen des Jahres 1989 in Ungarn
wie in Deutschland sind ohne die Ereignisse von 1953,
1956 oder 1968 nicht denkbar. Wir Deutsche wissen sehr
genau, welch großen Anteil Ungarn an der Überwindung

Teilung hat. Am 10. September 1989 öff-
eine Grenzen für die Bürger der DDR. Was
ichisch-ungarischen Grenze begann, leitete
Ereignissen ein, die schließlich auch zur
nt als die he-
, muß uns in
anden unbe-
okratie“ und

der deutschen
nete Ungarn s
an der österre
die Serie von

Einheit der Deutschen in Frieden und Freiheit führte. Es






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
war Ungarn, das den ersten Stein aus der Berliner Mauer
geschlagen hat.

An Ungarns Mut erinnert eine Gedenktafel am
Reichstagsgebäude als – so steht es auf dieser Tafel –
„ein Zeichen der Freundschaft zwischen dem deutschen
und dem ungarischen Volk, für ein vereintes Deutsch-
land, für ein unabhängiges Ungarn, für ein demokrati-
sches Europa“.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Tagen, in
denen sich Ungarn und die ganze Welt an den Volksauf-
stand vor 50 Jahren erinnern, fühlen wir uns den Men-
schen in Ungarn auf besondere Weise verbunden. Wir
wissen sehr genau, was diese 13 Tage im Herbst 1956
für das Land und seine Menschen bedeuten. Sie sollen
wissen, was sie für uns bedeuten.

Wir trauern um die Opfer, die im Kampf für Ungarns
und Europas Freiheit ihr Leben verloren haben. Wir sind
glücklich und dankbar, dass Ungarn heute ein gleichbe-
rechtigtes Mitglied der demokratischen europäischen
Staatenfamilie ist, die gemeinsam an einer Zukunft in
Frieden und Freiheit arbeitet.


(Beifall)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um
die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu er-
weitern:

ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 30)

Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Knoche,
Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der LINKEN
Kosovo-Verhandlungen – für eine neutrale Moderation
und eine eigenverantwortliche und einvernehmliche
Lösung zwischen Serbien und den Kosovo-Albanern
– Drucksache 16/3093 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss

ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,
der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen
– Drucksache 16/3090 –

Die Tagesordnungspunkte 7 c und 28 werden abge-
setzt. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll,
soweit erforderlich, abgewichen werden.

Schließlich mache ich auf drei geänderte Ausschuss-
überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
merksam:

Die in der 57. Sitzung des Deutschen Bundes-
tages überwiesenen nachfolgenden Anträge sol-
len zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus

(20. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen

werden.
Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger,
Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
PC-Gebühren-Moratorium verlängern
– Drucksache 16/2793 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus

Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto

(Frankfurt), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks,

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Keine Rundfunkgebühr für Computer mit
Internetanschluss – Die Gebührenfinanzie-
rung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
grundlegend reformieren
– Drucksache 16/2970 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus

Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky,
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN

Moratorium für PC-Gebühren – Sofortige
Neuverhandlung des Rundfunkgebühren-
staatsvertrages
– Drucksache 16/3002 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.

Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 4:

Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie-
rung

Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik
Deutschlands und zur Zukunft der Bundes-
wehr

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre ich kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef
Jung.

Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi-
gung:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bevor ich zum eigentlichen Anlass dieser De-
batte komme, möchte ich ein paar Bemerkungen zu den
Bildern von den Vorfällen in Afghanistan machen, die
wir gestern alle mit Abscheu und Entsetzen zur Kenntnis
genommen haben. Dieses Verhalten steht im diametralen
Widerspruch zu den Werten unseres Grundgesetzes und






(A) (C)



(B)


Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
zu der Ausbildung, die die Bundeswehr auf der Basis der
inneren Führung durchführt. Wer sich so verhält, hat in
der Bundeswehr keinen Platz.


(Beifall im ganzen Hause)


Sie wissen, dass die Vorfälle aus dem Frühjahr des
Jahres 2003 stammen. Deshalb bin ich froh darüber, dass
es uns innerhalb von 24 Stunden gelungen ist, sechs Tä-
ter konkret zu ermitteln. Vier gehören der Bundeswehr
nicht mehr an, zwei gehören ihr noch an. Wir werden
alle disziplinarrechtlichen und strafrechtlichen Konse-
quenzen ziehen. Wir werden die Täter einer gerechten
Strafe zuführen.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich habe aber die herzliche Bitte, aus diesem Vorfall
keine Pauschalverdächtigung abzuleiten.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr richtig!)


200 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr wa-
ren in Auslandseinsätzen tätig. Sie haben ihren risikorei-
chen Auftrag in einer hervorragenden Art und Weise er-
füllt und das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland
gemehrt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe unseren Generalinspekteur Schneiderhan,
der heute hier anwesend ist, gebeten, noch einmal die
Ausbildungsgrundlagen zu überprüfen und die Frage der
entsprechenden Begleitung von Auslandseinsätzen zu
klären, um gegebenenfalls Anpassungen vornehmen zu
können. Ich glaube, wir sind uns einig: Unser Anliegen
ist, dass die Soldaten der Bundeswehr auch und gerade
in den herausfordernden Einsätzen im Ausland die
Werte unseres Grundgesetzes vermitteln und vorleben.
Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich jetzt zu dem eigentlichen Thema
kommen, nämlich zum von der Bundesregierung vorge-
legten „Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutsch-
lands und zur Zukunft der Bundeswehr“, das das
Bundeskabinett gestern in einer Sitzung im Bundesver-
teidigungsministerium verabschiedet hat. Dieses Weiß-
buch wird von der Bundesregierung zwölf Jahre nach
Herausgabe des letzten Weißbuches vorgelegt.

Wenn Sie sich vor Augen führen, was sich im Hin-
blick auf die Fragen der Sicherheitspolitik und der si-
cherheitspolitischen Herausforderungen – auch im Hin-
blick auf die Situation der Bundeswehr – seit 1994 alles
verändert hat, dann wird Ihnen deutlich, welch ein
Transformationsprozess bei der Bundeswehr stattge-
funden hat. Im Jahre 1994 gab es weder einen Einsatz
auf dem Balkan noch einen Einsatz in Afghanistan noch
einen Einsatz am Horn von Afrika noch einen Einsatz im
Kongo noch einen Einsatz im Libanon.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das waren Zeiten!)

Wir standen damals auch noch nicht vor den Heraus-
forderungen, die sich aus dem 11. September 2001 erge-
ben haben. Ich bin froh darüber und dankbar dafür
– denn es ist dringender denn je –, dass es gestern gelun-
gen ist, ein Weißbuch zur sicherheitspolitischen Stand-
ortbestimmung der Bundesrepublik Deutschland einver-
nehmlich zu verabschieden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


An dieser Stelle möchte ich einen Satz zu den aktuel-
len Irritationen im Hinblick auf den Libanoneinsatz sa-
gen, über die ich heute gelesen habe. Ich will vor diesem
Hohen Hause unterstreichen, dass wir deutlich gemacht
haben, dass wir die UN-Resolution unterstützen, dass
wir mit UNIFIL gut und effektiv zusammenarbeiten,
dass wir klare Rules of Engagement haben. Die Zusam-
menarbeit mit der libanesischen Armee erfolgt in einer
hervorragenden Art und Weise. Auf unserem Führungs-
schiff befindet sich ein Verbindungsoffizier. Im Hinblick
auf die Befahrerlaubnis innerhalb der Sechsmeilenzone
gibt es keine Konditionierungen, sodass wir unseren
Auftrag – die Unterstützung der Souveränität des Liba-
non und die Durchsetzung des Waffenstillstands sind un-
ser Ziel – sachgerecht, so, wie ihn der Bundestag be-
schlossen hat, erfüllen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das Weißbuch soll die Grundlage für eine sicherheits-
politische Debatte in Deutschland sein. Ich denke, dass
wir uns inhaltlich noch mehr mit diesen Fragen aus-
einander setzen müssen; denn es geht um die Sicherheit
unserer Bürgerinnen und Bürger. Das Koordinaten-
system und die Herausforderungen haben sich in den
letzten Jahren entscheidend verändert. Auch darüber
müssen wir in der Öffentlichkeit eine Diskussion führen.

Durch die Sicherheitspolitik und insbesondere durch
die Auslandseinsätze rückt auch unsere Verantwortung,
die wir im Rahmen unserer internationalen Verpflich-
tungen wahrnehmen, mehr in den Blickpunkt. Deshalb
denke ich, dass das Weißbuch zum richtigen Zeitpunkt er-
scheint. Am 1. Januar 2007 übernimmt Deutschland die
EU-Ratspräsidentschaft. Darüber hinaus hat Deutschland
danach auch den Vorsitz in der G 8. Unsere internationa-
len Partner und Verbündeten haben große Erwartungen an
uns. Deshalb ist es gut, dass wir unsere Vorstellungen zur
Sicherheitspolitik klar und deutlich formuliert und im
Weißbuch vorgelegt haben. Bei seinem gestrigen Besuch
hat der NATO-Generalsekretär mir gegenüber noch ein-
mal darauf hingewiesen, wie dankbar er ist, dass die Bun-
desrepublik Deutschland auf diese Art und Weise ihre in-
ternationalen Verpflichtungen wahrnimmt und ihren
Beitrag zu Frieden stiftenden Einsätzen in der Welt leis-
tet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, Deutschlands Sicherheit ist
untrennbar mit der politischen Entwicklung in Europa
und in der Welt verbunden. Deshalb denke ich, es ist rich-
tig, dass wir die sicherheitspolitischen Herausforderun-
gen, die sich unserem Land zurzeit stellen, eindeutig und
klar benannt haben. Dabei geht es erstens um die Heraus-
forderungen durch den internationalen Terrorismus,

(D)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
zweitens um die Herausforderungen im Hinblick auf die
weltweite Weiterverbreitung von Massenvernichtungs-
waffen und Trägermitteln und drittens um die Herausfor-
derungen durch innerstaatliche Konflikte, Staatszerfall
und ähnliche Krisen, die auch für unser Land Bedro-
hungslagen mit sich bringen. Es ist notwendig und wich-
tig, dass wir diesen Risiken und Bedrohungen rechtzei-
tig vor Ort begegnen, bevor sie eine Gefahrensituation
für unser Land darstellen. Insofern liegen die Einsätze
der Bundeswehr im Interesse der Sicherheit unserer Bür-
gerinnen und Bürger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich habe gerade gesagt: Bislang waren insgesamt
mehr als 200 000 Soldatinnen und Soldaten in Auslands-
einsätzen. Aktuell sind 9 000 Soldatinnen und Soldaten
auf drei Kontinenten im Einsatz. Deshalb stellt sich zu
Recht die Frage – sie wird nicht nur von Bürgerinnen
und Bürgern, sondern auch von Soldaten gestellt –: Auf
welcher Grundlage ist die Notwendigkeit derartiger Ein-
sätze zu beurteilen?


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja! Genau darum geht es!)


Aufgrund welcher Interessen und welcher Werteorientie-
rung finden diese Einsätze statt?

Es ist gut, dass wir diese Grundprinzipien im Rah-
men unseres Weißbuches formuliert haben. Niemand
wird die Auffassung vertreten, wir würden lediglich ei-
nen Katalog von eins bis zehn formulieren, ihn abhaken
und dann könne der Auslandseinsatz stattfinden.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!)


Das würde, glaube ich, unserer Verantwortung im Hin-
blick auf die Abwägung nicht gerecht.

Aber eines sollte klar sein: Die Auslandseinsätze
müssen den Werten unseres Grundgesetzes entsprechen,
sie müssen den Zielen und Verantwortlichkeiten im Rah-
men unserer internationalen Verpflichtungen entspre-
chen und sie müssen unseren Interessen entsprechen.
Auf dieser Wertegrundlage muss dann die Entschei-
dung getroffen werden, an welchen Einsätzen wir uns
beteiligen und an welchen nicht. Niemand wird den An-
spruch erheben, dass wir eine Art Weltpolizei darstellen
sollten. Aber wir müssen unseren Beitrag zur Krisen-
und Konfliktbewältigung vor Ort leisten, um Bedro-
hungen für unser Land abzuwehren. Das entspricht unse-
ren Werten, unserem Auftrag und unseren Interessen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Ver-
antwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik muss
eingebettet sein in die transatlantischen Beziehungen der
Nordatlantischen Allianz und in die Fortentwicklung ei-
ner Europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik,
aber auch in die Fortentwicklung der Europäischen
Union insgesamt. Deshalb müssen die deutsch-ameri-
kanischen Beziehungen auf einer freundschaftlichen
und vertrauensvollen Grundlage weiterentwickelt wer-
den. Dadurch können wir auch den Verbund zu unserem
stärksten Anker in der Sicherheits- und Verteidigungspo-
litik, der NATO, herstellen. Die NATO muss die Grund-
lage unserer kollektiven Verteidigung bleiben und auch
in Zukunft die Garantie für Sicherheit und Verteidigung
in Deutschland, aber auch darüber hinaus, darstellen.

Die NATO verfügt über ein einzigartiges militärisches
Kräftedispositiv und hat die Fähigkeiten, Konflikte zu
beenden. Ich darf an die Situation auf dem Balkan erin-
nern: Es war dort erst möglich, befriedend und stabilisie-
rend zu wirken, als die NATO Verantwortung übernom-
men hat. Wir haben den Einsatz in Bosnien-Herzegowina
jetzt in eine europäische Verantwortung überführt. Aber
wir brauchen im Kosovo weiterhin die Unterstützung der
NATO. Ich hoffe, dass mit einem positiven Ergebnis der
Statusverhandlungen der Prozess der Stabilisierung und
friedlichen Entwicklung dieser Region vorankommt.
Letztlich müssen wir alles daransetzen, dass eine Situa-
tion, wie sie in dieser Region, die mitten in Europa liegt,
entstanden ist, nicht wieder vorkommt, indem wir die
Region politisch stabilisieren und dazu beitragen, dass
sie sich friedlich entwickelt – im Interesse Europas, aber
auch im Interesse unseres eigenen Landes.

Die Europäische Verteidigungs- und Sicherheits-
politik ist weiter fortentwickelt worden. Als diese Bun-
desregierung ins Amt kam, hat niemand voraussehen
können, dass wir in diesem Jahr einen europäisch verant-
worteten Einsatz im Kongo durchführen würden oder ei-
nen, so darf ich sagen, europäisch dominierten Einsatz
im Libanon. Dies zeigt, wie sich auch im Rahmen der
Europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik die
Dinge fortentwickelt haben.

Was ich dabei als einen ganz wichtigen, entscheiden-
den Punkt ansehe, ist, dass NATO und Europäische
Union nicht in Konkurrenz zu sehen sind, sondern in ei-
ner partnerschaftlichen Beziehung miteinander stehen.
NATO und Europäische Union bedingen einander, sie
sind keine Konkurrenten. In dieser Art und Weise sollten
wir unsere Sicherheitspolitik auch in Zukunft fortentwi-
ckeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben in diesem Halbjahr die Verpflichtung über-
nommen – auch das ist ein wichtiger Punkt, der in der
öffentlichen Diskussion oft nicht auftaucht –, für die
Schnelle Einsatztruppe der NATO, die NATO Response
Force, die über insgesamt 25 000 Soldaten verfügt,
6 600 deutsche Soldaten zu stellen. Für die Schnellen
Einsatztruppen Europas, die EU-Battle-Groups, von de-
nen ab dem 1. Januar 2007 unter anderem gemeinsam
mit den Niederlanden und mit Finnland eine bilden, stel-
len wir 1 500 deutsche Soldaten. Das zeigt, dass hier
eine partnerschaftliche Beziehung zu entwickeln ist. Du-
plizitäten sind auf jeden Fall zu vermeiden. Denn es hat
niemand die Kraft, Doppelungen vorzuhalten, weil die
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik in ei-
ner partnerschaftlichen Beziehung zwischen NATO
und Europäischer Union fortzuentwickeln ist. Auf die-
ser Grundlage wird zu entscheiden sein, welche Schnelle
Einsatztruppe in welchem Gebiet gegebenenfalls zum
Einsatz kommt.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
Ein zentraler Punkt dieses Weißbuches ist, dass die
deutsche Sicherheitspolitik auf einem umfassenden Si-
cherheitsbegriff beruht. Sie ist vorausschauend und sie
ist multilateral angelegt. Sicherheit kann weder rein na-
tional noch allein durch Streitkräfte gewährleistet werden.
Die Erfahrungen der Bundeswehr im Einsatz zeigen
ganz deutlich, dass unser umfassender Sicherheitsan-
satz richtig ist. Wenn ich das so sagen darf: Das Konzept
der verbundenen oder der vernetzten Sicherheit spielt
eine zentrale Rolle in diesem Weißbuch, es zieht sich so-
zusagen wie ein schwarz-rot-goldener Faden durch das
Weißbuch. Ich glaube, dass wir gerade im Rahmen unse-
rer internationalen Verantwortung immer wieder deut-
lich unterstreichen müssen, dass unsere Sicherheitspoli-
tik militärische, aber auch entwicklungspolitische,
wirtschaftliche, humanitäre, polizeiliche und nachrich-
tendienstliche Instrumente der Konfliktverhütung und
der Krisenbewältigung integriert. Dies muss auch im
Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen der Fall
sein. Ich bin sicher, dass wir etwa eine Operation wie die
in Afghanistan nur dann erfolgreich bewerkstelligen kön-
nen, wenn wir nicht nur militärisch Sicherheit herstellen,
sondern auch alles daransetzen, den Wiederaufbau vo-
ranzubringen, damit wir die Herzen der Bevölkerung ge-
winnen, damit man uns nicht als Besatzungsmacht emp-
findet, sondern als Sicherheitsgaranten, der eine positive
Entwicklung ermöglicht. Nur dann werden wir – das ist
meine felsenfeste Überzeugung – in einem Prozess wie
dem in Afghanistan erfolgreich sein. Ich bin froh, dass
sich diese Überzeugung auch innerhalb der NATO jetzt
doch weitestgehend durchsetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, natürlich muss man sich
bei einer vernetzten Sicherheitspolitik immer wieder
auch die Frage stellen, wo sich beispielsweise Berüh-
rungspunkte zwischen innerer und äußerer Sicher-
heit ergeben. Dies hat schon oft zu entsprechenden öf-
fentlichen Diskussionen geführt. Ich will hier nur sagen,
dass wir auch in diesem Weißbuch deutlich gemacht ha-
ben, dass es heute neue terroristische Bedrohungen
gibt, für deren Abwehr die Fähigkeiten der Polizei bei-
spielsweise im Hinblick auf die Luftsicherheit und die
Seesicherheit nicht ausreichen, sodass man dort die Fä-
higkeiten der Bundeswehr zum Schutz unserer Bürgerin-
nen und Bürger nutzen muss. Deshalb erachten wir eine
entsprechende verfassungsrechtliche Änderung für not-
wendig. Ich bin mir sicher – die Federführung dafür hat
ja der Bundesinnenminister –, dass wir diese auch als-
bald gewährleisten können.

Ich glaube, wir haben eine Verantwortung gegenüber
unserer Bevölkerung dafür, dass wir den Schutz optimal
gewährleisten. Niemand von uns will, dass von der Bun-
deswehr originäre Polizeiaufgaben übernommen wer-
den. Wenn es aber eine terroristische Bedrohung aus der
Luft oder von See her gibt und die polizeilichen Mittel
nicht ausreichen, dann muss man die Möglichkeit haben,
die Fähigkeiten der Bundeswehr zu nutzen, um unsere
Bevölkerung umfassend schützen zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, eine aktiv gestaltende Si-
cherheitspolitik erfordert eine leistungsfähige Bundes-
wehr. Vergessen wir nicht: Wir haben eine Verantwor-
tung für rund 360 000 Menschen mit und ohne Uniform,
die in der Bundeswehr tätig sind – sei es im Bereich sol-
datischen Tuns, sei es im Bereich der zivilen Verwal-
tung. Die Bundeswehr hat den größten Wandel ihrer Ge-
schichte und aller europäischen Armeen hinter sich.
Wenn ich daran denke, was der Bundestagspräsident ein-
leitend gesagt hat, dann muss ich hinzufügen: Als ich
noch Bundeswehrsoldat war, habe ich den Einmarsch
der Sowjetunion in die Tschechoslowakei und den letz-
ten scharfen Alarm erlebt. Wir haben diese Situation
zum Glück überwunden und wir sind zu einer Armee der
Einheit geworden. Die Bundeswehr hat einen unglaubli-
chen Prozess durchlaufen. Wir haben die innere Einheit
Deutschlands innerhalb der Bundeswehr erreicht. Ich
wäre froh, wenn wir hinsichtlich der inneren Einheit un-
seres Landes in den anderen gesellschaftlichen Berei-
chen genauso weit wie die Bundeswehr wären.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die Bundeswehr ist zu einer Armee im Einsatz ge-
worden, die auf der Grundlage unserer Philosophie des
Staatsbürgers in Uniform, auf der Grundlage unseres
Grundgesetzes, wie ich es einleitend gerade gesagt habe,
und auf den Grundsätzen der inneren Führung ope-
riert und die ihre Tätigkeit auch weiterhin auf diesen lei-
tenden Prinzipien aufbaut. Jeder Vorgesetzte, der Verant-
wortung trägt, muss durch sein Verhalten Vorbild sein;
denn nur so kann der richtige Geist in der Truppe vorge-
lebt werden.

Dies gilt auch hinsichtlich der Traditionen innerhalb
der Bundeswehr. Für uns stehen die preußischen Heeres-
reformen, der militärische Widerstand gegen das NS-Re-
gime – gestern haben wir das Weißbuch im Stauffenberg-
saal verabschiedet –, die Geschichte der Bundeswehr und
die Werte des Grundgesetzes im Mittelpunkt. Das ist die
Grundlage für unsere Traditionen und für die Tradition
der Bundeswehr. In dieser Art und Weise sollten wir die
Bundeswehr auch fortentwickeln.

Ein letzter Gedanke. Ich bin froh darüber, dass wir
vereinbaren konnten, die Bundeswehr auf der Basis der
allgemeinen Wehrpflicht fortzuentwickeln. Die Er-
folgsgeschichte der Bundeswehr ist durch die Wehr-
pflichtarmee geprägt. Die allgemeine Wehrpflicht stellt
die Verbindung der Bundeswehr mit unserer Gesell-
schaft dar. Deshalb bin ich froh darüber, dass wir eine
Übereinstimmung dahin gehend erzielt haben, die Wehr-
pflichtarmee auch in Zukunft beizubehalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, ich denke, dass die Leis-
tungen der Bundeswehr – die Einsatzfähigkeit sowohl
im Äußeren als auch zum Schutz unseres Landes – unse-
ren Rückhalt und auch unseren Dank verdienen. Denn
unsere Soldatinnen und Soldaten verteidigen das Recht
und die Freiheit des deutschen Volkes: unser Recht und
unsere Freiheit. Unser Ziel bleibt ein Deutschland, das
auch in der Welt von morgen handlungsfähig, bündnisfä-
hig und gestaltungsfähig ist, ein Deutschland, das sich






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
im Interesse der Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bür-
ger aktiv für diese Sicherheit einbringt.

Ich danke Ihnen.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1606000100

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der

Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1606000200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Minister, ich möchte Ihnen zu Beginn meiner Rede
für die klaren Worte danken, die Sie für die schockieren-
den Vorgänge gefunden haben, die gestern öffentlich ge-
worden sind und von denen wir noch nicht wissen, wel-
chen politischen Schaden sie anrichten werden. Das ist
alles noch nicht absehbar.

Es hat aber – das will ich deutlich sagen – auch etwas
mit dem Weißbuch zu tun; denn Sie beschreiben im
Weißbuch zu Recht die Prinzipien der inneren Füh-
rung, die seit 50 Jahren in der Bundeswehr gelten. An-
gesichts der Tatsache, dass es diese Prinzipien gibt, ist es
umso alarmierender, dass solche Vorgänge in der Bun-
deswehr möglich sind.

Ich kann Ihre Feststellung, dass die an solchen Vor-
gängen Beteiligten wissen müssen, dass es für sie in der
Bundeswehr keinen Platz gibt, nur unterstreichen. Wer
so etwas tut, hat in der Bundeswehr nichts verloren.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Ich möchte Sie auch hinsichtlich einer schnellen Auf-
klärung unterstützen. Wir brauchen eine schnelle, um-
fassende und restlose Aufklärung dieser Vorfälle. Das
sind wir vor allen Dingen all den Soldatinnen und Solda-
ten schuldig, die sich gegenwärtig in Auslandseinsätzen
befinden, die sich vorbildlich verhalten und eine hervor-
ragende Arbeit leisten. Ihnen sind wir schuldig, dass
diese Vorwürfe gegenüber der Bundeswehr so schnell
wie möglich ausgeräumt werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir warten seit Monaten gespannt auf das Weißbuch.
Immerhin muss man konstatieren, Herr Minister, dass
Sie das geschafft haben, woran Rot-Grün gescheitert ist,
nämlich ein Weißbuch vorzulegen. Wer allerdings ein
außen- und sicherheitspolitisches Grundsatzdokument
erwartet hat, das eine längerfristige Orientierung liefert,
die über den Horizont von Regierungen hinausgeht, der
fühlt sich völlig verloren.

In diesem Weißbuch ist keine gesamtpolitische Kon-
zeption erkennbar. Es verliert sich auf vielen Seiten in
der Beschreibung bestehender Strukturen. Wer Antwor-
ten auf die Fragen sucht, die Sie selbst zu Beginn in ver-
schiedenen Szenarien aufwerfen, wird dies vergeblich
tun. Da ist an dieser Stelle völlige Fehlanzeige. Sie ha-
ben die Chancen, die mit diesem Weißbuch verbunden
waren, schlicht und ergreifend nicht genutzt, meine Da-
men und Herren von der Koalition.


(Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Unsinn!)


Herr Minister, Sie haben sich zu Recht zu den Diskus-
sionen über den UNIFIL-Einsatz geäußert, weil auch
im Weißbuch die Auslandseinsätze noch einmal doku-
mentiert sind. Sie haben hier festgestellt, dass es im Zu-
sammenhang mit dem UNIFIL-Mandat für die Bundes-
marine keinerlei Konditionierung hinsichtlich des
Einsatzes gibt, Herr Minister. Dann möchte ich aber von
Ihnen Auskunft über den schriftlichen Bericht an das
Parlament, den wir aus Ihrem Hause erhalten haben. Was
stimmt denn jetzt? Trifft das zu, was in dem Bericht ent-
halten ist – nämlich dass Operationen in der Sechsmei-
lenzone ausschließlich auf Anforderung Libanons mög-
lich sind –, oder das, was Sie hier gesagt haben, Herr
Minister? Darüber brauchen wir als Parlament Aufklä-
rung. Denn dies war einer der zentralen Punkte, die im
Rahmen der Diskussion über das UNIFIL-Mandat eine
Rolle gespielt haben. Selbst die Bundeskanzlerin hat auf
einer Pressekonferenz auf Nachfrage zu der damaligen
Siebenmeilenzone erklärt: Nein, es gibt sie nicht. „Wir
können den gesamten Bereich befahren, wie es erforder-
lich ist.“ – Das ist O-Ton Bundeskanzlerin Merkel.

Das, was wir nun wissen, bedeutet aber, dass dem
Waffenschmuggel in einer Zone von bis zu 6 Seemeilen
Tür und Tor geöffnet ist und dass die Marine nicht
selbstständig handeln kann. Das ist nicht etwa ein militä-
risches Detail und keine technische Vereinbarung mit
dem Libanon, Herr Minister. Dieser Aspekt war viel-
mehr für viele Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses
entscheidend. Sie machen das Gegenteil von dem, was
Sie dem Deutschen Bundestag versprochen haben. Da-
mit wird der Einsatz zur Farce; denn eine effektive Kon-
trolle des Waffenschmuggels ist nicht mehr möglich.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Bundesregierung, ist Wortbruch gegenüber dem Parla-
ment. Das werden wir nicht dulden.


(Beifall bei der FDP)


Herr Minister, ich hätte mir gewünscht, dass Sie et-
was zu dem nun öffentlich gewordenen Zwischenfall mit
der israelischen F-16-Maschine gesagt hätten. Das ist
doch ein kapitaler Vorgang. Wir von der FDP haben im-
mer gesagt: Selbst wenn der Einsatz nur auf See erfolgt,
sind Zusammenstöße – auch mit den Israelis – nicht aus-
geschlossen. Die Bundesmarine ist noch keine zehn
Tage im Einsatz und schon müssen Sie den ersten Zwi-
schenfall einräumen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Weißbuch!)


Egal ob es nun so war, wie es im Verteidigungsausschuss
des Bundestages dargelegt wurde, oder ob die Darstel-
lung der Israelis stimmt, es ist ein Zwischenfall. Das,
wovor wir gewarnt haben, ist damit bereits Realität ge-
worden.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Im Moment sind Sie der Zwischenfall!)







(A) (C)



(B) (D)


Birgit Homburger
Ich hätte erwartet, dass Sie hier zur Aufklärung dieses
Vorfalls beitragen, Herr Minister. Wir verlangen Aufklä-
rung und Information des Parlaments.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Ich möchte einen weiteren Aspekt aufgreifen. Wir ha-
ben eine Armee im Einsatz; der Minister hat darauf hin-
gewiesen. Unsere Armee ist an elf Auslandseinsätzen in
sechs verschiedenen Regionen der Welt beteiligt ist. Da-
für brauchen wir eine Armee, die hervorragend ausgebil-
det ist, die über schnelle Reaktions- und Verlegefähig-
keiten verfügt sowie aus eingespielten Teams besteht.
Herr Minister, dieses Weißbuch hätte Ihnen die Chance
eröffnet, endlich die Weichen für die Aufstellung einer
Freiwilligenarmee zu stellen, die den neuen Herausfor-
derungen gerecht wird. Aber das haben Sie nicht getan.
Stattdessen versuchen Sie weiterhin, die Wehrpflicht zu
legitimieren und die Zahlen zu schönen. Wenn aber
60 Prozent der wehrfähigen jungen Männer gar keinen
Dienst mehr leisten, hat das mit Wehrgerechtigkeit
nichts mehr zu tun. Angesichts dieser Tatsache hätten
Sie die durch das Weißbuch eröffnete Chance nutzen
müssen.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf die innere
und die äußere Sicherheit. Herr Minister, Sie sagen, das
könne man nicht mehr messerscharf trennen. Das ist völ-
lig richtig; diese Feststellung teilen wir. Aber was folgt
denn daraus? Wird der Verteidigungsfall auch auf das
Inland ausgeweitet oder soll die Bundeswehr der Polizei
im Rahmen der Amtshilfe in irgendeiner Form helfen?
Man hätte im Zusammenhang mit dem Weißbuch die
Chance nutzen müssen, die Diskussion über einen Bun-
deswehreinsatz im Innern und die Verunsicherung der
Bundeswehr durch eine klare Formulierung ein für alle-
mal zu beenden. Meine Kolleginnen und Kollegen von
der Koalition, das alles hat aber die Bundesregierung
nicht geschafft.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1606000300
Frau Kollegin!


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1606000400

Ja, Herr Präsident. – Es ist nach wie vor offen, wie es

weitergehen soll. Dieser Streit tut der Bundeswehr in
keiner Weise gut.

Ich fasse zusammen: Das heute im Deutschen Bun-
destag vom Bundesverteidigungsminister vorgelegte
Weißbuch ist ein Dokument verpasster Chancen.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1606000500

Für die SPD-Fraktion erhält nun das Wort der Kollege

Walter Kolbow.


(Beifall bei der SPD)


Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1606000600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

SPD-Fraktion begrüßt das von der Bundesregierung vor-
gelegte Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands
und zur Zukunft der Bundeswehr. Wir würdigen die Ar-
beit des federführenden Verteidigungsministers ebenso
wie die gestaltende Mitwirkung des Außenministers, der
Justizministerin und des Innenministers.


(Beifall bei der SPD)


Leider wird dieses gute und sichtbare Zeichen der Si-
cherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes von
den schockierenden Bildern deutscher Soldaten bei einer
Totenschändung in Afghanistan überschattet. Auch ich
unterstreiche wie die Kollegin Homburger vor mir das
von Ihnen, Herr Bundesminister Jung, hierzu Gesagte.
Wir klären unverzüglich auf und wir haben nachdrück-
lich dafür zu sorgen, dass wir unseren Soldaten Werte
und Verhaltensweisen in Ausbildung und Erziehung mit-
geben, die schon Gegenstand der bisherigen Praxis sind,
die aber immer wieder – das hat dieser Vorgang ge-
zeigt – überprüft werden müssen. Die Ausbilderinnen
und Ausbilder und die Vorgesetzten in der Bundeswehr
müssen darauf achten, dass diese Werte angewandt wer-
den, und dazu bedarf es der Dienstaufsicht vor Ort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Weißbuch ist in diesem Zusammenhang aktuell;
denn es unterstreicht die innere Führung als leitendes
Prinzip der Bundeswehr. Sie geht davon aus, dass – ich
zitiere –

die Funktionsbedingungen einsatzfähiger Streit-
kräfte mit den freiheitlichen Prinzipien eines demo-
kratischen Rechtsstaats in Einklang zu bringen
sind. Gerade vor dem Hintergrund der Besonderhei-
ten des militärischen Dienstes ist es wichtig, dass
die Soldatinnen und Soldaten über eine enge und
bewusste Bindung an die in der Verfassung veran-
kerten Werte und Normen verfügen. Nur wer die
freiheitliche demokratische Grundordnung aktiv
anerkennt, kann sie mit Überzeugung verteidigen.

Das gilt auch bei den Auslandseinsätzen für die Achtung
der Würde und der Menschenrechte der Kulturen, auf
die unsere Soldatinnen und Soldaten bei ihren Frie-
denseinsätzen im Ausland treffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Kollegin Homburger, auch die Art und Weise,
wie man an ein Weißbuch herangeht und wie man es
liest, prägt das Ergebnis. Ich denke, dass Sie nicht voll
aufgearbeitet haben, was im Weißbuch auch im Zusam-
menhang mit unseren aktuellen Beratungen und Be-
schlüssen im Parlament zum Kampf gegen den interna-
tionalen Terrorismus steht, was zur Bedeutung der
transatlantischen Partnerschaft mit dem Bezug zur Si-
cherheits- und Verteidigungspolitik der NATO ausgeführt
wird und was – ich ergänze den Bundesminister der Ver-
teidigung – zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-
politik in Europa mit der Bedeutung der Europäischen






(A) (C)



(B) (D)


Walter Kolbow
Union und mit der zentralen vertraglichen Festlegung
von „Berlin Plus“ und „NATO first“ gesagt wird, quali-
tätsmäßig ergänzt um die Europäische Union mit ihren
Möglichkeiten.


(Beifall bei der SPD)


Wenn man in das Weißbuch schaut, trifft man auf die
Fragen, die zwar nicht abschließend geregelt, aber mit
Substanz im Inhalt vorhanden sind, nämlich wie es sich
mit der Energieversorgung und mit der nationalen und
internationalen Sicherheit verhält, wie die Fragen der
Migration zu behandeln sein werden und wie die Frage
der Demografie und die, wie sich jüngere Gesellschaften
im Vergleich zu alternden entwickeln, zu beantworten
sind. Das geht die Sicherheit im 21. Jahrhundert an. Wir
von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion sind
sehr zufrieden, dass Jaap de Hoop Scheffer gestern vor
der Deutschen Atlantischen Gesellschaft gesagt hat, dass
das Weißbuch Realität mit Vision verbindet und dass wir
ein sicherheitspolitisches Grundlagendokument zu-
stande gebracht haben, das mit der Festschreibung eines
erweiterten Sicherheitsbegriffs zur Entmilitarisierung
der Sicherheitspolitik beiträgt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Im Gegenteil!)


Es wird das gesamte Spektrum der zur Verfügung ste-
henden politischen Instrumente benannt. So umfasst end-
lich gesamtstaatliche und kohärente Sicherheitspolitik
die politischen und diplomatischen Initiativen genauso
wie die wirtschaftlichen, die entwicklungspolitischen,
die rechtsstaatlichen, die polizeilichen, die humanitären,
die sozialen und schließlich auch die militärischen Maß-
nahmen. „Das Militär nur ein Element der Sicherheitspo-
litik“, titelt die „FAZ“ also folgerichtig. Das gilt sowohl
auf nationaler Ebene für die ressortübergreifende Zusam-
menarbeit als auch auf internationaler Ebene, insbeson-
dere für die Zusammenarbeit von NATO, Europäischer
Union und Vereinten Nationen.

Zu Recht ist im Weißbuch auch das von der Bundes-
regierung in der vergangenen Legislaturperiode vorge-
legte Gesamtkonzept „Zivile Krisenprävention, Kon-
fliktlösung und Friedenskonsolidierung“ enthalten.
Denn erst dann, wenn zivile Krisenprävention und Kon-
fliktregelungen gescheitert oder ohne konkrete Erfolgs-
aussichten sind, kann der Einsatz militärischer Mittel in
Betracht gezogen werden. Allerdings schließt politisches
Handeln den vorbeugenden militärischen Einsatz nicht
aus, wenn dadurch verbesserte Bedingungen für Hilfe-
leistungen und zivile Konfliktregelungen geschaffen
werden können.

Meine Damen und Herren, im ersten Weißbuch seit
1994 wird die deutsche Sicherheitspolitik in ihren strate-
gischen Rahmenbedingungen sowie in ihren Werten, In-
teressen und Zielen erläutert. Die Bundesregierung un-
terstreicht im Weißbuch, dass eine vorausschauende und
nachhaltige Sicherheitspolitik, die erfolgreich sein will,
zivile und militärische Instrumente aufeinander abstim-
men und zum Einsatz bringen muss. Die Bundeswehr ist
eines dieser Instrumente.
Unsere Bundeswehr ist sichtbarer Ausdruck der Be-
reitschaft unseres Landes, Frieden und Sicherheit zu be-
wahren sowie die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger
zu verteidigen. Im Weißbuch wird eine Bundeswehr be-
schrieben, die durch den größten Wandel ihrer Ge-
schichte gegangen ist und sich durch die Transformation
konsequent an den Erfordernissen des Einsatzes ausrich-
tet.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Eine falsche Richtung!)


Im Ergebnis wird deutlich, dass die Bundeswehr leis-
tungsstark, modern und hoch motiviert ist, als unver-
zichtbarer Teil einer vernetzten Sicherheitspolitik ihren
Beitrag zur gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge
leistet und ihre bewaffneten Einsätze – auch das zeigt
sehr deutlich, dass das Weißbuch ein Grundsatzdoku-
ment ist – auf der Grundlage eines völkerrechtlichen
Mandates und des Gewaltmonopols der Vereinten Natio-
nen sowie der konstitutiven Zustimmung dieses Hauses
auf den Weg gebracht werden können.

Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Aus dem
Richterrecht des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom
Juli 1994 ist das verlangte Parlamentsbeteiligungsgesetz
entstanden, in dem der Bundestag die entsprechenden in-
haltlichen und verfahrensrechtlichen Grundlagen für
seine konstitutive Beteiligung an Entscheidungen über
Auslandseinsätze geregelt hat. Mit dem Recht zur Ent-
sendung sind auch Kontrollaufgaben des Parlamentes
verbunden, die nicht allein Holschulden des Parlaments,
sondern auch Bringschulden der Bundesregierung dar-
stellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)


Mit ihrer erklärten Bereitschaft, dies in entsprechender
Weise beim zu verlängernden Mandat Enduring Free-
dom auch für das Kommando Spezialkräfte zu leisten,
geht die Bundesregierung in die richtige Richtung. Aber
als Parlamentarier sage ich auch: Nichts ist so gut, als
dass es nicht noch besser werden könnte.


(Jörg van Essen [FDP]: Aber ja!)


Wir stimmen zu: Die Nordatlantische Allianz ist der
Anker der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspoli-
tik. In diesem Bündnis ist Amerika eine herausragende
Rolle beizumessen. Im Weißbuch wird aber zu Recht
festgestellt, dass in der NATO eine Diskussion über die
Abschreckung im Sicherheitsumfeld des 21. Jahrhun-
derts begonnen hat, deren Ergebnisse zu gegebener Zeit
in ein fortzuschreibendes strategisches Konzept des
Bündnisses einfließen werden; mein Kollege Hans-Peter
Bartels wird hierzu noch Ausführungen machen.

Ich will für meine Fraktion feststellen, wie wichtig es
für uns ist, dass im Weißbuch die Problematik der
nuklearen Teilhabe in untrennbarem Zusammenhang
mit den abrüstungs- und rüstungskontrollpolitischen Zie-
len der Bundesrepublik Deutschland steht


(Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Im Gegensatz dazu!)







(A) (C)



(B) (D)


Walter Kolbow
und sich die Bundesregierung ausdrücklich zu dem stra-
tegisch-politischen Ziel bekennt, weltweit alle Atom-
waffen und sonstigen Massenvernichtungswaffen zu
ächten und abzuschaffen.


(Beifall bei der SPD – Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Warum geben Sie dann die Teilhabe nicht auf?)


Wir wollen, dass Rüstungskontrolle ein wichtiges Ord-
nungsprinzip der internationalen Beziehungen ist. Wir
unterstreichen die Formulierung des Koalitionsvertra-
ges, in dem es heißt:

Vertraglich abgesicherte Nichtverbreitung, Abrüs-
tung und Rüstungskontrolle sind zentrale Anliegen
der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.

Wir halten an dem langfristigen Ziel der vollständi-
gen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen
fest. Wir setzen uns für nukleare Abrüstung und die
Stärkung des internationalen Nichtverbreitungs-
regimes ein.

Denn es gilt weiterhin: Abrüstung ist das beste Mittel
zur Kriegsverhütung.


(Beifall bei der SPD)


Der guten politischen Ordnung halber werfe auch ich
zum Abschluss einen Blick auf die Frage des Einsatzes
der Bundeswehr im Inneren. Hier decken sich die Vor-
schläge des Bundesministers der Verteidigung mit unse-
rer Auffassung, die Streitkräfte nur in dem engen Be-
reich der Luft- und Seesicherheit einzusetzen, wenn dies
die Mittel der Polizei nicht erlauben. Einer Klarstellung
im Grundgesetz stimmen wir zu, wenn sie über Art. 35
erfolgt. Hier sehen wir, wie die Bundesregierung, die
Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrecht-
lichen Rahmens. Die jüngsten Stellungnahmen der Vor-
sitzenden des Bundeswehrverbandes und der Gewerk-
schaft der Polizei zu diesem Thema bestärken uns im
Übrigen in dieser Position.

Die SPD-Fraktion stellt sehr zufrieden fest, dass im
Weißbuch 2006 der Transformationsprozess der Bundes-
wehr, den die Verteidigungsminister Rudolf Scharping
und Peter Struck begonnen haben und der in den Vertei-
digungspolitischen Richtlinien Peter Strucks von 2003
eindrucksvoll belegt ist, fortgesetzt wird. Das Weißbuch
ist also auch ein eindrucksvolles Dokument für die
Kontinuität in der Außen- und Sicherheitspolitik der
Bundesregierung und eine gute Grundlage für eine er-
folgreiche Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik
im 21. Jahrhundert.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1606000700

Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Gehrcke,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606000800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Selbstverständlich steht die Debatte um das Weißbuch
unter dem Vorzeichen der schrecklichen Bilder, die man
gestern in der Presse gesehen hat. Ich kann mich hier nur
dem anschließen, was der Kollege Verteidigungsminis-
ter, der gerade anderweitig beschäftigt ist, gesagt hat: Ich
würde solche Bilder nie allen Angehörigen der Bundes-
wehr anrechnen. Dem muss man sich verweigern.

Ich stelle mir aber eine andere Frage: Was muss in
den Köpfen von jungen Menschen vorgegangen sein, da-
mit es zu einer derartigen Verrohung und Entmenschli-
chung kommen konnte?


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Möglicherweise gar nichts!)


– Möglicherweise gar nichts, aber möglicherweise doch
etwas, auch persönliches Erleben. – Ich denke, dass in
diesen Handlungsweisen zum Ausdruck kommt, dass
Krieg und Gewalt und das Erleben von Krieg und Ge-
walt zu Verrohung und Entmenschlichung führen kön-
nen. Das ist das eigentliche Problem.


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen sage ich ganz ehrlich, Herr Verteidigungs-
minister: Unsere Weigerung, Auslandseinsätzen zuzu-
stimmen, hat auch etwas damit zu tun, dass wir die Sol-
datinnen und Soldaten der Bundeswehr vor solchen
Prozessen schützen wollen. Wir sind viel solidarischer
mit diesen jungen Menschen, als Sie es mit Ihrer Politik
sind. Das muss hier ausgesprochen werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundestag ist
immer für Kontrastprogramme gut. Letzte Woche – glei-
cher Wochentag, gleiche Uhrzeit – hatten wir die De-
batte über Abrüstung. Jemandem, der für Abrüstung ist,
konnte da das Herz aufgehen. Es soll abgerüstet werden.
Der Außenminister hat gesagt: Abrüstung kommt auf die
Tagesordnung. Diese Woche – gleicher Wochentag, glei-
che Uhrzeit – haben wir die Debatte über das Weißbuch.
Hier erleben wir das Gegenteil. Das Weißbuch ist ein
knallhartes Konzept von Auf- und Umrüstung und welt-
weiten Militäreinsätzen. Jetzt, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD und der Grünen, muss man sich ent-
scheiden: Will man ein Konzept der Militarisierung
oder will man ein Konzept der Abrüstung? Ich habe den
Eindruck, letzte Woche haben wir unverbindlich disku-
tiert, diese Woche werden mit dem Weißbuch knallharte
Fakten geschaffen. Dieser Politik des Weißbuches wer-
den wir uns im Parlament und außerhalb des Parlamen-
tes widersetzen. Verwechseln Sie nicht Mehrheiten im
Saal mit Mehrheiten im Leben.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben in der Gesellschaft für die Politik des Weißbu-
ches keine Mehrheit. Dass der Widerstand noch größer
wird, dazu werden wir unseren bescheidenen Beitrag
leisten.

Sie sprechen im Weißbuch über die neue Rolle der
Bundeswehr von einer Nichteinsatzarmee – das war ein-
mal das Verständnis: dass sie nicht eingesetzt werden
darf und nicht eingesetzt werden kann – zu einer Ein-
satzarmee. Ihre Beschreibung der neuen Rolle der Bun-
deswehr geschieht vor dem Hintergrund – ich hätte mir
gewünscht, dass das hier offen ausgesprochen wird, Herr






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Gehrcke
Jung –, dass die Kriege, der militärische Einsatz im Irak
und in Afghanistan militärisch nicht mehr gewonnen
werden können. Das müssen Sie auch der Bevölkerung
sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist der Zustand, mit dem man es zu tun hat.

Ihr Vorgehen sieht jetzt folgendermaßen aus: Sie er-
weitern den Sicherheitsbegriff – Sicherheit ist weiter zu
fassen; das ist richtig – und führen das auf militärische
Gründe zurück. Sie sagen: Außenpolitik: auch Aufgabe
der Bundeswehr; Europapolitik: auch Aufgabe der Bun-
deswehr; Entwicklungspolitik: auch Aufgabe der Bun-
deswehr; Rohstoffsicherheit: auch Aufgabe der Bundes-
wehr; Energiesicherheit: auch Aufgabe der Bundeswehr;
Flüchtlingsfragen, Wanderungsbewegungen: auch Auf-
gaben der Bundeswehr; Sicherung von Handelswegen:
auch Aufgabe der Bundeswehr.

Man kann nicht darüber hinwegsehen: Die im Weiß-
buch enthaltene Forderung, den verfassungsrechtlichen
Rahmen zu erweitern, zielt auf die Schaffung der Mög-
lichkeit, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Dage-
gen, Kolleginnen und Kollegen der SPD, sind Sie einmal
Sturm gelaufen. Bekennen Sie sich einmal!


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn in allen gesellschaftlichen Bereichen Militär
eingesetzt werden soll, dann nennt man das politisch
„Militarismus“. Im Gegensatz zum Kollegen Kolbow,
der davon spricht, dass mit dem Weißbuch das Anliegen
der Demilitarisierung verfolgt wird, behaupte ich: Das
Weißbuch ist ein Ausdruck von Militarismus; die Bun-
deswehr soll in allen gesellschaftlichen Bereichen wirk-
sam werden. Das ist nicht ihre Aufgabe. Das steht nicht
im Grundgesetz.


(Rainer Arnold [SPD]: Wo steht es im Weißbuch?)


Das deformiert die Gesellschaft selbst.


(Beifall bei der LINKEN)


Es soll an der Wehrpflicht festgehalten werden und
– was ich besonders pikant finde – auch an der atomaren
Teilhabe.

Auch da finde ich die Argumentation ganz spannend:
Wir wollen die atomare Teilhabe eigentlich nicht, weil
wir eigentlich abrüsten wollen; aber vorsichtshalber hal-
ten wir an ihr fest. Das ist doch keine Logik. Auch das
führt zu einer weiteren Aufrüstung.

Ich glaube, dass es notwendig ist, hier ein gegenteili-
ges Konzept vorzulegen. Wenn es nach dem Grundge-
setz ginge – bei seiner Schaffung ging man eigentlich
von der Verteidigungsaufgabe aus –, könnte man heute
hier darüber diskutieren, die Bundeswehr in mittelfristi-
gen Schritten aufzulösen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das wäre die politische Alternative. Solchen Debatten
stellen Sie sich aber überhaupt nicht, weil Sie davon aus-
gehen, dass wir Teil des Krieges gegen den weltweiten
Terror geworden sind.

Wir haben immer gesagt: Der Kampf gegen den Ter-
ror kann gewonnen werden. Ein Krieg gegen den Terror
aber führt zu solchen Bildern aus Afghanistan, wie wir
sie gesehen haben. Das ist die Katastrophe dieses Krie-
ges.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1606000900

Nächster Redner ist der Kollege Bernd Siebert, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/ CSU])



Bernd Siebert (CDU):
Rede ID: ID1606001000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Minister, ich möchte Sie bitten, Ihren Mitarbeitern,
die so schnell – innerhalb von nur 24 Stunden – für Auf-
klärung gesorgt haben, unseren Dank und unsere Aner-
kennung zu übermitteln.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese abstoßenden Fotos sind nicht nachvollziehbar
und widern uns alle an. Für uns Christdemokraten ist
diese Totenschändung auf das Äußerste zu kritisieren
und mit Abscheu zu behandeln. Diejenigen, die dies zu
verantworten haben, sind disziplinarisch und gerichtlich
auf das Schärfste zu verurteilen. Für diese Fälle, die drei
Jahre zurückliegen, darf es keinen Spielraum und keinen
Freiraum geben. Aber wir dürfen bei aller berechtigten
Kritik und bei der Darstellung der Abscheu nicht überse-
hen, dass viele tausend Soldaten in besonderer Weise
ihre Aufgaben gut erfüllt haben, gut ausgebildet wurden
und sich vorbildlich verhalten haben, als sie für uns im
Ausland ihren Einsatz ausgeführt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben das Ansehen Deutschlands vermehrt. Deswe-
gen will ich an dieser Stelle diesen Soldaten meinen
Dank und mein Lob aussprechen.

Wir diskutieren heute über das Weißbuch.

Die Bundesregierung

– so steht es in der Koalitionsvereinbarung –

wird bis Ende 2006 unter Federführung des Bun-
desministers der Verteidigung ein Weißbuch zur Si-
cherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der
Bundeswehr vorlegen. Dieses Weißbuch beinhaltet
auch eine Festlegung der Aufgaben und der Zusam-
menarbeit der für Sicherheit verantwortlichen Insti-
tutionen innerhalb einer umfassenden nationalen
Sicherheitsvorsorge. Auf dieser Grundlage wird die
seit der deutschen Einheit kontinuierlich durchge-
führte Weiterentwicklung der Bundeswehr so fort-






(A) (C)



(B) (D)


Bernd Siebert
geführt, dass die Streitkräfte ihre Aufgaben im si-
cherheitspolitischen Umfeld des 21. Jahrhunderts
erfolgreich wahrnehmen können.

Vor einem Jahr haben wir genau diese Formulierung
in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen und stellen
heute fest: Diese Bundesregierung hat Wort gehalten und
hat in einem Jahr genau das umgesetzt, was sie sich vor-
genommen hat. Dafür kann man der Bundesregierung
nur in aller Deutlichkeit gratulieren, liebe Frau Bundes-
kanzlerin.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das, was wir heute debattieren, ist alles andere als
eine Routineveranstaltung. Das letzte Weißbuch einer
Bundesregierung stammt vom 5. April 1994 und wurde
noch vom damaligen Bundesminister Volker Rühe vor-
gestellt. Seither hat sich sowohl das sicherheitspolitische
Umfeld als auch die Zahl der Einsätze unserer Bundes-
wehr deutlich erhöht und sich die Lage insgesamt verän-
dert, ohne dass es bisher zur Fortschreibung des Weißbu-
ches gekommen ist. Allein schon aus diesem Grund ist
das Weißbuch 2006 auch für diese Koalition ein großer
politischer Erfolg. Darauf können die Koalitionsfraktio-
nen, so meine ich, mit Recht stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


In der Analyse und Bewertung der tief greifenden
Veränderungen in den letzten zwölf Jahren hat die Koali-
tion große Einigkeit erzielt und damit politische Hand-
lungsfähigkeit demonstriert. Ich bin über das Einverneh-
men zur Bedeutung der nordatlantischen Allianz und der
Europäischen Union sowie zum Konzept „Vernetzte Si-
cherheit“ und dem damit verbundenen Willen zur Inten-
sivierung der ressortübergreifenden Zusammenarbeit auf
nationaler Ebene dankbar.

Ich bin außerdem für das klare Bekenntnis zur Beibe-
haltung der Wehrpflicht dankbar. Ihre Bedeutung für
das innere Gefüge und den Geist der Bundeswehr ist un-
gebrochen. Unsere Wehrpflichtigen dienen der Demo-
kratie. Sie nehmen dafür Einschnitte in ihre persönliche
Lebensplanung in Kauf. Dafür gebührt ihnen die Aner-
kennung der gesamten Gesellschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das Weißbuch bekräftigt damit die Aussagen im
Koalitionsvertrag. Dort heißt es:

Die Bundesregierung bekennt sich zur Allgemeinen
Wehrpflicht. Diese Dienstpflicht ist nach wie vor
die beste Wehrform. Sie bestimmt Entwicklung und
Selbstverständnis der Bundeswehr und dient der
Verklammerung zwischen Streitkräften und Gesell-
schaft.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben nur Sie noch! – Gegenruf des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Ein Ruf an die Basis!)


Dieses Weißbuch, lieber Herr Nachtwei – das werden
wir in kleinen Diskussionskreisen immer wieder deutlich
machen; so weit sind Sie gar nicht davon entfernt –, soll
eine breite sicherheitspolitische Debatte in unserem
Land anstoßen. Es darf nicht nur exklusiven Zirkeln von
Experten vorbehalten sein, über die Rolle Deutschlands
in einer veränderten Welt und die Aufgaben der Bundes-
wehr im internationalen Kontext nachzudenken. Wir
brauchen einen breiten gesellschaftlichen Konsens über
das, was Sicherheit und Verteidigung ausmachen. Mit
der Herausgabe des Weißbuchs wird dieser Prozess be-
gonnen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es
hätte wenig Sinn gemacht, hier über einen zwischen den
beteiligten Ressorts der Bundesregierung noch nicht ab-
gestimmten Entwurf zu diskutieren. Dass die Debatte
erst heute, nach Verabschiedung des Weißbuchs, stattfin-
det, ist deshalb keine Missachtung der parlamentari-
schen Rechte, sondern inhaltlich und prozedural der
einzig richtige Weg. Schließlich handelt es sich bei dem
Weißbuch um ein Dokument der Bundesregierung, also
der Exekutive. Die Tatsache, dass die Bundeswehr un-
zweifelhaft eine Parlamentsarmee ist und auch bleiben
wird, ändert daran nichts. Wer von einer Missachtung
der parlamentarischen Rechte spricht – wie Sie das getan
haben –, tut dies wider besseres Wissen; denn auch bei
allen neun Vorgängern des neuen Weißbuchs seit 1969
war das jetzt praktizierte Verfahren üblich.


(Birgit Homburger [FDP]: Das alles waren Fortschreibungen!)


– Das war im Übrigen, Frau Homburger, jahrzehntelang
auch die Auffassung der FDP, solange sie in der Regie-
rungsverantwortung war.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich danke den Beteiligten, insbesondere dem mit der
Federführung beauftragten Bundesminister der Verteidi-
gung, Dr. Franz Josef Jung, dafür, dass der Zeitplan trotz
der zuweilen aufgetretenen Nervosität in der politischen
Debatte eingehalten werden konnte. Das ist – dies sollte
man auch deutlich machen – ein persönlicher Erfolg des
Ministers. Dazu gratuliert Ihnen herzlich die CDU/CSU-
Fraktion, Herr Minister.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Nervosität war bei dem Reizthema Einsatz der
Bundeswehr im Innern besonders groß. Es war zu kei-
ner Zeit Absicht der Union, die Bundeswehr zu einer
Hilfspolizei zu machen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach?)


Es ging uns immer nur darum, die begrenzten Ressour-
cen, die in unserem Land in verschiedenen Organisatio-
nen vorhanden sind, im Sinne einer ganzheitlichen Be-
trachtung der Dimension Sicherheit verfügbar zu
machen. Dabei sind auch die Fähigkeiten der Bundes-
wehr einzubeziehen, die sie im Ausland ohne Probleme
einsetzen kann.

Die Bundeswehr ist durch Auslandseinsätze und
Transformation bereits mehr als genug strapaziert, so-
dass sie nicht noch zusätzliche Aufgaben wahrnehmen
kann. Deshalb begrüße ich, dass aufgrund der mit dem






(A) (C)



(B) (D)


Bernd Siebert
Weißbuch begonnenen Debatte in der Bundesregierung
jetzt ohne Reflexe über eine Erweiterung des verfas-
sungsrechtlichen Rahmens gesprochen wird. Ziel dieses
Dialogs muss die Erhöhung der Sicherheit unserer Bür-
gerinnen und Bürger sein. Diesem Ziel sollten wir uns
ungeachtet aller politischen Meinungsunterschiede ver-
pflichtet fühlen.

Die Veröffentlichung des Weißbuchs ist auch mit
Blick auf die bevorstehende deutsche Ratspräsident-
schaft wichtig. Sie ermöglicht der Bundesregierung, auf
die politischen Prozesse in NATO und EU gestalterisch
Einfluss zu nehmen und zudem die nationalen Interessen
wirkungsvoll einzubringen. Das Weißbuch hat damit
eine nicht zu unterschätzende außenpolitische Signalwir-
kung auch weit über die Grenzen unseres Landes hinaus.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider!)


Der transatlantische Verbund bleibt für uns eine we-
sentliche Grundlage für die deutsche und europäische
Sicherheit. Er ist der Rahmen für die Verteidigung ge-
meinsamer Werte unter Beteiligung unserer nordameri-
kanischen Verbündeten. Darüber hinaus bleiben die
europäische Integration und die Fundierung der europäi-
schen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wesentliche
sicherheitspolitische Ziele.

Ich begrüße ausdrücklich, dass es gelungen ist, die
deutschen Sicherheitsinteressen einvernehmlich zu de-
finieren. Es ist weder eine Missachtung multinationaler
Organisationen noch ein Widerspruch zu unserem
grundsätzlich multilateralen und integrativen sicher-
heitspolitischen Ansatz, wenn wir dies so tun, wie wir
das beschrieben haben. In anderen Ländern steht es völ-
lig außerhalb jeder Diskussion, dass nationale Interessen
zur Grundlage des eigenen Handelns gemacht werden.
Als vollwertiges Mitglied der internationalen Staatenge-
meinschaft sollte Deutschland dies ebenfalls mit hinrei-
chendem Selbstbewusstsein angehen können.

Wir können und wollen die Bundeswehr nicht überall
in der Welt einsetzen. Allein schon die knappen Ressour-
cen setzten hier klare Grenzen. Aber wir müssen uns
darauf einstellen, dass wir uns Konflikten vermehrt dort
stellen, wo sie entstehen. Es ist auch im nationalen Inte-
resse, Krisen frühzeitig zu entschärfen, bevor sie unser
Land erreichen und sie weit gravierendere Auswirkun-
gen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ungeachtet dessen muss die Bundesregierung jeden
Auslandseinsatz gut und überzeugend begründen, um
größtmögliche Solidarität in unserer Bevölkerung und
damit größtmögliche Rückendeckung für unsere Solda-
tinnen und Soldaten im Einsatz zu erreichen. Das heute
debattierte Weißbuch gibt den Angehörigen der Bundes-
wehr ein Stück weit mehr Rechtssicherheit.

Gerade auch vor dem Hintergrund einer wachsenden
Zahl an Auslandseinsätzen ist inzwischen die Erkenntnis
weit verbreitet, dass die Bundeswehr hier und dort Pro-
bleme hat, den gestiegenen Herausforderungen gerecht
zu werden. Nicht jedes Problem ist mit mehr Geld zu lö-
sen, doch mit Moral allein wird es auf Dauer auch nicht
gehen. Wir können nicht nur die Messlatte beständig hö-
her legen, sondern müssen auch die Bundeswehr mate-
riell so ausstatten, dass sie nicht dauerhaft von der Hand
in den Mund leben muss. Vor allem die Ausstattung der
Einsätzkräfte mit geschütztem Transportraum liegt uns
besonders am Herzen.

Wir stehen nicht am Ende, sondern am Beginn einer
Entwicklung. Die Resonanz und die Ergebnisse der nun
einsetzenden Debatte im parlamentarischen, öffentlichen
und internationalen Bereich – ich bitte darum, dass sie
geführt wird; wir können die öffentliche Debatte mit
kontroversen Diskussionen in Gang setzen – werden bei
der Weiterführung des Weißbuchprozesses, bei den zu-
künftigen Entscheidungen im sicherheitspolitischen Be-
reich selbstverständlich Eingang finden.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1606001100

Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast,

Bündnis 90/Die Grünen.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606001200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines ist

in der heutigen Debatte gut: Wir stimmen offensichtlich
bei der Bewertung der Bilder, die wir gestern in einer
Zeitung gesehen haben und die uns wohl noch einige
Zeit beschäftigen werden, überein. Man muss dazu ganz
klar sagen: Diese Bilder sind entsetzlich. Die Verhaltens-
weisen, die man dort erkennt, stehen diametral entgegen-
gesetzt zum Auftrag eines Bundeswehrsoldaten, zu dem,
was den Soldaten in der Ausbildung beigebracht wird,
und zum Verhalten der allermeisten Soldaten im Aus-
landseinsatz. Ich glaube, hier besteht Übereinstimmung.
Es ist richtig und gut, dass jetzt aufgeklärt wird und
Konsequenzen gezogen werden, dass klargestellt wird:
Menschen mit solchen Verhaltensweisen gehören nicht
in die Bundeswehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mich persönlich beschäftigt hierbei auch folgende
Frage: Was denken sich diese Menschen im Hinblick auf
ihre Kollegen? Ein solches Verhalten deutet darauf hin,
dass man sich gar keine Gedanken darüber macht, was
eigentlich den Kollegen passiert. Diese Bilder gehen per
Internet in Sekundenschnelle um die Welt und führen
faktisch zu einer Steigerung der Gefährdung der Solda-
ten im Auslandseinsatz. Auch das ist ein Ärgernis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir wollen aus diesen Vorfällen keine Rückschlüsse
auf das Ganze ziehen. Allerdings muss man in diesem
Zusammenhang die Frage stellen: Welche Anforderun-
gen werden heute an Soldaten im Auslandseinsatz ge-
stellt? Diese Frage beschäftigt uns, wenn wir heute über
das Weißbuch diskutieren. Herr Jung, eines ist klar: Das
Weißbuch war nach den Bundeswehreinsätzen im Ko-






(A) (C)



(B) (D)


Renate Künast
sovo, im Kongo, in Afghanistan und im Libanon längst
überfällig. Die Öffentlichkeit möchte nämlich wissen:
Wohin führt uns das? Was bringt uns das? Im Zweifels-
falle fragt sie sich: Wie lösen wir Probleme? Wie kom-
men wir da wieder raus?

Es war längst überfällig, Antworten auf die zentralen
Fragen der Sicherheitspolitik zu bekommen. Das Pro-
blem ist nur: Dieses Weißbuch der Bundesregierung gibt
keine Antworten auf die Schlüsselfragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was fehlt, ist eine wirklich kritische Bilanz der letzten
15 Jahre. Im Weißbuch werden zwar ständig die neuen
Risiken durch internationalen Terrorismus und zerfal-
lende Staaten betont; aber aus den konkreten Erfahrun-
gen der bisherigen Auslandseinsätze werden keine
Schlussfolgerungen gezogen oder aufgrund dessen Ver-
änderungen herbeigeführt.

Dieses Weißbuch liefert weder klare Antworten auf
die Kernfragen noch Richtungsentscheidungen. Was ge-
nau ist denn die Rolle der Bundeswehr angesichts des in-
ternationalen Terrorismus? Wie kann der Übergang von
einem Stabilisierungseinsatz der Bundeswehr hin zum
Peace-Building, zum Nation-Building erfolgen und was
ist die Rolle der Bundeswehr dabei? Wie muss eine Ar-
mee beschaffen sein, die solche Kriseneinsätze meistern
soll? Wie stellt man im Übrigen sicher, dass bei gemein-
samen Einsätzen auch das humanitäre Kriegsvölkerrecht
von allen eingehalten wird?


(Beifall des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das sind höchst komplizierte Fragen, die sich gerade im
Fall Afghanistan jetzt wieder stellen.

Wir stellen nicht in Abrede, dass der Kampf gegen
den internationalen Terrorismus auch mit militärischen
Mitteln geführt werden muss; aber wir wissen doch, dass
gedanklichen Vorrang immer die zivilen Mittel haben
müssen.


(Walter Kolbow [SPD]: Deswegen stehen sie ja drin!)


Die Einhaltung der Menschenrechte und des humanitä-
ren Völkerrechts muss ohne Ausnahme gewährleistet
werden. Ich weise nur darauf hin, dass der Military
Commissions Act, den der US-Präsident vor wenigen
Tagen, im Oktober, unterzeichnet hat, ein massiver
Rückschritt im Antiterrorkampf ist; denn er stellt genau
dieses menschenrechtliche Vergehen infrage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])


Er stellt ein Verhalten von dort eingesetzten Soldaten
straffrei, das eigentlich strafbewehrt sein müsste, und er
erlaubt Vernehmungsmethoden, die nach unserer Defini-
tion Folter sind. Auch damit muss man sich auseinander
setzen.

Das werden wir im Zusammenhang mit Enduring
Freedom kritisch tun; aber auch im Rahmen eines Weiß-
buches muss doch die Frage gestellt werden: Halten sich
bei solchen internationalen Einsätzen alle Beteiligten an
die Regeln, die für uns zwingend und bindend sind?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])


Meine Damen und Herren, dieses Weißbuch hat Leer-
stellen. Es geht zwar von einem umfassenden Sicher-
heitsbegriff aus und proklamiert eine kohärente Strate-
gie, liefert sie aber nicht. Zwar wird der maßgeblich von
uns Grünen vorangetriebene Aktionsplan „Zivile Krisen-
prävention“ angeführt; aber es gibt an keiner Stelle eine
systematische Vernetzung der Ansätze. Es ist klar, dass
es Frieden ohne Entwicklung und Entwicklung ohne Si-
cherheit nicht gibt; das gehört zwingend zusammen.
Aber in diesem Weißbuch haben wir nur zusammenge-
heftete Seiten. Deshalb ist es uns zu wenig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zu Ihren Ausführungen zum Thema Innen und
Außen, Herr Jung, muss ich sagen: Wie kann es in die-
ser Bundesregierung passieren, dass Frau Merkel ange-
sichts der entsetzlichen Situation in Darfur im Sudan so-
fort sagt, dafür hätten wir kein Personal, zeitgleich aber
in der Innenpolitik verzweifelt nach neuen und weiteren
Aufgaben gesucht wird?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rüdiger Veit [SPD])


Eigentlich ist das bereits geregelt.

Ich sage auch an die Adresse der SPD: Beteiligen Sie
sich nicht an einem Spiel, das in Wahrheit als Türöffner
für eine Änderung des Grundgesetzes dient. Schon heute
steht in Art. 35 Grundgesetz, dass Amtshilfe möglich ist.
Bei schweren Unglücksfällen können die Bundeswehr
und ihr besonderes Gerät zur Amtshilfe herangezogen
werden. Dazu bedarf es keiner Änderung des Grundge-
setzes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen in diesem Weißbuch vielmehr eine Dis-
kussion über die Beseitigung der Strukturdefizite der
Bundeswehr, über eine integrierte Strategie. Wie müs-
sen die Ausstattung und die innere Führung sein, wenn
die Bundeswehr bei Friedensmissionen eingesetzt wer-
den soll? An dieser Stelle muss man auch die Debatte
über die Wehrpflicht wieder führen. Denn die Frage lau-
tet: Kann ein Wehrpflichtiger diese Aufgaben erfüllen?
Meine und unsere Antwort ist Nein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Selbst die Kanzlerin hat in einem „Zeit“-Interview
gesagt, dass die Strukturen der Bundeswehr nicht mehr
zukunftstüchtig seien. Im Weißbuch folgt jedoch nichts
an neuer Weichenstellung. Wie muss mit Blick auf zivile
Missionen – um nur einen Bereich zu nennen – eigent-
lich die Kapazität bei der Polizei sein, wenn sie unter-
stützend wirken soll? Wie steht es um die Prioritätenset-
zung im Haushalt des Verteidigungsministers? Auch da
muss man eigentlich eine neue Schwerpunktsetzung fin-
den, damit nicht Militäreinsätze faktisch immer zum
Politikersatz werden.






(A) (C)



(B) (D)


Renate Künast
Mein letzter Kritikpunkt. Ich bin Herrn Steinmeier
fast dankbar dafür, dass er offensichtlich die Ausführun-
gen zur deutschen Teilhabe an der Atomstrategie ent-
schärft hat. Richtig wäre es aber gewesen, der Teilhabe
Deutschlands an einer Atomstrategie im Weißbuch eine
klare Absage zu erteilen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen den Eurofighter nicht zu einem Trägersystem
umbauen. Wir wollen immer noch den Abzug sämtlicher
US-Atomwaffen aus Deutschland und aus Europa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mein Fazit lautet: In diesem Weißbuch werden viele
Schlüsselfragen nicht beantwortet. Es handelt sich wie-
der einmal um den kleinsten gemeinsamen Nenner der
so genannten großen Koalition. Dieses Weißbuch be-
inhaltet nur die Chance, dass es Anlass zur Diskussion
gibt, wie in Zukunft integrierte Sicherheitspolitik ausse-
hen muss. Inhaltliches liefert das Weißbuch dazu nichts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1606001300

Das Wort hat nun der Kollege Hans-Peter Bartels,

SPD-Fraktion.


Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1606001400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das letzte

Weißbuch, erschienen vor zwölf Jahren, war eine Mo-
mentaufnahme kurz nach dem Ende des Kalten Krieges.
Eine neue Standortbestimmung ist also lange überfällig.

Die Einsicht in die neuen sicherheitspolitischen Rah-
menbedingungen bestimmt allerdings schon länger unser
Handeln. Mit dem Weißbuch liegt nun – so könnte man
sagen – ein regierungsamtlicher intellektueller Überbau
vor. Der Bundesregierung, den Ministern Jung und
Steinmeier, sei gedankt. Sie haben gute Arbeit abgelie-
fert.

Vielleicht sollten wir allerdings, wenn wir heute auf
die nunmehr zehn vorliegenden Weißbücher blicken, uns
für die Zukunft vornehmen, diese sicherheitspolitische
Standortbestimmung künftig etwas regelmäßiger vorzu-
nehmen. Nach der ersten Ausgabe 1969 erschienen die
Weißbücher zunächst nahezu jährlich. Dann wurden die
Abstände Ende der 70er-Jahre größer. Auf Nummer fünf
im Jahre 1975 folgte die Neufassung erst vier Jahre spä-
ter, also 1979. In den 80er-Jahren erschienen zwei Weiß-
bücher. Dann dauerte es weitere neun Jahre bis 1994.
Jetzt beträgt der Abstand zwölf Jahre.

Ich will diese Reihe nicht fortsetzen; das ist etwas für
Mathematiker.


(Heiterkeit bei der SPD und der LINKEN)


Ich will auch nicht anregen, dass wir zur jährlichen Er-
scheinungsweise der Anfangsjahre zurückkehren. Aber
ein Weißbuch pro Wahlperiode wäre schon gut und wäre
der Bedeutung des Themas angemessen.


(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])

Ich hoffe, wir sind uns in diesem Haus einig, so zu ver-
fahren.


(Jörg van Essen [FDP]: Ja!)


Was die Inhalte angeht, haben meine Vorredner schon
einiges gesagt. Das Weißbuch ist nicht, wie Renate
Künast vorhin gesagt hat und wie sie gemeinsam mit
Winfried Nachtwei in einem Beitrag für die „Welt am
Sonntag“ geschrieben hat, „der kleinste gemeinsame
Nenner“. Es ist vielmehr das Dokument eines großen
Konsenses.

Positiv hervorzuheben – und vermutlich auch für
Grüne zustimmungsfähig, Frau Künast – ist doch zum
Beispiel das klare Bekenntnis zu einem umfassenden,
nicht aufs Militärische beschränkten Sicherheitsbegriff,
der sich wie ein roter, grüner und jetzt auch schwarzer
Faden durch den Gesamttext zieht. Das ist doch Konti-
nuität zur Regierung Schröder/Fischer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der gemeinsame Nenner von Rot-Grün wird auch in der
neuen Koalition bewahrt.

Unstrittig ist auch das Bekenntnis zu einem aktiven
Multilateralismus, zu einer Stärkung des Völkerrechts
und zu den Systemen kollektiver Sicherheit: UNO,
NATO, EU.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist allerdings keine Erfindung von Rot-Grün!)


Dabei kommt es nicht auf die Reihenfolge im Weißbuch
an. Die NATO, die an erster Stelle steht, ist uns ein alter,
lieber Vertrauter. Das neue Kind EU – genauer: die
ESVP – braucht da noch mehr Beachtung und Pflege.
Wir Sozialdemokraten wollen künftig mehr Europa,
mehr gemeinsame Streitkräfteplanung, mehr Arbeitstei-
lung, bessere Kooperation bei der Ausrüstung und bei
der Industriezusammenarbeit.

Ausdrücklich begrüße ich die eindeutige Festlegung
auf die Wehrpflichtarmee. „Die Wehrpflicht“, so heißt
es im Weißbuch, „hat sich auch unter wechselnden
sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen uneinge-
schränkt bewährt.“ So ist es. Sie ist eben nicht – wie von
Liberalen und Grünen gern suggeriert – die Wehrform
für eine bestimmte Konfliktlage, nämlich für den Kalten
Krieg, gewesen, sondern die Wehrform auch für die Be-
drohungslage, in der wir uns heute befinden. Das gilt für
die Bundeswehr von heute und für die Bundeswehr der
Zukunft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Besser gelungen, als manche Diskussion im Vorfeld
vielleicht vermuten ließ, ist die Definition unserer Inte-
ressen. In der Vergangenheit ist immer wieder gefordert
worden, Deutschland möge endlich seine nationalen
Interessen definieren. Mir persönlich blieb dabei oft un-
klar, was unsere spezifisch deutschen, nationalen Inte-
ressen sein sollen. Rohstoffversorgung? Stabilität im
Nahen Osten? Terrorbekämpfung? Verhinderung der
Proliferation? Das sind allesamt politische Ziele, die wir
mit unseren NATO- und EU-Partnern teilen. Das sind






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans-Peter Bartels
keine spezifisch deutschen Interessen. Wie sollte es auch
anders sein? Schließlich sehen sich alle Länder in
Europa und darüber hinaus den gleichen Bedrohungen
ausgesetzt. Wir sind aufeinander angewiesen, um mögli-
che Gefahren abwehren zu können.

Was im Weißbuch nun formuliert worden ist, sind im
besten Sinne europäische, westlich-demokratische Inte-
ressen, sachlich und nüchtern auf den Punkt gebracht,
Bezug nehmend auf die Werte des Grundgesetzes, ohne
falsches Pathos. Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhun-
dert, als die Staaten Europas rivalisierende Interessen
gegeneinander, auch mit dem Mittel des Krieges, durch-
setzen wollten. Das ist kein ganz kleiner Fortschritt. Es
geht nicht darum, uns einen „Platz an der Sonne“ zu er-
kämpfen, nicht in Afghanistan, nicht auf dem Balkan,
nicht im Kongo. Es geht vielmehr um die Herstellung
und den Erhalt des Friedens weltweit.


(Beifall bei der SPD)


Dieser Auftrag ergibt sich aus dem Grundgesetz. In
Art. 24 – ich empfehle, gelegentlich nachzulesen – ist
unsere Verpflichtung zum Frieden und zur Herstellung
von Verhältnissen der gerechten Teilhabe aller in dieser
Welt verankert. Sehr richtig ist deshalb auch der Hinweis
des Weißbuches, dass Interessen im Zeitalter der Globa-
lisierung nicht allein geografisch definiert werden kön-
nen.

Zum Einsatz der Bundeswehr im Innern. Das ist
wohl das im Vorfeld am ausführlichsten diskutierte
Thema des Weißbuchs gewesen. Mancher Diskutant hat
sich in den zurückliegenden Wochen gerne als Tabubre-
cher inszeniert, wenn es um Bundeswehr und innere Si-
cherheit ging. Dabei ist das Thema gar nicht so neu. Vor
fast 40 Jahren sind Verfahren gefunden worden, die den
Grundsatz der Trennung von Polizei und Militär zwar
nicht aufweichen, die den Einsatz der Bundeswehr im
Inland aber in bestimmten Worst-Case-Szenarien ermög-
lichen, wenn nämlich die demokratische Grundordnung
oder der Bestand des ganzen Landes in Gefahr ist.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Notstandsgesetze!)


Diese im Grundgesetz vorgesehenen Notstandsregelun-
gen sind geltendes Recht, auch wenn sie glücklicher-
weise bisher noch nie zur Anwendung gekommen sind.
Sie stehen im Grundgesetz.

Die Amtshilfe der Bundeswehr gemäß den Bestim-
mungen des Art. 35 ist unstrittige, geübte Praxis, die sich
bei zahlreichen Ereignissen der vergangenen Jahre be-
währt hat. Dass wir eine darüber hinausgehende verfas-
sungsrechtliche Klarstellung brauchen, um terroristi-
schen Bedrohungen aus der Luft und von der See her
besser begegnen zu können, hat die SPD nie bestritten.


(Birgit Homburger [FDP]: Das ist neu!)


Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, haben wir zunächst
das Verfassungsgerichtsurteil abgewartet. Das liegt nun
vor. Karlsruhe hat uns für künftige Regelungen enge
Grenzen gesetzt. Die im Weißbuch angedeutete Mög-
lichkeit, den Art. 35 zu ändern, ist ein denkbarer Weg,
um die notwendigen Neuregelungen im Bereich der
Luft- und Seesicherheit im Grundgesetz zu verankern.

Jenseits dieser klar definierten Ausnahmen bleiben
die Hürden für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern
hoch. So sollte es auch sein, sind Polizeiaufgaben doch
zu allererst Aufgabe der Polizei und nicht des Militärs.


(Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)


Zur nuklearen Teilhabe. Es ist bemerkenswert, dass
im Weißbuch formuliert wird:

Für die überschaubare Zukunft wird eine glaubhafte
Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses neben
konventioneller weiterhin auch nuklearer Mittel be-
dürfen.

Das kann man mit guten Gründen anders sehen. Letzt-
lich ist die nukleare Teilhabe ein Kind der Flexible-
Response-Strategie der NATO in den späten 60er-Jah-
ren. Das war die Antwort auf einen waffenstarrenden
Warschauer Pakt. Der aber ist seit rund anderthalb Jahr-
zehnten ein Fall für Historiker.

Den neuen Bedrohungen unserer Sicherheit, die in
dem Weißbuch sehr richtig beschrieben sind, lässt sich
mit Atombomben nicht mehr begegnen. Und doch ste-
hen weiterhin nuklearfähige Tornados der Bundeswehr
bereit, US-Atomwaffen ins Ziel zu fliegen. Aber wohin?
Die politische Begründung wird zunehmend notleidend.
Mit dieser Aussage des Weißbuchs werden wir uns, so
denke ich, in der „überschaubaren Zukunft“ befassen.

Eine letzte Bemerkung zur Parlamentsarmee. Im
Weißbuch verpflichtet sich die Regierung, auch künftig
ihren Beitrag dazu zu leisten, dass das Parlament umfas-
send und frühzeitig informiert wird. Im Lichte der aktu-
ellen Diskussion über den Einsatz von Spezialkräften in
Afghanistan werden wir die Regierung beim Wort neh-
men.

Es ist schon kurios, wenn Mitglieder dieses Hauses
– selbst jene, die dem zuständigen Fachausschuss ange-
hören – aus der Presse erfahren müssen, wann und wo
unsere KSK-Soldaten im Einsatz waren und dass sie es
in den letzten zwölf Monaten unter OEF-Mandat eben
nicht waren.


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Geheimnisverrat!)


– Das stand in der Zeitung. Ich glaube, in diesem Fall war
es der Minister, der dafür sorgte, dass dieses Geheimnis
nicht länger ein Geheimnis blieb; das ist auch richtig. –
Dennoch muss man feststellen: Diese Information war
bis zu diesem Zeitpunkt als „geheim“ eingestuft. Daher
müssen wir über die Frage diskutieren: Welche Informa-
tionen sind realistischer- und sinnvollerweise geheim zu
halten und welche Informationen gehören in die politi-
sche Diskussion?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Unsere Maxime muss dabei lauten – dabei handelt es
sich um eine alte Formulierung aus dem Godesberger
Programm, allerdings um andere Begriffe –: So viel Ge-
heimhaltung wie nötig, so viel Information wie möglich.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans-Peter Bartels

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Die Bundeswehr ist nach unserem Grundgesetz eine
Parlamentsarmee. Dies ist nicht nur rechtliche Grund-
lage, sondern mittlerweile auch gute Tradition und ge-
übte Praxis. Die neue Bundeswehr als Armee im Einsatz
ist ohne den Parlamentsvorbehalt undenkbar. Wenn wir
im Bundestag Einsätze beschließen und damit die volle
politische Verantwortung dafür übernehmen, dann muss
die Unterrichtung des Parlaments so vollständig wie
möglich sein. Je gefährlicher der Einsatz, desto weniger
erfahren wir – so kann, so darf es nicht laufen. Wir wer-
den uns hier um Abhilfe bemühen. Das vorgelegte Weiß-
buch ist eine gute Grundlage für unseren gemeinsamen
weiteren Weg.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1606001500

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Werner Hoyer,

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1606001600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Berg hat gekreißt und mehr als ein Mäuslein geboren.
Das muss man wohl zugeben. Es ist in der Tat beacht-
lich, dass wieder ein Weißbuch vorgelegt wurde


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und welche Fakten angesammelt worden sind. Gleich-
wohl ist das vorgelegte Weißbuch als verpasste Chance
zu bewerten, weil sich in ihm nach meiner Auffassung
keine Antworten auf die großen Zukunftsfragen, die wir
zu beantworten haben, finden lassen.

Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass der Kollege
Bartels eine Veränderung der Informationspolitik der
Bundesregierung angemahnt hat. Das fordern auch wir
ein; denn besonders kommunikationsstark ist die Bun-
desregierung bei diesem Thema weiß Gott nicht.


(Beifall bei der FDP)


Das gilt auch im Hinblick auf das Weißbuch. Mir ist völ-
lig klar: Es ist die Prärogative der Regierung, sich zu-
nächst einmal gemeinsam eine Meinung zu bilden und
erst dann mit dem Parlament und der Öffentlichkeit da-
rüber zu diskutieren. Aber ich finde, es ist ein Zeichen
von Schwäche, dass die Regierung die öffentliche De-
batte, auch die mit dem Parlament, im Vorfeld so wenig
gesucht hat. Das war nicht sehr souverän.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Gegenwärtig ist übrigens noch ein Bundesminister
anwesend; das ist schön, immerhin. Allerdings geht es
heute nicht um das Weißbuch des Verteidigungsministe-
riums, sondern um das Weißbuch der gesamten Bundes-
regierung. Daher stellt sich die Frage, wie es vor diesem
Hintergrund zur erforderlichen und hoffentlich mögli-
chen Vernetzung der Schlussfolgerungen für die Politik
kommen soll.

Im vorgelegten Weißbuch wird zu Recht darauf hin-
gewiesen, dass wir im Rahmen der Auslandseinsätze
noch viel stärker als bisher die Vernetzung der ver-
schiedenen Politikfelder organisieren müssen und dass
die militärische Dimension eine wichtige Voraussetzung
für den Erfolg ist. Der Schlüssel zum Erfolg liegt jedoch
in anderen Ressorts. Mit der Bundesministerin für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung scheint al-
lerdings gar keine Kommunikation stattzufinden und der
Außenminister hatte genug Probleme damit, auf die im
Weißbuch getroffenen sicherheitspolitischen Aussagen
für die Zukunft überhaupt Einfluss zu nehmen.

Das Kommunikationsproblem der Bundesregierung
wird auch bei aktuellen Themen deutlich, damit meine
ich nicht die furchtbaren Bilder, über die heute, wie ich
denke, schon genug gesagt worden ist. Es ist schon be-
merkenswert, dass wir noch vor wenigen Wochen im
Bundestag fast ausgelacht worden sind, als wir darauf
hingewiesen haben, dass es im Zusammenhang mit dem
Libanoneinsatz zu Situationen kommen könnte, in de-
nen es zwischen Israelis und Deutschen, vielleicht auf-
grund von Missverständnissen, zu Konfrontationen
kommen könnte, und es wenige Wochen später so weit
ist. In der gestrigen Sitzung des Auswärtigen Ausschus-
ses ist natürlich kein Wort darüber verloren worden.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Noch nicht einmal ein Wörtchen!)


Da tröstet mich auch nicht, dass es vielleicht Kommuni-
kationsprobleme zwischen den Israelis und den Deut-
schen oder gar den Franzosen gegeben hat. Wir müssen
das Gesamtbild sehen: Frankreich protestiert in aller
Schärfe – übrigens auch Generalmajor Pellegrini, Kofi
Annans Mann, der derzeitige Kommandeur von UNIFIL –
dagegen, dass die Israelis ständig den libanesischen
Luftraum und die libanesischen Gewässer überfliegen.
Die Franzosen haben gesagt, dass sie sich das nicht mehr
lange ansehen werden, dass sie sich dagegen wehren
werden. Das heißt, es gibt eine Zuspitzung, bei der
Deutschland plötzlich mittendrin ist. Deswegen muss
darüber geredet werden, wenn es so kritisch wird und
sich die Bedenken der Opposition zu bestätigen schei-
nen, auch mit dem zuständigen Ausschuss.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Denn auch das nächste Mandat wird in diesem Deut-
schen Bundestag auf der Basis einer Beschlussempfeh-
lung des Auswärtigen Ausschusses beschlossen.

Dann ist da die Sache mit der Sechsmeilenzone. Es
darf wirklich nicht wahr sein, dass uns hier wiederholt
versichert wird, dass die Bundesmarine voll handlungs-
fähig sei, wir aber dann lesen müssen: volle Zuständig-
keit von UNIFIL nur außerhalb der Zwölfmeilenzone,
Erlaubnis zu Operationen zwischen 6 und 12 Meilen,
Operationen auf Anforderung Libanons zwischen 0 und
6 Meilen sowie Boarding/Beschlagnahme durch libane-
sische Kräfte oder in deren Beisein. Das war schön ver-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Werner Hoyer
packt in die reguläre Unterrichtung der Bundesregie-
rung, beschlossen am 12. Oktober. Da kann man das
auch prima verstecken, weil der Informationswert und
Sexappeal dieses Papiers normalerweise nicht wahnsin-
nig hoch ist. Diesmal hätte man es in der Tat lesen sollen
und frühzeitig Alarm schlagen müssen; denn das ist
keine technische Vereinbarung. Das ist eine Aushöhlung
des Bundestagsbeschlusses, die die Versicherung der
Bundesregierung ad absurdum führt, die Bundesmarine
sei in vollem Umfang handlungsfähig.


(Beifall bei der FDP)


Schon in der Resolution 1701 ist von einer Entwaffnung
der Hisbollah nicht mehr die Rede. Aber auch die Unter-
bindung eines zukünftigen Waffenzuflusses nach Beirut
ist damit nach meiner Auffassung vom Tisch. Hier muss
sehr viel bessere Kommunikationsarbeit geleistet wer-
den. Die Karten müssen gegenüber dem Parlament offen
gelegt werden.

Wir werden über die Themen, die nach meiner Auf-
fassung nicht hinreichend berücksichtigt sind, noch viel
diskutieren müssen. Ich habe die Vernetzung von wirt-
schaftlicher Zusammenarbeit, Innenpolitik – zum Bei-
spiel bei Polizei und Justiz – und den Streitkräfteaufga-
ben angesprochen. Wir sehen dieses Problem in
Afghanistan und werden sehr bald darüber sprechen
müssen. Reden und Handeln müssen in Einklang stehen.
Wenn wir sagen, die Polizeiaufgaben seien ein ganz be-
deutender Teil der Herausforderungen, denen wir uns in
Afghanistan stellen müssen, dann kann es nicht sein,
dass der Bundesinnenminister sagt: Nächstes Jahr ist
aber Schluss mit dem Einsatz der Polizei dort.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das sagt er ja auch nicht!)


Ich würde auch gerne wissen, wie die Bundesregie-
rung mit Leben ausfüllen will, dass, wie sie sagt, die
NATO die wichtigste Bühne des sicherheitspolitischen
Dialogs über den Atlantik hinweg ist. Natürlich, das un-
terschreiben vermutlich fast alle hier. Aber wir müssen
uns einmal darüber unterhalten, welche NATO gemeint
ist. In Riga werden wir über die globale Partnerschaft
mit südostasiatischen Ländern und anderen sprechen.
Was das für die Struktur, für die Rechtsgrundlagen der
NATO, für Art. 5 bedeutet, darüber findet sich kein Wort
im Weißbuch der Bundesregierung. Doch hierüber müs-
sen wir uns eine Meinung bilden. Die Schnittstellen zwi-
schen NATO und EU sind ein weiterer Punkt, der im
Weißbuch nach meiner Auffassung nicht hinreichend
thematisiert worden ist.

Zum Abschluss möchte ich eine uns intellektuell he-
rausfordernde Frage anreißen. Wir wollen die stärkere
Integration der Europäischen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik und wir wollen auch im Rahmen der NATO
militärisch stark integrieren. Die NATO Response Force
und vergleichbare EU-Strukturen werden geschaffen.
Das muss versöhnt werden mit dem Parlamentsvorbe-
halt, an dem wir Liberale nicht rütteln werden.


(Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE LINKE])

Wo ist die intellektuelle Anstrengung, zu versuchen, bei-
des miteinander zu versöhnen, das heißt, den Parla-
mentsvorbehalt ohne Wenn und Aber zu wahren, ohne
diese NATO- und EU-Strukturen von vornherein hand-
lungsunfähig zu machen?


(Beifall bei der FDP)


Das sind doch die interessanten Fragen. Dazu hätte ich
mir in diesem Weißbuch mehr gewünscht.

Ich muss leider zum Ende kommen. Ich glaube, wir
haben mit dem Weißbuch eine gute Grundlage für die
weitere Diskussion. Aber insgesamt, glaube ich, ist eine
große Chance verpasst worden.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1606001700

Ich erteile das Wort dem Kollegen Eckart von

Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1606001800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!

Es ist von vielen Rednern schon betont worden: Die Vor-
lage des letzten Weißbuches liegt zwölf Jahre zurück.
Dieses Weißbuch stellt den Beginn und nicht den Ab-
schluss einer längst überfälligen strategischen Debatte in
Deutschland über unsere Außen- und Sicherheitspolitik
dar und ist daher auch kein umfassendes Konzept für
eine solche Debatte. Herr Kollege Hoyer, deswegen ha-
ben Sie völlig Recht: Es ist in der Tat eine gute Grund-
lage für eine solche Debatte.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Er hat nichts von „gute Grundlage“ gesagt!)


– Doch, er hat von einer guten Grundlage gesprochen,
Herr Kollege Gehrcke.

Es ist bedauerlich, dass wir erst jetzt dazu kommen.
Die rot-grüne Bundesregierung hat mit ihrer Entschei-
dung, sich am Kosovokrieg und am Kampf gegen den
Terrorismus in Afghanistan zu beteiligen, sowie mit dem
Petersbergprozess bemerkenswerte Beiträge zur deut-
schen Außen- und Sicherheitspolitik geleistet. Umso be-
dauerlicher ist es, dass es nicht gelungen ist – das hat ih-
nen nach meinem Eindruck vor allem in den eigenen
Reihen besondere Schwierigkeiten gemacht –, diese rich-
tigen Schritte in eine systematische Darstellung der
Außen- und Sicherheitspolitik einzubinden.

Diese Aufgabe hat sich die große Koalition jetzt vor-
genommen. Das ist ausdrücklich kein parteipolitisches
Vorhaben. Die Opposition ist selbstverständlich eingela-
den, daran mitzuwirken. Frau Künast, die ich im Augen-
blick nicht sehe, hat in ihrem Beitrag ja eine Reihe von
wichtigen Fragen gestellt, die wir in dieser strategischen
Debatte behandeln müssen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Man muss aber nicht mitmachen!)







(A) (C)



(B) (D)


Eckart von Klaeden
– Nein, Herr Gehrcke, Sie müssen nicht mitmachen. Sie
würden sich ja auch untreu werden, wenn Sie hier plötz-
lich konstruktiv auftreten würden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Was sind die Elemente dieser strategischen Debatte?
Dazu gehört natürlich die Frage nach den nationalen In-
teressen, die Kollege Bartels angesprochen hat. Hin-
sichtlich der nationalen Interessen gibt es glücklicher-
weise eine große Übereinstimmung mit unseren
Nachbarn und Bündnispartnern. Aus meiner Sicht muss
in der strategischen Debatte die Lageanalyse mit den na-
tionalen Interessen und Prinzipien verbunden werden,
um daraus schließlich die Frage abzuleiten, mit welchen
Mitteln, mit welchen Instrumenten und in welchen
Bündnissen man diese Interessen und Prinzipien durch-
setzen möchte. Hier gibt es bemerkenswerte Unter-
schiede zwischen uns und unseren Bündnispartnern. Zu
Frankreich gibt es zum Beispiel bemerkenswerte Unter-
schiede hinsichtlich der Einschätzung der Rolle von EU
und NATO sowie ihres Verhältnisses zueinander. Im
Vergleich mit den Vereinigten Staaten gibt es bemer-
kenswerte Unterschiede hinsichtlich des Kriegsvölker-
rechts. Ich finde, es ist unsere Aufgabe, in der strategi-
schen Debatte die Konsequenzen zu ziehen und die
Mittel zu definieren, die wir aufgrund der Lageanalyse
und der Feststellung unserer Interessen und Prinzipien
als notwendig erachten. Dies müssen wir in die Bünd-
nisse einbringen und mit unseren Bündnispartnern be-
sprechen, um zu einer gemeinsamen Politik zu kommen.

Insofern gibt es, wenn man so will, nationale Interes-
sen und Prinzipien, die sich von denen anderer unter-
scheiden. Sinn der Veranstaltung ist es, die Ergebnisse
hinterher zusammenzuführen und zu einer gemeinsamen
und kohärenten Politik zu kommen; denn die Lage, in
der wir uns befinden, ist dramatisch. Es gibt neue sicher-
heitspolitische Herausforderungen: Wenn wir uns
Nordkorea und den Iran anschauen, dann wissen wir,
dass wir möglicherweise am Anfang eines neuen nuklea-
ren Zeitalters stehen. Wir stehen weiterhin vor der Ge-
fahr des vor allem islamistisch motivierten Terrorismus.
Wir stehen vor der Gefahr, dass sich Nukleartechnik und
Terrorismus zu einer neuen und qualitativ bisher unge-
ahnten Gefahr verbinden. Schließlich müssen wir die
Frage stellen, welche Herausforderungen sich aus diesen
asymmetrischen Bedrohungen auch hinsichtlich der
Struktur unserer Bundeswehr ergeben.

Ich will hier deutlich sagen: Es ist schon ein Fort-
schritt, dass jetzt auch die geschätzten Kollegen von der
sozialdemokratischen Fraktion zugestehen, dass für ein
Luft- und Seesicherheitsgesetz eine Verfassungsände-
rung notwendig ist. Die bisher im Weißbuch niederge-
legte Entscheidung, dass ein terroristischer Angriff
– zum Beispiel auch mit schmutzigen Nuklearwaffen –
als Unglücksfall definiert wird, wodurch der Einsatz der
Bundeswehr zum Schutz unserer Bevölkerung zugelas-
sen wird, ist aus meiner Sicht politisch richtig; denn ich
bin in erster Linie am Schutz unserer Bevölkerung inte-
ressiert und muss erkennen, dass dazu offensichtlich
keine Verfassungsänderung möglich ist. Gleichzeitig
will ich aber sagen, dass ich diese Entscheidung verfas-
sungsrechtlich für problematisch halte. Deswegen bleibt
es das Interesse unserer Fraktion, auch den Einsatz der
Bundeswehr im Inneren in einem solchen Fall verfas-
sungsfest abzusichern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist schon viel über die Herausforderungen der Au-
ßen- und Sicherheitspolitik, über Staatsaufbau und
Staatszerfall, internationalen Terrorismus und die Proli-
feration von Massenvernichtungswaffen gesprochen
worden. Ich glaube, dass wir uns als wesentliche Er-
kenntnis nach dem Ende des Kalten Krieges klar machen
müssen, dass auch die Gefahren global sind, dass man
die Sicherheit des eigenen Landes und des eigenen
Bündnisses nicht mehr allein geografisch definieren
kann, dass in Zeiten der Globalisierung jedes Land un-
ser Nachbar sein kann und – wie Henry Kissinger gesagt
hat – dass Gefahren für die Sicherheit unseres Landes
und unseres Volkes gänzlich innerhalb der Grenzen eines
anderen Staates entstehen können. Deswegen liegt es ge-
rade im Interesse unserer Bevölkerung, dass wir bereit
sind, uns zu unserer Sicherheit auch in fernen Regionen
zu engagieren, was Peter Struck mit dem Satz „Deutsch-
land wird auch am Hindukusch verteidigt“ gemeint hat.

Andere Staaten haben diese Erkenntnis viel selbstver-
ständlicher als wir Deutschen gewonnen. Australien und
Neuseeland zum Beispiel engagieren sich in Afghanistan
und im Kosovo, weil sie erkannt haben, dass die Ent-
wicklung in diesen Ländern eine unmittelbare Wechsel-
wirkung auf ihre eigene Sicherheitslage beispielsweise
gegenüber Indonesien oder Malaysia hat. Ebenso wie
sich diese Länder aufgrund ihrer Erkenntnis in dieser
Region engagieren, müssen wir erkennen, dass wir zum
Beispiel an einer stabilen demokratischen Entwicklung
Indonesiens oder Malaysias ein eigenes elementares Si-
cherheitsinteresse haben. Wenn es etwa gelingt, Indone-
sien als größtes muslimisches Land zu einem Beispiel
für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einer musli-
misch geprägten Kultur zu machen, dann hat das auch
Konsequenzen für den Staatsaufbau, um den wir uns bei-
spielsweise in Afghanistan oder im Kosovo bemühen.

Ich halte es auch für wichtig, darauf hinzuweisen,
dass ein großer Teil unserer Auslandseinsätze und unse-
res Engagements vor allem der muslimischen Bevölke-
rung zugute kommt. In Bosnien-Herzegowina, im Ko-
sovo, in Pakistan und in Aceh geht es entweder um
humanitäre Hilfe oder um politische Unterstützung und
den Schutz vor allem der muslimischen Bevölkerung.
Ich meine, dass wir bzw. die NATO auch in dem Dialog
der Kulturen und in der Auseinandersetzung mit dem
islamischen Extremismus stärker auf diesen Punkt hin-
weisen müssen.

Über die Interessen ist schon viel gesprochen worden.
Deshalb will ich mit Blick auf die beschränkte Redezeit
nicht weiter darauf eingehen. Ich will aber noch etwas zu
den Mitteln und zu unserer Politik im Bündnis sagen.
Dazu gehört zunächst einmal die Erkenntnis, dass die
Freundschaft und Partnerschaft mit den Vereinigten
Staaten bei allen bereits erwähnten Differenzen eben
keine Konsequenz der Teilung der Welt in Jalta gewesen
ist, die man nach der Überwindung der Teilung Europas






(A) (C)



(B) (D)


Eckart von Klaeden
für obsolet erklären kann, sondern dass uns eine in Jahr-
hunderten entstandene Koinzidenz gemeinsamer Prinzi-
pien und Wertvorstellungen mit den Vereinigten Staaten
verbindet. In diesem Sinne gilt 1776 als Vorbild für 1789
und 1848 bzw. für die demokratische Tradition in
Europa.

Wir haben es den Amerikanern zu verdanken, dass
Europa von der Geißel des Nationalsozialismus befreit
wurde, dass der Westen Europas frei geblieben ist und
dass wir die Wiedervereinigung nicht nur Deutschlands,
sondern Europas in Frieden und Freiheit erreichen konn-
ten. Diese Kooperation mit den Vereinigten Staaten im
Rahmen der NATO und in Ergänzung mit der Europäi-
schen Union in Mittel- und Osteuropa ist auch ein Para-
debeispiel und ein gutes Modell für die Fortsetzung der
Zusammenarbeit und der Stabilisierung von Staaten
beim Nation-Building und dem Aufbau von Demokratie.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen uns aber auch klarmachen, dass wir für
unseren Einsatz deutlich mehr Mittel einsetzen müssen
als bisher. Es ist notwendig, dass Anspruch und Wirk-
lichkeit übereinstimmen. Rot-Grün hat sich dafür einge-
setzt, dass Deutschland ständiges Mitglied im Welt-
sicherheitsrat wird. Gleichzeitig bleiben aber unsere
Ausgaben für Auswärtiges, Entwicklungshilfe und die
Bundeswehr weit hinter dem internationalen Standard
zurück. Wir würden mit unseren heutigen Verteidi-
gungsausgaben noch nicht einmal NATO-Mitglied wer-
den. Wir geben für unseren diplomatischen Dienst halb
so viel aus wie die Briten oder die Franzosen. Aber nicht
nur bei den Mitteln, sondern auch bei der Abstimmung
unserer Entwicklungszusammenarbeit ist noch sehr viel
zu tun.


(Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD])


Ein wesentlicher Punkt der von uns zu führenden stra-
tegischen Debatte wird ein neues außen- und sicherheits-
politisches Denken sein, in dessen Mittelpunkt die Ein-
sicht stehen muss, dass Anspruch und Wirklichkeit in
Einklang zu bringen sind, dass für die Durchsetzung un-
serer Ansprüche, Interessen und Prinzipien entspre-
chende Mittel erforderlich sind und dass unsere Glaub-
würdigkeit auch von den Mitteln abhängt, die wir bereit
sind einzusetzen. Diese Debatte ist mit dem nun vorlie-
genden Weißbuch nicht abgeschlossen, sie beginnt erst.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1606001900

Paul Schäfer ist der nächste Redner für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606002000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Er-

forderlich wäre ein Weißbuch gewesen, das nicht dekre-
tiert, sondern eine offenere sicherheitspolitische Debatte
ermöglicht und das einen neuen Denkansatz zu den si-
cherheitspolitischen Entwicklungen enthält, also ein
Weißbuch, das innovativ ist und mit der Politik des
„Weiter so“ Schluss macht. Aber Sie halten an der unge-
rechten Wehrpflicht, der nuklearen Teilhabe, die nie-
mand mehr braucht, und an einem Mehr an Auslandsein-
sätzen fest, deren Ende nicht mehr absehbar ist. Auch die
Entgrenzung des Militärischen nach innen ist keine neue
Idee. Das ist seit jeher falsch. Offensichtlich ist ein
grundlegender Politikwechsel in der Außen- und Sicher-
heitspolitik vonnöten. Aber das geht mit dem vorgeleg-
ten Weißbuch nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Weißbuch steht: Der internationale Terrorismus
ist die zentrale Herausforderung. – Vor kurzem wurde
nach fünf Jahren Antiterrorkrieg Bilanz in der Öffent-
lichkeit gezogen. Der Tenor ist einheitlich: Die Welt ist
durch den Antiterrorkrieg nicht sicherer, sondern unsi-
cherer geworden. Es gibt nicht weniger Gewalt, sondern
mehr Gewalt.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist Fakt. Das bezieht sich in sehr starkem Maße auf
den Irakkrieg, dessen Auswirkungen auf Afghanistan,
den Iran und die ganze Region Sie noch immer systema-
tisch verdrängen. Sie sagen – die einen sagen das über-
zeugter als die anderen –: Wir haben nicht mitgemacht.
Aber das stimmt nicht. Deutschland war eine wichtige
Drehscheibe, als es darum ging, diesen Krieg zu führen.
Wir haben Kompensationsleistungen erbracht, um die
USA zu entlasten, damit sie diesen Krieg führen können.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Unser Ausgangspunkt für eine Neubestimmung der
deutschen Sicherheitspolitik ist daher: Keine Beteiligung
an völkerrechtswidrigen Angriffskriegen, weder unmit-
telbar noch mittelbar!


(Beifall bei der LINKEN)


Unser Schluss aus dem einheitlichen Tenor ist, dass
wir aus dem militärisch geführten „war on terrorism“
endlich aussteigen müssen, uns davon abkoppeln müs-
sen. Wenn ich an die KSK-Einsätze denke, dann komme
ich zu dem Schluss, dass wir darin offenkundig mehr
verstrickt waren als bislang bekannt. Nun droht in
Afghanistan eine weitere Verstrickung. Es ist deshalb an
der Zeit, die deutsche Beteiligung an „Enduring Free-
dom“ und „Active Endeavour“ aufzukündigen, wenn wir
mehr für unsere Sicherheit tun wollen. Wir müssen uns
endlich darauf konzentrieren, den Nährboden des Terro-
rismus trocken zu legen. Erst dann reden wir beispiels-
weise über Armutsbekämpfung und eine friedliche Lö-
sung des Palästinakonflikts.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein weiterer Punkt des Weißbuchs ist: Die NATO ist
der stärkste Anker der deutschen Sicherheits- und Vertei-
digungspolitik, also NATO first.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Genau!)


Reden wir doch nicht darum herum: Mag es auch Vor-
stöße wie den von der Kanzlerin in München geben, die






(A) (C)



(B) (D)


Paul Schäfer (Köln)

NATO bleibt primär ein militärisches Bündnis, das von
den USA dominiert wird. Sicherlich kann man der Auf-
fassung sein, dass sie als Verteidigungsgemeinschaft ge-
braucht wird. Dann hätte sie erhebliches Abrüstungs-
potenzial. Aber als Weltpolizist wird sie nicht gebraucht.
Für uns gilt: UNO first!


(Beifall bei der LINKEN)


Die UNO ist für den Weltfrieden und die internationale
Sicherheit zuständig und muss vor allem internationale
Entwicklungszusammenarbeit leisten. Wir wollen sie da-
her stärken.

Mit der wachsenden terroristischen Bedrohung wird
begründet, warum die Bundeswehr neue Aufgaben im
Innern übernehmen soll. Aber statt fatalistisch von einer
wachsenden Bedrohung zu reden, muss sich die Außen-
und Sicherheitspolitik daran orientieren, die Gefahren
und Risiken dort zu minimieren, wo sie entstehen. Da-
rauf haben Sie in Ihrer Rede ebenfalls hingewiesen, Herr
Minister Jung. Aber Ihr nächster Satz lautete – ich bitte,
das nachzulesen –: Deswegen sind die Militäreinsätze so
wichtig. Das ist doch genau das Denken, das in die fal-
sche Richtung führt. Wir sagen: Wir brauchen ein
Umdenken. Hier muss über verstärkte Entwicklungszu-
sammenarbeit geredet werden, über eine gerechtere Res-
sourcenverteilung und über den Stopp von Rüstungs-
exporten, weil auch die diese Konflikte anheizen. Das
wäre sinnvoller.

Was das Luftsicherheitsgesetz und die Änderung des
Grundgesetzes angeht, die Sie in Aussicht nehmen, gilt
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Leben-gegen-
Leben-Abwägung ist nicht statthaft. Es bleibt in der Ver-
antwortung des Einzelnen, der in der Notwehrsituation
ist, zu handeln. Die kann ihm niemand abnehmen. Des-
halb werden wir diese Änderung nicht mittragen.


(Beifall bei der LINKEN)


Noch ein Punkt zu Terror- und Massenvernich-
tungswaffen. Eine Expertengruppe unter dem renom-
mierten Diplomaten Hans Blix hat von Weapons of
Terror, Terrorwaffen, gesprochen. Atombomben sind
Terrorwaffen. Wenn man also den Terrorismus bekämp-
fen will, dann muss man endlich alles tun, um die Terror-
waffen loszuwerden. Was macht die Bundesregierung?
Sie hält an der nuklearen Teilhabe fest. Es wäre an der
Zeit, dass Sie die USA zum raschen Abzug dieser Atom-
bomben aus der Bundesrepublik Deutschland drängen,
dass Sie sich für eine atomwaffenfreie Zone in Europa
stark machen und dass Sie die Tornadostaffel, die diese
Atomwaffen transportieren soll, endlich auflösen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein letzter Gedanke: Sie sagen, die erweiterte Sicher-
heit, die Sie proklamieren, sei eine Form der Entmilitari-
sierung. Wenn man das Weißbuch liest, dann stellt man
fest, dass es eine Generalklausel geworden ist, um um-
fassende Gestaltungsansprüche mithilfe von Streitkräf-
ten durchsetzen zu können. Deshalb sagen Sie auch an
erster Stelle: Streitkräfte sind zur Sicherung unserer au-
ßenpolitischen Handlungsfähigkeit nötig. – Das steht da
so. Wir haben an der Stelle ein ganz anderes Konzept.
Wir wollen eine friedlich ausgerichtete Außenpolitik, die
tatsächlich auf Entmilitarisierung und Zivilisierung der
internationalen Beziehungen setzt.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1606002100

Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei,

Bündnis 90/Die Grünen.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606002200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch wenn es schon ziemlich oft gesagt wurde und viel-
leicht schon ermüdend wirkt: Dass dieses Weißbuch
nach zwölf Jahren erscheint, ist eindeutig ein Fortschritt.
Also danke, dass es zustande gekommen ist. Dass im
Weißbuch die Bindung deutscher Politik an das Völker-
recht, gemeinsame, umfassende und vorbeugende Si-
cherheitspolitik und ausdrücklich der ressortübergrei-
fende Ansatz betont werden, ist auch richtig. Aber ich
will die ermüdende Tendenz dieser Debatte, die durch so
viel Zustimmung gefördert wird, nicht noch weiter auf
die Spitze treiben und deshalb die Dissenspunkte beim
Namen nennen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Walter Kolbow [SPD]: Die Wahrheit darf man sagen!)


Zunächst zu den Widersprüchen, die schon öfter an-
gesprochen wurden und von denen ich weiß, dass Kolle-
ginnen und Kollegen aus der Koalition ähnlich über sie
denken, ihre Meinung aber unter dem Harmoniedruck
einer Koalition nicht öffentlich sagen können. Zu Recht
bekennt sich die Bundesregierung zur nuklearen
Abrüstung insgesamt. Aber dieses Bekenntnis wird
deutlich dadurch entwertet, dass de facto gesagt wird:
Bitte nicht vor der eigenen Haustür. – Dass nämlich Tor-
nadojagdbomber der Bundeswehr nicht nur weiter für
Atombombeneinsätze zur Verfügung stehen, sondern die
Mannschaften den Einsatz auch üben müssen, ist, so
finde ich, nicht nur ein sicherheitspolitischer Schwach-
sinn, sondern für die Soldaten schlichtweg ethisch unzu-
mutbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das war nur ein Beispiel für die Widersprüche.

Nun aber zu den Lücken. Ein Herzstück des Weiß-
buchs ist, so finde ich, das Kapitel „Die Bundeswehr im
Einsatz“. Hier finden wir eine Skizze der bisherigen
Bundeswehreinsätze, auch – wenn man etwas genauer
hinschaut, sieht man es – mit einigen Unschärfen und
sachlichen Unrichtigkeiten. Aber darauf will ich jetzt gar
nicht eingehen. Es wird in diesem Kapitel vor allem die
zentrale Chance vertan, aus mehr als zehn Jahren Erfah-
rungen mit Auslandseinsätzen im Kontext von deut-
schem und internationalem Krisenengagement Lehren
und Schlussfolgerungen zu ziehen. Die allgemeine
Schlussfolgerung ist bekannt: Transformation der Bun-
deswehr. Nur, nachvollziehbare Lehren existieren nicht.
Denn im Weißbuch werden keine Antworten zum Bei-






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Nachtwei
spiel auf folgende Fragen gegeben – gerade diese stellen
sich die Bürgerinnen und Bürger, die uns zuhören, sicher –:
Warum dauern die Einsätze viel länger, als man es in der
Regel erwartet? Warum ist ein Ausstieg so schwierig?
Was bringen diese Auslandseinsätze?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Weißbuch werden die bekannten Risiken und Be-
drohungen benannt. Es wird aber offen gelassen, bei
welchen dieser Risiken und Bedrohungen das Militär
bzw. die Bundeswehr überhaupt etwas ausrichten kann
und wo nichts. Herr Minister, Sie haben vorhin ein Bei-
spiel gebracht, das zeigt, wie völlig vage die Zuordnung
ist. Was kann die Bundeswehr gegen die Weiterverbrei-
tung von Massenvernichtungswaffen tun? Höchstens
kann das im Rahmen der Abrüstungskontrolle gesche-
hen. Aber ansonsten? Meinen Sie etwa eine Vorstellung,
wie die Amerikaner sie zum Teil haben? Da sage ich:
Bloß nicht. Was kann die Bundeswehr zur Bekämpfung
des Terrorismus beitragen? Nur nachgeordnet, aber in
keiner Weise primär.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)


Wenn wir uns die Realität der Bundeswehr und die
Trends weltweit anschauen, stellt sich die Frage, was vor
allem gefragt ist. Beiträge zur Stabilisierung stehen im
Mittelpunkt; das ist in der Tat eine prioritäre Aufgabe.
Dann stellen sich wiederum ganz konkrete Fragen, auf
die ein Weißbuch Antworten geben muss: Was ist die an-
gemessene Zielebene bei der Stabilisierung bestimmter
Staaten, beim so genannten Nation- und State-Building?
Wir merken es an dem Beispiel Afghanistan. Das Ziel,
den Rechtsstaat und die Demokratie zu fördern, ist zum
Teil sehr weit von der Realität entfernt. Da brauchen wir
ein angemessenes Niveau. Oder wie sieht es konkret mit
der kohärenten Politik aus? Wie sieht es schließlich mit
dem enormen Rückstand der politischen, zivilen und po-
lizeilichen Instrumente bei solchen Stabilisierungsein-
sätzen aus? Dazu gibt es keine Antwort.

Deshalb müssen wir sagen: Gerade auf diese Schlüs-
selfragen aus der Praxis, die die Menschen und die Sol-
daten vor Ort besonders bedrängen, gibt es im Weißbuch
keine Antworten. Da wird man allein gelassen. Das ist
ein zentraler Mangel dieses Weißbuchs.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606002300

Herr Kollege, beachten Sie bitte Ihre Redezeit.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606002400

Ich komme zum Schluss.

Wir haben aber nicht nur Fragen und Kritik zum
Weißbuch, sondern uns gleichzeitig um Antworten in
diesem Bereich bemüht, damit wir in dieser Debatte wei-
terkommen; das Weißbuch soll ja ein Anstoß sein.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die Antworten fallen aber nicht in die Redezeit!)


Deshalb, Herr Minister, kann ich mir erlauben, Ihnen die
Dokumentation unserer Tagung zum Weißbuch und un-
serer Kontroverse darüber, in der einige Antworten ent-
halten sind, direkt zu übergeben.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Dr. Norbert Röttgen [CDU/ CSU])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606002500

Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold, SPD-

Fraktion.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1606002600

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Gerne nutze ich die mir überraschend zur Verfügung ste-
hende Redezeit, um noch ein paar Aspekte zu beleuch-
ten. Es wurde schon gesagt: Wir begrüßen dieses Weiß-
buch, in dem unsere Position und Konzeption in der
Außen- und Sicherheitspolitik beschrieben werden. Der
Wert des Weißbuches ist nicht in erster Linie am ge-
druckten Exemplar zu messen. Sein Wert stellt sich viel-
mehr in einer breiten gesellschaftlichen Debatte und der
Aufmerksamkeit dar, die die deutsche Gesellschaft auf
die Bundeswehr und die nationale Sicherheitspolitik
richten sollte. Wir haben eine große Verantwortung, die-
sen Prozess zu initiieren.

Auch bei uns innerhalb der Koalition gab es natürlich
im Vorfeld Diskussionen. Herr Hoyer, es lohnt sich,
noch einmal daran zu denken – Sie haben diesen Punkt
angesprochen –, wie es vor zwölf Jahren bei der Erstel-
lung des letzten Weißbuches war. Wenn ich mich richtig
erinnere, waren Sie damals Staatsminister im Auswärti-
gen Amt, also in Regierungsverantwortung. Siehe da:
Damals gab es im Vorfeld überhaupt keine Debatte. Ich
sage: Diese Debatte innerhalb der Koalition hat sich
letztlich gelohnt.

Was unter Federführung des Verteidigungsministers
und in Abstimmung mit anderen Ressorts, mit dem Aus-
wärtigen Amt sowie den Ministerien des Innern und der
Justiz und dem Ministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit, vorgelegt wurde, ist am Ende eine wirklich
gute Basis für die weitere Arbeit. Im Weißbuch wird der
Transformationsprozess der Bundeswehr, der bereits von
der letzten Regierung, von Peter Struck, eingeleitet
wurde, in seiner Kontinuität beschrieben.

Wir sollten ehrlich miteinander umgehen. Ich bin
ziemlich sicher: Auch wenn wir hier Konstellationen
hätten, in denen die Grünen oder die FDP an der Regie-
rung beteiligt wären, dieses Weißbuch und die Außen-
und Sicherheitspolitik würden in Wirklichkeit nicht an-
ders aussehen, als es heute der Fall ist.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, doch!)


Zu dieser Diskussion gehört natürlich die Frage: Wie
gehen wir mit der neuen Gefährdung durch den Terro-
rismus im Inneren um? Herr von Klaeden hat ein paar
Sätze dazu gesagt. Natürlich müssen wir weitere Diskus-
sionen darüber führen. Ich sage hier nochmals: Es ist
keine neue Entwicklung, dass wir die Frage der Luft-






(A) (C)



(B) (D)


Rainer Arnold
und Seesicherheit auch in der Verfassung klären wollen.
Das haben wir bereits in der Koalitionsvereinbarung so
dargelegt; darin sind wir uns einig.

In Bezug darauf, ob darüber hinaus etwas geschehen
muss, müssen wir kritisch hinterfragen, ob die Debatte,
die ja von allen Sicherheitspolitikern in der ganzen Welt
geführt wird, immer ganz richtig geführt wird. Ich höre
nämlich keine Rede, bei der nicht an irgendeiner Stelle
gesagt wird, dass der neue Terrorismus dazu führt, dass
jetzt alles miteinander vernetzt ist, dass Äußeres und In-
neres verwischt werden. Ich glaube, dass das falsch ist.
Die Gefährdungen und Dimensionen von Attentaten
können denen kriegerischer Auseinandersetzungen äh-
neln. Daran, ob die Antworten darauf in erster Linie
auch vernetzte militärische sein müssen, habe ich ganz
erhebliche Zweifel.


(Beifall bei der SPD)


Das Weißbuch klärt dies, glaube ich, ziemlich gut, in-
dem es einen erweiterten Sicherheitsbegriff – an die
Linke sage ich: Es ist kein erweiterter Verteidigungsbe-
griff, sondern genau das Gegenteil von dem, was Sie be-
haupten – zugrunde legt. Ich weiß nicht, ob Sie das über-
haupt gelesen haben. Es werden diese Fragen geradezu
entmilitarisiert. Denn es ist von einer vernetzten Politik
aller Akteure und aller Instrumente die Rede, selbstver-
ständlich einschließlich der Diplomatie, der wirtschaftli-
chen Zusammenarbeit, der Polizei, der Nachrichten-
dienste und des Militärs.


(Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Prioritäten!)


Vernetzung bedeutet am Ende aber nicht Verwischung
der Zuständigkeiten. Das würde für uns die Sicherheit
nicht erhöhen. Wir brauchen vielmehr rechtsstaatliche
Regeln, die gewahrt bleiben müssen. Wir brauchen für
uns alle aber auch Transparenz. Deshalb dürfen die
Dinge nicht verwischt werden, sondern müssen vernetzt
werden und die Kommunikation muss gestärkt werden.


(Beifall bei der SPD)


Es ist der richtige Ansatz, den das Weißbuch formuliert.

Herr von Klaeden, wir wünschen uns, alles zu tun, um
für die Menschen in Deutschland Sicherheit zu gewähr-
leisten. Sie haben das Beispiel ABC angesprochen. Ich
bleibe bei der Auffassung, dass es jetzt auch schon mög-
lich ist, dass die Bundeswehr mit ihren Fähigkeiten beim
ABC-Schutz Amtshilfe leistet. Das hat sie übrigens auch
schon getan. Nur, hilft uns dies wirklich, wenn es ein
ernstes Problem gibt? Wenn die ABC-Fähigkeiten nur an
zwei Standorten der Bundeswehr in Deutschland ange-
siedelt sind und wir sie möglicherweise zum Schutz der
Soldaten im Einsatz brauchen, können wir dann wirklich
die Bevölkerung in Deutschland schützen, wenn es ernst
wird? Deshalb, glaube ich, müssen wir uns dem Thema
anders zuwenden. Ich glaube, wir brauchen gerade in
dieser Frage eine sehr stark regionalisierte Verantwor-
tung, möglicherweise auch eine regionalisierte Verant-
wortung der Bundespolizei, die dann bestimmte Fähig-
keiten haben sollte. Natürlich wird die Bundeswehr
Amtshilfe leisten, wenn sie es denn kann. Aber zuerst
muss auch die Polizei diese Fähigkeiten erhalten. Hier-
bei haben wir möglicherweise Diskussionsbedarf, aber
das ist auch nicht schlimm, weil wir das gemeinsame
Ziel des Schutzes der Bevölkerung haben.

Das Weißbuch beschreibt auch die Verantwortung der
Bundeswehr in der Welt. Natürlich werden dafür Maß-
stäbe, nicht Regeln, formuliert. Ich fand es ganz span-
nend, was Herr Gehrcke von den Linken heute gesagt
hat. Damit hat er nämlich klar gemacht hat, dass die
Linke die Bundeswehr eigentlich abschaffen will.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja! – Beifall bei der LINKEN)


Wenn eine Linke, die in ihrer Tradition eigentlich für die
Internationalisierung der Solidarität eintreten und Ver-
antwortung für die Menschen in aller Welt übernehmen
müsste, die Schutz und Hilfe brauchen, sagt, Deutsch-
land soll einen eigenen nationalen Weg gehen, dann
würde sie dieses Land in eine völlige Isolation führen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606002700

Herr Kollege Arnold.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1606002800

Ich komme zum Ende. – Mit links und verantwor-

tungsbewusst hat das selbstverständlich gar nichts zu
tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Als Letztes noch einen Satz: Dieses Weißbuch ist eine
Beschreibung unseres jetzigen Status; wir wollen aber
zügig darangehen, in zwei Bereichen Fortschritte zu ma-
chen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606002900

Herr Kollege, das waren jetzt drei Sätze.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1606003000

Ich komme zum Ende. – Es würde sich auch schon in

dieser Legislaturperiode lohnen, an einem Modul zu ar-
beiten, das die Evaluation der internationalen Krisenbe-
wältigung stärker erfasst.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606003100

Das Wort hat der Kollege Winkelmeier.


Gert Winkelmeier (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606003200

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Wir sprechen heute über das neue Weißbuch zur Sicher-
heit Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr.
Herr Minister, zu Ihrer Informationspolitik stelle ich
fest: Dieses Werk wurde zwar erst gestern Nachmittag
verteilt, aber bereits heute muss eine detaillierte Mei-
nung zu diesem 176-seitigen Buch formuliert werden.

Inoffiziell konnte man sich die jetzige Version von
der Homepage der Zeitschrift „Die Zeit“ herunterladen,






(A) (C)



(B) (D)


Gert Winkelmeier
deren Beschäftigten ich auf diesem Wege recht herzlich
danken möchte. Dem Verteidigungsminister muss ich
leider sagen, dass seine Informationspolitik schlecht ist.
Er teilt Abgeordnete in zwei Gruppen ein: in Koalitions-
abgeordnete, die den Entwurf frühzeitig erhalten haben,
und Oppositionsabgeordnete, die diesen Entwurf nicht
frühzeitig erhalten haben.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ich habe es sehr zu meinem Ärger auch nicht früher bekommen!)


Das ist inakzeptabel und widerspricht der Würde dieses
Hauses.

Ein nicht mehr hinterfragter Satz im Weißbuch lautet,
dass dem vereinigten Deutschland eine wichtige Rolle
für die Gestaltung Europas und darüber hinaus zufällt.
Die Antworten, die dann gegeben werden, sind aus-
schließlich militärischer Art. Anfang der 90er-Jahre
wurde noch von der Friedensdividende, also von Abrüs-
tung, gesprochen. Seit diesem Jahrzehnt wird gegen den
internationalen Terrorismus gekämpft. Die Ausgangsbe-
hauptung ist, dass sich Deutschland im permanenten
weltweiten Verteidigungsfall befindet. Die Ökonomen
wissen, dass gerade die Rüstungskonzerne diese Be-
drohung so dringend brauchen wie Vampire das Blut an-
derer Menschen; denn nur die Bedrohung bringt ständig
neue Rüstungsaufträge. Laut Weißbuch strebt die Bun-
deswehr eine Kompatibilität mit der US-Armee an, da-
mit eine weltweite Führungsrolle auch weiterhin gesi-
chert wird. Gute Geschäfte für die Rüstungsindustrie
sind dadurch vorprogrammiert.

Entsprechend wird die Sprache gestaltet – Zitat –:

Die Struktur der Bundeswehr wird konsequent auf
Einsätze ausgerichtet.

Daher wird die Bundeswehr in drei Gruppen eingeteilt:
in Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte.
Früher, als die Sprache noch klarer war, hätte man von
Kampftruppen, Besatzungstruppen und Hilfs- und Hei-
mattruppen gesprochen. Überhaupt fällt auf, dass das
Wort „Krieg“ in diesem Buch nicht vorkommt. Durch-
gängig wird von Frieden gesprochen. Es geht um
friedenserzwingende Maßnahmen und friedensstabilisie-
rende Operationen, um Transformationen ganzer Staa-
ten, entweder mit oder gegen deren Willen. Wir wissen
aber sehr genau, dass bereits ein robustes Mandat für ei-
nen Kriegseinsatz steht. Es gibt in diesem Buch also
durchgängig eine verschleiernde Sprache.

Im Weißbuch wird richtig festgestellt, dass die Wei-
terverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer
Trägermittel die größte Bedrohung der globalen Sicher-
heit darstellt. Die Konsequenz, die daraus gezogen wird,
ist aber nicht, weltweit politisch für atomwaffenfreie Zo-
nen einzutreten. Nein, es werden mehr Finanzen für Rüs-
tungsgüter gefordert und es müssen Waffen sein, die das
logistische Problem und die Kampfkraft der Bundeswehr
in den Einsatzgebieten erhöhen. Deshalb wird eine na-
tionale Zielvorgabe formuliert, dass gleichzeitig bis zu
14 000 Soldaten in bis zu fünf Einsatzgebieten kämpfen
können. Die internationale Gemeinschaft wird die Bun-
deswehr verstärkt als kämpfende Armee erleben. Das
wird unser Ansehen in der Welt nicht erhöhen; denn mit
Krieg werden keine Probleme gelöst, sondern es werden
immer neue geschaffen.

Nehmen wir Afghanistan. Nach über fünf Jahren
Einsatz muss die Regierung heute feststellen, dass kei-
nes ihrer beiden Kriegsziele, nämlich den Terrorismus
im Lande auszurotten und den Menschen eine bessere
wirtschaftliche Perspektive zu geben, erreicht worden
ist. Stattdessen gibt es dort eine immer bedrohlichere
Lage. Deutsche Soldaten werden als Besatzungstruppen
empfunden – seit gestern auch als Leichenschänder, was
wir alle verurteilen. Das Talibanregime erhält großen
Zulauf und die Drogenanbaufläche wächst auf Rekord-
niveau.

Diese Bilanz lässt die Regierung nicht darüber nach-
denken, den Schwerpunkt auf zivile Konfliktlösung zu
setzen. Nein, das Verhaltensstrickmuster des Weißbu-
ches gibt vor, dass die Luftwaffe ihre Fähigkeiten in und
aus der Luft zur Wirkung bringen soll. Dabei wird aus-
drücklich betont, dass dies auch den Weltraum ein-
schließt. Mit dieser auf Seite 127 formulierten Forde-
rung handelt die Regierung gegen alle UN-Resolutionen,
die sich mit der Verhütung eines Wettrüstens im Welt-
raum beschäftigt haben. Diesen Resolutionen hat auch
die Bundesregierung zugestimmt.

Als Fazit der Lektüre des Weißbuches kann ich nur
sagen: Es ist ein Irrweg für Deutschland, die militärische
Verantwortung für die ganze Welt zu formulieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606003300

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Dr. Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1606003400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als letz-

ter Redner in dieser Debatte sei auch mir gestattet, die
drei Besonderheiten dieses Weißbuchs noch einmal zu-
sammenzufassen:

Erstens. Nach vielen Jahren der Abstinenz wurde die
Arbeit gleich im ersten Jahr von der neuen Koalition an-
gepackt und erledigt.

Zweitens. Im Vergleich zum letzten Weißbuch vom
Anfang der 90er-Jahre haben wir es mit einem völlig an-
deren sicherheitspolitischen Umfeld zu tun.

Drittens. Es wurde zum ersten Mal der Versuch unter-
nommen, einen umfassenden Sicherheitsbegriff in einem
Weißbuch festzuschreiben, und zwar vor dem Hinter-
grund der eigenen deutschen Interessen.

Ich kann die Einlassungen mancher Vorredner nicht
verstehen, die offensichtlich ein fix und fertiges Lexikon
zur neuen Sicherheitslage erwartet haben. Nein, das
Weißbuch soll Anstöße für Diskussionen auch im Parla-
ment geben. Herr Hoyer, wir werden eine Chance ver-
passen, wenn wir diese Anstöße nicht aufnehmen und






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Christian Ruck
wenn wir die Arbeit, zu der im Weißbuch angeregt wird,
in der Diskussion nicht fortführen. Die Bundeswehr ist
ja eine Parlamentsarmee.

Lassen Sie mich in den paar Minuten Redezeit, die
mir zur Verfügung stehen, auf den Aspekt der Vernet-
zung und Verzahnung eingehen, der zum Teil schon
angesprochen wurde. Es ist zu Recht schon ausgeführt
worden, dass der Ost-West-Konflikt für uns keine Be-
drohung mehr darstellt, aber eine Vielzahl von Konflik-
ten und Spannungen aus anderen Ländern und Kontinen-
ten, die früher weit weg zu sein schienen, unser Land
bedrohen, dass die Abhängigkeiten Deutschlands von
Problemen und Konflikten in Entwicklungs-, Schwellen-
und Transformationsländern viel größer geworden sind
und dass gleichzeitig die Abschirmungsmöglichkeiten
durch rein militärische Maßnahmen im eigenen Land ge-
ringer geworden sind.

Kriegs- und Krisenschauplätze im Nahen und Mittle-
ren Osten, in Asien, auf dem Balkan, in Afrika und
ebenso in Lateinamerika bringen es mit sich, dass die
dortigen Probleme immer stärker auch auf uns in Form
von Flüchtlingsströmen, Kriminalität, Drogen, der Be-
drohung der Rohstoffversorgung, aber auch in Form von
einer möglicherweise verheerenden Kombination aus
Terrorismus und Massenvernichtung durchschlagen. Das
sind eben nicht nur die Konflikte dieser Länder, sondern
sie gefährden auch unsere eigene Sicherheit und Stabili-
tät. Das beschreibt das Weißbuch als Maßstab für unser
Handeln in sehr eindringlicher Weise.

Die Antwort ist völlig zu Recht ein umfassender Si-
cherheitsbegriff, der in bisher noch nie gekannter Art
und Weise die enge Zusammenarbeit aller sicherheitsre-
levanten Bereiche der Politik notwendig macht. Natür-
lich geht es auch um die Frage einer besseren Befähi-
gung der Bundeswehr in finanzieller, organisatorischer
und technischer Hinsicht. Das ist ein ganz entscheiden-
der Punkt. Ein anderer entscheidender Punkt für mich
ist, dass die allgemeine Wehrpflicht betont und heraus-
gestellt wird. Gleiches gilt für die völlig neue Verzah-
nung von innerer und äußerer Sicherheit.

Mir geht es besonders um die ebenfalls angespro-
chene neue Verzahnung von Außen-, Sicherheits- und
Entwicklungspolitik. Auf dem Balkan, in Afghanistan,
im Kongo und im Libanon hat die Bundeswehr zusam-
men mit ihren Partnern dazu beigetragen, dass es eine
Chance auf dauerhaften Frieden gibt, was auch im deut-
schen Interesse liegt. Ob diese Chance genutzt werden
kann, hängt in hohem Maße davon ab, ob die außenpoli-
tischen Rahmenbedingungen richtig gesetzt sind und ob
es gelingt, mit entwicklungspolitischen Maßnahmen
Staaten wiederaufzubauen, zu stabilisieren oder auch
durch Modernisierung weniger gefährlich zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Verzahnung enger und lückenloser zu machen,
ist eine Aufgabe, die sich aus dem Weißbuch ergibt. Die
Bundeswehr soll an keinem Ort außerhalb Deutschlands
für immer bleiben. Es ist wichtig, dass der politische
Zweck und das politische Ziel eines Bundeswehreinsat-
zes so rasch und so treffsicher wie möglich erreicht wer-
den. Zweck ist immer die Stabilisierung einer friedlichen
Entwicklung des betreffenden Landes. Die beste Exit-
Strategie für die Bundeswehr besteht deswegen aus trag-
fähigen außenpolitischen Konzepten, die in sich nicht
den Keim für Zerfall und neuen Bürgerkrieg tragen, so-
wie einer raschen und treffsicheren Umsetzung des ent-
wicklungspolitischen Anschlussauftrags. Das ist etwas,
um das wir uns täglich und auch in der Zukunft bemühen
müssen. Ich denke zum Beispiel an eine Verbesserung
und eventuelle Neujustierung des Daytonabkommens für
den Balkan.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ein wichtiger Teilbereich – das hat unser Ausschuss in
dieser Woche in einer Anhörung auch besprochen – ist
natürlich die zivil-militärische Zusammenarbeit im en-
geren Sinne, der nahtlose Übergang zwischen Frieden
schaffenden militärischen Maßnahmen und dem raschen
Aufbau bzw. Wiederaufbau staatlicher Strukturen, dem
Durchsetzen des staatlichen Gewaltmonopols, der De-
mobilisierung von Milizen und der raschen Errichtung
von Zivilbauten. Wir haben dazu, aus der Not geboren,
erste Erfahrungen mit dem Schnittstellenmanagement
– zivile und militärische Akteure handeln hier – bei den
Provincial-Reconstruction-Teams in Afghanistan ge-
macht. Das ist ein Experiment. Da gibt es natürlich noch
das eine oder andere zu verbessern – das ist völlig klar –,
aber ich glaube, dass gerade die Art und Weise, in der
Deutschland dieses Experiment angegangen ist, zum Er-
folg führt, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass
zum Beispiel die bedrängten Kanadier uns bitten, unsere
Art und Weise, mit den Problemen umzugehen, auch in
Kandahar fortzuführen, zumindest Rat zu geben.

Ich halte allerdings Folgendes für richtig: Bei einer
solch komplizierten multidimensionalen Lage wie in Af-
ghanistan sollte man möglichst dazu kommen, dass bei
den Provincial-Reconstruction-Teams alle Beteiligten
nach der grundlegend gleichen Philosophie vorgehen;
sonst wird der Erfolg unserer Arbeit gefährdet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich möchte aufgrund der fortgeschrittenen Zeit nur
noch zwei andere Baustellen ansprechen, die mir eben-
falls wichtig sind. Die eine Baustelle ist: Verbesserung
der Frieden sichernden und Frieden schaffenden UNO-
Einsätze allgemein. Wir sind einer der größten Zahler
dieser Einsätze und haben schon aus diesem Grund ein
erhebliches Eigeninteresse daran, dass diese UN-Missio-
nen treffsicherer und professioneller als bisher durchge-
führt werden. Das hat übrigens auch etwas mit unserer
eigenen Personalpolitik an dieser Stelle zu tun.

Wir müssen in unserem eigenen Interesse auch einen
wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Bemühungen
zum Beispiel der Afrikaner oder von Teilen Afrikas, ei-
gene Friedensmissionen aufzustellen und zum Erfolg zu
führen – ich denke etwa an Darfur –, gelingen, indem
wir da logistisch, personell und vielleicht auch mit Be-
waffnung unterstützen.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606003500

Herr Kollege, Sie müssen Ihre zweite Baustelle jetzt

beenden.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1606003600

Jawohl. – Damit bin ich zu meinem letzten Satz ge-

zwungen, der noch einmal zur Entwicklungspolitik zu-
rückführt. In der heutigen Debatte wurde von verschie-
denen Rednern angesprochen – dafür bin ich dankbar –,
dass eine der wichtigsten sicherheitspolitischen Maßnah-
men im Vorfeld eine treffsichere und international besser
abgestimmte Politik der Entwicklung ist, die dann, ge-
nau wie die anderen außenpolitischen Bereiche, quanti-
tativ und qualitativ besser ausgestattet werden muss.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606003700

Ich schließe die Aussprache.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:

5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thea
Dückert, Brigitte Pothmer, Volker Beck (Köln),
Fritz Kuhn und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN

Zukunft der Arbeit gestalten statt Arbeitslo-
sigkeit verwalten

– Drucksache 16/2792 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Arbeit Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für
weitere Beitragssenkungen verwenden

– Drucksache 16/3091 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Arbeit Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606003800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die große Koalition ist auf dem besten Wege, zukünftige
Beschäftigungschancen für Deutschland zu vertun.


(Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt! Da hat sie Recht! – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das müssen Sie gerade sagen!)

Keines unserer Nachbarländer hat eine so hohe Arbeits-
losenquote wie wir.


(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Ach, jetzt neuerdings?)


Keines unserer Nachbarländer hat eine so niedrige Er-
werbsquote von Frauen wie Deutschland.


(Dirk Niebel [FDP]: Von Älteren!)


Keines unserer Nachbarländer vertut die Beschäfti-
gungschancen, die zum Beispiel von einer höheren Er-
werbsquote von Frauen ausgehen, so wie Deutschland.
In keinem unserer Nachbarländer ist die durchschnittli-
che Dauer der Arbeitslosigkeit so hoch wie in Deutsch-
land.


(Dirk Niebel [FDP]: Die Analyse stimmt voll und ganz!)


Das Schlimmste ist die hohe Langzeitarbeitslosig-
keit in Deutschland, weil sie der Stoff ist, aus dem Angst
und die Ausgrenzung, die Exklusion, weiter Bevölke-
rungsschichten gemacht sind. Wir haben unseren Antrag
eingebracht, um diesem strukturellen Problem am Ar-
beitsmarkt zu Leibe zu rücken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ist das die Rede, die Sie letztes Jahr in der Koalition nicht halten durften?)


Fakt ist, dass wir positive Wachstumsraten haben. Und
das ist gut so. Fakt ist aber auch, dass bei sinkender Ar-
beitslosigkeit die Zahl der Langzeitarbeitslosen in
Deutschland gestiegen ist. Wir haben im September die-
ses Jahres im Vergleich zum Vorjahr 100 000 Langzeit-
arbeitslose mehr. Auch im Wachstum besteht eine Be-
schäftigungsbarriere.

In dieser Situation hat die Bundesregierung nichts
Besseres zu tun, als eine Mehrwertsteuererhöhung um
drei Prozentpunkte zum 1. Januar 2007 anzukündigen.


(Dirk Niebel [FDP]: Pfui!)


Alle Wirtschaftsinstitute haben bestätigt, dass das Wachs-
tum dadurch gefährdet wird und von 2,4 Prozent auf
1,4 Prozent sinken kann. Sie sprechen – gestern im Wirt-
schaftsausschuss war das auch der Fall – von einer Delle,
die zu erwarten sei. Ich sage Ihnen: Das ist keine Delle,
sondern eine Katastrophe für diejenigen, die schon bei
dem Wachstum, das wir heute haben, nicht in den Ar-
beitsmarkt kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese Mehrwertsteuererhöhung ist Gift für den Arbeits-
markt. Ich sage Ihnen: Nehmen Sie sie zurück!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Die Steuereinnahmen sprudeln.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Wollen Sie uns wegen der steigenden Steuereinnahmen einen Vorwurf machen?)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Thea Dückert
Nehmen Sie also die Steuererhöhung zurück oder neh-
men Sie sie zumindest in Schritten vor, sodass sie nicht
konjunkturgefährdend ist.

Tun Sie alles, was möglich ist, um die Lohnnebenkos-
ten zu senken; denn – Sie wissen das selbst – sie stellen
eine erhebliche Beschäftigungsbarriere in Deutschland
dar. Gestalten Sie es so aus, dass die Lohnnebenkosten
dort am stärksten sinken, wo es besonders beschäfti-
gungswirksam ist, nämlich bei den kleineren Einkom-
men, bei den Geringqualifizierten. Das schlagen wir Ih-
nen in unserem Antrag vor.

Wir haben ein Progressivmodell entwickelt, das eine
ganz einfache Logik hat: bei kleinen Einkommen kleine
Abgaben, bei großen Einkommen höhere Abgaben. In
Deutschland sind nämlich nicht die Lohnkosten, sondern
die Lohnnebenkosten das Problem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt erhebliche Beschäftigungslücken, zum Bei-
spiel im Dienstleistungsbereich. Die anderen Länder
sind da weiter. Wir haben Lücken im Bereich der Ge-
sundheitswirtschaft. Prognos bestätigt uns, dass dort
660 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden
können. Es gibt Beschäftigungslücken in den Bereichen
Wellness, Fitness und im Gesundheitswesen, aber auch
bei den hoch qualifizierten Dienstleistungen. Da schlum-
mern Beschäftigungspotenziale von bis zu 2 Millionen
Arbeitsplätzen. Was machen Sie? Sie bauen Barrieren
für Hochqualifizierte auf, obwohl ein Facharbeiterman-
gel bevorsteht. In Deutschland gibt es einen Braindrain:
Die qualifizierten jungen Menschen wandern ab. Sie
aber ziehen die Barrieren noch höher.


(Dirk Niebel [FDP]: Aber ihr habt auch sieben Jahre lang falsche Gesetze gemacht!)


So kann das nicht weitergehen. Ich frage Sie: Wo sind
Ihre Konzepte, wie für Geringqualifizierte, Hochqualifi-
zierte und Frauen in Deutschland eine höhere Beschäfti-
gung erreicht werden kann? Ich sehe keine Konzepte.
Sie haben Arbeitsgruppen, aber Ihnen fehlt die gemein-
same Linie. Das ist ungefähr wie in einem Hühnerstall;
da ist die Geschlossenheit allerdings größer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei den Hühnern gibt es Hierarchien?)


Für mehr Arbeit zu sorgen, ist machbar, wenn die
Rahmenbedingungen stimmen. Wir müssen gleichzeitig
Brücken für diejenigen, die außerhalb des Arbeitsmark-
tes stehen, bauen; wir müssen Eigeninitiative fördern.

Wir haben es in der letzten Zeit gehört: Kurt Beck be-
klagt den fehlenden Aufstiegswillen. Gut. Aber was
machen Sie gleichzeitig? Sie kürzen und streichen Mög-
lichkeiten, zum Beispiel bei der Förderung von Exis-
tenzgründerinnen und -gründern. Ich will Ihnen ein Bei-
spiel nennen: Im letzten Monat des Bestehens der alten
Regelung zur Ich-AG sind noch 26 000 neue Existenz-
gründungen in Eigeninitiative aus der Arbeitslosigkeit
heraus erfolgt. Nach dem Streichen der Ich-AG im ers-
ten Monat der neuen Regelung waren es noch 3 700.
Meine Damen und Herren, Sie behindern die Eigen-
initiative von Langzeitarbeitslosen, von Arbeitslosen,
die in den Arbeitsmarkt hineinwollen, besonders von
Frauen und vielen Arbeitslosen im Osten Deutschlands.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sagen, Arbeit soll belohnt werden. Gut! Aber wen
meinen Sie damit? Ich habe den Eindruck, dass Herr
Beck, der in den letzten Tagen wieder stark mit der FDP
liebäugelt, Arbeit für Gutverdienende meint. Denn sonst
erklären Sie, beispielsweise Herr Brandner, mir einmal,
wie es kommen kann, dass Sie die Zuverdienstmöglich-
keiten für diejenigen, die kleine Einkommen haben, so
gnadenlos wegrasieren wollen, wie Sie es in Ihrer Kon-
zeption geplant haben. Diejenigen, die versuchen, aus ei-
gener Kraft Schritt für Schritt in den Arbeitsmarkt hi-
neinzukommen, müssen bei Ihnen mit Sanktionen und
der Streichung von Möglichkeiten rechnen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606003900

Frau Kollegin, Sie reden jetzt auf Kosten Ihrer nach-

folgenden Kollegen.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606004000

Ich komme deswegen zum Schluss. – Die Liste der

Verfehlungen der Bundesregierung in diesem Bereich ist
lang. Ich sage Ihnen noch einmal: Nehmen Sie die ge-
plante Erhöhung der Mehrwertsteuer zurück und senken
Sie die Lohnnebenkosten bei kleinen Einkommen!
Bauen Sie die Barrieren für Hochqualifizierte ab! Setzen
Sie auf Selbstständigkeit! Wenn Sie das nicht machen,
meine Damen und Herren, wird Deutschland im europäi-
schen Kontext weiterhin Schlusslicht bleiben. Das haben
die Arbeitslosen hier nicht verdient.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606004100

Das Wort zur Geschäftsordnung gebe ich dem Kolle-

gen Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606004200

Meine Damen und Herren, ich hatte bereits die Koali-

tion gebeten, dafür zu sorgen, dass der Arbeitsminister
bei einer solchen Debatte anwesend ist. Jetzt besetzen
die Staatssekretäre, die auch Mitglieder des Hauses sind,
die leeren Reihen der Koalition. Trotzdem glaube ich,
dass die Opposition gegenwärtig über eine Mehrheit ver-
fügt. Wir stellen den Antrag, den Wirtschafts- und den
Arbeitsminister herbeizuzitieren, damit diese Debatte
die Bedeutung erhält, die sie verdient.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Ernstberger (SPD):
Rede ID: ID1606004300

Herr Kollege Beck, das ist wieder eines Ihrer Spiele,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Das ist doch kein Spiel!)







(A) (C)



(B) (D)


Petra Ernstberger
mit denen Sie versuchen, die Arbeit im Parlament aufzu-
halten. Der Staatssekretär des Arbeitsministeriums ist
anwesend.


(Dirk Niebel [FDP]: Abstimmen!)


Außerdem sind die Mehrheiten in diesem Hause eindeu-
tig; das bestätigen auch die Schriftführer. Die Mehrhei-
ten sind so, wie sie dem Parlament entsprechen.


(Dirk Niebel [FDP]: Das kann man doch ganz leicht überprüfen, wenn man abstimmt!)


– Dann machen wir einen Hammelsprung.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606004400

Herr Kollege Röttgen, bitte.


Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1606004500

Ich möchte für unsere Fraktion zu dem Antrag spre-

chen und ihm widersprechen. Wir sind in einer Debatte
und wir wollen zu dem Thema der Debatte Stellung be-
ziehen. Die Bundesregierung ist vertreten; der zustän-
dige Parlamentarische Staatssekretär ist bei dieser De-
batte anwesend,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Wozu bezahlen wir den Minister?)


ebenso andere Mitglieder der Bundesregierung.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Moment nicht!)


Wir sollten dieses Thema in angemessener Weise be-
handeln. In diesem Zusammenhang möchte ich einen
Hinweis geben. Es geht auch darum, wie wir Parlamen-
tarier uns bei den Debatten benehmen. Angesichts der
Tatsache, dass es um ein Kernthema dieser Gesellschaft
geht – wir reden jetzt darüber, wie die Bedingungen für
die Schaffung von Arbeitsplätzen aussehen –,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne einen Bundesminister! – Dirk Niebel [FDP]: Zeitschinder!)


stellt sich die Frage, ob die Opposition aus Mangel an
politischen Inhalten zunehmend zu einer Klamauk- und
Taktikopposition wird


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


oder ob sie etwas zur Sache beizutragen hat. Wer zur Sa-
che etwas beizutragen hat, braucht keinen taktischen Ge-
schäftsordnungsklamauk zu veranstalten.

Da Ihre Fraktionsvorsitzende Künast erst jetzt wieder
in den Saal getreten ist, möchte ich Folgendes beanstan-
den:


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich saß die ganze Zeit da vorne!)


Wir haben erlebt, dass die Fraktionsvorsitzende der Grü-
nen heute Morgen einen Debattenbeitrag ebenfalls zu ei-
nem Kernthema, nämlich zur Verteidigungspolitik, ge-
macht hat und anschließend den Saal verlassen hat.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)

Sie war also nicht bereit, an der Debatte weiter teilzu-
nehmen. Dieses parlamentarische Verhalten können wir
nicht akzeptieren.


(Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/ CSU])


Benehmen Sie sich im Parlament erst einmal demo-
kratisch! Dann können Sie solche Anträge stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606004600

Wir kommen zur Abstimmung über den Geschäfts-

ordnungsantrag des Kollegen Beck. Wer diesem Antrag
folgen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Ge-
genprobe! – Letzteres war die Mehrheit. Deshalb ist der
Geschäftsordnungsantrag abgelehnt.

Ich gebe das Wort dem Kollegen Wolfgang
Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1606004700

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-

leginnen und Kollegen! Der Heckmeck, den Herr Beck
hier gerade veranstaltet hat, ist nicht unbedingt dazu ge-
eignet, zu einer sachlichen Debatte zu kommen.


(Unruhe beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Vielleicht beruhigen Sie von den Grünen sich etwas.
Diejenigen von Ihnen, die hierher gekommen sind, um
für eine Mehrheit zu sorgen, können wieder gehen. Sie
haben verloren.


(Beifall des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ CSU])


Wir reden heute über den Antrag der Grünen und der
FDP zur Arbeitsmarktpolitik. Frau Dückert, die von Ih-
nen vorgetragenen Zahlen beim Vergleich mit den Nach-
barländern stimmen. Aber dass Sie so tun, als wären Sie
die letzten 18 Jahre in der Opposition gewesen, ist nicht
nachvollziehbar. Sie waren – und das bis zum letzten
Jahr – über sieben Jahre an der Regierung beteiligt. Ei-
nen Teil der jetzigen Probleme Deutschlands haben Sie
mit verschuldet. Das ist die Wahrheit. Auch darüber
muss man an dieser Stelle reden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie reden in Ihrem Antrag von Stillstand und fordern
die Bundesregierung auf, umgehend gesetzgeberische
Maßnahmen zu ergreifen. Das ist angesichts der verän-
derten Lage in Deutschland, der positiven Trendwende,
an Dreistigkeit kaum noch zu überbieten.

Lassen Sie mich die positive Entwicklung darstellen.
Auch das gehört dazu. Auf dem Arbeitsmarkt und beim
Wirtschaftswachstum gibt es positive Tendenzen. Die
Trendwende ist gelungen. Die Arbeitslosigkeit sinkt seit
einem Jahr. Im Vergleich zum Vorjahr haben wir
400 000 Arbeitslose weniger. Das hat auch etwas mit der
neuen Regierung zu tun. Die Zahl der sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten ist im Vergleich zum Vor-
jahr um fast 200 000 angestiegen.






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Meckelburg

(Unruhe beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Vielleicht sollte die Sitzung unterbrochen werden, bis
Sie sich beruhigt haben. Frau Dückert, ich wollte über
Ihren Antrag reden. Wir sollten zu einer gemeinschaftli-
chen Debatte zurückkehren.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht so zickig! – Heiterkeit bei der FDP)


– Ich bin nicht zickig. Aber wer so profiliert wie Sie,
Frau Künast, gerade hier aufgetreten ist, der muss sich
auch Kritik gefallen lassen. Auch das gehört zum Parla-
mentarismus.

Wie gesagt: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten ist um 200 000 gestiegen. In diesem Be-
reich sind unter Ihrer Mitwirkung in den letzten Jahren
Ihrer Regierung, Frau Dückert, täglich 1 000 sozialversi-
cherungspflichtige Arbeitsplätze verloren gegangen. Die
heutige positive Entwicklung bedeutet nicht nur, dass
Menschen aus der Arbeitslosigkeit herauskommen, son-
dern auch, dass wir eine Trendwende bei den Steuerein-
nahmen und Sozialabgaben erreicht haben. Auch das
sind, gerade im ersten Arbeitsmarkt, wichtige Beiträge.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben 105 000 offene Stellen. Auch das ist ein
Anzeichen für eine Trendwende. All das hat – sicherlich
nicht nur, aber auch – mit der neuen Bundesregierung zu
tun.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Das ist mir unerklärlich!)


– Herr Niebel, wenn Sie beteiligt wären,


(Dirk Niebel [FDP]: Dann wäre es gut in diesem Land!)


würden Sie das anders sehen. Ich weiß, wie Sie reden
können.

Zum Herbstgutachten. In den letzten Tagen, sechs
Monate nach Vorlage des Frühjahrsgutachtens, haben die
Wirtschaftsweisen ihre Prognose für das Wirtschafts-
wachstum 2006 um 0,5 Prozentpunkte auf 2,3 Prozent
erhöht. Für 2007 – Sie, Frau Dückert, sprachen von einer
Delle – wird jetzt ein Wirtschaftswachstum von immer-
hin 1,4 Prozent prognostiziert. Es besteht Hoffnung, dass
2007 tatsächlich nur eine Delle sein wird und dass das
Wirtschaftswachstum eine durchtragende Wirkung hat.
Auch das zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Pfeifen im Walde!)


– Nein, das ist das Wirtschaftsgutachten.

Laut Gutachten wird die Arbeitslosenquote im Ver-
gleich zwischen 2005 und 2007 von 11,2 Prozent auf
9,9 Prozent sinken. Jetzt liegt sie bei 10,2 Prozent. Auch
das ist eine positive Tendenz, die darauf schließen lässt,
dass es in diesem Bereich vorangehen wird.

Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie wis-
sen, dass wir zurzeit in einer Arbeitsgruppe der Koali-
tion über Arbeitsmarktpolitik reden.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der Hühnerstall, von dem ich sprach!)


Die Arbeitsgruppe ist ergebnisoffen. Wir haben Experten
angehört. Wir befinden uns noch im Entscheidungsfin-
dungsprozess. Wir werden über die Aussagen der Exper-
ten debattieren und zu Entscheidungen kommen. Darauf
können Sie sich verlassen. Wir reden zum Beispiel über
die Themen, die hier angesprochen wurden: Mindest-
lohn, Kombilohn, Effizienz von Maßnahmen nach dem
SGB II, dritter Arbeitsmarkt.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden!)


– Nein, wir werden zu Taten kommen. Darin unterschei-
den wir uns vielleicht von Ihnen. Ein paar gute Taten
habe ich Ihnen eben schon genannt. – Bei der Arbeits-
marktpolitik sind wir voll im Plan. Unsere Absicht, die
unwahrscheinlich vielen Maßnahmen zur Eingliederung
zu bündeln, wird im Rahmen der Evaluierung verwirk-
licht.

Heute stehen vor allem zwei Themenfelder im Vor-
dergrund – an diesen Punkten müssen wir noch richtig
viel arbeiten –: die hohe Arbeitslosigkeit von Geringqua-
lifizierten und die Langzeitarbeitslosigkeit. Frau
Dückert, ein Vergleich mit dem Ausland reicht nicht aus.
Ich darf daran erinnern, dass der Ausschuss in der Zeit
vor der Hartz-Gesetzgebung, die Sie in Ihrer Regie-
rungszeit vollzogen haben, England besucht hat. Dort
haben wir uns über die dortigen Methoden informieren
lassen. Sie haben ein bisschen Ähnlichkeit mit der
Hartz-Gesetzgebung. England hat nur deswegen 5 Pro-
zent Arbeitslose – das zur Argumentation mit Verglei-
chen –, weil man eine Kehrtwendung vollzogen hat:
Man hat diejenigen, die nicht oder nur ganz schwer ver-
mittelbar sind, aus dieser Statistik herausgenommen, sie
sozusagen unter ständige Abwesenheit vom Arbeits-
markt gestellt. In England sind das inzwischen über
2 Millionen Menschen. Es ist klar, dass die Arbeitslosen-
quote in England geringer ist, weil die Langzeitarbeitslo-
sen nicht mitgezählt werden.

Ich will ein paar Worte über den Antrag der FDP
verlieren.


(Dirk Niebel [FDP]: Das habe ich erwartet!)


– Das ist der „eingesprungene doppelte Niebel“. Wir de-
battieren heute zum x-ten Mal darüber. – Sie versuchen,
die Mehrwertsteuer wieder zum Thema zu machen, sie
populistisch zu nutzen. Der Ansatz Ihrer Forderung ist
im Grunde völlig klar.

Diese Koalition hat beschlossen,


(Dirk Niebel [FDP]: Die höchste Steuererhöhung!)


den Arbeitslosenversicherungsbeitrag um 2 Prozent-
punkte, von 6,5 auf 4,5 Prozent, abzusenken. Einen sol-
chen Durchbruch hat es in der ganzen Zeit zuvor nicht
gegeben.






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Meckelburg

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dafür erhöht Ihr die Rentenund die Krankenversicherungsbeiträge!)


Die Bundesagentur für Arbeit hat einen höheren
Überschuss als erwartet erwirtschaftet. Daher diskutie-
ren wir aktuell über die Frage, ob es möglich ist, den
Beitrag über die 4,5 Prozent hinaus vielleicht auf
4,2 Prozent oder mehr zu senken. Wir werden das nicht
mit Ihrem Antrag umsetzen,


(Dirk Niebel [FDP]: Da geben wir euch eine Chance, das auf den Weg zu bringen!)


weil er zwei Fehler hat:


(Dirk Niebel [FDP]: Dass er von uns kommt!)


– Das gar nicht mal. – Erstens. Aus meiner Sicht kommt
er heute ein paar Tage zu früh, weil man einige Zahlen
abwarten sollte.


(Dirk Niebel [FDP]: Nenne doch einmal eine!)


Ich möchte wirklich – damit das klar ist –, dass wir zu ei-
ner Absenkung kommen. Ich möchte auch, dass wir jede
Chance nutzen, den Beitrag darüber hinaus weiter zu
senken. Ich möchte aber vermeiden, dass wir in den
nächsten Monaten und Jahren einen Zickzackkurs fah-
ren.


(Dirk Niebel [FDP]: Deswegen haben wir noch nicht einmal eine Größenordnung hineingeschrieben!)


– Das ist klar. Das ist leicht begründbar.

Sie machen noch einen zweiten Fehler. Herr Niebel,
da Sie gleich im Anschluss sprechen, bitte ich Sie: Er-
klären Sie mir einmal, wie die FDP eine Senkung des
Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um 2 Pro-
zentpunkte oder sogar in noch größerem Umfang reali-
sieren will,


(Dirk Niebel [FDP]: Problemlos!)


ohne die Einnahmen aus 1 Prozentpunkt der Mehrwert-
steuererhöhung zu verwenden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist nicht schwer! – Dirk Niebel [FDP]: Das haben wir schon letztes Jahr nachgewiesen!)


– Sie wollen eine Senkung des Beitragssatzes zur Ar-
beitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte und mehr.
Eine Senkung des Beitragssatzes um 2 Prozentpunkte
entspricht einem Betrag von 14,4 Milliarden Euro.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau! Das ist richtig! – Klaus Brandner [SPD]: Ja, netto!)


Wir wissen, dass der Überschuss der Bundesagentur
für Arbeit zurzeit 9,6 Milliarden Euro beträgt. Vielleicht
werden es sogar 12 Milliarden Euro.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 9,6 Milliarden Euro, das war gestern! – Dirk Niebel [FDP]: Es sind schon heute 12 Milliarden Euro! Bald ist es quasi fünf nach zwölf!)

Erklären Sie mir, wie Sie einen Betrag von 14,4 Milliar-
den Euro decken wollen, ohne die Einnahmen aus der
Erhöhung der Mehrwertsteuer anzutasten, wenn die
Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit – das ist eine
optimistische Schätzung – lediglich 12 Milliarden Euro
betragen. Sie müssen berücksichtigen – das wissen Sie –,
dass im Überschuss der Bundesagentur in diesem Jahr
einmalig ein Betrag von 3 Milliarden Euro enthalten ist,
der auf die 13. Sozialversicherungsbeitragszahlung zu-
rückzuführen ist.

Sie wollen Korrekturen bei der Bundesagentur für
Arbeit; das können Sie gerne fordern, Herr Niebel.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nun lassen Sie ihn doch erst einmal reden!)


So steht es in einem Ihrer Anträge, der durch die Reihen
geistert und in dem Sie sich sozusagen als Rächer der
Enterbten darstellen. Man hat den Eindruck, dass je-
mand, der früher einmal bei der Bundesagentur gearbei-
tet hat, nun Rache nehmen will, indem er sich darum be-
müht, dass die Agentur aufgelöst wird.


(Lachen des Abg. Dirk Niebel [FDP] – Dirk Niebel [FDP]: Ach Gott! Das ist doch viel zu billig für dich!)


Dass es möglich ist, dadurch schnell einige Milliarden
Euro einzusparen, möchte ich stark bezweifeln. Sie ha-
ben Ihren Antrag nicht richtig durchgerechnet. Er enthält
zwar ein paar Hinweise darauf, an welchen Stellen ge-
spart werden könnte. Aber Sie nennen keine konkreten,
messbaren Zahlen.

Wir gehen einen anderen Weg: Wir wollen eine Sen-
kung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung
um mindestens 2 Prozentpunkte. Die Einnahmen, die
wir erzielen, wollen wir nutzen, um den Beitragssatz
möglichst noch weiter zu senken. Das wollen wir zeitnah
zur Jahreswende tun, und zwar auf der Grundlage eines
gesicherten Ansatzes.

Ich habe die Bitte, dass wir diesen Abschlag Romer-
Abschlag nennen. Denn der Kollege Franz Romer – ich
glaube, es war im April oder Mai dieses Jahres – war der
erste aus unserer Fraktion, der darauf hingewiesen hat,
dass hier mehr Luft vorhanden ist. Ich freue mich da-
rüber, dass das wirklich zutrifft.

Meine Redezeit ist gleich abgelaufen. Herr Niebel,
ich bin gespannt, was Sie dazu sagen, wie Sie Deutsch-
land retten wollen. Ich höre von Ihnen immer, wir könn-
ten noch radikaler kürzen und hier und dort noch weitere
Milliarden Euro einsparen. Dadurch versuchen Sie den
Glauben zu verfestigen, dass wir ohne Mehrwertsteuer-
erhöhung auskämen.


(Dirk Niebel [FDP]: Die SPD will die MerkelSteuer doch schon lange!)


Meine letzte rhetorische Frage, die ich an Sie richten
möchte, lautet: Glauben Sie selbst eigentlich wirklich,
dass es keine Mehrwertsteuererhöhung in Deutschland
gegeben hätte, wenn die Schwarzen und die Gelben eine
Koalition eingegangen wären?


(Dirk Niebel [FDP]: Eindeutig!)







(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Meckelburg
Die Antwort lautet eindeutig: nein. Diese Schlacht hät-
ten Sie verloren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606004800

Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1606004900

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehr-

ten Damen und Herren! Es tut einem schon fast weh zu
sehen, wie der arme Kollege Meckelburg herumeiern
muss,


(Klaus Brandner [SPD]: Das ist nicht fair, Herr Niebel!)


um deutlich zu machen, weshalb die Bundesregierung
unbedingt an der arbeitsplatzfeindlichen Mehrwertsteu-
ererhöhung festhalten muss, obwohl alle Zahlen etwas
anderes nahe legen.

Die Kollegen von der Sozialdemokratie müssten nach
dem letzten Wahlkampf eigentlich innerlich quietschen,
weil sie völlig zu Recht darauf hingewiesen haben, dass
die Mehrwertsteuererhöhung Arbeitsplätze kostet. Den-
noch mussten sie sich von der CDU/CSU auf eine Erhö-
hung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte hochhan-
deln lassen. Diese vermeintliche große Koalition ist ein
großes Problem für die Bundesrepublik Deutschland.


(Klaus Brandner [SPD]: Haben Sie eigentlich nur noch die Mehrwertsteuererhöhung zu bieten? Sie sollten auch einmal wieder Zeitung lesen!)


– Herr Brandner, wenn man den Begriff „große Koali-
tion“ hört, denkt man nicht nur an Größe. Das hat auch
einen qualitativen Gesichtspunkt.


(Klaus Brandner [SPD]: Na, sehen Sie! Es ist dabei doch auch etwas herausgekommen!)


Aber diese Regierung aus schwarzen und roten Sozialde-
mokraten ist nicht einmal in der Lage, einen Irrtum ein-
zugestehen. Sie könnten nach wie vor sagen: Wir kehren
um. Diesen Schritt könnten Sie sogar noch positiv ver-
kaufen. Denn es war schließlich so, dass die Angst vor
der Mehrwertsteuererhöhung den Konsum gestärkt hat.
Wenn Sie die angekündigte Mehrwertsteuererhöhung
jetzt zurücknehmen würden, könnten Sie diese positiven
Impulse dennoch mitnehmen. All das könnte man rheto-
risch so verpacken, dass man als Sieger dasteht. Nein,
Ihnen geht es ganz klar um etwas anderes: Sie wollen auf
Ihrem Abkassierkurs bleiben und den Menschen immer
mehr Geld wegnehmen. Sie machen sich einen schlan-
ken Fuß und wollen die Aufgaben des Staates nicht an-
gehen.


(Beifall bei der FDP)


Natürlich ist der Faktor Arbeitskosten ganz entschei-
dend, wenn es um die Fragestellung geht, ob neue
Beschäftigungsverhältnisse entstehen bzw. ob die beste-
henden Beschäftigungsverhältnisse erhalten bleiben.
Deswegen ist die Senkung der Lohnnebenkosten im Hin-
blick auf die Arbeitslosenversicherung richtig; hier un-
terstützen wir Sie ausdrücklich. Es ist bloß falsch, dass
Sie diesen Schritt durch eine Erhöhung der Rentenversi-
cherungsbeiträge und der Krankenversicherungsbei-
träge kompensieren. Über die Pflegeversicherung trauen
Sie sich nicht einmal mehr zu reden, obwohl in diesem
Bereich noch viel größere Belastungen auf die Bürger
zukommen, als sie zurzeit ahnen mögen.

Sie wollen die Einnahmen aus 1 Prozentpunkt der
Mehrwertsteuererhöhung zwingend dafür verwenden,
die Beitragssätze zu senken. Mit den Einnahmen aus den
übrigen 2 Prozentpunkten der Mehrwertsteuererhöhung
sollen die Haushaltslöcher von Bund und Ländern ge-
stopft werden. In letzter Zeit habe ich in vielen Zeitungen
gelesen – in diesem Zusammenhang wundere ich mich
wirklich über die Terminologie und die Sichtweise –, die
Bundesagentur für Arbeit habe Überschüsse erwirtschaf-
tet. Lieber Wolfgang Meckelburg, die Bundesagentur für
Arbeit mag vieles können. Aber eines kann sie mit Si-
cherheit nicht: etwas erwirtschaften.


(Beifall bei der FDP)


Alles, was die Bundesagentur an Geld zu viel hat, hat sie
vorher Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu viel wegge-
nommen. Deshalb muss sie es genau diesen zurückge-
ben.


(Beifall bei der FDP)


Wenn Sie tatsächlich an dieser arbeitsplatzfeindlichen
Mehrwertsteuererhöhung festhalten wollen und Sie sich
davon – wider besseres Wissen! – nicht abbringen lassen
wollen, müssen Sie die zusätzlichen Spielräume nutzen,
um den Faktor Arbeit billiger zu machen; das ist doch
ganz einfach. Herr Beck kehrt auch um: Noch im Juli
dieses Jahres wollte Herr Beck zusammen mit dem Fi-
nanzminister in Manier moderner Raubritter dieses Geld
für den Haushalt des Finanzministers kassieren,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht, das weise ich zurück!)


es den Arbeitnehmern wegnehmen. Jetzt kehren Sie um
und überlegen, mehr damit zu machen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Niebel, das ist üble Nachrede!)


Unser Antrag dient dazu, das parlamentarisch auf den
Weg zu bringen. Die Regierung ist frei, per Rechtsver-
ordnung den Beitragssatz der Arbeitslosenversicherung
festzulegen. Wir wollen, dass das Parlament Ihnen zeigt,
dass wir dafür sind. Deswegen stellen wir diesen Antrag
heute.

Wir haben ganz bewusst nicht gesagt, ob man den
Beitragssatz mit der Mehrwertsteuererhöhung – die nach
wie vor falsch ist – vielleicht auf 4 Prozent oder 3,5 Pro-
zent senken kann, weil das Jahr noch nicht zu Ende ist.
Doch dieser zusätzliche Spielraum für mehr Beschäfti-
gung in Deutschland muss genutzt werden. Man muss
kein Professor für Volkswirtschaftslehre sein, um festzu-






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Niebel
stellen, dass ich Recht habe. Aber es hilft natürlich,
wenn ein Professor für Volkswirtschaftslehre wie
Friedrich Schneider von der Universität Linz, ein aner-
kannter Fachmann für Schwarzarbeit, deutlich sagt:
Eine Mehrwertsteuererhöhung ist das beste Programm
für Schwarzarbeit. Das weiß jeder und so haben Sie doch
im Wahlkampf auch argumentiert. Gerade im personal-
intensiven Dienstleistungsbereich, im Handwerk, in der
Gastronomie, im Handel, bei den Reinigungskräften,
können Sie die Steuererhöhung nicht übertragen auf die
Preise, das führt gnadenlos in die Schwarzarbeit. Jetzt
sagen Sie vielleicht: Ist ja prima, die Schwarzarbeit ist
die Stütze des Wohlstands in Deutschland; denn das sind
alles Tätigkeiten, die normalerweise nicht ausgeübt wer-
den, weil der Staat zu viel abkassiert. Sie müssen sich
entscheiden: Wollen Sie die sozialen Sicherungssysteme
auf stabile Grundlagen stellen? Dann müssen Sie dafür
sorgen, dass legale Arbeit in Deutschland günstiger
wird. Oder wollen Sie Kaufkraft generieren, am Staat
vorbei? Dann müssen Sie die Mehrwertsteuer auf
20 oder 25 Prozent erhöhen, weil dann erst recht alles di-
rekt in den Konsum geht.


(Klaus Brandner [SPD]: Erklären Sie gerade, dass das erfolgreich ist?)


Denn der Schwarzarbeiter bringt das Geld nicht aufs
Sparbuch, er gibt es aus. Also: Wenn Sie ein Förderpro-
gramm für Schwarzarbeit wollen, dann sagen Sie das!
Ich halte es für falsch.

Herr Brandner, „Merkelsteuer, das wird teuer“ – ich
weiß, es ist völlig unfair, Sie an Ihre Wahlversprechen zu
erinnern.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Klaus Brandner [SPD]: Nein, überhaupt nicht!)


Kein Wunder, dass die Leute in Deutschland frustriert
sind von der Politik.

Nein, es gibt jetzt die Möglichkeit, umzukehren, die-
sen Unsinn zu lassen. Man würde Sie ein, zwei Tage mit
Häme überziehen – ich natürlich auch –; aber dann wä-
ren die Menschen zufrieden, weil sie etwas davon hätten.
Sie können in diesem Punkt noch eine gute Regierung
werden, wenn Sie sich bemühen. Wenn Sie von der
Mehrwertsteuererhöhung nicht ablassen wollen, nutzen
Sie das Geld, das den Menschen zu viel abkassiert wor-
den ist, um die Arbeitskosten in Deutschland zu sen-
ken – so viel wie irgend möglich. Selbst wenn nur durch
den einen zusätzlichen Beitrag, der dieses Jahr eingezo-
gen wird, mehr Geld da wäre, würde es sich lohnen, den
Beitragssatz zu senken, und sei es nur zeitweise. Wenn
das Geld nicht mehr reicht, muss man ihn halt wieder er-
höhen. Aber man hat wenigstens etwas Luft gewonnen
für mehr Beschäftigung und Arbeit in Deutschland.

Herr Clever, Ihr CDU-Parteifreund im Verwaltungsrat
der Bundesagentur für Arbeit, hat gestern den Medien
gegenüber erklärt, man müsse davon ausgehen, dass
eventuell – wenn die Konjunktur stabil bleibe – die
Mehreinnahmen noch 2009 tragen würden. Das Jahr
2008 hat er schon abgehakt, er rechnet dafür schon fest
mit Mehreinnahmen, mit vermeintlichen Überschüssen,
also mit mehr Abkassieren. Nutzen Sie doch die Mög-
lichkeiten, sich bis zum voraussichtlichen Bundestags-
wahljahr 2008 – mit Hängen und Würgen vielleicht auch
2009 – einen positiven Stand bei den Bürgerinnen und
Bürgern zu verschaffen! Ich wundere mich, dass über-
haupt noch 60 Prozent der Menschen in diesem Land zu
CDU/CSU und SPD stehen. Sie haben die Chance, die
Menschen an sich zu binden. Das ist eigentlich die letzte
Rettung, die Sie in dieser vermeintlich großen Koalition
noch haben. Die Menschen brauchen diese Rettung;
denn sie wollen mitmachen in diesem Land, sie wollen
nicht in die Illegalität getrieben werden durch Ihre fal-
sche Politik. Jetzt haben Sie die Chance, nutzen Sie sie!


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606005000

Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1606005100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Lassen Sie mich zu allererst ein
Wort zur Inszenierung der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen sagen. Mit dieser Inszenierung haben Sie
der Ernsthaftigkeit Ihres Antrags einen Bärendienst er-
wiesen. Denn wer ernsthaft über das Thema diskutieren
will, führt am Anfang keine solche Inszenierung auf.
Schließlich wissen Sie, dass der Bundesminister heute
zu gleicher Zeit in Sachen Arbeitsmarkt eine Konferenz
abhält – die fünfte Anhörung der Arbeitsgruppe des
BMAS –, auf der es exakt darum geht, wie die Effizienz
im Bereich des SGB II gesteigert werden kann. Jetzt, ge-
nau zu diesem Zeitpunkt, sind Fachleute zusammen, um
über dieses Thema zu beraten. Ich bitte einfach, das zu
berücksichtigen.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist der Wirtschaftsminister?)


Da Staatssekretär Thönnes von dem zuständigen Minis-
terium anwesend ist, ist die Bundesregierung vertreten.
Es gibt bei uns keine halben, sondern nur ganze Staatsse-
kretäre. Herr Thönnes wird das, was beraten wird, letzt-
lich auch übertragen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Im Vergleich zum Andres ist das schon ein halber Staatssekretär!)


Lassen Sie mich nun zu den heute zur Debatte stehen-
den Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP
kommen. Ich möchte etwas ausgesprochen Positives an-
sprechen, nämlich die Früchte unserer Politik. Die SPD-
Politik und teilweise auch die Politik von Bündnis 90/
Die Grünen


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weiter so!)


der vergangenen Jahre und unsere heutige Politik zeigen
ihre Wirkungen in einer Wachstumsdynamik, von der
in diesem Land nahezu alle überrascht sind.






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Brandner

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn Sie das wollten, dann können Sie ja nicht überrascht sein!)


Natürlich wurden durch die gemeinsame rot-grüne Poli-
tik und durch die Agenda 2010 die Grundlagen hierfür
geschaffen. Diese haben wir mit der CDU/CSU jedoch
fortgesetzt und weiterentwickelt.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Viel besser gemacht!)


Von einem Reformstillstand, den Sie in Ihrem Antrag er-
wähnen, kann deshalb überhaupt keine Rede sein.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, Ihre Arbeitsgruppe arbeitet weiter!)


Ich könnte Ihnen die Stichworte für das, was nicht nur
angepackt, sondern auch zu Ende gebracht wurde – zum
Beispiel die Föderalismusreform –, in einer ellenlangen
Breite vortragen.


(Dirk Niebel [FDP]: Machen Sie doch mal! Mehrwertsteuererhöhung! Pendlerpauschale, Arbeitszentren!)


Im Bereich des Arbeitsmarktes geht es von der Saison-
kurzarbeit über die Unternehmensteuerreform und die
Erbschaftsteuerreform, die jetzt auf der Tagesordnung
steht,


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Beschäftigungssicherung bei der Erbschaftsteuerreform!)


bis zu der Regelung der Mitbestimmung in Europa. All
diese wichtigen Dinge berühren die Arbeitnehmer und
den Arbeitsmarkt. Wenn Sie die Augen aufmachen, dann
erkennen Sie auch, dass wir in diesem Land Positives er-
leben. Positives macht im Übrigen auch mehr Spaß, als
dauernd nur in der Ecke zu stehen und herumzunörgeln.
Damit kann man das Land nicht nach vorne bringen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Sie sind ja eine Spaßpartei!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Auf-
schwung ist ausgesprochen robust. Trotz eines Energie-
preises, der, wie wir alle wissen, exorbitant hoch ist – er
ist auf einem historischen Höchststand – und durch den
den Verbrauchern ein nicht nur unwesentlicher Teil ihres
Einkommens aus der Tasche gezogen wird, erwarten wir
ein Wachstum von etwa 2,5 Prozent. Es ist ein positives
Zeichen, dass die konjunkturelle Lage im Land trotz die-
ser Situation günstig ist. Deshalb stimme ich den Opti-
misten ausdrücklich zu, die trotz der Mehrwertsteueran-
hebung im nächsten Jahr in dem Herbstgutachten von
einem robusten Aufschwung ausgehen.


(Dirk Niebel [FDP]: Das waren doch die, die Ihnen vorgeworfen haben, alles falsch zu machen!)


Sie sagen: Er wird nur leicht beeinträchtigt sein; der
Trend bleibt. – Deshalb ist es auch richtig, dass die
Mehrwertsteuererhöhung für die Senkung der Lohnne-
benkosten genutzt wird. Genau das hat Frau Dückert in
ihrer Rede eben gefordert.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie nutzen sie zum Stopfen der Haushaltslöcher! Das ist nicht richtig!)


Ich glaube, das, was wir heute gehört haben, zeigt,
dass Sie nicht auf der Höhe der Zeit sind. Heute titeln die
Tageszeitungen: Keine Angst vor der Mehrwertsteuer-
erhöhung. Insofern sind Sie nicht aktuell. Sie sollten sich
die aktuelle Situation vor Augen führen. Dann wären Sie
auch wieder mitten im Geschäft. Das will ich an diesem
Punkt nur einmal ganz deutlich sagen.

Ich bin davon überzeugt, dass das, was wir momentan
erleben, positiv ist. Thea Dückert, sowohl bei der
Wachstums- als auch bei der Beschäftigungsentwicklung
in diesem Land zeigt der Daumen nach oben. Eines steht
fest: Nach vier wachstumsschwachen Jahren macht sich
die verbesserte Konjunktur immer stärker auf dem Ar-
beitsmarkt bemerkbar. Die Forschungsinstitute rechnen
in diesem Jahr mit durchschnittlich 320 000 Arbeits-
losen weniger.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht bei den Langzeitarbeitslosen!)


– Keine Sorge, ich komme noch zu den Langzeitarbeits-
losen.


(Dirk Niebel [FDP]: Haben Sie denn so viel Redezeit?)


Im nächsten Jahr werden es durchschnittlich mindestens
200 000 Arbeitslose weniger sein. Ich will ganz deutlich
sagen: 2007 haben wir die Chance, die psychologisch
wichtige historische Marke von 4 Millionen Arbeitslo-
sen einige Monate lang zu unterschreiten. Ich glaube,
diesem Ziel sollten wir uns alle gemeinsam verpflichtet
fühlen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich finde, das ist eine gute Entwicklung. Die Men-
schen erhalten Arbeit und die Sozialkassen werden ent-
lastet. Das ist Ergebnis unserer Politik, also sowohl das
Ergebnis der Grundlagen, die in der Vergangenheit ge-
legt wurden, als auch dessen, was wir jetzt systematisch
und, wie man sieht, in einem guten Klima mit dem
Koalitionspartner CDU/CSU fortsetzen.


(Dirk Niebel [FDP]: Ich habe etwas von Klimakatastrophe gelesen!)


Deshalb will ich ganz klar sagen: Thea Dückert, ich
freue mich, dass wir schon bis September dieses Jahres
eine Reduzierung der Zahl der Langzeitarbeitslosen um
150 000 erreicht haben.


(Beifall der Abg. Andrea Nahles [SPD])


Fest steht: Die Auswirkungen des Rückgangs der Zahl
der Langzeitarbeitslosen kommen logischerweise immer
etwas zeitversetzt an. Der konjunkturelle Aufschwung
zeigt zuerst bei den übrigen Arbeitslosen Wirkung. Das
haben auch die Grünen anerkannt. Derzeit erleben wir
mit einer kleinen zeitlichen Verzögerung und bei einem






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Brandner
durch die Änderung der Bezugsdauer des Arbeitslosen-
geldes verursachten stärkeren Zugang einen deutlichen
Rückgang der Zahl der Langzeitarbeitslosen.

Die Zahlen sind aus meiner Sicht nicht zufriedenstel-
lend, wenn man – wie die SPD – am Ziel der Vollbe-
schäftigung festhält. Wir halten daran fest. Wir fühlen
uns diesem Ziel verpflichtet und treten offensiv und en-
gagiert dafür ein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP], zur SPD gewandt: Das ist euer Redner!)


Die Vergleichszahlen im Rahmen der OECD stim-
men – um das klar zu sagen – bezüglich der Langzeit-
arbeitslosigkeit nicht immer optimistisch. Das ist völlig
richtig. Aber die Redlichkeit verlangt, dass man auch
sieht – das machen die Angaben zur Erwerbsfähigkeits-
definition deutlich –, dass in Deutschland 3,1 Prozent, in
England 6,5 Prozent und in Holland 8,5 Prozent der
Menschen erwerbsunfähig sind.

Wir haben mit Hartz IV die Menschen aus der Sozial-
hilfe geholt. Wir haben sie erfasst und uns zum Ziel ge-
setzt, allen, die einigermaßen zu fördern sind, eine
Chance zu bieten, wieder in den Arbeitsmarkt einzutre-
ten. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, das kaum irgendwo so
konsequent angegangen worden ist. Insofern erfordert
die Redlichkeit, dass bei einem Vergleich der Arbeitslo-
senzahlen auch diese Fakten berücksichtigt werden.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606005200

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Dückert?


Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1606005300

Ja bitte.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606005400

Herr Kollege Brandner, können Sie dem staunenden

Publikum und mir erklären, wie die Arbeitslosenzahlen,
die belegen, dass im September 2005 37,4 Prozent und
im September 2006 42,4 Prozent der Arbeitslosen lang-
zeitarbeitslos waren, als eine Kürzung der Zahl der
Langzeitarbeitslosen in diesem Lande interpretierbar
sind?


(Dirk Niebel [FDP]: Wer aus Null 3 Prozent macht, kann auch das erklären!)



Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1606005500

Kollegin Dückert, ich habe Ihnen gerade die Entwick-

lung der Zahlen erläutert. Wir haben eine positive Ent-
wicklung, die jetzt konjunkturverzögert wirksam wird.
Sie wählen einen Langzeitvergleich, was insofern nicht
seriös ist.

Ich habe deutlich gemacht, dass die Zahl der Lang-
zeitarbeitslosen von Januar bis September deutlich redu-
ziert worden ist. Diese Entwicklung ist wichtig und wir
müssen sie systematisch fortsetzen. Sie steht zum einen
mit der gesamtkonjunkturellen Entwicklung und zum
anderen mit der Änderung der Bezugsdauer des Arbeits-
losengeldes im Zusammenhang, durch die der Zugang in
die Langzeitarbeitslosigkeit formal bzw. statistisch zuge-
nommen hat.

Dieser Weg ist richtig und zeigt den positiven Trend
auf. Deshalb wären Sie gut beraten, diesen positiven
Weg mit zu unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606005600

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-

frage des Kollegen Brauksiepe?


Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1606005700

Bitte.


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1606005800

Herr Kollege Brandner, sind Sie bereit, der Kollegin

Dückert zu erklären, dass sich bei einem Abbau der Ar-
beitslosigkeit, der sich in erster Linie auf ALG-I-Emp-
fänger konzentriert, sich darüber hinaus aber auch bei
ALG-II-Empfängern erfolgreich auswirkt, automatisch
der Prozentsatz der ALG-II-Empfänger erhöhen muss,
wenn man bei den ALG-I-Empfängern noch erfolgrei-
cher ist als bei den ALG-II-Empfängern? Wenn die
Kurzzeitarbeitslosigkeit stärker zurückgeht als die Lang-
zeitarbeitslosigkeit, ergibt sich dieser Effekt nämlich au-
tomatisch.


(Dirk Niebel [FDP]: Dann ist ja alles gut, wenn sich dieser Effekt automatisch ergibt!)



Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1606005900

Herr Brauksiepe, Sie haben mit Ihrem interessanten

und positiven Beitrag Frau Dückert schon den Sachver-
halt erklärt. Ich glaube, sie braucht keinen weiteren ma-
thematischen Nachhilfeunterricht. Insofern ist ein weite-
res Argument dafür angeführt geworden, dass der Kurs,
den wir zurzeit verfolgen, positiv ist. Ich danke Ihnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja peinlich!)


Ich will aber den Kernpunkt der Debatte noch einmal
aufgreifen. Die Langzeitarbeitslosigkeit hat nachhaltige
Ursachen, die wir angehen müssen. Diese Ursachen lie-
gen in fehlender Ganztagsbetreuung, schlechten Ausbil-
dungssystemen und nicht genügender Qualifizierung.
Wir machen uns deshalb auf den steinigen Weg, bei den
Ursachen der Langzeitarbeitslosigkeit anzusetzen, in-
dem wir mehr Geld für Forschung und Entwicklung so-
wie insbesondere für Bildung und Ganztagsbetreuung
zur Verfügung stellen. Dieser Weg ist der einzige, der
nachhaltig aus der Langzeitarbeitslosigkeit herausführen
kann; denn wir wissen, dass zunehmend mehr Langzeit-
arbeitslose zu geringe berufliche Kenntnisse, zu große
Vermittlungshemmnisse haben und deshalb auf dem Ar-
beitsmarkt regelrecht eingemauert wären, wenn es uns
nicht gäbe, die wir diesen Trend erkannt haben und ihn
systematisch bekämpfen.






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Brandner
Die Arbeitsmarktpolitik allein kann aber nur wenige
Arbeitsplätze schaffen. Wir haben sie daher in ein
Gesamtkonzept integriert. Dieses ist erfolgreich, insbe-
sondere wenn es um zukünftige Investitionen geht. Die
Entwicklung der Steuereinnahmen verläuft weitaus
günstiger. Die bislang bekannten Daten zeigen, dass
Bund, Länder und Kommunen 2006 insgesamt 30 Mil-
liarden Euro Steuermehreinnahmen im Vergleich zum
Vorjahr haben werden. Das ist ein deutliches Zeichen,
dass mehr finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen.
Es kann den Arbeitsmarkt in Schwung bringen, wenn
diese finanziellen Ressourcen für Investitionen genutzt
werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Was wollen wir? Wir wollen in der Arbeitsmarktpoli-
tik die Sicherheit erhalten. Meine Damen und Herren
von den Grünen, Sie fordern in Ihrem Antrag die Einfüh-
rung eines branchen- und regionalspezifischen Mindest-
lohns. Dieses Anliegen ist aus unserer Sicht ernst zu
nehmen. In diesem Zusammenhang muss man aber be-
denken, was sich in diesem Land verändert hat. Rund
2,5 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland für
Löhne, die geringer sind als die Hälfte des Durch-
schnittseinkommens. Die Tarifbindung hat sich zudem
drastisch verschlechtert. Sie beträgt in Westdeutschland
nur noch 59 Prozent und in Ostdeutschland 42 Prozent.
So genannte Armutslöhne werden auch ausweislich vie-
ler Tarifverträge gezahlt. Da wir aber solche Nied-
riglöhne als ein Risiko für eine sich in Deutschland
verfestigende Armut ansehen, wollen wir sie nicht hin-
nehmen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und was wollt ihr tun?)


Wir wollen, dass die Menschen von ihrem Einkom-
men leben können. Wir wollen gerechte Löhne für gute
Arbeit. Unsere Forderungen sind klar:

Erstens. Wir wollen, dass die Tarifpartner so stark
sind, dass sie in der Lage sind, zu verhindern, dass Ar-
mutslöhne akzeptiert werden müssen.

Zweitens. Wir wollen eine Ausweitung des Arbeit-
nehmer-Entsendegesetzes auf möglichst viele Branchen.
Die Bundesregierung hat damit bereits beim Gebäude-
reinigerhandwerk begonnen. Hierzu ist die Beschluss-
lage klar. Auch die Zeitarbeit bietet aus unserer Sicht
hierfür ein Potenzial.

Drittens. Wir wollen, dass in denjenigen Branchen, in
denen es keinen Tarifvertrag gibt oder das Lohnniveau
sehr niedrig ist, gesetzliche Mindestlöhne eingeführt
werden. Dieses Ziel verfolgen wir Sozialdemokraten
systematisch. Wir wollen damit für mehr Sicherheit in
diesem Land sorgen; denn wir wollen soziales Unrecht
nicht akzeptieren.


(Beifall bei der SPD)


Nun erleben wir zurzeit eine Debatte über den Bei-
tragssatz in der Arbeitslosenversicherung. Wir freuen
uns sicherlich über die hervorragende Entwicklung. Wir
wollen aber keine Stop-and-go-Politik. Vielmehr wollen
wir – das mahne ich deutlich an –, dass die für Weiterbil-
dung und Qualifizierung vorgesehenen Mittel in vollem
Umfang zur Verfügung gestellt werden. Die Situation
ist: Im ersten Halbjahr dieses Jahres wurden 520 Millio-
nen Euro aus dem Eingliederungstitel nicht ausgegeben.
Hier sind Chancen nicht genutzt worden. Das ist sicher-
lich keine positive Entwicklung. Aber insgesamt ist der
Einnahmenüberschusses der BA ein Ergebnis des Um-
baus der Bundesagentur für Arbeit zu einem modernen
Dienstleister. Wir danken den dort Beschäftigten, dass
sie an diesem Umbauprozess aktiv mitgearbeitet und ihn
erfolgreich gestaltet haben. Wir wollen aber, dass für das
Fördern eine ausreichende Zahl an Instrumenten zur Ver-
fügung steht, und zwar auf einem qualitativ hoch stehen-
den Niveau.


(Beifall bei der SPD)


Ich will zum Schluss eine kritische Anmerkung ma-
chen. Heute ist in den Tageszeitungen zu lesen, dass be-
stimmte Ministerpräsidenten und Minister wiederholt
die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosen-
geldes verlangen. Diese Herren haben am Tisch geses-
sen, als die Koalitionsvereinbarung gestrickt worden ist.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606006000

Herr Kollege, ich wäre dankbar, wenn Sie das kurz

und knapp erklären würden.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Lassen Sie diesen Teil weg!)



Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1606006100

Der Kernpunkt ist, dass hier etwas ausgelöst worden

ist, das bei konsequenter Fortführung die sozialen Siche-
rungssysteme grundsätzlich sprengen würde. Hier wird
das Motto vorgelebt, dass jeder, der sich privat versi-
chert, und jeder, der viel einzahlt, viel Geld zurück be-
kommt. Das widerspricht dem Solidargedanken in einem
sozialen Sicherungssystem fundamental. Deshalb sage
ich ganz deutlich: Man muss sich sehr überlegen, ob
man hier zündeln will. Denn man kann nicht auf der ei-
nen Seite im Bereich der Hartz-IV-Empfänger die
Treppe vom Arbeitslosengeld I in das Arbeitslosen-
geld II wollen, auf der anderen Seite aber regelmäßig
von Generalrevision und Kürzungen sprechen und durch
solche Forderungen ein solidarisches Versicherungssys-
tem infrage stellen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606006200

Herr Kollege, Sie sprechen auf Kosten des nachfol-

genden Redners.


(Dirk Niebel [FDP]: Es sind noch zwei Redner! Das kann man verteilen!)



Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1606006300

Es ist kein positives Zeichen, dass einige Ministerprä-

sidenten in diesem Land zurzeit auf Egoismus setzen.
Das verurteile ich aufs Schärfste.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606006400

Das Wort hat die Kollegin Kornelia Möller, Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Kornelia Möller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606006500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Brandner, Ihre Koalitionsrhetorik in allen Ehren, aber
wenn Worten keine wirklichen Taten folgen, dann bleibt
es dabei, dass es Worte aus dem Reich der Mythen und
der Märchen sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Schauen wir uns die Realität an: Ungefähr
40 000 Jugendliche in diesem Land haben keine Lehr-
stelle. Das feiern Sie als Erfolg des Ausbildungspakts.
Unglaublich! Die Notlage der Jugendlichen scheinen Sie
dabei zu vergessen. Es sind Jugendliche, die mit
Hartz IV aufwachsen und zur Schule gehen, um an-
schließend in der Arbeitslosigkeit zu landen, es sind
Menschen, die von Geburt an in eine Rolle gedrängt
werden, aus der sie nicht mehr herauskommen. Ganz
junge Menschen, die doch noch voller Hoffnung sein
sollten, resignieren und sagen: Ich bin Hartz IV. – Des-
halb werde ich nicht müde, dieser Resignation zu begeg-
nen und Sie, meine Damen und Herren, zu erinnern, dass
Hartz IV sowohl handwerklich als auch sozial ein
schlechtes Gesetz ist, einer demokratischen Gesellschaft
unwürdig.


(Beifall bei der LINKEN)


Dem grundsätzlichen Motto Ihres Antrags, meine Da-
men und Herren vom Bündnis 90/Die Grünen, können
wir durchaus zustimmen, wird doch einmal mehr deut-
lich, dass sich die Opposition im Bundestag mehr Ge-
danken zum Abbau der Arbeitslosigkeit macht als die
Bundesregierung; denn die hat sich im ersten Jahr ihrer
Arbeit vorrangig damit beschäftigt, wie geplante Gelder
für aktive Arbeitsmarktpolitik eingespart und gesperrt
werden können.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ist doch Unsinn!)


Allerdings versprechen Sie mit der Überschrift viel
mehr, als Sie dann im Antrag halten. In grundsätzlichen
Fragen, aber auch im Detail gibt es in einer Reihe von
Punkten deutliche Unterschiede zu unseren Positionen.
Das, was Sie bereits während Ihrer siebenjährigen Re-
gierungsbeteiligung versäumt haben, spielt für Sie auch
heute keine Rolle: die nötige Wende hin zu einer nach-
haltigen Beschäftigungspolitik. Das aber ist der Schlüs-
sel zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit. Hier müssen
die entscheidenden Weichen für die Zukunft der Arbeit
gestellt werden, nicht auf Nebenschauplätzen oder durch
einen Katalog von Einzelmaßnahmen.

Wenn das Prinzip „Fördern und Fordern“ Verände-
rungen bewirken soll, dann gehört zum Fördern, das so-
wohl unter Rot-Grün als auch jetzt unter Schwarz-Rot
äußerst stiefmütterlich behandelt wurde, zumindest eine
Politik zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Man kann
nicht ständig von arbeitslosen Menschen fordern, wäh-
rend das, was gefördert wird, einzig die Arbeitslosigkeit
ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Den Rückgang der Arbeitslosigkeit, den wir gegen-
wärtig erleben und den alle, die einen Arbeitsplatz erhal-
ten, sicher begrüßen, können Sie in keiner Weise als Re-
sultat rot-grüner Regierungspolitik verkaufen. Es ist aber
auch kein Resultat schwarz-roter Regierungspolitik,
auch wenn Herr Brandner das gern in beiden Fällen so
darstellen möchte. Dies ist nichts anderes als das zeit-
weilige positive Durchschlagen weltwirtschaftlicher
konjunktureller Entwicklungen auf den deutschen Ar-
beitsmarkt. Leider ist die große Koalition dabei, die
positiven Ansätze durch ihr Festhalten an der Erhöhung
der Mehrwertsteuer wieder zu gefährden, auch wenn ein
Teil der Medien heute etwas anderes berichtet.

Wir sind also weit von gestaltender Politik entfernt.
Eine die Zukunft der Arbeit gestaltende Politik bedeutet,
makroökonomische Entscheidungen auf Beschäfti-
gungseffekte auszurichten. Deshalb fordert die Fraktion
Die Linke unter anderem ein öffentliches Investitions-
programm, das diesen Namen auch verdient, eine Ver-
kürzung der Arbeitszeit, die Ausweitung öffentlich
finanzierter Beschäftigung und politische Weichenstel-
lungen, um die Binnennachfrage zu fördern.


(Beifall bei der LINKEN)


Nur so erreichen wir eine Verbesserung der Beschäfti-
gungssituation auch und vor allem für ältere Menschen.

Auf dieser Grundlage können wir den Vorschlägen
des Bündnisses 90/Die Grünen im vorliegenden Antrag
zustimmen. Zustimmen können wir auch dem Vorschlag,
im Rahmen des SGB II langfristig und sozialversiche-
rungspflichtig, das heißt, öffentlich finanziert, Arbeits-
plätze im dritten Sektor einzurichten. Die Fraktion Die
Linke will dies bekanntlich auf der Grundlage eines
Mindestlohns von 8 Euro pro Stunde und hat einen
eigenen Antrag eingebracht. Öffentlich finanzierte
Beschäftigung würde einem erheblichen Teil der Lang-
zeitarbeitslosen, die sonst dauerhaft von Erwerbsarbeit
ausgeschlossen sind, wieder eine Zukunft geben. Nach
unseren Vorstellungen könnte bis 2009 eine halbe Mil-
lion sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze entste-
hen.

Ähnliche Überlegungen liegen den Vorschlägen der
Diakonie, der Arbeiterwohlfahrt sowie des DGBs, eini-
ger seiner Einzelgewerkschaften und vieler weiterer ge-
sellschaftlicher Kräfte zugrunde, mit denen die Fraktion
Die Linke im Grundsatz übereinstimmt. Gerade die gro-
ßen Sozialverbände sind stark daran interessiert, auf die-
sem Weg jene Aufgaben anzupacken, die im Bereich der
kommunalen, sozialen und Bildungsinfrastruktur im
Moment weitgehend unerledigt bleiben und zu sozialen
Problemen führen können. Es handelt sich vielfach um
Aufgaben, die überwiegend nicht dem Bereich gering
qualifizierter Tätigkeiten zuzuordnen sind, wie das auch
die Erfahrungen in Mecklenburg-Vorpommern bestäti-
gen. Insofern und auch aus prinzipiellen Erwägungen
heraus wollen wir Beschäftigungsverhältnisse, die tarif-
lich bzw. in Anlehnung an branchen- oder ortsübliche






(A) (C)



(B) (D)


Kornelia Möller
Entgelte, zumindest aber auf der Grundlage eines monat-
lichen Arbeitnehmerbruttoeinkommens von 1 400 Euro
entlohnt werden.

Es ist völlig klar, dass es dafür zusätzlich zu den ge-
bündelten Mitteln aktiver und passiver Leistungen, die
ohnehin ausgegeben würden, eines geringen Teils an
Geldern bedarf. Deshalb setzen wir uns dafür ein, einen
Teil der Überschüsse der BA dafür zu verwenden. Dies
sind eingezahlte und zweckbestimmte Mittel aus dem
Beitragsaufkommen der Arbeitslosenversicherung. Sie
sollten deshalb zweckgebunden für den Abbau der Ar-
beitslosigkeit und insbesondere der Langzeitarbeitslosig-
keit eingesetzt werden und nicht, wie von der FDP ge-
fordert, an die Beitragszahler zurückfließen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der momentane leichte Aufschwung geht an den lang-
zeitarbeitslosen Menschen vorbei. Waren es vor einem
Jahr – wir haben es bereits gehört – noch 37,6 Prozent, so
sind heute bereits 42,4 Prozent aller Erwerbslosen lang-
zeitarbeitslos.


(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Das hat ein bisschen mit Mathematik zu tun!)


Die falschen Weichenstellungen durch Rot-Grün und
jetzt Schwarz-Rot haben wesentlich zur Verfestigung der
Langzeitarbeitslosigkeit beigetragen, auch wenn Sie das
nicht wahrhaben wollen, Herr Kollege.


(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Schauen Sie sich die PISA-Studie an, wie man das verrechnet!)


Ich erinnere nur an die einseitig Kosten optimierenden
Handlungsprogramme der Bundesagentur, ausgedacht
von Unternehmensberatern und unter anderem vom
Bundesrechnungshof kritisiert, bei denen Millionen von
Betroffenen rechtswidrig aussortiert und Vermittlungs-
bemühungen auf Alibiveranstaltungen reduziert wer-
den. Auch die diesjährige Sperrung von Integrationsmit-
teln durch die große Koalition gehört zu den Faktoren,
die die Langzeitarbeitslosigkeit verschärfen. Das sind
die aktuellen schweren Sünden der Politik gegenüber
langzeitarbeitslosen Menschen.


(Beifall bei der LINKEN)


Noch schwerer wiegen allerdings jene bereits weiter
zurückliegenden Fehler im Zusammenhang mit den
Hartz-Gesetzen, die die Beschäftigungssituation äußerst
negativ beeinflussten. Ein gut funktionierendes System
von Arbeitsmarktinstrumenten wurde finanziell völlig
heruntergefahren. Das trifft genauso auf die Entwicklung
der beruflichen Qualifizierung und Weiterbildung zu wie
für deren Institutionen, die sich auf einem Tiefpunkt ih-
rer Entwicklung und Wirksamkeit befinden.

Wenn wir über die Zukunft der Arbeit sprechen – und
das wollen wir –, dann müssen wir darüber reden, wie
diese Auswirkungen falscher Reformpolitik schnellstens
korrigiert werden können, weil sie nach wie vor wirken
und die sozialen Widersprüche in unserem Land weiter
verschärfen. Während wir alle Vorschläge in Ihrem An-
trag unterstützen, meine Damen und Herren von Bünd-
nis 90/Die Grünen, die zur Korrektur der genannten Feh-
ler beitragen, für die Sie selbst ja auch ein erhebliches
Maß an Regierungsverantwortung tragen, möchten wir
aber auch jene Punkte benennen, die nicht unsere Zu-
stimmung finden.

Wir halten Ihr Progressivmodell für eine Fehlorien-
tierung. Es fußt auf der fehlerhaften Annahme, dass der
Mangel an existenzsichernden Arbeitsplätzen mit einfa-
chen Qualifikationsanforderungen aus zu hohen Sozial-
versicherungsabgaben resultiert und nicht aus gesamt-
wirtschaftlichen Ursachen.

Die Umsetzung Ihres Modells führt lediglich zu einer
verstärkten Subventionierung von Niedriglohnbeschäfti-
gung und gleichzeitig zu weiterer Aushöhlung der
Finanzierungsbasis der Sozialversicherungen. Vieles
spricht dafür, dass Verdrängungseffekte auftreten und
Vollzeit- in Teilzeitarbeitsplätze umgewandelt werden.
Minijobs – maßgeblich am Prozess der Prekarisierung
beteiligt – würden durch die Neuregelung noch attrakti-
ver gemacht. Hierbei befinden Sie sich weiterhin in neo-
liberalem Fahrwasser. Wir aber brauchen eine Wende in
der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, damit die
Menschen in diesem Land wieder eine Zukunft haben.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606006600

Das Wort hat der Kollege Stefan Müller, CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1606006700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir diskutieren heute unter anderem einen Antrag der
Grünen mit dem Titel „Zukunft der Arbeit gestalten statt
Arbeitslosigkeit verwalten“. Das reimt sich ein bisschen.
Der Antrag trägt einen gewissermaßen philosophischen
Titel.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätten Sie nicht hinbekommen!)


Eigentlich ist das ja eher etwas für die Grundsatzpro-
gramme der Parteien. Ich hätte eigentlich erwartet, dass
Sie dann auch eine Aussage dazu treffen, wie denn die
Arbeitswelt in der Zukunft aussieht. Davon ist im An-
trag aber keine Rede, zumindest habe ich nichts dazu ge-
funden. Sie sagen nicht, unter welchen Vorzeichen die
Arbeitsmarktpolitik Ihrer Meinung nach in der Zukunft
steht oder wie zukunftsfähige Politik für Sie aussieht.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass zukunftsfähige Ar-
beitsmarktpolitik der Grünen sich allein darauf be-
schränkt, ein Progressivmodell vorzulegen, einen Min-
destlohn zu fordern oder einen dritten Arbeitsmarkt
einzuführen.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wären schon glücklich, wenn es eines dieser Modelle gäbe!)


Aber Sie sprechen überhaupt nicht von den Heraus-
forderungen, die uns in den nächsten 20 bis 30 Jahren






(A) (C)



(B) (D)


Stefan Müller (Erlangen)

begegnen werden. Aber sei es, wie es sei. Eines jeden-
falls ist mir aufgefallen: Sie verstricken sich in einen
Widerspruch. Sie rühmen auf der einen Seite rot-grüne
Arbeitsmarktpolitik und gestehen gleichzeitig deren
Wirkungslosigkeit ein. Wer sich Ihren Antrag sorgfältig
durchliest, muss zu diesem Ergebnis kommen.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie scheinen ihn nicht aufmerksam gelesen zu haben! Klären Sie uns doch einmal darüber auf, was Sie wollen!)


Im ersten Absatz schreiben Sie:

Die von der rot-grünen Bundesregierung in der
15. Wahlperiode umgesetzten strukturellen Refor-
men und die aktuelle konjunkturelle Belebung sor-
gen für ein günstiges wirtschaftliches Klima, das
auch den Arbeitsmarkt entlastet.

Im nächsten Absatz heißt es dann:

Arbeitslose mit geringen Qualifikationen und Lang-
zeitarbeitslose profitieren von der aktuellen Ent-
wicklung nicht.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es! Und Sie streichen dann noch die Hinzuverdienstmöglichkeiten! Genau darauf haben Sie keine Antwort!)


So viel Ehrlichkeit hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.
Sie haben viele Gesetze gemacht, aber geholfen hat es
nichts. Das ist doch der Punkt, den Sie damit noch ein-
mal zugeben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie sprechen die Beschäftigungssituation der Älteren
an. Sie erheben den Vorwurf, dass die Initiative
„50 plus“ nichts Neues wäre. Ihre Vorschläge, die Sie
hier vorgelegt haben, sind jedoch auch nicht gerade in-
novativ. Sie sprechen über die Ausweitung der berufli-
chen Weiterbildung. – Einverstanden! Sicherlich haben
wir da einen gewissen Nachholbedarf.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es doch! – Gegenruf des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Machen wir doch! – Gegenruf der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?)


– Warten Sie doch ab! Wir sind in der Koalition noch
nicht am Ende der Beratungen, auch nicht bezüglich der
Beschäftigungssituation der Älteren.

Wenn Sie aber einen sachlichen Beitrag leisten wol-
len, muss das ein bisschen über das hinausgehen, was
Sie in Ihrem Antrag schreiben. Sie fordern eine „Ände-
rung der Personalpolitik in den Unternehmen“ sowie
„ein gesellschaftliches Leitbild, das eine ‚Kultur des be-
ruflichen Neuanfangs im Alter‘ befördert“. Das ist natür-
lich vom Staat nicht zu verantworten und daher nur sehr
schwer umzusetzen bzw. gesetzgeberisch auf den Weg
zu bringen. Angesichts solcher Forderungen würden wir
von Ihnen an dieser Stelle schon ein bisschen mehr Fan-
tasie erwarten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist kein Widerspruch: Wir brauchen ein Umdenken
in der Wirtschaft. Es darf nicht mehr so sein, dass man
glaubt, über 50-Jährige gehörten zum alten Eisen. Wie
schon mehrfach gesagt worden ist, ist es nicht nachvoll-
ziehbar, dass wir bei Menschen, die älter als 50 sind, von
„älteren Arbeitnehmern“ sprechen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und was ist mit der 58er-Regelung, Herr Kollege? – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist mit Telekom?)


Insofern muss sicherlich etwas passieren. Die Politik al-
lein kann dagegen nichts machen. Wir brauchen viel-
mehr einen gesellschaftlichen Konsens.

Sie haben die Lohnnebenkosten angesprochen. Wir
sind im Grundsatz einer Meinung: Die Höhe der Sozial-
abgaben in Deutschland ist ein wesentliches Einstel-
lungshemmnis; eine Senkung der Lohnnebenkosten trägt
dazu bei, den Arbeitsmarkt zu aktivieren und Neuein-
stellungen zu erleichtern. Ich gehe davon aus, dass es Ih-
rer Aufmerksamkeit nicht entgangen ist – so habe ich die
Reden heute Morgen verstanden –, dass wir den Beitrag
zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte sen-
ken werden.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist mit der Rentenversicherung? Was ist mit der Gesundheitsversicherung? Was ist mit der Pflege? Rechnen Sie mal zusammen!)


Wir haben auch festgelegt, dass noch weitere Schritte
folgen. Selbst wenn es zu den in der Diskussion stehen-
den Beitragserhöhungen kommt, bleibt unter dem Strich
eine Senkung der Lohnnebenkosten. Ich bitte Sie, auch
das einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine Umfrage des Bayerischen Industrie- und Han-
delskammertages besagt – das beschäftigt mich schon –,
dass die Senkung der Lohnzusatzkosten allein nicht dazu
führen wird, dass neue Arbeitsplätze in einem erhebli-
chen Ausmaß geschaffen werden, dass es insbesondere
nicht zu zahlreichen Neueinstellungen von Ungelernten
und Hilfskräften kommt.


(Dirk Niebel [FDP]: Dann müsste man zum Beispiel das Arbeitsrecht ändern! Aber das traut ihr euch ja auch nicht!)


Andere Themen sind angesichts dessen sicherlich
ebenfalls zu behandeln. Ich glaube, dass Ihr Progressiv-
modell – jedenfalls so – nicht funktionieren wird. Wir
können dieses Modell heute nicht diskutieren. Ich
glaube, dass wir mit dem, was Sie vorgelegt haben, auch
nicht weiterkommen.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum senken Sie denn die Lohnnebenkosten?)







(A) (C)



(B)


Stefan Müller (Erlangen)

Eine Klarstellung in Richtung der FDP – Gott sei
Dank redet noch der Kollege Haustein; vielleicht kommt
von ihm etwas Konzeptionelles –: Es wurde schon ange-
kündigt, Sie machten neue arbeitsmarktpolitische Vor-
schläge. Jetzt sehe ich, dass es einen Antrag zur Auflö-
sung der BA gibt. Herr Kollege Niebel, auch das ist
nichts wesentlich Neues und nicht wirklich innovativ.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist fortgeschrieben! Das ist immer noch notwendig!)


– „Fortgeschrieben“. Wir werden auch das noch beraten.

Ich will für die Union nur klarstellen: Uns geht es na-
türlich darum, dass die Überschüsse denjenigen zurück-
gegeben werden, die sie erwirtschaftet haben, nämlich
den Beitragszahlern. Das machen wir. Die Senkung der
Beiträge um 2 Prozentpunkte ist schon beschlossen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Beifall bei der FDP)


Über einen weiteren halben Prozentpunkt reden wir.
Eine weitere Senkung wird sicherlich kommen.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist die Mehrwertsteuer!)


Klar ist jedenfalls: Wenn Überschüsse denjenigen zu-
rückgegeben werden sollen, die Beiträge gezahlt haben,
dann werden keine neuen Arbeitsmarktprogramme auf-
gelegt und dann wird dieses Geld auch nicht im Haushalt
versenkt – keine Frage!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Gut! Dann stimmen Sie doch zu! Gut, dass wir darüber geredet haben!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihre
Nachhilfe brauchen wir dazu nicht. Der Antrag, den Sie
heute vorgelegt haben, war einfach nur eine Wortmel-
dung, weil Sie sich in der ganzen Debatte – jedenfalls
hier, im parlamentarischen Raum – überhaupt nicht zu
Wort gemeldet haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Welchen Antrag haben Sie denn vorgelegt? Wie heißt es so schön: Wer schreibt, der bleibt!)


Ich komme zum dritten Arbeitsmarkt. Die Grünen
schlagen vor, einen dritten Arbeitsmarkt einzurichten.
Der Vollständigkeit halber will ich nur darauf hinweisen,
dass eine Arbeitsgruppe der Bundesregierung gerade
zum Thema „dritter Arbeitsmarkt“ eine Anhörung
durchgeführt hat und dass es dazu weitere Beratungen
gibt.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie wäre es denn, wenn die Bundesregierung einmal was machte?)


In der Tat, es gibt Menschen in Deutschland – wir gehen
von einer hohen Zahl aus –, die vermutlich keine Chance
mehr auf eine Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt
haben werden. Die Bundesagentur spricht von etwa
400 000 Personen.
Es gibt dabei ganz unterschiedliche Zielgruppen:
Menschen, die schon lange nicht mehr gearbeitet haben,
und Menschen, die vielleicht noch nie gearbeitet haben.
Hinzu kommen Menschen, die kurz vor der Rente ste-
hen. Demzufolge muss man sich die Sinnhaftigkeit von
einzelnen Arbeitsmarktförderungsmaßnahmen natürlich
ansehen. Bei all diesen Menschen gehen wir davon aus,
dass auch die Anwendung des gesamten Instrumenta-
riums der BA nicht mehr dazu führen wird, dass sie in
den ersten Arbeitsmarkt integriert werden.

Wir haben in der Tat nur zwei Alternativen. Die eine
ist, diesen Menschen ihre staatliche Fürsorgeleistung zu
geben und sie ansonsten allein zu lassen. Die andere ist,
ihnen eine Chance auf eine sinnvolle Beschäftigung zu
geben und auch das Gefühl, dass sie wieder gebraucht
werden. Wir sind uns darüber einig, dass Arbeit nicht
nur die finanzielle und materielle Existenz absichert,
sondern dass Arbeit auch ein bisschen mehr bedeutet,
vor allem gesellschaftliche Teilhabe.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


In diesem Sinne ist die Überlegung so verkehrt nicht.

Nur, Sie lassen die Ausgestaltung offen. Ich würde
von Ihnen schon ganz gern wissen, welche Vorschläge
Sie dazu haben: Um welche Tätigkeiten geht es? Sollen
es nur gemeinnützige Tätigkeiten sein? Wie soll es ver-
gütet werden? Wie sind Verdrängungseffekte zu vermei-
den? Besonders spannend ist: Wollen Sie die Menschen
dazu verpflichten, eine solche Beschäftigung anzuneh-
men, oder nicht? Das würde mich sehr interessieren. Ich
kann mich an einige Wortmeldungen aus Ihren Reihen
erinnern, als es darum gegangen ist, festzustellen, dass
derjenige, der eine staatliche Leistung bekommt, dafür
eine Gegenleistung zu erbringen hat. Wir sind also für
Ihre Vorschläge völlig offen.

Ihren Hinweis, dass es sich bei diesen Tätigkeiten um
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse
handeln soll, finde ich ebenfalls sehr interessant. Das
würde letztendlich bedeuten, dass die Personen, die einer
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachge-
hen, aus der Statistik herausfallen würden. Wenn wir das
machen würden, dann möchte ich erleben, was Sie uns
vorhalten würden, wenn die Statistik auf einmal deutlich
besser aussieht, als die Lage ist.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Genau!)


Wenn wir das machen, brauchen wir dafür die Akzep-
tanz für einfache Tätigkeiten. Bevor man aber zu der
Schlussfolgerung kommt, die Sie hier vortragen, muss es
eine gesellschaftliche Akzeptanz für einen öffentlich ge-
förderten Beschäftigungssektor geben.

Ich komme zu einem weiteren Thema, das Sie anspre-
chen, nämlich der stärkeren Förderung von Existenz-
gründern. Dazu haben wir schon verschiedene Debatten
geführt. Ihre Wehmut hinsichtlich der bisherigen Ich-AG
ist zwar verständlich, aber sachlich nicht gerechtfertigt.
Wenngleich zumindest ich davon ausgegangen bin, dass
wir dieses Thema schon abgeschlossen haben, so lohnt
es sich doch, den Zwischenbericht zur Evaluation durch-

(D)







(A) (C)



(B) (D)


Stefan Müller (Erlangen)

zulesen. Dort heißt es, dass qualitative Untersuchungen
Hinweise darauf gegeben haben, dass die Gründung ei-
ner Ich-AG weniger aus echter Überzeugung als viel-
mehr aus einem Mangel an Alternativen vorgenommen
worden ist. Gerade von den betroffenen Existenzgrün-
dern ist geäußert worden, dass das Konzept der Ich-AG
zu Mitnahmeeffekten und Missbrauch verleitet. Auch in
dem Zwischenbericht kommt man zu dem Ergebnis,
dass eine Zusammenführung von Überbrückungsgeld
und der Förderung für die Ich-AG notwendig ist. Diese
Empfehlung haben wir umgesetzt und die Ich-AG und
das Überbrückungsgeld zu dem neuen Gründungszu-
schuss zusammengefasst.


(Beifall des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ CSU] – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wirkt nicht!)


– Es ist doch nicht allein entscheidend, wie viel Geld
jemand von der Bundesagentur bekommt. In einer Grün-
dungsberatung muss geklärt werden: Welche persönli-
chen Voraussetzungen liegen vor? Wie ist die Motiva-
tion? Bedarf es begleitender Unterstützungsmaßnahmen,
die der Gründer nicht nur am Anfang, sondern auch
während der Gründungsphase bekommen muss? Ist ein
Zugang zu Finanzierungsmitteln – das greifen Sie richti-
gerweise auf – gegeben?


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606006800

Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss.


Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1606006900

Ich komme gleich zum Schluss. – Ich möchte Sie nur

darauf hinweisen, dass hier einiges passiert ist und die
KfW ihre Modelle entsprechend umgestellt hat. Daher
bin ich der Auffassung, dass wir mit dem neuen Grün-
dungszuschuss und den begleitenden Maßnahmen das
Richtige auf den Weg gebracht haben, um die Zahl der
Existenzgründungen in diesem Land zu erhöhen.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Zahlen sprechen dagegen!)


Gestatten Sie mir abschließend noch den Hinweis,
dass in Ihrem Antrag – darüber habe ich mich doch sehr
gewundert – über die Beschäftigungsperspektiven von
jungen Menschen kein Wort verloren wird.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606007000

Herr Kollege, darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie

auf Kosten der Redezeit des Kollegen Rauen sprechen?


Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1606007100

Sie reden über die Zukunft der Arbeit und sprechen

die Probleme der jungen Menschen überhaupt nicht an.
Ich finde es sehr bedauerlich, dass Ihnen das Schicksal
der jungen Menschen völlig gleichgültig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Ich möchte Herrn Rauen hören!)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606007200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer,

Bündnis 90/Die Grünen.


(Dirk Niebel [FDP]: Ich bin mir sicher, Herr Rauen stimmt nachher unserem Antrag zu!)



Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606007300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Müller, das Drama Ihres Lebens ist, dass Sie offen-
sichtlich nur bedingt an arbeitsmarktpolitischen Debat-
ten teilnehmen. Wenn es anders wäre und Sie sich mit
diesem Thema kontinuierlich befassen würden, dann
wüssten Sie, dass wir in diesem Monat in einem umfäng-
lichen Antrag ein Konzept für Langzeitarbeitslose mit
Vermittlungshemmnissen eingebracht haben.

Zu Ihrer Frage, welche Vorstellungen die Grünen zum
Thema Ausbildungsplätze und Angebote für junge Men-
schen haben, kann ich nur sagen: Auch dazu haben wir
im letzten Plenum einen sehr umfangreichen Antrag ein-
gebracht.


(Klaus Brandner [SPD]: Geben Sie doch zu, dass das alles mit heißer Nadel gestrickt ist!)


Herr Müller, machen Sie endlich einmal Ihre Hausaufga-
ben und melden Sie sich erst dann wieder zu Wort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte jetzt gerne etwas zu Herrn Meckelburg
und Herrn Brandner sagen.


(Klaus Brandner [SPD]: Ich bin gespannt!)


Es bestreitet hier niemand, dass die konjunkturelle Ent-
wicklung nun auch auf dem Arbeitsmarkt positive Ef-
fekte zeigt.


(Klaus Brandner [SPD]: Dann sagen Sie das doch einmal! Das ist doch schön!)


Die Frage an Herrn Brandner und an Herrn Meckelburg
ist: Was ist denn Ihr Verdienst dabei? Sie sind doch kon-
junkturelle Trittbrettfahrer.


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie wären es gern gewesen!)


Jetzt sind Sie gerade dabei, mit der Mehrwertsteuer-
erhöhung diesen konjunkturellen Aufschwung wieder
kaputtzumachen.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Die Wirtschaftsweisen sagen in dieser Woche das Gegenteil!)


Herr Brandner, großartig fand ich ja Folgendes:
Nachdem Sie im Wahlkampf gesagt haben, die Mehr-
wertsteuererhöhung sei des Teufels, aber dann eine Er-
höhung um 3 Prozentpunkte beschlossen haben, standen
Sie in der heutigen Rede kurz davor, die Mehrwertsteuer-
erhöhung als Konjunkturmotor zu empfehlen. So weit zu
der wundersamen Wandlung des Herrn Brandner!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus Brigitte Pothmer Brandner [SPD]: Haben Sie zugehört, in welchem Zusammenhang ich das gesagt habe? Das Entscheidende ist, dass das Ergebnis mir Recht gibt!)





(A) (C)


(B) (D)


Nach Ihrer Philosophie ist es ganz offensichtlich so, dass
die Menschen mehr einkaufen, wenn es teurer wird, und
dass es dann zu einer positiven konjunkturellen Entwick-
lung kommt.


(Klaus Brandner [SPD]: Wir reden auch im nächsten Jahr noch zusammen!)


Aber eigentlich geht es hier um etwas anderes.


(Klaus Brandner [SPD]: Nein, es geht darum, die Arbeitslosigkeit herunterzubringen!)


Eigentlich geht es hier um die Frage: Wie gehen wir mit
den Langzeitarbeitslosen um, die eben nicht von dieser
konjunkturellen Entwicklung profitieren? Dazu fordern
wir Konzepte der großen Koalition ein.


(Klaus Brandner [SPD]: Wenn Sie hören, dass wir etwas machen, schreiben Sie es ab und machen einen Antrag!)


Sie von der SPD haben vor wenigen Tagen eine De-
batte über Armut losgetreten. Ich will Ihnen einmal Fol-
gendes sagen: Zwei Drittel derjenigen, die sich in der
Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung selbst als ab-
gehängt beschrieben haben, sind Langzeitarbeitslose,
Herr Brandner, und die Frage an Sie ist: Was ist Ihre
Antwort für diese Menschen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben es weniger mit einer prekären Schicht als mit
einer prekären Politik der großen Koalition zu tun.


(Beifall der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Klaus Brandner [SPD]: Das ist unheimlich glaubwürdig! Der Antrag beginnt: Rot-Grün hat es toll gemacht!)


In der Vergangenheit ist im Wesentlichen Folgendes
passiert: Hartz IV, das aus zwei Elementen bestand
– Fordern und Fördern –, haben Sie umgestaltet hin zu
einem Strafgesetzbuch. Gleichzeitig haben Sie 2006 die
Mittel für die Integration gekürzt. Sie haben das auch im
Haushalt 2007 schon so angelegt.


(Klaus Brandner [SPD]: Erstens stimmt es nicht und zweitens wissen Sie, dass das überhaupt nicht ausgegeben wird, über 1 Milliarde! Erzählen Sie nicht so einen Unsinn!)


In der CDU/CSU geht es nach dem Motto: Wir be-
schließen Sanktionen. Bevor die überhaupt in Kraft ge-
treten sind und wir deren Wirkung irgendwie überprüfen
können, bereiten wir schon die nächsten Sanktionen
vor. – Das Problem ist: So entstehen keine Arbeitsplätze.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


So werden Sie für die langzeitarbeitslosen Menschen
kein Angebot machen.


(Klaus Brandner [SPD]: Früher wart ihr mal seriöser!)

Herr Müller, jetzt noch einmal zur Ich-AG. Die Ich-
AG sind ein extrem erfolgreiches Instrument für Lang-
zeitarbeitslose, um sich neue Perspektiven zu eröffnen.


(Ilse Falk [CDU/CSU]: Und wie langfristig waren die?)


Die Umgestaltung bei den Ich-AGs hat dazu geführt
– Frau Dückert hat darauf hingewiesen –, dass die För-
derungen bei den Ich-AGs um zwei Drittel eingebrochen
sind.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Warum denn?)


Zwei Drittel weniger Menschen haben jetzt die Möglich-
keit, sich eine Perspektive zu schaffen. Sie haben der
Existenzgründung aus Arbeitslosigkeit die Existenz-
grundlage entzogen. Das ist eine Politik, die tatsächlich
die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Diese Ich-AG war ein Rohrkrepierer!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606007400

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Meckelburg?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606007500

Ja, bitte.


Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1606007600

Frau Kollegin, sind Sie in der Lage, mir zu bestätigen,

dass alle, die Existenzgründungszuschüsse beantragen
wollen, dies nach wie vor tun können? Wenn zwei Drit-
tel wegfallen, ist doch die Frage zu stellen, warum die
wohl wegfallen, möglicherweise ja deshalb, weil es den
Betreffenden sehr schwer fällt, nachzuweisen, dass man
mit einer gewissen Berechtigung davon ausgehen kann,
dass diese Existenzgründung wirklich hält. Ich finde das,
was wir gemacht haben, sehr vernünftig.


(Klaus Brandner [SPD]: Sonst hätten wir es ja nicht gemacht!)



Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606007700

Herr Meckelburg, es stellen jetzt weniger Menschen

Anträge auf Existenzgründungszuschüsse, weil die Rah-
menbedingungen so verändert sind,


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ja natürlich!)


dass insbesondere Frauen und Menschen mit geringem
Einkommen nur noch eine so geringe Förderung erhal-
ten, dass auf dieser Grundlage eine Existenzgründung
nicht möglich ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Unsinn! Sie haben keine Ahnung von der Gesetzeslage! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)


Das IAB hat sowohl im Zwischenbericht als auch im
Endbericht darauf hingewiesen, dass dieses sehr diffe-






(A) (C)



(B) (D)


Brigitte Pothmer
renzierte Instrumentarium überaus erfolgreich gewirkt
hat. Aus rein ideologischen Gründen, weil Sie das im
Wahlkampf so versprochen haben, haben Sie die Exis-
tenzgründungsförderung weggehauen. Das ist das Pro-
blem. Das muss man auch einmal benennen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606007800

Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischen-

frage, und zwar des Kollegen Brandner?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606007900

Ja, bitte. – Kommen Sie aber jetzt nicht wieder mit

der Arbeitsgruppe!


Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1606008000

Frau Pothmer, Sie haben gerade gesagt, die schwarz-

rote Koalition habe mit der Neuregelung der Existenz-
gründungsförderung die Möglichkeiten der Frauen zur
Existenzgründung weggehauen. Können Sie uns Ein-
blick in die Rechtsgrundlage für diese Behauptung ver-
schaffen?


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das möchte ich auch gerne wissen!)


Wir haben ein Gesetz geschaffen, das ausdrücklich einen
Rechtsanspruch auf eine Existenzgründung vorsieht,
wenn entsprechende Voraussetzungen vorliegen. Bevor
die Existenzgründungsförderung gewährt wird, muss
eine Gründungsberatung stattfindet, das heißt, die Si-
cherheit und Tragfähigkeit einer solchen Existenzgrün-
dung wird dank eines Beratungsumfeldes für Männer
und Frauen gewährleistet. Können Sie sagen, wie Sie zu
dem Ergebnis kommen, dass die Möglichkeiten der
Frauen zur Existenzgründung weggehauen wurden und
sie keinen Anspruch mehr haben?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606008100

Herr Brandner, das will ich Ihnen gerne erklären: Es

liegt nicht an der Beratung, sondern daran, dass Sie den
Förderungszeitraum und das Förderungsvolumen ge-
kürzt haben, sodass für Menschen, die vorher ein gerin-
ges Erwerbseinkommen hatten, jetzt die Existenzgrün-
dungsunterstützung einfach nicht mehr hinreicht, um auf
der einen Seite die Existenzgründung voranzutreiben
und auf der anderen Seite den Lebensunterhalt sicherzu-
stellen. Nicht ohne Grund hatten SPD und Grüne ge-
meinsam die Ich-AGs so ausgestattet und darüber hinaus
noch Überbrückungsgeld zur Verfügung gestellt. Wir
wussten, dass wir für unterschiedliche Personengruppen
ein differenziertes Angebot brauchen. Das berücksichti-
gen Sie nun leider nicht mehr.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Dieser Zuschuss war geringer als der jetzige!)


Das hat genau den Effekt, den wir vorher prognostiziert
haben und den das IAB in seinem Bericht deutlich be-
schrieben hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Thema verfehlt!)


Ich möchte kurz etwas zur Zeitschiene sagen. Sie ha-
ben uns bereits im Koalitionsvertrag versprochen, ein
Konzept für Langzeitarbeitslose mit Vermittlungs-
hemmnissen vorzulegen. Bis jetzt haben wir davon
nichts gesehen. Dann haben Sie gesagt, das Konzept
solle nach der Sommerpause kommen, danach wurde es
für den Herbst angekündigt, jetzt lese ich, dass vielleicht
im Frühjahr etwas daraus wird. Beim Mindestlohn ist es
genau das Gleiche.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606008200

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606008300

Nein, sie ist noch nicht überschritten. Ich möchte

noch kurz zusammenfassen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606008400

Frau Kollegin, Ihre Redezeit war um 20 Sekunden

überschritten. Nun ist sie bereits um mehr als eine halbe
Minute überschritten.


(Dirk Niebel [FDP]: So lange? Wie die Zeit vergeht, wenn man sich amüsiert!)



Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606008500

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Dieses

Jahr rot-schwarzer Arbeitsmarktpolitik kann man in ei-
ner Formel zusammenfassen: Drangsalierung mal Unfug
ergibt Murks hoch drei. Das ist eine gute Beschreibung
Ihrer Arbeitsmarktpolitik.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606008600

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Grotthaus, SPD-

Fraktion.


(Dirk Niebel [FDP]: Der kriegt aber nicht mehr die ganze Redezeit! Die Zeit ist schon abgelaufen!)



Wolfgang Grotthaus (SPD):
Rede ID: ID1606008700

Herr Niebel, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie so gut

aufpassen. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da-
men und Herren! Lassen Sie mich eingangs einige Be-
merkungen an Frau Pothmer richten. Frau Pothmer,
wenn ich Ihre Ausführungen richtig verfolgt habe, sind
Sie der Meinung, alles in dieser Republik sei negativ.
Wir – damit meine ich die vorherige Koalition und die
jetzige Koalition – waren demzufolge nicht daran betei-
ligt, dass sich die wirtschaftliche Situation verändert hat.
Ich weiß nicht, wie Sie dann in Ihrem Antrag eingangs
zu folgenden Äußerungen kommen:

Die von der rot-grünen Bundesregierung in der
15. Wahlperiode umgesetzten strukturellen Refor-
men und die aktuelle konjunkturelle Belebung






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Grotthaus
sorgen für ein günstiges wirtschaftliches Klima, das
auch den Arbeitsmarkt entlastet. Die Arbeitslosen-
quote sank im August 2006 um rund einen Prozent-
punkt gegenüber dem Vorjahr.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie doch mal weiter!)


Ich sage Ihnen: Diese Sätze in Ihrem Antrag sind
richtig. Richtig ist, dass Rot-Grün die Basis für die wirt-
schaftliche Belebung geschaffen hat. Es stimmt aber
auch, dass die große Koalition dies weitergeführt hat


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das habe ich eben noch gesagt!)


und damit eine Kontinuität der von uns gemeinsam an-
gestoßenen Arbeitsmarktpolitik entwickelt hat.


(Beifall bei der SPD)


Das Problem für mich ist nur, dass wir hier über Ver-
dienste diskutieren, die wir uns gegenseitig madig ma-
chen. Keiner der betroffenen Menschen draußen, die in
Arbeitslosigkeit verharren, kann davon profitieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Das ist ein Antiprogramm!)


Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie uns nicht darüber
diskutieren, wer die größten Erfolge hat, sondern da-
rüber, wer die Gewinner dieser Maßnahmen sind und
wie wir noch mehr Gewinner erzeugen können.


(Beifall bei der SPD)


Gewinner dieser Maßnahmen sind mehr als
400 000 Menschen, die noch vor einem Jahr arbeitslos
waren und nun für sich und ihre Familien eine größere
soziale Sicherheit haben. Darin enthalten sind
150 000 ehemalige Arbeitslosengeld-II-Empfänger – der
Kollege Brandner hat die Zahl schon genannt; sie ent-
spricht einer deutschen mittleren Großstadt –, die aus der
Langzeitarbeitslosigkeit in Arbeit wechseln konnten.

Ich gebe der Opposition Recht: Natürlich könnten es
mehr sein. Aber wer als Überschrift seines Antrags for-
muliert: „Zukunft der Arbeit gestalten statt Arbeitslosig-
keit verwalten“, dem muss man diese Zahlen noch ein-
mal in Erinnerung rufen.


(Dirk Niebel [FDP]: Der Titel ist ja auch vermessen, wenn man den Inhalt sieht!)


Auch den von Ihnen, Frau Pothmer, festgestellten Re-
formstillstand gibt es nicht. In den letzten Wochen gab
es, die heutige mit eingerechnet, fünf Anhörungen durch
das BMAS, die sich mit den Themen Kombilohn, Min-
destlohn, Hinzuverdienst, dritter Arbeitsmarkt und Effi-
zienz des SGB II beschäftigt haben. Hier wurden und
werden Fachleute gehört, deren Meinung in eine weitere
Gesetzgebung zu den gerade genannten Themen und da-
mit zur weiteren Belebung des Arbeitsmarktes einfließen
soll.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommen Sie doch mal auf die Wirtschaftsgutachten!)

– Wenn Sie von Wirtschaftsgutachten sprechen, dann
müssen Sie auch sagen, auf welches Sie sich beziehen.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf die Herbstgutachten!)


Diese Wirtschaftsgutachten von München bis Flensburg
sind so unterschiedlich, dass man sich immer, je nach
politischer Ausrichtung, das genehmste heraussuchen
kann.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie mich festhalten, dass wir auch die Qualifi-
zierung älterer Arbeitnehmer weiter voranbringen
werden. Die Basis der förderungswürdigen Betriebe, die
älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit staatlichen
Zuschüssen eine Qualifikation bieten können, wird aus-
geweitet: Konnten diese Hilfen bisher nur Betrieben mit
bis zu 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zukom-
men, so ist dies demnächst für Betriebe mit bis zu
250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern möglich.

Wir werden bei der Frage initiativ werden, wie wir
die Gruppe der Langzeitarbeitslosen in einen durch die
öffentliche Hand geförderten dritten Arbeitsmarkt inte-
grieren können, und wir werden über Kombilohn und
Mindestlohn in Verbindung mit dem Entsendegesetz und
der allgemeinen Verbindlichkeitserklärung diskutieren –
diskutieren müssen; denn hier besteht Handlungsbedarf
für dieses Haus.

Dem Antragsteller sei also ins Stammbuch geschrie-
ben, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Von blo-
ßer Verwaltung für die vor uns liegende Zeit kann keine
Rede sein. Für die abgelaufene Zeit – das ist ja gerade
ein Jahr her – lassen Sie mich noch einmal in Erinnerung
rufen, dass wir das Entsendegesetz nunmehr auch auf
die Gebäudereiniger anwenden können und dass wir ein
Saisonkurzarbeitergeld für Dachdecker eingeführt ha-
ben. Das mag für Sie ein Randbereich sein; aber für die
Menschen, die im Winter nicht in die Arbeitslosigkeit
gehen müssen, ist das von gravierender Bedeutung.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wissen Sie, dass wir da zugestimmt haben?)


Deswegen will ich nicht immer nur über programma-
tische Aussagen diskutieren, sondern auch darüber re-
den, wie Menschen, die zum Teil seit Jahren in Arbeits-
losigkeit verharren, auch durch kleine Maßnahmen, die
Sie bewusst nicht wahrnehmen, in Arbeit gebracht wer-
den können.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben zugestimmt und wollen das auch für die Saisonarbeit im Sommer!)


Wir werden 15 000 zusätzliche Plätze zur Qualifizie-
rung von Jugendlichen anbieten. Damit fördern wir
statt 25 000 nun 40 000 junge Menschen. Die Vermitt-
lungsquote in diesem Bereich – auch das muss ich an-
merken – liegt bei 70 Prozent. Wenn wir 40 000 jungen
Menschen zusätzlich eine Qualifizierung anbieten, kön-
nen wir also davon ausgehen, dass wir 28 000 junge






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Grotthaus
Menschen zusätzlich in Arbeit bringen. Die Bundes-
agentur für Arbeit wird Anfang des Jahres darüber hi-
naus noch 7 500 Ausbildungsplätze für Jugendliche mit
Migrationshintergrund zur Verfügung stellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie werden sagen, das reicht nicht. Auch da stimme
ich Ihnen zu. Aber es gilt, dass die Menschen, die von
diesen Maßnahmen positiv betroffen sind, sich erst ein-
mal abgesichert fühlen. Dies sollte uns ermuntern, wei-
tere Initiativen anzugehen und in den parlamentarischen
Gang zu bringen. Dabei ist besonders darauf zu achten
– das haben Sie in den Anhörungen vernommen –, dass
sie nicht mit heißer Nadel gestrickt werden. Ich habe das
Empfinden, Sie wollten jetzt unbedingt einen Antrag
formulieren, damit Sie sich in drei, vier Monaten, wenn
unsere Initiativen in einen fundierten Antrag geflossen
sind, darauf beziehen können. Ich hoffe, dass wir dann
mit unserem Antrag auf Ihre Akzeptanz stoßen werden
und dass wir gemeinsam diesen Antrag verabschieden
können.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Heute lehnen wir Ihren Antrag aber ab.

Gestatten Sie mir noch eine kurze Anmerkung zum
FDP-Antrag, der sich mit der Verwendung der Über-
schüsse der BA beschäftigt. Die Richtung, die die FDP
in ihrem Antrag vorschlägt, ist richtig,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)


nämlich dem Beitragszahler diese Überschüsse zukom-
men zu lassen. Dazu muss aber gewährleistet sein, dass
die Überschüsse in dieser Höhe kontinuierlich anfallen
und durch eine weitere Senkung der Beiträge zur Ar-
beitslosenversicherung über 2 Prozent hinaus keine
neuen Defizite bei der Bundesagentur für Arbeit anfal-
len.

Gleichzeitig sagen wir aber auch deutlich – das hat
für uns eine genauso große Bedeutung –, dass die nöti-
gen Mittel zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit durch
aktive Arbeitsmarktpolitik erhalten bleiben müssen. Es
wäre kontraproduktiv, wenn wir aufgrund eines einmali-
gen hohen Überschusses der BA die Beiträge so weit
senken würden, dass hinterher keine Qualifizierung zur
Verhinderung von Arbeitslosigkeit mehr möglich wäre.

Also auch hier Ablehnung des Antrags, verbunden
mit der Zusage, eine weitere Absenkung dann in Angriff
zu nehmen, wenn die Überschüsse der BA nachhaltig
gesichert sind und das Niveau der beruflichen Qualifi-
zierung nicht unter einer Absenkung leidet.

Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksam-
keit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606008800

Nächster Redner ist der Kollege Heinz-Peter

Haustein, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)


Heinz-Peter Haustein (FDP):
Rede ID: ID1606008900

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

„Zukunft der Arbeit gestalten statt Arbeitslosigkeit ver-
walten“ –


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


das ist ein wohlklingender und sprachlich gelungener
Titel für einen Antrag,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


so könnte man denken. Gestalten statt verwalten, agieren
statt nur zu reagieren: Da ist jeder geneigt, den Antrag
gleich zu unterschreiben.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zustimmen!)


Doch der Inhalt klingt nicht mehr nach Zukunft. Denn
Sie wollen wieder einmal nur den Vater Staat gestalten
lassen und führen die alten Mindestlohndebatten fort.
Sie wollen sogar den öffentlichen Beschäftigungssektor
ausweiten. Das war nie erfolgreich und kann es auch
nicht sein, weil man damit nicht dort ansetzt, wo das
Problem liegt.


(Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Woher kommen die Arbeitsplätze?)


Ihre Analyse des Arbeitsmarktes ist zutreffend. Der
Anteil gering qualifizierter Arbeitsloser und Langzeit-
arbeitsloser steigt kontinuierlich; im letzten Jahr von
37,4 auf 42,4 Prozent. Die Betroffenen haben zuneh-
mend weniger Chancen, eine neue Anstellung zu finden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!)


Im internationalen Vergleich hat Deutschland einen der
höchsten Anteile von Langzeitarbeitslosen.

Im Übrigen gehört das Problem der wachsenden
Armut in Deutschland auch dazu, und keineswegs erst,
seit sich der SPD-Vorsitzende dazu geäußert hat.


(Beifall bei der FDP)


Wer darüber etwas wissen wollte, der brauchte seit Jah-
ren nur in den Armuts- und Reichtumsberichten nachzu-
lesen. Den Bürgermeistern in diesem Land sind diese
Probleme längst bekannt.


(Beifall bei der FDP)


Meine Heimatregion, das Erzgebirge, ist trauriger
Spitzenreiter mit dem bundesweit höchsten Anteil von
23 Prozent an vollbeschäftigten ALG-II-Empfängern.
Das sind Menschen, die Vollzeit arbeiten gehen und
trotzdem ergänzendes ALG II, sprich Sozialhilfe, be-
kommen.


(Dirk Niebel [FDP]: Da wären sie mit dem Bürgergeld besser dran!)


Ich hätte mir angesichts der Aussage in der Über-
schrift des Antrags „Zukunft der Arbeit gestalten“ etwas
mehr erhofft. Wenn man darüber redet, muss man auch
über Globalisierung sprechen. Solange täglich Arbeits-






(A) (C)



(B) (D)


Heinz-Peter Haustein
plätze ins Ausland abwandern, kann die deutsche Ant-
wort auf diese Situation nicht der Mindestlohn sein.


(Beifall bei der FDP)


Dann muss man über Flexibilisierungen im Tarif- und
Arbeitsrecht reden, die es Unternehmern erlauben – ich
wiederhole: den Unternehmern –, sich auf eine sich ver-
ändernde Arbeitswelt schnell einzustellen. Die Krux
liegt schon beim Verständnis: Wer davon spricht, die Zu-
kunft der Arbeit zu gestalten, der kann ja nur meinen, die
entsprechenden Rahmenbedingungen zu setzen.


(Beifall bei der FDP)


Arbeitsplätze können nur die Unternehmen schaffen. Sie
schaffen sie in Deutschland aber nur, wenn die Bedin-
gungen hier attraktiver als woanders sind. Nur so entste-
hen hier und nicht im Ausland Arbeitsplätze.


(Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Weil er Recht hat, ist er mit über 90 Prozent zum Bürgermeister gewählt worden!)


Dass wir an diesen Bedingungen arbeiten müssen,
zeigen uns die täglichen Abwanderungen von Unterneh-
men ins Ausland und viele Firmenpleiten. Warum gibt es
nicht genug Menschen in Deutschland, die bereit sind,
unternehmerische Risiken auf sich zu nehmen,
60 Stunden in der Woche zu arbeiten, auf Urlaub zu ver-
zichten sowie Haus und Hof der Bank zu verpfänden?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gute Frage!)


Weil die Anreize fehlen! Wir brauchen mehr Unterneh-
mer, die bereit sind, Verantwortung zu tragen sowie Ar-
beits- und Ausbildungsplätze zu schaffen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Arbeitsplätze zu schaffen ist das Sozialste, was man in
diesem Land machen kann. Das ist Fakt – und ein Kern-
satz im Konzept der FDP. Deshalb ist die FDP eine sehr
soziale Partei.


(Beifall bei der FDP – Lachen bei der LINKEN)


Weit über den Broterwerb hinaus ist ein Arbeitsplatz
Mitte sozialer Integration. Er gibt den Menschen das
wichtige Selbstwertgefühl, das sie brauchen, und Würde.

Von den Grünen kommt immer wieder der Ruf nach
Staatsbeschäftigung.


(Dirk Niebel [FDP]: So sind sie, die Grünen!)


Eine Ausweitung der öffentlichen Beschäftigung kann
und wird niemals die Lösung des Arbeitsmarktproblems
sein. Es handelt sich um Ersatzmaßnahmen, die am
wirklichen Ziel vorbeilaufen und die Probleme verwi-
schen.


(Beifall bei der FDP)


Unsere Vorschläge liegen seit langem auf dem Tisch.
Wir brauchen einen Politikwechsel. Leistung muss sich
bei Bildung, Arbeit und Forschung wieder lohnen. Es
muss Anreize geben, Ideen zu entwickeln und sie umzu-
setzen. Es muss sich rentieren, besser zu sein als andere
und dafür zu kämpfen. Wir brauchen einen Paradigmen-
wechsel hin zur Leistungsgesellschaft, ohne die Schwä-
cheren zurückzulassen.

Unternehmer können heute überall in der Welt produ-
zieren lassen. Arbeit ist fast immer der entscheidende
Kostenfaktor, nach dem Standortentscheidungen rational
getroffen werden. Ein Unternehmer muss rational den-
ken; denn sonst geht er Pleite und die Arbeitsplätze sind
komplett weg.


(Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Das ist doch so einfach!)


Wir werden hier in Deutschland niemals zu den Preisen
produzieren können, zu denen man in China produzieren
kann.

Dass wir immer noch gut sind, zeigt die Tatsache,
dass wir Exportweltmeister sind. Wir sollten uns aber
nicht darauf ausruhen; denn der Bessere ist der Feind des
Guten. Die Stellschrauben, an denen die Politik drehen
kann, sollten wir in die richtige Richtung drehen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und aufpassen, dass die Schraube nicht abreißt!)


Voraussetzung für die Senkung der Lohnnebenkosten ist
ein Systemwechsel bei den sozialen Sicherungssyste-
men; ein Murks wie bei der Gesundheitsreform hilft
nicht weiter.


(Beifall bei der FDP)


Wir brauchen einen radikalen Abbau der bürokratischen
Zwangsjacke, die die Unternehmen ständig gängelt, eine
umfassende Unternehmen- und Einkommensteuerreform
anstatt eine unsoziale Erhöhung der Mehrwertsteuer.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Nun zur BA. Das ist eine zentralistische Mammutbe-
hörde mit über 100 000 Beschäftigten und einem Etat
von 51 Milliarden Euro. Sie ist verantwortlich für die
Verwaltung von 4,2 Millionen Arbeitslosen.


(Dirk Niebel [FDP]: Und der hat nie da gearbeitet!)


Arbeitsplätze schafft die BA aber nicht. Das können nur
Unternehmer. Die BA kann nur vermitteln.


(Dirk Niebel [FDP]: Na ja, auch das nicht!)


Dabei gibt sie sich zwar große Mühe – ich kenne viele
gute Leute bei der BA –, Fakt ist aber, dass der Zentralis-
mus nicht funktioniert. Lösen wir das Problem dezentral:
Geben wir die Vermittlung in die Hand der Kommunen
und Landkreise. Das ist effektiver. Sie wissen besser Be-
scheid, was los ist.


(Beifall bei der FDP)


Wenn es uns gelingt, mehr Arbeitsplätze zu schaffen
– das sollte unser Ziel sein; wir dürfen uns nicht damit
abfinden, immer Arbeitslose zu haben –, brauchen wir
die BA irgendwann nicht mehr, weil wir keine Arbeitslo-






(A) (C)



(B) (D)


Heinz-Peter Haustein
sen mehr haben. Das muss unser Ziel sein. Dafür müssen
wir kämpfen.

Ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge!


(Beifall bei der FDP – Heiterkeit)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606009000

Nächster Redner ist der Kollege Peter Rauen, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Peter Rauen (CDU):
Rede ID: ID1606009100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sagen Sie einfach, Haustein hat Recht! – Dirk Niebel [FDP]: Sie können auch sagen, Niebel hat Recht!)


Der Antrag der Grünen schlägt im Kern weitere Instru-
mente vor, die Arbeit in Deutschland mit staatlichen
Mitteln zu bewirtschaften. Diese Arbeitsbewirtschaf-
tungsmaßnahmen sind allesamt gut gemeint. Gut ge-
meint ist nach aller Lebenserfahrung aber oft das Gegen-
teil von gut.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist völlig richtig!)


Alle Maßnahmen haben einen Nachteil: Sie müssen
bezahlt werden,


(Dirk Niebel [FDP]: Die Mehrwertsteuer auch!)


und zwar von denjenigen, die Tag für Tag arbeiten ge-
hen, die sich selbst und ihre Familien ernähren können
und darüber hinaus Steuern und Abgaben zahlen, damit
der Sozialstaat funktioniert. Viele von denen, die arbei-
ten, haben netto, nach Abzug von Steuern und Abgaben,
weniger als Menschen, die von staatlichen Transferleis-
tungen leben. Die circa 1 Million „Aufstocker“, also
jene, die ergänzendes Arbeitslosengeld II erhalten, stim-
men mich sehr nachdenklich. Derjenige, der arbeitet,
muss in jedem Fall mehr haben als derjenige, der nicht
arbeitet. Das schreiben die Grünen zu Recht in ihrem
Antrag. Ich unterstreiche diesen Satz dreimal.

Leider ist die Lebenswirklichkeit eine andere. Um die
Probleme auf dem Arbeitsmarkt wirklich zu lösen, müs-
sen wir tiefer schürfen, als ständig nur über neue Instru-
mente der Arbeitsbewirtschaftung nachzudenken und zu
diskutieren.


(Dirk Niebel [FDP]: Dann macht doch einmal eine Reform des Arbeitsrechts!)


Mittlerweile stehen wir alle zu den Grundsätzen der
sozialen Marktwirtschaft. Diese Marktordnung ist eng
mit dem Namen Ludwig Erhard verbunden. Schon 1956
warnte Ludwig Erhard vor der wachsenden Sozialisie-
rung der Einkommensverwendung und der zunehmen-
den Abhängigkeit vom Staat.


(Dirk Niebel [FDP]: Ja! Recht hat er!)

Am Ende dieser Entwicklung, so prophezeite Erhard da-
mals, stünde der soziale Untertan und die Lähmung des
wirtschaftlichen Fortschritts.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


SPD-Chef Kurt Beck sprach vor kurzem aus, was
Ludwig Erhard prophezeit hatte. Er sagte, was im
Grunde alle wissen: Es gibt Armut und Perspektivlosig-
keit in Deutschland. – Das Wort „Unterschicht“ machte
die Runde. Auf einmal waren alle betroffen und zeigten
Abscheu vor diesem Begriff.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Man kann über die Begrifflichkeit streiten. In der Ana-
lyse jedoch hat Kurt Beck Recht. In den letzten
35 Jahren haben wir geglaubt, die Arbeitslosigkeit in
Deutschland durch immer neue und immer teurere Ar-
beitsbewirtschaftungsmaßnahmen bekämpfen zu kön-
nen. Das traurige Ergebnis dieses Irrtums müssen wir
endlich korrigieren.

Das Schlimmste aber: Unter dem Druck steigender
Arbeitslosenzahlen und sinkender Wachstumsraten ver-
fehlt der Umverteilungsstaat letztlich seine eigene Ziel-
setzung. Ungleichheit und Armut nehmen zu. So klet-
terte die so genannte Armutsquote von 1992 bis heute
von damals 13 Prozent auf 16 Prozent.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl Hartz IV
die Ausgaben für Sozialleistungen um 10 Milliarden
Euro in die Höhe getrieben hat, wird diese Reform von
den Menschen als Kürzungsorgie empfunden. Ein Blick
auf die Realität wirkt ernüchternd: Armut und Ausgren-
zung können nicht verhindert werden, selbst wenn der
Staat noch mehr Geld umverteilt. Im Gegenteil, der Um-
verteilungsstaat ist längst ein Teil des Problems gewor-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Kosten der Arbeitsmarktpolitik sind von 1998
bis 2005 von 68 Milliarden Euro auf 83 Milliarden Euro
gestiegen.


(Dirk Niebel [FDP]: Zeit zum Umsteuern!)


Es kam also in nur wenigen Jahren zu einer Steigerung
um 15 Milliarden Euro.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit gestiegen.


(Dirk Niebel [FDP]: Sie hat sich verfestigt!)


Noch schlimmer ist: Die Zahl der sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten ist in diesem Zeitraum
dramatisch zurückgegangen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!)


In Deutschland sind zurzeit circa 36 Millionen Men-
schen auf dem ersten Arbeitsmarkt erwerbstätig. Da
Deutschland insgesamt 82 Millionen Einwohner hat,
bedeutet das im Umkehrschluss, dass 46 Millionen






(A) (C)



(B) (D)


Peter Rauen
Menschen auf Einkommen ohne Arbeit angewiesen
sind. Dieses Missverhältnis muss dringend korrigiert
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Insbesondere in unserem Land, in dem die sozialen
Sicherungssysteme überwiegend an den Faktor Lohn ge-
koppelt sind, muss diese Fehlentwicklung korrigiert
werden.


(Dirk Niebel [FDP]: Dann stimmen Sie doch unserem Antrag zu!)


Wir brauchen dringend mehr Beschäftigung und weniger
staatliche Transfers.


(Dirk Niebel [FDP]: Ja! Jetzt ist es nur noch ein kleiner Schritt! Dann haben wir’s!)


Manche glauben, dass keine Chancen bestehen, mehr
Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Ich teile diese
Auffassung überhaupt nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich bin vom Gegenteil überzeugt: Wir haben in Deutsch-
land genügend Arbeit, aber nicht mehr genügend Arbeit
zu bezahlbaren Preisen. Die Menschen, die in Deutsch-
land arbeiten, verdienen mit ihrer Arbeit netto zu wenig.
Gleichzeitig sind jedoch die Arbeitskosten zu hoch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In Deutschland ist die Schwarzarbeit in den letzten
25 Jahren von 7 Prozent auf heute 17 Prozent des Brut-
toinlandsprodukts gestiegen. Sie hat ein Volumen von
370 Milliarden Euro pro Jahr erreicht. Ich will keine be-
stimmte Partei dafür verantwortlich machen. Aber ich
möchte deutlich machen: Allein dieser Zuwachs ent-
spricht einem Arbeitskräftepotenzial von 5 Millionen
Menschen.

Warum es zu dieser Entwicklung gekommen ist, liegt
für mich auf der Hand. Als gelernter Maurer und Inge-
nieur habe ich mich 1966 selbstständig gemacht. Damals
musste ein Maurer 1,65 Stunden arbeiten, um sich von
seinem Nettoertrag eine Arbeitsstunde eines anderen
Handwerkers mit gleichem Stundenlohn leisten zu kön-
nen. Heute muss derselbe Maurer, wenn er in Steuer-
klasse I ist, dafür 5,6 Stunden arbeiten, und wenn er ver-
heiratet ist und Steuerklasse III hat, 4,4 Stunden.

Die Arbeitsteilung in Deutschland funktioniert nicht
mehr. Wenn sich der Einzelne legale Arbeit nicht mehr
leisten kann, kehren die Leute zum Tauschhandel zu-
rück: Dann tauscht der Maurer mit dem Schreiner, der
Schreiner mit dem Schlosser und der Schlosser mit dem
Anstreicher seine Stunden, und der Staat geht dabei leer
aus.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was machen die, die zwei linke Hände haben?)


Wenn wir wirklich mehr ordentliche Arbeit in Deutsch-
land haben wollen, gibt es zur Senkung der Lohnzu-
satzkosten keine Alternative.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606009200

Herr Kollege Rauen, erlauben Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Dirk Niebel?


Peter Rauen (CDU):
Rede ID: ID1606009300

Bitte schön.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1606009400

Herr Kollege Rauen, ich stimme Ihnen in allem, was

Sie bisher gesagt haben, in der Analyse zu hundert Pro-
zent zu.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Nur eins verstehe ich nicht und ich möchte Sie fragen,
ob Sie mir das erklären können. Ich verstehe nicht, dass
vor dem Hintergrund all des Richtigen, was Sie eben ge-
sagt haben, und der Notwendigkeit, dringend Verände-
rungen für mehr Arbeit in Deutschland durchzusetzen,


(Klaus Brandner [SPD]: Die Mehrwertsteuer!)


diese Bundesregierung an der arbeitsplatzfeindlichen
Mehrwertsteuererhöhung festhält,


(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh! – Ute Kumpf [SPD]: Herr Niebel, und das heute, am Tag des Sozialliberalen!)


die gerade in dem von Ihnen angesprochenen personal-
intensiven Dienstleistungsbereich, im Handwerk, im
Einzelhandel, in der Gastronomie, nicht auf die Preise
übertragen werden kann, weil Sie völlig Recht haben,
dass Arbeit zu teuer geworden ist und man zum Tausch-
handel zurückkehrt.


(Klaus Brandner [SPD]: Kartoffeln gegen Bier! – Ute Kumpf [SPD]: Wenig kreativ, diese Nachfrage! – Klaus Brandner [SPD]: Fleisch gegen Schnaps!)


Wäre es vor dem Hintergrund sprudelnder Mehreinnah-
men, über die wir uns ja alle freuen, nicht sinnvoll, zu
sagen: „Wir haben geirrt“, und auf den rechten Weg zu-
rückzukehren?


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Die Frage ist vom Ansatz her falsch!)



Peter Rauen (CDU):
Rede ID: ID1606009500

Herr Niebel, ich schätze Sie viel zu sehr, um Ihnen zu

unterstellen, dass Sie um die Bedeutung solider Staats-
finanzen nicht wüssten. Wir haben in den Haushalten
strukturelle Defizite von fast 60 Milliarden Euro. Um
die Haushalte von Bund und Ländern zu stabilisieren
und die Stabilitätskriterien wieder einzuhalten,


(Klaus Brandner [SPD]: Das war die Last von 98! – Widerspruch bei der CDU/CSU)


hat die Union bereits im Wahlkampf erklärt, die Mehr-
wertsteuer zu erhöhen – aber zugleich versprochen, dass
von der Kaufkraft her im gleichen Volumen die Beiträge






(A) (C)



(B) (D)


Peter Rauen
gesenkt werden. Dazu steht die Union. Es wurde von den
Kollegen bereits gesagt, dass wir alles daransetzen,
Überschüsse, wann immer möglich, für weitere Senkun-
gen der Beiträge zu verwenden, über diese 2 Prozent-
punkte hinaus.


(Dirk Niebel [FDP]: Gut! Machen wir es!)


Herr Niebel, wenn wir den Beitragssatz um 2,5 Pro-
zentpunkte senken können und gleichzeitig, wie Sie wis-
sen, der Rentenversicherungsbeitrag um 0,4 Prozent-
punkte erhöht wird, bleibt unter dem Strich eine
Senkung von 2,1 Prozentpunkten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Krankenversicherung!)


Das bedeutet im Umkehrschluss, dass zwei Drittel der
Kaufkraft, die durch die Mehrwertsteuererhöhung ent-
zogen wird, den Menschen sofort zurückgegeben wird,
und zwar denen, die es brauchen: denen, die arbeiten, so-
wie den Firmen, die diese Menschen beschäftigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist mit den Krankenversicherungsbeiträgen?)


Mir persönlich wäre es lieber, wenn es dieser Mehr-
wertsteuererhöhung nicht bedurft hätte;


(Klaus Brandner [SPD]: Wem nicht?)


das gebe ich ganz ehrlich zu. Ich sehe auch die Pro-
bleme, die die Erhöhung im nächsten Jahr für die Kon-
junktur mit sich bringt. Deshalb bin ich mit unseren
Freunden der Auffassung, dass alles, was an weiterem
Spielraum gegeben ist, zur Senkung der Beiträge zur Ar-
beitslosenversicherung verwendet werden muss.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Also stimmen Sie zu!)


– Voll und ganz. – Das haben die Kollegen heute aber
auch gesagt, das ist gar nicht strittig.

Sie sprechen von 9,6 Milliarden Euro, die übrig sind.


(Dirk Niebel [FDP]: 12 Milliarden Euro!)


– Wahrscheinlich werden es 12 Milliarden Euro. Aber
Sie müssen seriöserweise auf jeden Fall die 3,5 Milliar-
den Euro abziehen, die durch den Einmaleffekt entstan-
den sind, die Beiträge künftig eher einzuziehen.


(Dirk Niebel [FDP]: Aber noch ist dieses Geld da!)


1 Prozentpunkt der Mehrwertsteuererhöhung ist bereits
vorgesehen, um die Senkung des Beitrags zur Arbeitslo-
senversicherung zu finanzieren. Die Differenz, die bleibt,
kann in weitere Senkungen gesteckt werden. Noch ein-
mal: Für mich ist es überhaupt keine Frage, dass die
Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit aus den ge-
nannten Gründen komplett an die Arbeitnehmer und die
Firmen, die sie beschäftigen, zurückgegeben werden
müssen.

Ich habe jetzt nicht mehr die Zeit, zur Langzeitar-
beitslosigkeit und zur Neustrukturierung des Niedrig-
lohnsektors Ausführungen zu machen. Ich will ab-
schließend nur feststellen – daran arbeitet die Koalition
und da werden wir Ergebnisse vorlegen –: Es wird sich
orientieren an den Grundsätzen: Erstens. Wer arbeitet,
muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Und es
gilt zweitens, das Prinzip des Forderns und Förderns
durchzusetzen. Wir brauchen dies dringend. Wie wollen
Sie einem jungen Menschen die Wichtigkeit einer Aus-
bildung begreifbar machen, wenn er als ausgelernter
Facharbeiter womöglich nicht mehr in der Tasche hat als
sein arbeitsloser Nachbar, der nichts gelernt hat? Ich
glaube, in unserem Handeln müssen wir uns auch hin-
sichtlich des Forderns von folgenden Grundsätzen leiten
lassen: Wer nichts leistet, obwohl er leisten könnte, han-
delt unsozial. Wer leistet, muss in jedem Fall besser ge-
stellt sein als derjenige, der nicht leistet.

Schönen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606009600

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat die Kollegin Katja Mast von der SPD-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der SPD)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1606009700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und

Kollegen! Wenn ich mir den Antrag der Grünen durch-
lese, dann frage ich mich, was eigentlich neu daran ist.


(Dirk Niebel [FDP]: Nichts!)


Ich weiß ja nicht, wie es meinen Kolleginnen und Kolle-
gen ging, aber mich hat dieser Antrag an den Film „Und
täglich grüßt das Murmeltier“ erinnert.


(Dirk Niebel [FDP]: So sind die Grünen!)


Hier könnten wir den Film „Das Gleiche in Grün – alle
zwei Wochen“ drehen.


(Beifall bei der SPD)


Einige Punkte in dem Antrag sind überlegenswert,
vieles ist nur halb richtig und anderes kann und soll aus
meiner Sicht nicht gesetzlich geregelt werden. Immerhin
geben Sie mir die Gelegenheit, noch einmal deutlich zu
machen, wo die Unterschiede in der Arbeitsmarktpolitik
liegen. Damit sich das nicht wie ein arbeitsmarktpoliti-
scher Bauchladen anhört, konzentriere ich mich auf zwei
zentrale Themenfelder, nämlich auf die Fragen, wie wir
mehr ältere Arbeitslose wieder in Jobs bekommen und
wie wir Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit er-
möglichen.

Zuerst komme ich aber noch einmal zu unseren in den
letzten sieben Jahren gemeinsam erarbeiteten Grundsät-
zen in der Arbeitsmarktpolitik. Gemeinsam mit Ihnen
von den Grünen haben wir die bedeutendste Arbeits-
marktreform in der Geschichte Deutschlands auf den
Weg gebracht.






(A) (C)



(B) (D)


Katja Mast

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann setzen Sie jetzt nicht alles aufs Spiel!)


Für die heutige Debatte scheint mir aber ein anderer
Grundsatz unserer gemeinsamen Arbeitsmarktpolitik
wichtig: Wir waren uns einig, dass unsere Reform nur
zielführend sein kann, wenn wir ihre Wirkung überprü-
fen.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Das haben wir mit der wissenschaftlichen Evaluierung
des Hartz-I-, des Hartz-II- und des Hartz-III-Gesetzes
getan.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und warum haben Sie das abgeschafft, bevor die Evaluierung zu Ende war?)


Das ist in der bundesdeutschen Gesetzgebungsge-
schichte bisher einmalig.

Wieso muss ich diese so selbstverständlich klingen-
den Grundsätze heute erklären? Gerade im Hinblick auf
die Instrumente, durch die ältere Arbeitslose wieder in
Beschäftigung gebracht werden sollen, verwundert mich
Ihr Antrag. Ich zitiere:

Die mit der Initiative „50 plus“ präsentierten Vor-
schläge für ältere Arbeitnehmer beinhalten im
Wesentlichen lediglich bereits bestehende Instru-
mente …


(Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt!)


Liebe Abgeordnete der ehemaligen Regierungskoalition,
das ist richtig, aber das ist auch so gewollt.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum macht Müntefering dann so einen Bohei darum?)


Entwickeln, bewerten, verbessern – das war doch der
Dreischritt unserer gemeinsamen Arbeitsmarktpolitik,
nicht die ständige Neukonzeption von Instrumenten, die
nur dazu führt, dass niemand mehr durchblickt, was es
am Arbeitsmarkt eigentlich gibt.


(Beifall bei der SPD)


Zurück zur Evaluierung bzw. wissenschaftlichen Be-
wertung der Instrumente für ältere Arbeitslose. Der
Evaluierungsbericht ist eindeutig: In ihm wird aufge-
zeigt, dass die Mittel für Beitragsbonus, Eingliederungs-
zuschuss und Weiterbildungsförderung nicht umfang-
reich genutzt wurden. Es wird aber auch der Grund dafür
genannt: Die Fördermöglichkeiten sind weder den Be-
troffenen noch den Arbeitgebern noch den Beratern der
Bundesagentur für Arbeit bekannt. Es ist also falsch, zu
meinen, dass wir neue Maßnahmen brauchen, um Ältere
in den Arbeitsmarkt zu bringen. Es muss uns darum ge-
hen, gemeinsam dafür zu werben, dass die bestehenden
Möglichkeiten für Ältere angewendet werden.

(Dirk Niebel [FDP]: Dann fangt doch einmal mit dem Stopp der Frühverrentung an! Ihr habt die 58er-Regelung doch letztes Jahr verlängert!)


Hierfür ist die Initiative „50 plus“ die ideale Plattform.
Das Kleinreden der Instrumente hilft nicht weiter.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie fordern weiter, die Regierung solle Gesetze for-
mulieren, um – hier bin ich meinem Kollegen, Herrn
Müller, für seine Ausführungen dankbar – das gesell-
schaftliche Leitbild vom Altern und die Personalpolitik
in den Unternehmen zu verändern. Wir brauchen in der
Tat ein anderes Leitbild und eine andere Personalpolitik,
aber nicht per Gesetz. Als ehemalige Referentin für Per-
sonalstrategie


(Dirk Niebel [FDP]: Wo? Bei der IG Metall?)


bin ich mir sicher, dass es kein deutsches Unternehmen
gibt, das auf ein Bundesgesetz wartet, in dem eine Ände-
rung der Personalpolitik geregelt wird. Ein solches
Gesetz würde nichts bewirken. Denn einen Mentalitäts-
wandel erreichen wir nicht durch Gesetze, sondern
durch Dialog und Vorbilder.

Mit der Initiative Neue Qualität der Arbeit entwi-
ckeln wir solche Vorbilder und machen sie bekannt. Die
öffentliche Hand, die Sozialpartner und die Betriebe su-
chen gemeinsam nach Antworten auf die Frage, wie die
Beschäftigten fit und gesund im Erwerbsleben bleiben.
Dazu brauchen wir Ihren Antrag nicht.


(Beifall bei der SPD)


Doch nun zu meinem zweiten Thema Existenzgrün-
dungen aus der Arbeitslosigkeit. Bei der Förderung von
Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit handelt
es sich um eines der erfolgreichsten Mittel der aktiven
Arbeitsmarktpolitik, die für uns von der SPD beim För-
dern der Eigeninitiative ansetzt. Auch hierzu wird in der
Evaluierung der Hartz-Gesetze einiges ausgeführt. Ich
will nicht auf die einzelnen Punkte eingehen; es wurde
aber deutlich, dass selbst die Gründerinnen und Gründer
Veränderungen – insbesondere bei der Ich-AG –
wünschten.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht die Abschaffung!)


Wir haben nun mit unserem Instrument des Gründerzu-
schusses das Positive des früheren Überbrückungsgeldes
mit dem Positiven der Ich-AG verbunden. Damit haben
wir Transparenz der Förderinstrumente am Arbeitsmarkt
erhöht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Außerdem haben wir den Gründerzuschuss zielgerichte-
ter gestaltet.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt nimmt ihn niemand mehr in Anspruch! – Gegenruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]: Weil man jetzt Kriterien erfüllen muss! Jetzt machen die einmal etwas Vernünftiges!)







(A) (C)



(B) (D)


Katja Mast
In der Diskussion wird immer wieder angeführt, dass
Teilzeitgründungen nicht mehr möglich seien. Das
stimmt aber nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Denn unabhängig davon, wie die Gründung gestaltet
wird, bekommt jeder Gründer aus der Arbeitslosigkeit
pauschal über maximal 15 Monate 300 Euro, um sich
sozial abzusichern. Das haben wir von der Ich-AG über-
nommen. Neun Monate lang wird eine Leistung in Höhe
des erhaltenen Arbeitslosengeldes gewährt. Damit
wurde ein Baustein des früheren Überbrückungsgeldes
übernommen.

Die Geschäftsidee wird zweimal geprüft: am Anfang
und nach neun Monaten. Damit ist es uns gelungen, die
sensible Einstiegsphase der Jungunternehmer abzu-
sichern.

Abschließend will ich Folgendes zusammenfassen:
Erstens. Anträge – auch der Opposition – sind gut; denn
sie ermöglichen die sachliche Auseinandersetzung in der
Öffentlichkeit. Zweitens. Der Ruf nach neuen Gesetzen
ist nicht das Allheilmittel, insbesondere wenn der Dialog
zielführender ist und die Koalitionspartner die notwendi-
gen Schritte bereits auf den Weg gebracht haben.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])


Drittens. Bei von uns gemeinsam entwickelten Gesetzen
geht es darum, auch unseren Grundsätzen treu zu blei-
ben: entwickeln, bewerten, verbessern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606009800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2792 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf
Drucksache 16/3091 soll zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und zur Mitbe-
ratung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
sowie an den Haushaltsausschuss überwiesen werden.
Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 e sowie
Zusatzpunkt 1 auf:

30 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Klaus Ernst, Lutz Heilmann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Bundes-Boden-
schutzgesetzes (BBodSchG)


– Drucksache 16/3017 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein-
heitlichung von Vorschriften über bestimmte
elektronische Informations- und Kommunika-

(Elektronischer-GeschäftsverkehrVereinheitlichungsgesetz – ElGVG)

– Drucksachen 16/3078, 16/3135 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche,
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN

Ratifizierung des IAO-Übereinkommens über
Heimarbeit
– Drucksache 16/2677 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marie-
Luise Dött, Ingbert Liebing, Katherina Reiche

(Potsdam), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dirk
Becker, Marco Bülow, Petra Bierwirth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Sensible Ökosysteme in der Tiefsee besser
schützen
– Drucksache 16/3089 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Naturparke – Chancen für Naturschutz und
Regionalentwicklung konsequent nutzen
– Drucksache 16/3095 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus

ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether
Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Kosovo-Verhandlungen – für eine neutrale
Moderation und eine eigenverantwortliche
und einvernehmliche Lösung zwischen Ser-
bien und den Kosovo-Albanern

– Drucksache 16/3093 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/3089
– Tagesordnungspunkt 30 d – soll federführend an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuss,
den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz, den Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung sowie an den Ausschuss
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 o auf.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 31 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Überstellungsausführungs-
gesetzes und des Gesetzes über die internatio-
nale Rechtshilfe in Strafsachen

– Drucksache 16/2452 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/3154 –

Berichterstattung:

(VillingenSchwenningen)

Joachim Stünker
Dr. Peter Danckert
Jörg van Essen
Sevim Dagdelen
Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/3154, den Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen
angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 31 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Aufbauhilfefonds-
gesetzes

– Drucksache 16/2704 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses (8. Ausschuss)


– Drucksache 16/3159 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Fricke
Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider (Erfurt)

Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk

Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/3159, den Ge-
setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 31 c:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Rahmenabkommen vom 22. Juli 2005
zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Französi-
schen Republik über die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich und
zu der Verwaltungsvereinbarung vom 9. März
2006 zwischen dem Bundesministerium für
Gesundheit der Bundesrepublik Deutschland
und dem Minister für Gesundheit und Solida-
rität der Französischen Republik über die
Durchführungsmodalitäten des Rahmenab-
kommens vom 22. Juli 2005 über die grenz-
überschreitende Zusammenarbeit im Gesund-
heitsbereich

– Drucksache 16/2859 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)


– Drucksache 16/3152 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Jens Spahn

Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/3152, den Ge-
setzentwurf anzunehmen. Wer dem zustimmen will, den
bitte ich um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 31 d:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
6. Februar 2006 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Kroatien zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen

– Drucksache 16/2955 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 16/3136 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Kolbe

Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/3136,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
ben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 31 e:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung

Bericht der Bundesregierung über die Maß-
nahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung

(Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 2004/2005)


– Drucksachen 16/2100, 16/3085 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothée Menzner

Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.

Tagesordnungspunkte 31 f bis 31 o: Wir kommen nun
zur Abstimmung über die Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 31 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 108 zu Petitionen

– Drucksache 16/2979 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 108 ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 31 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 109 zu Petitionen

– Drucksache 16/2980 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 109 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.

Tagesordnungspunkt 31 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 110 zu Petitionen

– Drucksache 16/2981 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 110 ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 31 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 111 zu Petitionen

– Drucksache 16/2982 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 111 ist einstimmig angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 31 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 112 zu Petitionen

– Drucksache 16/2983 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 112 ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller anderen
Fraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 31 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 113 zu Petitionen

– Drucksache 16/2984 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 113 ist bei Gegenstimmen
der FDP-Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Frak-
tionen angenommen.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 31 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 114 zu Petitionen
– Drucksache 16/2985 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 114 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegen-
stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 31 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 115 zu Petitionen

– Drucksache 16/2986 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 115 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 31 n:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 116 zu Petitionen

– Drucksache 16/2987 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 116 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion
und der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 31 o:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 117 zu Petitionen

– Drucksache 16/2988 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 117 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN

Mangel an Studienplätzen – Mögliches Schei-
tern des Hochschulpaktes

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat für
die Antragstellerin die Kollegin Krista Sager vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606009900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass wir

angesichts steigender Bewerberzahlen und eines drohen-
den Fachkräftemangels dringend mehr Studienplätze in
Deutschland brauchen, ist vollkommen unstrittig. Trotz-
dem sind alle Verständigungsversuche darüber, wie wir
das erreichen, bisher gescheitert. In Wirklichkeit droht
dieser Ausbau, der dringend notwendig ist, schiefzuge-
hen.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das Einzige, was schief ist, ist Ihre Rede, Frau Sager! Schon am Anfang! Das ist ja schlimm!)


Erinnert sich eigentlich irgendjemand daran, was wir uns
bei den Beratungen zur Föderalismusreform darüber ha-
ben anhören müssen, was die Länder alles alleine bewe-
gen können? Selbst von der CDU/CSU-Fraktion will
heute keiner mehr dabei gewesen sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Tatsache ist doch: Wenn wir damals das Fenster für ein
gemeinsames Handeln von Bund und Ländern nicht of-
fen gehalten hätten, dann wäre der Versuch, etwas für
mehr Studienplätze zu tun, heute sowieso völlig aus-
sichtslos. Man muss sich einmal die Position der Bun-
desministerin vor Augen halten, die glaubte, dass dann,
wenn sie mehr Geld für Forschung gibt, die Länder die
Studienplätze schon alleine ausbauen würden. Das ist
doch eine reichlich naive Position gewesen. Das steht
heute eindeutig fest.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: So naiv wird es ja auch nur von Ihnen vorgetragen!)


Die Länder haben bei der Föderalismusreform die Ba-
cken aufgeblasen und damit angegeben, was sie alles al-
leine stemmen können, aber jetzt, wo es um das gemein-
same Handeln geht, ist Holland mal wieder in Not. Das
kennen wir schon. Aus dem Gestrüpp der unterschiedli-
chen Einzelinteressen finden sie jetzt nicht mehr heraus.
Das ist der alte bekannte deutsche Wettbewerbsfödera-
lismus, wie er leibt und lebt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wo bleibt denn da die viel beschworene gewachsene
Verantwortung der Länder?

Es lohnt sich aber auch durchaus, einen Blick darauf
zu werfen, was die Bundesseite unter ihrer gesamtstaatli-
chen Verantwortung versteht. Erst wollte die Bundes-
ministerin gar kein Geld für Studienplätze ausgeben.
Jetzt hat sie sich immerhin dazu nötigen lassen, welches
auszugeben. Mittel für Studienplätze stellen aber eindeu-
tig den kleineren Teil des Hochschulpaktes dar.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Peinlich ist das! Unglaublich! So eine Polemik! Das ist doch unwürdig!)


Gemessen an den Prognosen der Wissenschaftsorganisa-
tionen reicht das Geld hinten und vorne nicht. Der Pakt
ist einfach unterfinanziert.






(A) (C)



(B) (D)


Krista Sager

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie es nach dem Jahr 2011, wenn die wirklich hohen
Bewerberzahlen kommen, weitergehen soll, steht so-
wieso in den Sternen. Was stellen wir also fest? Der
Bund hat sich nur halbherzig zum Jagen tragen lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Schavan, es reicht einfach nicht, wenn Sie als
Bundesministerin meinen, Sie könnten Geld ins Fenster
hängen und schauen, ob jemand die Güte hat, es auch ab-
zuholen, nach dem Motto: Wenn es klappt, ist es gut;
wenn es nicht klappt, ist es auch egal. Das ist ein fal-
sches Verständnis von Ihrer Rolle als Bundesministerin.
Sie sollten Ihre baden-württembergische KMK-Brille
endlich einmal ablegen;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


sonst können Sie Ihren Bundesbildungshut gleich an
Herrn Zöllner weiterreichen. Der würde diese Aufgabe
vielleicht besser erfüllen.

Die Aufgabe, die es zu erfüllen gilt – ich gebe es zu –,
ist nicht leicht. Ich behaupte: Wenn wir die unterschied-
liche Ausgangslage der Länder nicht berücksichtigen,
dann drohen wir in eine Situation zu geraten, in der am
Ende das Geld weg ist, wir aber nicht mehr, sondern we-
niger Studienplätze haben – nur dies in anderen Bundes-
ländern. Da in den ostdeutschen Ländern die Abiturien-
tenzahlen schon jetzt geringer werden, brauchen diese
Länder selbstverständlich Anreize dafür, trotzdem Studi-
enplätze zu erhalten und sie nicht abzubauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wird ja auch so kommen! Wird alles so werden!)


Angesichts dessen, dass Stadtstaaten wie Hamburg
und Berlin schon immer überproportional ausgebildet
haben, was nirgends honoriert worden ist, und Berlin
jetzt gesagt bekommt, dass es für seine Hochschulen
Geld verschwendet, braucht man sich nicht zu wundern,
wenn die Stadtstaaten eher Studienplätze abbauen als
aufbauen. Auch gegen diese Entwicklung muss ein
Signal gesetzt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Angesichts dessen, dass ein Land wie Baden-
Württemberg in der Vergangenheit immer zu wenig aus-
gebildet und sogar Studienplätze abgebaut hat, damit
aber glänzend dasteht,


(Jörg Tauss [SPD]: Die stehen nicht glänzend da! Das ist peinlich, was Sie da liefern!)


kann es, Herr Tauss, einer Einigung unter den Ländern
nicht gut tun, wenn es plötzlich gerecht sein soll, dass sie
sich doch herablassen, ein paar Studienplätze zusätzlich
einzurichten, und dann beim Hochschulpakt wieder groß
abkassieren. So kommt keine Verständigung zustande.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das wird also schwer.

Ich sage Ihnen: Derjenige, der während der Verfas-
sungsreform darauf bestanden hat, dass wir bei dieser
Lösung Einstimmigkeit benötigen, gehört mit der
Höchststrafe „Lebenslänglich KMK“ bestraft.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das macht die Sache doch nicht einfacher.

Wir brauchen hier also mehr und nicht weniger ge-
samtstaatliche Verantwortung von Bund und Ländern.
Frau Schavan, ich sage Ihnen eines: Wenn der Ausbau
der Studienplätze schief geht, dann haben nicht nur alle
Landesministerinnen und -minister kläglich versagt.
Dann sind auch Sie als Bundesministerin – das wird Ih-
nen die Öffentlichkeit bestätigen – gescheitert.

Deswegen appelliere ich an alle, das alte Schwarzer-
Peter-Spiel zwischen Bund und Ländern aufzugeben und
die Sache zu einem guten Ende zu bringen; ansonsten
müssen es am Ende die jungen Leute ausbaden, und
zwar nicht nur die Studierenden, sondern auch diejeni-
gen im dualen System, die vor der Verdrängung stehen.
Das können wir uns in diesem Land wirklich nicht erlau-
ben. Sehen Sie also zu, dass Sie hier eine Regelung hin-
bekommen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Peinlich!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606010000

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ilse Aigner von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Kretschmer [CDU/ CSU]: Endlich mal eine, die was davon versteht!)



Ilse Aigner (CSU):
Rede ID: ID1606010100

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Sager, wenn ich
mich richtig erinnere, waren Sie vier Jahre lang Wissen-
schaftssenatorin in einem Bundesland. Wir haben vor
kurzem ein Gespräch mit einem Ihrer Nachfolger, dem
jetzigen amtierenden Senator Dräger, geführt. Dieser er-
klärte mir, dass er folgende Situation in Hamburg über-
nommen hat: 50 Prozent derjenigen, die eine Hoch-
schule besuchten, beendeten diese mit einem Abschluss.
Das ist eine Erblast, die Sie ihm hinterlassen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist nämlich nicht nur entscheidend, wie viele ein Stu-
dium aufnehmen, sondern auch wie viele es abschließen.
Das ist eine Frage des Qualitätsstandards. Ich kann Ih-
nen den Hinweis leider nicht ersparen, dass Sie für das
damalige schlechte Abschneiden in Hamburg Mitverant-
wortung tragen.






(A) (C)



(B) (D)


Ilse Aigner

(Jörg Tauss [SPD]: Herr Dräger ist aber auch kein gutes Beispiel!)


– Herr Dräger hat es mittlerweile wenigstens auf
65 Prozent Absolventen gebracht und hat es sich zum
Ziel gesetzt, auf mindestens 80 Prozent zu kommen.


(Lachen bei der SPD – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was glauben Sie denn, was ich vorgefunden habe?)


Sehr geehrte Damen und Herren, jeder junge Mensch
ist eine Chance für unser Land. Da sind wir uns, glaube
ich, einig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])


Jeder Student ist auch eine Chance für unser Land, da
Wissen bekanntermaßen das Kapital des 21. Jahrhun-
derts ist. Wir stehen zu dieser Verantwortung. Die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben
rechtzeitig darauf hingewirkt, einen Hochschulpakt auf-
zulegen. Trotzdem ist die erste Aufgabe des Bundes
– ich betone das, weil Sie das ein wenig heruntergespielt
haben – die Forschungsförderung. Deshalb ist die erste
Säule dieses Hochschulpaktes ein Angebot im Bereich
der Forschung, nämlich der Einstieg in die Vollkosten-
finanzierung. Dazu gehören 20 Prozent Aufschlag auf
die Einwerbung von Drittmitteln aus der Deutschen For-
schungsgesellschaft.

Sehr geehrte Damen und Herren, das ist wichtig für
eine Hochschule. Wir sind uns einig, dass es zwei Stand-
beine gibt, nämlich Forschung und Lehre. Die Hauptver-
antwortung des Bundes ist nach wie vor die Forschung.
Deshalb lautet das Angebot des Bundes 700 Millionen
Euro bis zum Jahr 2010. Das ist eine sehr erkleckliche
Summe. Das führt dazu, dass die Forschung nicht mehr
zulasten der Lehre ausgebaut wird.

Das zweite Standbein ist die Lehre. Man steht nun
einmal auf zwei Beinen besser als auf einem Bein. Wir
sind uns einig, dass bei der Lehre die Länder in der
Hauptverantwortung stehen. Es war ebenfalls von vorn-
herein klar, dass es sehr unterschiedliche Interessenlagen
gibt – keine Frage! Da sind einerseits die neuen Bundes-
länder mit demografischen Problemen, die Studienplätze
abbauen müssten, was aber insgesamt gesehen nicht
sinnvoll ist. Es gibt andererseits die Stadtstaatenproble-
matik. Aber, sehr geehrte Frau Sager, wäre Köln ein
Stadtstaat, hätte Nordrhein-Westfalen im Verhältnis zu
Köln auch ein Problem, weil es natürlich in den großen
Städten massiv mehr Studienplätze gibt als auf dem fla-
chen Land.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nordrhein-Westfalen hat insgesamt mehr ausgebildet!)


Wenn München ein eigenständiger Stadtstaat wäre,
wäre das im Verhältnis zu Bayern auch so. Deshalb ist es
klar, dass Hamburg im Vergleich zum umliegenden Land
mehr Studienplätze hat. Aber das muss untereinander
ausgeglichen werden.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt denn „untereinander“? Wie wollen Sie das innerhalb eines Landes ausgleichen?)


Es ist natürlich die Aufgabe der Länder, zu entschei-
den, wie dieses Angebot des Bundes über 565 Millionen
Euro aufgeteilt wird. Der Ball ist den Ländern zugespielt
und sie werden ihn auch aufnehmen. Ich bin mir sehr si-
cher, dass die Länder ihrer Verantwortung gerecht wer-
den und bis zum 20. November eine Lösung vorlegen
werden. Ich bin mir da sehr sicher.

Für uns ist es wichtig, dass bei dem Ganzen unter dem
Strich 90 000 zusätzliche Studienplätze herauskommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, dass wir uns in diesem Ziel einig sind.

Sehr geehrte Damen und Herren, immer nur das
Scheitern vorherzusagen und Unkenrufe verlauten zu
lassen, bringt überhaupt keine Lösung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb würde ich vorschlagen, dass Sie sich auf kon-
struktive Vorschläge verlegen und nicht nur sagen, dass
das alles scheitern wird und ganz fürchterlich ist. Für
konstruktive Vorschläge sind wir offen. Für Schwarzma-
lerei haben wir keine Zeit. Wir werden uns der Verant-
wortung stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606010200

Das Wort hat nun der Kollege Uwe Barth von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Uwe Barth (FDP):
Rede ID: ID1606010300

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir hatten gestern im Ausschuss die Generalsekre-
tärin der Hochschulrektorenkonferenz zu Gast. Sie hat
dort unwidersprochen formuliert:

Der Hochschulpakt in seiner jetzt bekannten finan-
ziellen Ausstattung ist das Gegenteil einer Quali-
tätsoffensive.

Der ebenfalls anwesende Generalsekretär des Wissen-
schaftsrates hat ergänzt:

Die deutschen Hochschulen sind seit Jahrzehnten
unterfinanziert.

Die Bundesregierung und die Kultusminister gehen
gemeinsam von einem Anstieg der Studentenzahlen bis
zum Jahr 2014 um 25 Prozent auf bis zu 2,7 Millionen
Studenten aus. Wenn man die Qualität des Studiums
auch nur erhalten wollte, müsste man gegenüber heute
jährlich etwa 3,3 Milliarden Euro mehr für die Hoch-
schullehre insgesamt ausgeben. Schon jetzt aber haben
viele Länder Probleme, die geforderten 565 Millionen
Euro – eine vergleichsweise geringe Summe; man be-
denke, wir reden hier nicht über einen jährlich, sondern






(A) (C)



(B) (D)


Uwe Barth
über einen für vier Jahre aufzubringenden Betrag; es
geht also um einen jährlichen Betrag von 140 Millionen
Euro für 16 Länder – aufzubringen. Wenn man bedenkt,
welche Summe im Jahr 2014 aufgebracht werden muss,
dann erkennt man, dass das für die Hochschulen nichts
Gutes ahnen lässt.

Statt des nötigen Qualitätssprungs nach oben ist eher
das Gegenteil zu befürchten, mit dem bekannten Ergeb-
nis: überfüllte Hörsäle, viel zu volle Seminare, verlän-
gerte Studienzeiten, auch wegen organisatorischer Über-
forderung. Hinzu kommen die Schwierigkeiten wegen
der Umstellung der Studiengänge und natürlich das Pro-
blem, dass wir für die ostdeutschen und im Übrigen auch
für die norddeutschen Unis eine Lösung brauchen.

Im Interesse des Ganzen, der Studierenden und der
Hochschullandschaft in Deutschland, ist es – besonders
mit Blick auf die Zeit nach 2010 – dringend nötig, dass
die Studienplätze an diesen Universitäten erhalten wer-
den können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Ergebnis: Der finanzielle Rahmen des Hochschul-
paktes ist offensichtlich zu eng.

Angesichts der aktuellen Lage muss man folgende
Frage einmal stellen: Kommt der Hochschulpakt über-
haupt? Kollegin Aigner, das hat nichts mit Schwarzma-
lerei zu tun. Konstruktive Vorschläge hat die Opposition
im Rahmen der Föderalismusreform gemacht: Als in
diesem Hohen Hause die so genannte Föderalismusre-
form verabschiedet wurde, war die Erleichterung recht
groß, insbesondere bei den Koalitionsfraktionen, und
zwar darüber, die drohenden „Abweichler“, insbeson-
dere in den Reihen der SPD, kurz vor der Ziellinie sozu-
sagen noch eingefangen zu haben.


(René Röspel [SPD]: Das ist aber monolithisch, zentralistisch!)


Viele der damals in der Koalition zweifelnden Kolle-
gen waren Bildungspolitiker. Sie hatten zu Recht große
Bedenken, den Bund vollständig aus der Verantwortung
für die Hochschullehre zu entlassen, so wie dies ur-
sprünglich vorgesehen war. Erkauft hat man sich ihre
Zustimmung mit einem Zugeständnis: Die Lehre an
Hochschulen wurde Bestandteil der neuen Gemein-
schaftsaufgabe, allerdings unter der Bedingung, dass alle
16 Länder dem geplanten Vorhaben einstimmig zustim-
men.

Ich neige nicht zu Zynismus; aber ich glaube – Kolle-
gin Sager hat den Erfinder dieser Regelung schon ange-
sprochen –, dass dieses Zugeständnis auch in der Hoff-
nung gemacht wurde, dass die Länder in KMK-
bewährter Weise ohnehin keine Einigung zustande be-
kommen. Man muss heute feststellen: Dieses Kalkül
scheint aufzugehen. Alles, was man vom Hochschulpakt
hört, ist – um es vorsichtig auszudrücken – wenig ermu-
tigend. Mit Bezug auf die Sitzung der KMK vom
19. Oktober 2006 schrieb die „FAZ“ einige Tage später,
dort habe sich gezeigt, wie die Länder die von ihnen
nach Abschluss der Föderalismusreform beschworene
gesamtstaatliche Verantwortung verstehen: Sie nehmen
sie schlicht nicht wahr.

Nun ist sicher auch die „FAZ“ nicht im Besitz der
letztgültigen Wahrheit. Aber die Tatsache, dass es der
Bund auf der erwähnten Sitzung ganz offensichtlich für
nötig hielt, darauf hinzuweisen, dass der Pakt nur dann
kommt, wenn sich die Länder in allen einzelnen Fragen
bis zum 20. November 2006 geeinigt haben, hat doch et-
was von einer ultimativen Aufforderung. Wäre alles so
harmonisch, wie uns im schriftlichen Bericht der Bun-
desregierung und auch in der Antwort auf unsere Kleine
Anfrage glauben gemacht wird, dann wäre eine solche
Drohung – so muss man es fast nennen – ein diplomati-
scher Fehltritt ohnegleichen. Ich glaube aber nicht, dass
es das war. Nein, das Ultimatum, das die Bundesregie-
rung der KMK gesetzt hat, war wohl überlegt und ange-
bracht.

Der Bundespräsident hat mit erfreulicher Klarheit die
Verbesserung des Bildungswesens zum zentralen Prüf-
stein der Zukunftsfähigkeit des Föderalismus erklärt.
Der Hochschulpakt – wenn er zustande kommt – ist ein
solcher Baustein. Ich sage in aller Deutlichkeit: Ohne
ihn ist die Föderalismusreform bildungspolitisch ge-
scheitert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Scheitert dieser Pakt oder kommt es zu einer Pseudoeini-
gung à la Gesundheitsreform, dann, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, müssen Sie die Verant-
wortung für die bitteren Konsequenzen, die unser Land
dann tragen muss, auch tragen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606010400

Das Wort hat jetzt die Ministerin für Wissenschaft

und Kunst des Freistaates Sachsen, Frau Eva-Maria
Stange.


(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1606010500

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren Abgeordnete! Ich möchte mich zunächst bei
den Antragstellern dieser aktuellen Debatte über den
Hochschulpakt 2020 bedanken und dafür, dass ich die
Möglichkeit habe, die Sicht der Länder darzustellen. Die
Hochschulen in Deutschland und ihre Leistungsfähigkeit
haben die Aufmerksamkeit der Parlamente in Bund und
Ländern endlich erreicht; das ist gut so.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Hochschulstandort Deutschland muss sich mit-
nichten verstecken. Wir verfügen über eine qualitativ
hochwertig ausgebaute Hochschullandschaft in allen Re-
gionen der gesamten Republik. Doch um zukunftsfähig






(A) (C)



(B) (D)


Staatsministerin Dr. Eva-Maria Stange (Sachsen)

zu sein und im internationalen Wettbewerb – ich ver-
wende einmal diese Verkürzung – um die besten Köpfe
und um die Spitze in der Forschung und der Wissen-
schaft mithalten zu können, letztlich zum Wohl unseres
Landes und seiner Bürgerinnen und Bürger, müssen wir
uns gemeinsam – das heißt Bund und Länder – zwei He-
rausforderungen stellen: Die erste Herausforderung ist
die Ausdifferenzierung und internationale Sichtbarkeit
in der Spitze, die jetzt mit der Exzellenzinitiative in
Fahrt gekommen ist. Die zweite Herausforderung – zu
der möchte ich hier vor allen Dingen sprechen – ist der
qualitative und quantitative Ausbau der Studienplätze.

Wer Exzellenz in der Spitze will, muss den Hoch-
schulpakt wollen. Ich kann Ihnen versichern, auch wenn
hier viele Stimmen anderes sagen: Die Wissenschafts-
ministerinnen und Wissenschaftsminister der Länder
wollen den Hochschulpakt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Uwe Barth [FDP]: Dann sollen sie es doch zeigen!)


Wir nehmen die Unterstützung des Bundes bei dieser nur
gemeinsam in kurzer Zeit zu bewältigenden Anstren-
gung an.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Guter Föderalismus!)


Erstmals gibt es keinen Streit mehr in der Frage: Wol-
len wir mehr Hochschulabsolventinnen und -absolventen
und möglichst jedem Studienberechtigten ein Studium
ermöglichen? Zu deutlich ist der Nachholbedarf im Ver-
gleich zu anderen OECD-Ländern. Gestatten Sie mir,
dass ich hier einmal Folgendes erwähne: Bei einer Stu-
dienanfängerquote von lediglich 37 Prozent im Ver-
gleich zu mehr als 60 Prozent in den USA oder gar
80 Prozent in Schweden bleiben letztlich nur 20 Prozent
Hochschulabsolventen in Deutschland übrig.


(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Dafür haben wir eine berufliche Ausbildung! Diese Länder haben ja auch keine Alternative!)


Im OECD-Mittel sind es 35 Prozent. Diese Zahlen, die
uns schon seit einigen Jahren ins Stammbuch geschrie-
ben wurden, haben zu der Einigung geführt, dass wir
dringend mehr Hochschulabsolventen benötigen.

Deshalb müssen wir die Frage beantworten: Wo sol-
len zukünftig die hoch qualifizierten Fachkräfte für die
Wirtschaft herkommen und woher sollen exzellente For-
schungseinrichtungen zukünftig ihren Nachwuchs neh-
men?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der internationale und nationale Kampf – vom Brain-
drain im Land war schon die Rede – um die Köpfe hat
längst begonnen. Die Länder sind sich darin einig – das
kann ich nur noch einmal betonen –, dass wir in den
kommenden Jahren im nationalen Interesse alle Mög-
lichkeiten ausschöpfen müssen, um deutlich mehr Stu-
dienplätze als bisher für den anstehenden Studentenberg,
wie er bildlich genannt wird, zur Verfügung zu stellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU])


Einige Bundesländer wie Rheinland-Pfalz oder Nord-
rhein-Westfalen haben sich bereits in der Vergangenheit
beim Ausbau von Studienplätzen verstärkt engagiert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das muss man loben!)


Andere Länder, die zeitgleich den Zugang zu den Hoch-
schulen drosselten und dafür stärker in die Forschung in-
vestierten, importierten dann diese gut ausgebildeten
Hochschulabsolventinnen und -absolventen. Das kann
nicht mehr funktionieren.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das mag im Wettbewerbsföderalismus eine der Spiel-
regeln sein. Doch dann – so der bereits vor langem geäu-
ßerte Vorschlag von Wissenschaftsminister Zöllner –
muss ein Vorteilsausgleich zwischen den Ländern gere-
gelt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das ist gerecht!)


Nach der Formel „Geld folgt den Studenten“ könnte
dann auch der Ausbau zusätzlicher Studienplätze an at-
traktiven Hochschulstandorten finanziert werden. Dieser
Anstoß aus Rheinland-Pfalz, den Sachsen von Anfang
an begleitet und mitgetragen hat, war der Ursprung unse-
res heute diskutierten Hochschulpaktes.

Noch ist es sicherlich zu früh, über den Vorteilsaus-
gleich allein zwischen den Ländern zu sprechen bzw. ihn
auf den Weg zu bringen. Das muss vermutlich im Rah-
men der Diskussion über die Föderalismusreform II ge-
regelt werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeord-
nete, auch wenn es manche Journalistinnen und Journa-
listen gibt, die sich nicht vorstellen können und wollen,
dass Ministerinnen und Minister des Bundes und der
Länder einen Pakt für die Zukunft schließen: Wir sind
auf der Zielgeraden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Doch es gibt – ich will das kurz noch einmal darstellen –
legitime unterschiedliche Interessen, die zu berücksichti-
gen sind, die ich kurz in vier Gruppen skizzieren will,
wie sie auch hier schon angesprochen wurden.

Es gibt eine Gruppe von Ländern, die in den kom-
menden Jahren deutlich mehr Studienberechtigte haben
werden und dafür, zum Teil auch aufgrund eines bisher
unterdurchschnittlichen Ausbaustandes, deutlich mehr
Studienplätze schaffen müssen.

Es gibt eine zweite Gruppe von Ländern, die bereits
in der Vergangenheit über dem Bundesdurchschnitt und
über ihrem eigenen Bedarf ausgebildet haben, so ge-
nannte Exportländer, die dennoch bereit sind, einen wei-
teren Ausbau zu unterstützen, die aber wollen, dass der
höhere Sockel, den sie bereits haben, berücksichtigt
wird.






(A) (C)



(B) (D)


Staatsministerin Dr. Eva-Maria Stange (Sachsen)

Es gibt eine dritte Gruppe, die bereits genannt wurde,
nämlich die Stadtstaaten, die aufgrund ihrer besonderen
Situation eine breit ausgebaute Hochschullandschaft ha-
ben und die wie Berlin gerade dazu gezwungen werden,
Studienplätze abzubauen. Das Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts, das „deutliche Ausgabenüberhänge“ – Zi-
tat – in den Bereichen Kultur und Hochschulen kritisiert,
ist weltfremd und für den notwendigen gesellschaftli-
chen Konsens auch kontraproduktiv.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Nicht zuletzt gibt es die Gruppe der ebenfalls schon
erwähnten neuen Bundesländer, für die auch ich hier
stehe. Das demografische Tal erreicht 2008/09 die Hoch-
schulen und bewirkt bis zu seinem tiefsten Punkt in den
Jahren 2013/14 einen Studienanfängerverlust von circa
16 000 oder, anders ausgedrückt, von 25 Prozent der
Studienplätze, die zum Abbau des Studentenbergs der al-
ten Bundesländer notwendig wären. Deshalb muss aus
Sicht eines neuen Bundeslandes der Hochschulpakt eine
klare Aussage zur Perspektive nach 2010 eröffnen. Er
heißt ja auch „Hochschulpakt 2020“.

Die ostdeutschen Hochschulen haben sich in den letz-
ten 16 Jahren steil entwickelt, was beispielsweise auch
der Erfolg der TU Dresden in der Exzellenzinitiative be-
legt.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Das demografische Tal ist eine Bedrohung, aber – das
sage ich ganz deutlich – es kann auch als Chance genutzt
werden, wenn es nämlich gelingt, dieses Potenzial zu er-
halten – sowohl im Interesse der Studierenden als auch
im Interesse der Wissenschafts- und Wirtschaftskraft der
Regionen.

Die gemeinsame Lösung für alle vier Ländergruppen,
wie ich sie gerade beschrieben habe, ist – das haben Sie
gespürt, meine Damen und Herren Abgeordnete – nicht
einfach zu finden. Wenn mir von Ihnen anschließend ein
guter Weg genannt wird, nehme ich das gern mit; denn
wir sind gerade dabei, das Rechenmodell zu erstellen.

Alle Länder wollen mit ihren Möglichkeiten dazu bei-
tragen, dass möglichst vielen Studienberechtigten ein
Studienplatz angeboten werden kann, sowohl – ich be-
tone es noch einmal – durch Neuschaffung wie auch
durch Erhalt von Studienplatzkapazitäten, aber unter Be-
rücksichtigung der vier unterschiedlichen Interessenla-
gen.

Es sind auch die Länderparlamente und die Landes-
regierungen davon zu überzeugen, bereits getroffene Be-
schlüsse zum Abbau von Studienplätzen rückgängig zu
machen oder, besser noch, erst gar nicht zu fassen. Das
kann nur mit einem fairen Interessenausgleich unter den
Ländern gelingen. An diesem arbeiten die Wissen-
schaftsministerinnen und -minister ernsthaft, auch wenn
manche von außen das vielleicht nicht so wahrnehmen
wollen.
Seitdem Frau Bundesministerin Schavan am 10. Ok-
tober für die Bundesseite klar auf den Tisch gelegt hat,
dass mindestens 565 Millionen Euro Bundesmittel für
den ersten Teil des Hochschulpakts zur Verfügung ge-
stellt werden, wird nach einem konkreten Modell zur ge-
meinsamen Finanzierung der zusätzlichen Studienplätze
gesucht.

Die Wissenschaftsministerinnen und -minister wer-
den in der Woche vom 6. bis 10. November erneut tagen
und den Hochschulpakt – davon gehe ich fest aus – be-
siegeln. In der darauf folgenden Woche werden wir
durch die Bund-Länder-Kommission einen entsprechen-
den Beschluss bekommen.

Im Ergebnis, wenn am 13. Dezember auch die Minis-
terpräsidentenkonferenz zustimmt, werden bis 2010
für zusätzliche 90 000 Studienanfängerplätze immerhin
1,13 Milliarden Euro von Bund und Ländern zur Verfü-
gung gestellt.


(Beifall bei der SPD)


Das ist zweifelsohne ein Kraftakt, der sich aber lohnt
und der deutschen Hochschullandschaft einen Schub ge-
ben wird.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606010600

Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Hirsch von

der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Cornelia Hirsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606010700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist richtig, dass es uns allen ein wichtiges Anliegen ist
– dabei gibt es fraktionsübergreifend überhaupt keine
Differenz –, die Kapazitäten an den Hochschulen in den
nächsten Jahren auszubauen.


(Jörg Tauss [SPD]: Das war eine gute Rede, Frau Kollegin!)


– Es geht aber noch weiter, Herr Tauss. Es tut mir Leid. –
Es klingt erst einmal sehr positiv und findet Unterstüt-
zung, wenn die Bundesbildungsministerin sagt: Wir stel-
len in den nächsten Jahren 1 Milliarde Euro für einen,
wie wir gerade gehört haben, Pakt für die Zukunft zur
Verfügung. Wir haben aber von Kollegin Sager und vom
Kollegen Barth gehört: Wenn man sich das, was vorge-
legt wurde, in den Einzelheiten anschaut, stellt man fest,
dass es vollkommen unzureichend ist. Diese Aussage
findet auch unsere Zustimmung.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Kollege Barth hat auf die Äußerungen der Hochschul-
rektorenkonferenz schon gestern im Ausschuss hinge-
wiesen. Gerade bezüglich der finanziellen Ausstattung






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Hirsch
muss man auch aus unserer Sicht festhalten – Kollegin
Sager hat es ganz deutlich gesagt –: Die finanziellen
Mittel, über die wir hierbei bisher sprechen, machen nur
einen Bruchteil dessen aus, was wir zurzeit eigentlich an
den Hochschulen benötigen. Dass diese Aussage nicht
übertrieben ist, zeigt sich, wenn Sie sich beispielsweise
gerade jetzt zu Semesterbeginn in eine Hochschule set-
zen und die überfüllten Seminare besuchen. Dort ist es
keine Seltenheit, dass Studierende einfach rausgekickt
werden und dass gesagt wird: Es tut uns Leid; es ist kein
Platz mehr da. Es ist auch keine Seltenheit, dass Studie-
rende ein oder mehrere Semester auf eine Betreuung ih-
rer Abschlussarbeit warten müssen. Wenn Sie sich die
Ausstattung einiger Bibliotheken ansähen, wüssten Sie,
dass dort deutlich mehr Gelder zur Verfügung stehen
müssten, wenn es zu einem qualitativen Ausbau der
Hochschulen kommen soll.

In dieser Situation stellen Sie nun im Rahmen der Ex-
zellenzinitiative einigen wenigen Hochschulen mehr als
doppelt so viel Geld zur Verfügung als im Rahmen des
Hochschulpakts dem ganzen Rest. Wir wollen Sie wirk-
lich fragen: Wieso sollte Ihnen irgendjemand angesichts
einer solchen Mittelverteilung abnehmen, dass es Ihnen
wirklich darum geht, einen breiten Zugang zu den Hoch-
schulen zu sichern?


(Klaus Hagemann [SPD]: Aber das hat auch die Hochschulrektorenkonferenz unterstützt!)


Die Linke ist gegen ein solches Zweiklassenhoch-
schulsystem. Die Hochschulrektorenkonferenz – Herr
Hagemann, das ist richtig – ist dafür, die studentische In-
teressenvertretung aber – sie vertritt die Mehrheit an den
Hochschulen – ist dagegen. Wir fordern deutlich mehr
Geld für den Hochschulpakt.


(Beifall bei der LINKEN)


Der zweite Punkt des Hochschulpaktes, bei dem es
grundsätzlich falsch läuft – darüber hat von meinen Vor-
rednerinnen und Vorrednern niemand gesprochen –, ist
die Berücksichtigung der sozialen Aspekte. Diese As-
pekte spielen keine Rolle. Es ist richtig und schön, dass
Sie sich hier über den Ausbau der Kapazitäten an den
Hochschulen unterhalten, weil die Zahl der Studienbe-
rechtigten in den nächsten Jahren ansteigt. Wer von die-
sen jungen Menschen tatsächlich die Hochschulen besu-
chen kann, ist damit aber noch gar nicht gesagt. Sie
kennen die Zahlen genauso gut wie ich: Nur etwa
10 Prozent der Studierenden kommen aus Familien mit
geringem Einkommen. Diese soziale Ungleichheit kön-
nen Sie nicht einfach ignorieren; das muss im Pakt eine
Rolle spielen.


(Beifall bei der LINKEN)


Es geht nicht nur darum, Kapazitäten auszubauen, son-
dern auch um eine soziale Öffnung der Hochschulen.

Damit sind wir bei der Verantwortung des Bundes.
Frau Aigner, wir haben sehr konstruktive Vorschläge
vorgelegt, beispielsweise im Hinblick auf eine Auswei-
tung des BAföG.


(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Mehr Geld! Immer nur mehr Geld! Sehr kreativ!)

Wir hatten die simple Forderung nach einer Anpassung
der Bedarfssätze und Freibeträge. Wir hatten weitere
Vorschläge; aber diesen könnte man schon einmal um-
setzen. Die Umsetzung ist, nachdem sie fünf Jahre lang
verschleppt wurde, längst überfällig. Sie wurde von
sämtlichen Fraktionen abgelehnt.


(Jörg Tauss [SPD]: Habt ihr aus SED-Vermögen noch ein paar Ostmark übrig, oder was?)


Dabei ist doch klar, dass ohne ein besser ausgestaltetes
BAföG den meisten Studieninteressierten das Geld für
ihren Lebensunterhalt während des Studiums fehlt und
sich die soziale Ungleichheit an den Hochschulen weiter
verschärfen wird. Der Pakt hilft denjenigen, die schon
heute an den Hochschulen unterrepräsentiert sind, über-
haupt nicht weiter. Genau an dieser Stelle müsste drin-
gend nachgearbeitet werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Heute in der Aktuellen Stunde wird die Frage gestellt,
ob der Hochschulpakt scheitert. Für uns als Linke geht
es nicht nur darum, ob dieser Pakt scheitert oder ob wir
das Finanzgeschacher zwischen Bund und Ländern in ir-
gendeiner Form noch hinbekommen. Uns geht es in ei-
nem ersten Schritt darum, den Hochschulpakt zu einem
sinnvollen politischen Projekt zu machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Für die Linke möchte ich festhalten, dass es uns nicht
nur um einen Ausbau der Kapazitäten, sondern vor allem
um eine soziale Öffnung der Hochschulen geht.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606010800

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Annette

Schavan.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Diese große Koalition hat die
Kraft, wissenschafts- und forschungspolitische Weichen
zu stellen. Das ist bereits in den ersten elf Monaten deut-
lich geworden. Dazu zähle ich die Hightechstrategie und
die Exzellenzinitiative. Es besteht Konsens darüber, dass
damit auf Themen reagiert wird, über die wir seit Jahren
diskutieren. In der Exzellenzinitiative, die wir in den
vergangenen Jahren gemeinsam, Bund und 16 Länder,
vorbereitet haben, zeigt sich die enorme Kraft dieser
großen Koalition in Bezug auf die Zukunftschancen der
jungen Generation.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich will jetzt nicht auf die Frage eingehen, wer von
Ihnen wann persönlich oder als Partei Verantwortung in
der Wissenschafts- und Forschungspolitik getragen hat.
Die FDP ist mir eigentlich als eine Partei in Erinnerung,






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Dr. Annette Schavan
die über Jahrzehnte Wert darauf gelegt hat, in der Wis-
senschafts- und Forschungspolitik präsent zu sein. Herr
Barth, wenn Sie heute sagen, seit Jahrzehnten sei alles
furchtbar, dann schauen Sie sich einmal die Bilder mei-
ner Vorgänger in meinem Haus an.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Die sehen alt aus!)


Aber ich will ja nicht darauf eingehen, wer wann Verant-
wortung getragen hat.


(Uwe Barth [FDP]: Da war auch einer mit Fliege dabei, oder?)


Ich bin – das ist meine erste Feststellung zu dieser
Debatte – dankbar dafür, dass alle Fraktionen im Hause
sagen, dass ihnen dieses Thema ein Anliegen ist. Das gilt
für die Studienplätze genauso wie für das Thema der
Ausbildungsplätze, über das wir hier auch schon gespro-
chen haben. Es gibt einen großen Konsens im Deutschen
Bundestag darüber – auch das sollten wir der Öffentlich-
keit sagen –, dass wir uns, was Investitionen und Kon-
zepte angeht, intensiv und gewissenhaft mit der jungen
Generation und ihren Zukunftschancen beschäftigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Damit komme ich zum Hochschulpakt selbst. Ich
möchte Ihnen den Stand schildern. Damit will ich die
Bemerkung verbinden, dass darüber nachzudenken ist,
ob Sie und wir eigentlich der politischen Kultur in
Deutschland nützen, wenn wir nicht mehr Zeit zur Ver-
fügung stellen, um zu guten Lösungen zu kommen, son-
dern stattdessen immer prophylaktisch große Unruhe
ausbricht und Scheitern angekündigt wird. Wir produzie-
ren mit solchen Reden doch letztlich Politikverdrossen-
heit, weil draußen niemand mehr davon ausgeht, dass
wir uns Mühe geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb kann ich nur sagen: Die Bundesregierung
und die sie tragenden Fraktionen wollen – das können
Sie den Positionspapieren beider Regierungsfraktionen
entnehmen – ein tragfähiges Konzept, in dem die ge-
meinsame Verantwortung des Bundes und der 16 Länder
bis zum Jahre 2020 deutlich wird. Um nicht mehr und
nicht weniger geht es. Wir reden über ein Konzept für
die Zeit von 2006 bis 2020. Das ist eine anspruchsvolle
Aufgabe. Es hat überhaupt keinen Zweck, irgendeinen
Ballon in den Himmel zu schicken. Vielmehr brauchen
wir ein tragfähiges Konzept, mit dem wir deutlich ma-
chen können, dass wir die Aufgabe begriffen haben und
für zusätzliche Studienplätze und die Stärkung der Uni-
versitäten Sorge tragen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Über die zwei Teile des Hochschulpaktes ist schon
gesprochen worden. Der erste Teil ist übrigens, auch
wenn Sie das jetzt infrage stellen, Teil des Koalitionsver-
trages, und zwar aus guten Gründen.


(Ilse Aigner [CDU/CSU]: So ist es!)

Es hat doch in den letzten Jahren keine Anhörung ge-
geben, in der nicht deutlich gemacht worden ist, dass in
der jetzigen Situation die in der Forschung besonders er-
folgreichen Hochschulen bestraft werden. Denn die mit
der Forschung verbundenen Kosten werden durch die
Mittel der Projektförderung seitens der DFG nicht abge-
deckt. Deshalb ist dieser Teil des Hochschulpaktes eine
dringend notwendige Maßnahme zur Stärkung der Uni-
versitäten. Diejenigen Hochschulen, die besonders er-
folgreich sind, dürfen nicht bestraft werden. Deshalb
brauchen wir die Programmkostenpauschale.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Pauschale kommt nicht nur der gesamten Uni-
versität zugute, sondern natürlich auch den Studieren-
den, die spüren, dass im Bereich der Hochschulen an
vielen Stellen Geld eingesammelt wird, um besonders
erfolgreichen Forschergruppen gute Arbeitsmöglichkei-
ten zu bieten.

Wir planen konkret die Einführung einer Programm-
kostenpauschale in Höhe von 20 Prozent. Im Jahre 2007
wird sie zunächst für koordinierte Programme, also bei-
spielsweise Sonderforschungsbereiche und Forschungs-
zentren, die besonders kostspielig sind, eingeführt. Ab
2008 wird diese Pauschale für alle von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft neu bewilligten Forschungs-
vorhaben und auch Einzelanträge zur Verfügung gestellt.
Das haben wir uns gemeinsam vorgenommen und das
werden wir auch umsetzen.

Ich habe den Ländern angeboten, dass bis zum Jahre
2010 die Programmkostenpauschale zu 100 Prozent vom
Bund getragen wird, weil Forschung eine Schwerpunkt-
aufgabe des Bundes ist und weil wir wissen, dass in den
Länderhaushalten in dieser Frage noch keine Vorsorge
getroffen werden konnte. Wir sollten es als gemeinsames
Projekt ansehen, für die Jahre nach 2010 eine Regelung
im Sinne der gemeinschaftlichen Finanzierung der Deut-
schen Forschungsgemeinschaft zu finden.

Auch die Zahlen hinsichtlich der Kapazitäten liegen
auf dem Tisch. Bis zum Jahre 2010 wird es 90 000 Stu-
dienanfänger mehr geben. Daran wird auch in der Hoch-
schulrektorenkonferenz nicht gezweifelt. Im Zeitraum
von 2011 bis 2013 wird es jährlich 40 000 zusätzliche
Studienanfänger geben. Der Höhepunkt der Entwicklung
wird bei ungefähr 2,5 Millionen Studierenden sein. Bis
zum Jahre 2020 wird diese Zahl auf etwa 2 Millionen
Studierende abnehmen.

Auf diesen Anstieg und auf eine Verstetigung dieser
Entwicklung nach einem gewissen Rückgang der Studie-
rendenzahlen müssen wir uns vorbereiten. Für den Zeit-
raum bis zum Jahr 2010 haben wir konkrete Maßnahmen
getroffen. Der Hochschulpakt wird von den Regierungs-
chefs von Bund und Ländern im Dezember beraten und
verabschiedet werden. Darin wird die gemeinsame Ver-
antwortung bis zum Jahre 2020 festgeschrieben.

Der Hochschulfinanzstatistik des Bundes kann man
die durchschnittlichen Kosten für einen Studienplatz ent-
nehmen. Alle Faktoren, die eine Rolle spielen können,
haben wir anerkannten Statistiken entnommen. Es ist in






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Dr. Annette Schavan
diesem Zusammenhang doch keine Frage – auf dieser
Schiene sollten Sie sich erst gar nicht bewegen –, dass
ein Unterschied zwischen den Kosten, die durch zusätz-
liche Plätze für Studienanfänger verursacht werden, und
den Mitteln, die das System Hochschule in den nächsten
zehn bis 15 Jahren insgesamt braucht, besteht. Wir soll-
ten uns mit Verlaub darin einig sein: Wir sind nicht da-
bei, die Universitäten der 16 Bundesländer zu überneh-
men. Das kommt überhaupt nicht infrage.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das wäre übrigens auch vor der Föderalismusreform
nicht möglich gewesen.

Deshalb sage ich ganz klar: Die Verantwortung für
die Grundkosten, für die Hochschulmedizin, für den
Neubau und für die Sanierung liegt bei den 16 Ländern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Die müssen sie auch wahrnehmen! Das wäre noch besser!)


In der Summe, die die Hochschulrektorenkonferenz zur
Verfügung stellt, ist die Summe für die notwendigen In-
vestitionen enthalten. Die entsprechenden Zahlen sind
den Ländern bekannt. Das ist aber nicht Thema des
Hochschulpaktes. Wir lösen ein zentrales Problem mit
Blick auf unsere Verantwortung für die Studierenden
und für die Stärkung der Forschung an den Hochschulen.
Darauf werden wir uns konzentrieren. Es gibt nach mei-
ner festen Überzeugung überhaupt keinen Grund, davon
auszugehen, dass dieser Hochschulpakt scheitern wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606010900

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe,

möchte ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass auf der
Tribüne Kolleginnen und Kollegen aus den zentralasia-
tischen Republiken Mongolei und Afghanistan Platz
genommen haben, die eine Konferenz besuchen, die
vom Marshall Center, vom Bundesministerium der Ver-
teidigung und von der Deutsch-Zentralasiatischen Parla-
mentariergruppe in Berlin veranstaltet wird.


(Beifall)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns über Ih-
ren Besuch in Berlin und wünschen Ihnen bei Ihrem
Aufenthalt guten Erfolg.

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Kai
Gehring von Bündnis 90/Die Grünen.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606011000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Schavan, Sie haben mich überhaupt nicht über-
zeugt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP – Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh!)

Sie haben – so könnte man Ihre Rede überschreiben –
das Problem beschrieben, aber wieder einmal keine Lö-
sung vorgelegt.


(Jörg Tauss [SPD]: Wir haben uns doch so eine Mühe gegeben!)


Das Scheitern des Hochschulpaktes 2020 ist keine
Spekulation, sondern drohende Realität. Warum sollte
Sachsen seine Studienplätze erhalten, wenn dort künftig
weniger junge Menschen das Gymnasium verlassen?


(Jörg Tauss [SPD]: Weil sie eine gute Ministerin und verantwortliche Landespolitiker haben!)


Warum sollte Nordrhein-Westfalen im Hochschulpakt
mehrere Millionen für neue Studienplätze in Baden-
Württemberg in die Hand nehmen, wo dort doch erst vor
wenigen Jahren Mittel in Millionenhöhe zugunsten der
Forschung gestrichen wurden? Warum sollte Hamburg
einem Pakt zustimmen, mit dem zwar neue Studien-
plätze in Niedersachsen finanziert werden, nicht aber be-
stehende Studienplätze in Hamburg, zum Beispiel für
niedersächsische Abiturienten?

Diese weiterhin offenen Fragen zeigen: Am Verhand-
lungstisch von Bund und Ländern sind höchst unter-
schiedliche Ausgangslagen und Interessen vertreten.
Frau Schavan, wenn Sie es nicht schaffen, die unter-
schiedlichen Interessen auf einen gemeinsamen Nenner
zu bringen, dann scheitert dieser Hochschulpakt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Uwe Barth [FDP])


Das würde bedeuten, dass in den nächsten 15 Jahren
zusätzlich 700 000 junge Menschen vergeblich auf einen
Platz im Hörsaal oder Seminarraum warten. Dann würde
Studienberechtigten der Zugang zur Hochschule syste-
matisch verbaut; sie stünden weiterhin vor verschlos-
senen Hörsaaltüren. Dann würden Abiturienten ohne
Studienplatz auf den ohnehin stark angespannten Ausbil-
dungsmarkt drängen und damit die Chancen von Haupt-
und Realschülern auf einen Ausbildungsplatz weiter ver-
schlechtern.


(Jörg Tauss [SPD]: Genau das wollen wir nicht!)


Dann würden am Arbeitsmarkt Zehntausende hoch qua-
lifizierter Arbeitskräfte fehlen. Wir würden dann wahr-
scheinlich erneut über eine verstärkte Abwanderung der
unter 35-Jährigen diskutieren.


(Jörg Tauss [SPD]: Auch das wollen wir nicht!)


Dann hätte Ihre Politik eklatant versagt, Frau Schavan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Uwe Barth [FDP])


Was ist zu tun? Es reicht nicht, Geld auf den Tisch zu
werfen und dann die Hände in den Schoß zu legen, wie
Sie, Frau Schavan, es vor wenigen Tagen gemacht ha-
ben. Gerade weil jedes Land eigene Ziele vor Augen hat,
muss der Bund gesamtstaatliche Interessen im Blick ha-
ben. Eine Einigung ist nur möglich, wenn der Bund stra-






(A) (C)



(B) (D)


Kai Gehring
tegische Leitlinien, Ziele und Instrumente entwickelt. Er
muss mit einem klaren Konzept aktiv und moderierend
in die Verhandlungen eingreifen. Davon ist im Moment
nichts zu spüren. Das Problem ist, dass Sie nach wie vor
kein überzeugendes Konzept für einen Hochschulpakt
mit den Ländern haben. Das hat Ihr heutiger Beitrag er-
neut unter Beweis gestellt.

Frau Schavan, Sie haben mehr Zeit eingefordert. Ich
frage mich, wie es sein kann, dass Sie als Bundesminis-
terin monatelang jede Verantwortung für den Studien-
platzausbau abgestritten haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wer zuhören kann, ist klar im Vorteil, Herr Kollege!)


Der Hochschulpakt 2020 muss ein klares und vorran-
giges Ziel haben: Er muss allen Studienberechtigten, die
in den kommenden Jahren zusätzlich an den Hochschu-
len starten wollen, die Tür zu Hörsaal, Seminarraum und
Labor öffnen und ihnen gute Studienbedingungen bieten.
Konkret heißt das – jetzt kommen wir noch einmal zu
den konzeptionellen Vorschlägen der Grünen, Frau
Aigner –: Erstens. Bund und Länder müssen deutlich
mehr Geld in die Hochschulen investieren.


(Jörg Tauss [SPD]: Das machen wir!)


Nach den Zahlen des Wissenschaftsrates sind in den
kommenden Jahren – das ist die untere Grenze –
400 Millionen Euro zusätzlich erforderlich.

Zweitens. Der Ausbau an Studienplätzen muss sofort
und nicht erst im Wintersemester 2007/08 beginnen;
denn der Run auf die Unis hat längst begonnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Drittens. Frau Schavan, Ihr Angebot, das bis 2010
gilt, reicht nicht. Die finanzielle Förderung muss für den
gesamten Prognosezeitraum bis 2020 geklärt und ver-
lässlich vereinbart werden. Wir brauchen klare Zusagen;
denn wir wissen, dass die meisten Mittel in den
Jahren 2012, 2013 und 2014 erforderlich sind. Daher ist
eine Lösung über 2010 hinaus dringend erforderlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Viertens. Im Hochschulpakt müssen bei Personalfra-
gen und in der Lehre innovative Lösungen verankert
werden. Wir brauchen eine vorübergehende Doppelbe-
setzung von Professorenstellen, eine Einführung des
Lecturers und eine Weiterführung der Juniorprofessur.
Wir müssen uns auch darum kümmern, dass die Chancen
von Frauen in der Wissenschaft verbessert werden.

Fünftens. Die Mittel für die Hochschulfinanzierung
müssen nach einem intelligenten Schlüssel verteilt wer-
den. Manche Länder brauchen Anreize, ihre vorhande-
nen Studienplätze zu erhalten, andere brauchen Anreize,
zusätzliche Studienplätze zu schaffen, und wieder andere
brauchen Anreize, die Kapazitäten anderer Länder mit-
zufinanzieren.

All diese Forderungen sind bislang überhaupt nicht
erfüllt. Daher appelliere ich an die Weitsicht der Verant-
wortlichen in den Ländern: Versperren Sie sich dieser
gemeinsamen Lösung nicht und sorgen Sie für einen zü-
gigen und gerechten Interessenausgleich!

Frau Schavan, Ihr bisheriges Angebot an die Länder
ist allenfalls ein Hochschulpakt light. Er ist unterfinan-
ziert und zögerlich. Damit sind Sie viel zu kurz gesprun-
gen.


(Jörg Tauss [SPD]: Ich dachte, er scheitert! Sie müssen sich einmal entscheiden! – Ilse Aigner [CDU/CSU]: Immer diese Pessimisten!)


Ein erneutes Scheitern der Verhandlungen – dazu ist es
schon am 19. Oktober dieses Jahres gekommen – wäre
ein hochschulpolitisches Armutszeugnis der Wissen-
schaftsminister von Bund und Ländern. Vor allen Din-
gen wäre es eine Katastrophe für die junge Generation in
diesem Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Uwe Barth [FDP])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606011100

Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Oppermann

von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1606011200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ange-

sichts des Streits darüber, wer wann wo welche vorhan-
denen Studienplätze erhalten bzw. welche neuen
Studienplätze finanzieren soll, will ich an den Ausgangs-
punkt dieser Debatte erinnern: an die Frage, wofür wir
den Hochschulpakt eigentlich brauchen. Wie die Minis-
terin bekräftigt hat, werden allein in den nächsten vier
Jahren 90 000 bildungshungrige und studierbereite junge
Menschen zusätzlich an unsere Hochschulen kommen,
denen wir Studienplätze zur Verfügung stellen müssen.
Das ist ein Glücksfall für unser Land.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich wiederhole es: Das ist kein Problem und keine Belas-
tung, sondern ein bildungs- und wirtschaftspolitischer
Glücksfall. Denn diese jungen Menschen kommen just
in dem Moment an unsere Universitäten, in dem wir auf-
grund verstärkter Abgänge durch altersbedingte Über-
gänge in den Ruhestand einen enorm wachsenden Be-
darf an Fachkräften zu verzeichnen haben. Diese
Situation müssen wir nutzen.

Den jungen Menschen, die an den Universitäten ein
Studium beginnen wollen, haben wir vor einiger Zeit ge-
sagt, dass sie ihr Abitur in zwölf statt in 13 Jahren ma-
chen sollen, weil sie dadurch ein wertvolles Jahr gewin-
nen. Wenn wir ihnen nun sagen müssten, dass sie dieses
gewonnene Jahr damit verbringen müssen, auf einen
Studienplatz zu warten, weil wir nicht genügend Stu-
dienplätze bereitstellen können, wäre das die größte bil-
dungspolitische Katastrophe, die ich mir im Moment
vorstellen kann.






(A) (C)



(B) (D)


Thomas Oppermann

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Selbstverständlich ist diese Katastrophe abwendbar,
Frau Ministerin, und ich will auch gar nicht beschwören,
dass uns dieses Vorhaben misslingen könnte. Es darf uns
nicht misslingen.

Die Schaffung von Studienplätzen ist eine gesamt-
staatliche Aufgabe. Allerdings obliegt sie den Ländern.
Das wissen Sie, Herr Frankenberg, nur zu gut. Ihren An-
spruch auf diese Zuständigkeit haben Sie im Rahmen der
Diskussionen über die Föderalismusreform kraftvoll gel-
tend gemacht. Wenn ich das Verhalten der Verantwortli-
chen in den Ländern insgesamt betrachte – Anwesende
sind natürlich ausgenommen –, dann muss ich sagen:
Würden die Länder diese Zuständigkeit jetzt nur halb so
kraftvoll ausfüllen, wie sie sie damals eingefordert ha-
ben, bräuchten wir zu diesem Thema keine Aktuelle
Stunde im Bundestag.


(Beifall im ganzen Hause – Uwe Barth [FDP], zu Abg. Jörg Tauss [SPD] gewandt: Warum klatschen Sie denn jetzt? Ich denke, Sie sind der Meinung, die Länder machen das! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: Ich will nur Mut machen!)


Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern,
wie unschätzbar wertvoll es war, dass wir unsere Verfas-
sung in letzter Minute um die Gemeinschaftsaufgabe
„Wissenschaftsförderung“ erweitert haben.

Der Hochschulpakt hat das Ziel, neue Kapazitäten zu
schaffen. Darüber hinaus wollen wir die universitäre
Forschung durch Einführung einer Programmkostenpau-
schale und damit den Einstieg in die Vollkostenfinanzie-
rung stärken. Neue Studienplatzkapazitäten sollten wir
durch die Förderung der Position des Lecturers schaffen.
Dabei handelt es sich um Dozenten, deren Lehrver-
pflichtungen einen ungefähr doppelt so großen Umfang
haben, wie es bei Universitätsprofessoren der Fall ist.
Dadurch können wir erhebliche zusätzliche Kapazitäten
schaffen und vielleicht sogar die Betreuungsrelation an
den deutschen Universitäten mittel- und langfristig ver-
bessern. Das ist im internationalen Vergleich dringend
notwendig.

Ich rate dazu, neue Studienplätze vorrangig an Fach-
hochschulen zu schaffen. Denn eine Verbesserung des
sozialen Zugangs zu den Hochschulen erzielt man am
schnellsten durch eine Ausweitung der vielen zulas-
sungsbeschränkten Fachhochschulstudiengänge. An den
Fachhochschulen kann schnell, kostengünstig und pra-
xisnah ausgebildet werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)


Der Wissenschaftsrat erwartet, dass 40 Prozent aller Stu-
dienplätze an Fachhochschulen angeboten werden – bis-
lang sind es erst 30 Prozent.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich habe zwei Bitten. Meine erste Bitte geht an die
Länder, die jetzt schon überdurchschnittlich viel ausbil-
den: Begreifen Sie Studierende bitte nicht nur als finan-
zielle Belastung!


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Studierende sind eine Chance, eine Investition in Köpfe.
Die Ministerpräsidenten müssten an ihre Finanzminister
und an ihre Wissenschaftsminister eigentlich die Devise
ausgeben: Holt so viele Studenten wie möglich in unser
Land!


(Ilse Aigner [CDU/CSU]: So ist es!)


Die Studierenden von heute sind die Fachkräfte von
morgen. Die Studierenden von heute beleben die Re-
gion, in der sie studieren. Es besteht die Chance, dass sie
bleiben. Sie sind potenzielle Unternehmensgründer. Sie
schaffen auch unmittelbar Arbeitsplätze. Ich glaube, wir
brauchen eine andere Wertschätzung der Studierenden.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine zweite Bitte richtet sich an die Ministerin: Frau
Schavan, bitte nutzen Sie Ihren ganzen Einfluss bei den
Verhandlungen bis zum 20. November, damit wir nicht
die absurde Situation bekommen, dass im Osten oder in
den Stadtstaaten Studienplätze abgebaut werden und mit
den Subventionen, der Unterstützung des Bundes im
Westen zusätzliche Studienplätze geschaffen werden.
Das wäre absurd, im Grunde genommen wäre das ein
Fall für den Bundesrechnungshof. Dazu darf es nicht
kommen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn der Hochschulpakt gelingt, kann er enorme
Schubkraft für Wirtschaft, für Wachstum und Innovation
erzeugen. Daran muss gearbeitet werden. Die große Ko-
alition tut das mit aller Kraft.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606011300

Das Wort hat jetzt der Minister für Wissenschaft, For-

schung und Kunst des Landes Baden-Württemberg,
Dr. Peter Frankenberg.


(Beifall bei der CDU/CSU)



(Baden-Württemberg)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vor-
gesehene Hochschulpakt zwischen Bund und Ländern ist
in seinen beiden Teilen sinnvoll und notwendig. Er do-
kumentiert, dass der notwendige Ausbau der Zahl der
Plätze für Studienanfänger nicht zulasten der Qualität
der Hochschulen, nicht zulasten der Qualität von For-
schung und Lehre gehen darf und soll.

Die Overheadfinanzierung von DFG-Drittmitteln be-
deutet, dass Forschungsprojekte nicht mehr im gegen-
wärtigen Ausmaße aus den Grundhaushalten der Hoch-
schulen quersubventioniert werden müssen. Das heißt,






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Peter Frankenberg, Minister (Baden-Württemberg)

dass aus den Grundhaushalten letztlich mehr Mittel für
die Lehre verfügbar bleiben, dass die Drittmittelakquise
attraktiver wird, dass Forschung und Entwicklung ver-
stärkt werden und damit auch die Lehrqualität gesteigert
wird, wodurch die Qualität der Hochschulen in der
Breite gestärkt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Diese Overheadfinanzierung ist eine notwendige Ergän-
zung zur Exzellenzinitiative.

Die absolut notwendige Schaffung von in der Summe
90 000 Plätzen für Studienanfänger bis 2010 stellt die
größte Herausforderung an das deutsche Hochschulsys-
tem seit den 70er-Jahren dar. Diese Herausforderung
darf nicht einfach dadurch gelöst werden, dass die Hoch-
schulen geöffnet werden wie damals, was zulasten der
Qualität unserer Hochschulen, gerade unserer Universi-
täten gegangen ist. Deshalb sollte man nicht mehr Stu-
dienplätzen das Wort reden, ohne gleichzeitig Erhalt und
Steigerung der Qualität von Forschung und Lehre zu be-
tonen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Nicolette Kressl [SPD])


Prioritär sind – übrigens nicht erst seit der Föderalis-
musreform – die Länder in der Pflicht. Das wissen wir.
Wir müssen planen und wir müssen mindestens in dem
Umfang, der notwendig ist, die Bundesmittel zu komple-
mentieren, eigene Mittel für zusätzliche Studienplätze
bereitstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Erfolg der Föderalismusreform wird sicherlich auch
an unserer Fähigkeit und Bereitschaft, dies zu tun, ge-
messen werden.

Das Wachstum der Studierendenzahl ist übrigens
keine theoretische Größe, es ist keine Prognose, sondern
die jungen Menschen sind geboren und befinden sich be-
reits in den Schulen. Man kann dieses Problem nicht sta-
tistisch wegrechnen.

Dass es derzeit noch nicht im entsprechenden Maße
mehr Studierende gibt, liegt einfach daran, dass die
meisten Hochschulen Numeri clausi verfügt haben. Das
heißt, es warten jetzt schon Tausende Studierwillige vor
den Toren unserer Hochschulen. Wir können ihnen nur
dann in verantwortlicher Weise Studienplätze zuweisen,
wenn wir zusätzliche Studienplätze schaffen.

Es ist eine Binsenweisheit, aber dennoch zu wieder-
holen: Wir brauchen mehr akademisch Ausgebildete und
ein Hochlohnland kann in dem globalen Wettbewerb nur
durch die optimale und beste Qualifikation der eigenen
Köpfe erfolgreich sein. Herr Oppermann, hier stimme
ich mit Ihnen überein: Dies ist kein Studentenberg und
kein Problem, sondern eine Chance für unser Land. Es
ist vielleicht die einzige Chance, die Deutschland hat,
um im globalen Wirtschafts- und Wissenswettbewerb zu
bestehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ulrike Flach [FDP])

Nach dem Ende der Fußballweltmeisterschaft darf ich
vielleicht vorsichtig betonen, dass unsere Zukunft eben
nicht in unseren Füßen, sondern in unseren Köpfen liegt.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Nicolette Kressl [SPD]: Auch!)


– Ich freue mich, dass auch Sportler applaudieren, Herr
Gienger.


(Eberhard Gienger [CDU/CSU]: Ich denke, beides zusammen ist wichtig! – Uwe Barth [FDP]: Er war Turner und hat es mehr in den Armen!)


– Mens sana in corpore sano.

Ziel muss es daher sein, 90 000 zusätzliche Plätze für
Studienanfänger bis 2010 zu schaffen. Im Westen
Deutschlands müssen wirklich neue Studienplätze ge-
schaffen werden. Gleichzeitig ist allerdings bedeutend,
dass die Studienplätze im Osten Deutschlands auch nach
2010 erhalten werden, wenn dort die Zahlen der Studien-
anfänger deutlich zurückgehen. Man muss sagen: Dieser
Anstieg der Zahlen der Studienberechtigten – einerseits
durch die Demografie, andererseits durch die doppelten
Abiturjahrgänge bedingt – bewirkt in allen westdeut-
schen Bundesländern eine ähnlich erhöhte Studienplatz-
nachfrage. Für jedes Land im Westen stellt sich deshalb
die gleiche Herausforderung. Der Rückgang der Zahlen
im Osten ab 2010 wird alle Länder im Osten betreffen.
Sachsen ist dabei eine gewisse Ausnahme, weil dort die
Situation günstiger als in den meisten anderen Bundes-
ländern des Ostens ist.

Dieser Hochschulpakt kann aber nicht dazu dienen,
alle Ungleichgewichte beim Studienplatzangebot zwi-
schen allen Bundesländern auszugleichen; denn dann
könnten die Mittel nicht vollständig für das eigentliche
Ziel, nämlich die Schaffung neuer und zusätzlicher Stu-
dienplätze, eingesetzt werden; sie würden somit nicht
ausreichen. Die Ausgestaltung, das heißt, die Beantwor-
tung der Frage, wie diese neuen Studienplätze geschaf-
fen werden sollen, ist Sache der Länder und autonomer
Hochschulen.


(Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP])


– Danke, Frau Flach.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Einen Fan hat Herr Frankenberg hier! – Gegenruf der Abg. Monika Grütters [CDU/CSU]: Nein, er hat viel mehr!)


Ich denke, dass wir dafür auch neue Personalkatego-
rien wie Lecturer brauchen. Wir dürfen aber nicht wieder
in den Fehler der 70er-Jahre verfallen, nämlich Karriere-
wege ohne Aussicht auf weitere Karrieren im Hoch-
schulsystem zu schaffen. Wenn der Lecturer eingeführt
wird, dann muss das tatsächlich im angelsächsischen
System geschehen, nämlich mit der Möglichkeit einer
Personalentwicklung und nicht mit der Möglichkeit ei-
ner Sackgasse.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Peter Frankenberg, Minister (Baden-Württemberg)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Ein ganz wichtiger Punkt!)


Unsere jungen Menschen, die jetzt vor den Türen der
Hochschulen stehen oder stehen werden, werden uns ge-
meinsam daran messen, ob wir dieser Herausforderung
begegnet sind und ob wir sie bewältigt haben; denn wir
stehen in der Tat vor der Frage, ob wir den jungen Stu-
dierfähigen und Studierwilligen Studienplätze anbieten
können oder ob diese in den Lehrstellenmarkt auswei-
chen und dort Realschüler und Hauptschüler verdrängen.

Daher bitte ich Sie im Sinne dieses Hochschulpaktes,
zu dem Bund und Länder bereit sind, unsere Bundes-
ministerin Dr. Schavan und ihr Konzept zu unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Kretschmer [CDU/ CSU]: Machen wir! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Summe ist noch kein Konzept! – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben kein Konzept! Das ist das Problem!)


– In dieser Meinung unterscheiden sich die Länderminis-
ter von Ihnen; denn wir kennen ein Konzept.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Exekutivveranstaltung! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb sind Sie heute auch im Parlament!)


Ich glaube, dass es sogar im Internet nachlesbar ist.

Außer dem Vorschlag, noch mehr Geld einzusetzen,
habe ich keine wirklichen Alternativvorschläge gehört.
Aber wir können alle kein Geld drucken, zumal wir vor
der wichtigen Herausforderung stehen, der jungen Gene-
ration nicht zu viele Schulden zu hinterlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir Länder sind uns ebenso wie der Bund der Verant-
wortung bewusst. Wir werden gemeinsam die Heraus-
forderungen bewältigen und vor dem 20. November
einen Hochschulpakt vereinbaren, mit dem eine vernünf-
tige Lösung geschaffen wird und 90 000 zusätzliche Stu-
dienanfängerplätze bereitgestellt werden können. In ei-
nem vernünftigen Mix – darin bin ich durchaus Ihrer
Meinung, Herr Oppermann – muss ein Schwergewicht
bei dem Ausbau der Fachhochschulen liegen. Das ist mit
Blick nicht nur auf die Kosten, sondern auch auf den Ar-
beitsmarkt vernünftig.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606011400

Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Hagemann von

der SPD-Fraktion.

Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1606011500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Das Wort Zukunftsfähigkeit führen wir alle
gerne im Munde. Es ist auch notwendig, die Zukunft zu
sichern. Dazu gehört – darin sind wir uns alle einig –,
dass wir Wissenschaft und Forschung stärker unterstüt-
zen.

Es bedeutet eine große Chance für Deutschland – das
wurde schon mehrfach festgestellt –, wenn wir den
Hochschulbereich, aber auch den Forschungsbereich
stärker ausbauen. Dafür müssen wir entsprechend aus-
bilden und die notwendigen Studienplatzkapazitäten an
den Universitäten – sowohl in der Forschung als auch in
der Lehre – schaffen. Dafür müssen wiederum mehr öf-
fentliche Mittel zur Verfügung gestellt werden. Wie Frau
Ministerin dargelegt hat, ist das im Haushalt 2007, den
wir zurzeit beraten, auch der Fall.

Wir wollen und müssen auf Bundesebene mehr dafür
tun und wir dürfen das aus verfassungsrechtlichen Grün-
den jetzt auch. Dafür sei Jörg Tauss und denen, die ihn
unterstützt haben, an dieser Stelle herzlich gedankt.


(Beifall des Abg. René Röspel [SPD])


Er – ich spreche ihn als Symbolfigur an –


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


hat es bei der Föderalismusreform durchgesetzt, dass uns
das – im Gegensatz zum Schulbereich – im Hochschul-
bereich möglich ist.


(Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Aber ich gehe noch nicht in Rente! – Gegenruf von der FDP: Schade eigentlich!)


Nach Art. 91 b des Grundgesetzes handelt es sich
hierbei um eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und
Ländern. Die Länder müssen diese Aufgabe auch wahr-
nehmen, Herr Landesminister Frankenberg, statt sich
– wie es die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ kürzlich
formuliert hat – nur in „Länderegoismen“ zu verstricken.
Ich bin guter Hoffnung, dass sie das in den nächsten Ta-
gen hinbekommen werden.


(Beifall bei der SPD)


Es ist richtig, dass es noch keine Einigung gibt. Ich
kann auch verstehen, Frau Staatsministerin, dass darum
gekämpft wird, alle Interessen unter einen Hut zu brin-
gen. Während einige Länder die Herausforderungen er-
kannt und schon in der Vergangenheit entsprechende
Studienplätze geschaffen haben, wie mein Bundesland
Rheinland-Pfalz, Hamburg, Bremen und insbesondere
Berlin – darauf muss ich wohl an dieser Stelle nicht nä-
her eingehen –,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


haben andere Länder – darunter auch Ihr Bundesland,
Herr Minister – Studienplätze abgebaut und erwarten
nun, dass ihnen Bundesmittel zur Verfügung gestellt
werden, um den entstandenen Mangel wieder auszuglei-
chen.






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Hagemann

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür will er noch kassieren! Das muss man sich mal vorstellen!)


Herr Tauss hat mir eben eine Statistik gezeigt, aus der
hervorgeht – das hat das Institut der deutschen Wirt-
schaft berechnet –, dass in dem Fall, dass alle Landes-
kinder in ihrem Heimatbundesland studieren müssten, in
Bayern und Baden-Württemberg 8 000 Studienplätze
fehlen würden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dagegen hätte das Bundesland Rheinland-Pfalz ein Plus
von knapp 8 000 Plätzen zu verzeichnen. – Insofern gibt
es Handlungsbedarf. Die Länder müssen sich in diesem
Punkt einigen. Ich bin davon überzeugt, dass sie das
auch tun werden.

Ich erinnere daran, dass alleine die Länder Baden-
Württemberg und Bayern rund 240 Millionen Euro der
700 Millionen Euro, die für die Forschungsförderung zur
Verfügung gestellt werden, erhalten werden. Insofern
kann man durchaus erwarten, dass entsprechende Stu-
dienplatzkapazitäten geschaffen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das entspricht der gesamtstaatlichen Verantwortung, die
in Art. 91 des Grundgesetzes festgeschrieben ist.

Wir als SPD und ich als Haushälter sagen Ja zu dem
Hochschulpakt.


(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Wir auch!)


– Ich rede aber für meine Fraktion, liebe Ilse Aigner,
nicht für die CDU/CSU. – Wir Sozialdemokraten kämp-
fen für diesen Pakt.

Wir, die Haushälter, haben den Ansatz für das nächste
Jahr erst einmal qualifiziert gesperrt; wir sind noch im
parlamentarischen Verfahren. Das heißt aber nicht, dass
wir den Hochschulpakt blockieren wollen. Im Gegenteil:
Wir wollen eigentlich Druck machen, dass man sich ei-
nigt und in Kürze ein Konzept vorlegt, das umgesetzt
werden kann. Dann sind wir schnell bereit, die Mittel im
kommenden Jahr zu entsperren und zur Verfügung zu
stellen, damit entsprechende Maßnahmen eingeleitet
werden; denn es ist höchste Zeit, dass wir hier handeln.

Frau Hirsch, ich möchte das ansprechen, was Sie vor-
hin erwähnt haben, Stichwort „BAföG“. Wir sollten den
Hochschulpakt nicht noch mit diesem Thema überfrach-
ten; davor möchte ich warnen.


(Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Aber darin, dass dies eine Baustelle ist, sind wir uns ei-
nig, Frau Hirsch. Wir müssen uns in nächster Zeit mit
dem Thema Studienförderung, BAföG, befassen. Da es
in Zukunft mehr Studierende geben wird, ist klar, dass
wir mehr BAföG zur Verfügung stellen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Ulrike Flach [FDP])


Aber wir müssen auch auf die Herausforderungen, die
durch die Nichtanpassungen in den letzten Jahren ent-
standen sind, reagieren und entsprechende Regelungen
finden. Die Baustelle BAföG ist deswegen für uns von
großer Bedeutung.


(Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Ich komme zum Ende. Es geht um den Hochschulpakt
2020. Das heißt aber nicht, dass wir bis zum Jahre 2020
Zeit haben, zu diskutieren. Vielmehr sollten wir es als
Herausforderung ansehen, dass Bund und Länder das ge-
meinsam anpacken, Frau Staatsminister und Herr Minis-
ter, und den Hochschulpakt schnell umsetzen. Wir, der
Bund, wollen dies tun. Das findet seinen Ausdruck auch
im Entwurf des Haushaltsplan 2007. Mit einem Plus von
5,6 Prozent bei Forschung und Bildung ist die große
Koalition auf dem richtigen Weg.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606011600

Das Wort hat jetzt die Professorin Monika Grütters

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Monika Grütters (CDU):
Rede ID: ID1606011700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da Sie

hier Symbolfiguren beschwören, fällt mir ein, dass heute
vor 200 Jahren Napoleon durch das Brandenburger Tor
marschiert ist, die Quadriga geklaut und nach Paris ge-
bracht hat. Wissen Sie, Frau Sager, welches Motto er
hatte? Er hat immer gesagt: Das Wort „unmöglich“ gibt
es nur im Wörterbuch von Narren. Warum nehmen Sie
sich ihn nicht zum Vorbild


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich will doch nichts klauen!)


und machen sich seine Devise zu Eigen? Frau Sager, es
mag sein, dass die Verhandlungen über den Hochschul-
pakt gelegentlich Züge des Unmöglichen tragen, aber
das können Sie schlechterdings nicht unserer Bundesbil-
dungsministerin anlasten; denn sie ist die Einzige, die
gleich zu Beginn ihrer Amtszeit die Verhandlungen auf-
genommen hat und beharrlich vorantreibt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)


– Doch, es war eine ihrer ersten Amtshandlungen.

Es macht aber wenig Sinn – das ist an die Adresse der
Damen und Herren der Opposition gerichtet –, ein sol-
ches Projekt schon auf halbem Weg schlecht zu reden.
Das mag ein Oppositionsritual sein, nutzt aber nieman-
dem.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Monika Grütters
Schließlich liegt eine höhere Studierendenquote – ich
nehme an, dass Sie dem zustimmen – im gesamtstaatli-
chen Interesse. Daher ist es gut, dass Bund und Länder
endlich versuchen, eine Zusammenarbeit zu vereinbaren.
Beide Seiten werden in die Pflicht genommen. Frau
Sager, der Bund hat mit 565 Millionen Euro Finanzie-
rungshilfe für Studienplätze und 700 Millionen Euro
Programmmittel als Einziger bereits Vorleistungen er-
bracht. Dies führt letzten Endes zu einer Entlastung der
Hochschulhaushalte im Bereich der Lehre.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Gehring, Sie haben die Chancen der erwarteten
inhaltlichen Ausformulierung angesprochen und als
Beispiel die Frauenförderung genannt. Ich finde, die
wachsende Internationalisierung, die Einführung des
Lecturers und mehr Mobilität zwischen den Ländern
sind genauso wichtig. Angesichts der unterschiedlichen
Entwicklungen müssen die Bundesländer endlich etwas
gemeinsam tun; denn etwas mehr als ein Drittel der zu-
sätzlich Studierenden aus dem Westen Deutschlands
könnte im Osten studieren. Ich finde, was Hessen vorge-
schlagen hat, ist beispielhaft und Ausdruck der Mitver-
antwortung des Westens für den Osten. 25 Prozent der
Gesamtsumme sollen danach an die ostdeutschen Uni-
versitäten überwiesen werden. Baden-Württemberg hat
immerhin bilaterale Vereinbarungen seiner Universitäten
mit einer oder mehreren Universitäten im Osten vorge-
schlagen. Das hat es zuvor noch nie gegeben und sicher-
lich hätten viele das vor noch gar nicht langer Zeit für
unmöglich gehalten. Natürlich ist das alles nicht kosten-
neutral zu haben; da haben Sie Recht. Aber in diesem
Kontext Kritik an den Verhandlungen zum Hochschul-
pakt zu üben, finde ich schlichtweg unlauter; denn unter-
finanziert sind die Hochschulen schon jetzt. Das ist ein
Versäumnis ausschließlich der Länder.

Hier kann ich mir als Berliner Abgeordnete einen Sei-
tenhieb auf die KMK und auch auf die Karlsruher Rich-
ter nicht verkneifen. Die Stadtstaaten haben ein Problem,
weil es in der Natur der Sache liegt, dass sie über ihrem
Landeskindersoll ausbilden. Das tut in finanziell schwie-
rigen Zeiten natürlich auch die Hauptstadt. Die hat noch
einen weiteren Aspekt zu berücksichtigen. Wir haben in
Berlin nicht nur einen flächendeckenden Numerus Clau-
sus, sondern wir haben in diesem Wintersemester auch
sechs von sieben Studierwilligen wieder nach Hause ge-
schickt. Das ist vor allen Dingen eine Folge der PDS-
Politik, der Politik von Herrn Flierl, Frau Hirsch. In den
letzten vier Jahren ist hier ein Drittel aller Studienplätze
abgebaut worden. Da hat es diesen Richterspruch noch
nicht gegeben. Das war eine freiwillige Politik des PDS-
Senators. Deshalb brauchen wir eine gemeinsame An-
strengung.

Dass bei dem schrillen Beharrungsvermögen der Län-
der auf ihrer Zuständigkeit im Rahmen der Föderalis-
musreform ausgerechnet das zuständige Gremium KMK
diese Steuerungsaufgaben – die werden natürlich jetzt
doppelt groß, weil genau da der Hochschulpakt verabre-
det wird – bewältigen würde, haben wir alle nicht so
richtig glauben können. Jetzt wird das Misstrauen dum-
merweise doppelt bedient. Haben Sie in der Anhörung
nicht gesagt, dass Sie wenigstens ein Schrittchen von Ih-
rem Einstimmigkeitsprinzip abrücken wollen? Bisher
leider nichts davon. Schon Kohl hatte damals die KMK
als letzten Hort der Reaktion bezeichnet. Herr Gehring,
Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht ausgerechnet die-
sen haltlosen Länderegoismen, wie es in der „FAZ“ hieß,
mit Ihren etwas polemischen Fragen das Wort reden. Das
ist ein Appell an uns alle, weil wir aus verschiedenen
Ländern und Wahlkreisen kommen.

Frau Sager, leider sind die Grünen in den Ländern
nicht in Regierungsverantwortung.


(Zuruf von der FDP: Wieso denn „leider“?)


– Die Frage ist vielleicht berechtigt. – Wenn sie das wä-
ren, dann könnten Sie immerhin Ihre Kritik aus dem exe-
kutiven Off in eine konstruktive Politik verwandeln. In
der Gesamtverantwortung für ein Gelingen des Hoch-
schulpaktes stehen auch Sie. Wie sagte Napoleon doch
so schön? Das Wort „unmöglich“ gibt es nur im Wörter-
buch der Narren. Ich finde, wir dürfen keine Narren sein,
auch Sie nicht. Helfen Sie mit, wahr zu machen, was
möglich ist. Das sind wir, so finde ich, unseren Studie-
renden und den Unis schuldig. Übrigens, nach der Nie-
derlage Napoleons in Waterloo kam die Quadriga 1814
wieder nach Berlin zurück und da steht sie auch noch
heute.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg Tauss [SPD]: In Baden-Württemberg würde die verkauft werden, Frau Grütters! Sie würden die verscherbeln! Die wäre schon längst weg!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606011800

Das Wort hat jetzt der Kollege Dieter Grasedieck von

der SPD-Fraktion.


Dieter Grasedieck (SPD):
Rede ID: ID1606011900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Unser Hochschulpakt wird ganz sicher nicht
scheitern, weil wir wirklich ein tragfähiges Konzept ha-
ben. Wir haben zwei Säulen: Auf der einen Seite wird
die Finanzierung vom Bund durchgeführt, auf der ande-
ren Seite vom Land. Wir vom Bund haben unsere Auf-
gabe erfüllt. Unsere große Koalition sieht die gesamt-
staatliche Verantwortung. Wir fördern insgesamt bis zum
Jahre 2013 210 000 Studienplätze. Das ist ein guter An-
satz, eine gute Hilfe für den gesamten Hochschulbereich.

Wir haben natürlich das Gesamtproblem erkannt. Es
gibt in Deutschland zu wenig Studierende. Die OECD-
Studie ist angesprochen worden. Demnach liegt die Stu-
dienanfängerquote eines Jahrgangs in Deutschland bei
37 Prozent, während sie im Durchschnitt der OECD-
Staaten 53 Prozent beträgt. Da müssen wir helfen, ob-
wohl wir natürlich auch unsere gute duale Ausbildung
bei der gesamten Statistik berücksichtigen müssen; das
ist keine Frage.


(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Genau!)







(A) (C)



(B) (D)


Dieter Grasedieck
Wir benötigen aber mehr Studierende. Das ist eine
Chance für Deutschland.

Mit dem finanziellen Angebot sollten Zielvorgaben
des Bundes verbunden sein. Da sind bestimmte Dinge
angesprochen worden. So sollen Fachhochschulen stär-
ker gefördert werden, der Anteil der Frauen am Hoch-
schulpersonal soll erhöht werden und es ist wichtig, die
Ingenieurschulen und die Fakultäten, die Ingenieure aus-
bilden, stärker zu fördern. Dasselbe gilt für die natur-
wissenschaftlichen Studiengänge. Auch das ist ein
wichtiges Anliegen des Bundes; darauf hat die Bundes-
regierung hingewiesen.

Wir sehen die Gefahr eines Verdrängungswettbewer-
bes – das muss erwähnt werden –, wenn wir nicht und
nicht schnell genug reagieren. Es gibt schon heute Pro-
bleme, wenn gute Haupt- und Realschüler einen Beruf
im IT-Bereich oder den Beruf des Industriekaufmanns
erlernen wollen. Im letzten Jahr ist die Zahl der Abitu-
rienten, die einen Ausbildungsplatz suchen, um 9 Pro-
zent gestiegen. Das Nachsehen haben die Haupt- und
Realschüler. Diese Situation müssen wir berücksichti-
gen. Sie wird unter anderem dadurch verschärft, dass ei-
nige Länder Studiengebühren eingeführt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Verantwortungslos!)


Das ist verantwortungslos; die Zahlen sprechen ganz
deutlich dafür. Heute Morgen sagte im Übrigen ein Stu-
dent im Frühstücksfernsehen, Studiengebühren seien
studienfeindlich. Der Druck auf den Ausbildungsmarkt
erhöht sich dadurch natürlich.


(Uwe Barth [FDP]: Nicht alles, was im Frühstücksfernsehen gesagt wird, stimmt auch!)


Wirklich interessant – die FDP sollte zuhören; da sind
Sie betroffen – ist die Entwicklung im Land Nordrhein-
Westfalen.


(Zurufe von der SPD: Aha!)


Es gibt im Land Nordrhein-Westfalen insgesamt eine
Reduzierung der Studentenzahlen um 5,4 Prozent. Aber
an einer gebührenfreien Hochschule wie der Universität
in Düsseldorf ist ein Anstieg um 33 Prozent zu verzeich-
nen.


(Zurufe von der SPD: Aha!)


Selbst der zuständige FDP-Minister hat einen Zusam-
menhang zwischen Studiengebühren auf der einen Seite
und Studienanfängerzahlen auf der anderen Seite gese-
hen.

Wir brauchen eine verbesserte Studiensituation und
mehr Studienplätze. Dafür hat die Bundesregierung jetzt
eine wichtige Basis geschaffen. Die Länder müssen das
Verteilungsproblem im nächsten Monat – es ist nur noch
ein Monat Zeit – lösen; denn auch die Länder tragen hier
eine gesamtstaatliche Verantwortung. Wir werden die
Studierenden nicht im Regen stehen lassen. Der Ball
liegt im Bereich der Länder.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606012000

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kretschmer

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1606012100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut

und richtig, wenn sich der Deutsche Bundestag mit ei-
nem so wichtigen Thema wie dem des Hochschulpaktes
beschäftigt. Wir leben in einem Zeitalter der Wissensge-
sellschaft. Die wichtigste Ressource, die wir in unserem
Land haben, sind die Menschen, ist die Intelligenz. Dass
die Zahl der Studierenden steigt, ist eine gewaltige
Chance für dieses Land und eine gute Nachricht. Wir
sollten nicht wie die Opposition leichtsinnig von einem
Problem reden,


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört!)


sondern uns mit Freude an die Arbeit machen und diese
Aufgabe angehen. Denn dies ist eine gute Nachricht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch wenn Sie, Frau Sager, in Hamburg nicht mehr
gewollt sind


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin immer noch Hamburgerin!)


und es in Deutschland keine Regierung gibt, an der die
Grünen beteiligt sind, werden wir nicht dafür sorgen,
dass die Hochschulpolitik Bundespolitik wird. Denn es
ist richtig, dass die Länder in diesem Bereich die Verant-
wortung tragen.

Es ist richtig: Es gibt Länder, in denen die Verhält-
nisse an den Hochschulen nicht besonders gut sind. Es
gibt aber auch Länder wie den Freistaat Sachsen, in de-
nen die Bedingungen ganz hervorragend sind. Das hängt
ganz entscheidend damit zusammen, wo wer Prioritäten
setzt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Schauen wir uns einmal Berlin an, wo es leichtge-
wichtige Bürgermeister gibt,


(Ute Kumpf [SPD]: Na, na, na!)


die davon sprechen, dass diese Stadt sexy ist. Dazu muss
ich sagen: Eine Finanzpolitik, die diese Stadt an die
Wand fährt,


(Klaus Hagemann [SPD]: Landowsky! – Weitere Zurufe von der SPD)


die es nicht mehr zulässt, Prioritäten für Hochschulen
und für die Zukunft zu setzen, ist nicht sexy, sondern
asozial.






(A) (C)



(B) (D)


Michael Kretschmer

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wer in die Zukunft investieren will, muss in der Ge-
genwart – das ist die zentrale Aufgabe – die Weichen
richtig stellen. In vielen Ländern ist dies nicht gemacht
worden; die Beispiele lassen sich aneinander reihen.
Dort, wo die CDU/CSU Verantwortung getragen hat,
sind die Weichen – das kann man in aller Regel sagen –
richtig gestellt worden. Zumindest sprechen die Bei-
spiele eine ganz klare Sprache.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung, um
90 000 zusätzliche Studienplätze zu schaffen. Wir müs-
sen und wir werden jedem Jugendlichen, der das Zeug
zu einem Studium hat, einen qualitativ hochwertigen
Studienplatz in diesem Land garantieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deutschland wird jedem Talent eine Chance geben. Wir
brauchen jeden Einzelnen und wir brauchen jede Ein-
zelne. Das ist das Signal, das Bundesforschungsministe-
rin Schavan mit ihrer Zusage aussendet. 1,27 Milliarden
Euro – eine gewaltige Summe – stellt der Bund für einen
Hochschulpakt bereit.

Es ist richtig, dass mit der Forschungsprämie die For-
schung an den Hochschulen gefördert wird; denn eine
exzellente Hochschule kann nur durch gute Forschungs-
arbeit existieren. Das Humboldtsche Prinzip, eine exzel-
lente Lehre durch eine gute Forschung zu gewährleisten,
muss auch in Zukunft Bestand haben. Zumindest ist das
die Vorstellung, die diese Koalition von Hochschulpoli-
tik hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich finde verantwortungslos, wie die Opposition ver-
sucht, auf eine schnelle Lösung zu drängen.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn die Pressekonferenz schon einberufen?)


Ich bin ganz anderer Meinung. Ich glaube, wir müssen
die Zeit bis zur Ministerpräsidentenkonferenz im De-
zember nutzen, um intensiv zu verhandeln, damit eine
Lösung für den Hochschulpakt dabei herauskommt, die
die verschiedenen Situationen in unserem Land wider-
spiegelt. Es gibt Länder, die Studienplätze aufbauen
müssen, weil die Zahl der Abiturienten steigt, und es
gibt Länder wie den Freistaat Sachsen, die Überkapazi-
täten haben – die man erhalten möchte –, weil es nicht
mehr so viele Bewerber gibt.

Es ist natürlich vollkommen falsch, wenn man sagt,
das Einstimmigkeitsprinzip sei ein Problem. Das Ein-
stimmigkeitsprinzip ermöglicht, dass wir tatsächlich auf
diese unterschiedlichen Situationen eingehen. Deswegen
ist es richtig, dass wir dieses Prinzip im Rahmen der Fö-
deralismusreform in das Grundgesetz geschrieben ha-
ben.


(Uwe Barth [FDP]: Deswegen ist die KMK die vernünftigste Einrichtung, die wir hier haben!)

Das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern zeigt ja, wie
unterschiedlich Politik gemacht wird. Dort werden der-
zeit vier Professuren für Maschinenbau an der Universi-
tät Rostock abgeschafft, obwohl dieses Land wirklich
Probleme hat und in die Zukunft sehen müsste. Es gibt
fünf Länder, die Beschlüsse gefasst haben, Studienplätze
abzubauen. Das ist es, was ich meine, wenn ich sage,
dass man sich die Unterschiede in den Ländern ansehen
muss. Ich glaube, darauf müssen wir an dieser Stelle hin-
weisen.

Die Regierung und die Bundesländer können sich das
Leben nicht so leicht machen wie die Opposition. Sie
sind aber von der Mehrheit der Bürger in unserem Land
gewählt worden und tragen jetzt die Verantwortung. Da-
rin unterscheiden sie sich von der Opposition hier im
Bundestag.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606012200

Als letztem Redner in dieser Aktuellen Stunde erteile

ich das Wort dem Kollegen Jörg Tauss von der SPD-
Fraktion.


(Uwe Barth [FDP]: Der hat seine Redezeit schon verbraucht!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1606012300

Ich habe doch heute noch gar nichts gesagt.


(Heiterkeit)


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich sehr – erlauben Sie mir bitte, das
zu sagen –, dass die neue Wissenschaftsministerin des
Freistaates Sachsen heute hier ist und auch schon ge-
sprochen hat, kurz nach Übernahme ihres Amtes.


(Beifall bei der SPD)


Wir wünschen uns eine gute Zusammenarbeit, Frau
Staatsministerin. Wir haben Sie als streitbare Vorsit-
zende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft an
anderer Stelle kennen gelernt und wir hoffen, in Ihnen
auf der föderalen Seite eine streitbare Ministerin für die
gemeinsamen Interessen des Bundes und der Länder für
Bildung, Wissenschaft und Forschung zu finden. Darauf
freuen wir uns. – Das Lob des Generalsekretärs der säch-
sischen CDU war an dieser Stelle berechtigt, Herr
Kretschmer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir hatten
gestern eine sehr interessante Diskussion in unserem
Ausschuss, bei der die Generalsekretäre der Wissen-
schaftsorganisationen und die Hochschulrektorenkon-
ferenz vertreten waren. Wir haben über die Exzellenz-
initiative gesprochen. Es wurde berichtet, mit welcher
Verwunderung der eine oder andere Gutachter, der aus
dem Ausland zu uns gekommen ist, um im Rahmen der
Exzellenzinitiative festzulegen, wer zu der Spitze der
deutschen Universitäten gehört, festgestellt hat, welche
hohe Qualität an den Universitäten – trotz der Probleme,






(A) (C)



(B) (D)


Jörg Tauss
die wir dort haben – vorgefunden wurde. Die Gutachter
haben die Breite, die in Deutschland existiert, ausdrück-
lich gelobt und gewürdigt. Ich denke, allein dieser Vor-
gang sollte Schluss machen mit dem, was wir in vielen
Talkshows – nicht nur sonntagabends bei Frau
Christiansen – und bei anderen Miesmachern erleben,
mit der Übelrederei des Hochschulstandorts Deutsch-
land. Er hat das nicht verdient. Deutsche Universitäten
und Hochschulen haben Qualität.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir müssen in der Tat aufpassen – Frau Sager, ich
stimme Ihnen an diesem Punkt ausdrücklich zu –, dass
jetzt keine Controllerseelen unterwegs sind und sagen:
Nehmen wir uns doch Bayern und Baden-Württemberg
zum Beispiel und bieten ganz wenig Studienplätze an!
Setzen wir auf Exzellenz! Warum tun wir so viel für die
Studierenden an anderer Stelle? Honoriert werden dieje-
nigen, die in der Spitze von Forschungsuniversitäten
erfolgreich sind. – Wir sollten unseren Blick nicht veren-
gen, sondern deutlich machen – dazu leistet dieser Hoch-
schulpakt einen wichtigen Beitrag –, dass wir beides
brauchen: Universitäten, die im internationalen Ver-
gleich an der Spitze stehen, und eine Breite, auf die wir
auch im internationalen Vergleich, zum Beispiel mit den
USA, stolz sein können. Frau Kollegin, es ist uns gerade
von Berkeley, Kalifornien, und anderswo bestätigt wor-
den, dass unsere Universitäten auch international einen
hervorragenden Ruf haben. Ich glaube, das ist es, was
wir entsprechend voranbringen müssen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Der deutschen Wirtschaft, mit Herrn Braun an der
Spitze, sage ich: Die Rederei von den Zigtausenden von
jungen Menschen, die dieses Land verlassen, weil sie zu
viel Steuern zahlen,


(Markus Löning [FDP]: Leider ist das wahr, Herr Tauss!)


hat mich in dieser Woche etwas geärgert. So eine Al-
bernheit habe ich noch nicht gehört. Ich kenne viele
junge Menschen, die ins Ausland gegangen sind, weil sie
sich den Wind um die Nase wehen lassen wollten, aber
das Ziel hatten, zurückzukommen. Ich kenne aber noch
mehr junge Menschen, die ins Ausland gegangen sind,
weil ihnen die deutsche Wirtschaft nicht genügend Jobs
angeboten hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man geht mit Hochschulabsolventen in diesem Land
häufig so um, als ob wir genügend hätten: Man beschäf-
tigt sie über Monate in unbezahlten Praktika und Ähnli-
ches. – In diesem Fall würde ich auch, hätte ich ein ent-
sprechendes Angebot, ins Ausland gehen. Wer hier über
diese Situation jammert, sollte bedenken, dass auf denje-
nigen, der mit dem Zeigefinger auf jemand anderen
zeigt, stets drei Finger zurückzeigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zurück zum Hochschulpakt. Der Hochschulpakt sieht
vor, dass der Kapazitätsausbau mit mindestens
565 Millionen Euro gefördert wird. Das ist ein stolzes
Ergebnis. Ich bedanke mich bei den Haushältern und
auch beim Finanzminister, der hier mitgemacht hat; da-
rin hat er sich von seinem Vorgänger nicht unterschie-
den. Wir wollen diese Probleme gemeinsam mit dem Fi-
nanzminister angehen.

Lieber Kollege Hagemann, ich bin für das Lob
– Stichwort: Art. 91 b – sehr dankbar. Zu viel gelobt
wird man ja, wenn man in Rente geht. Ich habe das noch
nicht vor. Mit der gemeinsamen Neugestaltung von
Art. 91 b des Grundgesetzes wollen wir aber in der Tat
etwas bewirken. Der Hochschulpakt ist ein erster wichti-
ger Punkt. Die Ministerin hat hier etwas vorgelegt, wo-
rauf diese große Koalition stolz sein kann. Wir wollen es
zum Erfolg führen. Es soll ein gemeinsamer Erfolg die-
ser großen Koalition und ein Signal an die Hochschulen
und die Wissenschaft sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dass wir da einige Probleme haben, Frau Staatsminis-
terin Stange, ist unbestritten. Die unterschiedliche Situa-
tion in den Ländern ist angesprochen worden. Ich danke
Ihnen für den Hinweis auf Berlin. Einige haben sich über
das Bundesverfassungsgerichtsurteil sogar gefreut. Ich
sage sehr deutlich: Ich habe mich darüber nicht beson-
ders gefreut. Dass das Bundesverfassungsgericht in
Karlsruhe sagt, es gebe hier Einsparpotenziale bei Bil-
dung, Wissenschaft und Forschung, halte ich für ein völ-
lig falsches Signal für Deutschland.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man nur den Finanzausgleich und die Zahl der
Studierenden betrachtet – auch das ist für Haushälter in-
teressant –, dann hätte Berlin in den letzten Jahren
47 Millionen Euro mehr erhalten müssen, Rheinland-
Pfalz 20 Millionen Euro und NRW 12,6 Millionen Euro
mehr. Baden-Württemberg und Bayern hätten 8,5 Mil-
lionen Euro bzw. 8 Millionen Euro weniger erhalten und
wären so belastet worden. Hessen hätte fast 20 Millionen
Euro weniger bekommen, Niedersachsen sogar fast
40 Millionen Euro weniger.

Was in Niedersachsen unter der schwarz-gelben Re-
gierung stattfindet – die Schwarzen sind vielleicht ganz
vernünftig,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


ich weiß es nicht; aber die Gelben haben in diesem
Punkt immer so eine große Klappe –, ist das
Schlimmste, was das deutsche Wissenschaftswesen im
Moment landesweit zur Kenntnis zu nehmen hat. Es ist
schon gut, dass auf Bundesebene Schwarz-Rot regiert.
Kollege Grund, ich sehe Ihre Begeisterung. Auch Sie
sind mehr für Schwarz-Rot als für irgendeine andere
Konstellation.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die
Trittbrettfahrer nicht fördern. Ich glaube, das ist das
Schwierigste an diesem Pakt. Arbeitet vernünftig zusam-
men!






(A) (C)



(B) (D)


Jörg Tauss
Ich will mit Napoleon schließen, der hier schon be-
müht worden ist. Er hat in unserem badischen Landstrich
schon das eine oder andere angerichtet, was mir nicht so
gefallen hat. Ich komme aus Bretten; das ist die
Melanchthonstadt. Melanchthon hat sinngemäß gesagt:
Es ist die vornehmste Pflicht einer Stadt, die Bildung ih-
rer Bürger zu fördern. Ich sage an dieser Stelle: Es ist
heute die wichtigste Aufgabe der Politik, Wissenschaft,
Bildung und Hochschulen zu fördern, und zwar gemein-
sam im Rahmen der Aufgaben, die uns die Föderalis-
musreform zugeteilt hat.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Uwe Barth [FDP]: Herr Tauss, sagen Sie mir noch einmal, wie der Minister in Niedersachsen heißt! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: Ich will höflich sein!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606012400

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
Zusatzpunkt 2 auf:

7 a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. April
2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien
und Rumäniens zur Europäischen Union

– Drucksache 16/2293 –

– Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union (21. Ausschuss)


– Drucksache 16/3155 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Gunther Krichbaum
Axel Schäfer (Bochum)

Markus Löning
Dr. Hakki Keskin
Rainder Steenblock


(8. Ausschuss)


– Drucksache 16/3160 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk

b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung von Rechtsvorschriften des
Bundes infolge des Beitritts der Republik Bul-
garien und Rumäniens zur Europäischen
Union

– Drucksache 16/2954 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (21. Ausschuss)


– Drucksache 16/3147 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Gunther Krichbaum
Axel Schäfer (Bochum)

Markus Löning
Dr. Hakki Keskin
Rainder Steenblock

ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN

EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum
Erfolg führen

– Drucksache 16/3090 –

Ich weise darauf hin, dass wir über den Entwurf des
Vertragsgesetzes später namentlich abstimmen werden.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner Axel Schäfer von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Axel Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1606012500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

ratifizieren heute im Deutschen Bundestag das Vertrags-
gesetz zum Beitritt von Bulgarien und Rumänien zur Eu-
ropäischen Union.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist noch nicht sicher!)


– Das ist ganz sicher. – Deshalb freue ich mich heute
ganz besonders, die Botschafterin von Bulgarien, die
Botschafterin von Rumänien und die Europaministerin
hier auf der Tribüne begrüßen zu dürfen.


(Beifall)


Wir werden diesen Vertrag heute im Deutschen Bun-
destag in großer Übereinstimmung ratifizieren. Das ist
schon an sich und für uns ein Erfolg. CDU/CSU und
SPD ebenso wie Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben
einen gemeinsamen Antrag vorgelegt. Gestern im Aus-
schuss haben alle Mitglieder für die entsprechenden Ge-
setze gestimmt. Das sollten wir hier schon einmal am
Anfang gemeinsam würdigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es kommt bei dieser Diskussion nicht nur darauf an,
was wir diskutieren, sondern auch, wie wir diskutieren,
nämlich selbstbewusst und freudig, weil dieser Beitritt
ein Erfolg ist. Wir schauen nicht nach unten und sagen
bekümmert: Oh, jetzt müssen wir noch zwei Länder auf-
nehmen.






(A) (C)



(B) (D)


Axel Schäfer (Bochum)


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse)


Jean-Claude Juncker, ein Christdemokrat aus Luxem-
burg, hat dazu ausgeführt – ich zitiere mit Erlaubnis des
Präsidenten –:

Es ärgert mich, daß wir in den westlichen Gesell-
schaften keine Freude darüber empfinden, daß
beide Teile Europas zusammengefunden haben.
Früher waren die Raketen aus dem Osten auf uns
gerichtet – das hat angst gemacht. Heute sind die
Hoffnungen der Menschen aus Mittel- und Ost-
europa auf uns gerichtet – und das macht uns erstaun-
licherweise noch größere Angst als die Raketen.

Ich will deshalb vor allem über die Hoffnungen reden,
ohne bestimmte Ängste zu verschweigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Hoffnungen, die wir haben, verbinden sich bereits
mit hoffnungsvollen Erwartungen, die in den letzten
15 Jahren ihren Niederschlag in Europa gefunden haben.

Der erste Punkt ist die Stabilität. Wir haben jetzt vom
Schwarzen Meer bis zum Polarkreis ein Band von Stabi-
lität, von Frieden in Europa, was gleichzeitig auch zur
Stabilisierung der schwierigen Region des westlichen
Balkans führt. Diese Stabilität besteht auch deshalb, weil
sich die Transformationsgesellschaften intern gewandelt
haben. Das war ein schwieriger Prozess, der so manchen
Regierungen nicht nur das Leben schwer gemacht hat,
sondern auch zu ihrem Ende geführt hat. Trotzdem
wurde der Mut aufgebracht. Und das war auch gut so.

Der zweite Punkt ist ein höheres Maß an Sicherheit.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, was der deutsche In-
nenminister in dieser Woche zu dem gesagt hat, was wir
in diesem Bereich erreicht haben. Es ist besonders wich-
tig, gerade hier in diesem Hause darauf aufmerksam zu
machen, dass auch deutsche Beamte, zum Beispiel der
Polizei des Bundes oder des BKA, in diesen Ländern
dazu beigetragen haben, dass die Außengrenzen sicherer
werden und dort die entsprechenden Strukturen aufge-
baut werden. Das geschah auf Wunsch von Bulgarien
und Rumänien. Das haben wir in Europa mit deutscher
Hilfe mit diesen Ländern gemeinsam erreicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es ist jetzt natürlich auch schon wirtschaftlich ein Er-
folg. Gestern konnten wir alle in der Zeitung lesen: Seit
den EU-Beitritten 2004 ist die Zahl der Arbeitslosen in
den 25 EU-Staaten zurückgegangen. Das wird auch nach
dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien weiterhin der
Fall sein. In der Öffentlichkeit wird das leider überhaupt
nicht kommuniziert. Wir haben in Deutschland in den
letzten fünf Jahren eine Steigerung unseres Exportüber-
schusses um das Doppelte in Bulgarien und das Dreifa-
che in Rumänien erzielt. Auch das ist etwas, was Ar-
beitsplätze bei uns im Land sichert.

Wir haben in der Europäischen Union auch ein höhe-
res Maß an Stabilität insgesamt erreicht, wo doch viele
heute eher darüber diskutieren, was noch instabil ist. Es
verwundert mich persönlich ein bisschen, dass ange-
sichts dessen, was wir im wirtschaftlichen Bereich er-
reicht haben und wovon der Freistaat Bayern am meisten
profitiert, gerade bei Bulgarien und Rumänien, beson-
ders aus Bayern jetzt Forderungen nach Schutzmaßnah-
men kommen.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die SPDFraktion im Bayerischen Landtag hat es auch verlangt! Ihre SPD-Genossen im Bayerischen Landtag verlangen es auch lauthals! Da gibt es nicht viele, aber die paar, die es gibt, verlangen es!)


Ich fände es gut, wir redeten hier gemeinsam auch ein-
mal über den Nutzen, den wir gemeinsam erfahren ha-
ben; denn das ist das, was nach vorne weist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, dass
manches dabei deshalb nicht so einfach ist, weil es sich
mit Ängsten von Menschen verbindet. Lassen Sie uns
deshalb offen darüber reden!

Es gibt bei uns eine Mehrheit in der Bevölkerung, die
eher skeptisch ist, was die Beitritte anbelangt. Es ist eine
historische Aufgabe. Das klingt sehr groß, aber es ist
auch sehr konkret. Erinnern wir uns daran, vor welch
historischen Aufgaben gerade in der Zeit unserer Nach-
kriegsdemokratie die Kanzler standen, Konrad Adenauer
bei der Westintegration – da gab es erhebliche Wider-
stände –, Willy Brandt bei der Ostpolitik – da war das
ebenso –, Helmut Kohl bei der deutschen Einheit und
Gerhard Schröder bei Fragen von Krieg und Frieden!
Nie konnte man sagen, dass das in der Bevölkerung
nicht kontrovers war, aber immer können wir sagen, dass
wir in den entscheidenden Fragen, bei denen es um
Europa und um unser Land in Europa ging, mit diesen
Kanzlern die richtigen Entscheidungen getroffen haben.
Eine solch richtige Entscheidung werden wir auch heute
mit der Zustimmung zu den Beitritten treffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN sowie des Abg. Markus Löning [FDP] und des Abg. Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn wir dabei über den Wert dieser Gemeinschaft
reden, dann müssen wir die Idee Europas unseren Bür-
gerinnen und Bürgern gegenüber so vermitteln, dass der
Mehrwert auch deutlich wird. Das können wir mit vielen
guten Argumenten, und zwar fraktionsübergreifend in
diesem Hause, leisten.

Was wir jetzt in Europa erreichen, ist mehr als eine
Wiedervereinigung; es ist die Vereinigung des Konti-
nents in Frieden, die es in seiner Geschichte so noch
nicht gegeben hat. Deshalb sind wir schon miteinander
stolz darauf, dass uns das jetzt gelingt, auch mit diesen
neuen Beitritten.






(A) (C)



(B) (D)


Axel Schäfer (Bochum)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diejenigen, die jetzt zu uns kommen, Bulgarien und
Rumänien, gehörten schon immer dazu. Es war eine
Selbstverständlichkeit, über Elias Canetti und Paul
Celan zu reden, über Eugène Ionesco oder über Jules
Pascin genauso wie über Celibidache oder Christo, dem
wir alle verdanken, dass dieses Haus auf wundervolle
Weise umhüllt war. Auch das war ein Beitrag von diesen
Ländern für Deutschland.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Jetzt kehren Bulgarien und Rumänien in dieses
Europa zurück und wir hier im Deutschen Bundestag
heißen sie herzlich willkommen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606012600

Ich erteile das Wort Kollegen Markus Löning, FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Markus Löning (FDP):
Rede ID: ID1606012700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der letzten Woche ist
hier in erster Lesung zu Recht sehr viel Kritisches gesagt
worden. Man muss das tun; es ist wichtig, dass man in
solch einer Debatte alle Aspekte beleuchtet. Ich denke,
es ist aber auch wichtig, dass wir uns über die Wirkung
einer solchen Debatte im Klaren sind und sie berücksich-
tigen. Insofern möchte ich mich hier heute gern auf die
positiven Aspekte konzentrieren. Es hat keinen Sinn, nur
über die negativen Aspekte und Probleme zu reden. Da-
mit würden wir nach innen – in Deutschland – den Ein-
druck erwecken, dass wir den EU-Beitritt der beiden
Länder eigentlich nicht wollen. In Bulgarien und Rumä-
nien könnte derselbe Eindruck entstehen und man
könnte dort sagen: Die denken nur über die Probleme
nach. Wollen die uns überhaupt?

An dieser Stelle sage ich klar und deutlich: Ja, wir
heißen die Bulgaren und Rumänen herzlich willkommen
in der Europäischen Union.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich möchte das anhand zweier Aspekte erläutern, mit de-
nen die Kommission in ihrem Bericht klar macht – es
stimmt mit meinen persönlichen Erfahrungen überein –,
dass die beiden Länder beitrittsreif sind.

Ein Aspekt ist, dass die Länder stabile Demokratien
sind und sich entsprechend verhalten. Es gibt Koalitions-
schwierigkeiten, schwierige Wahlen und all diese Dinge,
die in Demokratien eben passieren und von denen man
in der Zeitung liest. Ich möchte zwei Dinge symbolhaft
anführen. Vor wenigen Wochen haben die europäischen
Liberalen und Demokraten ihren Jahreskongress im ehe-
maligen Palast des Schlächters Ceausescu abgehalten,
dort, wo jetzt der rumänische Senat und das rumänische
Abgeordnetenhaus ihren Sitz haben. Das hat eine sym-
bolhafte Wirkung, die kaum zu überschätzen ist: In die-
sem monströsen Gebäude – anders kann man es nicht
nennen –, für das die Rumänen über Jahre geblutet ha-
ben, arbeiten Demokraten, demokratische Parteien; eine
demokratisch gewählte Regierung wird von dort aus un-
terstützt. Es symbolisiert den Wandel, der in Rumänien
gerade stattgefunden hat.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe dort junge Abgeordnete getroffen, die über-
zeugte Demokraten waren, die für die Menschenrechte
in ihrem Land streiten und die sich mit einer ungleich
schwierigeren Ausgangssituation konfrontiert sahen als
wir nach der Wende. Es gab bei der Reform des Justiz-
wesens in Rumänien und Bulgarien keine Richter und
Polizisten aus Nordrhein-Westfalen oder Bayern, die
man heranziehen konnte, die eine rechtsstaatliche Aus-
bildung hatten und an die Gerichte in den neuen Bundes-
ländern gehen konnten. Es war und ist ein ungleich
schwierigerer Prozess, der dort stattfand bzw. stattfindet.
Bei allen Schwierigkeiten, die es gibt, müssen wir den
Hut davor ziehen, wie weit die Länder in diesem sehr
schwierigen Prozess inzwischen vorangekommen sind.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich ein paar Worte zum zweiten Aspekt,
zum Thema Wirtschaft sagen. Ich bin stolz darauf, dass
die Wirtschaft in Rumänien unter der Führung von Libe-
ralen so große Sprünge nach vorn gemacht hat. Ich kann
es mir nicht verkneifen, auf den großen Erfolg zu ver-
weisen, der zuletzt in Rumänien mit der Einführung ei-
nes einheitlichen Steuersatzes erzielt worden ist. Die
Entwicklung in beiden Ländern hat gezeigt, dass liberale
Wirtschaftspolitik zu Wohlstandsmehrung führt. Es gibt
dort Wachstumsraten, von denen wir in Deutschland
nicht einmal ansatzweise träumen können; sie sind drei-
mal so hoch wie in einem guten Jahr in Deutschland.


(Beifall bei der FDP)


Herr Schäfer hat es schon angesprochen: Der Han-
delsaustausch mit den beiden Ländern nimmt inzwi-
schen ein Volumen von circa 8 Milliarden Euro ein. Das
entspricht dem Volumen unseres Handels mit Indien. Er
sichert Tausende Arbeitsplätze in Deutschland. Ich
denke, es ist wichtig, immer wieder zu sagen: Der Bei-
tritt von Rumänien und Bulgarien sichert Jobs und führt
zu einem höheren Steueraufkommen in Deutschland.
Davon profitieren die Arbeitnehmer in Deutschland.

Lassen Sie uns in die Zukunft schauen: Was bedeutet
die Aufnahme zweier weiterer Mitglieder für die Euro-
päische Union? Die Europäische Union wird ab
1. Januar 2007 um circa 30 Millionen Menschen größer
werden. Wir sind dann fast eine halbe Milliarde Men-
schen. Wir sind der größte Handelsblock in der Welt. Es
wird Zeit, dass die EU noch stärker und deutlicher als
bisher die gemeinsamen Interessen der Europäerinnen
und Europäer gegenüber anderen Blöcken und anderen






(A) (C)



(B) (D)


Markus Löning
Ländern vertritt. Je größer wir sind und je stärker wir
wirtschaftlich sind, umso besser wird uns das gelingen.
Es wird Zeit, dass wir uns bei der politischen Einigung
weitere Felder erschließen, nicht nur in der Handelspoli-
tik, sondern auch in der Außenpolitik, in der Sicherheits-
politik, in der Umweltpolitik und in vielen Bereichen,
die für unsere Länder von großer Bedeutung sind. Je
größer Europa ist, umso besser wird es uns gelingen,
diese Interessen gemeinsam nach außen zu vertreten.

Meine Damen und Herren, in dem Sinne möchte ich
gerne das wiederholen, was der Kollege Axel Schäfer
hier schon gesagt hat – genau diesen Satz hatte auch ich
mir als letzten Satz aufgeschrieben –: Herzlich willkom-
men, liebe Bulgaren, herzlich willkommen, liebe Rumä-
nen, im Kreis der europäischen Völkerfamilie!


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606012800

Ich erteile das Wort Kollegen Michael Stübgen, CDU/

CSU-Fraktion.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das weinerliche Getue kannst du dir sparen!)



Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1606012900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

stehen in der Europäischen Union vor einem denkwürdi-
gen Tag. Am 1. Januar 2007 werden Bulgarien und Ru-
mänien vollwertige Mitglieder der Europäischen Union
sein. Damit findet die fünfte Erweiterungsrunde der
Europäischen Union ihren Abschluss, eine Erweite-
rungsrunde, wie es sie früher nicht gegeben hat und aus
verschiedenen Gründen auch nicht mehr geben wird.

Lassen Sie mich, weil dieser Erweiterungsprozess ein
historischer Prozess der europäischen Geschichte ist, ei-
nige seiner wichtigsten Stationen kurz benennen.

Bereits im Dezember 1989, dem Jahr des Mauerfalls,
richtet die Europäische Union das PHARE-Programm
zur finanziellen und technischen Unterstützung der Län-
der Mittel- und Osteuropas ein. Schon im Juli 1990 be-
antragen Zypern und Malta die EU-Mitgliedschaft. Im
Juni 1993 werden auf dem Europäischen Rat in Kopen-
hagen in einer ganz entscheidenden Sitzung die so ge-
nannten Kopenhagener Kriterien festgelegt.

Weil sich diese Kriterien in den letzten 13 Jahren wie
ein roter Faden durch die europäische Politik ziehen,
weil ich der Überzeugung bin, dass sie damals ausge-
sprochen klug definiert worden sind, und weil sie auch
heute noch Grundlage unserer Entscheidung sind,
möchte ich kurz auf sie eingehen.

Es geht erstens um das politische Kriterium, dass ein
Land, das Mitglied der Europäischen Union werden
möchte, garantieren muss, dass Demokratie und Rechts-
staatlichkeit funktionieren, dass die Menschenrechte ge-
achtet und die Minderheiten geschützt werden.

Zweitens gibt es das wirtschaftliche Kriterium, dass
ein Land, das Mitglied der Europäischen Union werden
will, ein marktwirtschaftliches System haben muss, eine
starke Marktwirtschaft, die in der Lage ist, dem Wettbe-
werbsdruck im europäischen Binnenmarkt standzuhalten
und ihn mitgestalten zu können.

Drittens geht es darum, dass ein neues Mitgliedsland
den so genannten gemeinschaftlichen Besitzstand über-
nehmen muss, der heute immerhin aus ungefähr
26 000 Rechtsakten besteht.

In den Jahren 1994 bis 1996 folgen die Beitrittsgesu-
che von Ungarn, Polen, der Slowakei, Rumänien, Lett-
land, Estland, Litauen, Bulgarien, der Tschechischen Re-
publik und Slowenien. Im Dezember 1997 beschließt der
Europäische Rat von Luxemburg die Einleitung des
Erweiterungsprozesses. 1999 bestätigt der Europäische
Rat von Helsinki, dass mit den zwölf Bewerberländern
Beitrittsgespräche beginnen sollen. Im Dezember 2002
einigt sich die Europäische Union mit zehn der Bewer-
berländer darauf, dass sie am 1. Mai 2004 der EU beitre-
ten können. Die Beitrittsverträge wurden am 16. April
2003 in Athen unterzeichnet. In der Folge traten diese
Länder am 1. Mai 2004 der Europäischen Union bei.

Bulgarien und Rumänien, über deren Beitritt zur
Europäischen Union wir heute debattieren und entschei-
den, sind Teil dieser fünften Erweiterungsrunde. Die
Beitrittsverträge mit Bulgarien und Rumänien wurden
am 25. April 2005 in Luxemburg unterzeichnet. Beide
Länder haben gerade in den letzten Jahren intensiv gear-
beitet und den gesamten Acquis communautaire in ihr
nationales Recht übertragen. Es ist eine wahrlich große
Aufgabe, die wir den neuen Mitgliedsländern abverlangt
haben. Die regelmäßig erscheinenden Fortschrittsbe-
richte dokumentieren diese Anstrengung und die Leis-
tung der neuen Mitgliedsländer, auch die Leistung von
Bulgarien und Rumänien.

Der letzte Fortschrittsbericht zu Bulgarien und Rumä-
nien – es ist schon der zweite in diesem Jahr – ist vom
26. September dieses Jahres. Er bildet die informelle
Grundlage unserer heutigen Entscheidung. Bulgarien
und Rumänien haben große Fortschritte auch in den letz-
ten sechs Monaten gemacht. Sie erfüllen ausreichend die
Beitrittskriterien. Ich werbe für Ihre Zustimmung zum
Ratifikationsgesetz.

Wir sind uns dabei aber auch im Klaren, dass es noch
erhebliche Defizite in beiden Ländern gibt. Beide Län-
der müssen noch intensive Anstrengungen unternehmen,
um die europäischen Standards in allen Bereichen zu er-
füllen. Wir können drei defizitäre Bereiche unterschei-
den.

Im ersten Bereich geht es um Lebensmittelsicherheit
und um Hygienestandards. Hier hat die Europäische
Kommission ausreichende Schutzmechanismen akti-
viert. Es besteht überhaupt kein Zweifel an der verlässli-
chen Arbeit der Europäischen Kommission auch in der
Zukunft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Der zweite Bereich bezieht sich auf die ordnungsge-
mäße Verwendung und Kontrolle der EU-Fördermittel.






(A) (C)



(B) (D)


Michael Stübgen
Hier müssen beide Länder noch die notwendigen institu-
tionellen Voraussetzungen schaffen. Ich bin sicher, dass
ihnen dies bis zum Ende des Jahres gelingt. Auch hier
besteht für uns kein Zweifel daran, dass die Europäische
Kommission verlässlich arbeitet. Sie kann zum Beispiel
finanzielle Mittel zurückfordern, teilweise einbehalten
oder in sehr schwerwiegenden Fällen ganz sperren. Im
Übrigen gilt dieses Verfahren für sämtliche Mitgliedstaa-
ten der Europäischen Union. Es ist also keine Sonderbe-
schränkung für Bulgarien und Rumänien.

Der dritte Bereich wird von uns als besonders sensi-
bel eingeschätzt. Die Europäische Kommission hat in ih-
rem Bericht analysiert, dass in der Innen- und Justiz-
politik in beiden Ländern noch erhebliche Defizite
bestehen, auch wenn sie Stück für Stück abgebaut wer-
den. So sind in diesem Politikbereich europäische und
rechtsstaatliche Standards bis heute nicht in jedem Fall
garantiert. Diese Analyse der Europäischen Kommission
wird von den Regierungen in Bulgarien und Rumänien
im Übrigen bestätigt. Die Europäische Kommission hat
angekündigt, dass für beide Länder in diesen Politikbe-
reichen ein verstärktes Monitoring durchgeführt wird.
Sie hat auch angekündigt, dass sie bei Auftreten von
Problemen die vorhandenen Sicherungsklauseln umge-
hend aktivieren wird.

In diesem Punkt allerdings haben wir einen Dissens
zur Auffassung der Europäischen Kommission. Auch
wenn dieser Dissens kaum eine praktische Auswirkung
haben wird, handelt es sich doch um eine wichtige sym-
bolische Frage. Es geht um Wahrheit und Klarheit sowie
um die Transparenz der europäischen Politik.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn nämlich die Europäische Kommission einerseits
richtigerweise analysiert, dass im Innen- und Justizbe-
reich rechtsstaatliche Standards in Bulgarien und Rumä-
nien bisher nicht in jedem Fall garantiert werden kön-
nen, dann fehlt im Moment jedenfalls damit auch die
rechtliche und politische Grundlage für die Verpflich-
tung aller anderen Mitgliedstaaten, Strafurteile anzuer-
kennen und den Europäischen Haftbefehl anzuwenden.
Deshalb halte ich es für wichtig, dass die Europäische
Kommission diese europäischen Regeln für beide Län-
der zunächst aussetzt, um möglichst bald – wenn die De-
fizite beseitigt sind – den Acquis auch in diesem Bereich
zu aktivieren.

Wir haben im Übrigen in anderen Bereichen mit ver-
gleichbaren Sicherungsklauseln gute Erfahrungen ge-
macht, zum Beispiel bei der Arbeitnehmerfreizügig-
keit. Hier haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit,
diese für eine bestimmte Zeit auszusetzen. Sie können
aber auch entscheiden, die Arbeitnehmerfreizügigkeit
zuzulassen.

In den letzten Jahren ist ein interessanter Lernprozess
bei den Mitgliedsländern der Europäischen Union zu
beobachten. Deutschland hat in diesem Jahr die Arbeit-
nehmerfreizügigkeit für die neuen Mitgliedsländer für
weitere drei Jahre beschränkt. Trotzdem sind circa
500 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den
neuen Mitgliedstaaten bei uns beschäftigt. Ein Großteil
davon sind natürlich Saisonarbeiter. Großbritannien hat
sich selbst dafür gerühmt, dass es Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit von Anfang an gewährleistet hat. Interessanter-
weise haben sich jetzt aber Großbritannien und Irland
dafür entschieden, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für
Bulgarien und Rumänien zunächst auszusetzen. Offen-
sichtlich läuft der Arbeitsmarktliberalismus in Großbri-
tannien nicht ganz problemlos. Wenn man bedenkt, dass
Großbritannien auf Grundlage der Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit circa 400 000 Arbeitnehmer aus den neuen Mit-
gliedsländern beschäftigt, wird klar, dass wir mit unserer
Entscheidung alles andere als eine Marktabschottung be-
treiben.

Ich fordere die Europäische Kommission auf, die Be-
reiche Anerkennung von Strafurteilen und Anwendung
des Europäischen Haftbefehls ähnlich zu regeln. Ich
bitte die Bundesregierung, sich auf dem Europäischen
Rat im Dezember in Brüssel für solch eine Regelung ein-
zusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Neben den neuen Mitgliedsländern haben auch die
bisherigen Mitgliedsländer eine große Aufgabe voll-
bracht. Mit einer einzigartigen Kraftanstrengung haben
wir es geschafft, Länder zu integrieren, die bis in die
90er-Jahre unter sowjetischem Einfluss standen und dem
Warschauer Pakt angehörten. Wir haben diese Länder
auf ihrem bisherigen Weg bestmöglich unterstützt. Die
überwiegende Mehrheit dieses Hauses wird dieser Ver-
antwortung – das war immer so – auch in Zukunft ge-
recht werden. Im Saldo – auch diese Wahrheit muss ge-
nannt werden – profitieren wir wirtschaftlich und
politisch von der Erweiterung deutlich mehr, als wir
– gelegentlich – Schaden dadurch nehmen.

Jetzt muss unser Hauptaugenmerk darauf liegen, die
Europäische Union zu festigen und zu vertiefen. Es be-
steht die Notwendigkeit zur Inkraftsetzung des europäi-
schen Verfassungsvertrages. Daneben ist eine intensive
Diskussion über die weitere Aufnahmefähigkeit der
Europäischen Union erforderlich.

Wir setzen uns für ein Europa ein, in dem die Bürge-
rinnen und Bürger in Frieden, Freiheit, Sicherheit und
Wohlstand leben können. Das ist alles andere als eine
Selbstverständlichkeit. Vielmehr ist es für unsere Arbeit
eine ständige Herausforderung. Es ist aber auch unsere
Aufgabe, für Europa und für die Erfolge der Europäi-
schen Union zu werben – Erfolge, die es vielfach gibt,
die aber oft viel zu schnell in Vergessenheit geraten. Die
europäische Einigung ist eine der größten Errungen-
schaften der letzten 50 Jahre. Frieden, Freiheit und die
Idee der Zusammenarbeit der Völker sind auf unserem
Kontinent heute fest verankert.

Die Europäische Union muss sich aber den Heraus-
forderungen von heute stellen. Die Bürgerinnen und
Bürger erwarten zu Recht, dass sich die Europäische
Union mit den Problemen des 21. Jahrhunderts beschäf-
tigt und ihre Legitimation nicht allein aus den Erfolgen
der Vergangenheit ableitet. Mit der Integration der mit-
tel- und osteuropäischen Reformländer in die Europäi-
sche Union haben wir uns einer entscheidenden Heraus-






(A) (C)



(B) (D)


Michael Stübgen
forderung gestellt. Ich bin sicher, wir werden sie
meistern. Ich bin überzeugt davon, dass wir die Pro-
bleme des 21. Jahrhunderts in Europa gemeinsam bewäl-
tigen können.

Die Fraktion von CDU und CSU wird dem Beitritt
von Bulgarien und Rumänien in die Europäische Union
zustimmen. Wir freuen uns darauf, beide Länder am
1. Januar 2007 in der Europäischen Union begrüßen zu
können. An die Adresse der Bulgaren und Rumänen sa-
gen wir: Herzlich willkommen! Ich kann noch einen
draufsetzen: Dobre dosch la! Und: Bine aţi venit!

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606013000

Ich erteile das Wort Kollegen Hakki Keskin, Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606013100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Es mutet wahrlich bizarr an, wie die
Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition
ihren vorliegenden Antrag betitelt haben: „EU-Beitritt
Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen.“

Wie ich bei der ersten Lesung dieses Gesetzes bereits
erklärte, unterstützen meine Fraktion und ich diese For-
derung voll und ganz. Wie stellt sich die Koalition einen
solchen Erfolg aber vor? Die Rede ist von „Sicherheits-
politik am Schwarzen Meer“. Immer wieder ist von
„Beitrittsreife“ die Rede. Ganz zentral ist der Begriff
„Schutzklausel“. Bedeutet erfolgreiche Erweiterung der
Europäischen Union primär Sicherheit und Schutz? Der
Eindruck drängt sich auf, gerade wenn man sich an-
schaut, was Herr Stoiber in dieser Woche als Marsch-
richtung der Union in Sachen Europa herausgegeben hat.
Ich zitiere:

Deutsche Staatsbürger in Gefängnissen dieser Län-
der

– gemeint sind Bulgarien und Rumänien –

kann und will ich mir nicht vorstellen. Außerdem
dürfen Strafurteile der bulgarischen und rumäni-
schen Justiz in Deutschland vorerst nicht anerkannt
werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! Richtig!)


So schürt man Aversionen und Ängste.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ein Unfug!)


Statt die längst zu beobachtenden Vorteile, von denen
meine Vorredner gesprochen haben, zur Kenntnis zu
nehmen – dass der Außenhandel, den die Bundes-
republik Deutschland mit diesen Ländern betreibt, be-
reits enorm zugenommen hat und dass auch die Investi-
tionen der Bundesrepublik Deutschland in diese Länder
erheblich gestiegen sind –, versucht man, ebendiese
Ängste auf die falsche Bahn zu lenken. Von der Berei-
cherung spricht Herr Stoiber nicht. Auch im Antrag der
Regierungsfraktionen ist nur einseitig von den sicher-
heitspolitischen Notwendigkeiten und Voraussetzungen
die Rede, die von Bulgarien und Rumänien erfüllt wer-
den müssen.

Die Menschen in Europa, so auch die in der Bundes-
republik Deutschland, haben tatsächlich Ängste. Dabei
handelt es sich um berechtigte Ängste: vor dem Abbau
der Sozialsysteme, dem zunehmenden Druck auf die
Löhne sowie vor immer prekärer werdenden Arbeitsver-
hältnissen und Armut.


(Beifall bei der LINKEN)


Dabei geht es also nicht um jene Ängste, die sich Herr
Stoiber als Ablenkungsmanöver ausmalt.

Dass diese Tatsache von den Regierungen ignoriert
wird, ist für die Menschen beunruhigend. Die Bundes-
regierung und die Europäische Union haben es sträflich
versäumt, die soziale Gerechtigkeit zum Maß aller
Dinge zu machen. Die EU hat bisher jede Gelegenheit
verstreichen lassen, diesen Ängsten etwas entgegenzu-
setzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Leider fallen die durch Stoiber geschürten Ängste auf
fruchtbaren Boden. Denn die für die EU-Bürger drin-
gend erforderlichen Rahmenbedingungen wurden bis-
lang nicht geschaffen.

Die Fraktion Die Linke hat zu Recht stets ein soziales
und demokratisches Europa gefordert. Denn nur ein
solches Europa ist imstande, den sozialen Frieden auf
Dauer zu sichern und soziale Gerechtigkeit zu gewähr-
leisten. Europa braucht einen Sozialstaat, der Armut und
soziale Benachteiligung erst gar nicht entstehen lässt.

Ich komme zum Schluss. Europa braucht soziale
Standards. Europa braucht überall einen gesetzlichen
Mindestlohn. Das Ziel der Linken ist nicht allein die
Schaffung eines gedeihlichen Wirtschaftsraums, sondern
vor allem das Wohl der Menschen. Meine Damen und
Herren, trotz aller Schwierigkeiten sollten wir Bulgarien
und Rumänien als neue Mitglieder der Europäischen
Union herzlich begrüßen und sie als gleichberechtigte
Partner behandeln.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606013200

Ich erteile das Wort Kollegen Rainder Steenblock,

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Gestatten Sie mir drei kurze Vorbemerkungen:

Zum Ersten möchte ich mich bei den Fraktionen dafür
bedanken, dass die Überschrift unserer Pressemitteilung
anlässlich der ersten Lesung des vorliegenden Gesetz-






(A) (C)



(B) (D)


Rainder Steenblock
entwurfes „Herzlich willkommen, Rumänien und Bulga-
rien“ heute von allen aufgegriffen worden ist. Das ist ein
gutes Zeichen der gemeinsamen Arbeit, die wir hier ge-
leistet haben.

Zum Zweiten möchte ich mich bei den Botschaften
und bei den Regierungen Bulgariens und Rumäniens
für die hervorragende Zusammenarbeit bedanken. Sie
von den Botschaften, aber auch von den Regierungen
haben uns in diesem Beitrittsprozess mit so viel Ge-
sprächs- und Informationsangeboten beglückt, dass wir
nicht in der Lage waren, alle angebotenen Termine
wahrzunehmen. Die Bereitschaft, die Diskussion hier in
Deutschland so intensiv, mit solcher Sachkenntnis und
mit solchem Engagement zu begleiten, verdient, glaube
ich, die Anerkennung des ganzen Hauses.


(Beifall im ganzen Hause)


Gestatten Sie mir zum Dritten, mich persönlich, aber
auch im Namen meiner Fraktion bei Susanne Kastner
zu bedanken, die als Vizepräsidentin des Deutschen
Bundestages und als Vorsitzende der Deutsch-Rumäni-
schen Parlamentariergruppe während dieses Prozesses
der Integration den Bemühungen unserer Gesellschaften,
der Solidarität auf europäischem Niveau, den Idealen,
die in Sonntagsreden häufig vertreten werden, durch
praktische Arbeit Ausdruck verliehen hat. Susanne, da-
für ganz herzlichen Dank!


(Beifall im ganzen Hause)


Gerade Susanne Kastner weiß, vor welchen Herausfor-
derungen diese beiden Staaten, deren Beitritt wir heute
im Deutschen Bundestag beschließen wollen, gestanden
haben, was sie bewältigen mussten. Wenn man sich die
öffentliche Meinung anschaut, bekommt man häufig das
Gefühl, da wollten zwei Schmuddelkinder irgendwie
noch in die Europäische Union und man könne nicht an-
ders, als sie aufzunehmen. Diese Länder haben anders
als Polen, anders als Ungarn oder Tschechien über Jahr-
zehnte keine vergleichbare Unterstützung, Solidarität
aus Westeuropa erfahren – in den 60er-, 70er- und 80er-
Jahren –, sondern wurden häufig allein gelassen, mit
brutalen Regimen wie dem Ceausescus. Wenn man sich
diese Ausgangsbedingungen jetzt vergegenwärtigt, dann
erkennt man, welch gewaltige, historische Leistung
diese beiden Länder – die Bevölkerungen, die Regierun-
gen, die Parlamentarier – in diesem Prozess erbracht ha-
ben. Ich finde, das darf hier nicht zu kurz kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Wir haben in den Ausschussberatungen in vielen Ge-
sprächen und auch bei den direkten Kontakten immer
wieder gesagt: Natürlich gilt es noch eine Reihe von
Punkten zu erfüllen. Das ist richtig. In vielen Bereichen
sind wir mit den Standards noch nicht zufrieden. Aber
wir müssen doch auch sehen, dass es nicht nur diese bei-
den Länder sind, die Probleme mit Korruption haben,
dass es nicht nur diese beiden Länder sind, die Probleme
damit haben, ihr Wirtschaftssystem so zu gestalten, dass
sie in die EU voll integriert werden können, gerade was
die Landwirtschaft angeht. Solche Probleme gibt es auch
in Deutschland. Ich will jetzt gar nicht mit den Kennzif-
fern von Transparency International aufwarten, wer
wo steht. Aber der Unterschied in den internationalen
Rankings zwischen dem unumstrittenen EU-Mitglied
Italien und Bulgarien ist kein besonders großer. Die
Kennzahl für die Korruptheit politischer Parteien lautet
für Deutschland 3,7 und für Rumänien 3,8. Das zeigt,
dass das, was häufig an Vorurteilen geschürt wird, in re-
levanten Bereichen des politischen Systems mit der
Wirklichkeit nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.

Auf der anderen Seite sind die Fragen, die wir im Zu-
sammenhang mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgari-
ens immer wieder – zu Recht – diskutieren, Fragen, die
das Selbstverständnis und die Arbeitsfähigkeit der Euro-
päischen Union insgesamt angehen. Deshalb ist dies zu-
gleich Auftrag an uns, auch in unseren Gesellschaften
diese Probleme abzustellen. Auch das gehört zur Euro-
papolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)


Ich würde gerne noch einmal drei Punkte benennen,
die für mich relevant sind, wenn wir uns anschauen, was
wir aus diesen Beitrittsverfahren eigentlich lernen:

Erstens. Ich glaube, wenn wir über weitere Erweite-
rungsschritte reden – die Verfahren mit Kroatien und der
Türkei laufen –, ist eines sicherlich richtig: Wir dürfen in
Zukunft keine Daten mehr vorab festzurren. Das sollten
wir aus diesen Verfahren gelernt haben; denn dadurch
haben wir mehr Schwierigkeiten geschaffen als Lösun-
gen produziert.

Zweitens. Ich glaube, dass für den Prozess der Inte-
gration in die Europäische Union ein differenzierteres
Handlungsschema erforderlich ist. Es muss differen-
zierter als das sein, was wir jetzt haben, um auch in Teil-
schritten sowohl Teilsouveränitäten zu erlangen als auch
Teilpflichten und Teilrechte zu übernehmen. Es darf
nicht dieses Entweder-oder geben, vielmehr brauchen
wir im Hinblick auf die Beitrittsprozesse in Zukunft ein
differenzierteres System.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Drittens. Es erscheint mir gerade auch im Hinblick
auf die anstehenden Beitrittsprozesse wichtig, zu lernen,
dass eine Fähigkeit zur regionalen Kooperation erfor-
derlich ist. Es muss klar sein, dass der Balkan eine Bei-
trittsperspektive braucht; denn ohne diese Beitrittsper-
spektive wäre die Situation auf dem Balkan schon längst
wieder explodiert. Wenn wir diese Perspektive abschnei-
den würden, dann würden wir politisch völlig verant-
wortungslos handeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Wir müssen aber auch deutlich machen, dass die Fä-
higkeit zur regionalen Kooperation – gerade auch im
Hinblick auf die Balkanländer, auf Südosteuropa und auf
den Kaukasus – wichtig ist, und wir müssen den Län-






(A) (C)



(B) (D)


Rainder Steenblock
dern, den Politikern und den Menschen, klar machen:
Wenn ihr nicht in der Lage seid, mit euren Nachbarn
friedlich zusammenzuleben, dann wird es ganz schwer
werden, in die Europäische Union, die auch ein Frie-
densprojekt ist, aufgenommen zu werden. Es geht nicht,
dass man feindlich mit Nachbarn zusammenlebt und
nicht bereit ist, diese Konflikte durch eine politische und
Frieden stiftende Arbeit zu lösen. Als Beispiel sei an die
Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich erin-
nert. Wenn man auf den Balkan oder auch den Kaukasus
schaut, dann sieht man, dass dort Ethnien in unversöhnli-
chen Konflikten gegenüberstehen. Das behindert die
Prozesse zum Beitritt in die Europäische Union massiv,
weil das dem Gedanken der europäischen Integration wi-
derspricht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir
brauchen in Zukunft auch eine neue Debatte über die
Erweiterung. Wir alle wissen, dass alle Erweiterungs-
schritte bisher nicht nur ökonomisch, sondern auch poli-
tisch verarbeitet wurden und zum Erfolg geführt haben.
Der Einzug all der neuen Eigentümer in das europäische
Haus hat nicht dazu geführt, dass es in diesem Haus
enger wurde und dass man sich den vorhandenen Platz
teilen musste, sondern jeder Integrationsschritt hat dazu
geführt, dass dieses europäische Haus größer und die Le-
bensqualität aller seiner Bewohner insgesamt besser ge-
worden ist. Die Erweiterung hat kein Abgeben, sondern
ein Mehr gebracht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Dieser Gedanke muss uns allen in den weiteren Diskus-
sionen klar sein. Wir dürfen hier nicht auf den dumpfen
Nationalismus an den Stammtischen hören, sondern wir
müssen uns auf die Fakten beziehen, wonach Internatio-
nalisierung, das heißt, die europäische Integration, ein
Vorteil ist, von dem alle Menschen in Europa profitiert
haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb glaube ich, dass wir an dieser Stelle eine ra-
tionale Debatte und keine emotionale Debatte, die zum
Teil verständlich ist, brauchen. Ich weiß, dass alle Politi-
ker in ihren Wahlkreisen auch einmal nahe am Populis-
mus sind und Sachen vereinfachen. Die europäische In-
tegration ist ein ausgesprochen kompliziertes Thema.
Wir merken das jetzt wieder anhand der Schutzklau-
seln. Es ist nicht in einfachen Botschaften herüberzu-
bringen, wofür man welche Schutzklauseln braucht und
wann sie tatsächlich in den Prozess implementiert wer-
den. Ich glaube aber, dass dieses Regime gut, richtig und
sinnvoll ist.

Ich glaube, dass die Europäische Union an dieser
Stelle tatsächlich Handlungsfähigkeit bewiesen hat. Wir
haben an dieser Stelle aus den Beitrittsverhandlungen
der Vergangenheit gelernt, dass wir noch gegebene Un-
vollständigkeiten auf einem geordneten Wege bearbeiten
können. Darum glaube ich, dass wir auch ein Stück weit
stolz sein können. Deutschland hat an diesem Schutz-
und Monitoringregime sehr intensiv mitgearbeitet. Das
ist richtig und entspricht – zumindest habe ich die Dis-
kussion so verstanden – auch dem Interesse aller Frak-
tionen im Europaausschuss. In diesem Punkt haben wir
durchaus etwas Vernünftiges und Gutes gemacht. Damit
können wir vor unsere Wahlbürgerinnen und -bürger tre-
ten und ihnen zeigen, dass wir ihre Interessen vertreten
haben.

Es geht aber nicht darum, bestimmte Länder auszu-
grenzen oder außen vor zu halten; vielmehr schätzen wir
bestimmte Prinzipien der Europäischen Union so hoch
ein, dass wir ihre Umsetzung in die Praxis erreichen
wollen. Das ist wichtig und hilft Bulgarien und Rumä-
nien. Insofern geht es bei dem Kontrollmechanismus
nicht darum, sie außen vor zu halten, sondern er dient
dem Ziel, Bulgarien und Rumänien willkommen zu hei-
ßen und in die Europäische Union zu integrieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Gestatten Sie mir eine Schlussbemerkung. Als gebür-
tiger Ostfriese stehe ich kaum in dem Verdacht des stän-
digen emotionalen Überschwangs.


(Walter Kolbow [SPD]: Wohl wahr!)


Trotzdem muss ich, wenn wir uns als deutsches Parla-
ment mit der Frage befassen, wie es mit Europa weiter-
geht – die Krise der Europäischen Union schlägt uns in
den Debatten in unseren Wahlkreisen ständig entge-
gen –, immer an die „Ode an die Freude“, unsere europä-
ische Hymne, denken. Alle Menschen werden Brüder
– und Schwestern –: Dass wir als verantwortliche deut-
sche Politiker diesen Gedanken in unseren Herzen tra-
gen, ist, glaube ich, eine wichtige Voraussetzung, wenn
wir das Friedensprojekt Europa voranbringen und dem
dumpfen Nationalismus, den es durchaus gibt, entschie-
den begegnen wollen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606013300

Ich erteile das Wort Kollegin Susanne Kastner, SPD-

Fraktion.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1606013400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach nur 16 Jahren bekommen nun die beiden Länder
Rumänien und Bulgarien grünes Licht zum EU-Beitritt.
Wer wie ich die Chance hatte, die Menschen in Rumä-
nien 16 Jahre lang intensiv auf diesem Weg zu begleiten,
weiß, dass das mit Sicherheit gerechtfertigt ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich glaube, am 1. Januar 2007 werden sehr viele
Menschen in Rumänien und Bulgarien feiern, dass sie
endlich Teil der Europäischen Union sind. Ich denke, das
ist auch richtig; denn die Europäische Union ist nicht nur
eine Union der Menschen, sondern auch für die Men-
schen.

In manchen Gesprächen, die ich über Rumänien und
Bulgarien geführt habe, hatte ich den Eindruck, dass
diese Länder als weit entfernte exotische Ziele betrachtet
werden. Von dem Nachbarschaftsgedanken war dabei
relativ wenig zu spüren. Bukarest und Sofia sind aber
kaum weiter von Berlin entfernt als Rom und liegen über
1 000 km näher an Berlin als Lissabon.

Jeder aufmerksame Beobachter hat die Erfolge in den
beiden Ländern erkennen können. Dies ist hauptsächlich
den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch den Politikern,
die in den letzten Jahren Verantwortung getragen haben
und den Weg nach Europa konsequent gegangen sind, zu
verdanken.

Die Menschen in Rumänien haben die Demokratie
erst lernen müssen. Von der Monarchie in eine verhee-
rende Diktatur gekommen, war ihnen nach der Revolu-
tion die Demokratie noch etwas fremd. Jedoch sehnten
sie sich danach und waren bereit, im Dezember 1989 ei-
nen hohen Blutzoll dafür zu bezahlen. Sie haben in den
letzten Jahren demokratische Strukturen geschaffen, ob-
wohl sie anfangs nicht recht gewusst haben, dass Demo-
kratie auch Eigenverantwortung, Mitreden und Mitge-
stalten bedeutet.

Die knapp 30 Millionen Bürgerinnen und Bürger in
Bulgarien und Rumänien haben in diesem Transforma-
tionsprozess Opfer gebracht. Viele von ihnen haben
durch Betriebsschließungen ihren Arbeitsplatz verloren.
Die Einschnitte im sozialen Bereich und im Gesund-
heitswesen waren sicherlich für viele sehr schmerzhaft.
Aber nie haben sie sich für den Nationalismus entschie-
den, sondern immer Regierungen gewählt, die sie auf ih-
rem Weg in die Europäische Union weitergebracht ha-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dass die Rumänen in den letzten 16 Jahren noch nicht
alles so hinbekommen haben, wie es nach EU-Kriterien
sein sollte, ist für mich mehr als verständlich. Das heißt
aber nicht, dass wir darüber nicht reden, es verschweigen
oder ignorieren sollten. Deshalb sind das weitere Moni-
toring und die Schutzklauseln richtig. Sie müssen mei-
nes Erachtens konsequent angewandt werden, sollte es
notwendig sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen aus Bayern, die For-
derung aber, die Schutzklauseln direkt am 1. Januar
2007 anzuwenden, ist meines Erachtens populistisch und
deshalb falsch.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Denn deutsche Unternehmen haben allein 2005 Waren
im Wert von rund 5,3 Milliarden Euro nach Rumänien
verkauft. Die deutsche Wirtschaft fordert seit Jahren die
Aufnahme dieses Landes in die Europäische Union. Im
Übrigen haben die Wirtschaftsunternehmen, die aus
Bayern stammen, allein im vergangenen Jahr Produkte
im Wert von fast 1 Milliarde Euro nach Rumänien ex-
portiert. Für unsere Wirtschaft bedeutet der Beitritt Ru-
mäniens und Bulgariens den freien Zugang zu einem
Absatzmarkt mit 30 Millionen potenziellen Käufern.

Unglaublich viele NGOs aus der gesamten Bundesre-
publik haben im letzten Jahrzehnt dazu beigetragen, dass
in Rumänien eine Zivilgesellschaft entstehen konnte und
im sozialen Bereich die EU-Kriterien erfüllt werden
konnten. Die Spendengelder, die in den letzten Jahren in
dieses Land geflossen sind, und die Aufbauleistungen
sind nicht in Zahlen zu fassen. Ich sage an dieser Stelle
aber auch sehr deutlich: Die Zeit der direkten Hilfen,
beispielsweise der Spendengelder aus unserem Land, ist
meines Erachtens vorbei. Außer bei Katastrophen wie
den verheerenden Überschwemmungen im letzten Jahr
braucht Rumänien keine Hardware mehr, sondern Soft-
ware. In die Menschen zu investieren, ist in Zukunft
unglaublich wichtig. Partnerschaften zwischen Jugend-
organisationen, Schulen, Städten, Landkreisen und Ver-
einen sind für beide Länder notwendig und verbindend.

Vor kurzem las ich in der Auswertung einer Umfrage,
wie Rumänien in Deutschland angesehen wird. Es war
erschreckend, welch schlechtes Bild die Deutschen von
diesem Land haben. Mein Appell geht an dieser Stelle
auch an die Medien, die für dieses verzerrte Bild mit-
verantwortlich sind: Rumänien ist in allen Punkten bes-
ser als sein Ruf. Ich habe dies in all den Jahren, in denen
ich dort tätig war, immer wieder erfahren. Wer spricht in
Deutschland von der geradezu sprichwörtlichen Gast-
freundschaft Rumäniens und Bulgariens? Wer spricht
von der wunderbaren Landschaft, in der der Tourismus
zwar noch in den Kinderschuhen steckt, aber zweifels-
ohne vorhanden ist und ein enormes Wachstumspoten-
zial aufweist? Wer interessiert sich denn intensiv für die
rumänische Kultur? Wer weiß, dass Brâncuşi, einer der
berühmtesten Bildhauer, Rumäne war? Wer kennt den
Komponisten Enescu? Anders gefragt: Wer kennt nicht
den Sommerhit „Dragostea Din Tei“ von O-Zone von
vor zwei Jahren, den damaligen Ohrwurm der jungen
Generation? Wer von uns verbindet Peter Maffay mit
Rumänien?

Bedauerlicherweise sehen viele Menschen in
Deutschland in beiden Ländern nur die Gefahr, dass ihr
eigener Arbeitsplatz dorthin abwandert. Das ist zwar
verständlich, ist aber mit Sicherheit nicht alles. Unsere
Aufgabe in der Politik ist, einen EU-Beitritt nicht nur
nach wirtschaftlichen Zahlen zu beurteilen; denn die EU
ist – ich glaube, hierüber sind wir uns alle in diesem Ho-
hen Hause einig – viel mehr als nur ein Binnenmarkt.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Uns verbinden mit Rumänien 850 Jahre friedliches
Zusammenleben und ein unmittelbares kulturelles Mit-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. h. c. Susanne Kastner
einander. Bis 1990 lebten in Rumänien 120 000 Deut-
sche. In Rumänien leben 18 Minderheiten friedlich zu-
sammen. Der europäische Grundgedanke der Einigkeit
in Vielfalt ist dort seit Jahrhunderten Realität. Ich will
hier auch nicht verschweigen, dass es gegenüber der
Minderheit der Zigeuner, die in Rumänien selbst so ge-
nannt werden wollen – deswegen sage ich das an dieser
Stelle mit diesen Worten –, noch deutliche Diskriminie-
rung gibt, nicht in der politischen Gesetzgebung, son-
dern im Denken und im Umgang in der Gesellschaft. An
dieser Stelle noch Überzeugungsarbeit zu betreiben, ist
den Schweiß der Tüchtigen mit Sicherheit wert.

Sibiu oder Hermannstadt hat als erste und einzige
Stadt, die nicht in einem EU-Land lag und heute noch
nicht liegt, den Titel „Europäische Kulturhauptstadt“
verliehen bekommen. Am vergangenen Dienstag war die
Eröffnung der Fotoausstellung unter dem Titel „Sibiu –
jung seit 1191“. So präsentiert sich diese Stadt, innova-
tiv, aber sich der eigenen Vergangenheit bewusst seiend.
Ich wünsche mir sehr, dass viele von uns im nächsten
Jahr auch in Hermannstadt Station machen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der dort amtierende deutsche Bürgermeister Klaus
Johannis wird Ihnen eine weltoffene, moderne und doch
historische Stadt zeigen. Wir hier in Deutschland sollten
dies alles würdigen, indem wir den Beitrittsvertrag mit
großer Mehrheit ratifizieren.

Lieber Herr Kollege Rainder Steenblock, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, es tut schon gut, einmal Lob zu er-
halten. Das will ich gar nicht abstreiten, aber ich glaube,
auf diesem Weg haben ganz viele mitgearbeitet, auch
hier im Deutschen Bundestag, so die Mitglieder der
Deutsch-Rumänischen und der Deutsch-Bulgarischen
Parlamentariergruppe, die Mitglieder des Deutsch-Bul-
garischen und des Deutsch-Rumänischen Forums und
die Mitglieder der einzelnen Arbeitsgruppen, die in ei-
nem intensiven Austausch der letzten Jahre auch Fach-
wissen hin und her transportiert haben. All denen gilt es
heute zu danken, aber auch all denjenigen, die trotz aller
Widerstände immer wieder an den Beitritt Rumäniens
und Bulgariens geglaubt haben.

Sehr geehrte Frau Ministerin, Frau Botschafterin,
Herr Botschafter, herzlich willkommen in der Europäi-
schen Union.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606013500

Ich erteile Kollegen Michael Link, FDP-Fraktion, das

Wort.


(Beifall bei der FDP)



Michael Link (FDP):
Rede ID: ID1606013600

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Vor drei

Wochen feierten wir den Tag der Deutschen Einheit.
Aber am 3. Oktober einigte sich nicht nur Deutschland,
am 3. Oktober trat Ostdeutschland auch der damaligen
Europäischen Gemeinschaft bei. Daran gilt es zu erin-
nern; denn erst dadurch wird deutlich, welche Bedeu-
tung der 1. Januar 2007 für Bulgarien und Rumänien hat.
Der 1. Januar 2007 ist sozusagen der 3. Oktober für Bul-
garien und Rumänien. Sicher, bei Bulgarien und Rumä-
nien geht es nicht um die nationale Einheit, aber es geht
in beiden Fällen, 1990 wie 2007, um ein Stück europäi-
sche Wiedervereinigung. Ich weiß, ich bin beileibe
nicht der erste Redner, der heute auf diesen Aspekt hin-
weist. Ich will deshalb nicht den abschließenden Charak-
ter dieser Zäsur 1. Januar 2007 betonen, sondern die He-
rausforderungen.

Wir in Deutschland haben nach der Einheit und der
Eingliederung Ostdeutschlands in die Europäische Ge-
meinschaft mühevoll lernen müssen, dass die eigentliche
Arbeit erst nach dem Beitritt beginnt. Wir haben damals
das meiste richtig, aber manches auch falsch gemacht.
Ostdeutschland durfte quasi über Nacht, ohne jahrelange
Verhandlungen aufgrund des großen Vertrauensvor-
schusses, den die Regierung Kohl/Genscher in der Euro-
päischen Gemeinschaft genoss, beitreten. Auch jetzt, im
Falle von Bulgarien und Rumänien, ist wieder ein Ver-
trauensvorschuss im Spiel. Wir verschließen bei diesem
Beitritt, anders als vielleicht bei früheren Beitritten,
nicht die Augen vor den Defiziten der beiden Beitritts-
länder. Wir sind überzeugt, dass beide Länder in der
Lage sind, die restlichen Defizite unter dem genauen
Blick der Europäischen Kommission und der Mitglieder
des Rates konsequent aufzuarbeiten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir erwarten das auch von den neuen Mitgliedern, ins-
besondere im Innen-, Rechts- und Justizbereich. Wir
können das heutige Ja vor unseren Wählerinnen und
Wählern verantworten, weil bei diesem Beitritt die Prü-
fung der Kriterien durch den äußerst exakt arbeitenden
Erweiterungskommissar Olli Rehn, durch das Europäi-
sche Parlament und durch den Bundestag strenger und
der Vorbereitungsprozess beider Kandidaten deutlich
länger war als in früheren Fällen. Vergessen wir nicht,
dass Bulgarien und Rumänien zunächst Teil der 1990 an
den Start gegangenen Zwölfländergruppe war, von der
zehn Länder am 1. Mai 2004 beitraten. Bulgarien und
Rumänien wurden 2003 zu Recht wegen erheblicher De-
fizite zurückgestellt. Wenn sie nun als Nachzügler mit
weitgehend erledigten Hausaufgaben beitreten, so muss
man nochmals deutlich sagen, dass sie deshalb keinen
Prolog für eine neue Erweiterungswelle einläuten, son-
dern die Koda dieser letzten Welle darstellen.

Bulgarien und Rumänien haben die knapp drei Jahre
des Nachsitzens genutzt. Das gilt übrigens auch für die
bulgarischen und rumänischen Wähler. Sie haben neue
Regierungen gewählt, die in den Jahren 2005 und 2006
substanzielle Fortschritte geschultert haben. Im Falle der
rumänischen Regierung kann man von regelrechten
Quantensprüngen sprechen. In beiden Ländern stehen
heute Persönlichkeiten an der Spitze des europäischen
Integrationsprozesses, denen wir zutrauen, auch nach
dem 1. Januar 2007 nicht zu ermatten, sondern ihre Län-
der mit gehörigem Nachdruck weiter zu verändern. Per-
sönlichkeiten wie der liberale rumänische Parlaments-






(A) (C)



(B) (D)


Michael Link (Heilbronn)

präsident Olteanu oder Ministerpräsident Tariceanu sind
Garanten für die Fortsetzung des erfolgreichen Eliten-
wechsels in Rumänien und für die weitere Aufarbeitung
des Ceausescu-Regimes. Der Elitenwechsel ist ein wich-
tiger Punkt.

Er hat auch in Bulgarien begonnen. Er hat dort etwas
später begonnen und noch nicht so viel Wirkung gezeigt,
aber er ist auch dort auf einem guten Weg. Die FDP be-
grüßt deshalb – wenn wir schon einmal beim Thema Per-
sonen sind – ausdrücklich die Nominierung der liberalen
Europaministerin Meglena Kuneva als bulgarische Kan-
didatin für die Europäische Kommission.


(Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD])


Auch im Falle Rumäniens ist der frisch benannte
Kandidat für den Kommissarsposten ein Liberaler, näm-
lich der Wirtschaftswissenschaftler Varujan Vosganian,
der übrigens Angehöriger der armenischen Minderheit
Rumäniens ist.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das sind ja paradiesische Zustände!)


Diese beiden Nominierungen signalisieren besser als
viele Worte, wofür die beiden neuen EU-Mitglieder ste-
hen. Sie stehen für einen integrationsfreundlichen Kurs,
auf den gerade Deutschland und die Frau Bundeskanzle-
rin sich in ihrem Eintreten für einen europäischen Ver-
fassungsvertrag verlassen können. Für beide – für Bul-
garien und Rumänien – ist es ein bewusster Beitritt zu
einer europäischen Wertegemeinschaft.

Überhaupt ist nach Ansicht der FDP der Beitritt Rumä-
niens und Bulgariens im deutschen und im europäischen
Interesse, nicht nur wirtschaftlich, sicherheitspolitisch
und kulturell, sondern gerade auch integrationspolitisch.
Es treten uns zwei Länder bei, die den Verfassungsvertrag
ratifiziert haben und die sich in den europäischen Institu-
tionen profilieren wollen, nicht abseits von ihnen.

Beide Länder gehören genauso zu Europa wie Spa-
nien oder die baltischen Staaten. Im Falle Siebenbür-
gens, liebe Frau Kastner, können wir sogar von Mitteleu-
ropa sprechen. Sie haben unglaublich viel erreicht und
mit Ihrer kritisch-positiven Art immer wieder einmal
– dort wo es nötig war – Kritik vorgebracht.

Bulgarien und Rumänien sind auf dem Weg, wieder
besonders eng mit Deutschland verflochtene Länder zu
werden. In den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts,
zwischen den Weltkriegen, war Deutschland wirtschaft-
lich, kulturell und politisch sehr eng mit beiden verbun-
den. Alles spricht dafür, dass das in den 20er-Jahren die-
ses Jahrhunderts, vielleicht sogar schon viel früher,
erneut der Fall sein wird. Dass beide – und das lassen Sie
mich als Bewusstseinsvertreter der FDP sagen – mit ih-
ren äußerst wettbewerbsfähigen Steuersystemen den
Druck auf die alten EU-Mitglieder erhöhen, endlich
selbst die überfälligen Reformen zu erledigen, gehört
aus Sicht der FDP zu den stärksten Argumenten für diese
Erweiterung.


(Beifall bei der FDP)

Mit zwei eindeutig proeuropäischen Neumitgliedern
kann die EU vielleicht auch einige Probleme leichter lö-
sen, die wir zu lange vor uns hergeschoben haben. Ich
nenne nur die Stichworte Verfassung und Reform des
EU-Haushaltes. Beides sind Aufgaben, die wir mit den
neuen Mitgliedern leichter lösen können als ohne sie.
Beides sind Aufgaben, die wir gemeinhin als Prozess der
Vertiefung bezeichnen.

Lassen Sie mich deshalb im Namen der FDP auch
deutlich sagen, dass vor der überfälligen Vertiefung
keine weiteren Erweiterungsschritte mehr möglich sind.
Das ist hart für die jetzigen Kandidaten, insbesondere für
die Westbalkanstaaten und Länder mit Beitrittsper-
spektive, aber wir können beispielsweise das wichtige
europäische Land Kroatien nur dann aufnehmen, wenn
wir vorher die vertraglichen Grundlagen der EU über-
arbeitet und die Agrar- und Strukturpolitik der EU so
reformiert haben, dass wir uns zukünftige Beitritte auch
wieder leisten können. Nach diesen Reformen müssen
wir dann aber auch bereit sein, die europäische Perspek-
tive, zum Beispiel der Westbalkanländer, einzulösen.
Doch diese Frage stellt sich heute noch nicht. Heute
stellt sich die Frage nach Bulgarien und Rumänien. Die
FDP unterstützt und begrüßt den Beitritt dieser beiden
wichtigen Länder Europas zur Europäischen Union zum
1. Januar 2007. Beide Länder haben ihr Etappenziel er-
reicht. Der Weg aber geht weiter.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606013700

Ich erteile das Wort Kollegen Gunther Krichbaum,

CDU/CSU-Fraktion.


Gunther Krichbaum (CDU):
Rede ID: ID1606013800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch wir seitens der CDU/CSU-Fraktion begrüßen den
Beitritt von Bulgarien und Rumänien. Wir begrüßen die
großen Fortschritte, die beide Länder vor allem in den
letzten Jahren gemacht haben. Ich denke, mit dem
1. Januar 2007 wird auch endgültig die Tür in eine Phase
des Rückfalls zugeschlagen; denn letztlich sind beide
Länder aus kommunistischen Diktaturen hervorgegan-
gen und sind jetzt junge Demokratien. Gerade wir als
etablierte Demokratien tun gut daran, beide Länder wei-
terhin so konstruktiv zu unterstützen wie schon in der
Vergangenheit.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es wird mehr Stabilität geben – eine Stabilität, von
der beide Länder profitieren werden, von der aber auch
die gesamte Europäische Union profitieren wird. Letzt-
lich ist es aber auch von Wichtigkeit, dass wir darauf
drängen, dass der Reformprozess in beiden Ländern
nicht stehen bleibt, und zwar deswegen, weil zuvorderst
die Menschen, die Bürgerinnen und Bürger in den Län-
dern, von den Reformen profitieren. Das war in der Ver-
gangenheit der Fall war und das muss auch in Zukunft
der Fall sein. Hier wurden große Anstrengungen unter-
nommen. Es sei nur beispielhaft – und in diesem Fall






(A) (C)



(B) (D)


Gunther Krichbaum
sehr bewusst – die Justizpolitik von Rumänien unter
Monica Macovei als Justizministerin – sie kam aus den
NGOs hervor – benannt. Ich denke, wenn es in diesem
Tempo weitergeht, dann ist uns allen nicht bange um die
weitere Entwicklung.

Es ist aber auch wichtig – ich denke nicht, Herr Kol-
lege Löning, dass wir dann eine Schieflage der Diskus-
sion bekommen –, dass wir auf die Defizite hinweisen,
die noch vorhanden sind. Wir haben hier vor einer Woche
eine entsprechende Debatte geführt; deswegen wäre es
jetzt müßig, all diese Probleme wieder aufzurollen. Aber
ich denke, es ist wichtig – und zwar gerade im Hinblick
auf die Außenwirkung dessen, was wir hier sagen –, dass
wir Missverständnisse vermeiden. Warum Missverständ-
nisse? – Ich will das am Beispiel der Sanktionen und
Schutzklauseln deutlich machen, die hier häufig in einem
Atemzug genannt und oftmals miteinander verwechselt
werden. Es geht nicht darum, die Länder zu bestrafen
oder gar abzustrafen, sondern darum, bestimmte Struktu-
ren zu schützen.

Ich nenne hier als Beispiel die Auslieferung bzw. die
gegenseitige Anerkennung von Strafurteilen. Ich
denke, wir sind noch nicht so weit, dass wir Strafurteile
mit der erforderlichen Konsequenz der Auslieferung ge-
genseitig anerkennen können. Das gilt besonders für die
Bundesrepublik Deutschland; schließlich war die Aus-
lieferung deutscher Bundesbürger jahrelang durch die
Verfassung schlicht und ergreifend verboten. Deswegen
ist es wichtig, dass wir diese Länder darauf hinweisen,
welchen Weg wir gegangen sind: Wir sind in der euro-
päischen Integration einen Weg gegangen, auf dem wir
dieser Hoheitsrechte aufgegeben haben.

Ich habe aber auch noch gut genug – wie viele Kolle-
gen hier im Hohen Hause – die Worte der Karlsruher
Richter zum Europäischen Haftbefehl in den Ohren.
Danach haben wir eben nicht nur das Recht, jemanden
innerhalb der EU auszuliefern, sondern auch die Pflicht,
darauf zu achten, wohin wir deutsche Bürger gegebenen-
falls ausliefern. Dieser Karlsruher Richterspruch ist für
uns als Abgeordnete also auch eine Verpflichtung. Die
Fürsorgepflicht kennt keine zeitliche Zäsur. Wir haben
nicht nur das Recht, wir haben die Pflicht, dies zu tun.

Deswegen hat es mich persönlich sehr erstaunt, was
hier in den letzten Tagen seitens der Kommission zu hö-
ren war. Ich möchte hier einen Teil aus dem „Handels-
blatt“ von vorgestern zitieren. Eine Sprecherin von Olli
Rehn erklärte:

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre es unverhält-
nismäßig, die Schutzklauseln schon jetzt zu bean-
tragen.

Und weiter:

Schutzklauseln könnten nur ausgelöst werden,
wenn es handfeste Beweise für politische oder ju-
ristische Probleme gebe. Bisher sei dies nicht der
Fall.

Ich denke, an dieser Stelle ist es wichtig, dass wir ehr-
lich miteinander umgehen. Was füllte denn den Fort-
schrittsbericht? Was waren denn die Schlüsse, die in
diesem Bericht gezogen wurden? Diese Schlüsse fußen
doch genau auf den Urteilen der Kommissionsvertreter
vor Ort, die diese Fälle aufgenommen und zur Grund-
lage ihrer Entscheidungen und Wertungen gemacht ha-
ben.

Mir sei der Hinweis gestattet, dass es uns zunächst be-
fremdet, dass eine Sprecherin dem Bundestag mittelbar
mitteilt, dass Schutzklauseln gegenwärtig nicht geboten
sind. Ich denke, das ist kein angemessener Umgang der
Kommission mit dem Deutschen Bundestag.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch darauf darf man hinweisen: Wir vertreten immer-
hin 82 Millionen Bundesbürger.

Mir erscheint wichtig, hervorzuheben: Das muss auf
die Tagesordnung der Tagung des Rates im Dezember.
Es geht nicht um eine Diskriminierung dieser Länder. Es
geht in Wirklichkeit darum, dass wir keine Diskussion
über einen Beitritt zweiter Klasse führen möchten – ganz
im Gegenteil –, sondern darüber, dass es ein Reglement
gibt, dem auch die anderen Mitgliedstaaten unterworfen
sind. Auch wir als Bundesrepublik Deutschland haben
das erfahren müssen. Ich erinnere hier an das EU-Defi-
zitverfahren. Erst der jetzigen Regierung ist es gelungen,
zu einer soliden Haushaltspolitik zurückzufinden, durch
die die Maastrichtkriterien eingehalten werden.

Mir scheint auch wichtig zu sein, einen Blick über
den Tellerrand hinaus zu wagen, also über 2007. Es
klang schon an, auch vom Kollegen Rainder Steenblock:
Wir brauchen hier einen verlässlichen institutionellen
Handlungsrahmen für die Europäische Union. Das be-
deutet, wir müssen die Verfassung promovieren. Bevor
hier neue Zusagen gemacht werden können, gegebenen-
falls sogar neue Beitrittsdaten in den Raum gesetzt wer-
den, ist es wichtig, dass wir als Europäische Union
zunächst einmal handlungsfähig sind. Diese Handlungs-
fähigkeit schließt auch die Aufnahmefähigkeit ein, die
hier seitens des Kollegen Schockenhoff schon des Öfte-
ren thematisiert wurde.

Es geht auch um den Blick auf andere Themen, auf
andere Regionen. Zum Januar 2007 werden hoffentlich
auch andere Themen auf die europäische Agenda kom-
men. Ich denke dabei im Rahmen der europäischen
Nachbarschaftspolitik beispielsweise an die Republik
Moldau. Von uns kaum wahrgenommen, gibt es dort
dramatische Veränderungen. Nach dem russischen Han-
delsembargo vom März dieses Jahres sind viele land-
wirtschaftliche Güter nicht mehr absetzbar. Es entsteht
Arbeitslosigkeit. Zeitgleich wurden die Energiepreise
zum 1. Juli des Jahres 2006 erhöht. Eine weitere Erhö-
hungswelle zum 1. Januar 2007 ist bereits angekündigt.

Warum erwähne ich das? Ich erwähne das nicht nur,
weil 600 000 Rentner in der Republik Moldau sich die
steigenden Energiepreise nicht mehr werden leisten kön-
nen, sondern vor allem auch, weil die eigentliche Ursa-
che, nämlich die Öffnung der Republik Moldau in Rich-
tung des Westens, zu dieser Abstrafung durch Russland
geführt hat. Diese Themen rücken – Gott sei Dank – nä-
her an uns heran. Die Menschen in den betroffenen






(A) (C)



(B) (D)


Gunther Krichbaum
Regionen haben es verdient, dass wir uns auch dieser
Probleme annehmen,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


vom Transnistrienkonflikt ganz zu schweigen.

Europa wird nach dem Beitritt von Rumänien und
Bulgarien nicht nur bunter, sondern auch interessanter.
Im Hinblick auf eine Stabilität, an der wir alle interes-
siert sein müssen, wird immer wichtiger, dass wir als
Europäische Union an außenpolitischer Bedeutung ge-
winnen. Hier sehe ich persönlich den größten Hand-
lungsbedarf, dem wir letztlich gerecht werden müssen,
damit wir im Gleichklang der Mächte weltweit bestehen
können.

Nochmals: Herzlich willkommen, auch von unserer
Seite, Bulgarien und Rumänien! Wir freuen uns auf den
Beitritt und wir freuen uns auf den 1. Januar 2007.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606013900

Ich erteile das Wort Kollegen Diether Dehm, Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606014000

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Auch ich möchte gleich am Anfang sagen: Herzlich
willkommen! Ich füge hinzu: Der Titel des Antrags
„EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg füh-
ren“ ist zwar schön, aber es wäre schöner gewesen, wenn
Sie diesen Antrag nicht gezielt an der Fraktion Die Linke
vorbei auf den Weg gebracht hätten. Wie Sie wissen,
stimmt unsere Fraktion dem Beitritt Bulgariens und Ru-
mäniens zu, wie Herr Kollege Schäfer lobend hervorge-
hoben hat. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen ganz
besonders von CDU und CSU, wenn kein Grund zur
Konspiration besteht, brauchen Sie auch nicht zu konspi-
rieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Statt heute hier mit einem gemeinsamen, aufeinander ab-
gestimmten Antrag aller Fraktionen dieses Hauses ein
kraftvolles Zeichen nach Europa zu setzen, haben Sie
parteipolitischen Kleinmut vorgezogen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sicher: Wir hätten Ihnen gern den ersten Absatz, die-
ses völlig unrealistische und überschwängliche Lob, ge-
ändert, wonach „Frieden, Wohlstand und neue wirt-
schaftliche Dynamik und politische Stabilität“ mit der
EU-Erweiterung 2004 erfolgt seien. Herr Kollege
Schäfer war, als er die Ängste der Menschen benannt
hat, etwas realistischer. Durch Schönfärberei erreichen
wir keine neue Akzeptanz für Europa.

(Beifall bei der LINKEN – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ich wusste, dass Sie daran herumkritisieren würden!)


– Weil ihr wusstet, selbstverständlich! Aber die Prophe-
zeiung kam nicht von den Kollegen der SPD, sondern
von denen der CDU/CSU. Ich weiß, Herr Kollege
Benneter, dass Sie etwas prognostischer sind.

Am Schluss des Antrags wird der vorauseilende Rati-
fizierungsgehorsam Bulgariens und Rumäniens als
„neuer Impuls zur Wiederbelebung des Verfassungspro-
zesses“ gelobt. Als ob Unterwerfung unter einen ge-
scheiterten Verfassungstext zwingend für den Beitritt ge-
wesen wäre – etwa unter das Aufrüstungsgebot und den
Wettbewerbskannibalismus.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, finden Sie
sich damit ab: Dieser Verfassungsvertragstext ist endgül-
tig gescheitert. Sackgassen werden auch durch Dauerbe-
schwörung nicht zu Durchfahrtsalleen!


(Beifall bei der LINKEN)


In diesem Sinne bitte ich auch die Bundesregierung
noch einmal ausdrücklich: Verplempern Sie die Zeit der
deutschen Ratspräsidentschaft nicht damit, den Bürge-
rinnen und Bürgern Blähungen des gescheiterten Verfas-
sungsvertrags ständig als Eau de Cologne verkaufen zu
wollen.


(Widerspruch bei der SPD)


Er ist gescheitert. Arbeiten Sie mit an einer Alternative
für einen Text, mit dem wir uns nicht vor einer Volksab-
stimmung zu fürchten brauchen.

Sicherlich können Passagen aus dem vorliegenden
Text übernommen werden, aber die Europäische Union
braucht eine bessere Verfassung, die – Frau Kollegin
Kastner, jetzt hören Sie genau zu – nicht an den Rüs-
tungsmärkten und den Finanzmärkten, sondern an den
Grundelementen unseres Grundgesetzes orientiert ist.
Das ist das Entscheidende. Wir ringen darum, die Ele-
mente des Grundgesetzes in eine europäische Verfassung
zu übernehmen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Susanne Kastner [SPD]: Das streitet niemand ab!)


Dafür werden Ihnen die Fraktion Die Linke, Gregor
Gysi und Oskar Lafontaine, in Kürze Grundelemente ei-
nes alternativen Verfassungsentwurfs vorlegen.


(Unruhe)


– Ich freue mich über die allumfassende Unruhe. Viel-
leicht haben Sie doch richtig gehandelt, als Sie bei die-
sem Antrag auf uns verzichtet haben. Bestimmte kriti-
sche Fragen wollen Sie nicht hören.

Welches Volk außer den Spaniern und Luxemburgern
durfte wirklich direkt darüber abstimmen? Noch nicht
einmal Deutschland – das verschweigen Sie immer – hat
ratifiziert. Bundespräsident Horst Köhler hat sich gewei-
gert, den vorliegenden Text zu unterschreiben. Der Mann
hat noch ein Gespür für demokratische Hoheitsrechte,
was er auch bewiesen hat, als er das Gesetz zur Privati-
sierung der Flugsicherung nicht unterschrieben hat.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Diether Dehm

(Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Susanne Kastner [SPD]: Jetzt sind wir beim Thema!)


– Ich bitte Sie, Frau Kastner. – Die Sozialdemokraten
unter den SPD-Leuten mögen ihren Kollegen sagen,
dass man deswegen nicht extra das Grundgesetz ändern
kann. Wir brauchen keine Verfassung nach Kassenlage.
Damit die Kassen durch die Privatisierung der Flugsi-
cherung voller werden, können wir nicht das Grundge-
setz ändern. Sagen Sie das einmal den Leuten, die jetzt
an die Presse gehen und fordern, wir sollten das Grund-
gesetz ändern, weil Bundespräsident Köhler nicht unter-
schrieben hat. Dazu kann ich nur sagen: Hände weg vom
Grundgesetz.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich frage hier: Welchem Europa treten Bulgarien und
Rumänien bei? Was alles wollen Sie noch privatisie-
ren? Was alles gehört noch aus dem Verfügungsbereich
der Wählerinnen und Wähler heraus? Zu den horrenden
Managergehältern sagt Herr Kollege Hintze, den wir
letzte Woche 15 oder 20 Mal aus dem Plenum dazu be-
fragt haben, das gehöre nur auf die Ebene der Märkte
und der Chefetagen der Konzerne. Wenn es denn so ist,
wenn am Ende unser Staat und die Steuerzahler die Bun-
deswehr oder europäische Battle-Groups nur noch finan-
zieren sollen, um den Energiekonzernen die sprudelnden
Ölquellen zu sichern, ist zu fragen: Warum privatisieren
wir dann nicht die Bundeswehr und integrieren sie in den
Werkschutz von Vattenfall, Eon und RWE? Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, die Frage muss doch erlaubt
sein: Wie verfasst ist diese EU und in welche EU laden
wir Rumänien und Bulgarien ein, um sie willkommen zu
heißen?

Wir hören: Großbritannien und Irland haben pünkt-
lich zu den Neuaufnahmen die Arbeitsmärkte reguliert;
mein Kollege Hakki Keskin hat schon dazu gesprochen.
Zusammen mit der Tatsache, dass seit der letzten Erwei-
terungsrunde die Mittel für neue EU-Mitgliedstaaten
mehr und mehr runtergefahren worden sind, stellt sich
doch der Eindruck ein, dass Integration eine Einbahn-
straße wird. Export- und Investitionsinteressen: ja; ent-
sprechende Mittel bereitstellen: nein.

Europa muss aber scheitern, wenn es nur zu einer gi-
gantischen und seelenlosen Freihandelszone würde, in
der alles – von Gesundheit und Bildung bis zur Energie-
und Wasserversorgung – privatisiert, der Zivilisation
entzogen und den Konzernen einverleibt wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Nicht die Linke, nicht das Nein aus Frankreich und
den Niederlanden, womit der Verfassungstext geschei-
tert ist, übt Verrat an der antifaschistischen, aus den
Trümmern von 1945 hervorgegangenen großen europäi-
schen Idee.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie was zu Bulgarien und Rumänien!)


Die Verfechter und Profiteure einer neoliberalen, autori-
tären und militaristischen EU, das sind die wahren
Feinde Europas!

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wir sagen Ihnen: Haben Sie wieder Mut zum Grund-
gesetz! Haben Sie Mut dazu, mit dem Angriffskriegsver-
bot und der Sozialbindung des Eigentums eine neue Ver-
fassung zu gestalten, einen neuen Text zu entwerfen!
Dann können wir gemeinsam dafür werben. Haben Sie
mehr Mut zur Demokratie, dass ein gutes Europa blühe!
Es blüht von unten gegen oben hin.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606014100

Ich erteile das Wort Kollegen Markus Meckel, SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1606014200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Nachdem ich die Debatte bisher erlebt habe,
wollte ich eigentlich sagen, dass ich sehr froh bin über
diese Debatte und insbesondere über den einhelligen
Grundtenor, den man sich noch vor einem Jahr oder ein-
einhalb Jahren kaum hätte vorstellen können,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


nämlich dass im Deutschen Bundestag ein einhelliges
Willkommen ausgesprochen wird. Ich möchte mich die-
sem Willkommen anschließen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich müssen wir sehen – das gehört zur Arbeit
im Deutschen Bundestag dazu –, dass es da auch Miss-
töne gibt; das wird in Europa auch künftig so sein. Herr
Dehm, Sie haben uns so etwas hier vorgeführt. Ihr Bild
von Europa muss man nicht teilen. Aber es darf auch das
ausgesprochen werden, was von anderen nicht geteilt
wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)


Dass Europa so ist, ist, denke ich, gerade das Ergebnis
der großen Erfahrung, die diese Staaten, Rumänien und
Bulgarien, mit mir und vielen anderen hier im Raum tei-
len, die selbst noch Diktatur erlebt haben und die dann
erfahren haben, dass in einer freien Gesellschaft Plura-
lität und das Aussprechen von Unsinnigem möglich
sind. Eine solche freie Gesellschaft gibt es jetzt glückli-
cherweise auch in Rumänien und Bulgarien.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für mich, der ich jenseits des Eisernen Vorhangs auf-
gewachsen bin – das kann man in diesem Hause wirklich
sagen; denn das „jenseits“ begann wenige Meter von
diesem Haus entfernt –, waren Rumänien und Bulgarien
der Teil Europas, der zugänglich war. So hatte ich zu ei-
ner Zeit, zu der andere woandershin in Europa gefahren






(A) (C)



(B) (D)


Markus Meckel
sind, vor mehr als 30 Jahren, die Möglichkeit, diesen
Teil Europas kennen zu lernen. Ich bin sehr dankbar da-
für; denn ich hatte dadurch die Chance, den langen und
schweren Entwicklungsweg zu sehen, den diese Länder
gegangen sind; man war sich ja dessen bewusst, welche
Last sie zu tragen hatten.

Dabei muss immer wieder klar sein: Dies ist ein alter
Teil Europas. Diese Länder repräsentieren einen Teil un-
seres europäischen Erbes. Wer von uns hat schon im
Bewusstsein, dass in der Zeit des 30-jährigen Krieges,
als man sich sonst in ganz Europa in Religionsfragen in
die Haare bekam und viel Blut floss, etwa Siebenbürgen
ein Ort der Toleranz und des friedlichen Zusammenle-
bens unterschiedlicher Konfessionen und Religionen
war, was wir nur nachträglich noch bewundern können?
Wer ist sich dessen bewusst, dass die nationale Identität
Bulgariens als geistiges Erbe über einen elendig langen
Zeitraum nur im Kloster überleben konnte? Erst nach
dem Erringen nationaler Selbstständigkeit war es mög-
lich, als bulgarisches Volk und als bulgarischer Staat auf-
zutreten. Bulgarien liegt in einem Teil Europas, der be-
sonders gelitten hat. Das gilt insbesondere für die zweite
Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Manchmal hat man die Tatsache, dass Ceausescu ein
schlimmer Diktator war, in Europa und insbesondere in
den USA vergessen, nur weil er gegenüber der Sowjet-
union kritisch war. Bis in die späten 80er-Jahre hinein
gab es eine Meistbegünstigungsklausel zwischen Rumä-
nien und den USA, nach dem Motto: Der Feind unseres
Feindes ist unser Freund. Inzwischen haben wir alle aber
hoffentlich gelernt, dass wir genauer hinschauen müs-
sen, was in einem Land passiert, weil man sonst später
furchtbare Entdeckungen machen kann und man fest-
stellt, dass man auf ein falsches Pferd gesetzt hat. Wir
müssen uns deutlich machen, dass hier ein schweres
Erbe zu tragen war, das man in einem sehr schwierigen
Transformationsprozess in wesentlichem Umfang besei-
tigt hat.

Ich bin davon überzeugt – das ist schon gesagt wor-
den –, dass die Transformation auch in Zukunft
schwierig sein wird. Schauen wir nach Polen, nach Un-
garn und in die Tschechische Republik, auf die Muster-
schüler unter den neuen Mitgliedern: In Anbetracht in-
nenpolitischer Wirrungen und Diskussionen kann man
feststellen, dass die politische Stabilität manchmal nicht
in dem Maße gewährleistet werden kann, wie wir es uns
für diese europäischen Partner wünschen.

Die Demokratisierungs- und Transformationspro-
zesse finden dort nämlich unter viel schwierigeren Be-
dingungen als in Deutschland nach dem Nationalsozia-
lismus statt. Die Demokratisierung Deutschlands war
nämlich mit einem Wirtschaftswunder verbunden, wel-
ches allen half, Demokratie toll zu finden, weil es allen
besser ging. Großen Teilen der Bevölkerung Rumäniens
und Bulgariens geht es nicht besser. Dies führt zu den
Schwierigkeiten im Transformationsprozess. Es ist rich-
tig, dass die Defizite klar benannt werden, dass man die
Institutionen der Europäischen Union schützt. Es ist
ebenfalls klar, dass man dabei Hilfe braucht. Vieles ist
aber schon geleistet worden.
Ich komme zu einem Aspekt, von dem viele glauben,
er betreffe nur Osteuropa: die Minderheitenpolitik.
Darüber gibt es, wie wir wissen, in Rumänien und Bul-
garien noch so manche Diskussion. Es ist aller Anerken-
nung wert, wie weit diese beiden Staaten bei den Bemü-
hungen, Sicherheit und Stabilität für Minderheiten zu
gewährleisten, gekommen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zur Frage der Minderheiten, die für uns beim Beitritt ein
entscheidendes Kriterium war, kann man sagen: Gerade
in diesen Ländern gibt es eine lange Tradition des Zu-
sammenlebens verschiedener Kulturen, Völker, Nationa-
litäten und Minderheiten.

Ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn Kommissi-
onspräsident Barroso einen der beiden neuen Kommis-
sare mit einer Aufgabe in diesem Bereich betrauen
würde. Er könnte einen Minderheitenkommissar damit
beauftragen, Minderheiten zu unterstützen und ihre
Rechte zu schützen. Wie wir alle wissen, brauchen die
Minderheiten Unterstützung, und zwar nicht nur in Ru-
mänien und Bulgarien, sondern auch in Ungarn und in
der Slowakei. Sie haben in Europa das Problem der Inte-
gration der Roma gemein. Wir erleben, dass auch an-
dernorts, in Westeuropa, etwa in Spanien oder in Nordir-
land, die Frage der Minderheiten immer wieder eine
Rolle spielt. Deshalb glaube ich, dass dies durchaus ein
wichtiges europäisches Thema ist, das in Europa seinen
Platz haben sollte.

Vor dem Hintergrund der regionalen Stabilität
möchte ich darauf hinweisen, welch ein Gewinn beide
Länder für die Europäische Union sind. Rumänien und
Bulgarien als Länder des Balkans haben bei der Stabili-
sierung in den Krisen und Kriegen auf dem Balkan eine
riesengroße Rolle gespielt. Sie haben, als wir Sanktionen
verhängt haben, manche Last tragen müssen. Beide Län-
der sind ein wichtiger Stabilitätsfaktor für die Entwick-
lung auf dem westlichen Balkan. Wir sollten die Erfah-
rungen beider Länder in diesem Prozess intensiv nutzen.

Ein anderer Aspekt ist die Schwarzmeerzusammenar-
beit. Das ist für die Europäische Union, die auch in den
Bereichen des Mittelmeers und der Ostsee zusammenar-
beitet, ein bedeutendes neues Feld, gerade angesichts der
schwierigen Lage etwa im Südkaukasus. Ich denke, mit-
hilfe von Rumänien und Bulgarien, die hier sicherlich
Wichtiges beitragen können, können wir uns dieser au-
ßenpolitischen Arbeit widmen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU] und des Abg. Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren, „Jetzt wächst zusammen,
was zusammengehört“, hat Willy Brandt vor etwa
17 Jahren nicht weit von hier gesagt. Wir wissen, dass er
Recht hatte und dass der Mauerfall ein Symbol für die-
sen Prozess war. Ich glaube, dass diese Formulierung
auch für die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens in die
Europäische Union gilt. Alte europäische Völker gehö-






(A) (C)



(B) (D)


Markus Meckel
ren nun zur Europäischen Union. Wir werden gemein-
sam unseren Weg gehen. Mit diesen Ländern haben wir
– es ist schon angesprochen worden – Verbündete auf
dem Weg zu einer stärkeren Integration und zu einer
Verfassung, wie wir sie in Europa dringend brauchen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606014300

Ich erteile das Wort Kollegen Stephan Mayer, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1606014400

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kollegin-

nen! Sehr geehrte Kollegen! Mit der heutigen Debatte
und Beschlussfassung wird der letzte Akt der bisher
größten Erweiterungsrunde der Europäischen Union in
diesem Haus abgeschlossen. Es ist richtig, dass wir heute
mit großer, überzeugender Mehrheit den Beitritt von Ru-
mänien und Bulgarien beschließen. Richtig war es aber
auch, dass die beiden Länder erst einmal abgekoppelt
wurden: Als zum 1. Mai 2004 zehn Länder aus Mittel-
und Osteuropa in die Europäische Union aufgenommen
wurden, waren diese beiden Länder nicht dabei. Ge-
nauso richtig ist es jetzt allerdings, diese beiden Länder
in die Europäische Union zu integrieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Damit wird die Trennung durch den Eisernen Vor-
hang und den Kalten Krieg in der Zeit des kommunisti-
schen Ostblocks zwischen uns und dem östlichen Balkan
endgültig aufgehoben. Diesen historischen Zusammen-
hang und diese geschichtliche Dimension gilt es an die-
ser Stelle entsprechend zu würdigen und zu betonen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist rich-
tig, dass Bulgarien und Rumänien zum 1. Januar 2007
Vollmitglieder der Europäischen Union werden. Der
Beitritt ist im deutschen Interesse. Beide Länder gehören
zu Europa; sie sind Bestandteil des abendländisch-christ-
lich-jüdischen Kulturraums. Beide Länder, sowohl Ru-
mänien als auch Bulgarien, haben hervorragende Bezie-
hungen zu Deutschland. Diese Beziehungen haben sich
in den vergangenen 16 Jahren noch erheblich intensiviert
und stabilisiert. Beide Länder sind wichtige Handels-
partner für Deutschland. In den letzten fünf Jahren
haben die Exporte aus beiden Ländern, aber auch die Im-
porte in diese Länder erheblich zugenommen. Mittler-
weile ist Rumänien, was die Einfuhren anbelangt, der
24.-wichtigste Handelspartner für Deutschland und Bul-
garien der 40.-wichtigste.

In beiden Ländern – ich glaube, auch das gilt es an
dieser Stelle zu erwähnen – gibt es eine hohe Affinität
gegenüber Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deutschland und die deutsche Bevölkerung sind in bei-
den Ländern, in Bulgarien und Rumänien, hoch angese-
hen. In Rumänien gibt es nach wie vor eine stattliche
deutsche Minderheit, zu der sich 60 000 Menschen be-
kennen. Sie sind dort hervorragend integriert und ein
wichtiger Bestandteil der Zivilgesellschaft in Rumänien.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber ebenso ist es richtig – das liegt auch im deut-
schen Interesse –, dass wir da, wo es angebracht ist, den
Finger in die Wunde legen. Es ist schon die noch nicht in
vollem Umfang umgesetzte Arbeitnehmerfreizügigkeit
angesprochen worden. Diese Einschränkung bei der Ar-
beitnehmerfreizügigkeit liegt durchaus im Interesse un-
seres Arbeitsmarktes. Ebenso richtig ist es, dass gemäß
Art. 38 der Beitrittsurkunde Schutzklauseln im Bereich
des Justizwesens und im Bereich des Inneren implemen-
tiert werden.

Ich möchte darauf hinweisen, dass dies in keiner
Weise ein unfreundlicher Akt gegenüber den beiden
Ländern ist. Diese Schutzklauseln bedeuten auch nicht,
dass sie Mitglieder zweiter Klasse werden. Ferner be-
deuten sie keine Verschlechterung im Vergleich zum Sta-
tus quo dieser Länder. Es liegt aber durchaus im deut-
schen Interesse – dieses zu wahren, sind wir gewählt –,
die innere Sicherheit in Deutschland zu gewährleisten
und Schaden von Deutschland und für deutsche Staats-
bürger abzuwenden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich sehe die Implementierung der Schutzklauseln
zum 1. Januar 2007, also zum Tag des Beitritts, durchaus
als Chance und als Ansporn für die beiden Länder an,
die vorhandenen Defizite und die noch existierenden
Mängel möglichst schnell zu beseitigen. Diese Mängel
sind offenkundig vorhanden. Der Monitoring-Bericht
der Kommission vom 26. September 2006 hat es deut-
lich offenbart: Die organisierte Kriminalität ist nach
wie vor ein großer Malus in beiden Ländern. Es gibt ge-
rade in Bulgarien eine erhebliche Anzahl von Auftrags-
morden. Es kann nicht hingenommen werden, dass bei-
spielsweise die beiden Auftragsmorde, die im August in
Bulgarien verübt wurden, noch nicht aufgeklärt worden
sind. Insgesamt gesehen sind erst sehr wenige Auftrags-
morde aufgeklärt und es ist noch zu keiner einzigen Ver-
urteilung wegen dieser Verbrechen gekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch die Korruption ist in beiden Ländern nach wie
vor ein außerordentlich großes Übel. Ich möchte über-
haupt nicht negieren, dass es in den letzten Jahren große
Fortschritte gab. Dass beide Länder enorme Anstrengun-
gen unternommen haben, um sich in diesem Bereich zu
verbessern, möchte ich ebenfalls nicht unter den Teppich
kehren. Aber immer noch ist Korruption sowohl auf ho-
her staatlicher Ebene als auch auf kommunaler und unte-
rer Ebene vorhanden.

Nach wie vor ist es ein Faktum, dass die Haftbedin-
gungen sowohl in Bulgarien als auch in Rumänien unzu-
länglich und daher sehr verbesserungsbedürftig sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Stephan Mayer (Altötting)

Der bayerische Ministerpräsident hat deshalb Recht,
wenn er sagt, er möchte keinen deutschen Staatsbürger
in einem rumänischen oder bulgarischen Gefängnis se-
hen.

Auch im Bereich der Bekämpfung der Geldwäsche
weist vor allem Bulgarien noch erhebliche Defizite auf.
Die europäischen Bestimmungen zur Bekämpfung der
Geldwäsche sind nach wie vor noch nicht endgültig um-
gesetzt worden. Es besteht weiterhin die Notwendigkeit,
darauf hinzuwirken, dass in beiden Ländern ein effizien-
tes und transparentes Justizwesen aufgebaut wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich nenne in diesem Zusammenhang die Unabhängig-
keit der Richter und eine einheitliche Rechtsanwendung.
Es ist ein wichtiger Rechtsstaatsgrundsatz, dass in jedem
Amtsgericht in Rumänien und Bulgarien, so weit es auch
von der Hauptstadt entfernt sein möge, die gleichen
rechtlichen Maßstäbe angewendet werden. Dazu gehört
ebenso eine konsequente und kompetente Strafverfol-
gung. In diesem Bereich gab es in den letzten Jahren
Verbesserungen. Aber auch hier sind wir noch nicht am
Ende der Fahnenstange angelangt.

Die Inkraftsetzung der Schutzklauseln ist unbedingt
erforderlich, und zwar zum Zeitpunkt des Beitritts.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Diskussion darüber kommt mir teilweise folgender-
maßen vor: Jemand bringt sein Auto zum TÜV und der
Mitarbeiter des TÜVs macht ihn auf bestimmte Mängel
und Defekte aufmerksam. Manche Defekte sind viel-
leicht sogar so erheblich, dass die Fahrtauglichkeit ge-
fährdet ist. Trotzdem kann der Besitzer des Wagens wei-
terfahren. Er soll nur in drei oder sechs Monaten
wiederkommen und dann will man weiterschauen. –
Dies ist nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mein lieber Kollege Schäfer, ich möchte Sie darauf
hinweisen, dass im Bayerischen Landtag die SPD-Frak-
tion am 28. September einem Dringlichkeitsantrag ein-
stimmig zugestimmt hat. In diesem Antrag wird ver-
langt, dass die Schutzklauseln im Bereich des Inneren
und des Justizwesens zum Zeitpunkt des Beitritts imple-
mentiert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die deutsche Wirtschaft möchte gerne in beiden Län-
dern investieren. Die deutschen Bürger möchten gerne in
diese beiden Länder reisen. Voraussetzung dafür ist aber,
dass sie Vertrauen in die dortigen Strukturen haben kön-
nen. Da gibt es noch einen erheblichen Nachholbedarf.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Vor diesem Hintergrund möchte ich einen Satz über
das verlieren, was die Sprecherin des EU-Erweiterungs-
kommissars Olli Rehn gestern von sich gegeben hat.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606014500

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen,

Sie haben Ihre Redezeit schon überzogen.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1606014600

Gerne, Herr Präsident. – Sie meinte uns darauf hin-

weisen zu müssen, dass die Kommission eine Implemen-
tierung der Schutzklauseln derzeit für unangemessen
hält. Dies ist ein eklatanter Akt der Arroganz und der
Bürgerferne,


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


ein Ausdruck einer undemokratischen und abgehobenen
Gesinnung.


(Dr. h. c. Susanne Kastner [SPD]: Jetzt machen Sie aber mal langsam, Herr Kollege!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606014700

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1606014800

Wir machen uns hier häufig Gedanken darüber, wie

Europa bürgerfreundlicher werden kann. Europa muss
bürgerfreundlicher werden. Deswegen ist es unabding-
bar, dass die Schutzklauseln angewendet werden.

Wir freuen uns auf den Beitritt von Bulgarien und Ru-
mänien zum 1. Januar 2007. Damit ist ein wichtiger
Meilenstein erreicht. Das Rennen geht aber noch weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1606014900

Ich schließe die Aussprache.

Wir stimmen über den von der Bundesregierung
eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom
25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien
und Rumäniens zur Europäischen Union ab. Der Aus-
schuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/3155, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen verlangt na-
mentliche Abstimmung. Zu dieser Abstimmung liegen
14 Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung
vor.1) Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Das ist
jetzt der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.

Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihre
Stimme abgegeben? – Das ist offensichtlich der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die Ab-
stimmungen fort.

1) Anlagen 2 bis 4






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/3155 empfiehlt der Ausschuss für die Angele-
genheiten der Europäischen Union, eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Tagesordnungspunkt 7 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Anpassung von Rechtsvorschriften
des Bundes infolge des Beitritts der Republik Bulgarien
und Rumäniens zur Europäischen Union. Der Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/3147, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit einstimmig angenommen.

Zusatzpunkt 2. Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3090 mit
dem Titel „EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum
Erfolg führen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit
den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut-
scher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische An-
griffe gegen die USA auf Grundlage des Arti-
kels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373

(2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Na-

tionen

– Drucksache 16/3150 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist
für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes-
minister Frank-Walter Steinmeier das Wort.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin GöringEckardt)


Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, es ist
wahr: Gut fünf Jahre nach den Anschlägen in New York
und Washington steckt der Kampf gegen den internatio-
nalen Terrorismus in einer schwierigen Phase. Viele
Staaten unternahmen gemeinsam erhebliche Anstren-
gungen, um die Mitglieder, Anhänger und Hintermänner
von al-Qaida zu fassen und weitere Anschläge – auch in
Deutschland – zu verhindern. Dabei haben wir alle ver-
fügbaren rechtsstaatlichen Kräfte und Mittel eingesetzt:
politische, militärische, wirtschaftliche, entwicklungs-
politische, gesetzgeberische, polizeiliche und geheim-
dienstliche.

Die Bilanz ist nach fünf Jahren in der Tat durchwach-
sen. Wir haben mehrere Anschlagsversuche in Deutsch-
land verhindert. Anschläge konnten vereitelt werden.
Mit Glück und aufgrund unserer Eigenanstrengungen
sind wir von solchen Anschlägen verschont geblieben,
wie sie in Spanien, Großbritannien, Indien, Indonesien,
Jordanien, Pakistan, Russland, Marokko und Saudi-Ara-
bien stattgefunden haben.

Auch wenn wir verschont geblieben sind, müssen wir
feststellen: Die Bedrohung durch die al-Qaida ist nicht
beseitigt. Von Maghreb über das Horn von Afrika und
die Arabische Halbinsel bis zum Nordkaukasus und nach
Afghanistan bestehen lokale und regionale Strukturen
dieses Terrornetzwerkes fort. Es findet immer neue
Wege und Kanäle, um seine menschenverachtenden,
hassgetränkten Botschaften zu verbreiten. Die Perspek-
tivlosigkeit in manchen Regionen, aber auch die Faszi-
nation des Bösen verschafft den Terroristen immer wie-
der den Zulauf einiger Versprengter.

Damals, unter dem Eindruck der eingestürzten Türme
des World Trade Centers, haben alle – ich betone: alle –
politischen Kräfte in Deutschland dem internationalen
Terrorismus den Kampf angesagt.

Manche haben eingewendet, dass Soldaten allein kein
Mittel gegen Terrorismus sind. Aber das hat auch keine
Bundesregierung behauptet und ich sehe auch keinen in
den Bundesregierungen der letzten Jahre, der nach einer
solchen auch aus meiner Sicht falschen Maxime gehan-
delt hätte. Im Gegenteil, wir haben damals schon gesagt:
Der Kampf erfordert einen langen Atem, er wird auch
uns Opfer abverlangen und er wird auch unsere Freiheit
strapazieren und er wird zu einer Probe unserer Zähig-
keit und unserer Geduld werden.

Ich will deshalb heute daran erinnern, weil ich den
Eindruck habe, dass bei manchen mit der Zeit die Erin-
nerung an den Ausgangspunkt und die Realität der da-
maligen Bedrohung, die heute noch aktuell ist, verblasst.
Ganz sicher müssen wir heute, nach fünf Jahren, Erfolge
und Misserfolge unserer und der gemeinsamen, interna-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
tionalen Strategie offen diskutieren. Aber eines dürfen
wir ganz sicher nicht: Wir dürfen dem Terrornetzwerk
al-Qaida nicht vermitteln, dass wir den Kampf gegen
seine verbrecherischen Pläne und Strategien aufgeben.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn ich das sage, füge ich genauso hinzu: Die inter-
nationale Staatengemeinschaft darf ebenso wenig darin
nachlassen, die gesellschaftlichen, sozialen und wirt-
schaftlichen Umstände zu bekämpfen, die das Entstehen
von Terrorismus erst begünstigen. Denn nur so können
wir den Drahtziehern und Hintermännern die Grundlage
ihres Tuns entziehen. Wir, die Bundesregierung, haben
von Anfang an auf diesen ganzheitlichen Ansatz gesetzt.
Ich freue mich darüber, dass dieser Ansatz – heute Mor-
gen wurde es schon erwähnt – auch innerhalb der NATO
mittlerweile als beispielhaft angesehen wird.

Vor drei Wochen hat der Bundestag mit großer Mehr-
heit das Bundeswehrmandat für den Einsatz der Interna-
tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe, ISAF, in Af-
ghanistan verlängert. Diese Mission – ich habe es
damals begründet – ist ganz sicher unverzichtbar, um die
Sicherheit zu schaffen, die für den Wiederaufbau
Afghanistans erforderlich ist; das ist der Auftrag von
ISAF.

Ich komme zurück auf das vorhin Gesagte: Militäri-
sche Mittel als eines der Instrumente internationaler
Politik bleiben unverzichtbar. Im Kampf gegen radikale
und ideologisch unbeugsame Terroristen können wir auf
sie nicht verzichten. Deshalb sind die Operation „Endu-
ring Freedom“ und die NATO-Einsätze im Mittelmeer
im Rahmen der Operation „Active Endeavour“ weiterhin
ein angemessener und ein notwendiger militärischer Bei-
trag. Die Bundesmarine patrouilliert im Rahmen der
Operation „Enduring Freedom“ am Horn von Afrika, um
Terroristen den Zugang zu Rückzugsgebieten zu ver-
wehren, um Verbindungswege zu beschneiden. Gleich-
zeitig schützen unsere Soldaten diese strategisch wich-
tige Seepassage vor terroristischen Anschlägen. Das
gleiche Ziel verfolgen deutsche Marinesoldaten im Mit-
telmeer im Rahmen der Operation „Active Endeavour“.

Bei Bedarf ermöglicht das Mandat auch den Einsatz
von Spezialkräften der Bundeswehr; dieser Einsatz
wird hier im Parlament und in der Öffentlichkeit zurzeit
lebhaft diskutiert. Ich kann Ihnen versichern: Natürlich
bin auch ich der Meinung, dass die Vorwürfe, die den
Einsatz der KSK in Kandahar zu Beginn des Jahres 2002
betreffen, sorgfältig aufgeklärt werden müssen, um mög-
liche Verfehlungen eindeutig festzustellen und sie konse-
quent ahnden zu können, aber auch, um Vorwürfe, die
sich als unberechtigt erweisen, aus der Welt zu schaffen.
Das sind wir der Bundeswehr schuldig und das ist eine
Verpflichtung, die ich auch als Ergebnis unseres rechts-
staatlichen Verständnisses selbst ansehe.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gleichzeitig möchte ich ausdrücklich feststellen, dass
die KSK und die anderen Soldaten der Bundeswehr im
Einsatz Außerordentliches leisten. Einzelne Vorfälle wie
die im Zusammenhang mit den abstoßenden Bildern, die
heute Morgen zu Beginn der Debatte über das Weißbuch
zu Recht in den Mittelpunkt gerückt worden sind, dürfen
die Bundeswehr nicht in ein falsches Licht rücken. Un-
sere Soldaten machen in Afghanistan und in anderen
Einsatzgebieten einen risikoreichen Job. Wir alle mitein-
ander wissen: Die Bundeswehr ist keine rücksichtslose
Truppe. Im Gegenteil, sie ist – ich glaube, ich darf das
sagen – eine der zivilsten Armeen der Welt ist. Deshalb
hat sie Anspruch auf unser Vertrauen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung hat dem Parlament zugesagt,
künftig offener über die Auslandseinsätze der KSK zu
unterrichten. Ich darf Ihnen versichern: Niemand in der
Bundesregierung will den Abgeordneten die gesetzlich
verankerte Kontrollfunktion nehmen. Es gibt keine
Strategie der Abschottung


(Lachen bei der LINKEN)


– nehmen Sie das bitte ernst –,


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das kann ich nicht ernst nehmen, Herr Steinmeier!)


sondern lediglich besondere Sicherheitsbedürfnisse, auf
die jede Regierung in der Welt Rücksicht nehmen muss.
Ich gestehe Ihnen zu, dass über die Reichweite dieser Si-
cherheitsbedürfnisse im Einzelfall unterschiedliche Auf-
fassungen bestehen, aber diese Sicherheitsbedürfnisse
gibt es.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich baue
auf eine breite Zustimmung für die Verlängerung des
Bundeswehrmandats für weitere zwölf Monate. Das
wäre ein starkes Zeichen für unsere Soldatinnen und Sol-
daten im Auslandseinsatz. Ich bin der Meinung, sie ha-
ben ein solches Zeichen verdient.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606015000

Ich komme an dieser Stelle noch einmal zu Tagesord-

nungspunkt 7 a zurück und gebe das von den Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den
Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur
Europäischen Union bekannt: Abgegebene Stimmen
551. Mit Ja haben gestimmt 529, mit Nein haben zwölf
gestimmt und es gab zehn Enthaltungen. Damit ist der
Gesetzentwurf angenommen.


(Beifall im ganzen Hause)







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 551;
davon

ja: 529
nein: 12
enthalten: 10

Ja

CDU/CSU

Peter Albach
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Carl-Eduard von Bismarck
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Georg Brunnhuber
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Freiherr zu

Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler (Wiesbaden)

Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich

Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers (Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer (Altötting)

Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer (Hamm)

Maria Michalk
Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Carsten Müller


(Braunschweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)

Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)

Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Andreas Schmidt (Mülheim)

Ingo Schmitt (Berlin)

Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Uwe Vogel
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)

Gerald Weiß (Groß-Gerau)

Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer (Neuss)

Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Matthias Wissmann
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)

Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)

Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)

Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)

Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)

Frank Hofmann (Volkach)

Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung (Karlsruhe)

Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)

Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)

Michael Müller (Düsseldorf)

Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)

Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-

Hanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Ortwin Runde
Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Otto Schily
Silvia Schmidt (Eisleben)

Heinz Schmitt (Landau)

Carsten Schneider (Erfurt)

Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz


(Everswinkel)

Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr (Münster)

Uwe Barth
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)

Dr. Edmund Peter Geisen
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Michael Link (Heilbronn)

Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


DIE LINKE

Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dagdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)

Volker Schneider


(Saarbrücken)

Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Birgitt Bender
Matthias Berninger
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Im Ernstfall kann das für die Soldatinnen und Soldaten Deshalb wird die FDP einen Änderungsantrag zumParlamentsbeteiligungsgesetz einbringen, der ein Infor-

das so ist, muss jede Einsat
wogen werden. Es gibt k
Auch wenn es sich, wie jetzt,
Mandats handelt, muss im E
den. Die Bundesregierung m
ment größte Sorgfalt und um
wartet.


(Beifall bei der FDP – Fri DIE GRÜNEN]: M Gerade in diesem Jahr fäll die Verlängerung nicht leich obergrenze um 1 000 auf 1 8 ten abgesenkt, womit die Bu langen Forderung der FDP na eine realistischere Größe anz dings weiß, dass für die Ope derzeit ungefähr 650 Soldati zentscheidung genau abgeeine Routineentscheidung. um die Verlängerung eines inzelfall abgewogen wer uss wissen, dass das Parlafassende Unterrichtung er tz Kuhn [BÜNDNIS 90/ agerer Beifall!)


t uns die Entscheidung über
t. Zwar wird die Mandats-
00 Soldatinnen und Solda-
ndesregierung einer jahre-
chkommt, den Umfang auf
upassen. Wenn man aller-

ration „Enduring Freedom“
nnen und Soldaten im Ein-
regierung normiert und die
Einsätzen immer wieder er
garantiert. Das muss unter e
Hierfür wollen wir einen Au
landseinsätze einrichten, der
schen Kontrollgremium organ

Ich halte es für dringend
ment besser informiert wird.
Sie haben gerade mehr Offen
das Parlament informieren. D
Sie allerdings in dem Antra
Verlängerung des Mandats a
destag werde „entsprechend
richtet, dann ist das Einzig
spricht, die Zusicherung im n
fahren mit den Fraktionsvor
den soll. Denn bisher gilt s
insbesondere bei KSK-
forderliche Geheimhaltung
inen Hut gebracht werden.
sschuss für besondere Aus-
analog zum Parlamentari-
isiert werden soll.

notwendig, dass das Parla-
Herr Minister Steinmeier,
heit angekündigt, wenn Sie
as begrüße ich sehr. Wenn

g der Bundesregierung zur
ngeben, der Deutsche Bun-
bisheriger Praxis“ unter-
e, was zu Ihren Gunsten
ächsten Satz, dass das Ver-
sitzenden abgestimmt wer-
ozusagen ein Gnadenrecht.
auch eine Entscheidung über Leben und Tod sein. Weil mationsrecht des Parlaments gegenüber der Bundes-
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz (Herborn)

Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Thilo Hoppe
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth (Quedlinburg)

Markus Kurth
Monika Lazar
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag

Kerstin Müller (Köln)

Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Josef Philip Winkler

fraktionslos

Gert Winkelmeier

Wir kommen zurück zu unserem jetzigen Tagesord-
nungspunkt und ich erteile der Kollegin Birgit
Homburger, FDP-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1606015100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir beraten hier heute den Antrag der Bundesregierung
über die Fortsetzung des Mandats betreffend die deut-
sche Beteiligung an der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus im Rahmen der Operationen „Enduring
Freedom“ und „Active Endeavour“. Dazu gehören so-
wohl der Einsatz in Afghanistan als auch der Einsatz der
deutschen Marine am Horn von Afrika und die NATO-
Seeüberwachungsaktion „Active Endeavour“ im Mittel-
meer.

Schon in den vergangenen Jahren hat sich die FDP
die Sache bei einer solchen Entscheidung nicht leicht ge-
macht. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen:
Nein

CDU/CSU

Ilse Aigner
Dorothee Bär
Alexander Dobrindt
Maria Eichhorn
Ernst Hinsken
Alois Karl
Dr. Max Lehmer
Marlene Mortler
Henry Nitzsche
Franz Obermeier
Dr. Andreas Scheuer

FDP

Michael Kauch

Enthalten

CDU/CSU
Dr. Peter Jahr

FDP
Angelika Brunkhorst
Patrick Döring
Ina Lenke
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Dr. Claudia Winterstein

DIE LINKE
Karin Binder
Heike Hänsel
Inge Höger-Neuling
Dr. Herbert Schui

satz sind, dann wird klar, dass bei der jetzt im Mandat
vorgesehenen Größenordnung weiß Gott immer noch
genügend Spielraum bleibt, um sich an aktuelle Erfor-
dernisse anzupassen.

Bei dieser Mandatsverlängerung bereiten uns mehrere
Aspekte Bauchschmerzen:

Erstens betrifft das die Kontrolle der KSK-Einsätze.
Herr Minister, ich muss hier sagen: Die Unterrichtung
des Parlaments über diese KSK-Einsätze ist im Augen-
blick völlig unzureichend.


(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es wird immer wieder angeführt, dass die Obleute infor-
miert werden. Ich will hier nichts von dem preisgeben,
was man uns sagt, aber ich sage so viel: Das, was die
Obleute bei diesen Unterrichtungen erfahren, erlaubt
nicht die Kontrolle dieser Einsätze.






(A) (C)



(B) (D)


Birgit Homburger
Die Bundesregierung lässt an dieser Stelle jede Sensibi-
lität im Umgang mit dem Parlament vermissen. Es gibt
aber nicht nur ein Recht des Parlaments auf Information,
sondern auch die Pflicht der Bundesregierung zur Infor-
mation des Parlaments.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweitens betreffen unsere Vorbehalte die im Raum
stehenden Vorwürfe, die Murat Kurnaz gegen das KSK
erhebt. Deswegen hat der Verteidigungsausschuss ges-
tern beschlossen, sich als Untersuchungsausschuss zu
konstituieren. Die Vorwürfe sind nach wie vor ungeklärt
und bedürfen einer schnellen Aufklärung. Solange die
Anschuldigungen nicht bewiesen sind, gilt aber die Un-
schuldsvermutung. Sie gilt auch uneingeschränkt für un-
sere Staatsbürger in Uniform. Deswegen können die
Vorwürfe gegen das KSK allein kein Grund sein, der
Verlängerung des Mandats nicht zuzustimmen. Das
richte ich insbesondere an Herrn Kuhn von den Grünen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Allerdings haben wir konkrete Fragen an die Bundes-
regierung. Es müssen konkrete Vorwürfe und grundsätz-
liche Fragen geklärt werden. Beispielsweise ist immer
noch die Frage offen, ob und, wenn ja, welche Regelun-
gen für die Übergabe möglicher Gefangener deutscher
Herkunft gelten. Das sind strukturelle Fragen, die bis zur
Abstimmung über die Verlängerung des Mandats geklärt
werden können. Die Klärung dieser Fragen erwartet die
FDP-Bundestagsfraktion von der Bundesregierung.

Wenn wir alle Argumente abwägen, dann werden wir
auch zu berücksichtigen haben, dass es einen gewissen
Zusammenhang zwischen der Operation „Enduring
Freedom“ und dem gerade vom Deutschen Bundestag
verlängerten ISAF-Mandat gibt. In diesem Zusammen-
hang stellen sich mehrere Fragen. Es gibt zwar zwei ge-
trennte Mandate, die aber immer mehr Gemeinsamkei-
ten haben. Ich denke zum Beispiel an die Operation
„Medusa“. Zudem erfolgt zum 1. Januar 2007 die Har-
monisierung der Führungsstrukturen. Wie wird die Ent-
wicklung weitergehen? Was plant die Bundesregierung
an dieser Stelle? Beide Fragen stehen in einem Zusam-
menhang. Auch hierüber erwarten wir Auskunft vonsei-
ten der Bundesregierung.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606015200

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1606015300

Ja, Frau Präsidentin.

Wir werden unsere Entscheidung auf der Grundlage
der Beratungen des Auswärtigen Ausschusses und des
Verteidigungsausschusses treffen. Es lohnt sich, unsere
Fragen zu beantworten, Herr Minister Steinmeier und
Herr Minister Jung. Sie müssen allerdings wissen, dass
es bei der Entscheidung der FDP-Bundestagsfraktion
keinen Automatismus geben wird.

(Beifall bei der FDP – Walter Kolbow [SPD]: Den gibt es nirgendwo!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606015400

Das Wort für die Bundesregierung hat der Bundes-

minister Dr. Franz Josef Jung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch hat er nichts gesagt!)


Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi-
gung:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bundesregierung beteiligt sich seit
Ende 2001 an den Operationen „Enduring Freedom“ und
„Active Endeavour“. Das Bundeskabinett hat gestern die
Fortsetzung dieser Einsätze für weitere zwölf Monate
beschlossen.

Der Bundesaußenminister hat aus meiner Sicht zu
Recht darauf hingewiesen, dass die Gefahren des inter-
nationalen Terrorismus keineswegs als gebannt ange-
sehen werden können. Ich denke nur an die im letzten
Moment vereitelten Anschläge auf US-Flugzeuge in
London in diesem Jahr oder an die fehlgeschlagenen
Kofferbombenanschläge hier bei uns in Deutschland.
Das zeigt, dass wir auch weiterhin herausgefordert sind
und deshalb unsere Aufgaben im Kampf gegen den in-
ternationalen Terrorismus wahrnehmen müssen.

Ich will unterstreichen, dass die Bekämpfung des in-
ternationalen Terrorismus nicht primär eine militärische
Aufgabe ist. Vielmehr ist ein Gesamtansatz notwendig.
Dieser Kampf wird sowohl im politischen als auch im
polizeilichen Bereich als auch in anderen Bereichen mit
entsprechenden Mitteln geführt. Aber dort, wo es not-
wendig ist, leisten wir mit dem Einsatz militärischer
Mittel entsprechende Unterstützung.

Es ist notwendig, dass wir auch in Zukunft sowohl die
Operation „Enduring Freedom“ als auch die Operation
„Active Endeavour“ auf angemessene Weise fortsetzen.
Allerdings wird die mandatierte Truppenstärke von
2 800 auf 1 800 Soldatinnen und Soldaten reduziert. Die
Zusammensetzung soll wie folgt aussehen: 1 100 See-
streitkräfte, 100 Spezialkräfte, 200 Unterstützungskräfte,
200 Lufttransportkräfte und 200 Sanitätskräfte. Da die
Obergrenzen in der Vergangenheit nicht ausgeschöpft
wurden, ist es sachgerecht, die Stärken anzupassen. Ziel
und Durchführung des Einsatzes bleiben aber unverän-
dert.

Im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“ sind
derzeit eine Fregatte, ein Versorger und ein Seefernauf-
klärer mit rund 330 Soldaten der Marine am Horn von
Afrika eingesetzt. Auf der Marinelogistikbasis in Dschi-
buti sind weitere 30 Soldaten stationiert. Allein im letz-
ten Jahr wurden mehr als 2 380 Schiffe und Boote abge-
fragt und rund 180 Schiffe genauer überprüft. Dieser
Einsatz soll gewährleisten, dass Terroristen der Zugang
zu Rückzugsgebieten verwehrt wird und dass potenzielle
Verbindungswege abgeschnitten werden. Gleichzeitig






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
wird diese für den Welthandel strategisch wichtige See-
passage vor terroristischen Anschlägen beschützt.

Im Rahmen von „Active Endeavour“ sind wir im
NATO-Marineeinsatz am Kampf gegen den Terrorismus
im Mittelmeer beteiligt. Derzeit befindet sich die Fre-
gatte „Emden“ mit 190 Marinesoldaten dort im Einsatz.
Hier wurden 1 375 Schiffe im letzten Jahr abgefragt.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen
Hinweis geben. Sie wissen, dass dieser Einsatz auf Art. 5
des NATO-Vertrags – Bündnisfall – beruht. Dass sich
aber Russland noch in diesem Jahr an einem derartigen
Einsatz beteiligen wird, zeigt die Fortentwicklung der
Beziehungen zwischen der NATO und Russland. Ich
halte es für einen wichtigen Prozess, dass sich Russland
im Rahmen partnerschaftlicher Beziehungen daran be-
teiligt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir halten des Weiteren einen Airbus vom Typ A 310
und eine Challenger für eine luftgestützte medizinische
Notfallversorgung in Bereitschaft. Diese Kräfte haben
bereits wertvolle Unterstützung bei der Rückführung
verletzter ISAF-Soldaten geleistet. Schließlich umfasst
das Mandat 100 Spezialkräfte für die Beteiligung deut-
scher bewaffneter Kräfte im Kampf gegen den interna-
tionalen Terrorismus. Diese kamen in den vergangenen
Jahren gemeinsam mit amerikanischen, britischen, fran-
zösischen und anderen Partnern in Afghanistan mehr-
fach zum Einsatz.

Da ich mit Verwunderung zur Kenntnis genommen
habe, was der eine oder andere Abgeordnete dieses Par-
laments dazu gesagt hat, möchte ich klarstellen: Derzeit
ist kein einziger KSK-Soldat im Rahmen des OEF-
Mandats im Einsatz.


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wenn ich das vorgestern gesagt hätte, hätte ich Geheimnisverrat begangen!)


Man sollte im Rahmen dieser Debatte mit diesem Thema
sachgerecht umgehen. Ich will zudem darauf hinweisen,
dass wir alle Anstrengungen unternehmen, um den Fall
Kurnaz sachgerecht und rückhaltlos aufzuklären. Es lie-
gen uns Zwischenergebnisse vor und wir werden die Ar-
beit des Verteidigungsausschusses aktiv unterstützen.

Ich möchte hier aber auch unterstreichen, dass man
aus einer solchen Debatte keine falschen Rückschlüsse
im Hinblick auf den Einsatz der Spezialkräfte ziehen
sollte. Unsere Spezialkräfte sind einem Risiko für Leib
und Leben ausgesetzt und oft in einem sehr gefährlichen
Einsatz. Sie tun dies im Interesse unserer Sicherheit und
im Interesse der Sicherheit der deutschen Soldatinnen
und Soldaten. Sie haben deshalb unsere Unterstützung
verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Dies sage ich auch im Hinblick auf den Einsatz in
Afghanistan, der nach dem 11. September 2001 dazu
beigetragen hat, dass Taliban zurückgedrängt und deren
Aktionsräume eingegrenzt worden sind, dass der Peters-
berger Prozess umgesetzt werden konnte und es in Af-
ghanistan wieder eine Verfassung, einen gewählten Prä-
sidenten und ein gewähltes Parlament gibt. Jetzt müssen
wir den Prozess der Stabilisierung und des Wiederauf-
baus auf das gesamte Land ausdehnen. Unsere Soldaten
haben dazu beigetragen, dass im Zusammenhang mit
dem OEF-Mandat die Voraussetzungen dafür geschaffen
worden sind. Das sollte man im Rahmen einer solchen
Debatte ebenfalls nicht vergessen.


(Zurufe von der LINKEN)


Gerade angesichts der angespannten Lage in Afghanis-
tan wäre es aus meiner Sicht leichtfertig, wenn wir die-
ses Mandat nicht wieder verlängern würden und damit
auch in der Öffentlichkeit ein völlig falsches Signal ge-
setzt würde.

Über den Einsatz unserer Spezialkräfte wollen wir
möglichst offen informieren, dabei aber den Schutz und
die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten im
Blick behalten.


(Walter Kolbow [SPD]: Das muss auch sein!)


Wir haben die Obleute des Verteidigungsausschusses in-
formiert und werden morgen die Obleute des Auswärti-
gen Ausschusses unterrichten. Wir haben im Antrag zur
Verlängerung des Mandats ausdrücklich zum Ausdruck
gebracht, dass wir in Übereinstimmung mit den Frak-
tionsvorsitzenden die Frage der künftigen Unterrichtung
festlegen wollen. Ich habe gestern nach dem Beschluss
des Kabinetts die Fraktionsvorsitzenden zu einem Ge-
spräch eingeladen, um über ein klares Verfahren zu spre-
chen, das sicherstellt, dass die Information des Parla-
ments objektiv und gut gewährleistet ist, aber auch der
Schutz und die Sicherheit unserer Soldatinnen und Sol-
daten im Auge behalten werden.

Es ist wichtig und notwendig, dass wir dieses Mandat
um zwölf Monate verlängern. Wenn wir Krisen und
Konflikten rechtzeitig dort begegnen, wo sie entstehen,
dann dient dies dem Schutz und der Sicherheit unserer
Bürgerinnen und Bürger. Deshalb bitte ich darum, dass
Sie einer solchen Mandatsverlängerung zustimmen. Im
Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger
ist es notwendig und wichtig, dass sich Deutschland wei-
terhin am Kampf gegen den Terrorismus aktiv beteiligt.
Deshalb bitte ich Sie um ein überzeugendes Votum für
die Verlängerung dieses Mandats.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606015500

Monika Knoche hat das Wort für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606015600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und

Damen! Ich will es ohne Umschweife sagen: Die Posi-
tion der Linken zu dem Antrag der Regierung ist: Die
Teilnahme am Krieg gegen Terror ist ein Fehler deut-
scher Außen- und Sicherheitspolitik.






(A) (C)



(B) (D)


Monika Knoche

(Beifall bei der LINKEN)


Nach dem 11. September 2001 hatten sich die PDS, eine
SPD-Frau und acht grüne Abgeordnete als Minderheit
dieser militärischen Antwort auf die politische Frage,
wie mit dem Terror umzugehen ist, verweigert. Nach
fünf Jahren Operation „Enduring Freedom“ und ISAF
sowie indirekter Unterstützung des Irakkriegs haben wir
nichts davon zurückzunehmen.

Jetzt sind die unerträglichen Vorgänge, der Fall Murat
Kurnaz und die Totenschändung in Afghanistan, bekannt
geworden. Die Totenkopfspiele der Soldaten – es fällt
mir schwer, mir dieses Bild vor Augen zu führen – und
die sexualisierte Gewaltinszenierung mit entblößtem
Glied zeugen von einem Wesen der Gewalt, das männ-
lichkeitskultischen Ritualen folgt. Sie werden von Ge-
walttaten in Abu Ghureib übertroffen. Eines aber sind
sie vor allem nicht: Ausnahmen. Es ist das Training zum
Töten, das diese Herabwürdigungen hervorbringt.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der SPD)


Niemand soll die Tatsache verharmlosen, dass Ge-
walt, sexuelle Gewalt, Folter und andere Perversionen
zum Wesen der Kriege gehören.


(Beifall bei der LINKEN)


Frauen des Friedens sprechen schon immer diese unge-
liebten Wahrheiten aus. Krieg entzivilisiert die Kriegfüh-
renden mitunter stärker, als ihnen bewusst ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist vollkommen ungenügend und zeugt von geringer
interkultureller Kompetenz – übrigens auch in Bezug auf
die eigene Kultur –, wenn jetzt ob der bekannt geworde-
nen Gräuel Bestrafung und Verachtung gegenüber den
Soldaten ausgesprochen wird, aber keinerlei Nachden-
ken darüber zu vermerken ist, dass Soldaten darauf ge-
drillt werden, die natürliche Hemmschwelle in Bezug
auf Gewalt zu überwinden.


(Beifall bei der LINKEN)


Täglich ist in Afghanistan das Töten Realität. Das ist
der Alltag in Afghanistan und das ist der eigentlich zu
verurteilende Skandal. Das Gegenüber nicht mehr als
Mensch, als zu achtende Person zu betrachten, ist die
Voraussetzung dafür, töten zu können. Entgleisungen
sind die logische Konsequenz. In allen Kriegen und in
allen Armeen ist Gewalt gegen die Niederen an der Ta-
gesordnung. Die Decke der Zivilisation ist auch bei uns
ein dünnes Eis.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Von solchem Nachdenken ist die antimilitaristische Frie-
denspolitik geprägt.

All jene, die Männer und Frauen als Soldaten in
Kriege schicken, tragen Verantwortung für diese Struk-
turen. Eines sollte allen klar sein: Die deutschen Solda-
ten in Afghanistan sind keine Sozialarbeiter in Uniform.
Wer heute die Fortdauer der OEF beschließt, sollte sich
auch diesen Kontext klar machen.
Ich meine damit insbesondere das KSK. Seit Rot-
Grün in Verknüpfung mit der Vertrauensfrage den Af-
ghanistaneinsatz beschlossen hat, ist die geheime Ar-
meeeinheit KSK im Einsatz. Seither wissen wir nicht,
was sie so treibt, um unsere Freiheit am Hindukusch zu
verteidigen. Sie ist mit den US-Eliteeinheiten verbunden
– womöglich den Special Forces –, die nicht zu packen
sind, weil sie die Hüte von Polizei, Zivil und Militär
wechseln. Wir wissen nichts darüber, ob das KSK an
Entführungen, an Folter oder gar an gezielten Tötungen
beteiligt ist. Was bitte am KSK trägt noch dem Anspruch
an eine Parlamentsarmee Rechnung?


(Beifall bei der LINKEN)


Sein Auftrag ist es, Führungs- und Ausbildungseinrich-
tungen von Terroristen auszuschalten. Der Fall des
Herrn Murat Kurnaz könnte exemplarisch dafür stehen,
wie wenig der rot-grünen Regierung seine Freiheit wert
war.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Falle der ISAF ist eine Parlamentsarmee im Ein-
satz. Vom KSK hat noch nicht einmal der Untersu-
chungsausschuss des Parlaments genaue Kenntnis. Die
Kurnaz-Vorgänge müssten auch dem damaligen Head-
quarter der deutschen Geheimdienste – und somit Ihnen,
Herr Außenminister Steinmeier – bekannt sein. Wir wer-
den sehen, was der Untersuchungsausschuss ans Tages-
licht bringt.

Wenn Grüne heute Aufklärung fordern, dann ist das
nichts weiter – ich kenne die Damen und Herren der
Grünen gut –


(Beifall bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir kennen Sie aber kaum! Und das ist auch gut so!)


als Heuchelei. Die Demütigung des Bürgers Murat
Kurnaz ist das eine. Das andere ist die Demütigung der
afghanischen Bevölkerung. In diesem Zusammenhang
möchte ich sagen: Der Clash of Civilizations wird immer
wieder als Gefahr beschworen. Welchen Anteil hat der
Krieg gegen Afghanistan, der Krieg gegen den Terror an
der Unvereinbarkeit der Kulturen?


(Beifall bei der LINKEN)


Wer sollen in diesem Krieg die Sieger sein? Führt er zu
einem Ende der Terrorangriffe? Wie lange soll der
NATO-Beistandsfall überhaupt noch dauern?

Zu fragen ist außerdem: Ist die OEF-Tätigkeit von der
ISAF-Tätigkeit zu trennen, seit die ehemaligen Schutz-
truppen Karzais im ganzen Land operieren können? Ist
das KSK der Preis, den Deutschland dafür zahlt, im Irak
nicht mit von der Partie zu sein? Das sind viele Fragen
und brandheiße Themen; aber es gibt in diesem Zusam-
menhang nur eisiges Schweigen.

Heute will die neue Regierung die Zustimmung zu ei-
ner zwölfmonatigen Verlängerung der deutschen Beteili-
gung an der OEF, die – nebenbei bemerkt – 75 Millionen
Euro kosten soll. Sie begründet das mit fortzusetzenden
Bemühungen im Osten und Süden im Kampf gegen die






(A) (C)



(B) (D)


Monika Knoche
Taliban, die al-Qaida und Hekmatjar sowie mit der Stär-
kung der Zentralregierung.

Ich hatte im September hier die Gelegenheit, über die
Rolle der Drogenbarone und der Warlords in der afgha-
nischen Regierung zu sprechen. Heute stellen wir als
Linksfraktion in unserem Entschließungsantrag fest: Die
Bundesregierung kann die Vorwürfe nicht entkräften,
wonach deutsche Streitkräfte unter OEF-Mandat an
schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt sein
könnten.

Die bekannten Anschläge nach dem 11. September
waren allesamt nicht zentral gesteuert. Sie konnten nicht
mit militärischen Mitteln vermieden werden.

Die Gegnerinnen und Gegner der Militäreinsätze sa-
gen: Terror ist nicht mit Krieg zu bekämpfen. Sie sagen
auch: Ewig kann dieser Zustand nicht dauern.


(Beifall bei der LINKEN)


Letzten Monat wurde hier argumentiert, die NATO dürfe
diesen Kampf nicht verlieren. Ich kann sagen: Moralisch
hat sie ihn längst verloren.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn jetzt keine Exitstrategie entwickelt wird, machen
sich die Verweigerer eines vernünftigen Rückzugs an
dem von mir schon angesprochenen Clash of Civiliza-
tions mitschuldig.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606015700

Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Ende.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606015800

Lassen Sie uns verantwortungsgeleitete Antworten

aus dem Parlament hervorbringen und beenden Sie die-
sen Einsatz!


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606015900

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege

Winfried Nachtwei.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606016000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin Knoche, nur diese Bemerkung: Sie haben
wieder eine Rede von hindukuschhoher Pauschalität ge-
halten.


(Widerspruch bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)


Meine weitere Redezeit soll meiner Argumentation in
Bezug auf das zu verlängernde Mandat vorbehalten blei-
ben.

Zum inzwischen sechsten Mal haben wir zu entschei-
den, ob eine deutsche Beteiligung an der Operation
„Enduring Freedom“ sicherheitspolitisch dringlich, von
den Wirkungen her zweckmäßig und insgesamt verant-
wortlich ist. Unbeschadet dieser Einzelfallprüfung bleibt
unsere grundsätzliche Position:
Erstens. Die Bedrohung durch den internationalen
Terrorismus ist keineswegs verschwunden. Im Gegen-
teil, es besteht kein Grund zur Beruhigung, sondern eher
zur Beunruhigung.

Zweitens. Selbstverständlich muss vorrangig mit poli-
tischen, polizeilichen, geheimdienstlichen und entwick-
lungspolitischen Mitteln gegen den internationalen Ter-
rorismus vorgegangen werden. Es sind aber auch – das
ist die Erfahrung von Afghanistan – militärische Mittel
notwendig, vor allem stabilisierende, zum Teil aber auch
direkte, also bekämpfende.

Drittens. Der deutsche Beitrag im Rahmen von
„Enduring Freedom“ war von vornherein sehr zurück-
haltend. Er war in der Realität viel zurückhaltender, als
es die großen Worte von einer Beteiligung an einer mili-
tärischen Bekämpfung des Terrorismus, die man immer
wieder hören konnte, glauben machen wollten.

Viertens. Die Vorstellung von einem Krieg gegen den
Terrorismus ist ein Irrweg. Das hat die Realität der letz-
ten Jahre überdeutlich gezeigt.

Zunächst zu dem Teilauftrag der Marineschiffe am
Horn von Afrika. Vor kurzem waren wir vor Ort. Da hat
sich die Realität dieses Auftrages sehr deutlich gezeigt:
In Wirklichkeit geht es nämlich immer weniger darum,
die Bewegungsfreiheit mutmaßlicher Terroristen zu be-
grenzen. Immer mehr geht es schlichtweg darum, in ei-
ner gefährlichen Umgebung für Sicherheit auf vitalen
Seewegen zu sorgen.

Die Schlussfolgerung ist: Das Mandat ist offensicht-
lich nicht mehr auf der Höhe des jetzigen Auftrages.
Dies ist – das muss man eindeutig sagen – verfassungs-
rechtlich problematisch. Davon unabhängig stelle ich al-
lerdings fest, dass die Soldatinnen und Soldaten, die dort
unter strapaziösesten Umständen ihren Einsatz leisten
– das haben wir selbst vor Ort gesehen –, nicht links lie-
gen gelassen werden sollten, sondern unsere Aufmerk-
samkeit und unseren Dank verdienen.

Nun zum Teilauftrag in Afghanistan. Vor fünf Wo-
chen – Sie erinnern sich noch – waren 14 afghanische
Parlamentarierinnen zu Besuch im Bundestag. Ihre Bot-
schaft war eindeutig: Erstens. ISAF muss unbedingt in
Afghanistan bleiben; sonst ist alles – auch für uns – ver-
loren. Zweitens. Die internationale Gemeinschaft muss
verschiedene Punkte ihrer Politik grundsätzlich ändern.

Unsere Fraktion hat dem ISAF-Mandat gerade auf-
grund der jetzigen problematischen und bedrohlichen Si-
tuation vor vier Wochen mit großer Mehrheit zuge-
stimmt. Auch hier ist festzustellen: Das, was KSK-
Soldaten dabei machen, ist – kein Zweifel – sehr not-
wendig und hilfreich. Davon zu unterscheiden ist die
Teilnahme an der Operation „Enduring Freedom“ in Af-
ghanistan mit bis zu 100 Spezialsoldaten, von denen seit
ungefähr zwölf Monaten – es wurde schon gesagt – kei-
ner mehr im Einsatz ist.

Als wir diese Entscheidung vor einem Jahr zu treffen
hatten, sind wir eindeutig der Auffassung gewesen – ich
habe das ebenfalls so begründet –, dass ISAF ohne die
Rückendeckung der OEF nicht haltbar wäre. Jetzt






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Nachtwei
müssen wir aber sehen, dass sich die Lage in diesem Jahr
erheblich geändert hat:

Erstens. ISAF ist viel stärker geworden. Ihr Einsatz-
gebiet hat sich nicht nur im Norden, sondern auch im
Westen, Süden und Osten ausgeweitet und die Rolle der
OEF kleiner werden lassen.

Zweitens. Aus politischen und zivilen Quellen sowie
von Bundeswehrsoldaten aus Afghanistan bekommen
wir immer mehr glaubwürdige Hinweise, dass die Ope-
ration „Enduring Freedom“ vor Ort einen immer schlim-
meren Ruf hat. Man erhebt nämlich den Vorwurf, dass
sie durch die Art und Weise der Operationsführung viel
mehr zu einer Hass- und Gewaltspirale beitrage als zu ei-
ner wirksamen Terrorbekämpfung. Ähnliches besagen
zum Beispiel Feldstudien von Senlis Council aus Lon-
don zu den Südprovinzen. All das deutet darauf hin, dass
die Art und Weise des Vorgehens der OEF ISAF auf der
politisch-psychologischen Ebene mehr schadet als ope-
rativ nutzt.

Das Problem der zunehmend kontraproduktiven Wir-
kung der OEF haben wir gegenüber der Bundesregie-
rung vielfach angesprochen, zum Beispiel in einem Brief
von Jürgen Trittin und mir vom 5. September an die zu-
ständigen Minister, auf den wir bisher noch keine Ant-
wort bekommen haben; wie ich weiß, haben einzelne
Ministerien lediglich Beiträge zu einer solchen Antwort
geliefert. In diesem Brief haben wir eine Bilanzierung
und kritische Bewertung der Gesamtoperation „Endu-
ring Freedom“ gefordert. Diese Forderung ist ebenfalls
in unserem in den Bundestag eingebrachten Antrag ent-
halten.

Seit einem Jahr gibt es seitens der Bundesregierung
– das ist besonders bemerkenswert – keinen bilanzieren-
den Gesamtbericht mehr zur Operation „Enduring Free-
dom“, den sie dem Deutschen Bundestag am 14. No-
vember 2001 per Protokollnotiz zugesagt hat. Die
Bundesregierung hat diese Pflicht gegenüber dem Parla-
ment seit zwölf Monaten nicht mehr erfüllt.

Ein letzter Punkt zur Lageveränderung. Damit die
Bundeswehrsoldaten keine Beihilfe im Hinblick auf
Guantanamo leisten, waren ihre Einsatzmöglichkeiten
in den letzten Jahren von vornherein beschränkt. Mit der
Verabschiedung des Military Commissions Act durch
den US-Kongress wurde der freihändige Umgang mit
der Genfer Konvention legalisiert. Das bedeutet zum
Beispiel die Legalisierung von folterähnlichen Verhör-
methoden. Dass deutsche Soldaten hierzu weder direkt
noch indirekt beitragen dürfen, ist für uns alle eine
Selbstverständlichkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Fraktion ist zwar in einem intensiven Diskus-
sionsprozess; aber die Skepsis ist sehr groß. Als sicher-
heitspolitischer Sprecher meiner Fraktion habe ich ihr
nach reiflicher Prüfung viermal die Zustimmung zur
deutschen Teilnahme an der Operation „Enduring Free-
dom“ empfohlen. Nach meinem heutigen Kenntnisstand
kann ich meiner Fraktion eine Zustimmung nicht mehr
empfehlen. Ich halte die Art und Weise des Vorgehens
der OEF in Afghanistan für kontraproduktiv und die
deutsche Beteiligung daran für nicht mehr verantwort-
bar.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606016100

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Jörn

Thießen.


Jörn Thießen (SPD):
Rede ID: ID1606016200

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!

Vor fast einem Jahr, am 8. November 2005, haben wir in
diesem Hause eine sehr ernste Debatte über die Fortset-
zung der Operationen „Enduring Freedom“ und „Active
Endeavour“ geführt. Das, was wir vor einem Jahr im
Protokoll noch nachlesen konnten, war eine Lehrstunde
dafür, dass unser Land über die politischen Grenzen hin-
weg seine Verantwortung auf diesem Gebiet ernst
nimmt.

Niemand von uns winkt Veränderungen, Verlängerun-
gen oder neue Mandate unserer Streitkräfte leichtfertig
durch. Wenn es um die Androhung und mögliche An-
wendung militärischen Zwanges geht, steht für uns alle
die Bewahrung von Menschenleben und die Eindäm-
mung von Gewalt und Krieg zur Debatte. Alles andere
ist Unterstellung. Denn das, was wir hier verlängern,
darf nicht mit Routine geschehen; es muss stets mehr als
Routine sein.

Der damalige Bundesminister Struck stellte in der De-
batte fest:

Militärisches Handeln ist nicht die erste Option. Vor
den Soldatinnen und Soldaten sind die Diplomaten,
Entwicklungshelfer …, Menschenrechtler, die Welt-
bank und andere Institutionen gefordert, gegen die
Ursachen von Terrorismus zu kämpfen.

Dies ist die Maxime unseres Handelns und in allen
Debatten über die deutsche und europäische Sicherheits-
strategie wird dies auch immer unsere Maxime bleiben.


(Beifall bei der SPD)


Wir wissen, dass sich kein Terrorismus auf dieser
Erde mit kriegerischen Mitteln besiegen lässt. Ohne An-
gebote von Frieden und besserer Entwicklung erzeugt
jede Gewalt stets Gegengewalt. Um aus diesem Teufels-
kreis herauszukommen, ist in jedem einzelnen Fall eine
große Kraftanstrengung notwendig; denn es kostet im-
mer Ideen und Geld. Das kann auch den Einsatz von
Leib und Leben bedeuten. Es ist aber die Verantwortung
der Demokratien, sich an der Bekämpfung dieses Welt-
übels aktiv zu beteiligen.

Die Vielzahl der deutschen Beiträge zur Bekämp-
fung des Terrorismus und zum Aufbau stabiler demokra-
tischer Strukturen haben ein breites Spektrum vor Au-
gen: von der Analyse über die Bekämpfung der
Ursachen bis zur direkten Abwehr von Gefahren. Unser
Ansatz ist politisch und umfassend. Wir ringen um die






(A) (C)



(B) (D)


Jörn Thießen
besten Konzepte für diesen Frieden – in Deutschland
und mit unseren Verbündeten. Wer uns etwas anderes
unterstellt, ist schlichtweg auf dem Holzweg.

Die Realität der Welt, in der wir leben und unsere
Kinder aufziehen, lehrt uns bitter und leider auch auf
blutigen Wegen, dass es Personen und Pläne gibt, die
ohne militärische Mittel nicht in ihrem menschenverach-
tenden Tun zu stoppen sind. Es wird aber keinem Terro-
risten gelingen, diese Welt auch nur ein Gran friedlicher
oder menschlicher zu machen. Wer sich bei einem sol-
chen Tun hinter Ideologien oder Religionen versteckt,
spricht der Menschlichkeit und der Religiosität Hohn –
wo auch immer dies gelehrt und verantwortet wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutschland beteiligt sich an den Operationen „Endu-
ring Freedom“ und „Active Endeavour“ nicht pauschal,
nicht uneingeschränkt und nicht ohne ständige Überprü-
fung. Schon deshalb reduzieren wir das Mandat bezüg-
lich der Obergrenze um 1 000 Mann. Wir handeln prä-
zise und zurückhaltend und mit klarer rechtsstaatlicher
Begrenzung. Das wissen die Menschen hier in diesem
Land und in den Einsatzgebieten. Darin liegt die hohe
Reputation der Bundeswehr ebenso wie unsere beson-
dere Verantwortung.

Diese Reputation werden wir auch gegen diejenigen
verteidigen, die mit ihrem persönlichen Fehlverhalten
auf skandalöse Weise unsere Werte, die Werte anderer
Kulturen und ihre eigenen Kameradinnen und Kamera-
den diskreditieren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Von Zeit zu Zeit muss die Reputation unserer Streit-
kräfte auch gegen Stimmen im Inland verteidigt werden.
Ich rate dringend davon ab, pauschal von Verrohungen
deutscher Soldaten zu sprechen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Ihr Beitrag, Frau Kollegin Knoche, ist ein tieftrauri-
ger Beweis dafür, wie man Menschen diffamieren kann.
Er ist so falsch, dass noch nicht einmal das Gegenteil
richtig ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Monika Knoche [DIE LINKE]: Sie haben nichts verstanden!)


Es wäre schön, wenn Sie sich persönlich von diesem
Platz aus vor den 200 000 Soldatinnen und Soldaten da-
für rechtfertigen würden.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Monika Knoche [DIE LINKE]: Reden Sie doch keinen Unfug!)


Wir votieren für eine Fortsetzung des Mandats für die
Operation „Enduring Freedom“. Ohne das von so vielen
Nationen getragene Engagement könnten – Gott sei es
geklagt – viele andere zivile Hilfen in Afghanistan nicht
geleistet werden. Das gilt auch für die Arbeit zahlreicher
NGOs. Das mag manchen nicht in ihren ideologischen
Kram passen, ist aber die bittere Wahrheit.

Zu dieser Wahrheit gehört auch, dass sich seit No-
vember des vergangenen Jahres die Situation in Afgha-
nistan dramatisch verändert hat. Das Land ist auf dem
Weg zu einem stabilen und sich selbst tragenden Frie-
den, den wir alle ihm wünschen, nicht so vorangekom-
men, wie wir es wünschen. Im Gegenteil: Die Lage ist
weder ruhig noch stabil. Die tägliche Bedrohung beglei-
tet die einheimische Bevölkerung sowie Soldatinnen und
Soldaten.

Afghanistan, so sagen viele, sei am Scheideweg. Die
kommenden Monate bringen nicht nur eine Entschei-
dung über die Zukunft dieses Landes – wir müssen an ei-
ner positiven Entwicklung mitwirken –; in diesen Mona-
ten kann auch die Zukunft des NATO-Bündnisses zur
Debatte stehen. Scheitert Afghanistan, ist das auch für
die NATO ein schwerer Rückschlag, der uns viele Jahre
zurückwerfen wird.

Wir werden die Operation „Enduring Freedom“ fort-
setzen müssen. Lieber Kollege Nachtwei, bringen Sie Ihr
Herz über die Hürde! Ein Abbruch jetzt wäre nur schwer
zu verantworten. Wir werden aber die Teiloperation am
Horn von Afrika weiterentwickeln müssen. Wir fragen
uns: Was haben wir erreicht? Welche Kräfte sind nötig,
um diese Aktion nachhaltig zu sichern? Es wäre einer
Überlegung wert, ob sich in Zukunft nicht die Nachbarn
und Anlieger dieser Region stärker engagieren als bis-
her.

In Afghanistan wäre der Rückzug internationaler
Truppen und auch der OEF das falsche Signal. Wir wer-
den aber die Rolle der Spezialkräfte stärker beleuchten
als in der Vergangenheit; der Bundesminister hat dazu
Angebote gemacht.

Dabei geht es zum einen um die Aufklärung mögli-
chen Fehlverhaltens der KSK. Der Untersuchungsaus-
schuss ist dazu der richtige Weg. Wir wollen alle offenen
Fragen ohne Ansehen der Person klären und wir wollen
all diejenigen schützen, die sich an Recht und Gesetz ge-
halten haben. Bisher wissen wir zu wenig, um zu einem
fundierten Urteil zu kommen.

Zum anderen stellt sich die Frage nach einem erwei-
terten parlamentarischen Kontrollverfahren für das
KSK. Wir müssen als Parlamentarierinnen und Parla-
mentarier sicher sein, dass unter all den Vorschriften der
Geheimhaltung nicht unsere zentrale Funktion auf
diesem Gebiet leidet, nämlich die Kontrolle auch der
Spezialkräfte der Bundeswehr uneingeschränkt zu ga-
rantieren. Es ist an der Zeit, einen klaren Schritt voran-
zukommen. Wir sind für Ihre diesbezüglichen Angebote
offen und freuen uns darauf.

Unser ziviles und militärisches Engagement in Af-
ghanistan ist ein Zeichen für Offenheit und Kommunika-
tion, ein Angebot für die Hilfe zum Aufbau einer Zivil-
gesellschaft. Wir hören und lesen fast täglich, dass
dieses Ziel gefährdet ist. Umso nötiger ist eine wach-
same und dauerhafte Überprüfung dieses Einsatzes. Dies
versuchen wir mit aller Kraft zu gewährleisten – im






(A) (C)



(B) (D)


Jörn Thießen
Sinne der dort eingesetzten deutschen und international
gestellten Soldatinnen und Soldaten und nicht zuletzt im
Sinne all derer, denen am Frieden gelegen ist.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606016300

Das Wort hat Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion.


Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1606016400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Erstens. Die FDP-Fraktion wird in der nächsten Sit-
zungswoche aufgrund der Beratungen, die wir in den
Ausschüssen haben werden, und der Unterrichtung, die
wir noch erhalten werden, verantwortungsbewusst eine
Entscheidung treffen. Es ist uns klar, dass man Elemente
von OEF sehr kontrovers diskutieren kann. Wir werden
am Ende gezwungen sein, komplett abzustimmen, und
müssen uns überlegen, ob Bedenken hinsichtlich eines
Teils möglicherweise eine Gesamtablehnung rechtferti-
gen können. Das ist eine schwierige Frage. Wir gehen
offen in die Beratungen hinein und sind uns unserer Ver-
antwortung auch bündnispolitisch voll bewusst.


(Beifall bei der FDP)


Zweitens. Auch noch so schlimme Fotos, wie wir sie
in den letzten Tagen gesehen haben, bringen mich nicht
von einem urfreiheitlichen, rechtsstaatlichen Prinzip ab,
nämlich dass die Unschuldsvermutung greift. Das gilt
auch für jeden einzelnen Soldaten, ob bei ISAF oder
KSK. Insofern verwahre ich mich gegen jede hier geäu-
ßerte Generalverdächtigung, die möglicherweise Zigtau-
sende von Bundeswehrsoldaten betrifft, die dies gerade
angesichts der Schwierigkeit ihres Auftrags nicht ver-
dient haben.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen müssen wir Aufklärung und – ich komme zu
der Frage zurück, die uns jetzt vorrangig beschäftigt –
Informationen über das, was tatsächlich passiert ist, er-
halten. Ich bin stellvertretender Fraktionsvorsitzender
der FDP und ihr außenpolitischer Sprecher, erfahre aber
seit 13 Monaten gar nichts über das KSK. Auf dieser Ba-
sis kann ich meiner Fraktion keine Empfehlung geben.
Ab morgen wird das besser. Ich freue mich, dass Minis-
ter Jung gesagt hat, dass die Formulierung im Mandats-
antrag, nach der der Bundestag „entsprechend bisheriger
Praxis“ unterrichtet werden soll, nicht ganz ernst zu neh-
men sei. Wir würden das geradezu als Bedrohung emp-
finden.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das regelt der nächste Satz! Sie haben einen Satz vergessen!)


Es wird also richtig und intensiv informiert.

Ich möchte mich auf einen Punkt beschränken, an
dem wir, das Parlament, diejenigen, die die Verantwor-
tung für die Entsendung von Soldaten tragen, wirklich
nachbohren müssen. Wir gehen nicht mit einem General-
verdacht auf die Soldaten los. Vielmehr fragen wir
umgekehrt: Geben wir unseren Soldaten nicht nur hinrei-
chende Waffen und Einsatzregeln, sondern auch hinrei-
chende rechtliche Grundlagen mit auf den Weg? Da-
rüber möchte ich informiert werden; denn das ist eine
wichtige Sache. Manchmal frage ich mich, wie KSK-
Soldaten eigentlich angesichts der gegebenen rechtli-
chen Bedingungen ihren Auftrag erfüllen können. Darü-
ber muss ich mehr erfahren. Ich hoffe, dass ich morgen
darüber aufgeklärt werde.

Die Einsatzregeln, die Handlungsrichtlinien sind mit
Verwaltungsanordnungen vergleichbar. Sie sind weder
geeignet noch bestimmt, die Rechtsbindung der Soldaten
und die Rechte der Festgenommenen gemäß Grundge-
setz und Völkerrecht zu beschränken. Sollten also Fest-
nahmen jenseits militärischer Notwendigkeiten, etwa
zum Zwecke der Verbrechensbekämpfung, erfolgen oder
aufrechterhalten werden, müssen die einschlägigen
Rechte der Festgenommenen, die sich aus der Men-
schenrechtskonvention und der Bindung aller deutschen
Staatsgewalt an die Grundrechte ergeben, beachtet wer-
den. Derartige Festnahmen bewegen sich grundsätzlich
außerhalb des militärischen Aufgabenbereichs und be-
dürfen deswegen besonderer Aufmerksamkeit.

Die einschlägigen Bundestagsmandate schaffen aus-
schließlich die rechtliche Grundlage für den militärisch-
operativen Einsatz, nicht aber für darüber hinausge-
hende, anders motivierte Festnahmen. Deswegen sollte
der Bundestag, wenn es im Bereich nicht ausschließlich
militärisch motivierter Festnahmen etwas zu berichten
gibt, informiert werden.


(Beifall bei der FDP)


Sollte die Unterstützung anderer Nationen bei der
Festsetzung von Personen jenseits militärischer Notwen-
digkeiten zur Verletzung von deren Rechten führen, be-
steht sowohl parlamentarische, innerstaatliche als auch
völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Bundesregie-
rung. Nun eine theoretische Überlegung – wir müssen
uns damit befassen –: Würde durch deutsche Mitwir-
kung zum Beispiel Folter ermöglicht, dann könnte der
Hinweis, dass „das weitere Verfahren diesen Nationen“
obliegt, an der deutschen Mitverantwortung dafür nichts
ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen müssen diese Fragen geklärt werden.

Es geht nicht darum, irgendjemanden unter Verdacht
zu stellen, sondern darum, uns zu vergewissern, ob wir
eine ausreichende Rechtsgrundlage bieten. Wir wollen
diesem Mandat nämlich mit gutem Gewissen zustim-
men. Wir wollen, dass unsere Soldaten wissen, dass sie
auf einer sauberen rechtlichen Grundlage agieren. Da-
rum geht es der FDP.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606016500

Das Wort hat der Kollege Karl-Theodor Freiherr zu

Guttenberg für die CDU/CSU-Fraktion.


(CDU/ CSU)


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Nachtwei, ich weiß, dass Sie mit
sich ringen; Sie haben es deutlich gemacht. Wenn man
allerdings Ihre Rede vom vergangenen Jahr neben Ihre
Worte von heute legt, so stellt man einen bemerkenswer-
ten Sinneswandel fest.

Frau Knoche, ich hatte den Eindruck, dass die Rede
Ihres Kollegen Lafontaine letztes Jahr der Tiefpunkt au-
ßen- und sicherheitspolitischen Verständnisses war. Was
Sie heute draufgesetzt haben, spottet jeder Beschrei-
bung.


(Monika Knoche [DIE LINKE]: Heute war es feministisch! Das haben Sie nicht begriffen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606016600

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Maurer zulassen?


(CDU/ CSU)


Sehr gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606016700

Bitte schön.


Ulrich Maurer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606016800

Herr Kollege, kennen Sie die Presseerklärung der

CDU/CSU-Abgeordneten Gauweiler und Willy
Wimmer? Teilen Sie meine Auffassung, dass darin ein
bemerkenswerter Sinneswandel zum Ausdruck kommt?


(Lachen bei der CDU/CSU – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die waren schon immer dagegen! – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



(CDU/ CSU)


Sehr verehrter Herr Kollege, bei dem einen oder an-
deren tut man sich schwer, überhaupt einen Sinnes-
wandel festzustellen. Die Analogie, die Sie hier ziehen
wollen, ist wirklich an den Haaren herbeigezogen. Von
einem möglichen Sinneswandel auf unsere Haltung zu
schließen, ist schlichtweg absurd. Aber herzlichen Dank
für die Nachfrage.

Meine Damen und Herren, die Debatte über die Ver-
längerung der Operation „Enduring Freedom“ wird – das
ist durchaus richtig, Frau Knoche – von den abscheuli-
chen Taten überschattet, die wir in den letzten beiden Ta-
gen der Presse entnehmen durften und mussten. Die
CDU/CSU verurteilt diese Fälle auf das Schärfste.
Gleichzeitig aber – vielleicht ist das der Punkt, den Sie
noch ansprechen wollen, Frau Knoche – ist mit Nach-
druck jeder Unterton zu vermeiden, der unsere Soldaten
unter Generalverdacht stellt. Sie haben vorhin davon
gesprochen, dass es sich hier um keine Ausnahmen han-
deln würde. Das ist schlichtweg eine Beleidigung jedes
einzelnen Soldaten, der für unser Land Dienst tut, Frau
Knoche.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606016900

Möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Knoche

zulassen, Herr Guttenberg?


(CDU/ CSU)


Frau Knoche, bitte.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606017000

Ich habe eigentlich damit gerechnet, dass Sie in Ihren

Unterstellungen noch tiefer greifen und noch bodenloser
werden als Ihr Vorredner. Sie haben mir Recht gegeben.
Ich will Ihnen nur sagen,


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Frage!)


an was mich dieses Auftreten erinnert, und will von Ih-
nen wissen, ob Sie den Kontext kennen, von dem ich
spreche. Ich bin seit fast 30 Jahren Politikerin. Es hat
eine feministische Bewegung gegeben, in der wir die
häusliche Gewalt und die sexuelle Gewalt von Vätern an
ihren Töchtern thematisiert haben.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Was hat denn das mit den Soldaten zu tun?)


Zu dem damaligen Zeitpunkt war es üblich, dass alle
CDU/CSU-Politiker einhellig geschrieen haben: Wie
kann man die Familie so diffamieren! – Heute wissen
alle, dass es ein strukturelles Gewaltverhältnis in den
Ehen und Familien gibt.


(Walter Kolbow [SPD]: Das ist ja wohl nicht wahr!)


Das ist heute allgemeines Bewusstsein.

Dann gibt es noch eine andere feministische Debatte,
und zwar über die kulturelle Zurichtung des Mannes
durch das Militär. Diese Debatte scheinen Sie niemals
mitbekommen zu haben. Sie haben mit dem, was Sie
heute hier geliefert haben, ein großes intellektuelles De-
fizit offenbart.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Das war ja peinlich!)



(CDU/ CSU)


Mein intellektueller Spielraum reicht zumindest so
weit, den Unterschied zwischen Frage und Aussage zu
überblicken, verehrte Frau Knoche. – Das ist das Erste.






(A) (C)



(B) (D)


Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Zum Zweiten kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben
Ihre Aussage von vorhin nicht besser gemacht.


(Monika Knoche [DIE LINKE]: Ich habe überhaupt nichts zu revidieren!)


Sie haben im Grunde den Generalverdacht, den Sie über
unsere Soldaten gelegt haben, mit dieser Aussage noch
einmal verstärkt. Wenn diese Debatte, die an sich von
hoher Verantwortung geprägt sein sollte, dieses Niveau
haben soll, dann müssen wir wirklich andere Maßstäbe
anlegen.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Bei Wortmeldungen von Frau Knoche von „Niveau“ zu reden, verbietet sich! Da ist kein Niveau!)


Wir wollen diese Maßstäbe nicht. Wenn Sie sie suchen –
bitte sehr. Aber wir legen diese Maßstäbe nicht an.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Monika Knoche [DIE LINKE]: Kann ich noch einmal sprechen? – Hartmut Koschyk [CDU/ CSU]: Frau Präsidentin, gehen Sie dazwischen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606017100

Frau Kollegin Knoche, Sie können gerne noch eine

weitere Zwischenfrage anmelden. Dann würde ich Herrn
Kollegen Guttenberg fragen, ob er sie zulassen will.


(CDU/ CSU)


Angesichts dessen, dass wir hier ein Sachthema zu
bearbeiten haben, habe ich kein Interesse, noch tiefer auf
diese Abwegigkeit einzugehen, als wir das gerade schon
gemacht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606017200

Verstehe ich Sie richtig, dass Sie keine weitere Zwi-

schenfrage zulassen wollen?


(CDU/ CSU)


Nein, ich lasse keine weitere Zwischenfrage mehr zu,
Frau Präsidentin. Vielen Dank.

Bei aller gebotenen Härte, die wir in dem Fall der Sol-
daten, den Sie angesprochen haben, Frau Kollegin, anle-
gen müssen, haben wir auch eine Schutzpflicht gegen-
über den Soldaten, die im Interesse unseres Landes
höchsten Belastungen ausgesetzt sind. Ein solcher Stil
macht den Soldaten dort vor Ort die Belastungen nicht
leichter. Die allermeisten, die größte Mehrzahl unserer
Soldaten leistet einen erstklassigen Dienst vor Ort. Das
gilt es hervorzuheben, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich bin mit den Vorrednern völlig einer Meinung, dass
mit der Verlängerung des Mandates sehr generelle Fra-
gen berührt werden, auch im Hinblick auf die zukünftige
Ausgestaltung von Auslandseinsätzen. Fälle wie der, den
wir heute und gestern diskutiert haben, und auch der Fall
Kurnaz sind Rückschläge. Aber Rückschläge dieser Art
können uns doch letztlich nicht zur Aufgabe zwingen
oder zum Rückzug bewegen! Wenn jetzt markerschüt-
ternd der Abzug der Truppen gefordert wird, ist das
schlichtweg absurd. Wir spielen dabei argumentativ
letztlich denen in die Hände, deren Ausbreitung wir ge-
rade verhindern wollen, also denen, die auf internatio-
nale Vernetzung des Terrorismus bauen.

Um das generelle Wertefundament, das der Herr Bun-
desminister Jung heute Morgen bei der Debatte um das
Weißbuch angesprochen hat, müsste es erbärmlich be-
stellt sein, wenn das Fehlverhalten Einzelner die Vertei-
digung dieses Wertefundaments infrage stellen könnte.
Dabei handelt es sich um einen sehr grundsätzlichen As-
pekt. Wir müssen daher bei unserer Argumentation sehr
aufpassen.

Ein weiterer Punkt. Die notwendige Pflicht, unsere
Soldaten bestmöglich zu schützen, korrespondiert mit ei-
ner ebenso notwendigen Aufklärungspflicht, die wir
alle haben. Beides kollidiert aber miteinander, wenn die
Diskussion von gezielt gesteuerter Hysterie begleitet
wird, Frau Knoche. An dieser Stelle müssen wir sehr
aufpassen. Denn es handelt sich um einen immens sen-
siblen Verantwortungsspielraum, der immer wieder ei-
nen Spagat bzw. eine Gratwanderung darstellt.

Diese Verantwortung sollten sich gelegentlich gewisse
Medien, die über solche Vorfälle berichten, ins Gedächt-
nis rufen. Ich würde mir manchmal wünschen, dass sich
Chefredakteure, die die Veröffentlichung solcher Bilder
unter anderem damit begründen – ich zitiere –, „dass
diese Vorfälle den vorbildlichen und tadellosen Einsatz
der vielen Tausend Bundeswehrsoldaten belasten“, der
Wirkung solcher Sätze einmal bewusst werden. Auch das
gehört zu der Diskussion über die staatsbürgerliche Ver-
antwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir müssen im Kontext der Operation „Enduring
Freedom“ sehr darauf achten, unterschiedliche Tatbe-
stände nicht miteinander zu vermengen. Wir müssen
vielmehr Ursache und Wirkung voneinander trennen.
Das steht völlig außer Frage.

Mit Blick auf die Zielrichtung des Auftrages und mit
Blick auf das Schutzbedürfnis der Soldaten, aber auch
der zivilen Kräfte müssen wir sehr genau hinterfragen,
Frau Knoche, wie laut wir den Begriff von einem zwei-
ten Abu Ghureib in diese aufgerüttelte Welt hinauspo-
saunen. Auch diesen Punkt sollten wir zumindest im
Hinterkopf haben. Das soll nicht heißen, dass wir unsere
Anstrengungen, dem internationalen Terrorismus zu be-
gegnen, nicht verstärken und den verheerenden Bildern
keine Taten entgegensetzen sollten.

Angesichts der Dynamik, der Unberechenbarkeit und
der Asymmetrie der Gefährdungslage begrüße ich, dass
im Antrag von einem ganzheitlichen Ansatz die Rede
ist. Herr Minister, dieser ganzheitliche Ansatz ist aber zu
unterfüttern und entsprechend fortzuschreiben. Die vor-
herrschende Dynamik erfordert eben eine Fortschrei-






(A) (C)



(B) (D)


Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
bung und kein Verharren. Der Antrag weist diesbezüg-
lich sicherlich in die richtige Richtung. Der heute zu
debattierende militärische Beitrag wäre ohne eine Ein-
bettung in die zivilen Instrumente, die Sie, Herr Bundes-
minister Steinmeier, angesprochen haben, völlig sinnlos.
Das gilt aber auch für die Umkehrung. Diesen Punkt darf
man nicht einfach beiseite schieben.

Zur Fortschreibung eines ganzheitlichen Ansatzes
zählt auch, die Mandate und deren Ausgestaltung den
veränderten Umständen anzupassen. Die CDU/CSU be-
grüßt daher die vorgenommene Reduzierung der maxi-
malen Truppenstärke. Wir knüpfen daran aber auch die
Frage nach klaren und schlüssigen Einsatzregeln, je
nachdem wie sich die Situation verändert. Das gilt bei-
spielsweise gerade für die Seestreitkräfte vor Somalia.

Ich habe leider den Eindruck, dass wir in der außen-
politischen und sicherheitspolitischen Debatte den ge-
samten Komplex Somalia bislang nur am Rande behan-
deln. Was sich in Somalia in den letzten Wochen und
Monaten noch einmal verstärkt gezeigt hat, ist etwas, bei
dem wir mit ausgetretenen Mustern an unsere Grenzen
stoßen werden. Wir sollten Somalia weit mehr im Blick-
feld haben, als wir dies bislang getan haben. Ich glaube,
dass sich dort implosionsartige Zustände entwickeln, de-
nen Einhalt geboten werden muss.

Es war ein Zeichen dieses Parlamentes, auf die Frage
nach der Sinnhaftigkeit der Rules of Engagement letzt-
lich Antworten von der Bundesregierung herauszufor-
dern. Wir haben solche Antworten vor dem Libanonein-
satz bekommen. Wir hoffen, dass diese Antworten
weiterhin ihre Gültigkeit besitzen. Solche Antworten
werden auch im Rahmen der Operation „Enduring Free-
dom“ notwendig sein.

Wir begrüßen auch den Passus, den beide Minister in
Bezug auf das KSK angesprochen haben, nämlich dass
unterrichtet werden soll. Dabei handelt es sich insbeson-
dere um den Satz zwei. Wir hoffen, dass die „regelmä-
ßige Unterrichtung“ dieses Adjektiv verdient. Eine regel-
mäßige Unterrichtung in dem angesprochenen Rahmen
ist in unserem Interesse.

Mit Blick auf den Fall Kurnaz und die möglichen
Auswirkungen – Herr Kollege Hoyer, Sie haben das an-
gesprochen – sage ich für die CDU/CSU: Es kann und
darf nicht sein, dass unsere Soldaten möglicherweise zu
Steigbügelhaltern für ein Rechtsverständnis werden, das
wir nicht teilen und das wir uns auch nicht zu Eigen ma-
chen.


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr gut!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606017300

Herr Kollege.


(CDU/ CSU)


Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Wenn es
darum geht, mit unseren Bündnispartnern Absprachen
zu treffen – das gilt für alle Partner –, könnte es durchaus
zu Kollisionen bezüglich des Rechtsverständnisses kom-
men. Wir haben ein klares Rechtsverständnis. Hier ist
die Kreativität der Bundesregierung gefragt.

Mit diesem Einsatz sind viele Fragen verbunden. Wir
sollten sie verantwortungsvoll beantworten und nicht in
der Art und Weise, wie es die Linkspartei heute gemacht
hat. Dann können wir einer Zustimmung mit offenem
Herzen entgegensehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606017400

Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der

Kollegin Monika Knoche.


(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh! – Zuruf von der SPD: Will sie sich entschuldigen?)



Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606017500

Sie müssen nicht gleich abheben. Es wird nicht

schlimm. Ich fasse mich kurz.

Herr Freiherr zu Guttenberg, ich möchte einem Miss-
verständnis entgegentreten. Mit meiner Zwischenfrage
habe ich mitnichten versucht, das von mir Gesagte zu re-
lativieren. Ganz im Gegenteil: Ich stehe zu jedem Wort,
das ich gesagt habe. Ich nehme aber zur Kenntnis, dass
Sie offenbar in einem Zustand starker Erregung zugehört
haben;


(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


denn ansonsten hätten Sie das, wovon ich gesprochen
habe, nicht so gründlich missverstanden.

Sie scheinen eine Debatte, die es zwar nicht in der
CDU, aber sehr wohl in der Gesellschaft, in der Frie-
densbewegung und vor allen Dingen in der Frauenbewe-
gung gegeben hat, nicht zu kennen. Das ist bedauerlich.
Ich setze eigentlich voraus, dass die Mitglieder des
Deutschen Bundestages imstande sind, die Debattenkul-
tur in diesem Land gut referieren zu können.

Ferner möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich mit-
nichten von einem zweiten Abu Ghureib gesprochen
habe. Ich habe gesagt, dass die uns jetzt bekannt gewor-
denen Taten der Soldaten in Afghanistan von den Vorfäl-
len in Abu Ghureib übertroffen werden. Nichts anderes
habe ich gesagt.

Mir tut es nicht weh, wenn ich angegriffen werde. Ich
möchte Sie aber darauf hinweisen, dass es eine intrakul-
turelle Differenz gibt. Sie beruht auf den Erfahrungen,
die Frauen in einer männerdominierten Welt machen.
Das Militär ist nun einmal Ausdruck dieser Wahrneh-
mung von Welt und dieser Form von Konfliktlösungen
in der Welt, denen ich mich als Frau bewusst nicht an-
schließe. Meine Betrachtung der Weltpolitik ist durchaus
different zu Ihrer. Deshalb haben Sie aber nicht das
Recht, die Schlussfolgerungen, die ich im Namen der
Linken ziehe, zu diffamieren. Dieses Recht steht Ihnen
nicht zu. Sie können Unverständnis äußern. Das ist






(A) (C)



(B) (D)


Monika Knoche
vielleicht realistischer. Sie haben aber nicht das Recht,
meine Äußerungen abzuqualifizieren.

Ich habe gesagt, dass ein Training erfolgen muss, da-
mit ein Mensch, der eine natürliche Tötungshemmung
hat, der eine natürliche Verantwortung empfindet, sein
menschliches Gegenüber als Person zu achten, Soldat
mit Tötungsauftrag sein kann. Das ist eine Wahrheit. Das
ist eine Realität. Darin bildet sich eine Struktur ab, die zu
individuellen Entgleisungen führen kann. Wenn Sie die-
sen Zusammenhang nicht verstanden haben, sollten Sie
nicht so vehement für Verteidigungspolitik sprechen;
denn um eine wirkliche Zivilisierung der Außenpolitik
zu erreichen, muss man auch etwas über strukturelle Ge-
walt und innergesellschaftliche Gewalt wissen. Man
muss die Zusammenhänge verstehen.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606017600

Zur Antwort erteile ich das Wort dem Kollegen Frei-

herr zu Guttenberg.


(CDU/ CSU)


Sehr geehrte Frau Kollegin Knoche, ich muss scham-
haft gestehen, dass meine intellektuellen Kapazitäten of-
fensichtlich immer noch nicht reichen, um das zu verste-
hen, was Sie meinem Verständnis zu entlocken
gedenken. Von daher kann ich ohne jeden Erregungszu-
stand, den Sie möglicherweise in meine Aussage hinein-
interpretieren wollen, sagen: Eine Debattenkultur lebt
von der Auseinandersetzung mit Themen, die letztlich
dem eigentlichen Thema, das an einem Tag wie diesem
diskutiert wird, dienlich sind. Aber die Debattenkultur,
die Sie in der gesamten heutigen Diskussion an den Tag
gelegt haben, war, zumindest was Ihre Begründungs-
muster betrifft, in meinen Augen erbärmlich. Auf dieser
Ebene möchte ich nicht weiter diskutieren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606017700

Ich schließe die Aussprache.

Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache 16/3150
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Entschließungsantrag auf Drucksa-
che 16/3151 soll an dieselben Ausschüsse, nicht jedoch
an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. – Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Jürgen Koppelin, Otto Fricke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Begrenzung der Staatsverschuldung durch
restriktive Haushaltsregeln

– Drucksache 16/2659 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss

Interfraktionell ist verabredet, dass keine Aussprache
stattfindet. – Damit sind Sie einverstanden. Dann verfah-
ren wir so.

Wir kommen somit gleich zur Überweisung. Inter-
fraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2659 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung einer Biokraftstoffquote durch
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgeset-
zes und zur Änderung energie- und stromsteuer-

(Biokraftstoffquotengesetz – BioKraftQuG)

– Drucksachen 16/2709, 16/3035 –
– Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-

ausschusses (7. Ausschuss)


– Drucksachen 16/3156, 16/3178 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Schindler
Reinhard Schultz (Everswinkel)



(8. Ausschuss)


– Drucksache 16/3161 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk

Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP sowie der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Par-
lamentarischen Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1606017800


Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung
einer Biokraftstoffquote setzt der Deutsche Bundestag
heute die im Rahmen der parlamentarischen Beratungen
des Energiesteuergesetzes innerhalb der Koalitionsfrak-
tionen gefundene Verständigung über die weitere Förde-
rung der Biokraftstoffe um, soweit diese im Energiesteu-
ergesetz vom Sommer dieses Jahres noch nicht geregelt
werden konnte. Darüber hinaus werden im Entwurf eines






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
Gesetzes zur Einführung einer Biokraftstoffquote die
energie- und stromsteuerrechtlichen Begünstigungsrege-
lungen für das produzierende Gewerbe und die Land-
und Forstwirtschaft EU-rechtskonform neu geregelt.

Der Biokraftstoffmarkt hat sich in der Vergangenheit
aufgrund der kräftigen steuerlichen Unterstützung er-
freulich dynamisch entwickelt. Wir wollen, dass diese
Entwicklung anhält. Damit wird ein wesentlicher Bei-
trag zur Energieversorgungssicherheit und zum Schutz
unseres Klimas geleistet. Den weiteren Ausbau der Bio-
kraftstoffe aber wie bisher durch Steuervergünstigungen
zu betreiben, ist mit dem Konsolidierungskurs der Bun-
desregierung nicht vereinbar. Denn genauso rasant wie
der Biokraftstoffmarkt haben sich selbstverständlich
auch die Steuerausfälle entwickelt.

Ich möchte diese Beratung zum Anlass nehmen, um
die Bedeutung des grundlegenden Wechsels von der
steuerlichen hin zur ordnungsrechtlichen Förderung
der Biokraftstoffe zu betonen. Dabei handelt es sich
um einen Paradigmenwechsel, der ökonomischen
Grundsätzen entspricht. Die Umstellung von der steuer-
lichen Förderung auf eine Quote bietet den Herstellern
von Biokraftstoffen darüber hinaus eine langfristige
Perspektive.

Der auf EU-Ebene angedachte erhebliche Ausbau der
Biokraftstoffe über das Jahr 2010 hinaus wäre mit steuer-
licher Förderung nicht mehr darstellbar. Für die schon
bestehenden Anlagen für Biokraftstoffe ist der wach-
sende Absatzmarkt eine große Chance, zumal auch in
anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union über
die Einführung einer Quotenregelung nachgedacht wird,
man also unserem Beispiel folgen will.

Von der überwiegenden Mehrheit der am Gesetz-
gebungsverfahren beteiligten Verbände und Interessen-
gruppen wurde das Vorhaben ausdrücklich begrüßt. Na-
türlich wurden auch Kritikpunkte und Befürchtungen
geäußert. Selbstverständlich hätte der eine oder andere
den Windfall-Profit, den er bisher hatte, gerne behalten.
Aber alles in allem wurde uns große Zustimmung sig-
nalisiert. So konnten auch einige Fragestellungen, die
vonseiten des Bundesrates vorgetragen worden sind, be-
rücksichtigt werden.

Den Verbraucherinnen und Verbrauchern sage ich
ganz offen, dass mit der Einführung der Biokraftstoff-
quote im nächsten Jahr durchaus eine leichte Erhöhung
der Kraftstoffpreise verbunden sein kann. Dass sich je-
doch Behauptungen bewahrheiten, nach denen durch die
Einführung der Quote der Liter Kraftstoff um bis zu
3 Cent teurer werden könnte, ist sehr zweifelhaft. Ich
bitte, diese Entwicklung gelassen abzuwarten.

Ich möchte betonen, dass wir – das tun wir sicherlich
in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit der Bürge-
rinnen und Bürger – Alternativen zum fossilen Öl entwi-
ckeln und fördern müssen, um im Hinblick auf die Kraft-
stoffe Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Das kann
natürlich nicht weiter auf Kosten des Staatshaushaltes
geschehen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Förderung
der Biokraftstoffe nur mit dem Instrument der Quote auf
eine dauerhaft tragfähige Basis gestellt werden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Förderung einer
nachhaltigen Entwicklung soll Ziel und Maßstab unseres
Handelns sein. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung
zum Biokraftstoffquotengesetz.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606017900

Für die FDP-Fraktion erteile ich das Wort dem Kolle-

gen Dr. Hermann Otto Solms.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1606018000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bio-
kraftstoffquotengesetz muss im Zusammenhang mit dem
Energiesteuergesetz gesehen werden, das zum 1. August
dieses Jahres in Kraft gesetzt worden ist. Die Bundes-
regierung hat vorgeschlagen, die Besteuerung biogener
Kraftstoffe vorzeitig einzuführen, obwohl die rot-grüne
Regierung und die rot-grüne Koalition, zu der ja die SPD
gehört hat, seinerzeit einen Vertrauensschutz bis 2009
zugesagt haben. Das war auch richtig so. Denn die Nicht-
besteuerung biogener Kraftstoffe hat dazu geführt, dass
sich dieser Markt schnell und dynamisch entwickelt hat,
dass biogene Kraftstoffe viel stärker eingesetzt worden
sind, dass sich mittelständische Unternehmen entwickelt
haben, die diese Kraftstoffe herstellen, was natürlich zu-
sätzliche Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten in
der Land- und Forstwirtschaft gebracht hat.


(Beifall bei der FDP)


All dies wird jetzt infrage gestellt. Natürlich stellt die
Bundesregierung bei der Begründung dieses Gesetzes in
den Vordergrund, sie verfolge umweltpolitische Ziele,
energiepolitische Ziele, agrarpolitische Ziele, beschäfti-
gungspolitische Ziele. Doch wenn man die Diskussion
verfolgt und die Alternative einer weiteren Steuerfreiheit
sieht, muss man feststellen: Es geht hier einzig um fiska-
lische Zielsetzungen.


(Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Das haben Steuergesetze manchmal so an sich!)


Die Bundesregierung will nichts anderes, als zusätzliche
Steuern erheben. Dann soll man das aber auch so sagen.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zahlen müssen nun die Verbraucher. Im Biokraftstoff-
quotengesetz wird verfügt, dass biogene Kraftstoffe bei-
zumischen sind. Sie werden auf diese Weise der vollen
Besteuerung unterzogen. Da die Preise für den Rohstoff
biogener Kraftstoffe aber höher sind als bei konventio-
nellen Kraftstoffen, führt dies zu einer Preissteigerung.
Das heißt, die Autofahrer, die Kraftstoffverbraucher,
werden nicht nur durch die Erhöhung der Mehrwert-
steuer zur Kasse gebeten, sondern zusätzlich durch das
Biokraftstoffquotengesetz. Damit kommt auf die






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hermann Otto Solms
Autofahrer in diesem Land im nächsten Jahr eine dop-
pelte Preiserhöhung zu.


(Beifall bei der FDP)


Das widerspricht allem, was die beiden großen Parteien,
die die Regierung bilden, in Aussicht gestellt haben. Das
ist Wortbruch und darauf muss hingewiesen werden.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die FDP-Fraktion spricht sich eindeutig dafür aus,
nachwachsende Rohstoffe vermehrt einzusetzen. Aber es
geht darum, wie man sie in den Markt bringt. Der Ansatz
einer Steuerbefreiung für einige Jahre war genau der
richtige Ansatz, weil sich so entsprechende Strukturen
entwickeln konnten.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Also doch!)


Mit dem Beimischungszwang laufen wir Gefahr, dass
die entstandene mittelständische Wirtschaft, die solche
Kraftstoffe herstellt, von den großen Energiemonopolen
aus dem Markt gedrängt wird. Der Beimischungszwang
ist also eine mittelstandsfeindliche Maßnahme.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In der Anhörung hat sich ergeben, dass dies in der
Wirtschaft auch so gesehen wird. Gerade durch die hohe
fixe Steuerbelastung, die aus dem Energiesteuergesetz
resultiert, besteht schon jetzt die Gefahr, dass es zu einer
Überbesteuerung kommt und geplante Investitionen
zum Aufbau weiterer Produktionsanlagen gestoppt wer-
den, weil die Wirtschaft sieht, dass sich die Produktion
in einigen Jahren, wenn die zweite, dritte, vierte Stufe
der Besteuerung in Kraft gesetzt wird, nicht mehr lohnt.
Das Interessante ist ja – darauf haben wir schon bei der
Verabschiedung des Energiesteuergesetzes hingewiesen –,
dass bereits bei einem leichten Absinken der Rohöl-
preise die Gefahr besteht, dass die Produktion, wenn die
dritte, vierte Stufe der Besteuerung in Kraft tritt, nicht
mehr wirtschaftlich ist.

Frau Hendricks, Sie wissen das: Wir haben im Aus-
schuss vorgeschlagen – wie übrigens auch Vertreter der
SPD-Fraktion –, nicht mit solchen starren Steuersätzen,
sondern mit einem proportionalen Steuersystem zu arbei-
ten. Das wäre genau das richtige Instrument gewesen,
weil sich die Steuerbelastung dann mit der Marktpreis-
entwicklung nach oben und unten entwickelt hätte und
weil es aus diesem System heraus dann gar nicht zu einer
Überbesteuerung hätte kommen können.


(Beifall bei der FDP)


Sie haben es aber abgelehnt, dies zu tun, und Sie müs-
sen jetzt die Konsequenzen tragen. Ich sage Ihnen vo-
raus: Wenn der Ölpreis noch weiter sinkt – vielleicht auf
50 Dollar je Barrel –, dann werden Sie dieses Gesetz in
wenigen Jahren wieder revidieren müssen, weil Sie sonst
der Branche den Garaus machen würden.

Schließlich will ich dazu noch sagen, dass es auch die
Forderung gibt, die Qualitätsnormen für die Produktion
und die biogenen Kraftstoffe sehr streng zu fassen. Das
ist im Prinzip richtig so. Das darf aber nicht zu der Kon-
sequenz führen, dass das quasi wie ein nicht paritätisches
Handelshemmnis wirkt und dass die Entwicklungsländer
von den europäischen Märkten ausgeschlossen werden.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Einen Qualitätsanspruch wollen Sie aber auch!)


Wir müssen ein weltoffenes Land bleiben. Die Qualität
ist notwendig und auch die Nachhaltigkeit bei der Pro-
duktion muss gewahrt werden. Wir dürfen aber keine
Mauern um die Märkte in Deutschland bauen.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die FDP lehnt dieses Gesetz folglich ab.

Wir hätten dem Antrag der Grünen gerne zugestimmt,
weil wir ihn sehr gut finden. Wir können ihm aber leider
wegen der letzten beiden Punkte, bei denen es um die
Ökosteuer geht, nicht zustimmen, weswegen wir uns
enthalten werden. Wir halten es gegenwärtig nicht für
angemessen, die Zahl der Ausnahmen bei der Ökosteuer
abzubauen, wie es die Grünen fordern, weil das bei den
energieintensiven Produktionsunternehmen zu starken
Einschränkungen führen würde, wofür es, wie ich
glaube, noch zu früh ist.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Also doch eine Teilregulierung!)


Wir erkennen aber an, dass der Antrag ansonsten gut for-
muliert ist und alle wesentlichen Punkte enthält. Wir
werden uns bei der Abstimmung also enthalten.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606018100

Norbert Schindler spricht für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1606018200

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren auf den

Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Ple-
num! Herr Solms, eine Klarstellung gleich vorneweg: In
den letzten Tagen und Wochen gab es von bestimmen
Anbietern in der Mineralölwirtschaft die drohende Ge-
bärde, dass durch die Steuererhöhung eine Preiserhöhung
auf uns zukommt. Nach der dritten Runde der Beratun-
gen im Finanzausschuss kann ich sagen: Das stimmt
nicht.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!)


Es gab die Gefahr, dass wir die Beimischung von Ethanol
zu schnell zu stark besteuern. Auch in Abstimmung mit
der Mineralölwirtschaft haben wir einen Gleitflug bis
2009 erreicht. Die Auswirkungen wird der Markt zeigen.

Warum legen wir ein Biokraftstoffquotengesetz vor?
Damit wird der Auftrag der Regierungskoalition erfüllt.
Wir nehmen auch das Kiotoprotokoll ernst. In diesen Ta-






(A) (C)



(B) (D)


Norbert Schindler
gen wurde vom Klimainstitut in Kiel berichtet, dass es
nach den nächsten 70 bis 100 Jahren keine Gletscher
mehr in den Alpen gibt. Die Erde erwärmt sich durch
den Eintrag von CO2 in die Atmosphäre nach wie vor
weiter, weil wir mit den vorhandenen Ressourcen nicht
haushalten. Jeder weiß das. Deutschland ist jetzt wieder
einmal bereit, Vorreiter auf der europäischen Ebene zu
sein.

Ja, es ist richtig: Nachwachsende Rohstoffe müssen in
den Wirtschaftskreislauf. Durch die Sonne wachsen die
Rohstoffe wieder nach. Dies ist nicht nur vernünftig,
sondern höchst notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dass wir bei den Beratungen jetzt auch die Quote bis
zum Jahre 2009 erhöht haben – bei Ethanol steigt sie
gleitend und bei Dieselersatzstoffen steigt sie stärker –,
ist ein gutes Ergebnis gegenüber dem Regierungsent-
wurf. Wir alle miteinander haben in dieser Sache gut ent-
schieden.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn „wir alle miteinander“?)


Lieber Reinhard Schultz, ich sage hier einmal in aller
Deutlichkeit: Wären auch die Gesetzesvorhaben unserer
großen Koalition, die der Finanzausschuss nicht zu ver-
antworten hat, nach hartem Streit hinter verschlossenen
Türen – wir haben uns gefetzt, aber niemand ist mit einer
unnötigen Presseerklärung nach draußen gegangen – mit
einer ähnlichen Vernunft beraten und verabschiedet wor-
den, dann wäre das Bild unserer großen Koalition weiß
Gott besser.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie jetzt ja die Gesundheitsreform übernehmen!)


Das sage ich mahnend allen unseren Freunden innerhalb
der Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es kommt nicht auf das Bild an!)


Herr Solms, Sie haben mit Recht auf die fiskalischen
Auswirkungen hingewiesen. Ich erinnere mich, wie
schwer sich die FDP 2004 mit der Steuerfreistellung tat.
Wir sind gute Partner, Herr Solms, und gehen offen mit-
einander um, auch wenn wir in der Sache gelegentlich
uneinig sind. Die Steuerfreistellung damals war richtig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben ihr auch seinerzeit bei der Vorbereitung im Fi-
nanzausschuss zugestimmt.

Wenn die Vorzugsbehandlung der LKW-Flotte unse-
rem Staat auf Dauer Verluste von über 2 Milliarden Euro
beschert, dann sollten wir auch keine Erwartungshaltung
gegenüber der Politik in Bezug auf zu hohe Investitionen
im ländlichen Raum wecken. Ich komme zwar selbst aus
dem ländlichen Raum, aber meines Erachtens war bei
Einnahmenverlusten in Höhe von 2 Milliarden Euro eine
vernünftige Regelung seitens des Staates notwendig.
Eine entsprechende Änderung wird jetzt vorgenommen.
Die Koalition hat beschlossen, von der Steuerfreistel-
lung abzugehen. Wir wollen zwar nachwachsende Roh-
stoffe fördern, aber dies soll in einem ordnungspoliti-
schen Rahmen erfolgen, mit dem nicht nur die
Steuereinnahmen gesichert werden, sondern auch ein
deutlicher Mehrverbrauch von nachwachsenden Roh-
stoffen in der Bundesrepublik Deutschland erreicht wird.
Was in diesen Tagen in Belgien beschlossen wird, wo
eine noch striktere Quotenregelung für die Hersteller an-
gestrebt wird, zeigt, dass sich Europa daran ein Beispiel
nimmt.

Nebenbei bemerkt wird immer wieder angeführt, dass
Arbeitsplätze in Gefahr sind und andere Schwierigkeiten
zu erwarten sind. Ich will an dieser Stelle noch einmal
darauf hinweisen, dass wir 300 000 bis 400 000 Arbeits-
lose weniger haben, dass die Wirtschaft brummt und
dass wir die Staatsfinanzen in den Griff bekommen ha-
ben. Wir sollten besser darüber reden, Reinhard Schultz,
statt über das Kleingedruckte zu streiten, und das noch
unnötigerweise in der Öffentlichkeit.

Die Zahlen sind gut. Sie werden merken, dass das in
einigen Wochen und Monaten auch in den Umfragen ho-
noriert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist bei euch der Wunsch der Vater des Gedankens!)


In dem Gesetzentwurf ist auch geregelt, was wir in
der Entwicklung der Biokraftstoffe der zweiten Genera-
tion im energetischen Bereich erreichen wollen. Auch in
dem vorliegenden Entwurf können Biokraftstoffe durch
Rechtsverordnung stärker gefördert werden. Das gilt für
alle Bereiche der Weiterentwicklung von BtL bis E 85.
Aber weil das am Markt derzeit nicht umsetzbar ist, nut-
zen wir als Gesetzgeber die Instrumente der Politik und
der Wirtschaft, von der Mineralölwirtschaft bis zur deut-
schen Landwirtschaft.

Bei der Einführung der Ökosteuer ist etwas überzo-
gen worden. Das haben wir in diesem Gesetzentwurf
korrigiert. Wenn die Stromkosten die Herstellungskosten
um mehr als 50 Prozent übersteigen, sind nach dem Ge-
setzentwurf Steuererleichterungen vorgesehen. Diese
Korrektur war auch im Interesse des Wirtschaftsstand-
ortes Deutschland notwendig.

Die Überkompensationsprüfung haben wir in den
Beratungen um eine Unterkompensationsprüfung er-
gänzt, in der untersucht wird, ob den Herstellern in
Deutschland Nachteile entstehen. Das war im Regie-
rungsentwurf ebenso wenig enthalten wie ein anderer
wichtiger Bereich. An alle Kritiker gerichtet weise ich in
diesem Zusammenhang auf den Klimaschutz hin. Wir
haben eine Nachhaltigkeitsregelung vorgesehen, über
die im kommenden Jahr noch einmal hier debattiert
wird. Der Bundesregierung wird ein entsprechender
Auftrag erteilt.






(A) (C)



(B) (D)


Norbert Schindler
Was ist mit dieser Regelung gemeint? Wir wollen ver-
meiden, dass Gesetzeslücken entstehen, durch die welt-
weit Urwälder abgeholzt und die Tier- und Pflanzenwelt
durch Monokultur zerstört werden können, und dass ver-
sucht wird, mithilfe unserer Normen den deutschen
Markt mit unter solchen Bedingungen produzierten Er-
zeugnissen zu beliefern. Die Nachhaltigkeitsregelung
bedeutet in Verbindung mit der Cross-Compliance-Re-
gelung, die die Europäische Union in den Luxemburger
Beschlüssen vereinbart hat, dass die Umwidmung von
landwirtschaftlichen Flächen innerhalb Europas – ob
Wald oder Wiesen – zur landwirtschaftlichen Energieer-
zeugung oder zur Herstellung von Nahrungsmitteln nicht
mehr gestattet ist. Das ist ein wichtiger Bestandteil des
Schutzes, der in der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie fest-
gelegt ist. Was wir uns selbst auferlegt haben, muss auch
auf europäischer Ebene als Kriterium gelten. Ich habe
keine Bedenken, das als Deutscher gegenüber der Euro-
päischen Union zu vertreten, weil sie zur Zustimmung
verpflichtet ist.

Es kommt uns auch in Zukunft zugute, wenn wir eine
aktive Umweltpolitik betreiben. Deswegen ist dieses Ge-
setz in umweltpolitischer Hinsicht fortschrittlich und
richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben bewusst dafür gesorgt, dass mit Blick auf
die Nachhaltigkeitsregeln bestimmte Importhindernisse
gelten. Die Regierungsvorlage hatte solche nicht vorge-
sehen. Wir lassen bei der Unterposition 3824 90 99 das
Untermischen von E 85 nicht zu. Um diesen Punkt ha-
ben wir hart gerungen, genauso wie um die Entlastungs-
maßnahmen bei der Verwendung von Kohle, § 51 des
Energiesteuergesetzes.


(Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Sie belasten den Steuerzahler!)


– Herr Solms, warten Sie es doch ab!


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606018300

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage von

Frau Bulling-Schröter zulassen?


Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1606018400

Bitte schön.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606018500

Bitte, Frau Bulling-Schröter.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606018600

Herr Kollege Schindler, wir halten die von Ihnen an-

gesprochenen Nachhaltigkeitsregeln für dringend not-
wendig. Des Weiteren haben Sie die Einfuhr bzw. den
Anbau innerhalb Europas erwähnt. Schon jetzt werden
in Brasilien Regenwälder abgeholzt, um Palmölpflanzen
anzubauen. Wir wissen, dass diese Pflanzen nur zweimal
angebaut werden können; danach entsteht Wüste. Auf
dem Biomarkt herrschen ebenfalls Wettbewerb und
Konkurrenz. Die großen Unternehmen werden natürlich
dort einkaufen, wo die Rohstoffe am billigsten sind, zum
Beispiel in Brasilien. Sind Sie mit mir einer Meinung,
dass es dringend notwendig ist, über die Thematik erneut
zu diskutieren? Denn wir alle machen uns schuldig,
wenn wir nicht möglichst schnell Nachhaltigkeitsregeln
aufstellen, die wirklich nachhaltig wirken.


Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1606018700

Auch wenn Sie, Frau Kollegin, Abgeordnete der Lin-

ken sind: Danke für Ihre gute Zwischenfrage.

Was Sie gesagt haben, trifft zu. Brasilianisches Etha-
nol ist ein gutes Beispiel für negative Auswirkungen wie
Abholzung. Es ist zwar international im Angebot, wird
aber derzeit in Europa aufgrund seines Preises nicht ver-
wendet. Wir haben der Bundesregierung den Auftrag ge-
geben, für Nachhaltigkeitsregeln – ich nenne in diesem
Zusammenhang nur das Stichwort „Cross Compliance“ –
einzutreten und diese im europäischen Recht – genauso
wie bei anderen Produkten – zu verankern. Wenn das ge-
lingt, hat die Europäische Union die verdammte Pflicht
und Schuldigkeit, dies bei der nächsten WTO-Runde zu
vertreten. Es dient der ganzen Menschheit. Wir sind da-
her auf einem guten Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die EU-Agrarpolitik als Menschheitssegen!)


– Herr Kollege Loske, natürlich brauchen wir die Bau-
ern, wenn es darum geht, nachwachsende Rohstoffe zu
erzeugen, und zwar gerne auch in Europa. Es geht aber
nicht nur um den Anbau. Vielmehr entwickeln wir einen
neuen Ansatz beim Produktionsvermögen als dritten
Weg der europäischen Landwirtschaft. Dazu bekennen
wir uns ausdrücklich im Gesetz. Wir wollen natürlich die
Bauern als Lieferanten, aber auch die Mineralölwirt-
schaft weiterhin als Partner haben. Nur gemeinsam geht
es. Das sind die Ziele.

Ich bedanke mich für die Harmonie zwischen SPD
und Union. Es war nicht immer so. Aber hier war die
Zusammenarbeit vorbildlich. Dank an die Kollegen vom
Finanzausschuss. Es ist ein gutes Gesetz. Machen wir es
so!


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606018800

Ich nehme an, dass Sie keine Beurteilung von mir er-

warten.

Ich gebe dem Kollegen Hans-Kurt Hill von der Links-
fraktion das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Hans-Kurt Hill (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606018900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In dem Biokraftstoffquotengesetz steckt mehr drin, als
der Titel ahnen lässt.


(Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Stimmt!)


Erstens. Per Gesetz wird hier eine neue Zulieferindustrie
für Mineralölkonzerne geschaffen. Sie erdrosseln gleich-






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Kurt Hill
zeitig eine ganze Branche, diejenigen, die reine Biokraft-
stoffe herstellen, und gefährden damit langfristig
Hunderttausende Arbeitsplätze in Deutschland. Herr
Dr. Solms hat es eben auf den Punkt gebracht.

Ich beziehe mich hier auf eine Meldung des Biokraft-
stoffverbandes von dieser Woche. Biokraftstoffe sollen
dem herkömmlichen Benzin und Diesel zu vorgeschrie-
benen Anteilen beigemischt werden, und das bei vollem
Steuersatz. Was wird die Mineralölwirtschaft machen?
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat es eben gesagt.
BP und Co. werden dort kaufen, wo es am billigsten ist,
nämlich im Ausland, bzw. sie werden, Herr Schindler,
unserer Landwirtschaft die Preise diktieren. Die Herstel-
lung von Biosprit rechnet sich nur – ganz wie es sich un-
ser Industrieminister, Herr Gabriel, vorstellt – in weni-
gen Großanlagen der Multis.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ist der Industrieminister?)


Um die Produktionskapazitäten auszulasten, werden die
Energiepflanzen aus ganz Europa zusammengekarrt.
Auch hier ist am billigsten, was in riesigen Monokultu-
ren angebaut wird und mit 40-Tonnen-LKWs über die
Autobahn gekarrt wird.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Demnächst 60-Tonner!)


– Oder auch mit 60-Tonnern. – Da freuen sich der Kol-
lege Toll Collect und insbesondere unser Finanzminister.

Zweitens. Reine Biokraftstoffe, die echte Alternative
zu fossilen Brennstoffen, werden aufs Abstellgleis ge-
schoben. Was über die Zwangsquote hinaus auf den Bio-
kraftstoffmarkt kommt, wird mit der Stufensteuer be-
straft. Mit einer echten Förderung im Sinne der EU-
Richtlinie für Biokraftstoffe hat das nichts zu tun.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine faire Steuerbegünstigung dagegen muss auch an
den Effekten für Klima-, Umwelt- und Naturschutz so-
wie Versorgungssicherheit gemessen werden. Sie müs-
sen schon Hellseher sein, meine Kolleginnen und Kolle-
gen von der Koalition, wenn Sie zu wissen glauben, dass
sich für das Jahr 2010 daraus eine Steuerentlastung von
exakt 21,04 Cent je Liter ergeben wird.

Drittens. Der Effekt für den Klimaschutz ist gleich
null. Nicht nur Monokulturen und lange Transportwege
verschlechtern die Klimabilanz, bei genauerem Hin-
sehen entpuppt sich das Quotengesetz als eine Lex
Volkswagen. Nach einer aktuellen Klimaschutzstudie,
die der Europäische Verband für Verkehr und Umwelt
gestern veröffentlicht hat, wurden VW und Audi auf die
hinteren Plätze verwiesen. Unter den 20 meist verkauf-
ten Marken Europas belegen sie Platz 14 und 17. Grund
sind die miesen CO2-Werte ihrer Autos. Die selbst ge-
steckten Ziele von VW werden um fast 50 Prozent ver-
fehlt. Aber mit beigemischtem Biosprit kann man die
Klimabilanz schönrechnen, indem auf dem Papier die
CO2-Neutralität des Biomasseanteils abgezogen wird.
VW liegt eben in Niedersachsen. Aber keine Sorge, wir
lassen Ihnen das nicht durchgehen.
Viertens. Sie subventionieren die energieintensive
Industrie mit klimafreundlichem Biosprit, Herr Schultz.
Mit der Zwangsquote kommt Finanzminister Steinbrück
auf rund 1,4 Milliarden Euro Steuereinnahmen.


(Beifall des Abg. Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD])


Das kann man dem Titel des Gesetzes wirklich nicht ent-
nehmen. Und Sie stopfen damit die Einnahmeausfälle in
gleicher Höhe, die durch massive Steuergeschenke an
die Beton-, Zement- und Gipsindustrie zustande gekom-
men sind.

Fazit: Das Biokraftstoffquotengesetz ist ein Durch-
laufposten zulasten des Klimaschutzes und der Beschäf-
tigung. Das kann nicht die Lösung sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Immerhin hat die Regierungskoalition – das hat Herr
Schindler eben ausgeführt – eingesehen, dass wir Nach-
haltigkeitskriterien für Importbiosprit brauchen und dass
die Industrie ihre Energiebilanz verbessern muss, wenn
sie Steuervorteile nutzen will. Wir hoffen allerdings auf
sinnvollere Regeln im Vergleich zu dem Gebäude-
energiepass.

Was wir aber insgesamt brauchen, sind faire Förder-
bedingungen für reinen Biosprit, alternative Mobilitäts-
und Antriebskonzepte, nachhaltige Anbaumethoden, re-
gionale Wirtschaftskreisläufe und Beschäftigung insbe-
sondere im ländlichen Raum. Die Linke wird deshalb
dem hier vorliegenden Entschließungsantrag des Bünd-
nisses 90/Die Grünen zustimmen, auch wenn wir an ver-
schiedenen Punkten etwas zu kritisieren haben. Tun Sie
es auch, damit Klimaschutz Vorfahrt hat!

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606019000

Für das Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege

Dr. Reinhard Loske.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Schindler, dies ist – leider, möchte ich
hinzufügen – kein gutes Gesetz, dies ist ein schlechtes
Gesetz. Ich werde begründen, warum das so ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)


Das Gesetz besteht aus zwei Teilen, einmal dem Ab-
bau der Sonderregelungen im Rahmen der Ökosteuer für
die Industrie und auf der anderen Seite für die Bio-
energien.

Zum ersten Thema. Meines Wissens handelt es sich
gemäß dem Subventionsbericht der Bundesregierung um
Subventionen in Höhe von mehr als 5 Milliarden Euro.
Das sind Steuerprivilegien, die der Industrie im






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Reinhard Loske
Zusammenhang mit der Ökosteuer eingeräumt werden.
Die Intention der EU-Kommission, die das nur bis zum
Ende dieses Jahres notifiziert hat, ist, dass Steuerbefrei-
ungen an ökologische Gegenleistungen gebunden wer-
den müssen. Darauf verzichten Sie in diesem Gesetzent-
wurf vollständig. Im Gegenteil: Sie weiten die
Sondertatbestände sogar noch aus. Das hat mit Klima-
schutz so viel zu tun wie die Kuh mit dem Sonntag, näm-
lich überhaupt nichts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist auch nicht zeitgemäß. Bei den Leuten greifen Sie
mit zusätzlichen 3 Prozentpunkten Mehrwertsteuer zu
und die Industrie kann ihre Privilegien behalten – das
kommt in der Öffentlichkeit als Ungerechtigkeit an, und
es ist auch ungerecht.

Zum zweiten Thema, zu den Bioenergien. Hier gibt
es gute und schlechte Elemente. Anerkennenswert ist,
dass man auf einen kontinuierlichen Wachstumspfad bei
den Bioenergien geht. Es ist gut, dass man langfristig
eine Ausbauperspektive hat; das gibt Investitionssicher-
heit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Schlecht ist aber, dass Sie über dieses Instrument be-
stimmte Struktureffekte auslösen, dass Sie nämlich das
Geschäft komplett in die Hand der großen Mineralölkon-
zerne geben und diesen eine sehr starke Nachfragerposi-
tion einräumen. Im Ergebnis führt das nicht zu dem, was
wir ursprünglich wollten, nämlich Wertschöpfung im
ländlichen Raum und Erwerbsalternativen für die Bau-
ern zu schaffen. Es führt vielmehr zu einer weiteren Mo-
nopolisierung im Bereich der Mineralölwirtschaft und
das ist schlecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)


Das muss man in Kombination mit dem Gesetz sehen,
das Herr Kollege Solms angesprochen hat, mit dem
Energiesteuergesetz, das gerade ein paar Monate alt ist.
Damit haben Sie alle steuerlichen Vorteile, die bis 2009
garantiert waren, zurückgenommen. Sie führen die Bio-
energien jetzt Schritt für Schritt in die Vollbesteuerung.
Das wirkt sich natürlich ganz klar zulasten des Mittel-
standes aus; Sie können das auch nicht anders verkaufen.
Das ist mittelstandsfeindlich und bedeutet einen Bruch
mit der Rechtssicherheit. Auch das ist schlecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)


Noch einige Worte zu den Änderungsanträgen im
Ausschuss. Die Änderungsanträge – es waren 17 an der
Zahl – kamen wie immer sehr spät. Im Ausschuss habe
ich gesagt, dass die rot-grünen Zeiten dagegen ein Hort
der Berechenbarkeit und Planbarkeit waren. Das will ich
hier aber nicht ausweiten. Unter den Änderungsanträgen
sind ein paar gute, denen wir im Ausschuss auch zuge-
stimmt haben. Dazu gehört zum Beispiel, dass man jetzt
bis zum Jahr 2015 planen kann und dass die Strafe für
diejenigen erhöht wird, die die Quote nicht einhalten.
Einige allzu dreiste Regelungen in Ihrem Gesetzentwurf
– zum Beispiel, dass große Teile der Industriegase kom-
plett von der Steuer befreit werden sollen – haben Sie
selber wieder herausgenommen. Dem stimmen wir na-
türlich auch zu.

Aber wir stimmen vielen Sachen, die Sie nachträglich
noch hineingeschummelt haben, nicht zu. Dass Sie aus-
gerechnet die Kohle als Prozessenergie von der Steuer
befreien wollen, halten wir für falsch. Wir halten es auch
für falsch, dass Sie zusätzliche Tatbestände für Steuer-
befreiungen schaffen. Bei der Anhörung habe ich erlebt,
dass die Vertreter des VCI und des BDI hochzufrieden
waren. Die hatten bis auf einen Punkt nichts zu meckern.
Sie wollten, dass die chemische Reduktion auch noch
von der Steuer befreit wird. Und siehe da: Was passiert?
Die chemische Reduktion wird auch noch von der Steuer
befreit. – Das ist Industriepolitik à la große Koalition
und nicht sehr überzeugend.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch etwas zu den technischen Fragen sa-
gen. Wichtig fand ich im Ausschuss – leider fehlt das im
Ausschussbericht –, dass diese DIN-Norm, die ich hier
nicht im Detail ausführen will, so zu interpretieren ist,
dass sie nicht nur für Rapsöl, sondern für alle Pflanzen-
öle gilt, also auch für die uns allen sehr wichtige Son-
nenblume sowie für Leinen und Leindotter. Das war eine
wichtige Präzisierung, die Rechtssicherheit schafft.

Eine Frage möchte ich aber noch an die Koalitionsfrak-
tionen richten. Sie können Sie vielleicht beantworten,
Herr Schultz; Sie reden ja nach mir. Sie haben angekün-
digt, dass Sie im Gegenzug zu den Steuerbefreiungen im
Rahmen der Ökosteuer von den mittleren und großen
Unternehmen über kurz oder lang ein Energiemanage-
mentsystem verlangen. Ich frage Sie zunächst einmal:
Warum steht das nicht im Gesetz? Eine Ankündigung ist
wohlfeil. Ich frage weiter: Wann kommt das und wie soll
es aussehen? Nur wenn man das weiß, sind nach meiner
Einschätzung diese Steuerprivilegien gegenüber der In-
dustrie überhaupt zu rechtfertigen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist im Ausschuss schon beantwortet worden!)


– Wir sind hier aber im Plenum und nicht im Ausschuss.

Letzter Punkt. Ich halte es für eine ganz wichtige Auf-
gabe der Umweltpolitik und der Finanzpolitik, dass wir
das hinbekommen, was Sie bis Juli 2007 angekündigt
haben, nämlich dass wir eine Verordnung über Bestim-
mungen für den nachhaltigen Anbau von Energiepflan-
zen auf den Weg bringen. Wir werden damit in Europa
und im internationalen Bereich Standards setzen. Das
darf nicht, wie der Kollege Solms zu Recht sagte, neo-
protektionistisch oder abschottungsmäßig daherkom-
men. Es müssen aber hohe Qualitätsstandards sein, die
für jeden in der Welt gelten. Das deutsche Parlament
steht hier vor einer großen Aufgabe.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606019100

Der Kollege Reinhard Schultz spricht für die SPD-

Fraktion.


Reinhard Schultz (SPD):
Rede ID: ID1606019200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zunächst einmal bedanke ich mich natürlich
bei Norbert Schindler und allen, die an dem Gesetzent-
wurf mitgewirkt haben. Die Zusammenarbeit war wirk-
lich stilprägend: hart in der Sache, diskret und mit einem
guten Ergebnis. Das kann man sicherlich auf andere Pro-
zesse übertragen.

Den Hasenfüßen und Zweiflern, die hier ständig er-
zählen, wir würden mit unserer Gesetzgebung ganze
Branchen platt machen, kann ich sagen: Nachdem
Norbert Schindler und ich die Verhandlungsergebnisse
der Koalition vor zwei Tagen in einer kleinen Pressemit-
teilung bekannt gegeben haben, wurde abends in den
Nachrichten berichtet, dass die Biokraftstoffwerte – we-
gen der langfristigen Perspektive und dem großen
Marktvolumen, das wir den Biokraftstoffen einräumen –
durch die Decke geschossen sind. Alles andere ist Ge-
plärre, das Sie von sich geben, weil Sie selber nichts zu-
stande gebracht haben. Der Markt bewertet das, was wir
hier vorhaben – bevor wir es beschlossen haben –, aus-
gesprochen positiv.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber betreiben Sie hier keine Insidergeschäfte!)


– Keiner von uns hat irgendwas gekauft, um das klar zu
sagen, Herr Kollege Dautzenberg.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606019300

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Hill zulassen?


Reinhard Schultz (SPD):
Rede ID: ID1606019400

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606019500

Bitte schön.


Hans-Kurt Hill (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606019600

Herr Kollege Schultz, mit den Werten, die Sie eben

angesprochen haben, haben Sie sicherlich die Börsen-
kurse gemeint. Glauben Sie, dass die Börse diejenigen
vertritt, die kleine Ölmühlen betreiben, also die Land-
wirte, und dass diese genauso gejubelt haben an dem
Abend?


Reinhard Schultz (SPD):
Rede ID: ID1606019700

Ja, ich glaube, dass ein großer Teil von denen genauso

gejubelt hat, weil sie bei der Gelegenheit mitbekommen
haben, dass sich im Bereich der Biokraftstoffe ein we-
sentlich größeres, ständig steigendes Marktvolumen ab-
zeichnet, das sie auch bedienen können. Es wird gera-
dezu wie durch ein Vakuum eine Sogwirkung entstehen
und die Erzeuger werden die Wahl haben, ob sie für den
freien, reinen Biokraftstoffmarkt oder für die Quote pro-
duzieren. Die Ansätze sind dermaßen groß, dass auch die
Kleinen daran mitverdienen können. Je größer der
Markt, umso eher hat auch das etwas teurere, dezentral
hergestellte Rohprodukt eine Chance, in die Quote Ein-
gang zu finden. Deswegen freuen sich die dezentralen
Erzeuger genauso wie wir und wie diejenigen, die auf
die Börsenwerte geschaut haben, Herr Kollege Hill.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das heißt ganz konkret, dass wir erstens schon bis
2010 das Volumen, das durch die Quote abgebildet wird,
deutlich erhöht haben und dass wir darüber hinaus
Schritte bis 2014 vorgezeichnet haben, um insgesamt
volumenbezogen auf 10 Prozent Beimischung zu kom-
men. Das ist eine gewaltige Zahl; eine volumenbezogene
Beimischung von 10 Prozent würde 8 Prozent vom
Energieinhalt ausmachen. Unabhängig davon haben wir
für fast denselben Zeitraum auch für die reinen Biokraft-
stoffe Vertrauensschutz gegeben – viel länger als ur-
sprünglich versprochen,


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2009 haben Sie versprochen!)


allerdings mit einer progressiven Besteuerung, um die
Preise dieser reinen Biokraftstoffe an die Realität heran-
zuführen.

Herr Solms, wenn Sie als jemand, der ansonsten in
Sonntagsreden der Weltmeister im Subventionsabbau ist,
erzählen, dass die einzige Lösung, eine neue Industrie
aufzubauen, darin besteht, dass man sie über Jahrzehnte
mit hohen steuerlichen Subventionen mästet,


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden über drei Jahre!)


dann sind Sie auf dem Holzweg. Eigentlich widerlegen
Sie sich mit Ihrem Ansatz selber.


(Beifall bei der SPD)


Natürlich ist auch die Quote eine indirekte Subven-
tionierung, weil das Produkt, das beigemischt wird, für
die Verbraucher möglicherweise zu einer geringfügig
höheren Preisbelastung führt. Auf dem anderen Weg
zahlt es derselbe Kraftfahrer über die Kraftfahrzeug-
steuer oder über die Mineralölsteuer, allerdings nicht
über den Durchlauferhitzer Bundeshaushalt; denn der ist
der einzige von allen Haushalten im föderativen Aufbau
unseres Staates, der unter diesen Ausfällen zu leiden hat.
Diese Steuereinnahmen werden ja nicht geteilt; der Bund
nimmt sie entweder vollständig ein oder verliert sie voll-
ständig. Wir haben aber nichts zu verlieren.


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU])


Wenn es möglich wäre, über ein ordnungsrechtliches In-
strument ein noch höheres Marktvolumen zu erreichen,
dann wären wir wirklich bekloppt, wenn wir nicht versu-
chen würden, dieses Instrument zu nutzen.


(Beifall bei der SPD – Frank Schäffler [FDP]: Das haben Sie gesagt!)


Wir wollen den Markt systematisch entwickeln. Des-
wegen wird es jährlich im Herbst einen Biokraftstoff-
bericht geben, der über die Zusammensetzung, über die






(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Schultz (Everswinkel)

Kosten der Rohstoffe, über die Preisrelationen zwischen
konventionellem Mineralöl und neuen Kraftstoffen prä-
zise Auskunft gibt. Notfalls kann man, wenn es bei den
Preisverhältnissen wirklich zu langfristigen Verwerfun-
gen kommt, natürlich noch nachsteuern. Ich gehe davon
aus, dass das nicht notwendig sein wird. Die Prognosen
der Grünen, der FDP oder von wem auch immer sagen in
Bezug auf andere Gebiete voraus, dass wir uns eher auf
steigende und nicht auf ständig sinkende Ölpreise ein-
richten müssen. Von ständig sinkenden Ölpreisen auszu-
gehen, wäre eine völlig abwegige Erwartung, der wir uns
nicht anschließen. Aber Vorsicht ist die Mutter der Por-
zellankiste. Deswegen wird es diese Berichterstattung
geben.

In diesem Zusammenhang sei ganz offen gesagt: Es
gibt auch Fehlentwicklungen. Es kann nicht sein, dass
wir entweder über eine steuerliche Förderung oder über
einen dauerhaften Zugang zur Quote dafür sorgen, dass
ein bestimmter Rohstoff bei der Dieselherstellung ver-
wendet wird, wenn dieser Rohstoff an einer anderen
Stelle der Produktionskette, nämlich bei der oleochemi-
schen Industrie, fehlt. Ich spreche von den tierischen
Fetten. Es bestand keine Notwendigkeit, einzugreifen.
Wenn man subventioniert, dann muss man genau
schauen, ob es nicht zu Marktverzerrungen kommt.
Dazu wäre es gekommen. Deswegen haben wir die ent-
sprechenden Möglichkeiten begrenzt.

Ich möchte ein letztes Wort zum Thema „Energiebe-
steuerung des produzierenden Gewerbes“ sagen. Wir ha-
ben uns darauf verständigt, den Input zur Stromerzeu-
gung nicht zu besteuern. Strom als Produkt wird
besteuert. Wir haben uns darauf verständigt, dass Ener-
gie, die in chemischen Prozessen zur Stoffumwandlung
eingesetzt wird, nicht besteuert wird. Das Ergebnis, das
Produkt, wird selbstverständlich besteuert. Das gilt für
alle Formen der in chemischen Prozessen eingesetzten
Energie.

Nach der Verabschiedung des Energiesteuergeset-
zes haben wir in einer zweiten Runde einen Feinschliff
vorgenommen, um dafür zu sorgen, dass es in der Bau-
stoffwirtschaft, in der Metallurgie nicht zu Verzerrungen
kommt, die wir politisch nicht wollen. Wettbewerbsge-
rechtigkeit ist nämlich ein ganz wichtiges politisches
Prinzip.


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU])


Was das produzierende Gewerbe allgemein angeht,
gilt – das stimmt –: Die Steuersätze sind wieder auf dem
Stand von 1998. Dagegen ist der Spitzenausgleich, also
der Ausgleich eines Überhangs im Verhältnis zwischen
Ökosteuerbelastung und Arbeitgeberbeiträgen zur Ren-
tenversicherung, eingefroren. Da vereinbart ist, dass
diese Arbeitgeberbeiträge steigen, wird es in diesem Be-
reich eine gewisse Gegenfinanzierung geben.

Wir haben gleichzeitig versprochen – auch das steht
in diesem Bericht –, dass wir parallel dazu ab dem
nächsten Jahr ein Energiemanagement für mittlere und
größere Unternehmen einführen wollen, und die Bun-
desregierung aufgefordert, hierzu bis Mitte des Jahres
ein abgestimmtes Konzept vorzulegen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606019800

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.


Reinhard Schultz (SPD):
Rede ID: ID1606019900

Ich denke, das ist eine gute Lösung, die uns weiter-

führt. Ich bin überhaupt der Meinung, dass wir in Zeiten
hoher Energiepreise von zusätzlichen preissteuernden
Elementen wegkommen müssen. Wir müssen die Mög-
lichkeiten ausschöpfen, die das Ordnungsrecht, die frei-
willige Vereinbarung oder nicht pretiale Steuerungsele-
mente bieten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606020000

Das Wort hat Eckhardt Rehberg für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Eckhardt Rehberg (CDU):
Rede ID: ID1606020100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge-

ordnete! Manche Debatte hier ist nur schwerlich zu ver-
stehen. Manche reden über Industriepolitik, verunglimp-
fen sie. Diejenigen, die das tun, sind aber die Gleichen,
die auf der Matte stehen – ich schaue insbesondere auf
die linke Seite dieses Hauses – und der Politik die
Schuld dafür geben, dass Arbeitsplätze abgebaut wer-
den, weil sich die Standortbedingungen in Deutschland
für Zement, Gips, Quarz oder Metall verschlechtert ha-
ben. Ein Beispiel: Ein Produzent aus Baden-Württem-
berg verlagert seinen Standort ins Elsaß.

Herr Kollege Schultz hat es richtig dargestellt: Das
war ein Nachklapp des Energiesteuergesetzes. Man kann
es auch als einen notwendigen Feinschliff bezeichnen.
Herr Loske, Sie haben hier beklagt, dass möglicherweise
Steuereinnahmen fehlen. Das, was fehlt, kann man durch
Einnahmen aus der Einkommensteuer, der Gewerbe-
steuer oder anderen Steuern doppelt oder dreifach he-
reinholen. Insbesondere kommt es darauf an, dass es in
Deutschland mehr Arbeitsplätze gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sollten uns endlich einmal abgewöhnen, Rege-
lungen zu treffen, mit denen man über EU-Recht hinaus-
geht, sozusagen draufsattelt. Das Beihilferecht macht es
möglich, dass nach § 51 des Energiesteuergesetzes bzw.
nach § 9 a des Stromsteuergesetzes so gehandelt worden
ist, wie es die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und
SPD vereinbart haben.

Wer etwas gegen Bürokratieabbau, wie er bei der
Kohlebesteuerung stattfindet, hat, den verstehe ich nun
gar nicht. Hier ist die Wahlfreiheit gegeben, ob man die
Steuererstattung im Nachhinein beantragt oder ob man
sie – wie es für die Stahlindustrie geregelt ist – gleich be-
kommen möchte.






(A) (C)



(B) (D)


Eckhardt Rehberg
Ich muss Ihnen sagen: Gerade auf diese beiden
Punkte bin ich aus Sicht der Wirtschaftspolitik stolz. Die
Standortbedingungen in Deutschland sind endlich ein-
mal nicht schlechter als in den anderen europäischen
Ländern. Was die Kohlebesteuerung angeht, haben wir
gemeinsam einen Beitrag zum Bürokratieabbau geleis-
tet.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Einige scheinen, gerade was den ländlichen Raum
betrifft, nicht so recht zu wissen, worüber sie reden.
Wenn Sie sich die Entwicklung im ländlichen Raum an-
sehen, stellen Sie fest, dass in süddeutschen Ländern
mehr über Kooperation läuft, weil die Flächenstrukturen
nicht so groß sind. In Mecklenburg-Vorpommern hat
mittlerweile fast jede größere Betriebseinheit – die grö-
ßeren Betriebseinheiten beginnen bei mir bei über
1 000 Hektar – Anlagen, um kaltgepresstes Pflanzenöl
herzustellen. Der Selbstkostenbereich liegt hier bei
55 bis 60 Cent pro Liter. Das bleibt über die nächsten
Jahre hinaus steuerfrei. Es ist echte Wertschöpfung im
ländlichen Raum, dass der Landwirt mit dem Raps, den
er anbaut, seinen Traktor oder seinen Mähdrescher be-
treibt, um die Felder bewirtschaften und die Ente ein-
bringen zu können. Das ist echte Wertschöpfung und
nicht das, was Sie darunter verstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nebenbei gesagt: Ich habe den Gesetzentwurf so gele-
sen, dass reine Biokraftstoffe im ländlichen Raum, ver-
wendet in der Land- und Forstwirtschaft, genauso ange-
rechnet werden wie die anderen Biokraftstoffe.

Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen Aspekte
eingehen, damit hier nicht zu viel Friede, Freude, Eier-
kuchen herrscht. Herr Kollege Schultz, das, was Sie an-
gesprochen haben, ist kein Fehler. Wir müssen uns in
Deutschland überlegen – aus sicherheitspolitischen,
energiepolitischen und umweltpolitischen Gesichtspunk-
ten –, ob wir es uns leisten können, auf der einen Seite
motorfähiges Heizöl zu verbrennen, auf der anderen
Seite aber Wertstoffe, die als Biomasse dienen können,
nicht zu Biokraftstoffen zu verarbeiten. Dies müssen wir
uns – das sage ich ganz offen für die Unionsfraktion – im
Bereich der tierischen Fette, aber auch im Bereich der
Lebensmittelreste und in vielen anderen Bereichen
fragen. Wir müssen in den nächsten Jahren sehr klug
agieren. Es kann nicht sein, dass wir Biomasse teuer ent-
sorgen müssen, obwohl bestimmte Biomasse zur Her-
stellung von Biokraftstoffen dienen kann. Aus meiner
Sicht bleibt uns gar nichts anderes übrig, als hier in ei-
nem Diskussionsprozess zu bleiben. Das sind wir übri-
gens auch der Umwelt schuldig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Letzte Bemerkung: Ich bin sehr froh über die Einlas-
sung des Deutschen Bauernverbandes und der Biokraft-
stoffverbände in der Anhörung, die befürworten, dass
das, was wir jetzt auf den Weg gebracht haben, europäi-
sche Norm werden soll. Deswegen ist es gut und richtig,
dass das in der Beschlussempfehlung so verankert ist.
Das ganze Haus sollte diesen Prozess unterstützen; denn
wir haben mit der EU-Ratspräsidentschaft ab 1. Januar
2007 die Chance, dies direkt in den europäischen Dis-
kussionsprozess einzubringen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606020200

Für die SPD erteile ich Marko Mühlstein das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Marko Mühlstein (SPD):
Rede ID: ID1606020300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Vor wenigen Wochen haben wir an
dieser Stelle in der ersten Lesung den vorliegenden Ent-
wurf eines Gesetzes zur Einführung einer Biokraftstoff-
quote beraten. Neben vielen positiven Ansätzen bestand
an einigen wichtigen Stellen aus umweltpolitischer Sicht
erheblicher Nachbesserungsbedarf. Dank zügiger und
effizienter Verhandlungen mit meinen Fraktionskollegen
und vor allem mit dem Koalitionspartner, lieber Kollege
Schindler, konnten wichtige Erfolge für Umwelt und
Biokraftstoffwirtschaft erzielt werden. Dafür möchte ich
mich bei allen Beteiligten ganz herzlich bedanken.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das Biokraftstoffquotengesetz verpflichtet die Mine-

ralölwirtschaft dazu, einen wachsenden Mindestanteil
an Biokraftstoffen zu vertreiben. Die Einzelquoten der
Beimischung, die jetzt eine Gesamtquote von 5,75 Pro-
zent bilden, werden künftig linear angehoben, um bis
zum Jahr 2015 10 Volumenprozent Gesamtquote zu er-
reichen; das entspricht 8 Prozent der durch die Kraft-
stoffe erzeugten Gesamtenergie. Das sage ich vor allem
vor dem Hintergrund, dass ich aus einem Bundesland
– aus Sachsen-Anhalt – komme, in dem immerhin ein
Fünftel des Biodiesels der gesamten Bundesrepublik
produziert wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir haben weiterhin vereinbart, mittlere und große
Industrieunternehmen zu Transparenz in Sachen Ener-
giemanagement zu verpflichten, Herr Hill. Die Über-
prüfung wird im Rahmen eines Energieaudits erfolgen,
bei dem Zertifizierungen vergeben werden. Die Bundes-
regierung wird aufgefordert, hierzu bis Mitte kommen-
den Jahres die notwendigen Voraussetzungen zu schaf-
fen.

Ein entscheidender Erfolg für Produzenten, Vertreiber
und Verbraucher von Biokraftstoffen ist die von uns er-
reichte faktische Aufhebung der so genannten fiktiven
Quote für Reinbiokraftstoffe. Sie wäre vor allem für
kleine und mittelständische Unternehmen der Biokraft-
stoffbranche, die bei der Diskussion im Plenum schon
häufig eine Rolle gespielt haben, ein erheblicher Wettbe-
werbsnachteil gewesen.

Bei der Frage der Unterkompensation ergibt sich aus
der Berichtspflicht der Bundesregierung zur Überkom-
pensation das Zahlenmaterial, das es uns im Falle einer






(A) (C)



(B) (D)


Marko Mühlstein
einseitigen Überbesteuerung von Biokraftstoffen ermög-
licht, rechtzeitig gegenzusteuern. Diese Aufgaben wer-
den wir als Parlamentarier zu übernehmen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Besonders freue ich mich darüber, dass wir uns auf
ein Nachhaltigkeitszertifikat für Biokraftstoffe einigen
konnten. Bis Mitte Juli 2007 wird eine Verordnung vor-
gelegt, um einen nachhaltigen und naturverträglichen
Anbau zur Herstellung von Biokraftstoffen zu gewähr-
leisten.


(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Sehr gut!)


So wird sichergestellt, dass für die Erzeugung von Bio-
kraftstoff, zum Beispiel aus Palmöl, keine tropischen
Regenwälder abgeholzt oder durch Brandrodung zerstört
werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass
wir uns unserer besonderen Verantwortung für dieses
wichtige und sensible Ökosystem bewusst sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die herkömmlich genutzten Kraftstoffe basieren bei-
nahe ausschließlich auf begrenzt verfügbaren fossilen
Rohstoffen wie Erdöl und Erdgas. Zwangsläufig ist mit
deren Verknappung und deutlichen Verteuerung zu rech-
nen. Bei allen richtigen und wichtigen finanz- und steu-
erpolitischen Erwägungen, die wir in den letzten Wo-
chen diskutiert haben: Wir müssen jetzt die Weichen für
die künftige Versorgungssicherheit stellen und gleich-
zeitig die Ziele im Bereich des Klimaschutzes, die wir
uns selbst gesteckt haben, mit aller Kraft verfolgen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich bin der Auffassung, dass wir mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf – aus umweltpolitischer Sicht konn-
ten wir da ja Verbesserungen erzielen – einen Schritt in
die richtige Richtung tun.

Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606020400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Biokraftstoff-
quotengesetzes, Drucksachen 16/2709 und 16/3035. Zur
Abstimmung liegt eine schriftliche Erklärung der Kolle-
gin Flachsbarth und des Kollegen Göppel vor, die unter-
stützt wird von der Kollegin Reiche, dem Kollegen
Holzenkamp, dem Kollegen Röring, dem Kollegen
Dr. Lehmer und dem Kollegen Petzold.1)

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/3156, den Gesetzent-

1) Anlage 5
wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Opposition angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall.
Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem-
selben Ergebnis wie vorhin angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der FDP auf Drucksache 16/3173? – Die Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Damit ist der Entschließungsantrag bei
Zustimmung durch die FDP und Ablehnung durch den
Rest des Hauses abgelehnt.

Wer stimmt für den Entschließungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/3172? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung durch die
Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und Die
Linke, bei Enthaltung der FDP-Fraktion und Ablehnung
durch CDU/CSU und SPD abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und b auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Frak-
tion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes

– Drucksache 16/1444 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Dr. Barbara
Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Aktiengesetzes

– Drucksache 16/3015 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Es ist verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu de-
battieren, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten er-
halten soll. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dr. Herbert Schui, Die Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Herbert Schui (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606020500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als

Eigenschaft des klassischen Unternehmers gilt üblicher-
weise, dass er alles in seinem Betrieb nach dem






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Herbert Schui
wirtschaftlichen Nutzen beurteilt. Dies wird sicherlich
von einigen väterlichen und fürsorglichen Gefühlen
durchwirkt und durch Maßnahmen für die Mitarbeiter
ergänzt; sonst wäre das Unternehmerbild sicherlich nicht
positiv genug. Wäre dieser klassische Unternehmertyp
noch vorherrschend, dann würde der Unternehmer dem
Manager das zahlen, was er wert ist.

Anders ist es dagegen, wenn Konzerne nicht mehr
von Unternehmern des klassischen Typs geleitet werden.
Nun entscheiden Manager selbst darüber, was sie wert
sind. Das ist eine Facette kapitalistischer Dekadenz.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Auftreten vieler Manager macht klar, dass es ihnen
an Selbstwertgefühl nicht fehlt. Sie sagen „Leistung
muss sich wieder lohnen“ und belohnen sich reichlich.
Dagegen ordnete John Pierpont Morgan Ende des
19. Jahrhunderts an, dass der bestbezahlte Manager sei-
nes Unternehmens nicht mehr als das 20-Fache des am
schlechtesten bezahlten Angestellten verdienen solle.

Diese harte Kontrolle durch den klassischen Unter-
nehmer fehlt. Gegenwärtig verdient ein deutscher Mana-
ger das 400-Fache des durchschnittlichen Facharbeiter-
lohns; 1980 war es noch das 40-Fache. Sie sollten den
Mut finden, die Managergehälter zu begrenzen und ei-
nem gesetzlichen Mindestlohn von nur 8 Euro pro
Stunde zuzustimmen. Damit würden Sie für ein Stück
sozialer Gerechtigkeit sorgen.


(Beifall bei der LINKEN – Frank Schäffler [FDP]: War das bei Zwickel auch so?)


– Betriebsunfall.

Der Gesetzgeber ist hier gefragt. Die Gesamtbezüge
eines Vorstandsmitgliedes sollten das 20-Fache des Loh-
nes eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten
in der untersten Lohngruppe nicht übersteigen. Der Ge-
setzgeber muss durchsetzen, was vorher Aufgabe des
klassischen Unternehmers war.


(Frank Schäffler [FDP]: Wie war das bei Herrn Steinkühler?)


Aufsichtsräte und Aktionäre sind jedenfalls nicht geeig-
net, die notwendige Kontrolle auszuüben. Die Aufsichts-
räte sind häufig genug Versorgungseinrichtung abge-
dankter Vorstände; nicht zuletzt das Depotstimmrecht
macht es leicht, sie als Aufsichtsräte durchzusetzen.


(Frank Schäffler [FDP]: Gewerkschaftsbosse!)


Aktienoptionen für Manager sind zu untersagen.
Sie machen oft ein Drittel und mehr der Gesamtvergü-
tung der Vorstände aus. Folglich haben die Manager ein
Interesse daran, den Kurs in die Höhe zu treiben, wenn
die Option fällig ist. Diese Kurspflege geht nicht selten
zulasten der Substanz des Unternehmens. Wer von den
Aktionären auf Draht ist, nimmt – wie die Manager –
den Gewinn mit. Die Aktionäre tragen kein Risiko. Sie
können einfach aussteigen. Sie haben kein Interesse, sol-
che Optionen zu unterbinden.


(Frank Schäffler [FDP]: Das gilt auch für Aufsichtsräte!)

Auch der Manager geht kein Risiko ein. Hat er zu we-
nig geleistet, hat er trotzdem Anspruch auf eine Verab-
schiedung mit goldenem Handschlag. Besonders krass
war das bekanntlich bei Klaus Esser. Er erhielt bei sei-
nem Ausscheiden eine Anerkennungsprämie in Höhe
von 16 Millionen Euro, zusammen mit der vertraglichen
Abfindung und den Sachansprüchen 33 Millionen Euro.


(Frank Schäffler [FDP]: Was ist mit Herrn Zwickel?)


Bekanntlich wird in dieser Sache seit heute erneut ge-
richtlich verhandelt. Die Frage ist: Wird das Gericht im
Sinne des BGH von einer kompensationslosen Prämie
ausgehen?

Die Rechtsprechung ist offenbar bereit, sich der Frage
der Managergehälter anzunehmen. Bessere Gesetze, wie
wir sie vorschlagen, werden in dieser Sache hilfreich
sein.

Ich zitiere Finanzminister Steinbrück, um Ihnen die
Zustimmung zu unseren Gesetzentwürfen zu erleichtern;
vielleicht kommt ja seine Art zu denken bei der SPD
besser an.

Ich erlebe

– so Steinbrück –

für meinen Geschmack zu häufig eine gewisse
Maßlosigkeit in den Führungsetagen deutscher Un-
ternehmen, die es bei den Gründungsvätern des
deutschen Wirtschaftswachstums so nicht gab.

Herr Kollege Thierse spricht in diesem Zusammen-
hang von „wahren Exzessen an Gehaltssteigerungen“,
einer Entwicklung, die er als „obszön“ bezeichnet.

Da die Dinge so liegen, kann die Linke nun sicherlich
mit Unterstützung aus den Reihen der Koalition rechnen.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606020600

Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings für die

CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1606020700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Dass wirtschaftsrechtliche Gesetze durch den
Deutschen Bundestag zu selten oder zu zurückhaltend
geändert würden, kann man wahrlich nicht behaupten.
Die Halbwertszeit so mancher Änderung betrug in den
letzten Jahren oft nur einige Monate. Nun aber beantragt
die PDS in zwei separaten Anträgen, ein und denselben
Paragrafen des Aktiengesetzes gleich zweimal zu än-
dern. Dies dürfte, wenn es denn Gesetz würde, einen
schwer zu überbietenden Rekord in Sachen Regulie-
rungswut des Deutschen Bundestages darstellen.


(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU] – Frank Schäffler [FDP]: So sind sie!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Günter Krings
Aus beiden Anträgen spricht nach meiner Überzeu-
gung ein tiefes Misstrauen gegen die soziale Marktwirt-
schaft


(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Zu Recht!)


seitens der Abgeordneten, die auf der extrem linken
Seite dieses Hauses sitzen und das auch noch bestätigen.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau)


Offenbar reicht der Konsens zur sozialen Marktwirt-
schaft nur bis zu diesem Punkt in diesem Hause. Es ist
gut, das in der Debatte einmal festgestellt zu haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dirk Manzewski [SPD])


Soziale Marktwirtschaft bedeutet den Schutz der
Schwachen in unserer Gesellschaft.


(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Das sehen wir ja!)


Die von der Linken vorgeschlagene Beschränkung der
Verdienstmöglichkeiten nach oben hin hat aber nichts
mehr mit dem Schutz der sozial Schwachen zu tun, son-
dern lässt sich wohl mit der sicherlich zutiefst menschli-
chen Regung des Neides erklären.


(Lachen bei der LINKEN)


Durch Ihre Vorschläge wird kein einziger Arbeitnehmer
auch nur 1 Euro mehr auf seinem Gehaltskonto vorfin-
den. So menschlich die Gefühlsregung des Neides für
alle Menschen ist, als Maßstab für das Handeln des Ge-
setzgebers taugt sie mit Sicherheit nicht. Die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion wird einer solchen Politik des billi-
gen Populismus ihre Hand nicht reichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Niemals! – Frank Schäffler [FDP]: Die FDP auch nicht!)


Wenn die Linke allen Ernstes das Gehalt der AG-Vor-
stände an das Gehalt der untersten Lohngruppen binden
will, dann kann man ihre Anträge eigentlich nur als Auf-
forderung zum Abbau von Arbeitsplätzen für Gering-
qualifizierte in Deutschland verstehen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Lachen bei der LINKEN)


Nach dem Linke-Antrag müsste ein DAX-Vorstand ja
nur die niedrigen Lohngruppen wegrationalisieren oder
ins Ausland verlagern und schon könnte er sein Gehalt
steigen lassen.


(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Wer hat Ihnen denn die Rede geschrieben?)


Damit Sie mich richtig verstehen: Mir geht es über-
haupt nicht darum, die konkrete Vergütung für jedes ein-
zelne Vorstandsmitglied der Welt zu verteidigen. Ich bin
durchaus der Auffassung, dass insbesondere in den
USA, aber auch in einigen Fällen in Deutschland Vor-
standsvergütungen eine Höhe erreichen, die man nur
noch als unanständig bezeichnen kann.

(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Sehen Sie!)


Zudem wird nicht jeder Unternehmensführer mit hohem
Gehalt seiner besonderen Verantwortung gerecht, wie
man in den letzten Monaten wieder sehen konnte. Aber
– jetzt kommt das, was uns unterscheidet – für alle Poli-
tiker dieses Hauses, die nicht gerade von einem alles er-
fassenden Regulierungswahn besessen sind, besteht ein
Unterschied zwischen gesellschaftlichen Defiziten und
gesetzlicher Regelungsnotwendigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Die Frage nach dem gerechten Lohn hat in der Tat
jahrhundertelang auch manche Juristen beschäftigt.
Schließlich musste man aber einsehen, dass diese Frage
juristisch nicht zu lösen ist. Diese Erkenntnis trat, rechts-
geschichtlich betrachtet, ziemlich präzise am Ausgang
des Mittelalters ein. Aus dem Umstand, dass die PDS die
Frage nach 500 Jahren noch einmal aufgreift, lassen sich
vielleicht Rückschlüsse über ihren politischen Entwick-
lungsstand ziehen.

Das Problem überzogener Vorstandsgehälter hat – da
können Sie ganz beruhigt sein – den Deutschen Bundes-
tag bereits beschäftigt, als es so etwas wie eine Links-
fraktion noch gar nicht gab. Wir haben es im letzten Jahr
als Unionsfraktion gemeinsam mit SPD und Grünen aber
auf einem intelligenten und vor allem effektiven Weg in
Angriff genommen. Ich erinnere an die Zusammenarbeit
mit Ihnen, Herr Kollege Benneter. Getreu dem Grund-
satz „Sonnenlicht ist das beste Reinigungsmittel“ haben
wir den börsennotierten Aktiengesellschaften gesetz-
lich aufgegeben, die Höhe der Vorstandsvergütungen für
ihre Aktionäre, aber auch für die Allgemeinheit offen zu
legen. Unanständige Gehälter kann man nur verhindern,
wenn sie nicht mehr im Stillen gezahlt werden und wenn
jedermann sich ein Bild davon machen kann, ob Leis-
tung und Vergütung zusammenpassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gilt das auch für Herrn Merz?)


Die Bundesregierung hat ferner eine Kodex-Kommis-
sion eingerichtet, die konkrete Empfehlungen gerade zu
den Gehaltsstrukturen der Vorstände von Aktiengesell-
schaften gemacht hat. Über 90 Prozent der DAX-Unter-
nehmen folgen übrigens diesen Empfehlungen, ohne
dass es dazu eines Gesetzes bedurft hätte – ein Umstand,
den die Linke ausweislich ihrer Antragsbegründung
noch nicht einmal zur Kenntnis genommen hat.

Ein Kernpunkt dieses Ethik-Kodexes ist übrigens die
Empfehlung, die Leistungsbereitschaft und das Verant-
wortungsbewusstsein der Vorstände dadurch zu steigern,
dass die Vergütung fixe und variable Bestandteile um-
fasst. Genau diese Anreize will die Linke in diesem
Hause offenbar verhindern. Leistungsanreize scheinen
ihr suspekt zu sein. Aber eines frage ich mich schon:
Wenn Aktienoptionen angeblich so verwerflich sind, wa-
rum will die Linke sie dann nur für Vorstände verbieten?
Ich will hier lieber nicht erst erklären, dass es in vielen
Aktiengesellschaften gar nicht mehr die Vorstände sind,






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Günter Krings
die das höchste Gehalt bekommen. Denn das könnte die
Linke vielleicht auf den dummen Gedanken bringen, ih-
ren Antrag noch zu erweitern.

Was wir in Deutschland brauchen, ist aber nicht weni-
ger, sondern mehr Kapitalbildung in Arbeitnehmerhand.
Aktienoptionen für Vorstände wie für Arbeitnehmer
können, richtig eingesetzt, zu mehr Dynamik der deut-
schen Wirtschaft und damit zu mehr Arbeitsplätzen füh-
ren. Wir als CDU/CSU richten unser wirtschaftspoliti-
sches Handeln jedenfalls an diesem Ziel aus.

Der Staat kann und soll Transparenz anordnen. Er
kann Fachleute mit der Erarbeitung von Empfehlungen
– wie bei der Cromme-Kommission – beauftragen. Er
kann in einem freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat
aber eines eben nicht tun: über die Höhe von Vorstands-
vergütungen entscheiden. Die Linke mag es bedauern:
Aber Aktiengesellschaften in Deutschland sind weder
öffentliche Behörden noch Staatsbetriebe noch volks-
eigene Betriebe, sondern sie haben private Eigentümer.
Diese Eigentümer sind die Aktionäre der Gesellschaft.
Nur diese sind befugt, darüber zu entscheiden, wie sie
mit ihrem Eigentum umgehen.

Wenn Ihnen von der PDS das Thema so wichtig ist,
dann tun Sie etwas für unsere Wirtschaft: Kaufen Sie
beispielsweise deutsche Aktien und reden Sie bei den
nächsten Hauptversammlungen mit oder überzeugen Sie
doch einfach die Vertreter der Gewerkschaften in den
Aufsichtsräten davon – diese sitzen da nämlich –, bei
den Vorstandsgehältern Maß zu halten!


(Frank Schäffler [FDP]: Wohl wahr!)


Hören Sie aber endlich damit auf, in den Debatten im
Deutschen Bundestag den Menschen vorzuschreiben,
wie sie mit ihrem Eigentum umgehen sollen!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Die Vorstände von Unternehmen tragen eine hohe
Verantwortung. Denn die wirtschaftliche Entwicklung,
die ihr Unternehmen nimmt, äußert sich nicht nur in Bi-
lanzzahlen und Aktienkursen. Menschen finden in die-
sen Firmen eine Beschäftigung und sorgen so für ihren
Lebensunterhalt und auch für den ihrer Familie. Daher
ist es wichtig – insoweit sollten wir uns einig sein –, an
diesen entscheidenden Stellen eines Unternehmens qua-
lifizierte Frauen und Männer zu haben, die die richtigen
Entscheidungen treffen. Es ist meines Erachtens an Ab-
surdität kaum noch zu überbieten, anzunehmen, die Qua-
lität der Unternehmensvorstände würde besser werden,
ihr Verantwortungsbewusstsein ihren Mitarbeitern ge-
genüber würde größer werden, wenn man nur ihr Gehalt
erfolgsunabhängig ausgestaltet und gesetzlich be-
schränkt.

Diejenigen, die hier ganz links auf den Stuhlreihen
sitzen, geben auch mit ihren heutigen Anträgen – das ist
meine Überzeugung – den Arbeitnehmern und den Ar-
beitslosen in Deutschland Steine statt Brot. Wer die
Wirtschaft wie die Linke als simples Nullsummenspiel
zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmereinkommen
versteht, hat sie eben nicht verstanden. Denn das Geld,
das Sie da oben wegnehmen wollen, kommt gerade nicht
unten an. Sie betreiben damit – sicherlich nicht aus Bös-
willigkeit, aber zumindest aus Torheit – eine Politik
nicht für, sondern gegen die Interessen gerade der Ge-
ringverdiener in Deutschland.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606020800

Das Wort hat die Kollegin Mechthild Dyckmans für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Mechthild Dyckmans (FDP):
Rede ID: ID1606020900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Pünkt-

lich zur Wiederaufnahme des Mannesmann-Prozesses
werden uns von der Linken zwei Gesetzesvorhaben vor-
gelegt, die an Populismus kaum zu überbieten sind.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na, na!)


Das Vorgehen von Vorständen und Aufsichtsräten
wirft sicherlich manchmal Fragen auf. Eine fehlende
Kommunikation der Unternehmen gegenüber der Öf-
fentlichkeit kann zu Missverständnissen in der Wahrneh-
mung von Unternehmensentscheidungen führen. Auch
die Verknüpfungen in der Deutschland AG sind teil-
weise undurchsichtig. Die Forderung nach einer gesetz-
lichen Deckelung von Vorstandsgehältern und das Ver-
bot von Aktienoptionen bei der Gehaltsstruktur gehen
aber wahrlich in die völlig falsche Richtung und sind al-
lenfalls geeignet, um am Stammtisch Applaus zu erhal-
ten.


(Beifall bei der FDP)


Auch die Tatsache, dass die Gewerkschaften in das-
selbe Horn stoßen – nachdem der DGB Anfang Januar
eine Deckelung auf 2 Millionen Euro gefordert hatte, ist
es jetzt Verdi –, macht die Sache nicht besser. Wenn ei-
nem die Mitglieder weglaufen, greift man zu jedem
Strohhalm.


(Beifall bei der FDP)


Die ständige Weiterentwicklung des Corporate-
Governance-Kodex zeigt, dass die deutsche Wirtschaft
bestrebt ist, ihre Entscheidungen transparent und ver-
ständlich zu gestalten. Die Corporate-Governance-
Kodex-Kommission wird das Ergebnis des Mannes-
mann-Prozesses sorgfältig zu überprüfen und zu bewer-
ten haben.


(Frank Schäffler [FDP]: Auch die Rolle der Gewerkschaften!)


Soweit zusätzliche gesetzliche Regelungen erforderlich
sein sollten, hat das allein über die Stärkung der Aktio-
närsrechte zu erfolgen. Nur die Aktionäre, nicht der Ge-
setzgeber oder die Öffentlichkeit, sind Eigentümer der
Gesellschaften und haben damit über die Geschicke der
Unternehmen und gegebenenfalls über die Manager-
gehälter zu bestimmen.






(A) (C)



(B) (D)


Mechthild Dyckmans

(Beifall bei der FDP)


Es ist richtig, dass über Moral und Ethik in der Ge-
sellschaft, insbesondere in der Wirtschaft, geredet wer-
den muss. Wer den Aktienkurs seines Unternehmens in
den Keller gefahren hat und gleichzeitig über hohe Ab-
findungen verhandelt, lässt jede Sensibilität, jedes Ge-
spür für verantwortungsvolle Unternehmensführung ver-
missen.


(Beifall bei der FDP)


Auch ich empfinde die fast zeitgleiche Verkündung einer
30-prozentigen Erhöhung von Managergehältern und die
Entlassung von Tausenden von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern als unangemessen.


(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Unanständig!)


Eine Angemessenheit der Vorstandsvergütungen
wird bereits im Aktiengesetz ausdrücklich gefordert. Wir
haben also gesetzliche Regelungen. Der Aufsichtsrat hat
darauf zu achten, dass die Gesamtbezüge des einzelnen
Vorstandsmitglieds in einem angemessenen Verhältnis
zu seinen Aufgaben und zur Lage der Gesellschaft ste-
hen. Der Corporate-Governance-Kodex enthält eine
Reihe weiterer Vorschriften. Das Gesetz gibt also bereits
einen Rahmen vor.

Alles Weitere ist zunächst eine Frage der Selbstkon-
trolle, gegebenenfalls der gerichtlichen Überprüfung,
schlussendlich ist es eine Frage der strafrechtlichen
Überprüfung. Wie bereits erwähnt: Sollte all das nicht
ausreichen, um einer etwa befürchteten Selbstbedie-
nungsmentalität entgegenzuwirken, so sind zunächst die
Aktionärsrechte zu stärken.


(Beifall bei der FDP)


Die Neuauflage des Mannesmann-Prozesses, der
unter großer Beteiligung der Medien stattfindet, zeigt,
dass sowohl Aufsichtsräte als auch Vorstände gegenüber
ihren Unternehmen bestimmte Rechtspflichten haben.


(Martin Zeil [FDP]: Auch Herr Zwickel!)


Dieses Verfahren ist ein Musterbeispiel dafür, dass Ma-
nager eines Unternehmens eben nicht nach Gutdünken,
nach Lust und Laune über die Gelder ihres Unterneh-
mens verfügen können. Bei Verletzung ihrer Rechts-
pflichten können sie sich schadensersatzpflichtig
machen und müssen sich vielleicht eines Tages straf-
rechtlich verantworten. Das Urteil im Mannesmann-Pro-
zess wird eine wichtige Signalfunktion haben.

Es gibt sicherlich einiges, was man durch Gesetz re-
geln kann, vielleicht regeln sollte; dazu gehört aber si-
cherlich nicht die Deckelung von Vorstandsvergütungen.


(Beifall bei der FDP)


Meine Damen und Herren von der Linken, Sie be-
gründen Ihren Antrag unter anderem mit einer Idee des
Bankiers Morgan. Er hat eine Gehaltsobergrenze für
seine bestbezahlten Manager eingeführt. In Ihrer Be-
gründung treffen Sie damit den Nagel auf den Kopf, set-
zen sich aber in Widerspruch zu Ihrem eigenen Antrag;
denn die Begrenzung hat der Unternehmer selbst veran-
lasst und nicht der Gesetzgeber.


(Beifall bei der FDP)


Es kommen immer neue Managergenerationen nach.
Nicht alle sind in ihren Entscheidungen durch Raffgier
oder persönliche Vorteilsnahme geprägt. Das wollen Sie,
meine Damen und Herren von der Linken, mit Ihren An-
trägen aber suggerieren.

Lassen Sie mich ganz kurz auf Ihren anderen Antrag
zu sprechen kommen. Er liegt ja auf der gleichen Ebene.
Sie wollen die Entlohnung von Vorständen durch
Aktienoptionen generell verbieten. Darüber, ob das ver-
fassungsrechtlich zulässig ist, wollen wir jetzt gar nicht
reden. Diese angeblich notwendige Regelung begründen
Sie mit Gefahren, die Sie nicht einmal ansatzweise bele-
gen können. Sie sprechen zum Beispiel von einer einsei-
tigen Ausrichtung der unternehmerischen Entscheidun-
gen am Börsenkurs. Angesichts des internationalen
Wettbewerbs frage ich Sie: Glauben Sie ernsthaft, dass
Manager blind sind, was mittel- und langfristige Ent-
wicklungen betrifft? Blind sind Sie mit Ihrer ideologi-
schen, wirtschaftsfeindlichen Haltung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606021000

Der nächste Redner ist der Kollege Klaus Uwe

Benneter für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist noch ein echter Linker! – Zuruf von der FDP: Ich bin gespannt, was er zu den Gewerkschaften sagt!)



Klaus Uwe Benneter (SPD):
Rede ID: ID1606021100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kollege Schui, wir beide sind Wessis. Deshalb ist auch
Ihnen wahrscheinlich nicht geläufig, wie in den Ostkom-
binaten mit den Vorstandsgehältern umgegangen wurde.


(Dr. Herbert Schui [DIE LINKE]: Von denen reden wir jetzt nicht!)


Dort wurden die Vorstände Generaldirektoren genannt.
Sie verdienten, wie ich mir habe sagen lassen, das Fünf-
fache des durchschnittlichen Lohns eines Facharbeiters,
der in der Schichtarbeit tätig war.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber das waren Ost-Mark! Das kann man doch gar nicht miteinander vergleichen!)


Das hat allerdings nicht der Gesetzgeber bestimmt, son-
dern das Kombinat. Das sollten wir beibehalten.


(Heiterkeit bei der SPD – Dr. Herbert Schui [DIE LINKE]: Nun zum Ernst der Sache!)


Die Auseinandersetzung mit der Höhe der Vor-
standsgehälter ist sicherlich keine Neiddebatte. Frau
Kollegin Dyckmans, ich würde die Höhe der Vorstands-






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Uwe Benneter
gehälter etwas stärker kritisieren als Sie. Es reicht nicht
aus, nur darauf hinzuweisen, dass die Höhe des Gehalts
des einen oder anderen Managers unangemessen ist. Wir
sollten deutlich sagen: Das ist unanständig und unmora-
lisch und gehört nicht in unsere Welt.


(Beifall bei der SPD)


Diese Maßlosigkeit, die uns kürzlich auch Herr
Steinbrück ins Gedächtnis gerufen hat, können wir an-
prangern. Hier haben Sie Recht. Wir prangern sie auch
an. Sie werden uns nicht übertreffen, wenn es darum
geht, das zu kritisieren.

In Ihrer Rede haben Sie auch den Kollegen Thierse
zitiert, der diesen Zustand vor drei Jahren sogar als „obs-
zön“ bezeichnet hat. Bereits vor drei Jahren ist es nicht
dabei geblieben, dass wir nur Kritik geübt und protestiert
haben, wie Sie es immer tun. Wir haben gehandelt und
ein Gesetz zur Offenlegung der Vorstandsvergütungen
gemacht. Dort haben wir deutlich hineingeschrieben,
wie Vorstandsvergütungen unserer Meinung nach auszu-
sehen haben.


(Abg. Werner Dreibus [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Ebenso haben wir den Corporate-Governance-Kodex auf
den Weg gebracht. Auch daraus geht hervor, welche
Höhe von Vorstandsvergütungen wir für angemessen
halten und welche unangemessen und unanständig ist.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606021200

Kollege Benneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Klaus Uwe Benneter (SPD):
Rede ID: ID1606021300

Wenn zu so später Uhrzeit noch meine Redezeit ver-

längert wird, bekomme ich Ärger mit meiner Parlamen-
tarischen Geschäftsführerin.


(Joachim Stünker [SPD]: Mit uns auch!)


– Mit euch auch. – Aber bitte.


Werner Dreibus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606021400

Kollege Benneter, wenn Sie auf meine Frage mit Ja

antworten, geht es sehr schnell. Ich habe folgende Frage:
Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass die Vorstands-
gehälter in zwei Dritteln der DAX-Unternehmen, nach-
dem Sie Ihre gesetzliche Regelung zur Offenlegung der
Vorstandsgehälter getroffenen haben, explosionsartig ge-
stiegen sind und dass sich ein Viertel der DAX-Unter-
nehmen bis heute weigert, das Gehalt jedes einzelnen
Vorstandsmitglieds einzeln zu veröffentlichen, wie es in
Ihrer Regelung vorgesehen ist?


Klaus Uwe Benneter (SPD):
Rede ID: ID1606021500

Selbst wenn ich das zur Kenntnis genommen hätte,

was ich allerdings nicht getan habe, müsste ich sagen:
Auch wenn dem so wäre, bliebe es nach wie vor die Auf-
gabe der Aktionäre und insbesondere der Hauptver-
sammlung, deren Rolle wir mit diesem Gesetz gestärkt
haben, darauf zu achten und entsprechende Regelungen
zu treffen.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Unanständigkeit und die Unmoralität, die wir an-
prangern, betreffen nicht nur die Vorstände. Sie betreffen
insbesondere auch die Aufsichtsräte. Wie Sie wissen,
sind die Aufsichtsräte der börsennotierten Unternehmun-
gen, die Sie angesprochen haben, in der Regel paritätisch
besetzt.


(Beifall bei der SPD)


Insofern sollten wir diese Kritik an diejenigen weiterge-
ben, die über die Höhe der Vorstandsbezüge mitentschei-
den. Dazu gehören auch die Gewerkschafts- und Beleg-
schaftsvertreter in den Aufsichtsräten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der Sinn der Mitbestimmung ist, dass in den Auf-
sichtsräten mit darauf geachtet wird, dass die Höhe der
Vorstandsbezüge der Lage des Unternehmens entspricht
und dass bei der Beurteilung der Lage des Unternehmens
nicht nur die Unternehmer- und Aktionärsinteressen Be-
rücksichtigung finden, sondern dass auch die Interessen
der Belegschaft sowie langfristige Unternehmensent-
wicklungen im Auge behalten werden. Darum geht es
doch bei der Mitbestimmung; das ist doch unser aller
Ziel. Darum wollen wir die Mitbestimmung erhalten und
in Europa möglichst noch ausbauen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme zu den Aktienoptionen. Solche Pro-
gramme hat es schon immer gegeben. Aktienoptionen
sind sicher ein ökonomischer Anreiz, den Unterneh-
menswert zu erhöhen. Sie sind international verbreitet.
Missbräuche kann es geben, es kann sie aber auch bei
anderen Vergütungsformen geben; da sollten wir uns
nichts vormachen.

Im Unterschied zu den USA, wo es sehr üblich ist, die
Vorstandsmitglieder mit Aktienoptionsprogrammen zu
vergüten, ist bei uns volle Transparenz gewährleistet,
weil Aktienoptionsprogramme nur unter Mitwirkung der
Hauptversammlung beschlossen werden können. Dort
müssen die Aufsichtsräte vertreten, ob ein solches Pro-
gramm den langfristigen Interessen der Aktionäre ent-
spricht.

Im Gegensatz zu den USA wird bei uns darauf geach-
tet, dass, wenn sich der Kurs nicht wie erhofft entwi-
ckelt, keine solche Anpassung erfolgen kann. Auch da-
mit kann Missbräuchen entgegengewirkt werden.

In unserem Aktiengesetz ist eine Wartezeit von min-
destens zwei Jahren vorgeschrieben, bis Optionen ausge-
übt werden können. Auch das ist etwas, was Sinn macht,
um Missbräuche einzudämmen. Auch im Deutschen
Corporate-Governance-Kodex wird empfohlen, eine
mehrjährige Ausübungssperre zu vereinbaren. Das kön-
nen bei uns die Aufsichtsräte veranlassen.

Auch die Zeiträume für die Ausübung müssen in ei-
nem solchen Programm bei uns festgelegt werden, damit
im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Bilanz
kein Insiderwissen verwendet werden kann. Auch damit






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Uwe Benneter
kann Missbräuchen in diesem Bereich entgegengewirkt
werden.

Ferner dürfen bei uns Aufsichtsratsmitglieder nicht zu
den Begünstigten solcher Programme zählen; auch das
ein Unterschied zu den USA.

Das heißt, es gibt bei uns eine ganze Latte von Rege-
lungen, die Missbräuche, wie Sie sie in Ihrem Gesetzent-
wurf beschreiben, verhindern.

Mit dem Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz,
das Sie angesprochen haben, machen wir die Höhe der
Vergütung einschließlich Aktienoptionen endlich trans-
parent, etwas, was wir, wenn man so will, als Folge un-
seres Protestes, unserer Kritik beschlossen haben und
was mit internationalen Maßstäben in Einklang zu brin-
gen ist. Wenn man Aktienoptionsprogramme abschaffte,
würde das dazu führen, dass auf andere Programme aus-
gewichen würde, bei denen gerade nicht die Transparenz
in der Hauptversammlung und über den Aufsichtsrat ge-
geben wäre. Wenn man hier etwas tun wollte, könnte
man beispielsweise die Haftung der Aufsichtsräte ver-
stärken.


(Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut! Der Kollege hat gute Ideen!)


Da gibt es Möglichkeiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Was die Höhe der Vergütung angeht, sollte weiterhin
– darauf habe ich anfangs schon hingewiesen – das
Kombinat zuständig bleiben.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Mechthild Dyckmans [FDP]: „Kombinat“, haha!)


In welcher Größenordnung sie festlegt wird, sollte Auf-
gabe des bei uns Aufsichtsrat genannten Gremiums blei-
ben.

Was John Pierpont Morgan angeht: Das war ja ein
ganz schillernder Herr, wie ich nachgelesen habe; er
lebte allerdings schon im vorvorigen Jahrhundert. Er hat
aber auch verlangt, dass Manager und Vorstände einen
guten Charakter haben müssen.


(Joachim Stünker [SPD]: Oh!)


Das könnten wir natürlich auch noch ins Gesetz schrei-
ben;


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


das wäre meine Empfehlung. – Doch was Sie empfehlen,
lehnen wir diesmal ab.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Joachim Stünker [SPD]: Du hast ja Ideen, mein Lieber!)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606021600

Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die

Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte drei Punkte zu dem Thema sagen:

Erster Punkt. Zurzeit wird eine Debatte unter dem
Stichwort „Unterschichten“ geführt. Ob man den Begriff
richtig findet oder nicht: Das Phänomen, dass eine grö-
ßere Gruppe in unserer Gesellschaft den Anschluss ver-
liert und ihr somit eine Teilhabe an unserer Gesellschaft
nicht mehr möglich ist, ist relativ unbestritten. Ich
glaube, das richtige Pendant zu dieser Debatte über die
„Unterschichten“ – ich setze das Wort in Anführungszei-
chen – ist, zu schauen, was am anderen Ende der Gesell-
schaft passiert.

Es gibt ja nicht nur Menschen, die von unten den An-
schluss nach oben verlieren, sondern es gibt auch Men-
schen, die oben herausfallen und keine Zugehörigkeit
mehr zu unserer Gesellschaft empfinden. Ein großer Teil
unserer Gesellschaft hat zumindest das Gefühl, dass die
Menschen, die 12 Millionen Euro verdienen und viele
Menschen mit bestimmten Äußerungen wie „Peanuts“
oder Ähnlichem verletzt haben, ein wenig den Bezug
verloren haben. Ich glaube, es ist richtig, bei der Aus-
einandersetzung darüber keine Ideologievorwürfe oder
Ähnliches zu erheben, sondern zu schauen, was in unse-
rer Gesellschaft geschieht und was unsere Antwort da-
rauf ist.

Ich finde, mit der Ablehnung dessen, was die Links-
fraktion vorschlägt – auch ich finde das nicht vernünf-
tig –, ist es nicht getan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sollten diesen Antrag durchaus zum Anlass nehmen,
in den Ausschüssen noch einmal zu schauen, ob wir Ant-
worten darauf finden. Inwiefern unsere Antworten über
die Regelungen im Vorstandvergütungs-Offenlegungs-
gesetz hinausgehen, das wir gemeinsam beschlossen ha-
ben, kommt vielleicht nachher noch zum Ausdruck.

Beim zweiten Punkt geht es um die Ethik. Natürlich
haben Sie Recht, dass das nicht nur eine juristische, son-
dern auch eine ethische Frage ist. Deswegen haben Sie
von „unanständig“ und Ähnlichem gesprochen. In einer
Marktwirtschaft, in der die Marktgesetze für das nor-
male Handeln gelten, gibt es aber ein Instrument, um
ethische Vorstellungen der Gesellschaft zum Ausdruck
zu bringen. Das ist die gesetzliche Rahmenordnung.
Deswegen kann man beides nicht einfach nur gegen-
einander ausspielen und deswegen sind die Caps, die
Deckel, in der Corporate-Governance-Kommission auch
völlig zu Recht diskutiert worden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Man kann über sie natürlich nicht dergestalt diskutie-
ren, dass man einfach nur mit einem Faktor 20 agiert.
Dieser Faktor ist völlig unflexibel und passt mit dem,
was zu Recht in § 87 des Aktiengesetzes steht, dass die






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gerhard Schick
Bezüge nämlich mit den Aufgaben des Vorstandsmit-
glieds und der Lage der Gesellschaft zu tun haben sollen,
überhaupt nicht zusammen. Die Lage der Gesellschaft
wird sich nämlich nicht anhand dieses Faktors 20 aus-
drücken lassen.

Ich glaube, man muss auch aufpassen, von der sozia-
len Marktwirtschaft nicht in ihrem alten Sinn zu reden,
wie das vielleicht noch Eucken oder Adam Smith vor-
schwebte. Zu deren Zeit gab es Kapitalgesellschaften
von einer Größe wie heute noch gar nicht. Deswegen
müssen die Antworten heute auch anders als damals
sein. Dies gilt auch bezüglich der Haftung. In dieser
Richtung werden wir in nächster Zeit noch etwas ein-
bringen.

Ich möchte in einem dritten Punkt auch noch auf die
Empirie eingehen. Ich finde, die Diskussion war ziem-
lich weit von dem abgehoben, was tatsächlich passiert.
Was sagt uns die Empirie? Sie sagt uns, dass die Gehäl-
ter sehr stark mit der Größe der Unternehmen korrelie-
ren. Darüber sollten Sie sich vielleicht auch noch einmal
Gedanken machen. Woher kommt das eigentlich? Diese
Korrelation ist sehr stark. Je größer das Unternehmen ist,
desto höher ist das Vorstandsgehalt.

Ich glaube, deswegen ist es mit einer Deckelung nicht
getan und müssen wir uns auch über manche Konzentra-
tionstendenzen Gedanken machen. Diesen Punkt stellen
wir Grünen zum Beispiel in den Vordergrund – es geht
uns um mehr Wettbewerb und um eine Stärkung des
Kartellamts –, um diese Vermachtung und damit auch
diese Explosion von Vorstandsgehältern verhindern zu
können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schließlich muss man natürlich auch noch sehen, dass
die Debatte über die Corporate Governance mit der von
uns bisher erreichten Transparenz noch nicht am Ende
ist. Ich habe die Diskussion über die Caps verfolgt. Ich
fände es spannend, wenn Sie von der großen Koalition
Vorschläge entwickeln würden, die besser als das sind,
was die Linksfraktion vorgeschlagen hat,


(Frank Schäffler [FDP]: Das ist nicht schwer!)


und mit denen die Gedanken bezüglich der Caps, über
die damals diskutiert worden ist, vernünftig umgesetzt
werden. Wir warten hier auf Ihre Vorschläge.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606021700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 16/1444 und 16/3015 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukul-
tur“

– Drucksachen 16/1945, 16/1990 –

– Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung (15. Ausschuss)


– Drucksache 16/3081 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Joachim Günther (Plauen)



(8. Ausschuss)


– Drucksache 16/3179 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Fricke
Bartholomäus Kalb
Klaas Hübner
Dr. Claudia Winterstein
Anna Lührmann
Roland Claus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla-
mentarische Staatssekretärin Karin Roth.

K
Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1606021800


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Deutsche Bundestag führt heute die zweite und
dritte Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Gesetzentwurfs zur Errichtung einer „Bundes-
stiftung Baukultur“ durch. Die Bundesregierung hat den
Gesetzentwurf in Umsetzung des Koalitionsvertrages im
Mai dieses Jahres beschlossen, um auch auf Bundes-
ebene eine Kommunikationsplattform für die Anlie-
gen der Baukultur vergleichbar mit den Bereichen Um-
weltschutz, Denkmalpflege oder Kultur zu schaffen, die
seit langem über ähnliche Einrichtungen oder Strukturen
verfügen.

Auch viele unserer europäischen Nachbarn haben be-
reits erkannt, dass die Qualität des Planens und Bauens
einen ökonomischen Wert besitzt und einen hervorra-
genden Aspekt hinsichtlich der Außendarstellung und
des erfolgreichen Marketings darstellt.

Das Thema Baukultur beschäftigt uns nicht erst seit
gestern. Mein Kollege Achim Großmann, der aus ge-
sundheitlichen Gründen heute leider nicht selbst zu
Ihnen sprechen kann, hat bereits im Jahre 2000 die Ini-
tiative „Architektur und Baukultur“ angestoßen, um
– gemeinsam mit vielen Partnern aus den Bereichen des
Planens und Bauens – das Thema Baukultur wieder in
den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken.






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Karin Roth
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik
konnte die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag
im Jahr 2002 einen Statusbericht zur Lage der Bau-
kultur in Deutschland vorlegen. Das Parlament hat die-
sen Bericht in der letzten Legislaturperiode intensiv dis-
kutiert und vor allem die Idee einer „Bundesstiftung
Baukultur“ fraktionsübergreifend – das betone ich be-
sonders gern – unterstützt.

Der Deutsche Bundestag hat auch das bereits in der
letzten Legislaturperiode eingebrachte Stiftungsgesetz
einmütig verabschiedet. Wie Sie wissen, konnte das Ge-
setzgebungsverfahren wegen des vorzeitigen Endes der
15. Wahlperiode nicht mehr abgeschlossen werden.

Die Bundesländer befürchteten zudem, dass die ge-
plante Bundesstiftung in Kernkompetenzen der Länder
eingreifen würde. Deshalb möchte ich noch einmal deut-
lich machen, dass sich Baukultur keinesfalls nur auf den
Ausdruck künstlerischen Schaffens beschränkt.


(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Richtig!)


Dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Einrichtung ei-
ner Bundesstiftung liegt ein umfassender baukulturel-
ler Ansatz zugrunde: Unter Baukultur ist die gesamte
Bandbreite der Herstellung der gebauten Umwelt und
des Umgangs mit ihr zu verstehen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dies schließt Planen und Planungsverfahren ebenso ein
wie das Bauen und Instandhalten. Baukultur bezieht sich
nicht nur auf Architektur und Ingenieurkunst, sondern
zum Beispiel auch auf Stadt- und Regionalplanung – ein
sehr wichtiger Punkt –, Belange des Denkmalschutzes
– das ist ohnehin klar –, Innen- und Landschaftsarchitek-
tur und Kunst am Bau.

Bei der erneuten Einbringung des Gesetzentwurfs ha-
ben wir uns bemüht, den Bedenken der Länder Rech-
nung zu tragen. Der Gesetzentwurf hebt daher den bau-
politischen Ansatz ebenso wie die bundespolitische
Dimension der Stiftung deutlich hervor.

Die Stiftung wird sich bei der Erfüllung ihrer Aufga-
ben auf Instrumente mit bundesweiter und internatio-
naler Ausstrahlung konzentrieren. Ich glaube, es ist
wichtig, das zu betonen: Es geht auch um die internatio-
nale Ausstrahlung des Projektes. Der Bundesrat hat den
Ansatz in seiner ersten Stellungnahme vom Juni 2006
ausdrücklich gewürdigt und den Entwurf des Stiftungs-
gesetzes begrüßt.

Auch die Länderkammer hat die Notwendigkeit, die
Baukultur in Deutschland zu fördern und das Bewusst-
sein für ihre Belange in der Öffentlichkeit zu stärken,
stets betont; denn Baukultur betrifft uns alle unmittelbar.
Die Qualität der gebauten Umwelt hat einen wesentli-
chen Einfluss auf die Lebensqualität unserer Bürgerin-
nen und Bürger in Städten und Gemeinden. Es geht also
um sehr viel mehr.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Baukultur begründet einen ideellen und ökonomi-
schen Mehrwert, indem sie der Immobilie, dem Bau-
herrn oder dem Standort ein unverwechselbares Profil
verleiht. Sie kann dazu beitragen, dass Bau- und Be-
triebskosten gemindert, Zeit gespart und negative Um-
weltfolgen verhindert werden.

Aus diesen Gründen bleibt es ein wichtiges Anliegen
der Politik, verlässliche Rahmenbedingungen für das
Entstehen von Baukultur zu schaffen. Das Entstehen von
Baukultur bedeutet letztlich, daran mitzuwirken und alle
zu beteiligen. Hierbei kommt auch der Errichtung der
geplanten „Bundesstiftung Baukultur“ eine bedeutende
Rolle zu. Unabhängig und mit hoher Fachautorität aus-
gestattet soll die Stiftung für die Anliegen der Baukultur
und das hohe Leistungsniveau deutscher Planer werben
und gezielt Nachfrage nach hochwertigen Bau- und Pla-
nungsleistungen auslösen.

Wir haben die Stiftung mit einem Kapitalstock in
Höhe von 250 000 Euro ausgestattet und stellen ihr da-
neben einen jährlichen Zuschuss nach Maßgabe des je-
weiligen Bundeshaushalts zur Verfügung. Es liegt also
an Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Der
aktuelle Bundeshaushalt und die Finanzplanung bis 2010
sehen hierfür rund 7 Millionen Euro vor. Die Bundes-
finanzierung dient dazu, den Aufbau der Stiftung, die
Aufnahme ihrer Tätigkeit und vor allem ihre Wahrneh-
mung in der Öffentlichkeit zu ermöglichen; denn lang-
fristig soll der Finanzbedarf der Stiftung im Wesentli-
chen von privaten Dritten gedeckt werden. Baukultur
kann nicht staatlich verordnet werden. Sie liegt im Inte-
resse aller. Insofern ist das Engagement Dritter gefor-
dert. Wir freuen uns, wenn das geschieht.

Lassen Sie mich noch kurz auf die Frage nach dem
Stiftungssitz eingehen. Um den Sitz der geplanten Bun-
desstiftung haben sich acht Städte aus allen Teilen der
Bundesrepublik beworben. Alle Städte verfügen über
gute Standortvoraussetzungen und bieten auf unter-
schiedliche Weise ein attraktives baukulturelles Umfeld.
Dies hat die Entscheidung nicht gerade einfacher ge-
macht. Dennoch weisen die angebotenen Konditionen
für Ansiedlung und Unterstützung der Stiftung erhebli-
che Unterschiede auf. Außerdem können nicht alle
Standorte auf die Unterstützung der jeweiligen Landes-
regierung verweisen, was sehr wichtig ist. Angesichts
dieser konkreten Rahmenbedingungen und aufgrund der
fortgeltenden Beschlüsse der unabhängigen Föderalis-
muskommission empfiehlt sich der Standort Potsdam in
besonderer Weise als Sitz der Stiftung.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Weimar wäre besser gewesen!)


Die beratenden Ausschüsse haben diese Einschätzung
geteilt und sich – auch angesichts der Nähe zu Parlament
und Regierung – für eine Festschreibung des Standortes
Potsdam entsprechend § 1 des Entwurfs des Stiftungsge-
setzes ausgesprochen.

Ich bin zuversichtlich, dass die geplante „Bundesstif-
tung Baukultur“ einen wichtigen Beitrag zur Förderung
eines positiven baukulturellen Klimas in der Bundes-
republik leisten wird. Ich hoffe, dass der Entwurf des Stif-






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Karin Roth
tungsgesetzes – genauso wie in der letzten Wahlperiode –
Ihre uneingeschränkte Unterstützung erfährt. Das sage
ich insbesondere an die Adresse der FDP.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606021900

Der Kollege Joachim Günther hat das Wort für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1606022000

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir
uns mit dem Thema Baukultur ausgiebig befasst. Die
Notwendigkeit einer Stiftung „Baukultur“ ist über die
Fraktionsgrenzen hinweg unbestritten. Aber Rechtsform
und Standort geben Anlass für Diskussionen. Die Wahl
des Standortes ist im Allgemeinen eine Herzens- oder
Glaubenssache. Darüber sollte man nicht allzu sehr strei-
ten.

Wenn man noch einmal auf die Ausgangsfrage nach
dem Warum zurückkommt, dann stellt man fest, dass es
eine breite Palette von Argumenten gibt. Das Spektrum
reicht von der deutschen Baugeschichte über Baustile in
der Vergangenheit bis hin zu manchen Bausünden in der
Gegenwart. Das alles soll von einer Stiftung aufgearbei-
tet, ausgewertet und weiterentwickelt werden. Die so er-
mittelten Ergebnisse, die Ratschläge und Vergleiche in
Gestalt von Studien können dann genutzt werden, um in
gegenwärtigen Diskussionen über Stadtentwicklung und
Förderpolitik eingesetzt zu werden. Auch in diesem
Punkt gibt es hier in diesem Hohen Haus meiner Mei-
nung nach Übereinstimmung. Ob wir über Stadtumbau
Ost und West, über das Programm „Soziale Stadt“ oder
über den städtebaulichen Denkmalschutz reden, all das
hängt unmittelbar mit baukulturellen Aufgaben und Zie-
len zusammen. Gerade in den neuen Ländern hat das
Programm „Städtebaulicher Denkmalschutz“ einen ho-
hen Stellenwert. Vor allem dort sind in vielen Städten
noch Bauwerke und Ensembles vorhanden, die, inzwi-
schen zum Teil mit viel Aufwand saniert, hervorragende
Beispiele deutscher Baukunst widerspiegeln.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir über diese hervorragenden Ausgangsposi-
tionen verfügen, dann müssen wir sie nutzen, um eine
Stiftung „Baukultur“ auf den Weg zu bringen, die unse-
rer Tradition gerecht wird. Bereits in der vergangenen
Legislaturperiode haben wir deshalb darauf hingewie-
sen, dass eine Stiftung öffentlichen Rechts aus unserer
Sicht zu kurz springt.


(Beifall bei der FDP)


Eine Stiftung vor diesem genannten Hintergrund und mit
der erhofften großen Bedeutung mit einem Kapital von
250 000 Euro auszustatten, ist einfach lächerlich.


(Beifall bei der FDP)

Wenn wir von vornherein jährliche Ausgaben in Höhe
des Zehnfachen des Stiftungskapitals vorsehen, dann
kann man eigentlich das Ganze nicht richtig ernst neh-
men. Eine wirkliche Stiftung braucht einen Kapitalstock,
der einem bestimmten Zweck gewidmet ist und einen
großen Teil der Ausgaben deckt. Oder Sie sagen von
Vornherein: Wir können es nicht, wir wollen diesen fi-
nanziellen Rahmen nicht auf uns nehmen. – Dann muss
man sich aber auch fragen, ob das der richtige Weg ist.

Hinzu kamen in der letzten Legislaturperiode die Dis-
kussionen mit den Ländern über Zuständigkeiten.
Auch unter diesen Voraussetzungen haben wir für die
privatrechtliche Stiftung plädiert. Mein Kollege Otto
sagte hier im Plenum vor über einem Jahr – ich zitiere –:

Es spräche alles dafür, eine privatrechtliche Stiftung
zu errichten … Ich bin übrigens der Auffassung,
wir könnten, wenn wir eine Stiftung privaten
Rechts errichteten, wahrscheinlich diesen ganzen
Verfassungskonflikt mit den Ländern vermeiden
und sagen: Beteiligt euch doch!

Wissen Sie, was zu dieser Rede im Protokoll vermerkt
ist? Beifall bei der CDU/CSU. Und meine Kollegin
Renate Blank sagte: Richtig! – Deshalb frage ich mich,
warum wir in dieser Entwicklung nicht weitergekommen
sind. Warum haben wir nicht die Stiftung privaten
Rechts, mit deren Hilfe wir mit Sicherheit ein entschie-
den höheres Stiftungskapital erreicht hätten? Ich bin da-
von überzeugt, dass sich dann zum Beispiel auch die Ar-
chitekten und Ingenieure beteiligen würden, ein
Wunsch, den die Grünen immer geäußert haben. Ich
weiß, es kann Gegenargumente geben. Diese Berufs-
gruppen sind alle in der Stiftung verankert. Aber ob sie
sich wegen der Verankerung auch finanziell engagieren
und sich daran beteiligen und die Bedeutung der Stiftung
erhöhen, steht aus meiner Sicht auf einem anderen Blatt.
Ich empfehle Ihnen deshalb, sich doch noch einmal un-
seren Entschließungsantrag aus der letzten Legislaturpe-
riode anzuschauen.

Bei der Festlegung des Standortes für die Stiftung
hat man sich aus meiner Sicht zu sehr von materiellen
Momentansituationen leiten lassen. Sie haben das hier
im Prinzip bestätigt. Frau Staatssekretärin, Sie haben ge-
sagt, es gehe darum, wie die Länder den Standort mit un-
terstützen. Das ist richtig, aber man muss das auch
durchdeklinieren. Die Stadt Weimar, die mit dem Bau-
haus eine große Kunst- und Bautradition ausweist, wäre
aus meiner Sicht ein Standort gewesen, der der Bedeu-
tung der „Bundesstiftung Baukultur“ auf jeden Fall viel
gerechter geworden wäre.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir hätten zwar lieber eine Stiftung bürgerlichen
Rechts gehabt, hoffen aber dennoch, dass sich die Bun-
desstiftung zu einem bedeutenden Instrument entwi-
ckelt. Wir wünschen uns das und wir werden das unter-
stützen. Deshalb werden wir den Gesetzentwurf heute
nicht ablehnen, sondern wir werden uns der Stimme ent-
halten.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606022100

Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Renate Blank

das Wort.


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1606022200

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Nach

dem Motto „Was lange währt, wird endlich gut“ disku-
tieren wir heute – ich glaube, zum dritten oder vierten
Mal – über das Thema Baukultur. Wir kommen zu einem
Beschluss, der von fast allen getragen wird. Ich freue
mich sehr, dass im Interesse aller am Bau beteiligten
Personen, angefangen vom Bauherrn, über Architekten
und Ingenieure bis hin zu Landschaftsplanern usw., eine
Entscheidung getroffen wird. Nun wünsche ich mir – das
ist eigentlich auch so vorgesehen und das war am An-
fang auch der Fall –, dass sich auch Private neben der
Anschubfinanzierung des Bundes finanziell beteiligen.

Ich gehe einmal davon aus, dass sich nach der heuti-
gen Entscheidung sehr viele Privatpersonen – sei es im
Ingenieur-, sei es im Architektenbereich – beteiligen
werden. Ich glaube, die „Bundesstiftung Baukultur“
setzt ein Zeichen, die Möglichkeiten guten Planens und
Bauens einer breiten Öffentlichkeit bewusst zu machen.

Mit dem Stiftungssitz Potsdam wurde der letzte Bau-
stein in das gesetzliche Fundament der „Bundesstiftung
Baukultur“ eingefügt. Ich füge hinzu: Wir haben uns die
Entscheidung nicht leicht gemacht. Frau Staatssekretärin
hat schon darauf hingewiesen, dass für Potsdam ein
Mehr an Beteiligung und die Nähe zu Berlin sprach.


(Zurufe von der FDP)


„Erst bauen Menschen Häuser, dann bauen Häuser
Menschen.“ So sagte einst Albert Schweitzer. Das Sein
bestimmt das Bewusstsein, so könnte man dazu etwas
moderner heutzutage auch sagen.


(Beifall der Abg. Heidrun Bluhm [DIE LINKE])


In der Tat: Bei der heutigen Debatte um die Einrichtung
einer „Bundesstiftung Baukultur“ geht es im Kern da-
rum, menschliches Leben nicht zu verplanen, sondern
darum, Menschen ein Lebensumfeld zu erhalten bzw.
neu zu schaffen, in dem sie ein selbstbestimmtes Leben
erfahren können. Nicht Menschen sollen sich also den
Bauten anpassen und in ihnen verloren sein, sondern das
Bauen selbst soll menschlichen Bedürfnissen entspre-
chen. In diesem Sinne ist heute für mich ein guter Tag
für die Baukultur, aber auch für alle Menschen im Land.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Jahr 2000 gab es den Anstoß zur Bundesinitiative
„Architektur und Baukultur“. So erhielt die öffentliche
Diskussion über Architektur, Städtebau, Stadtgestaltung
sowie Planen und Bauen bundesweiten Auftrieb. Bau-
kultur wurde mit Wirkung ab Juli 2004 als neuer zu be-
rücksichtigender Belang bei der Aufstellung von Bau-
leitplänen im novellierten Baugesetzbuch verankert.
Heute, mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs über
eine „Bundesstiftung Baukultur“, wird in meinen Augen
ein weiterer entscheidender Meilenstein gesetzt. Denn
ich verstehe Baukultur als eine aktive Auseinanderset-
zung mit der gestalteten Umwelt und mit der gestalteri-
schen Zukunft. Baukultur kann nie ein Monolog der
Steine sein. Baukultur ist für mich vielmehr ein lebendi-
ger Dialog über Bauwerke und Städte mit dem Ziel, zu
diskutieren und die planerische, technische und gestalte-
rische Qualität unserer Architektur zu erhöhen. Dabei
beschreibt und bestimmt die Baukultur gleichermaßen,
wie wir mit Architektur und Städtebau leben. Sie ist
Schnittstelle zwischen gebauter Umwelt und Gesell-
schaft.

Baukultur ist der Dialog zwischen Auftraggeber und
Architekt, zwischen Architekt und Ingenieur und
zwischen Bau und Umwelt, der in eine gesellschaftspoli-
tische Debatte einmünden kann, die sich mit Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft unserer Baukultur beschäf-
tigt, ohne dabei auf Hinterzimmer oder Feuilletons
beschränkt zu bleiben.

Kolleginnen und Kollegen, viele, die den Begriff
Baukultur hören, denken zuerst an Architektenträume
aus Glas und Stahl, an teure Denkmalschutzprojekte
oder an herausgeputzte öffentliche Räume. Viele sind
auch der Meinung, dass wir in einer Zeit leben, in der
man sich den scheinbaren Luxus Baukultur nicht mehr
leisten kann. Nun, wie jede Art von Kultur entzieht sich
auch Baukultur einer eindimensionalen ökonomischen
Betrachtung.


(Beifall des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der Mensch lebt halt nicht vom Brot allein! Keiner wird
den Wert eines solchen Gefühls wie Heimat oder Identi-
fikation mit einer Stadt mit Euro und Cent beziffern kön-
nen. Aber ebenso wird keiner bezweifeln, dass es sich
um Werte handelt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Baukultur muss den Weg in das öffentliche Bewusst-
sein und in Nachbarschaften finden und darf sich nicht
von den Bollwerken unseres Planungs- und Baurechts
abschrecken lassen. Denn nur große Dynamik und Mut
garantieren uns eine nachhaltige Baukultur, bei der die
Bewahrung des Bauerbes so wichtig ist wie die Weiter-
entwicklung von Baustilen und Bautechnik. Baukultur
muss die Kraft für das Bauwerk und dessen Umgebung
haben. Der Bauherr muss allerdings zukünftig mehr Ver-
antwortung als heute tragen. Aber auch die wirtschaft-
liche Bedeutung der Baukultur wird meines Erachtens
durchaus noch unterschätzt. Man kann Baukultur vor al-
lem auch als angewandte Standort- und Strukturpolitik
verstehen. Städtisches Leben und Wirtschaften braucht
urbane Atmosphären und unverwechselbare bauliche
Profile – vielleicht ebenso wie technische Infrastruktur.
Wenn wir über Stadtflucht und deren enorme Kosten
klagen, ist das letztendlich auch ein Problem der Baukul-
tur. Wenn wir über die Strukturkrise der Bauwirtschaft
nachdenken und darüber, welche Perspektiven das
Bauen langfristig hat, so ist auch dies ein Problem der
Baukultur. Ohne Baukultur werden wir unser Know-how






(A) (C)



(B) (D)


Renate Blank
im Bereich Architektur und Bauen in Zukunft nicht er-
folgreich exportieren können.

Baukultur ist leider im allgemeinen Bildungsgut bis-
her nur schwach verankert. Umso mehr Bedeutung er-
langen Bemühungen – das ist eine dringende Bitte an die
Länder –, das Thema Baukultur in den Schulunterricht
einzubinden; denn Baukultur hat etwas mit Wissen zu
tun: bewusst wahrzunehmen, was man sieht, in Kenntnis
der Geschichte und des gesellschaftlichen und wirt-
schaftlichen Umfeldes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Einrichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“
wirft natürlich auch einige Fragen auf. Gibt es eigentlich
so etwas wie Bauen ohne Baukultur? Ist die Baukultur
aus dem Alltag entwichen oder war sie vielleicht noch
nie da? Interessant an den zurückliegenden Diskussionen
um die „Bundesstiftung Baukultur“ war und ist aber,
dass eine zuerst sehr inhaltlich geführte Diskussion darin
mündete, einen vor allem über Verfahren definierten
Prozess anzustoßen. Das heißt für den Alltag und die
Baukultur – auch über den Rahmen der Stiftung
hinaus –, dass sich die Antwort auf die Frage danach,
was Baukultur ist und was nicht, als dynamische Auf-
gabe herausgestellt hat. Sie ist nicht mit einem Katalog
von guten Ratschlägen oder einer Menge von einmal
festgelegten Kriterien abschließend zu erledigen. Offen-
sichtlich hat Baukultur etwas mit permanenter Auseinan-
dersetzung zu tun, mit Kommunikation, mit Vergleichen,
mit Beispielen, mit der Abstimmung von unterschiedli-
chen Wünschen und unterschiedlichen Zielen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Natürlich ist niemand ausdrücklich gegen Baukultur,
aber spätestens dann, wenn es konkret wird, wenn
schnell gebaut und geplant werden soll, wird sie gele-
gentlich unbequem. Dann kostet Baukultur möglicher-
weise Zeit und Geld. Dann setzen schnell Überlegungen
ein, ob es in diesem besonderen Einzelfall nicht auch
ohne besondere bauliche Qualitäten geht. Schlimmer
noch: In der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation
werden solche Einzelfälle fast regelmäßig zum Normal-
fall.

Wer also heute mehr Baukultur will, wird mit Wider-
sprüchen umgehen müssen. Auf der einen Seite sind
Architektur und Städtebau konstituierende Bestandteile
unserer Kultur. Auf der anderen Seite bleibt die Senkung
von Baukosten ein ökonomisches Gebot der Stunde.

Aber nicht alle genannten Widersprüche sind wirkli-
che Widersprüche. Gut bauen heißt ja keineswegs
zwangsläufig teuer bauen. Im Gegenteil, gute Architek-
tur stützt die ökonomische Werthaltigkeit von Gebäuden.
Letztendlich wird man in der Baukulturdiskussion nur
dann vorankommen, wenn man den gesellschaftlichen
und auch den immateriellen Wert von Architektur und
Städtebau, von Ingenieurbauwesen und Landschaftsge-
staltung anerkennt.
Welche Gebäude, Plätze oder Parks wir der nachfol-
genden Generation als potenzielle Denkmale hinterlas-
sen, wird sich zeigen. Eines ist aber ganz sicher: Jede
Zeit wird ihre Bausünden haben.


(Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Baukultur muss im
Alltag ankommen, will sie wirkliche gesellschaftliche
Relevanz gewinnen. Ernst Bloch hat einmal gesagt, Ar-
chitektur insgesamt sei und bleibe der Produktionsver-
such von Heimat. Das ist schön gesagt und zeigt An-
spruch, Realität und Widerspruch der Debatte über
Architektur und Baukultur in Deutschland. Gutes Bauen
kann Bindung zum Ort schaffen und kann Räume entwi-
ckeln, die Heimatqualität haben. In diesem Sinne freue
ich mich über die Errichtung der „Bundesstiftung Bau-
kultur“.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606022300

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Heidrun

Bluhm das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606022400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jede Ar-

chitektin, jeder Architekt, jede Bauherrin, jeder Bauherr,
jedes Bauunternehmen und alle Nutzer wünschen sich
ein schönes Haus, wünschen sich Kultur am Bau. Kultur
und Schönheit sind aber streitbare Begriffe, sind auch
Ausdruck von Erziehung, Bildung und Wissenschaft.

Gebaute Architektur unterscheidet sich von anderen
Produkten der Gesellschaft durch extreme Langlebig-
keit. Das gilt auch für in Beton gegossene Bausünden;
auch diese stehen unter Umständen mehr als hundert
Jahre.

Architekten und Planer stehen zunehmend unter dem
ökonomischen Druck der Bauherren, schnell und preis-
wert zu bauen. Deshalb ist es unabdingbar, den gesell-
schaftlichen Dialog aller am Bau Beteiligten auf einer
Ebene zu vernetzen, mit dem Ziel, das vorhandene
Know-how effektiv zu bündeln, sodass alle Bereiche da-
von profitieren können. Baukultur ist ein interdisziplinä-
res Fach. Nachhaltiges Bauen gelingt also nur durch das
Zusammenspiel vieler Disziplinen.

Auch wir freuen uns, dass es nach Geburtswehen mit-
tlerweile gelungen ist, die „Bundesstiftung Baukultur“
das Licht der Welt erblicken zu lassen. In der Zwischen-
zeit hat der Förderverein Baukultur mit seinen vielen
Mitgliedern vorgearbeitet. Er hat die Zeit genutzt, sich in
Arbeitskreisen zusammenzuschließen und bereits damit
wesentliche Grundlagen für eine schnelle Entfaltung der
verschiedensten Aktivitäten der Stiftung zu schaffen. Es
gibt zum Beispiel den Arbeitskreis „Baukultur macht
Schule“; Renate Blank, meine Kollegin, sprach dieses
Thema eben an. Ich denke auch an die Befähigung von






(A) (C)



(B) (D)


Heidrun Bluhm
Lehrerinnen und Lehrern, im Unterricht, in der Ausbil-
dung Ästhetik, Form und Farbe zu behandeln und
Baukultur als Wissensfach zu vermitteln. Ein weiteres
Beispiel ist die Arbeitsgruppe „Baukultur und Öffent-
lichkeit“. Sie folgt dem Sprichwort: Tue Gutes und rede
darüber.

Ich möchte an dieser Stelle all den Akteuren danken,
die die Übergangszeit inhaltlich genutzt haben – wir ha-
ben diese Zeit gebraucht, die „Bundesstiftung Baukul-
tur“ aufzubauen –; sie haben einfach gearbeitet, und
zwar im Vertrauen, dass es diese Stiftung geben wird.

Dass die „Bundesstiftung Baukultur“ als Stiftung des
öffentlichen Rechts entstehen wird, wird von uns aus-
drücklich begrüßt. Damit stehen auch wir in der Pflicht.
Dadurch unterscheiden wir uns in unserer Auffassung,
Herr Günther. Ich denke, dass die Stiftung des öffentli-
chen Rechts, so wie sie angelegt ist, durchaus auch durch
private Initiative unterstützt werden kann und auch un-
terstützt werden soll.

Letztlich haben auch die Mitglieder des Fördervereins
durch ihre Mitgliedsbeiträge und ihre hohen Spenden in
der Zwischenzeit dafür gesorgt, dass diese Arbeit inhalt-
lich geleistet werden konnte. Deshalb mache ich mir
überhaupt keine Sorgen darüber, dass sich Architektin-
nen, Architekten und Planer in die „Bundesstiftung Bau-
kultur“ einbringen werden, nicht nur mit ihrer Arbeit,
mit ihren Ideen und mit ihren Gedanken, sondern auch
mit ihrem finanziellen Engagement.


(Beifall des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir wünschen dieser Stiftung selbstverständlich auch
großzügige private Spenden und die Unterstützung pri-
vater Fördervereine. Trotzdem sieht meine Fraktion die
finanzielle Ausstattung dieser Stiftung mit ein bisschen
Skepsis. Das vom Bund vorgesehene Stiftungskapital
zur Anschubfinanzierung liegt bei 250 000 Euro, wäh-
rend wir für die Umsetzung des Stiftungsgedankens jähr-
lich fast 2,5 Millionen Euro ausgeben wollen. Ich
stimme meinen Vorrednern zu: 250 000 Euro sind etwas
wenig.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Frau Roth, Sie haben angekündigt, dass wir in den
Haushaltsplanungen die Verantwortung haben werden.
Die entsprechenden jährlichen Zuschüsse werden zu dis-
kutieren sein. Sie wälzen die Verantwortung letztlich ein
bisschen auf uns ab. Wir haben heute von Ihnen keine
Zahl gehört. Sie werden einen Haushaltsentwurf vorle-
gen, in dem eine entsprechende Zahl enthalten sein
muss. Ich hätte sie gern schon heute gehört. Das hätte
mich vielleicht ein wenig mehr beruhigt.

Die Linkspartei plädiert also für eine langfristige und
ausreichende finanzielle Beteiligung des Bundes an der
Finanzierung dieser Stiftung. Vielleicht werden wir, die
Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss, dafür Sorge
tragen können, dass das in den nächsten Jahren geleistet
werden kann.

Die Vielfalt der Baukultur in Deutschland ist einma-
lig. Innovative Schulen wie das Bauhaus erinnern an In-
novationsfreudigkeit und weltweites Ansehen. Archi-
tektur-Mut fehlt aber auch heute an mancher Stelle.
Wenn man sich zum Beispiel die Debatte um den Wie-
deraufbau des Berliner Stadtschlosses anschaut, dann er-
kennt man, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Dis-
kussion in die falsche Richtung geht.

Schauen wir einfach hier nach oben! Schauen wir uns
einmal die Kuppel unseres Reichstages an! Mit dem Ar-
chitekten Foster haben wir national und international
bewiesen, dass es tatsächlich gelingen kann, Denkmal-
schutz, Baukultur und moderne Architektur zu verbin-
den.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich möchte zum Schluss noch darauf aufmerksam
machen – auch das ist von der Regierung hier beruhigen-
derweise schon angesprochen worden –, dass es der
Fraktion der Linken insbesondere um die sozialen Di-
mensionen des Bauens geht. Diese sind nicht zu ver-
nachlässigen. Damit möchte ich enden. Wir können
diese Stiftung nutzen. Ich wünsche ihr einen guten Er-
folg.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606022500

Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen

spricht nun der Kollege Peter Hettlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606022600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolle-
gin Blank, Sie sprachen in Ihrer Rede eben davon, dass
es die dritte oder vierte Debatte zur Baukultur gewesen
sei. Ich nehme an, Sie meinten eher, es sei die dritte oder
vierte Debatte zur „Bundesstiftung Baukultur“ gewesen.
Ich hoffe, dass wir in diesem Hause noch öfter über das
Thema Baukultur diskutieren werden.

Ich möchte an dieser Stelle einmal lobend erwähnen,
dass mir Ihre Rede sehr gut gefallen hat. Ihre Rede war
fast ein Seminarbeitrag zum Thema Baukultur. Alle
Achtung! Es fällt mir schwer, noch eins draufzulegen,
zumindest weiß ich nicht, ob es mir gelingen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


– Fishing for compliments.

Wir haben es endlich geschafft, dass der Gesetzent-
wurf zur Errichtung der „Bundesstiftung Baukultur“
heute nach dreijährigem Tauziehen verabschiedet wird.
Mit dem Sitz der Stiftung in der Roten Villa in Potsdam
haben wir einen würdigen baulichen Rahmen gefunden,
obwohl sicherlich Weimar mit dem Haus am Horn oder
Schloss Ettersburg oder auch Essen mit der Zeche Zoll-
verein sehr attraktive Gegenangebote abgegeben hatten.
Die Entscheidung für Potsdam ist eine gute Entschei-






(A) (C)



(B) (D)


Peter Hettlich
dung und sie ist mir nach Abwägung der vorliegenden
Fakten relativ leicht gefallen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bedanke mich an dieser Stelle ausdrücklich für die
finanzielle Unterstützung der Stadt Potsdam und des
Landes Brandenburg. Das sollte man hier erwähnen.

Die „Bundesstiftung Baukultur“ soll die Bedeutung
von Qualität, Nachhaltigkeit und Leistungsfähigkeit so-
wohl im Architektur- und Ingenieurwesen als auch in der
Bauwirtschaft herausstellen. Als Kommunikations-
plattform kann sie das Netzwerk zwischen den Institu-
tionen und den Akteuren stärken und die Öffentlichkeit
durch regelmäßige Publikationen und Veranstaltungen in
die aktuelle Diskussion über die Baukultur einbeziehen.
Ich persönlich freue mich auf die Konvents, die alle zwei
Jahre ausgerichtet werden sollen. Ich erhoffe mir von
diesen Konvents wichtige Impulse für unsere Arbeit.

Ich möchte zwei Gedanken in die Diskussion einbrin-
gen. Ein Gedanke ist mir sehr wichtig: Denkmale und
ihr Schutz sind ein wichtiger Bestandteil unserer Bau-
kultur, was bereits von vielen Vorrednern gesagt wurde.
Wir Ostdeutsche freuen uns gerade über die vollständig
erhaltenen und wunderbar sanierten historischen Gebäu-
deensembles – sei es in Leipzig, Schwerin, Erfurt oder
Potsdam. Ich schließe mich der Auffassung des Kolle-
gen Günther an, dass in den vergangenen 16 Jahren mit
vereinten Kräften etwas Einmaliges geschaffen worden
ist. Dafür sei allen Akteuren ausdrücklich gedankt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Dennoch gibt es dunkle Wolken am Horizont. Man
sollte hier auch hervorheben, dass es eine schleichende
Aufweichung des Denkmalschutzes insbesondere auf
Länderebene gibt. Einige Bundesländer wollen die Un-
terschutzstellung von Gebäuden radikal entbürokratisie-
ren, mit der Folge, dass das Stadtbild prägende Gebäude
von Bauherren oder Investoren geschliffen werden kön-
nen.

Man muss auch zugeben, dass das Programm „Stadt-
umbau Ost“ seine Spuren hinterlassen hat, da manche
Kommunen es offensichtlich als willkommene Chance
begreifen, marode Bausubstanz, die das Stadtbild angeb-
lich verschandelt, mit Fördermitteln elegant zu „entsor-
gen“. Ich nenne hier nur als Beispiel die Vorgänge in
Chemnitz im vergangenen Jahr. Dieses Problem müssten
wir auch im Ausschuss behandeln und es im Rahmen des
Programms „Stadtumbau Ost“ offensiver angehen.

Ein weiteres Problem ist die finanzielle Förderung
des Denkmalschutzes. Wir wissen, dass die Staatskassen
vieler Länder und Kommunen leer sind. Insofern kann
dort eine Förderung nur noch eingeschränkt erfolgen.
Hier im Hause erleben wir trotzdem immer wieder die
Diskussion über die Abschaffung des § 7 i Einkommen-
steuergesetz, durch den der denkmalpflegerische Mehr-
aufwand steuerlich gefördert werden kann. Dieser Para-
graf hat sich in den letzten zehn Jahren aus meiner Sicht
gerade in Ostdeutschland oftmals als letzte Rettung für
gefährdete Bausubstanz erwiesen. Deswegen an dieser
Stelle noch einmal ausdrücklich die Bitte: Hände weg
von § 7 i Einkommensteuergesetz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)


Baukultur bedeutet für mich ebenfalls, die hohen An-
forderungen an die Entwurfsqualität in eine adäquate
Bau- und Ausführungsqualität umzusetzen. Hier hat
in den letzten Jahren eher eine neue Unkultur des Bauens
Einzug gehalten. Die Leistungen von Architekten, Inge-
nieuren wie auch von vielen Baubetrieben werden zu-
nehmend nur noch aus dem Blickwinkel der Kosten und
nicht mehr aus dem Blickwinkel der Qualität gesehen.
Letztlich geht es manchen Investoren offensichtlich nur
noch darum, den Preis für eine gleichwertige Leistung
immer weiter nach unten zu drücken. Deswegen müssen
wir getreu nach dem berühmten Sozialreformer John
Ruskin feststellen: Gutes muss nicht teuer sein, aber bil-
lig wird erst richtig teuer; denn wir zahlen nachher drauf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Blank [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Ich möchte einen weiteren Aspekt anführen. Es ist fa-
tal, dass Architekten von Bauherren häufig nur noch als
Entwurfs- bzw. Genehmigungsverfasser gesehen werden.
Wir müssen uns überlegen, wie wir bei der Entwicklung
hin zum Generalunternehmer oder -übernehmer – „Alles
aus einer Hand“ – tatsächlich noch gewährleisten kön-
nen, dass wir auch in Zukunft noch Baukultur in
Deutschland haben. Das ist für mich eine ganz wichtige
Sache. In diesem Zusammenhang sollte man auch über
mögliche Fehlentwicklungen im Rahmen von ÖPP-Pro-
jekten sprechen, bei denen alles – inklusive Planungs-
leistungen! – aus einer Hand angeboten wird und der Ar-
chitekt letzten Endes nur noch Erfüllungsgehilfe ist.

Für mich ist sehr wichtig, dass wir diese Themen in
unserem Ausschuss und im Plenum diskutieren. Deswe-
gen freue ich mich auf die spannenden Debatten in die-
sem Hause zum Thema Baukultur.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606022700

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Weis für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Petra Weis (SPD):
Rede ID: ID1606022800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf nun
schon zum vierten Mal innerhalb von drei Jahren – es ist
schon das vierte Mal, Frau Blank! –


(Renate Blank [CDU/CSU]: Ich wusste es nicht mehr genau!)


über nahezu denselben Gesetzentwurf, also auch über
denselben Beratungsgegenstand, reden. Da muss ich der
Versuchung widerstehen, nach dem Motto zu handeln:






(A) (C)



(B) (D)


Petra Weis
Es ist zwar schon alles gesagt worden, aber noch nicht
von allen. – Ich hoffe, dass mir das in den kommenden
Minuten annähernd gelingt, indem ich mich auf die aus
meiner Sicht wesentlichen Punkte konzentriere.

Ich würde gern mit dem Thema Sitz der Stiftung be-
ginnen. Der gemeinsame Vorschlag von Brandenburg
und Berlin, den Sitz in Potsdam einzurichten, und das
vom Land Brandenburg unterbreitete Angebot hinsicht-
lich der Räumlichkeiten und der Unterstützung der Ar-
beit des neuen Instituts haben uns überzeugt. Das heißt
nicht, dass die Bewerbung von Weimar oder von der ei-
nen oder anderen Stadt nicht auch attraktiv gewesen
wäre.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das habe ich jetzt auch erwartet!)


Aber zum Schluss musste eben eine Entscheidung fallen.
Dass die Stiftung nun in Hauptstadtnähe ihre Unterkunft
findet, ist, wie wir wissen, nicht nur, aber auch aus der
Sicht der beteiligten Verbände eine gute Lösung.

Ich würde ganz gern noch einmal auf den Prozess der
letzten Jahre als solchen abheben und möchte zunächst
darauf hinweisen, dass es sowohl unter den Beteiligten
vom Fach als auch in den Reihen der Politik, was nach
Auffassung mancher Menschen nicht dasselbe ist, einen
Konsens gegeben hat, mit dem die Stiftung von Anfang
an auf eine solide Basis gestellt wurde. Zu dieser soliden
Basis trägt natürlich auch die Unterstützung aus dem
Bundeshaushalt bei; Frau Staatssekretärin Roth hat die
Summe von 7 Millionen Euro genannt, die bis zum
Jahr 2010 geleistet wird.

Dass der Konsens, den wir in diesem Hause schon vor
Jahr und Tag erreicht hatten, durch das Intermezzo des
Bundesrats nicht schon im vergangenen Jahr zu einem
abgeschlossenen Gesetzgebungsverfahren geführt hat,
will ich an dieser Stelle nicht weiter kommentieren. Man
muss kleine Wunden, die schon verheilt sind, nicht wie-
der aufreißen. Ich freue mich auch über späte Einsichten;
gar keine Frage.

In einer meiner vorherigen Reden habe ich darauf
hingewiesen – daran kann ich mich noch gut erinnern –,
dass an der „Bundesstiftung Baukultur“ der Föderalis-
mus weder untergehen noch genesen wird. Ich habe,
finde ich, Recht gehabt.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Renate Blank [CDU/CSU] und des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Noch einmal ein kurzer Blick auf die wesentlichen In-
halte. Mit der „Bundesstiftung Baukultur“ unterstützen
wir die internationale Reputation und Wettbewerbs-
fähigkeit unserer Architektinnen und Architekten, der
Planerinnen und Planer, der Ingenieure und Ingenieurin-
nen, aber natürlich auch – darauf ist schon hingewiesen
worden – der Bauwirtschaft. Wir unterstützen aber auch
die Qualitätssicherung und viel mehr noch die Quali-
tätssteigerung auf den Gebieten des Planens und Bauens.
Das Stichwort Bausünde, das uns in der Zukunft noch
weiter begleiten wird, ist schon gefallen.
Dabei geht es nicht nur um singuläre spektakuläre
Bauwerke, sondern es geht auch um die Gestaltung der
bebauten Umwelt insgesamt, um die Eigenheimsied-
lung, das Verwaltungs- oder Fabrikgebäude, den Mu-
seumsneubau oder aber die Brücke über den Fluss. Al-
lein schon deswegen ist die Stiftung in ihrer Wirkung,
wie ich finde, Demokratie stiftend im besten Sinne des
Wortes.

Darüber hinaus wird die Stiftung ihrerseits wesentlich
dazu beitragen, dass sich unser aller Bewusstsein für die
Tatsache schärft, dass Gebäude und der öffentliche
Raum in ganz besonderem Maße nicht nur das Gesicht
unserer Städte und Gemeinden bestimmen, sondern auch
die Qualität des Zusammenlebens; ich könnte auch sa-
gen: der Lebensqualität von uns allen. Darin liegt si-
cherlich die dezidiert soziale Funktion, vor allem aber
auch der substanzielle Beitrag der Stiftung zur nachhalti-
gen Stadtentwicklung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Insofern denke ich, dass ihre Bedeutung auch weit über
das Kapitel „Bauwesen und Bauwirtschaft als Schlüssel-
branche“ im Koalitionsvertrag hinausgreift, in den das
Thema im vergangenen Jahr glücklicherweise Eingang
gefunden hat.

Der Begriff Stadtentwicklung leitet mich noch kurz
zu einem weiteren Aspekt. Wir dürfen nicht nur über die
kluge Integration eines Gebäudes in seine zukünftige
Umgebung nachdenken und nicht nur die Einsicht be-
rücksichtigen, dass jedes Bauen einen Eingriff in die Na-
tur darstellt, der in jedem Fall gut abgewogen werden
muss, sondern wir müssen in Zukunft auch viel stärker
über die Frage nachdenken, wie eigentlich ein Haus oder
Gebäude beschaffen sein muss, damit diejenigen, die es
bauen lassen, es noch bezahlen können, dass die Bau-
kosten also nicht aus dem Ruder laufen und die Qualität
dennoch gesichert bleibt, damit seine Nutzung nicht
mehr Energie verbraucht als unbedingt nötig und damit
es Menschen ganz allgemein gesprochen animiert, sich
in diesem Gebäude aufzuhalten, egal ob sie es aus beruf-
licher oder privater Motivation tun. Schließlich geht es
darum, es so auszugestalten, dass es mit den unterschied-
lichen Anforderungen in unterschiedlichen Lebenspha-
sen einzelner Menschen oder ganzer Familien Schritt
hält. Auch das ist ein Aspekt, den wir noch berücksichti-
gen sollten. Das gilt für Bestandsbauten übrigens ebenso
wie für Neubauten. Baukultur hat nicht nur mit Neubau-
ten zu tun, sondern auch mit Gebäuden, die es schon
gibt, die wir in einem Prozess weiterentwickeln.

Wir reden bei Baukultur über viel mehr als nur über
Schönheit und Ästhetik oder künstlerischen Ausdruck.
Alle, die sich bislang für die Gründung der Stiftung
engagiert haben und sich in Zukunft für die Stiftung
engagieren werden, sind sich darüber im Klaren, dass
sich die Stiftung in den integrativen Ansatz unserer
nachhaltigen Stadtentwicklungspolitik nahtlos einfü-
gen wird. Egal ob wir über Stadtumbau, das Programm
„Soziale Stadt“, den städtebaulichen Denkmalschutz
– Kollege Hettlich hat gerade Ausführungen dazu ge-






(A) (C)



(B) (D)


Petra Weis
macht – oder – ganz aktuell – über die Revitalisierung
unserer Innenstädte reden: Es geht dabei immer auch um
baukulturelle Aufgabenstellungen.

Baukultur ist eine Daueraufgabe, die auf die Kompe-
tenz und das Engagement aller Beteiligten angewiesen
ist. Damit ist sie auch eine wichtige Aufgabe der Bürger-
gesellschaft.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Baukultur ist ausdrücklich kein Luxusgut für konjunktu-
relle Schönwetterzeiten, das in schlechteren Zeiten zur
Disposition steht. Jedoch bewegt auch sie sich im Rah-
men des finanzpolitisch Möglichen und ist damit auch
auf das Engagement Dritter angewiesen. Kollege
Günther, ich bin hierbei einfach optimistischer als Sie,
trotz oder gerade wegen der öffentlich-rechtlichen Kon-
struktion.

Schließlich sei mir noch der Hinweis gestattet, dass
die Einrichtung der Stiftung mitnichten dazu führt, dass
die Baukultur nun in den Fängen der Politik umkommt.
Die Fans der Baukultur und der Stiftung sind mitnichten
Gutmenschen – so wurde das dieser Tage in einer Tages-
zeitung dargestellt –, für die es in ihrer üppig bemesse-
nen Freizeit nichts Besseres zu tun gibt, als in gut ge-
meinter Geschäftigkeit überflüssige Dinge zu tun.

Lassen wir uns also nicht beirren und wünschen wir
der Stiftung allen Erfolg, den sie braucht. Seien wir uns
gewiss, dass dieser Erfolg mehr als die Befriedigung des
Interesses einer kleinen, sich über alle Gebühr wichtig
nehmenden Gruppe von Schöngeistern ist. Wenn die
Stiftung Erfolg hat – ich bin fest davon überzeugt, dass
sie Erfolg haben wird –, dann ist es ein Verdienst all de-
rer, die sich in den letzten Jahren für sie engagiert haben.
Es ist dann auch – ich möchte das zu später Stunde opti-
mistisch anmerken – ein kleiner Erfolg unserer Fachpoli-
tik.

Wir alle werden den Nutzen der Stiftung verspüren.
Wir werden die Gewissheit haben, dass die Stiftung und
diejenigen, die in ihr aktiv sind, einen spürbaren Beitrag
zur Lösung von Problemen leisten werden. Ich glaube,
schon damit wird die Stiftung ihren Zweck mehr als nur
erfüllen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606022900

Das Wort hat der Kollege Peter Götz für die Unions-

fraktionen.


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1606023000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatten-
beiträge der letzten 40 Minuten haben gezeigt: Die
„Bundesstiftung Baukultur“ kann zu einer spannenden
Herausforderung werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit der heutigen Debatte findet die Diskussion über
die Frage der Zuständigkeit und des Sitzes der Stiftung
nach langem Ringen einen guten Abschluss. Wir erwar-
ten, dass die Stiftung als unabhängige Institution der
deutschen Bau- und Planungskultur die Qualität und die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Architekten und
Ingenieure in Deutschland herausstellt und dass sie eine
Plattform für den Austausch von Erfahrungen aller im
Bereich der Architektur und Stadtplanung handelnden
Akteure bietet.

Wir wünschen uns, dass die Stiftung mit dem Kon-
vent der Baukultur ein Netzwerk für einen öffentlichen
Dialog aufbaut und dabei das Thema der nachhaltigen
Entwicklung unserer Städte einbezieht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Viele nationale und internationale Akteure im baukultu-
rellen Bereich verfügen über einen riesigen Erfahrungs-
schatz. Es ist überfällig, diesen aufzugreifen, zu bündeln
und sichtbar zu machen. Hier schlummert ein großes
Qualitätspotenzial, das mit der Stiftung endlich öffent-
lich nutzbar gemacht werden kann.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig!)


Dazu gehören auch die Aktivitäten im Bereich des
Städtebaus und der Stadtplanung. Wir müssen eine gute
Stadtplanung mehr denn je als Chance für nachhaltige
Entwicklung begreifen. Die nachhaltige Entwicklung ei-
ner Stadt ist ein Teil der Baukultur. Baukultur und nach-
haltige Stadtentwicklung müssen besser und enger mit-
einander verknüpft werden. Darauf hinzuarbeiten, gehört
zu den Herausforderungen, vor denen diese Stiftung
steht.

Unsere Städte und Gemeinden haben enorm viel zu
bieten. Sie sind in der Lage, vielen Menschen auf engs-
tem Raum mit einem Höchstmaß an technischer und
wirtschaftlicher Effizienz eine hohe Lebensqualität zu
ermöglichen. Die Frage wird sein, wie wir Städte als
Lebensräume erhalten und wie wir eine lebendige, de-
zentrale Demokratie in den Städten stärken, die einen
fairen Ausgleich der Interessen von Stadt und Land vor-
sieht und damit in eine ausgewogene regionale Struktur
eingebettet ist.

Die vor zehn Jahren auf dem Weltstädtegipfel der
Vereinten Nationen in Istanbul verabschiedete Habitat-
Agenda weist wichtige Elemente einer globalen Strate-
gie zur nachhaltigen Stadtentwicklung auf. Ich rege an,
diese nach wie vor richtigen Erkenntnisse in die Stif-
tungsarbeit einfließen zu lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Lassen Sie mich diesen Ansatz kurz begründen: Bau-
kultur in einer Stadt ist mehr als Bauen und Kultur.
Wenn wir langfristig die Stabilität des Gesamtgefüges
einer Stadt sichern wollen, und zwar völlig unabhängig






(A) (C)



(B) (D)


Peter Götz
von der finanziellen Lage, in der sich die Stadt befindet,
ist bei allen Beteiligten weitsichtige Kompromissbereit-
schaft und ein hohes Maß an Sensibilität gefragt. Wir
müssen mehr denn je – dies gilt übrigens auch für andere
Politikbereiche – die Menschen mitnehmen. Deshalb
brauchen wir diesen bundesweiten öffentlichen Dialog.

Ich würde mir wünschen, dass die im Stiftungszweck
vorgesehene Kommunikationsplattform zu einer
bundesweiten Diskussion über städtebauliche, planeri-
sche, bau- und wohnungswirtschaftliche Qualitätsmaß-
stäbe führt und dabei, wie bereits ausgeführt, die für die
Zukunft unserer Städte wichtigen Akteure zusammen-
bringt. Dazu gehören in jedem Fall auch die kommuna-
len Entscheidungsträger.

Viele unserer Städte und Gemeinden stecken durch
kontroverse Anforderungen von Investoren und Nutzern
voller Widersprüche. In den Innenstädten wird dies be-
sonders sichtbar. Für Bewohner wie für Besucher prägt
in der Regel die Innenstadt das Image der Gesamtstadt.
Deshalb ist die Gestaltung einer Innenstadt der Schlüs-
selfaktor für eine gute Stadtentwicklung.

Die „Bundesstiftung Baukultur“ kann hier einen wert-
vollen Beitrag leisten. Deshalb ist es gut, dass wir heute
mit der Verabschiedung dieses Gesetzes den Startschuss
geben. Wir eröffnen damit eine Perspektive für ein neues
Qualitätsbewusstsein im eigenen Land und gleichzeitig
die Möglichkeit, international aufzuzeigen, welch hohes
Potenzial Deutschland mit guter Architektur und Stadt-
planung zu bieten hat. In diesem Sinne wünsche ich der
Arbeit der „Bundesstiftung Baukultur“ viel Erfolg.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606023100

Ich schließe die Aussprache.

Bevor wir zur Abstimmung über den von der Bundes-
regierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung
einer „Bundesstiftung Baukultur“ kommen, erhält der
Kollege Ilja Seifert für eine Erklärung zur Abstimmung
nach § 31 unserer Geschäftsordnung das Wort.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606023200

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Es ist sehr gut, dass wir heute die Errich-
tung einer „Bundesstiftung Baukultur“ beschließen und
ihr ermöglichen, zu arbeiten, wenn auch mit zu geringer
finanzieller Ausstattung. Die Mehrheit des Bundestages
und auch die Mehrheit meiner Fraktion wird sich für
Potsdam als Sitz dieser Stiftung aussprechen. Dem kann
ich aus mehreren Gründen nicht zustimmen.

Ich weiß, dass alle Städte, die sich um den Sitz be-
worben haben, geeignet sind. Aber es kann nicht sein,
dass die Stadt, die am meisten bietet, dann auch den Zu-
schlag bekommt. So scheint es in diesem Falle gewesen
zu sein.

(Beifall des Abg. Joachim Günther [Plauen] [FDP])


Meines Erachtens bietet eigentlich Görlitz, die öst-
lichste Stadt Deutschlands, die besten Voraussetzungen
für den Sitz dieser „Bundesstiftung Baukultur“. Erstens
ist es eine Stadt, die seit dem Mittelalter ununterbrochen
eine völlig intakte einzigartige architektonische Vielfalt
und Zeugnisse aus allen Epochen hat. Man kann dort
also jeden Tag sehen, was in den letzten 500 oder
700 Jahren gebaut worden ist und wie das erhalten wird.
Das ist ein Grund, der leider nicht berücksichtigt wurde.

Zweitens ist eine Chance verpasst worden, die Euro-
region Neiße zu unterstützen. Görlitz ist bei der Wahl
zur Kulturhauptstadt 2010 ganz knapp gegen Essen
durchgefallen. Es wäre ein Zeichen der Fairness gewe-
sen, das zu berücksichtigen und damit eine Region, die
sich abgehängt fühlt, zu unterstützen, ihr zu zeigen, dass
sie dazugehört und dass sie in der Bundesrepublik eine
wichtige Rolle spielt.

Drittens. Görlitz ist unmittelbar mit der Nachbarstadt
Zgorzelec verbunden. Dazwischen befindet sich nur die
Neiße. Die beiden Städte arbeiten sehr eng bei der Erhal-
tung der historischen Bausubstanz zusammen. Zudem
haben beide Stadträte in diesem Mai auf einer gemeinsa-
men Sitzung beschlossen, der Erklärung von Barcelona
beizutreten, und sich so verpflichtet, Barrierefreiheit in
dieser historisch gewachsenen Stadt herzustellen. Es ist
also möglich, historisches und denkmalschützendes
Bauen mit zukunftgewandtem Bauen – ich nenne die
Stichworte Barrierefreiheit und Stadt der kurzen Wege –
miteinander zu verbinden. Das ist bedauerlicherweise
nicht berücksichtigt worden. Es wäre ein Zeichen für die
strukturschwache Region gewesen.

Letzte Bemerkung. Es muss nicht immer eine Landes-
hauptstadt sein, wenn wir wollen, dass das föderale Sys-
tem wirklich funktioniert. Ich bedaure diese Entschei-
dung. Falls sich jemand von Ihnen jetzt noch überzeugen
lässt: Schließen Sie sich mir an und stimmen Sie für
Görlitz!

Vielen Dank.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606023300

Kollege Seifert, ich fürchte, dass ich das nicht zur Ab-

stimmung stellen kann.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Errich-
tung einer „Bundesstiftung Baukultur“ auf den Drucksa-
chen 16/1945 und 16/1990. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/3081, den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge-
setzentwurf in zweiter Beratung bei Enthaltung der FDP-
Fraktion und des Kollegen Dr. Ilja Seifert angenommen.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist bei Enthaltung der FDP-Fraktion und des
Kollegen Dr. Ilja Seifert aus der Fraktion Die Linke an-
genommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Birgitt Bender, Dr. Harald Terpe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Kinder entschlossen vor Vernachlässigung
schützen

– Drucksache 16/3024 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Ekin Deligöz aus der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1606023400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir alle waren in den letzten Monaten oft genug entsetzt
über die schrecklichen Fälle, in denen Eltern ihre Kinder
vernachlässigt haben und ihre Verantwortung den Kin-
dern gegenüber nicht übernommen haben. Folgen wir
der Berichterstattung, könnte man fast meinen, die An-
zahl solcher Fälle hätte zugenommen.

Ich hoffe, dass es diesen Anstieg nicht gibt. Ich hoffe
auch, dass eine Konsequenz der öffentlichen Bericht-
erstattung ist, dass das Dunkelfeld aufgehellt wird, dass
wir alle sensibler werden, dass wir diese Sensibilität in
politische Instrumente und Handlungsweisen umsetzen
und dass wir auch für uns Konsequenzen ziehen.

Wir können in diesem Terrain in Deutschland leider
nur auf wenige belastbare statistische Zahlen zurückgrei-
fen. Aber unabhängig von den Statistiken, die uns zur
Verfügung stehen, müssen wir feststellen: Alle Fälle ha-
ben eine eigene Vorgeschichte und diese Vorgeschichten
sind sehr unterschiedlich. Wir wissen vor allem eines:
Patentrezepte gegen Kindesvernachlässigung gibt es
nicht; einfache Antworten gibt es nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


An diesem Punkt will ich eines unterstreichen: Öf-
fentlich zu suggerieren, allein mit verpflichtenden Vor-
sorgeuntersuchungen könne man dem Problem bei-
kommen, ist falsch. Das allein wird nicht reichen. Jeder
einzelne Fall ist ernst. Wir müssen uns immer wieder
fragen, was die Hintergründe sind. Das eine, passende
Instrument gibt es nicht. Wir müssen fragen: Woran hat
es gelegen? Wie ist es in der Familie dazu gekommen?
Welche Hilfsangebote gab es? Warum haben die Struktu-
ren nicht ausgereicht?

Wir haben viele dieser Fälle ausgewertet und Konse-
quenzen daraus abgeleitet. In unserem Antrag schlagen
wir ein politisches Instrumentarium vor, wie man dem
Ganzen begegnen kann. Einige Punkte möchte ich aus-
drücklich erwähnen:

Erstens. Wir müssen Vernachlässigung besser auf-
decken. Wir brauchen die Kinderärzte, die Gynäkologen
und die Hebammen. Sie müssen sensibler für Anzeichen
der Vernachlässigung sein. Sie müssen sich besser mit
den Jugendhilfeeinrichtungen vernetzen. Vor allem müs-
sen wir den Anspruch auf Hebammen und Familienheb-
ammen erweitern und in unseren Gesetzen verankern.
Der Anspruch auf Hilfe in den ersten acht Wochen nach
der Geburt, der jetzt im Gesetz steht, reicht nicht aus.
Die Leistungen müssen über diesen Zeitraum hinaus an-
geboten werden. Wir müssen in die Familien hinein-
schauen und den Eltern Unterstützung anbieten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Wir brauchen mehr Verbindlichkeit bei den
Vorsorgeuntersuchungen. Drohungen wie Kindergeld-
kürzungen würden bei diesen Familien übrigens völlig in
die Leere laufen, abgesehen davon, dass sie verfassungs-
rechtlich bedenklich sind.

Drittens. Wir brauchen mehr und bessere Hilfsange-
bote. In vielen Kommunen sind die Mittel in den ver-
gangenen Jahren gerade im Bereich der Jugendhilfe ge-
kürzt worden. Den Preis dafür zahlen die Kinder in
unserer Gesellschaft. Wir müssen nicht nur Geld in die
Hand nehmen, sondern auch dafür sorgen – das ist un-
sere Verantwortung –, dass die Strukturen der Jugend-
hilfe nicht eingedampft werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Viertens. Wir müssen die Kontakthäufigkeit zu den
Familien erhöhen. Gerade zwischen dem zweiten und
dritten Lebensjahr schaut man viel zu selten in die Fami-
lien hinein, achtet viel zu wenig darauf, was los ist. Wir
schlagen vor, dass die Gesundheitsämter alle Eltern, un-
abhängig davon, ob sie privat oder gesetzlich versichert
sind, anschreiben und zu einer Gesundheitsuntersuchung
bitten. Wer diese Untersuchung von seinem Kinderarzt
vornehmen lässt, sei vom Besuch beim Gesundheitsamt
befreit. Bei denjenigen, die nicht zur Untersuchung kom-
men, müssen wir genau hinschauen, warum sie das nicht
tun, warum sie keine Kinderärzte haben, warum nie-
mand da ist, der sich mit dieser Familie befasst. So wer-
den wir die Familien herausfiltern, bei denen Maßnah-
men der Jugendhilfe notwendig sind.

Für mich sind Angebote und nicht mehr Sanktionen
die Antwort auf das Problem.






(A) (C)



(B) (D)


Ekin Deligöz

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Fünftens. Wir müssen auch die Vorsorgeuntersu-
chungen an sich verbessern. Es ist Aufgabe der Bundes-
regierung, auf den Gemeinsamen Bundesausschuss ein-
zuwirken; denn die jetzigen U-Untersuchungen sind
nicht geeignet, um Vernachlässigungsfälle herauszufil-
tern. Wir brauchen nicht nur eine Vernetzung, sondern
auch eine bessere Zusammenarbeit mit den Kinderärzten
bei den Richtlinien, damit die Instrumente überhaupt
wirken können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Konsequenz daraus lautet: Wir brauchen nicht
schnell neue Instrumente – die haben wir bereits –; wir
müssen vielmehr alles, was wir haben, besser miteinan-
der vernetzen. Wir dürfen vor einer stärkeren Verbind-
lichkeit beim Hinschauen nicht zurückschrecken.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch etwas ganz Per-
sönliches sagen. Ich erlebe in diesen Tagen, wie schwie-
rig es ist, zu seiner Meinung zu stehen, wenn man einge-
schüchtert wird. Frau Präsidentin, erlauben Sie mir, dass
ich mich an dieser Stelle ganz persönlich bei meinen El-
tern und Großeltern bedanke, weil sie mir die Kraft ge-
geben haben, auch in schwierigen Situationen zu meiner
Meinung zu stehen. Weil ich will, dass nicht nur ich das
kann, sondern dass alle unsere Kinder das können, dass
sie alle ein Rückgrat haben, aufrecht stehen und Zivil-
courage zeigen können, mache ich Kinder- und Fami-
lienpolitik. Hier geht es um die Zukunft unseres Landes.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606023500

Kollegin Deligöz, ich denke, ich maße mir nichts an,

wenn ich Ihnen mit auf den Weg gebe, dass die Solidari-
tät, die Ihnen das gesamte Präsidium gestern angesichts
dieser schwierigen Situation ausgesprochen hat, natür-
lich auch für das gesamte Haus und für alle Fraktionen
gilt.


(Beifall im ganzen Hause)


Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Antje
Blumenthal das Wort.


Antje Blumenthal (CDU):
Rede ID: ID1606023600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau

Deligöz hat in ihrem Beitrag auf die fürchterlichen
Schicksale und auf das unendliche Leid misshandelter
Kinder hingewiesen und diese Problematik eindringlich
geschildert. Ich denke, dabei ist eines deutlich gewor-
den: Wir müssen alles Mögliche tun, um solch schreckli-
che Schicksale wie das von Jessica aus Hamburg oder
das des kleinen Kevin aus Bremen zukünftig zu verhin-
dern.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn Eltern überfordert sind und bei der Fürsorge für
ihre Kinder so drastisch versagen, dann ist der Staat ge-
fordert, das Kindeswohl mit allen Mitteln, die ihm zur
Verfügung stehen, zu schützen. Wenn ich „mit allen Mit-
teln“ sage, dann darf das aber nicht die Erwartung we-
cken, dass der Staat den absoluten Schutz des Kindes-
wohls garantieren kann. Wir alle wissen, dass der Staat
gegen fahrlässig oder absichtlich verursachte körperliche
oder psychische Schäden keinen hundertprozentigen
Schutz gewährleisten kann. „Mit allen Mitteln“ heißt für
mich auch, dass wir in der Lage sein müssen, Gefähr-
dungen und Verletzungen des Kindeswohls durch die
Schutz- und Sicherungssysteme des Staates so frühzeitig
wie nur irgend möglich zu erkennen und notwendige
Hilfe rechtzeitig zur Verfügung zu stellen.

Das ist zwar zum großen Teil eine landes- bzw. kom-
munalpolitische Aufgabe. Aber auch wir Bundespoliti-
ker müssen – genauso wie die Mediziner, die Erzieher
und die Krankenkassen – in die Lösung der Probleme
einbezogen werden. Wenn es um die Gewährleistung des
Kindeswohls geht, sind wir alle gemeinsam gefordert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Koalition hat im Koalitionsvertrag den Schutz-
auftrag und das Wächteramt des Staates hervorgeho-
ben. Wir haben uns darauf verständigt, soziale Früh-
warnsysteme zu entwickeln und Jugendhilfe und
gesundheitliche Vorsorge besser miteinander zu verzah-
nen. Diese dringliche Aufgabe gilt es jetzt umzusetzen.
Erste Schritte hat die Bundesregierung mit dem Aktions-
programm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und so-
ziale Frühwarnsysteme“ bereits eingeleitet. Auch die
Bundesländer haben diese Aufgabe erkannt und deshalb
einstimmig – ich betone ausdrücklich: einstimmig – ei-
nen Antrag an die Bundesregierung gerichtet, mit dem
sie das Ziel verfolgen, das Kindeswohl in unserem Land
künftig noch besser zu schützen. Meine Fraktion ist,
ebenso wie der Bundesrat, der Ansicht, dass durch eine
höhere Verbindlichkeit von Früherkennungsuntersu-
chungen dazu ein sehr wichtiger Beitrag geleistet wer-
den kann.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Staat und Gesellschaft müssen noch genauer darauf
achten, in welchen Verhältnissen unsere Kinder auf-
wachsen. Dabei müssen wir vor allem solche Kinder in
den Blick nehmen, die unter ungünstigen sozialen und
wirtschaftlichen Bedingungen groß werden. Es kann
überhaupt keinen Zweifel geben: Die meisten Eltern sind
sehr wohl in der Lage, ihre Kinder angemessen zu ver-
sorgen und zu betreuen und ihnen vor allen Dingen – ich
denke, das ist besonders wichtig – liebevolle Zuwen-
dung zukommen zu lassen. Aber dort, wo all dies nicht
geschieht, weil Eltern aus den unterschiedlichsten Grün-
den nicht dazu in der Lage sind, muss der Staat frühzei-
tig auf die Eltern zugehen und ihnen Hilfe anbieten.






(A) (C)



(B) (D)


Antje Blumenthal

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Staat Gefähr-
dungen und Verletzungen des Kindeswohls erkennen
und angemessene Maßnahmen einleiten kann, bevor es
zu spät ist.

Wie notwendig aber auch weitergehende Schritte
sind, zeigt die besondere Tragik im Fall des kleinen
Kevin: Mediziner und Jugendamt waren offensichtlich
über die Situation informiert. Zum richtigen Handeln hat
es aber nicht gereicht. Um zu gewährleisten, dass sich so
etwas nicht wiederholt, müssen wir uns um den verstärk-
ten Austausch von Daten zwischen den beteiligten Stel-
len kümmern. Denn was nützt es, wenn ein Arzt einen
Verdacht hat, das Jugendamt davon aber nie erfährt? Was
nützt es, wenn eine Krankenkasse erkennt, dass ein Kind
noch nie zu einer Untersuchung erschienen ist, das Ge-
sundheitsamt bzw. das Jugendamt davon aber nichts
weiß?

Meine Damen und Herren, der Antrag des Bündnis-
ses 90/Die Grünen beinhaltet viele gute Anregungen und
Forderungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir denken allerdings, dass wir zum Schutz unserer Kin-
der in einigen Punkten noch deutlich weiter gehen müs-
sen. Der Familienausschuss wird sich deshalb intensiv
mit dieser Problematik befassen. Schließlich sind wir
uns in diesem Hause einig: Der Schutz unserer Kinder
liegt uns allen am Herzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606023700

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Miriam

Gruß das Wort.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1606023800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! In der vergangenen Woche mussten
wir Politiker uns vorwerfen lassen, fantasielos mit dem
Thema Kinderschutz umzugehen. Der Staat übt sich in
Vernachlässigung, heißt es in einem Artikel sogar. Das
dürfen wir nicht hinnehmen. Es ist deshalb gut und rich-
tig, dass wir uns heute im Bundestag endlich mit den
Vorfällen der letzten Zeit befassen, wenn auch leider zu
so später Stunde. Der Antrag der Grünen enthält tatsäch-
lich – ich bestätige meine Vorrednerin – viele unterstüt-
zenswerte Ansätze und Vorschläge:


(Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


Ja, wir brauchen die aufsuchende Familienarbeit
und müssen sie stärken. Viele Problemfamilien sind
eben nicht in der Lage, selbst Unterstützung zu suchen,
oder sie schämen sich, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Deshalb muss Beistand auf sie zukommen.

Ja, der Bund darf sich nicht aus der Verantwortung
stehlen, er muss auf die Länder einwirken, die Kommu-
nen finanziell gut auszustatten, damit diese wiederum
die Jugendhilfe, die sozialen Dienste und die Beratungs-
stellen mit genügend Mitteln ausstatten können. Kinder-
schutz zum Nulltarif gibt es leider nicht.

Ja, wir müssen die Elternschaft so früh wie möglich
thematisieren und jungen Menschen deutlich machen,
welche Verantwortung mit einem Kind verbunden ist.
Ein Kind zu bekommen, bedeutet zweifelsohne sehr viel
Schönes, aber auch sehr viel Arbeit.

Ja, wir müssen prüfen, ob es etwas bringen würde, die
Lücken in den Vorsorgeuntersuchungen zu schließen,
Ärzte für Kindesvernachlässigung zu sensibilisieren und
auch die psychosoziale Komponente bei Untersuchun-
gen zu berücksichtigen.

Ja, wir müssen die beteiligten Institutionen besser
vernetzen.


(Beifall bei der FDP)


Aber wenn wir konkreter werden wollen, müssen wir
die Probleme vor Ort, in den Institutionen angehen. Wir
müssen uns in die Lage der Hebammen, der Sozialpäda-
gogen und der Kinderärzte hineinversetzen. Wir haben
in Deutschland funktionierende Strukturen, aber es gibt
wahrlich noch viel zu verbessern. Wir müssen bei den
Praktikern nachfragen – dann bekommen wir ganz prak-
tische Antworten:

Wir erfahren beispielsweise, dass Hebammen gerne
bereit sind, sich stärker in die aufsuchende Familien-
arbeit einzubringen. Es gibt Fachkräfte unter den Heb-
ammen, die die Ausbildung haben, Probleme junger El-
tern zu erkennen und ihnen zu helfen. Doch für diesen
Einsatz muss die Finanzierung gesichert sein – ehren-
amtlich ist so etwas nicht zu leisten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Wir erfahren außerdem, dass die Kinder- und Jugend-
ärzte die Kinder gerne regelmäßig untersuchen würden.
Doch auch hierfür muss die Finanzierung geklärt wer-
den. Und wir müssen bundesweit einheitliche Standards
festlegen, an denen sich die Mediziner orientieren kön-
nen.

Wir erfahren, dass die Familien- und Jugendhilfe
gerne mehr leisten würde, auch dafür jedoch die finan-
ziellen und die personellen Ressourcen fehlen. Sozial-
pädagogen haben heute mehr als doppelt so viele Fami-
lien zu betreuen wie noch vor zehn Jahren. Da bleiben
die Zeit und die Intensität, mit der sie sich einer Pro-
blemfamilie widmen können, auf der Strecke.

Wir erfahren, dass heute aus Kostengründen die am-
bulante Pflege immer häufiger der stationären vorgezo-
gen wird. Kinder werden so lange in Familien belassen,
wie es geht, auch wenn ein Heimaufenthalt eigentlich
besser wäre.

Wir erfahren, dass es offenbar erhebliche Schwierig-
keiten bei der Kommunikation und Kooperation der ein-
zelnen Beteiligten gibt. Da hat beispielsweise der Sozial-
pädagoge Vorbehalte gegenüber dem Jugendrichter; da
spricht der Vertreter des freien Trägers nicht Klartext mit






(A) (C)



(B) (D)


Miriam Gruß
der Stadt; da befürchtet eine Kinderpsychologin
Schlimmstes, wenn sie ihre Erkenntnisse der Polizei an-
vertraut. Kurz: Oft genug sitzen Fachleute an einem
Tisch vereint, aber keiner macht den Mund auf. So etwas
darf nicht sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist doch schlimm, dass in Deutschland ein Jugend-
amt einen schlechteren Ruf hat als beispielsweise ein
Gesundheitsamt, dass Hebammen in der öffentlichen
Wahrnehmung nur als Geburtshelfer angesehen werden,
dass Sozialpädagogen sich aus Angst vor beruflichen
Konsequenzen nicht mehr trauen, in Zeitungsinterviews
unter ihrem Namen aufzutreten, wenn sie über die wah-
ren Verhältnisse in der Kinder- und Jugendhilfe spre-
chen.

Zusammenfassend muss konstatiert werden, dass alle
bestehenden Strukturen in Deutschland auf kommunaler
Ebene, auf Länder- und auf Bundesebene auf den Prüf-
stand gestellt werden müssen. Um hier die richtigen
Weichen zu stellen, sind wir auf die Erfahrungen der
Fachleute angewiesen. Eine gute, am Kindeswohl orien-
tierte Politik wirkt vor allem im Angesicht der Kinder
vor Ort. Diejenigen, die die Kinder tagtäglich sehen und
erleben, müssen wir unterstützen. Wir müssen ihr Image
verbessern und ihre Ressourcen stärken.

Ich habe mich konstruktiv mit Ihrem Antrag ausei-
nander gesetzt. In dieser Richtung sollten wir weiterarbei-
ten. Ich zitiere hier Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes:

Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürli-
che Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen ob-
liegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die
staatliche Gemeinschaft.

Diesen Auftrag müssen wir uns stets zu Herzen nehmen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Christel Humme [SPD] und der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606023900

Das Wort hat die Kollege Marlene Rupprecht für die

SPD-Fraktion.


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1606024000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Problem der Kindesmisshandlung ist durch die Ver-
öffentlichung von ganz dramatischen Fällen vor einiger
Zeit in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Es ist also
nicht mehr nur bei Kinder- und Jugendpolitikern ein
Thema. Wir haben es seit Jahren intensivst beraten und
wir haben Maßnahmenbündel geschnürt, um das Pro-
blem, das jetzt öffentlich geworden ist, zu bekämpfen.

Jeder Mensch, der nicht als Fachpolitiker damit zu tun
hat und somit nichts davon wusste, ist schockiert. Wir
sind natürlich auch schockiert, aber wir wussten bereits,
dass es diese Fälle gibt. Jeder Mensch, der davon hört,
empfindet eine natürliche Betroffenheit und möchte,
dass solche Gewalttaten unterbunden werden. Ich
glaube, in diesem Ziel ist sich die Gesellschaft einig. Je-
der möchte das erreichen, weil es ihn zutiefst erschüttert,
wenn ein Wesen, das sich nicht wehren kann, hilflos aus-
geliefert ist.

Bei der Auswahl der Mittel zur Zielerreichung sind
wir uns schon nicht mehr einig. Wenn wir ein Problem
lösen wollen, das öffentlich und sehr emotional disku-
tiert wird, sind wir sehr gut beraten, bei aller Betroffen-
heit eine große Besonnenheit an den Tag zu legen und
großen Sachverstand walten zu lassen. Ich möchte der
Ministerin an dieser Stelle ganz ausdrücklich dafür dan-
ken, dass sie diese Besonnenheit trotz des öffentlichen
Drucks gezeigt hat. Herzlichen Dank an Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Wir können auch den Staatssekretär in den Dank einbeziehen!)


Unser Ziel ist es also, die Gewalt zu bekämpfen. Um
dieses Ziel zu erreichen, müssen wir zunächst eine Ursa-
chenanalyse durchführen und erst dann ein Handlungs-
konzept entwickeln. Damit fangen wir aber nicht erst
jetzt an, sondern in Fachkreisen ist dies schon lange ein
Thema. Wir haben bereits vieles auf den Weg gebracht.
Frau Gruß, seit 15 Jahren gibt es das Kinder- und Ju-
gendhilfegesetz. Das ist ein wunderbares Gesetz: Es
schreibt vor, dass alle Stellen, die mit Kindern zu tun ha-
ben, zusammenarbeiten müssen. Obwohl eine solche
Zusammenarbeit also keineswegs ins Belieben der Be-
teiligten gestellt ist und diese auch geschieht, passieren
solche Fälle. Es ist so, wie Frau Blumenthal sagte: Es
gibt keine absolute Sicherheit und es gibt vor allem
keine Patentrezepte.

In all diese Überlegungen müssen wir auch die Erfah-
rungen, die international in diesem Bereich gemacht
wurden, mit einfließen lassen. Dort konnte man ganz
eindeutig feststellen: Es muss immer ein Zusammenspiel
vieler Professionen und Berufsgruppen zum Wohle des
Kindes geben. Wenn qualifizierte Kinderärzte Kinder
mit Kopfverletzungen sehen, dann müssen sie erkennen
können, ob ein Kind wirklich von einer Wickelkommode
aus 80 Zentimetern Höhe gefallen ist oder ob es so stark
geschüttelt wurde, dass diese Erschütterungen einem
Sturz aus 10 Metern Höhe entsprechen. Das muss man
erkennen können. Es nützt wenig, wenn man ein Kind
einem Arzt vorführt, der solche Unterschiede nicht er-
kennen kann, weil ihm die notwendige Erfahrung fehlt.
Dramatische Gewaltsituationen sind schließlich nicht
allzu häufig.

Wir brauchen Sozialarbeiter, die genügend professio-
nelle Distanz zu den betreuten Familien haben und trotz-
dem sehr engagiert an ihre Aufgabe herangehen und
Konflikte nicht scheuen. Es ist manchmal sehr unange-
nehm, die Familien aufzusuchen und ihnen zu vermit-
teln, dass gehandelt wird. Ich habe zehn Jahre mit Kin-
dern und Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten
gearbeitet. Das ist nicht immer ein Honiglecken, aber es
zahlt sich aus, auch unangenehme Wege zu gehen, selbst
wenn man manchmal sehr massiv angesprochen wird.






(A) (C)



(B) (D)


Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

Justiz und Polizei spielen ebenfalls eine wichtige
Rolle. Ich habe gute Erfahrungen mit der Polizei ge-
macht. Entsprechende Schulungen finden auf hohem Ni-
veau statt. Aber auch in der Justiz wäre manchmal etwas
mehr Nachdruck wünschenswert, wenn es um die An-
wendung des § 8 des SGB VIII – Kinder- und Jugend-
hilfe – geht, der bei Gefährdung des Kindeswohls die In-
obhutnahme vorsieht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es geht darum, lieber einmal mehr zu handeln, als zu-
zuschauen und zuzuwarten. Allerdings sollte behutsam
gehandelt werden; denn die Herausnahme aus der Fami-
lie ist für ein Kind sehr schwer zu verarbeiten. Dabei ist
eine sehr große Sensibilität gefragt. Dazu sind entspre-
chende Schulungen notwendig. Zudem müssen die
Kommunalpolitiker begreifen, dass Sparen hier nicht
weiterhilft, sondern Kinder- und Jugendpolitik in erster
Linie Strukturpolitik ist,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


durch die die notwendigen Rahmenbedingungen ge-
schaffen werden. Denn der Staat kann nicht immer die
Feuerwehr spielen. Die Mehrzahl der Eltern ist in der
Lage, die Kinder sehr gut und liebevoll zu erziehen,
wenn entsprechende Rahmenbedingungen gegeben sind,
damit aus Kindern verantwortungsbewusste Erwachsene
werden, die die notwendige Reife für ein demokratisches
Bewusstsein haben. Darum geht es, nicht um massive
Strafen und Drohungen. Sie sind allenfalls im Einzelfall
vertretbar.

Ich wünsche mir, dass wir in diesem Hause diese
Zielsetzung gemeinsam verfolgen und dass es uns als
Abgeordnete gelingt, in den kommunalen Gremien, de-
nen wir angehören, den Mund aufzumachen, wenn es da-
rum geht, ob 500 oder 1 500 Euro für die Beratung im
Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe oder 10 000 Euro
für die Erstellung eines Gutachtens über ein Projekt im
Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft bewil-
ligt werden. Wir setzen die Prioritäten und wir können
klar und deutlich zeigen, wo unsere Prioritäten liegen.
Dafür brauchen wir nicht mehr Mittel; wir müssen nur
die vorhandenen Mittel entsprechend umschichten.

Entschuldigung, Frau Präsidentin, dass ich meine Re-
dezeit überzogen habe.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606024100

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Diana

Golze das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606024200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Erschreckende Fälle von Kindesvernach-
lässigung und -misshandlung haben in den letzten Tagen
erneut eine richtige und wichtige Debatte über die Stär-
kung des Kinderschutzes angestoßen. Die Schicksale
von Kindern wie Kevin lassen wohl niemanden unbe-
rührt. Dennoch oder gerade jetzt ist die Politik in der
Verantwortung, die Suche nach den Ursachen gründlich
zu betreiben und Lösungen zu finden, die die gefährde-
ten Kinder und ihre Familien wirksam unterstützen.
Meine Vorrednerinnen – es waren tatsächlich ausschließ-
lich Rednerinnen – haben dies bereits betont.

Zu schnell wurden für mich Rufe nach mehr Kon-
trolle von wirklichen oder vermeintlichen Risikofami-
lien laut. Die Forderung von Sanktionen gegen Eltern,
die ihre Kinder nicht zu den regelmäßigen Früherken-
nungsuntersuchungen bringen, wird nicht nur von der
Linken als falsche Schlussfolgerung gewertet. Beson-
ders eine immer wieder ins Spiel gebrachte Kürzung des
Kindergeldes würde sich wohl eher noch stärker zum
Nachteil der Kinder auswirken, als dass sie die säumigen
Eltern zum Nachdenken und Handeln bringt. Auch den
rund 200 000 Kindern, die bisher gänzlich von einer
Vorsorgeuntersuchung ausgeschlossen sind, da sie und
ihre Eltern keine Krankenversicherung haben, wäre mit
Sanktionsmaßnahmen nicht geholfen.

Die Debatten der vergangenen Tage erwecken bei mir
den Eindruck, dass das Wort Frühwarnsystem zu einer
Art Zauberformel geworden ist. Es ist eine Formel aus
kurzsichtigen Schnellschüssen: ein bisschen mehr Kon-
trolle, ein paar Sanktionen mehr und dazu 10 Millionen
Euro für ein Aktionsprogramm – fertig ist die heile Welt.
Schaut man sich aber die Realität an, dann wird einem
klar, dass dieses Rezept leider nicht wirken wird. Der ge-
genwärtige Aktionismus verstellt den Blick auf die ei-
gentlich zentralen Ursache.

Die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren bewährten In-
strumentarien, die von der außerschulischen Kinder- und
Jugendarbeit über Hilfen zur Erziehung bis zur Inobhut-
nahme von Kindern reichen, steht durch die klammen
öffentlichen Haushalte unter einem enormen Kürzungs-
druck, und das schon seit Jahren. Bereits 2001 wies die
Landesärztekammer Baden-Württemberg in einem Leit-
faden darauf hin, dass „Institutionen wie soziale Dienste
und Kinderschutzorganisationen … dem Kind und der
Familie direkter helfen“ können. Doch genau diese Insti-
tutionen sind es, die seit Jahren massiven Kürzungen
von Bund, Ländern und Kommunen ausgesetzt sind. Das
verheerende Ergebnis sehen wir heute. Den Anlaufstel-
len für die betroffenen Kinder fehlen die Mittel, um qua-
lifizierte Angebote zu machen und schnell und gezielt
einzugreifen. Diese Entwicklung wird Frau von der
Leyen mit 10 Millionen Euro nicht umkehren können.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch bei der Personalpolitik werden die Fehler der
vergangenen Jahre offenkundig. In meinem Landkreis
haben wir gerade einmal drei Mitarbeiterinnen im Ju-
gendamt, die eine Amtsvormundschaft übernehmen kön-
nen. Statistisch gesehen können sie einmal in einem hal-
ben Jahr bei den betroffenen Familien vorbeischauen.
Die Erziehungsberatungsstellen haben eine Wartezeit
von bis zu neun Monaten. Dieser Mangel macht deut-
lich, dass ein Zugriff der Jugendämter auf die Daten des
Bundeszentralregisters – wie kürzlich aus Hamburg






(A) (C)



(B) (D)


Diana Golze
gefordert – der völlig falsche Weg ist. Ein solcher Gene-
ralverdacht wird zudem der überwältigenden Mehrheit
der Eltern nicht gerecht, die ihre Kinder nicht vernach-
lässigen, sondern sie in ihrer Entwicklung fördern und
liebevoll begleiten.

Es sollte das Familienministerium nachdenklich stim-
men, wenn Verbände wie der Deutsche Paritätische
Wohlfahrtsverband und der Deutsche Kinderschutzbund
zu anderen Antworten kommen. In ihrem Sechs-Punkte-
Plan stellen die beiden Verbände Forderungen auf, die
meine Fraktion als sinnvolle Handlungsansätze betrach-
tet. Darüber hinaus wollen wir mit einer existenzsichern-
den Kindergrundsicherung Kindern und deren Fami-
lien die notwendige finanzielle Sicherheit geben.
Nachzudenken wäre außerdem über die Aufnahme des
Rechts des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an
Gesundheit in das Bürgerliche Gesetzbuch, wie der
Deutsche Kinderschutzbund angeregt hat. Damit würde
die UN-Kinderrechtskonvention in diesem Bereich end-
lich greifen.


(Beifall bei der LINKEN)


Gefährdete Kinder brauchen die Zivilcourage der ge-
samten Gesellschaft, aber auch professionelle Fach-
kräfte. Wir brauchen deshalb eine Gemeinschafts-
anstrengung von Bund, Ländern und Kommunen zur
Stabilisierung der Angebotslandschaft in der Kinder-
und Jugendhilfe. Dies wäre eine Ankündigung des Fami-
lienministeriums, die unsere volle Unterstützung fände.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606024300

Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Katharina

Landgraf das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katharina Landgraf (CDU):
Rede ID: ID1606024400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen, zuerst einmal vielen Dank für Ihre Initiative.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben ein Thema aufgegriffen, das uns Familienpoli-
tikern zunehmend schwerer auf der Seele liegt: der
Schutz von Kindern vor Vernachlässigung und Gewalt.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, ist aber nichts anderes als ein Gemischtwarenla-
den für Bürokraten. Hier werden Forderungen aufge-
stellt und Empfehlungen angepriesen, die erst einmal
strukturiert werden müssen. Aber interessant ist er auf
jeden Fall. Das Ziel ist für mich klar: Wir müssen für das
Wohl unserer Kinder mehr tun.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der beste Schutz vor Vernachlässigung sind mündige
und bewusste Eltern. Die Gesellschaft, wir alle, muss die
Vernachlässigung von Kindern verhindern. Als Gesetz-
geber müssen wir hinterfragen, ob die vorhandenen
Grundregeln für Eltern heute noch ausreichen. Ich
meine, wir brauchen der Zeit angepasste, neue Regeln,
die manchen Akteur auf den rechten Weg zurückführen.
Neue Regeln zu formulieren muss aber auch bedeuten
dürfen, die Früherkennungsuntersuchungen gesetzlich
zur Pflicht zu machen, das heißt – das ist meine persönli-
che Meinung –, gegenüber säumigen Eltern spürbare
Sanktionen auszusprechen, zum Beispiel das Kinder-
geld zu kürzen, wenn Früherkennungsuntersuchungen
nicht regelmäßig absolviert werden.


(Beifall des Abg. Johannes Singhammer [CDU/CSU])


Persönlich wünsche ich mir, dass auch ein Bonussystem
ins Auge gefasst wird.

Eines will ich in diesem Zusammenhang klarstellen:
Die Union steht nach wie vor und auch in Zukunft für
die Wahrung der Elternrechte, für die Erfüllung der El-
ternpflichten und für die Wahrung der Elternfreiheiten.
Eltern können und sollen von niemandem aus ihrer
Pflicht entlassen werden. Ich gehe davon aus, dass Eltern
ihre Kinder lieben und nur einige von ihnen mit diesen
Aufgaben überfordert sind.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie doch mal Ihrem eigenen Ministerium zu!)


Wenn sie jedoch ihren Aufgaben nicht gewachsen sind,
brauchen sie deutliche Zielvorgaben.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch mal mit Frau von der Leyen!)


– Ich rede schon mit ihr, keine Angst. – Der Staat und
seine Institutionen, also auch wir, brauchen eine bessere
rechtliche Basis für ihre Handlungen im Interesse der
Kinder und der Eltern. Der Verweis im Grundgesetz
auf das Wächteramt des Staates reicht nicht mehr aus.
Vor uns liegt ein Spannungsfeld, das wir als Gesetzgeber
endlich betreten müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ziel muss es sein, die Grundrechte der Kinder auf kör-
perliche und seelische Unversehrtheit und auf ein Auf-
wachsen ohne Gewalt im Grundgesetz zu verankern.
Das sollte als Handlungskompass sowohl für die Eltern
als auch für den Wächter Staat dienen. Das sind die
Grundlagen, die wir auf der Bundesebene schaffen kön-
nen.

Ganz konkret muss im SGB V der § 26 zu den Früh-
erkennungsuntersuchungen neu geschrieben werden.
Dafür hat uns in dieser Woche der Berufsverband der
Kinder- und Jugendärzte entsprechende Vorschläge
übermittelt. Hinter diesen stehe ich. Der Verband emp-
fiehlt den Ausbau des Jugendmedizinischen Dienstes
im öffentlichen Gesundheitsdienst, und zwar folgender-
maßen: Dieser erfasst und betreut mit Unterstützung von
Familienfürsorgerinnen und besonders qualifizierten Fa-
milienhebammen alle Familien mit Neugeborenen. Au-
ßerdem soll dieser Dienst engmaschig das weitere Ge-
deihen des Kindes verfolgen und Familien Hilfen






(A) (C)



(B) (D)


Katharina Landgraf
anbieten. Notfalls nimmt dieser Dienst ein Kind zu sei-
nem Schutze aus der Familie. Jugendämter sind nach
Auffassung des Kinderärzteverbandes für diese sensib-
len Aufgaben weniger geeignet.

Was sollten wir eigentlich unterlassen? Nun, zum
Beispiel ein perfektes Überwachungssystem gegen die
Eltern zu schaffen. Was wir tatsächlich brauchen, ist in
erster Linie eine Partnerschaft der gesamten Gesellschaft
für all diejenigen Menschen, die sich für das Aufziehen
von Kindern entscheiden. Dass dies eine pflichtbewusste
und mündige Elternschaft werden kann, dafür tragen
viele die Verantwortung, zuallererst die eigenen Eltern.
Falls diese ihren Pflichten gegenüber ihren Nachkom-
men nicht gerecht werden können, sind andere Partner
gefragt, wir und viele andere.

In unseren gesetzgeberischen Aktivitäten müssen wir
natürlich alle bereits laufenden Gesetzesinitiativen der
Länder beachten und einbeziehen. Wir vom Bund aus
können den Ländern und den Kommunen keine Vor-
schriften machen, wie sie mit dieser Problematik umzu-
gehen haben. Ich weiß, dass in den Ländern bereits nicht
nur alle Alarmglocken läuten, sondern echt an Lösungen
gearbeitet wird, so zum Beispiel im Freistaat Sachsen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606024500

Kollegin Landgraf, wie die Kollegin Rupprecht zu

Recht bemerkte, bin ich ein geduldiger Mensch. Aber
wir haben noch die Beratung in den Ausschüssen vor
uns. Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.


Katharina Landgraf (CDU):
Rede ID: ID1606024600

Dort hat der Ministerpräsident den Kinderschutz zur

Chefsache gemacht. Wir sind alle optimistisch. Bund
und Länder werden gemeinsam etwas zum Wohle und
zum Schutz der Kinder tun. Packen wir es an!


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606024700

Das Wort hat die Kollegin Christel Humme von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ich bin gespannt, ob die Ministerpräsidenten bei der nächsten Reform des KJHG auch noch so denken!)



Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1606024800

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Heute war zu lesen, 85 Prozent der Be-
völkerung möchten gern eine verpflichtende ärztliche
Untersuchung für Kinder.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)


Ich glaube, diese 85 Prozent sind ein Ausdruck großer
Betroffenheit angesichts der wieder einmal bekannt ge-
wordenen Fälle von Kindesmisshandlung. Aber ich sage
auch: Das ist ein Ausdruck von Ohnmacht, und zwar
dann, wenn man meint, nur dieses eine Mittel der gesetz-
lich verpflichtenden Untersuchung helfe, Misshandlun-
gen zu verhindern. Es ist von meinen Vorrednerinnen
schon verschiedentlich gesagt worden, besonders von
Frau Blumenthal und Frau Rupprecht, dass der Staat al-
leine nicht alles verhindern kann, was passieren könnte.
Aber dennoch müssen wir uns fragen, was wir als Bun-
desgesetzgeber tun können.

Frau Rupprecht hat dankenswerterweise darauf hin-
gewiesen, dass wir ein hervorragendes Gesetz haben,
nämlich das Kinder- und Jugendhilfegesetz, für das
der Bund zuständig ist.


(René Röspel [SPD]: Gott sei Dank!)


Frau Rupprecht hat auch darauf hingewiesen, dass wir
dieses Gesetz weiterentwickelt haben; denn man muss
deutlich sagen, dass sich der Bundestag heute nicht zum
ersten Mal mit dem Thema Kindesmisshandlung be-
schäftigt. Wir haben dem Gesetz den § 8 a hinzugefügt,
der das Jugendamt stärkt, indem er es ermächtigt, Kin-
der, wenn eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt,
sofort aus der Familie herauszuholen – ohne ein Urteil
des Familiengerichts abzuwarten. Ich denke, das war
eine richtige Entscheidung. Trotzdem muss man feststel-
len, dass das Gesetz den Fall Kevin nicht verhindert hat.
Ich glaube aber, dass wir, wie es viele heute schon be-
schrieben haben, kein Gesetzesdefizit, sondern ein Um-
setzungsdefizit haben.


(Beifall im ganzen Hause)


Dass es auch anders geht, zeigt eine Reihe guter Bei-
spiele. Ich möchte drei davon nennen. Der Bürgermeis-
ter von Dormagen, einer Stadt in Nordrhein-Westfalen,
ist gleichzeitig Vorsitzender des Deutschen Kinder-
schutzbundes. Dieser Bürgermeister, Herr Hilgers, hat
dafür gesorgt, dass Sozialarbeiter, wenn ein Kind gebo-
ren wird, sofort in die Familie gehen, ein Babypaket
übergeben und Erziehungshilfen beilegen. Ich denke,
das ist ein guter Weg. Dabei ist für mich entscheidend,
dass Herr Hilgers dafür gesorgt hat, dass der Gesichts-
punkt, ob eine Familie arm oder reich ist, keine Rolle
spielt und alle Familien besucht werden. Wir müssen uns
nämlich vor Stigmatisierung hüten.

Ich nenne eine andere Gemeinde, nämlich Mettmann.
In Mettmann wurde zusammen mit dem Gesundheitsamt
ein hervorragendes Meldesystem aufgebaut. Die Fami-
lien werden angeschrieben und erhalten einen Rückmel-
debogen. Das Gesundheitsamt kann so sehen, wer eine
Früherkennungsuntersuchung freiwillig wahrnimmt und
wer nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Last, not least möchte ich auf ein Projekt hinweisen,
das an der Kinderklinik Lauchhammer in der Niederlau-
sitz entwickelt worden ist. Auch dieses ist ein Schritt in
die richtige Richtung. Dort sind es die Ärzte gewesen,
die die Initiative ergriffen haben. Sie haben immer wie-
der festgestellt, dass es Misshandlungen gibt, und sich
gefragt, was sie machen sollen, wo es doch keine ent-
sprechenden Strukturen gibt und man sich an niemanden
wenden kann, um den betroffenen Kindern zu helfen. In-
zwischen gibt es dort eine Vernetzung der Krankenhäu-
ser, der Jugendämter und der Sozialämter. Ich glaube,
das ist der richtige Weg.






(A) (C)



(B) (D)


Christel Humme
Das Projekt des Familienministeriums, das in diesem
Zusammenhang vielfach kritisiert worden ist, ist richtig,
weil es frühe Hilfen und ein Frühwarnsystem miteinan-
der verbindet und so eine Vernetzung auf den Weg
bringt. Das müssen wir angehen und in der Politik um-
setzen. Wir brauchen nämlich eine stärkere Vernetzung
der Kinder- und Jugendhilfe mit den Sozialämtern, den
Schulen und dem Gesundheitswesen sowie – das ist
keine Frage – ein besseres Meldesystem, allerdings auf
freiwilliger Basis.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dabei unterstützt uns die Gesellschaft gegen Kindes-
misshandlung, die das ganz genauso sieht.

Wir sollten im Ausschuss gemeinsam – in der heuti-
gen Debatte habe ich viele Gemeinsamkeiten entdeckt –
nach Lösungen suchen, die mehr auf Freiwilligkeit und
auf Hilfen basieren. Das sollte unser Ziel sein.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1606024900

Weitere Wortmeldungen liegen mir zu diesem Tages-

ordnungspunkt nicht vor. Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3024 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des Versicherungsvermittler-
rechts

– Drucksachen 16/1935, 16/2475 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 16/3162 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Lötzer

Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich eröffne
die Aussprache und nehme gleichzeitig die Beiträge des
Kollegen Wegner aus der Unionsfraktion, des Kollegen
Lange aus der SPD-Fraktion, des Kollegen Zeil aus der
FDP-Fraktion, der Kollegin Lötzer aus der Fraktion
Die Linke und des Kollegen Berninger aus der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen zu Protokoll.1)

1) Anlage 6
Damit schließe ich die Aussprache auch schon wie-
der.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts, Druck-
sachen 16/1935 und 16/2475. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/3162, den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion der Grünen bei Enthaltung der
FDP-Fraktion angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak-
tion der Grünen bei Enthaltung der FDP angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3174. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegenpro-
be! – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist da-
mit gegen die Stimmen der Antragsteller abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Exzellenzwettbewerb – Fachhochschulen

– Drucksache 16/2838 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Gesundheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Exzellenzinitiative erweitern – herausragende
Lehre prämieren

– Drucksache 16/3094 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Auch hier war nach einer interfraktionellen Verein-
barung für die Aussprache eine halbe Stunde vorgese-
hen. Wir nehmen die Reden der Kollegin Professor
Monika Grütters aus der Unionsfraktion, des Kollegen
René Röspel aus der SPD-Fraktion, des Kollegen Uwe
Barth aus der FDP-Fraktion, der Kollegin Dr. Petra Sitte
aus der Fraktion Die Linke und des Kollegen Kai






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
Gehring aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
zu Protokoll.1)

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/2838 und 16/3094 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur

(2. Justizmodernisierungsgesetz)

– Drucksache 16/3038 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

Auch hier war eine halbe Stunde für die Aussprache
vorgesehen. Wir nehmen die Beiträge des Kollegen
Gehb aus der Unionsfraktion, des Kollegen Stünker aus
der SPD-Fraktion, der Kollegin Dyckmans aus der FDP-
Fraktion, des Kollegen Nešković aus der Fraktion Die
Linke, des Kollegen Montag aus der Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen und des Parlamentarischen Staats-
sekretärs Hartenbach zu Protokoll.2)

Ich schließe damit die Aussprache.

Interfraktionell wird auch hier die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/3038 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlos-
sen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia

(Saarbrücken)

tion der LINKEN

Europäisches Jahr der Chancengleichheit –
Recht auf Bildung realisieren
– Drucksache 16/1446 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch hier wollten wir für eine halbe Stunde in die
Aussprache eintreten. Wir nehmen aber die Beiträge des
Kollegen Weinberg aus der Unionsfraktion, des Kolle-
gen Rossmann aus der SPD-Fraktion, des Kollegen
Meinhardt aus der FDP-Fraktion, der Kollegin Hirsch
aus der Fraktion Die Linke und der Kollegin Hinz aus
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zu Proto-
koll.3)

1) Anlage 7
2) Anlage 8
3) Anlage 9
Ich schließe damit die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/1446 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist auch diese Über-
weisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Hans-Christian Ströbele, Monika
Lazar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Staatsangehörigkeitsrechtes
– Drucksache 16/2650 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch hier brauchen wir die interfraktionell verein-
barte Aussprache von einer halben Stunde nicht in An-
spruch zu nehmen. Wir nehmen die Reden des Kollegen
Baumann aus der Unionsfraktion, des Kollegen Veit aus

(RemsMurr)

der Fraktion Die Linke und des Kollegen Winkler aus
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zu Proto-
koll.4)

Ich schließe damit die Aussprache.

Interfraktionell wird auch hier die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/2650 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Zusätzlich soll der Gesetzentwurf an den Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe überwiesen wer-
den. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Bei Warenetikettierung mit RFID-Chips den
Datenschutz sichern
– Drucksache 16/2673 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien

Auch hier brauchen wir die für die Aussprache vorge-
sehene halbe Stunde nicht in Anspruch zu nehmen. Wir
nehmen die Reden der Kollegin Philipp aus der Unions-
fraktion, des Kollegen Bürsch aus der SPD-Fraktion, der
Kollegin Piltz aus der FDP-Fraktion, des Kollegen Korte

4) Anlage 10






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau

aus der Fraktion Die Linke und der Kollegin Stokar von
Neuforn aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
zu Protokoll.1)

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/2673 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ulrike Höfken, Ute Koczy, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN

verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Dr. Karl Addicks, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP

In der EU-Mittelmeerpolitik mehr auf Demo-
kratisierung und Good Governance drängen

– Drucksache 16/848 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Den Hunger in Entwicklungsländern wirksam
bekämpfen – Das Recht auf Nahrung umset-
zen und ländliche Entwicklung fördern

– Drucksache 16/3019 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war auch
hier für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen,
wobei die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf
Minuten erhalten sollte. Wir nehmen die Reden des Kol-
legen Bauer aus der Unionsfraktion, des Kollegen Raabe
aus der SPD-Fraktion, des Kollegen Addicks aus der
FDP-Fraktion, des Kollegen Aydin aus der Fraktion Die
Linke und der Kollegin Höfken aus der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen zu Protokoll.2)

Ich schließe damit die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3019 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-

1) Anlage 11
2) Anlage 12
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch hier war für die Aussprache eine halbe Stunde
vorgesehen. Wir nehmen die Reden des Kollegen
Hörster aus der Unionsfraktion, des Kollegen Mützenich
aus der SPD-Fraktion, des Kollegen Addicks aus der
FDP-Fraktion, der Kollegin Knoche aus der Fraktion
Die Linke und des Kollegen Steenblock aus der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen zu Protokoll.3)

Ich schließe damit die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/848 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluss
der heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 27. Oktober 2006,
9 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend.

Die Sitzung ist geschlossen.