3) Anlage 13
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5919
(A) (C)
(B) (D)
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
hebliche Enttäuschungen und negative Folgen für die
Entwicklung beider Länder nach sich ziehen müsste.
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Andres, Gerd SPD 26.10.2006
Bätzing, Sabine SPD 26.10.2006
Bülow, Marco SPD 26.10.2006
Drobinski-Weiß, Elvira SPD 26.10.2006
Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 26.10.2006
Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 26.10.2006
Goldmann, Hans-
Michael
FDP 26.10.2006
Großmann, Achim SPD 26.10.2006
Kasparick, Ulrich SPD 26.10.2006
Pieper, Cornelia FDP 26.10.2006
Ramelow, Bodo DIE LINKE 26.10.2006
Dr. Schwanholz, Martin SPD 26.10.2006
Seehofer, Horst CDU/CSU 26.10.2006
Stiegler, Ludwig SPD 26.10.2006
Dr. Stinner, Rainer FDP 26.10.2006*
Toncar, Florian FDP 26.10.2006
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.10.2006
Ulrich, Alexander DIE LINKE. 26.10.2006
Wieczorek-Zeul,
Heidemarie
SPD 26.10.2006
Wieland, Wolfgang BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.10.2006
Wolf (Frankfurt),
Margareta
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
26.10.2006
Wolff (Wolmirstedt),
Waltraud
SPD 26.10.2006
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Günter Krings und
Michael Grosse-Brömer (beide CDU/CSU) zur
namentlichen Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. April
2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien
und Rumäniens zur Europäischen Union (Ta-
gesordnungspunkt 7 a)
Wir stimmen dem Gesetzentwurf zum Vertrag vom
25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien
und Rumäniens zur Europäischen Union zu. Gleichwohl
haben wir erhebliche Bedenken bei dieser Entscheidung,
nicht nur im Hinblick auf die Beitrittsfähigkeit der Kan-
didaten, sondern insbesondere wegen der derzeit er-
schöpften Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union.
Der Monitoring-Bericht über den Stand der Beitritts-
vorbreitungen Bulgariens und Rumäniens der Europäi-
schen Kommission vom 26. September 2006 lässt zwar
weitere Fortschritte beider Länder bei der Vorbereitung
ihres Beitritts erkennen, in fundamentalen Bereichen be-
stehen aber nach wie vor schwerwiegende Probleme, die
von den Ländern bislang nicht gelöst wurden. Dies gilt
unter anderem für das wichtige Justizwesen. In Bulga-
rien bestehen etwa nach wie vor Probleme bei der
Durchführung von Strafprozessen, in Rumänien ist eine
umfassende und konsistente Auslegung und Anwendung
der Gesetze durch alle Gerichte noch nicht gewährleis-
tet. Besorgnis erregende Defizite existieren auch im Be-
reich der Korruptionsbekämpfung, des Agrarfonds und
der Auszahlung von Agrarausgaben für beide Länder.
Entscheidend ist: Die Aufnahmefähigkeit der EU ist
derzeit an ihre Grenzen gelangt. Vor allem die geschei-
terten Referenden über die Europäische Verfassung in
Frankreich und in den Niederlanden sowie die wach-
sende Skepsis der Bevölkerung gegenüber der EU und
weiterer Erweiterungen zeigen, dass die Union Gefahr
läuft, sich und ihre Bevölkerung mit der Aufnahme von
Bulgarien und Rumänien zu überfordern. Die momenta-
nen Entscheidungsfindungsprozesse in der EU stellen
die Handlungsfähigkeit und die globale Konkurrenzfä-
higkeit der Union schon jetzt infrage. Mit der Erweite-
rung wird sich das Problem noch weiter verschärfen.
Die letzte Bundesregierung unter Bundeskanzler
Schröder und Außenminister Fischer hat bei den Ver-
handlungen über den Beitritt Bulgariens und Rumäniens
die Interessen Deutschlands und der EU nicht ausrei-
chend beachtet und die erschöpfte Aufnahmefähigkeit
der EU ignoriert.
Wir stimmen nur deshalb dem Beitritt Bulgarien und
Rumäniens zur EU zu, weil eine Ablehnung zum jetzi-
gen späten Zeitpunkt für beide Beitrittskandidaten über-
raschend käme und nicht zu verantworten ist, weil sie er-
5920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Veronika Bellmann, Günter
Baumann, Klaus Brähmig, Robert Hochbaum,
Dr. Peter Jahr, Dr. Michael Luther, Maria
Michalk und Marco Wanderwitz (alle CDU/
CSU) zur namentlichen Abstimmung über den
Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
25. April 2005 über den Beitritt der Republik
Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen
Union (Tagesordnungspunkt 7 a)
Ich stimme dem Gesetz und damit dem Beitritt der
Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen
Union zu. Zusätzlich möchte ich aber folgende Erklä-
rung abgeben:
Der letzte Fortschrittsbericht der Europäischen Kom-
mission, der am 26. September 2006 veröffentlicht
wurde, bescheinigte beiden Ländern große Fortschritte
auf ihrem Weg in die EU. Allerdings bestehen laut Be-
richt auch noch immer erhebliche Defizite insbesondere
in den Bereichen innere Sicherheit, Justiz, Landwirt-
schaft, Lebensmittelsicherheit und bei der Korruptions-
bekämpfung. Daher wird eine strenge Überwachung der
Beitrittsländer vorgeschlagen. Gegenstand der Überwa-
chungen sollen vor allem die Reformen nach dem Bei-
tritt beider Länder sein.
Dass die EU-Kommission dennoch empfohlen hat,
Bulgarien und Rumänien im nächsten Jahr in die EU
aufzunehmen, war absehbar und ist vor allem das Ergeb-
nis schlecht verhandelter Verträge der rot-grünen Vor-
gängerregierung und der vormaligen EU-Kommission
unter Romano Prodi sowie Erweiterungskommissar
Verheugen (SPD). Die Europäische Union hat Bulgarien
und Rumänien bereits kurz nach dem Fall des Eisernen
Vorhangs eine Beitrittsperspektive eröffnet. Ich teile die
Überzeugung, dass beide Länder den Weg in die Europäi-
sche Union finden müssen. Die Verhandlungen hierüber
haben zeitgleich mit den zehn mittel- und osteuropäi-
schen Staaten begonnen, die schon 2004 der EU bei-
getreten sind. Die Beitrittsakte sieht nun die Aufnahme
beider Staaten in die EU zum 1. Januar 2007 vor und be-
inhaltet die Möglichkeit einer Verschiebung auf den
1. Januar 2008.
Mit der festen Zusage eines Beitritts spätestens im
Jahr 2008 haben sowohl die Vorgängerregierung, als
auch die vorherige EU-Kommission ihren Nachfolgern
eine schwierige Altlast hinterlassen, die durch feste ver-
tragliche Bindung nur noch äußerst geringe Handlungs-
spielräume gestattet. Zwar hätte die Kommission den
Beitritt von Bulgarien und Rumänien um ein Jahr ver-
schieben können, aber diese Verschiebung wäre nicht
mit zwingend einzuhaltenden Auflagen im Zeitraum
zwischen beabsichtigtem Beitritt 2007 und tatsächli-
chem Beitritt 2008 verbunden gewesen, sodass der Re-
formdruck auf die beiden Länder völlig abgebrochen
wäre. Insofern war diese Vertragsklausel eine Scheinbe-
stimmung. Sie hätte lediglich Stillstand bedeutet, ohne
die Aufnahme beider Länder in die EU wirklich verhin-
dern oder zur Beitrittsreife bzw. Erfüllung der Beitritts-
kriterien zum 1. Januar 2008 führen zu können.
Aus diesem Grunde sind die Ankündigungen der EU-
Kommission, Schutzmaßnahmen vorzusehen, als bedeu-
tend wirksamer einzuordnen, sofern es nicht bei den An-
kündigungen bleibt. Hier liegt eine besondere Verant-
wortung bei den Mitgliedstaaten und insbesondere bei
der deutschen Bundesregierung. Sie muss darauf achten,
dass die Schutzmechanismen zum Zeitpunkt des Beitritts
und nicht erst danach wirksam werden.
Da die Schutzklauseln gemäß entsprechender Bestim-
mungen in den Beitrittsverträgen sowohl von der EU-
Kommission als auch von einzelnen Mitgliedstaaten be-
antragt werden können, fordere ich die Bundesregierung
auf, diesen Antrag unverzüglich bei der EU-Kommis-
sion zu stellen.
Obgleich nun der Beitritt von Bulgarien und Rumä-
nien faktisch nicht mehr zu stoppen ist, sind für zukünf-
tige Erweiterungsstrategien entsprechende Schlüsse zu
ziehen.
Erstens. Die Verhandlungsführung sollte an sachli-
chen Erwägungen orientiert werden und nicht aus-
schließlich politischem Kalkül dienen. Zweitens. Vor
weiteren Beitritten ist die Aufnahme- und Integrationsfä-
higkeit der EU zu prüfen. Drittens. Es dürfen vertraglich
keine festen Beitrittstermine mehr vereinbart werden,
die die Erfüllung von Beitrittskriterien auf eine sekun-
däre Stufe stellen.
Im Übrigen müssen Schutzmaßnahmen für die Zu-
kunft als Auflagen und nicht als Sanktionen in die Bei-
trittsverträge aufgenommen werden. Für Auflagen ist es
nicht notwendig, erneute Fortschrittsberichte abzuwar-
ten. Sie wirken unmittelbar nach dem Beitritt ohne Zeit-
verzögerung.
Ich gehe davon aus, dass diese Erkenntnisse Bestand-
teil der deutschen Ratspräsidentschaft im kommenden
Jahr sein werden.
Anlage 4
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
25. April 2005 über den Beitritt der Republik
Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen
Union (Tagesordnungspunkt 7 a)
Gitta Connemann (CDU/CSU): Ich stimme dem
Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Eu-
ropäischen Union zu. Denn beiden Ländern ist durch die
rot-grüne Bundesregierung zugesichert worden, dass
Deutschland ihren Beitritt unterstützen wird. Aus Grün-
den des Vertrauensschutzes sehe ich mich heute an diese
Erklärungen gebunden.
Ich verstehe den Antrag der Koalitionsfraktionen als
kluge Einschränkung, denn er beinhaltet, dass die im
Vertrag vereinbarten Schutzmaßnahmen bereits zu Be-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5921
(A) (C)
(B) (D)
ginn des Beitritts beider Länder zu aktivieren sind, so-
weit die von der Europäischen Kommission festgestell-
ten Umsetzungsdefizite nicht bis zum 1. Januar 2007
beseitigt worden sind. Auf diese Weise werden die
Ängste der Bevölkerung sowie die im Monitoring aufge-
zeigten Mängel ernst genommen.
Dennoch sehe ich große Probleme in Verbindung mit
dem Beitritt. Schließlich zeigt sich, dass die Aufnahme-
fähigkeit der EU erschöpft ist. Zusätzlich lassen mich
die schwierigen Verhältnisse vor allem in den Justizwe-
sen beider Länder an deren Beitrittsfähigkeit zweifeln.
Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich erkenne an, dass
sowohl Bulgarien als auch Rumänien historisch bedingt
Bestandteil von Europa sind und ein Beitritt der beiden
vorgenannten Länder in die Europäische Union in jedem
Fall erfolgen soll. Nachdem die EU-Kommission jedoch
in ihrem Fortschrittsbericht vom 28. September 2006
beiden Ländern Defizite bei der Reform der Justiz und
der Bekämpfung der Korruption bescheinigt hat, halte
ich einen Beitritt Bulgariens und Rumäniens ohne zeit-
gleiche Aktivierung so genannter Schutzklauseln insbe-
sondere im Bereich des Innern und des Justizwesens
nicht für angezeigt.
Bulgarien und Rumänien müssten nach meinem Da-
fürhalten zum Beitrittszeitpunkt nachweisen, dass sie ein
Auszahlungssystem aufgebaut haben, das den Miss-
brauch bei EU-Subventionen verhindert. Deshalb
kommt für mich ein Beitritt nur dann in Betracht, wenn
bereits vom 1. Januar 2007 an die Schutzklausel im Be-
reich Justiz und Inneres durchgesetzt werden kann.
Die Bemühungen der beiden Länder, sich für einen
Beitritt zur Europäischen Union „fit“ zu machen, will
ich nicht verkennen. Gleichwohl reichen diese zum jetzi-
gen Zeitpunkt noch nicht aus, um einen Beitritt bereits
zum 1. Januar 2007 zu ermöglichen.
Ich erlaube mir abermals, darauf hinzuweisen, dass
vom Grunde her der Beitritt beider Länder zur EU gebo-
ten ist. Jedoch sollte die „Beitrittsreife“ der Länder bei
dem Beitrittsbeschluss nicht gänzlich außer Acht blei-
ben. Ich trage große Sorge, dass sich die Europäische
Union selbst unglaubwürdig machen wird, sofern bei al-
len bestehenden Kritikpunkten der Beitritt ohne entspre-
chende Schutzklauseln zum jetzigen Zeitpunkt so durch-
geführt wird.
Es wird möglichen zukünftigen Beitrittskandidaten
schwer zu vermitteln sein, ob sie die ihnen auferlegten
Beitrittskriterien überhaupt noch beachten sollten, wenn
diese im Fall von Bulgarien und Rumänien so großzügig
ausgelegt werden.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die fünfte Stufe der EU-Erweiterung ist ein historisches
Projekt, das mit der Aufnahme von Rumänien und Bul-
garien zum 1. Januar 2007 abgeschlossen werden wird.
Die Erweiterung der EU ist politisch notwendig und
ökonomisch sinnvoll. Die Überwindung der historischen
Teilung Europas war und bleibt der zentrale Baustein des
Friedens in Europa.
Alle Beitrittsländer müssen politische und wirtschaft-
liche Kriterien erfüllen und das Gemeinschaftsrecht so-
wie die EU-Normen in vollem Umfang übernehmen und
anwenden. Dies ist in Rumänien und Bulgarien in unter-
schiedlichem Maße bislang nicht geschehen, wie den
Fortschrittsberichten der Europäischen Kommission zu
entnehmen ist.
Rumänien hat bei einigen wirtschaftlichen Kriterien
und vor allem im Bereich der Bekämpfung von Korrup-
tion – teilweise auf höchster Ebene – noch große He-
rausforderungen zu meistern. Für Bulgarien gibt der
Fortschrittsbericht eine verschärfte Einschätzung in den-
selben Bereichen ab. Hinzu kommen hier immense Defi-
zite im Bereich des Justizwesens. Dies sind unter ande-
rem Zweifel an der Unabhängigkeit der Richterschaft,
Unklarheiten bei der Rechenschaftspflicht des Justizsys-
tems sowie Unklarheit bestimmter Aspekte im Zusam-
menhang mit der Funktionsweise des Obersten Justiz-
rates.
In beiden Ländern gibt es zudem deutlichen Nachhol-
bedarf beim Schutz von Minderheiten, allen voran von
Sinti und Roma. Gerade dieser letzte Punkt ist besonders
gravierend. Wenn die Europäische Union sich als Werte-
gemeinschaft versteht, dann darf sie keine Rabatte in
Fragen der Minderheiten- und damit Menschenrechte
geben. Dies gilt für die alten Mitgliedstaaten, die leider
auch nicht in allen Belangen vorbildlich sind, aber eben
auch für die neuen. Solche essentiellen Defizite wider-
sprechen dem Gründungsanspruch der EU. Auch für zu-
künftige Beitrittskandidaten muss gelten, dass prioritär
die menschenrechtlichen Kriterien erfüllt sind.
Rumänien und Bulgarien haben die politischen und
wirtschaftlichen Kriterien und das Gemeinschaftsrecht
sowie die EU-Normen noch nicht in vollem Umfang
übernommen und umgesetzt. Ihre Aufnahme ist also mit
faktisch gegebenen Rabatten in elementaren Bereichen
der Europäischen Union verbunden. Daher sollten zum
1. Januar 2007 gleichzeitig die möglichen Schutzklau-
seln aktiviert werden.
Trotzdem werde ich dem Antrag zur Aufnahme dieser
beiden Länder in die Europäische Union zum 1. Januar
2007 zustimmen. Die Verhandlungen mit beiden Län-
dern waren mit einem verbindlichen Zeitplan versehen.
Würden Rumänien und Bulgarien nicht zum 1. Januar
2007 in die EU aufgenommen werden, so müssten sie
– nach vertraglicher Vorfestlegung – spätestens zum
1. Januar 2008 aufgenommen werden, unabhängig da-
von, wie weit sie bis dahin in der Umsetzung der Bei-
trittskriterien vorangeschritten sind. Künftig sollte aus
dieser Erfahrung die Lehre gezogen werden, Beitritts-
verhandlungen nicht mehr mit einem festen Zieldatum
zu verknüpfen.
Ich bin der Überzeugung, dass die Übernahme und
Anwendung der Beitrittskriterien in vollem Umfang un-
ter der Beobachtung und Anleitung der Europäischen
Kommission eher vorangetrieben werden, wenn beide
Länder jetzt aufgenommen werden. Im Gegenzug würde
die Verzögerung des Beitritts um ein Jahr ein politisch
falsches Signal setzen. Es würde auch die jetzt wirkende
Motivation der Länder und ihrer reformorientierten
5922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Regierungen, sich unter dem EU-Monitoring den euro-
päischen Standards anzupassen, eher schwächen.
Für mein Abstimmungsverhalten ist also trotz aller
Bedenken entscheidend, dass ich darauf setze, dass die
beschriebenen Probleme und Mängel in Rumänien und
Bulgarien als Teil der EU schneller aufgelöst werden
und somit das Jahr 2007 nicht vergeudet wird.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Zum jetzigen Zeit-
punkt erfüllen Rumänien und Bulgarien die Kopen-
hagener Kriterien nicht. Trotz entsprechender, durchaus
zu würdigender Anstrengungen sind noch immer ener-
gische Maßnahmen in den Bereichen Justiz, Korrup-
tionsbekämpfung, Aufbau eines ordnungsgemäßen
Kontroll- und Verwaltungssystems in der Landwirt-
schaft und Interoperabilität mit dem Steuersystem der
EU erforderlich.
Einmal mehr belegt das jetzt angestrebte Vorgehen
den inakzeptablen Automatismus, der da lautet: Wenn
Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden, ist der
Beitritt beschlossene Sache – am Ende der Wegstrecke
könnte als Worst-case-Szenario allenfalls ein Beitritts-
vertrag mit „safe guard clauses“ folgen. Einen derartigen
Automatismus halte ich für höchst bedenklich, ganz be-
sonders dann, wenn er auf Länder wie die Türkei über-
tragen wird. Eine solche Europapolitik gefährdet das In-
tegrationspotenzial der EU und damit die herausragende
Idee der Europäischen Union. Im Übrigen halte ich das
insofern gesetzte Zeichen im Hinblick auf die Beitritts-
verhandlungen mit der Türkei für absolut verfehlt.
Ich werde dem Beitritt trotz dieser Bedenken zustim-
men, da ich mit meiner Gegenstimme in der Fraktion un-
terlegen bin.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Maria Flachsbarth, Josef
Göppel, Katherina Reiche (Potsdam), Franz-
Josef Holzenkamp, Johannes Röring, Dr. Max
Lehmer und Ulrich Petzold (alle CDU/CSU) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
zur Einführung einer Biokraftstoffquote durch
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgeset-
zes und zur Änderung energie- und stromsteuer-
rechtlicher Vorschriften (Biokraftstoffquotenge-
setz – BioKraftQuG) (Tagesordnungspunkt 10)
Die de facto stattfindende Beendigung einer Förde-
rung von Biodiesel aus tierischen Fetten ist aus umwelt-
politischer Sicht fachlich nicht zu rechtfertigen. Sie stellt
innerhalb der EU einen deutschen Sonderweg dar und
widerspricht zudem einem eindeutigen Petitum des Bun-
desrats.
Außerdem fand die Anregung der Union, mit dem
Ziel des Erhalts des Altöls der Kategorie 1 auf die steu-
erliche Förderung der Verbrennung von Altölen in ener-
gieintensiven Betrieben zu verzichten, aus beihilferecht-
lichen Erwägungen im Gesetzgebungsverfahren keine
Zustimmung. Wir sind jedoch nach wie vor der Auffas-
sung, dass hochwertige Altöle der Kategorie 1 aus Grün-
den der Ökologie, der Ressourcenschonung und Import-
unabhängigkeit der Reraffination zugeführt werden
sollten und werden diesbezügliche parlamentarische Ini-
tiativen ergreifen.
Insgesamt stellt der Gesetzentwurf mit den entspre-
chenden Änderungsanträgen jedoch die gelungene Um-
setzung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Förderung
von Biokraftstoffen dar, sodass wir dem Biokraftstoff-
quotengesetz nach Abwägung aller Aspekte trotz der
oben genannten Kritikpunkte zustimmen.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuregelung des Versicherungsvermittler-
rechts (Tagesordnungspunkt 14)
Kai Wegner (CDU/CSU): Die Umsetzung der Versi-
cherungsvermittlerrichtlinie der EU aus dem Jahr 2002
in nationales Recht ist ein wichtiges Thema für die Ver-
sicherungsbranche und natürlich auch für die Versiche-
rungsnehmer selbst. Somit besteht dringender Hand-
lungsbedarf. Die Große Koalition hat sich trotz des
zeitlichen Drucks aus Brüssel die Zeit für eine sorgfäl-
tige Beratung genommen. Schließlich geht es hier um
mehr als eine halbe Million Menschen aus der Branche
und um noch viel mehr Verbraucher. Im Rahmen einer
Anhörung sind die betroffenen Gruppen zu Wort gekom-
men. Als Ergebnis der Anhörung hat die Große Koali-
tion nochmals Veränderung im Sinne der Branche und
der Verbraucher vorgenommen.
Der Kern des Gesetzes ist es nicht nur die Rechte des
Verbrauchers durch umfangreiche Informations-, Bera-
tungs- und Dokumentationspflichten des Versicherungs-
vermittlers zu stärken, sondern vor allem die Qualität der
Beratung für den Versicherungsnehmer zu verbessern.
Diese Zielstellung ist absolut richtig und auch im ureige-
nen Interesse der Versicherungsunternehmen. Denn bis-
her leidet die Branche unter einem schlechten Image,
welches in den meisten Fällen zu Unrecht besteht. Das
Gesetz wird schon allein deshalb nicht nur dem Kunden
dienen, sondern auch dazu führen, teilweise verlorenes
Vertrauen in die Branche wieder aufzubauen.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal kurz zusam-
menfassen was ein Versicherungsvermittler zukünftig zu
erfüllen hat, um im Bereich der Versicherungsvermitt-
lung tätig zu sein: Entscheidend für die Zulassung sind
der Nachweis einer angemessenen Sachkunde in Form
einer Prüfung, geordnete Vermögensverhältnisse, ein gu-
ter Leumund sowie der Abschluss einer Berufshaft-
pflichtversicherung und die Registrierung in einem für
den Verbraucher einsehbaren Register. Ich denke diese
Anforderungen stehen in einem vernünftigen Verhältnis
zu den Aufgaben und der Verantwortung, die ein Versi-
cherungsvermittler wahrnimmt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5923
(A) (C)
(B) (D)
Verbraucherschutz ist ein hohes Gut. Trotzdem kann
es nicht in unserem Interesse liegen, die Branche durch
Überregulierung zu lähmen. Deshalb ist es umso erfreu-
licher, dass es bei der Neuregelung zum Versicherungs-
vermittlerrecht gelungen ist, modernen Verbraucher-
schutz auch ohne unnötige Bürokratie zulasten der
Wirtschaft umzusetzen. Ich möchte in diesem Zusam-
menhang dem Bundeswirtschaftsministerium danken. Es
ist gelungen unterschiedliche Interessen zu bündeln und
insbesondere im Sinne der Bürokratievermeidung wurde
sehr gute Arbeit geleistet. Auch in der Anhörung wurde
dies noch mal deutlich. Ich denke, dass es keine Norma-
lität ist, dass ein Gesetzentwurf bereits am Anfang von
einem Sachverständigen ausdrücklich gelobt wird.
Zwei Regelungen garantieren im Wesentlichen eine
schlanke Linie des Gesetzes. Zum einem ist da die Tren-
nung der Vermittler in gebundene und ungebundene zu
nennen. Diese eröffnet den Versicherungsunternehmen
die Möglichkeit, ihre Mitarbeiter von der Erlaubnis-
pflicht zu befreien und selber für das geforderte Ausbil-
dungsniveau zu sorgen. Die in der Anhörung geäußerten
Bedenken, dies könne zu einem unterschiedlichen Aus-
bildungsniveau führen, wurden durch eine entspre-
chende Klarstellung des Gesetzgebers ausgeräumt. Au-
ßerdem darf nicht vergessen werden, dass nur dann eine
Erlaubnisbefreiung möglich ist, wenn das Unternehmen
auch für seinen Mitarbeiter haftet. Schon deshalb und
aufgrund der Kontrollrechte der Finanzaufsichtsbehör-
den besteht für die Versicherungsunternehmen ein Ei-
geninteresse, ein gleichwertiges Ausbildungsniveau im
Vergleich zum ungebundenen Vermittler zu gewährleis-
ten. Zum anderen ist es durch die Schaffung der Katego-
rie des so genannten produktakzessorischen Vermittlers
gelungen, Erleichterungen für die Branchen zu schaffen,
die Versicherungen lediglich im Rahmen ihres Hauptge-
schäfts vertreiben. Es macht auch einfach keinen Sinn
beispielsweise einem Kfz-Verkäufer, der nach dem Ver-
kauf eines PKW seinem Kunden eine Garantieverlänge-
rung anbietet, die gleiche Prüfung ablegen zu lassen, wie
ein hauptberuflicher Versicherungsvermittler, der seinen
Kunden das volle Produktspektrum bis hin zur Lebens-
versicherung anbietet. Ich denke auch hier ist die vorge-
nommene Differenzierung sinnvoll und notwendig, um
bestehende, für den Kunden bequeme Vertriebswege
nicht unnötig zu verteuern oder gar zu verschließen.
In diesem Zusammenhang konnten darüber hinaus für
produktakzessorische Kleinstversicherungen weitere Er-
leichterungen in der parlamentarischen Beratung durch-
gesetzt werden. Es handelt sich dabei um für den Ver-
braucher überschaubare Versicherungen wie Garantie-
und Reparaturleistungen für Brillen oder auch Reisever-
sicherungen, die sich ohne die durchgesetzten Erleichte-
rungen extrem verteuern oder gar nicht mehr vor Ort an-
geboten würden. Das kann nicht im Interesse des
Verbrauchers sein und würde darüber hinaus Einbußen
insbesondere für die mittelständische Wirtschaft bedeu-
ten. Deshalb haben wir uns hier erfolgreich für Erleich-
terungen stark gemacht.
Abschließend möchte ich nochmals betonen: Der uns
vorliegende Gesetzentwurf schafft die Grundlage für ei-
nen modernen Verbraucherschutz im Versicherungsver-
mittlerrecht nach Vorgabe der entsprechenden EU-Richt-
linie. Er wird vor allem die Qualität der Beratung
verbessern. Der Schlüssel dazu sind die Sicherstellung
einer angemessen Grundqualifikation und zukünftig nor-
mierte Informations-, Beratungs- und Dokumentations-
pflichten des Vermittlers gegenüber dem Verbraucher.
Aber nicht nur die Verbraucher werden die Gewinner
sein. Die steigende Qualität der Beratungen wird auch
dazu führen, teilweise verlorenes Vertrauen in die Bran-
che wieder aufzubauen. Es wird Zeit, dass sich die Versi-
cherungsbranche von ihrem – in den meisten Fällen un-
verdienten – schlechten Image erholt. Statt die Branche
undifferenziert mit einer Erlaubnispflicht zu überziehen,
wird hier Verbraucherschutz intelligent umgesetzt. Das
führt zu einer Minimierung von Bürokratie, ohne den
Verbraucherschutz dabei zu beschneiden.
Der heute zur Abstimmung vorliegende Gesetzent-
wurf ist ein guter Ausgleich zwischen den Interessen der
Versicherungswirtschaft und den Interessen des Verbrau-
chers. In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung des
Gesetzentwurfs.
Christian Lange (Backnang) (SPD): Das vorgelegte
Gesetz dient der Umsetzung der Richtlinie 2002/92/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom
9. Dezember 2002 über Versicherungsvermittlung. Die
Richtlinie, die den Verbraucherschutz und die Harmoni-
sierung des Vermittlermarktes zum Ziel hat, hätte von
Deutschland bis 15. Januar 2005 in nationales Recht um-
gesetzt werden müssen, sodass Eile geboten ist. Zu der
Verzögerung kam es vor allem durch den anhaltenden
Widerstand der Länder gegen das vorgeschlagene Kon-
zept zur Umsetzung der Richtlinie. Inzwischen zeigten
sich aber auch die Länder bereit, das vorgestellte Grund-
konzept zu akzeptieren. Einer zügigen Verabschiedung
der Neuregelung steht nun nichts mehr im Wege.
Denn es geht nicht nur darum, der Pflicht zur Umset-
zung der EU-Richtlinie zu genügen, sondern es geht um
Verbraucherschutz – die Verbraucher sollen durch die Re-
gistrierungspflicht und die Normierung der Informations-
und Dokumentationspflichten des Vermittlers geschützt
werden – und darum, die deutschen Versicherungsver-
mittler fit zu machen gegen die europäische Konkurrenz.
Die Tätigkeit des Versicherungsvermittlers in einem zu-
sammenwachsenden Europa wird harmonisiert und
grenzüberschreitende Vermittlungen werden vereinfacht.
Vonseiten der Versicherungsvermittler wird die beruf-
liche Aufwertung, die mit einer Erlaubnispflicht einher-
geht, auch sehr geschätzt. Denn es geht auch darum,
schwarze Schafe aus diesem Gewerbe herauszufiltern.
Das dient den Verbrauchern, aber auch den vielen seriö-
sen und kompetenten Vermittlern und Beratern in dieser
Branche.
Diese grundsätzliche Zustimmung wurde auch bei der
Anhörung am 18. Oktober 2006 noch einmal betont. Die
Versicherungswirtschaft ist sich einig, dass es sich um
ein gelungenes und positives Gesetzesvorhaben handelt.
Den Vorgaben der Richtlinie entsprechend wird der
bislang frei zugängliche Beruf des Versicherungsvermitt-
5924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
lers einer Erlaubnis unterworfen. Es ist vorgesehen, dass
die Industrie- und Handelskammern Erlaubnis- und Re-
gistrierungsstellen für die circa 500 000 einzutragenden
Versicherungsvermittler werden. Damit einher gehen
Vorschriften über die Qualifikation von Vermittlern, eine
Kundengeldsicherung, eine obligatorische Berufshaft-
pflichtversicherung sowie Beratungs-, Informations- und
Dokumentationspflichten gegenüber dem Kunden. Nach
der Richtlinie waren auch die bisher im Rechtsbera-
tungsgesetz geregelten Versicherungsberater in das neu
geschaffene System für Versicherungsvermittler zu inte-
grieren. Nach Rücksprache mit dem Bundesjustizminis-
terium und der Kommission gab es für eine Ausnahme
– leider, leider – keinen Spielraum.
Es gibt circa 400 000 Vermittler, die ausschließlich
an ein Versicherungsunternehmen gebunden sind – so
genannte Ausschließlichkeitsvertreter oder gebundene
Vermittler. Des Weiteren gibt es so genannte ungebun-
dene Vermittler oder auch Mehrfachvertreter genannt,
die für mehrere Versicherungen Produkte vermitteln.
Ein Makler muss als Sachwalter des Kunden seinen
Rat auf eine hinreichende Zahl von auf dem Markt an-
gebotenen Versicherungsverträgen und Versicherern
stützen, die er im Wege einer objektiv ausgewogenen
Marktuntersuchung zu ermitteln hat. Bislang unterliegt
die Versicherungsvermittlung keinerlei Berufszugangs-
beschränkungen. Er ist nur zur Anzeige seiner Tätigkeit
gemäß § 14 Gewerbeordnung verpflichtet.
Wichtig ist uns bei der Umsetzung der Richtlinie vor
allem, dass das Gesetz zur Neuregelung des Versiche-
rungsvermittlerrechts und die Verordnung über die Ver-
sicherungsvermittlung den zwangsläufig entstehenden
bürokratischen Aufwand auf ein Minimalmaß be-
schränkt und dabei das Gleichgewicht zwischen den Ver-
braucherschutzzielen und den Interessen der Wirtschaft
wahrt. Ich bin davon überzeugt, dass dies gelungen ist.
Die Regelungen im Einzelnen. Grundsätzlich bedür-
fen alle Versicherungsvermittler nach dem neuen § 34 d
Gewerbeordnung, GewO, einer Erlaubnis der IHK und
müssen sich dort registrieren lassen. Sie sind auch für den
Widerruf und die Rücknahme der Genehmigung zustän-
dig. Die IHKs bedienen sich für die Registerführung des
DIHK als gemeinsamer Stelle. Dabei ist die Transparenz
des Registers bezüglich gebundener und ungebundener
Vermittler für den Kunden entscheidend.
Nach der geplanten Verordnung über Versicherungsver-
mittlung, § 5 VersVermV, soll aus dem Register hervorge-
hen, ob ein Versicherungsvermittler als gebundener Versi-
cherungsvertreter im Sinne von § 34 d Abs. 4 GewO-E
tätig wird oder einer anderen Kategorie angehört. Versi-
cherungsvermittler sind unter Bußgeldbewehrung ver-
pflichtet, sich in das Vermittlerregister eintragen zu lassen.
Außerdem werden die Versicherungsunternehmen ver-
pflichtet, nur mit Vermittlern zusammenzuarbeiten, die
in das Register für Versicherungsvermittler eingetragen
sind. Erlaubnisvoraussetzungen sind Zuverlässigkeit,
Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung sowie
Sachkundenachweis.
Für produktakzessorische Vermittler, wie zum Beispiel
Autohändler, ist ein vereinfachtes Zulassungsverfahren
vorgesehen. Vermittler, die in diesem Marktsegment tätig
sind, dürfen gemäß § 34 d Abs. 9 Nr. 3 GewO nicht nur
Verbraucherdarlehen, wie zunächst vorgesehen, sondern
auch Leasingverträge vermitteln. Die Ausweitung auch
auf Leasingverträge wurde nach der Anhörung am
18. Oktober 2006 beschlossen, um der Wirklichkeit im
Wirtschafts- und Verkaufsprozess besser zu entsprechen.
In zunehmendem Maß verlangen sowohl Privatkunden als
auch Gewerbetreibende Absicherungen bei gewerblichen
Darlehens- sowie privaten und gewerblichen Leasing-
verträgen. Die Formulierung „Darlehens- und Leasing-
verträge“ trägt diesem Umstand Rechnung. Privatper-
sonen wie auch Gewerbetreibende haben trotz des
Ausnahmetatbestands hinreichend Schutz, da die Jahres-
prämie auf 500 Euro beschränkt ist. Diese Grenze ist von
der Richtlinie 2002/92/EG über Versicherungsvermitt-
lung vorgegeben.
Der Sachkundenachweis wird durch eine IHK-Prüfung
erbracht, die der bereits seit 1991 von der Branche etab-
lierten Ausbildung zum Versicherungsfachmann/-frau des
Berufsbildungswerks der Deutschen Versicherungswirt-
schaft, BWV, entspricht. Dazu haben DIHK und BWV be-
reits einen Rahmenvertrag abgeschlossen. Gleichwertige
staatliche Abschlüsse werden anerkannt. Versicherungs-
vermittler, die schon seit dem 31. August 2000 tätig wa-
ren, genießen Bestandsschutz.
Ich möchte betonen, dass der Gesetzentwurf sowohl
für die ungebundenen, als auch die gebundenen Vermittler
Qualifikationsanforderungen aufstellt, die dem Vermittler
das Rüstzeug für eine entsprechende Beratung geben. Die
ungebundenen Vermittler weisen ihre Qualifikation im
Rahmen eines Erlaubnisverfahrens grundsätzlich durch
eine Sachkundeprüfung bei der IHK nach. Zur Büro-
kratievermeidung konnte man jedoch für die gebun-
denen Vermittler auf diese Vorabprüfung verzichten.
Diese angebliche Ungleichbehandlung lässt sich wie
folgt erklären: Das Versicherungsunternehmen über-
nimmt für diese Vermittler die volle Verantwortung und
ist gesetzlich verpflichtet, auch deren Qualifikation
sicherzustellen. Im Rahmen der Versicherungsaufsicht
überprüft die BAFin die Einhaltung dieser Vorschrift.
Das bedeutet, dass auch der gebundene Vermittler mit
einem vollen Produktspektrum über die Sachkunde-
prüfung oder eine gleichwertige Qualifikation verfügen
muss. Zudem hat die Versicherungswirtschaft in der
Anhörung vom 18. Oktober 2006 bekräftigt, dass sie
sowohl ihre Angestellten als auch die gebundenen Ver-
mittler der Sachkundeprüfung unterwerfen wird. Damit
ist ein gleichmäßiges Qualifikationsniveau sicher-
gestellt. Gleichzeitig kann der gebundene Vermittler mit
seinem IHK-Zeugnis problemlos in eine Tätigkeit als
ungebundener Vermittler wechseln. Das heißt, die
Durchlässigkeit des Systems ist gewährleistet.
Vertragsspezifische anlassbezogene Beratungs-, Infor-
mations- und Dokumentationspflichten sowie die Haftung
für eine Falschberatung werden normiert. Alle Vermittler,
die nicht auf dieser Grundlage beraten, haben dem Kun-
den die Namen der ihrem Rat zugrunde gelegten Ver-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5925
(A) (C)
(B) (D)
sicherer anzugeben. Der Vermittler muss dem Kunden
noch vor Beginn des Beratungsgespräches mitteilen, ob
er als Versicherungsmakler, als Versicherungsvertreter
oder Versicherungsberater tätig ist. Durch Normierung
dieser statusbezogenen Informationspflichten in der Ver-
ordnung über die Versicherungsvermittlung soll dem
Kunden schon vor Beginn der Beratung größtmögliche
Transparenz ermöglicht werden.
Mitteilungs- und Beratungspflichten wurden nach in-
tensiver Aussprache in der Anhörung für so genannte
Kleinversicherungen, insbesondere Reiseversicherun-
gen, aber auch andere Kleinversicherungen, aufgehoben,
insbesondere weil dies über die Vorgaben der Richtlinie
2002/92/EG über die Versicherungsvermittlung hinaus-
gehen würde.
Deutschland wäre das einzige europäische Land, das
hier eine Verschärfung der EU-Richtlinie vornehmen
würde. Zudem ist das auch sachlich nicht geboten, denn
es würde nur zusätzliche Belastungen für Kleinversiche-
rungen bedeuten, die sich für die Anbieter nicht mehr
rechnen würden. Es bestünde sogar die Möglichkeit,
dass diese am Markt nicht mehr angeboten würden. Für
den Verbraucherschutz sind keine negativen Auswirkun-
gen zu befürchten, da es sich um zeitlich und sachlich
eng begrenzte Kleinversicherungen handelt. Im Übrigen
gilt: Die Dokumentations-, Beratungs- und Informations-
pflichten für alle anderen Versicherungsvermittler blei-
ben in vollem Umfang erhalten.
Die Versicherungen haben zur Umsetzung ihrer
Dokumentations-, Beratungs- und Informationspflich-
ten bereits Protokolle entwickelt, die sich künftig aus
den § 42 ff. Versicherungsvertragsgesetz ergeben sollen.
Es gibt auch Protokolle, die von versicherungsunab-
hängigen Gremien ausgearbeitet wurden, zum Beispiel
von Professor Schwintowski Uni Berlin, die von Mak-
lern eingesetzt werden können. Jedenfalls hat sich die
Branche auf die neuen Beratungs- und Informations-
pflichten nach dem Versicherungsvermittlergesetz seit
über einem Jahr intensiv vorbereitet, sodass die Anfor-
derungen des Gesetzes nicht mit größeren Schwierigkei-
ten verbunden sein werden.
Grundsätzlich müssen Versicherungsvermittler, die
Zahlungen der Kunden annehmen, ohne dazu bevoll-
mächtigt zu sein, in Anlehnung an die Makler- und Bau-
trägerverordnung eine Sicherheit stellen.
Die Versicherungswirtschaft wird als Beschwerde- und
Schlichtungsstelle privatrechtlich organisierte Ombuds-
leute schaffen, was ich sehr begrüße.
Außerdem wird es eine faktische Übergangszeit von
zwei Jahren geben, in der ausreichend Zeit und Gelegen-
heit geboten sein wird, dass sich Versicherungsvermittler
nachqualifizieren können. Auch den Industrie- und Han-
delskammern wird damit genügend Zeit für die techni-
sche Vorbereitung des Erlaubnis- und Registrierungsver-
fahrens zur Verfügung gestellt.
Ich bin zuversichtlich, dass die notwendige Umset-
zung der europäischen Vermittler-Richtlinie in deutsches
Recht mit geringstmöglichem bürokratischen Aufwand
gelungen ist. Der Verbraucherschutz wird gestärkt, Ver-
braucher erhalten mehr Transparenz in dem bislang eher
unübersichtlichen Vermittlermarkt. Und nicht nur die
Verbraucher haben etwas davon! Auch die Versiche-
rungswirtschaft profitiert. Schwarze Schafe haben zu-
künftig in dieser Branche keine Chance – das stärkt das
Ansehen dieses Berufsbildes. Gleichzeitig vereinfachen
wir grenzüberschreitende Vermittlungen und machen da-
mit die Versicherungswirtschaft europafest.
Martin Zeil (FDP): Die EU-Richtlinie über Versiche-
rungsvermittlung zielt darauf ab, den Verbraucherschutz
zu stärken und eine Harmonisierung des EU-Vermittler-
marktes zu erreichen. Wir begrüßen diese Zielsetzung,
zumal die Richtlinie einen großen Spielraum für die Um-
setzung in nationales Recht gelassen hat. Die Bundesre-
gierung hat sich allerdings so lange Zeit gelassen, dass
das vor dem EuGH anhängige Verletzungsverfahren
schon fast vor dem Abschluss steht.
Man mag ja grundsätzlich die Frage stellen, ob es im-
mer einer Richtlinie bedarf und ob Inhalt und Umfang
von Richtlinien immer richtig sind. Diese Frage stellt
sich gewiss auch im Fall der Versicherungsvermittlungs-
richtlinie. Wenn aber eine solche Richtlinie mit deut-
scher Zustimmung verabschiedet worden ist, stellt es
kein Ruhmesblatt dar, wenn ausgerechnet Deutschland
die rote Laterne bei der Umsetzung trägt.
Diese Verspätung wurde nun auch als Argument für
ein sehr gedrängtes parlamentarisches Verfahren heran-
gezogen, in dem kaum Zeit blieb, die ausführliche und
auch aufschlussreiche Anhörung sorgfältig auszuwerten.
Das Ergebnis sind eher mit heißer Nadel gestrickte Än-
derungsanträge und erläuternde Entschließungsanträge
der Koalition, die zwar in die richtige Richtung gehen,
von denen aber unklar ist, ob sie auch das gewünschte
Ziel erreichen.
Grundsätzlich ist zu bedauern, dass die schwarz-rote
Koalition im gesetzgeberischen Übereifer immer noch
bei einigen Punkten über die Anforderungen der EU-
Richtlinie hinausgeht. Damit bricht die Koalition einmal
mehr ihr in der Koalitionsvereinbarung gemachtes Ver-
sprechen, EU-Richtlinien grundsätzlich nur noch 1 : 1
umzusetzen.
Außerdem enthält der Gesetzentwurf nach wie vor ei-
nige Regelungen, die wettbewerbsverzerrend wirken
und auch aus der Sicht des Verbraucherschutzes weder
gerechtfertigt noch sinnvoll sind.
Will man Versicherungen vermitteln, so muss man
sich künftig registrieren lassen, ein Erlaubnisverfahren
durchlaufen und eine Sachkundeprüfung absolvieren,
die sich am Ausbildungsgang „Versicherungsfachmann“
orientiert, der vom Berufsbildungswerk der Deutschen
Versicherungswirtschaft angeboten wird. Das sind alles
sehr bürokratisch ausgestaltete Regelungen, die weit
mehr fordern, als die EU-Richtlinie verlangt, nämlich
den Nachweis „angemessener Kenntnisse und Fertigkei-
ten“. Die Ablegung einer Sachkundeprüfung vor der
IHK als Erlaubnisvoraussetzung und damit als Berufszu-
gangsregelung ist beispielsweise durch die Richtlinie
überhaupt nicht gefordert. Wir glauben, dass die
5926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Bundesregierung gut beraten gewesen wäre, den vorge-
sehenen Erlaubnis- und Sachkundeprüfungsdschungel
gründlich zu lichten und auf den von der EU-Richtlinie
geforderten Standard zurückzuführen.
Wir haben vorgeschlagen, die Regelung über die
Sachkundeprüfung als Berufszugangsvoraussetzung da-
hin gehend zu ändern, dass zertifizierte Ausbildungs-
gänge innerhalb der Versicherungswirtschaft, die den
Anforderungen der Richtlinie entsprechen, als Nachweis
der Sachkunde ausreichen.
Dies hätte auch dem Anliegen Rechnung getragen,
wie es nun in dem auf Antrag der Koalitionsfraktionen
mit unserer Zustimmung gefassten Beschluss des Aus-
schusses zum Ausdruck kommt. Gerade die Anhörung
hat gezeigt, dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass
hinsichtlich der geforderten Qualifikation „Waffen-
gleichheit“ herrscht. Das ist nur gewährleistet, wenn
nicht nur die ungebundenen Vermittler, sondern auch die
gebundenen Vermittler eine ihrer Tätigkeit gemäße
Sachkunde nachweisen müssen. Im Übrigen hat die Ver-
sicherungswirtschaft in der Anhörung klar gesagt, dass
sie schon aufgrund der vorhandenen Ausbildungsgänge
und -abschlüsse damit überhaupt kein Problem hätte.
Die gesetzliche Mindestqualifikation wird jetzt nur
von der verhältnismäßig kleineren Anzahl der Vermitt-
ler, die als Makler, Berater oder freie Mehrfachagenten
tätig sind, gefordert. Die weitaus größere Zahl der ge-
bundenen Vermittler bleibt außen vor. Es besteht deshalb
die Gefahr, dass gerade diejenigen in ihrer Marktposition
geschwächt werden, die bei der Versicherungsvermitt-
lung objektiv sind. Ob das im Sinne des Verbraucher-
schutzes ist, darf bezweifelt werden.
Gebundene Vermittler, die nur die Versicherungspro-
dukte eines bestimmten Versicherungsunternehmens
verkaufen, brauchen nach dem Entwurf keine behördli-
che Berufszulassung, wenn ihnen der Versicherer be-
scheinigt, „angemessene“ Berufskenntnisse zu haben.
Was im Einzelfall als „angemessen“ gilt, soll der Ent-
scheidung des Versicherers überlassen werden. Daran
ändert auch der im Ausschuss gefasste Beschluss nichts.
In diesem Zusammenhang darf man einen Aspekt
nicht übersehen: Die neue Regelung schafft auch neue
Abhängigkeiten. Der Weg in die Selbstständigkeit ist für
einen gebundenen Vermittler nicht gerade leicht, denn er
kann entweder keinen Sachkundenachweis oder nur ei-
nen solchen erbringen, der den gesetzlichen Erfordernis-
sen nicht genügt. Das bedeutet jedoch, dass er nach der
jetzt geschaffenen Rechtslage auch nach langjähriger
Berufspraxis nochmals eine Prüfung vor der IHK able-
gen muss.
Zudem: Wenn man schon eine Sachkundeprüfung for-
dert, dann muss man fairerweise sicherstellen, dass sie
sich auch an den Bedürfnissen der Makler und nicht nur
an denen des Versicherungsfachmanns des Berufsbil-
dungswerks der Deutschen Versicherungswirtschaft ori-
entiert. Die Makler sind von der Neuregelung besonders
betroffen. Sie haben einen Beratungsansatz, der zum Teil
deutlich von dem der gebundenen Vermittler abweicht.
Deshalb sind auch ihre Bedürfnisse bei der Festlegung
der Mindestqualifikation unbedingt zu berücksichtigen.
Zudem haben wir dafür plädiert, die Einbeziehung
des Berufs des Versicherungsberaters, geregelt im § 34 e,
ersatzlos zu streichen. Die Dienstleistung des Versiche-
rungsberaters ist allein auf die Beratung und nicht, wie
bei einem Vermittler, auf den Abschluss eines Vertrages
ausgerichtet. Der Anwendungsbereich der Richtlinie ist
damit nicht zwingend eröffnet. Der Bundesverband der
Versicherungsberater hat erklärt, dass die Umsetzung
des Gesetzentwurfs ohne Not einen Beruf gefährdet, der
eine wichtige verbraucherpolitische Bedeutung hat. Es
handelt sich um den einzigen versicherungsfachlich ge-
prägten Expertenberuf, der ein Korrektiv und eine Kon-
trollinstanz für Versicherungsvermittler darstellt. Im
Einheitsbrei der Vermittlergesetzgebung würde der Be-
ruf nivelliert und damit faktisch zerstört. Diese Argu-
mentation erscheint mir logisch und nachvollziehbar.
Deshalb sollte die berufsrechtliche Verankerung des Ver-
sicherungsberaters dort verbleiben, wo sie jetzt ist: im
Rechtsberatungsgesetz.
Noch ein paar Beispiele für diejenigen Regelungen,
die aus unserer Sicht nicht geglückt sind. Nur der unge-
bundene Vermittler muss eine Berufshaftpflichtversiche-
rung nachweisen. Hier wäre es angemessen gewesen, die
Regelung für die gebundenen Agenten nach § 2 Abs. 10
KWG zu übernehmen, der zufolge auch der gebundene
Agent eine Vermögensschadenhaftpflichtversicherung
nachzuweisen hat.
Völlig unverständlich ist auch, warum in Streitfällen
die Kosten von Schlichtungsverfahren in der Regel den
Vermittlern aufgebürdet werden. Hier wird eine Kosten-
tragungspflicht selbst dann festgeschrieben, wenn sich
eine Beschwerde als grundlos bzw. unberechtigt heraus-
stellt. Das ist nicht akzeptabel. Es wäre angemessen ge-
wesen, die Kosten demjenigen aufzuerlegen, dessen
Pflichtverletzung den Anlass für das Verfahren gegeben
hat.
Zwei Punkte möchte ich positiv hervorheben. Für den
Kunden ist es wichtig, zu wissen, für welchen Vermittler
er sich entscheidet, für einen gebundenen oder ungebun-
denen, einen haupt- oder nebenberuflichen usw. Ich be-
grüße es deshalb, dass durch die in Aussicht gestellte
Änderung der Vermittlungsverordnung nun bei der Re-
gistrierung eine Differenzierung nach Qualifikation und
Sachkunde vorgenommen werden soll. Das kann aus
meiner Sicht dem Verbraucherschutz nur dienlich sein.
Schließlich hat der Gesetzgeber jetzt doch eine eini-
germaßen angemessene Übergangsfrist zur Ablegung
der Sachkundeprüfung für diejenigen Vermittler festge-
schrieben, die vor In-Kraft-Treten des Gesetzes schon tä-
tig waren. Wenn die ungebundenen Vermittler nun schon
als einzige ihre Mindestqualifikation durch die Able-
gung einer Sachkundeprüfung nachzuweisen haben,
dann müssen sie dafür wenigstens so viel Zeit bekom-
men, dass sie in ihrer Berufsausübung nicht nachhaltig
beeinträchtigt werden.
Lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen: Der
Gesetzentwurf zielt in die richtige Richtung, ist aber in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5927
(A) (C)
(B) (D)
einigen wichtigen Punkten unausgewogen, zu bürokra-
tisch und praxisfremd. Die Bemühungen der Koalition,
wenigstens in letzter Minute noch einige Verbesserungen
anzubringen, rechtfertigen keine Zustimmung zu dem
Gesamtpaket, aber eine Enthaltung durch meine Frak-
tion.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Mehr Wettbewerb und
eine Besserstellung der Verbraucher sollten die Ziele der
Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechtes sein.
Dabei spielt die Qualifikation der Berater eine entschei-
dende Rolle. Insofern ist es sicher ein Fortschritt, wenn
erstmals ein Sachkundenachweis für Versicherungsver-
mittler eingeführt wird.
Schade nur, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koali-
tionsfraktionen, dass Sie die an ein Versicherungsunter-
nehmen gebundenen Vermittler nach wie vor ausnehmen.
Viele, nicht nur die Verbraucherzentrale, auch Herr Thiel
vom Verband der unabhängigen Finanzdienstleistungs-
unternehmen, haben dies in der Anhörung letzte Woche
als ein zentrales Problem der Neuregelung dargestellt.
Erstens liegt das Problem im Interesse der Beschäftig-
ten selbst: Ein an die Versicherung gebundener Vermitt-
ler, der gekündigt wird, müsste den Sachkundenachweis
nachträglich erbringen. Das heißt, für ihn und seine Fa-
milie gibt es in diesem Zeitraum keinen Verdienst, weil
er die Ausbildung machen muss. Angesichts des Perso-
nalabbaus, der in den großen Versicherungen läuft,
schafft das weiterhin Zukunftsängste, Unsicherheit und
eine massive Abhängigkeit von seiner Versicherung.
Zweitens liegt das Problem im Interesse der Verbrau-
cher, um Schadensfälle aufgrund von Fehlberatung zu
verhindern.
Der dritte Grund ist, wie Herr Thiel ausführte, die
unerträgliche Ungleichbehandlung von Neueinsteigern.
Denn die Versicherung kann ihm nach zwei Monaten
bestätigen, dass er angemessen qualifiziert sei, eine
bestimmte Versicherung zu verkaufen. Unabhängige
Vermittler müssen erst die gesamte Ausbildung durch-
laufen und den Sachkundenachweis erbringen.
Doch auf dem Ohr des Verbraucher- und Beschäftigten-
schutzes waren Sie in der Anhörung offensichtlich taub.
In den Änderungen sind Sie weiter vor den Interessen
der Versicherungsunternehmen eingeknickt. Ihre im
Wirtschaftsausschuss eingebrachte Änderung setzt dem
Ganzen noch die Krone auf. Statt einer Festschreibung
des Sachkundenachweises für alle setzen Sie auf eine
Selbstverpflichtung der großen Versicherungsunterneh-
men, diese Sachkundeprüfung freiwillig zu veranlassen.
Nur, das hat niemand von denen verbindlich zugesagt.
Und wenn es so wäre, schaffte das weder Rechtsverbind-
lichkeit für Verbraucher noch für Beschäftigte.
Ein weiteres gravierendes Manko der Neuregelung ist
die Möglichkeit der Verzichtserklärung auf Dokumenta-
tion der Beratung. Damit hebelt man das neu eingeführte
Beratungsprotokoll gleich wieder aus. Herr Scholl als
Vertreter der Verbraucherzentrale hat darauf hingewiesen:
Verzichtserklärungen, insbesondere wenn sie im Gesetz
festgeschrieben sind, laden geradezu dazu ein, sie auszu-
nutzen.
Er berichtete auch, dass er bereits einen Unfallver-
sicherungsvertrag der Signal Iduna gefunden hat, in dem
die Verzichtserklärung bereits eingebaut ist. Es kann sich
doch jeder leicht ausdenken: Versicherungsvermittler
sind geschult, potenzielle Kunden zum Abschluss eines
Vertrages zu bringen. Ihr Interesse wird sein, den Kun-
den gleich auch noch zu einer Verzichtserklärung zu
überreden. Wer sagt dem Kunden denn in dem Fall, dass
er seine Nachweissituation im Schadensersatzprozess
verschlechtert? Jemand, der dann noch unterschreibt,
wäre ja mit dem Klammerbeutel gepudert. Wo bleibt da
der Verbraucherschutz?
Eine vernünftige Verbraucherentscheidung für eine
Versicherung gründet sich auf eine gute Beratung und auf
Transparenz. Zu dieser Transparenz gehört auch, dass der
Kunde weiß, wie hoch die Provision des Beraters ist. Ma-
chen wir uns doch nichts vor: Ein Vermittler, der für den
Abschluss eines Lebensversicherungsvertrages eine Pro-
vision von 1 400 Euro bekommt, will den Abschluss, ob
dieser im Interesse des Kunden ist oder nicht.
Wir lehnen die Neuregelung in der vorliegenden
Form ab. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, die zwingende
Umsetzung der EU-Richtlinie möglichst schmerzfrei für
die großen Versicherungsunternehmen zu regeln. Die
Chance, wichtige Verbesserungen für Verbraucherinnen
und Verbraucher in diesem milliardenschweren Markt zu
verabschieden, haben Sie ausgeschlagen.
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Eine Vorbemerkung: In diesem Monat bin ich seit
zwölf Jahren Mitglied in diesem Hohen Hause. In dieser
Zeit habe ich noch nie erlebt, dass dem Ansinnen, einen
Gesetzentwurf in Zweiter und Dritter Lesung im Parla-
ment zu debattieren, nicht stattgegeben wurde. Mit Aus-
nahme von meiner Kollegin Lötzer (DIE LINKE) wei-
gern sich insbesondere die Koalitionsfraktionen, sich der
Debatte im Deutschen Bundestag zu stellen, indem sie
ihre Reden zu Protokoll zu geben. Ich erspare mir und
dem Rest des Parlamentes die Farce, allein zu reden,
denn ohne Kenntnis der Argumente der anderen Kolle-
ginnen und Kollegen wird von einer Debatte nicht die
Rede sein können.
Und nun zur Sache: Es geht bei diesem Gesetz um
Regelungen, die mehr als 500 000 Versicherungsvermitt-
ler in Deutschland unmittelbar betreffen. Jede Minute
vermitteln die deutschen Versicherungsvermittler Versi-
cherungsverträge in einem Gegenwert von über
100 000 Euro an die Verbraucher. Das zeigt uns, von was
für einem gigantischen Markt wir hier reden.
Wir sind in einem erheblichen Verzug und ohne die
strenge Vorgabe der EU-Richtlinie wären die im Gesetz
zur Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts ent-
haltenen Verbesserungen für die Verbraucherinnen und
Verbraucher wohl nie in deutsches Recht umgesetzt wor-
den. Wie so oft, und besonders im Bereich der Finanz-
dienstleistungen, bedarf es der EU, um überfällige Rege-
lungen im Sinne der Bürgerinnen und Bürger
durchzusetzen.
5928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Das Ergebnis ist leider dennoch enttäuschend, weil
die Spielräume der EU, für einen präventiven Verbrau-
cherschutz zu sorgen, nicht im vollen Umfange ausge-
nutzt wurden. Besonders in der Frage der Qualifizierung
der Vermittler ist die Neuregelung mangelhaft, Sie
schafft zwei Welten: Ungebundene Vermittler dürfen nur
dann tätig werden, wenn sie sich der künftig geltenden
Sachkundeprüfung unterziehen, während die Sachkunde
gebundener Vermittler ins Benehmen der Versicherungs-
wirtschaft gestellt wird. Denn laut Gesetz bestimmen die
Unternehmen selber über das Qualifikationsniveau ihrer
Vermittler. Die Koalitionsfraktionen haben auch nicht
die Kraft gefunden, von den Versicherungsunternehmen
für die gebundenen Vermittler im Gesetz die gleichen
Qualifikationsanforderungen zu fordern, obwohl dies
unbürokratisch möglich gewesen wäre. Ein Sieg für
Teile der Versicherungswirtschaft über die Verbraucher
und den Wettbewerb. In Zeiten, in denen die Versiche-
rungskonzerne trotz hoher Gewinne massenhaft entlas-
sen, werden auch die gebundenen Vermittler einen ho-
hen Preis für diese Unterlassung zu zahlen haben.
Werden sie entlassen, ist nicht sichergestellt, dass sie
künftig als ungebundene Vermittler tätig werden können,
weil der Gesetzgeber sich mehrheitlich weigert, das im
Gesetz vorzusehen.
Der Grundtenor des Gesetzes lautet doch: Der Ver-
braucher soll klagen, wenn er sich falsch beraten fühlt.
Aber angesichts der Tatsache, dass der Verbraucher auf
Grund der Verjährung nur fünf Jahre nach Abschluss der
Versicherung klagen darf; ist das bei Verträgen, die zum
Teil extrem kostenintensiv sind und durchschnittlich im-
merhin über 30 Jahre laufen, doch ein ziemlich stumpfes
Schwert. Wesentlich effizienter wäre es hier gewesen,
präventiv von allen Vermittlern von vorneherein eine
festgelegte Mindestqualität an Fachkunde und Beratung
zu verlangen. Denn wir sind der Meinung, dass vorsor-
gender Verbraucherschutz dann ansetzen sollte, wenn
die Gefahr besteht und nicht erst greifen darf, wenn das
Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Aber der Ge-
setzentwurf sieht für einen Großteil der Vermittler gar
keine definierten Mindeststandards vor. Dies betrifft
hauptsächlich die bereits genannten Vermittler, die keine
Freiheit bei der Auswahl ihrer Produkte haben und au-
ßerdem fest an ein bestimmtes Unternehmen gebunden
sind. Hier verlangt das Gesetz, dass auch diese Vermitt-
ler „angemessen qualifiziert“ sein müssen. Das zu beur-
teilen, liegt aber allein in der Hand der Versicherungsun-
ternehmen, die nach Gutdünken entscheiden dürfen, ob
sie ihren Vermittlern eine Qualifikationsbescheinigung
ausstellen oder nicht.
Noch einmal: Für die Vermittler eine fatale Situation,
denn sie brauchen die Qualifikationsbescheinigung,
wenn sie unabhängig vom Unternehmen Versicherungen
vermitteln wollen. Und da der Arbeitgeber noch nicht
einmal bei einer Kündigung des Mitarbeiters verpflichtet
ist, ihm ein Qualifikationszertifikat auszustellen, kann es
einem arbeitslos gewordenen Versicherungsmakler pas-
sieren, dass er auf eigene Kosten eine mehrmonatige
Ausbildung und Prüfung bei der IHK absolvieren muss,
obwohl er als Vertreter eines Unternehmens schon jahr-
zehntelang teure Versicherungen an die Frau oder den
Mann gebracht hat. Begründet wird diese absurde Son-
derregelung von den Regierungsfraktionen mit Bürokra-
tieabbau durch den Verzicht auf gesonderte Prüfungen
für gebundene Versicherungsvermittler. Dafür darf ab
jetzt die BAFin neben der Prüfung der Versicherungsun-
ternehmen auch noch die circa 400 000 gebundenen Ver-
mittler in ihre Aufsichtsarbeit einbeziehen. Ich denke,
hier wäre es hilfreich gewesen, vorab das Sachverständ-
nis der BAFin einzuholen.
Insgesamt stellt sich folgendes Bild dar: Die Regie-
rungsfraktionen haben ein Gesetz beschlossen in treuem
Vertrauen auf den guten Willen der Versicherungsbran-
che. Aber dieser Weg führt in eine Sackgasse. Denn
selbst unter den Versicherungsvorständen traut man der
eigenen Branche nicht recht über den Weg, wie eine Um-
frage der Ratingagentur Assekurata jüngst ergeben hat.
Daher kann ich nur feststellen: Die Neuregelung des
Versicherungsvermittlerrechts hat in doppelter Hinsicht
versagt. Sie berücksichtigt weder in angemessener und
vorsorgender Weise die Verbraucherinteressen, noch gibt
sie der Vermittlerseite ein einfaches und verständliches
Regelwerk an die Hand! So gesehen ist es kein Wunder,
dass sich CDU/CSU und SPD der Debatte im Parlament
weder bei der Ersten Lesung noch bei der abschließen-
den Debatte stellen wollten. Und doch ist es für den Ge-
setzgeber beschämend.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Exzellenzwettbewerb – Fachhochschulen
– Exzellenzinitiative erweitern – herausra-
gende Lehre prämieren
(Tagesordnungspunkt 15 a und b)
Monika Grütters (CDU/CSU): Das ist heute wirk-
lich ein bemerkenswerter Tag: Zuerst eine Aktuelle
Stunde zum Thema Hochschulpakt und nun auch noch
die Diskussion um die Exzellenzinitiative für Fachhoch-
schulen. Da können wir Bildungspolitiker uns nicht über
mangelnde Aufmerksamkeit beklagen. Und das alles just
an dem Tag, an dem Napoleon Bonaparte vor genau
200 Jahren durch das Brandenburger Tor nach Berlin
einmarschierte. Er holte die Quadriga von unserem Na-
tionalmonument und brachte sie im Triumphzug nach
Paris. „Das Wort unmöglich gibt es nur im Wörterbuch
von Narren!“ – Dieser Devise ist er treu geblieben.
Warum nehmen wir uns diese herrliche Devise nicht
zum Vorbild? Die Anstrengungen, den Hochschulpakt zu
verhandeln, mögen ja gelegentlich Züge des Unmögli-
chen tragen, die Exzellenzinitiative, die gerade so erfolg-
reich ihren ersten Durchgang an den Universitäten er-
lebte, ist nicht nur möglich, sondern ein enormer Schritt
in eine wettbewerbsorientierte Zukunft der deutschen
Hochschulen. Streng nach Leistungskriterien und frei
von jeder politischen Beeinflussung sind die besten
Unis, Forschungscluster und Graduiertenkollegs ermit-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5929
(A) (C)
(B) (D)
telt und ausgezeichnet worden. Für die Besten gibt es
richtig viel zusätzliches Geld. Das ist natürlich nicht nur
diese, sondern jetzt für alle, die noch soweit weg sind,
ein enormer Anreiz, das eigene Profil zu stärken und in
den kommenden Durchgängen dabei zu sein.
Da kann ich es gut verstehen, dass auch die Fach-
hochschulen berücksichtigt werden möchten. Sie spielen
in der deutschen Hochschullandschaft eine wichtige
Rolle, gerade in der eher berufsständigen Ausbildungs-
struktur und in der anwendungsorientierten Forschung,
die dort geleistet wird. Den Arbeitsmarktbedürfnissen
entspricht sicher auch eine signifikante Erhöhung der
Absolventenquote an den Fachhochschulen. Aber ist die
Exzellenzinitiative, die an den Unis in einem ersten
Durchgang erfolgreich war, tatsächlich so analog auf die
Fachhochschulwelt anzuwenden?
Es ist richtig, dass die Fachhochschulen im Bereich
der angewandten Forschung und in der praxisorientier-
ten Lehre die deutsche Hochschullandschaft maßgeblich
mitprägen. Sie bringen wichtige Innovationen in Koope-
ration mit Unternehmen schnell und unbürokratisch
voran und bilden Fachkräfte gezielt für den Bedarf der
Wirtschaft aus. Dieses kreative Potenzial muss gestärkt
werden. Deshalb hat die Bundesregierung kürzlich die
Mittel für die Forschung an Fachhochschulen deutlich
erhöht: Standen 2005 noch 10 Millionen Euro zur Verfü-
gung, so sind es im laufenden Jahr schon 15 Millionen
Euro. Diese Summe soll bis 2088 auf circa 30 Millionen
Euro steigen. Damit ist vonseiten der Bundesregierung
bereits ein klares Signal in Richtung Stärkung der Fach-
hochschulforschung gesetzt worden.
Wenn in dem vorliegenden Antrag beklagt wird, dass
die Fachhochschulen bei der Exzellenzinitiative des
Bundes und der Länder größtenteils ausgeschlossen
sind, so hat das sicher zwei Gründe:
Zum einen ist das strategische Ziel der Exzellenzinitia-
tive in erster Linie der Ausbau international sichtbarer
Spitzenforschung an deutschen Universitäten, um im in-
ternationalen Wettbewerb um Köpfe und Ideen noch
besser aufgestellt zu sein als bisher. Exzellenz in der
Forschung wird hier eindeutig international definiert,
nicht national oder regional. Zielgruppe dieses Wettbe-
werbs sind damit tatsächlich in erster Linie die Universi-
täten.
Zum zweiten sollte allerdings auch nicht unerwähnt
bleiben, dass die Programmlinie „Exzellenzcluster“ die
Einbeziehung der Fachhochschulen als Kooperations-
partner ausdrücklich vorsieht. Ein Förderkriterium für
die Förderung dieser Exzellenzcluster sind die Qualität
des Wissenstransfers und die wirtschaftliche Relevanz
der Forschungsergebnisse, zu der Fachhochschulen sehr
viel beitragen könnten. Es bleibt allerdings die Hürde,
dass diese Forschungsexzellenz international anerkannt
sein muss. Das ist eine Hürde, die für viele Fachhoch-
schulen schwer zu überspringen sein dürfte.
Die Stärken der Fachhochschulen liegen hier – wie
bereits erwähnt – in den Bereichen anwendungsnahe
Forschung in Kooperation mit regionalen kleinen und
mittleren Unternehmen und in der praxisorientierten
Lehre. Diese Stärken sollen mit dem vorliegenden An-
trag unterstützt werden. Auf die Angabe der Exzellenz-
kriterien verzichten Sie allerdings lieber – wie der Titel
vermuten lässt –; stattdessen wird hier eher ein „Exzel-
lenzwettbewerb“ eingefordert, der eher das Etikett „Aus-
bau der Fachhochschulen“ verdiente. Unter falschem
Label wollen wir die gerade so erfolgreich gestartete tat-
sächliche Exzellenzinitiative nicht verwässern. Ein Aus-
bau der Fachhochschulen und die Umsetzung der so ge-
nannten Bolognareform, auch an den Fachhochschulen,
ist nach der Föderalismusreform einmal mehr Ländersa-
che.
Beim Stichwort „bedarfsgerechte Bereitstellung neuer
Studiengänge“ verweise ich auf die derzeit laufenden
Verhandlungen zum Hochschulpakt. In diesem Rahmen
hat der Bund eine prioritäre Berücksichtigung der Fach-
hochschulen beim Kapazitätsausbau angeregt. Die Ent-
scheidung darüber, welche konkreten Maßnahmen zur
Umsetzung des Hochschulpaktes ergriffen werden und
wie diese ausgestaltet sind, liegt aber bei den Ländern.
Und das ist leider zurzeit das Problem. Deren schrilles
Beharren auf ihrer Zuständigkeit in Bildung und Wissen-
schaft im Rahmen der Föderalismusreform findet im
Moment leider gar keinen adäquaten Ausdruck in der
Bereitschaft, neue Studienplätze bereitzustellen, um die
zusätzlich erwarteten 90 000 Studierenden in den nächs-
ten Jahren mit Bildung versorgen zu können. Hier rufen
sie wieder alle nach dem Bund und können sich nicht auf
einen gemeinsamen Weg einigen, wie die Bundesgelder
verteilt werden sollen.
Aber auch das Problem wird gelöst werden, da bin ich
sehr zuversichtlich; denn: Am Gelde hängt, zum Gelde
drängt doch alles.Wir müssen den vorliegenden Antrag
der FDP zur Exzellenzinitiative für die Fachhochschulen
aus strukturellen Gründen – wie dargelegt – leider ableh-
nen. Für einen Ausbau der Fachhochschulen allerdings
setzen wir uns aus voller Überzeugung – in geradezu na-
poleonischen Überzeugung – ein, damit „Unmögliches“
nur im Wörterbuch von Narren steht, nicht aber Teil der
deutschen Fach- und Hochschullandschaft ist.
René Röspel (SPD): In letzter Zeit wimmelt es ja
geradezu von Exzellenz: Die Ergebnisse der ersten
Runde der Exzellenzinitiative sind uns am 13. Oktober
präsentiert worden und schon heute liegen uns die
Anträge der Opposition vor. Die FDP möchte jetzt auch
gerne einen Exzellenzwettbewerb – für die Fachhoch-
schulen – und die Grünen möchten die Exzellenzinitia-
tive erweitern und „herausragende Lehre prämieren“.
Eigentlich kann man dieses Verhalten als großes Lob
für die Urheber der Exzellenzinitiative verstehen. Ich
nehme das deshalb mit Interesse und Dank zur Kenntnis.
Es war die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung
mit der Forschungsministerin Bulmahn, die diese Initiative
ins Leben gerufen und dank einer Kraftanstrengung mit
erheblichen finanziellen Mitteln – immerhin 1,9 Milliar-
den Euro von Bund und Ländern – ausgestattet hat, um
Bewegung in die Hochschullandschaft zu bringen und
deutsche Forschung auch international sichtbarer zu ma-
chen. Dass dies schon gelungen ist, zeigen die Berichte,
5930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
die wir im Forschungsausschuss in dieser Woche von
den Vertreterinnen und den Vertretern der Deutschen
Forschungsgemeinschaft, der Hochschulrektorenkon-
ferenz und des Wissenschaftsrates hören konnten. Allein
der Wettbewerb an sich habe die Landschaft und die
Hochschulen in Bewegung gebracht und damit schon ei-
nen positiven Effekt bewirkt. Zu hören war – unabhän-
gig vom Wettbewerb – die den einen oder anderen über-
raschende Aussage der ausländischen Gutachter: Man
sei überrascht von der Qualität und Leistungsfähigkeit
der deutschen Hochschulen, hieß es dort.
Allerdings ist das Ergebnis der ersten Förderrunde
auch mit Unverständnis aufgenommen worden. Ob
berechtigt oder nicht: Es stellen sich auch schon jetzt
Fragen, die mindestens für weitere Initiativen beden-
kenswert sind. Ist es richtig, Universitäten nur vom
Status quo her zu betrachten, ohne Betrachtung ihrer
über die Forschungsqualität hinausgehenden Funktion?
Kann man Nordrhein-Westfalen mit einer Vielzahl von
erst in den 60er- und 70er-Jahren gegründeten Hoch-
schulen und einem breiteren Angebot vergleichen mit
Bayern, das die Strategie verfolgt, unter eigenem Bedarf
Studienplätze anzubieten und seine Mittel lieber auf
weniger Unis zu verteilen? Welche Konsequenzen wird
die Initiative für eine regionale Verteilung der Mittel
haben? Diese Fragen werden noch in anderen Debatten
zu diskutieren sein, haben aber auch für das heutige
Thema Relevanz.
Ausdrücklich will ich betonen, dass ich das Grund-
anliegen der vorliegenden Anträge für ehrenhaft und gut
finde. Es freut mich, dass die FDP die Fachhochschulen
entdeckt hat. Übrigens hat die damalige rot-grüne Koali-
tion schon bald nach der Regierungsübernahme 1998
den Stellenwert der Fachhochschulen mit der sukzes-
siven Erhöhung der Mittel für angewandte Forschung an
Fachhochschulen erkannt und den Dornröschenschlaf
beendet.
So sehr ich die Zielsetzung der FDP verstehen kann;
die Zweifel, ob das vorgeschlagene Instrument das rich-
tige ist, sind erheblich. Die Übertragung des Exzel-
lenzwettbewerbs auch auf Fachhochschulen scheint mir
eher sogar ein schädlicher und destruktiver Vorschlag zu
sein. Zu Recht schreibt die FDP in ihrem Antrag, dass
die Fachhochschulen „einen herausragenden Beitrag bei
der praxisnahen Ausbildung der Studierenden“ leisten.
Im 2004 vom Bundesministerium für Bildung und For-
schung herausgegebenen Bericht „Die Fachhochschulen
in Deutschland“ findet sich auf Seite 8 unter der Über-
schrift „Auftrag und Profil“ die folgende Einschätzung:
„Das Profil der Fachhochschulen ist nicht einheitlich. Es
gibt hinsichtlich der Studentenzahl und der jeweils ange-
botenen Studiengänge eine erhebliche Variationsbreite.
Dies ist auf das jeweils unterschiedliche regionale Um-
feld der Fachhochschulen und den jeweiligen Einzugs-
bereich zurückzuführen. Sie nehmen in besonderem
Maße auf die Bedürfnisse der regionalen Wirtschaft
Rücksicht.“ Damit ist der zentrale Unterschied benannt.
Die regionale Einbindung, der Zuschnitt einzelner Fach-
bereiche auf die Anforderungen regionaler Unternehmen
machen Fachhochschulen nicht ohne weiteres unterei-
nander vergleichbar.
Das deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen. Die
in meinem Wahlkreis befindliche Fachhochschule Süd-
westfalen ist als „University of Applied Sciences“ inter-
national aufgestellt, aber bei den Industriekontakten eben
vor allem regional etabliert und eingebunden, bis hin zu
dem anspruchsvollen Verbundstudiengang, bei dem
berufsbegleitend ein Fachhochschulabschluss erworben
wird. Einen Wettbewerb – der per se nichts Schlechtes
ist – zu starten, etwa um verstärkte Forschungstätigkei-
ten anzuregen, setzt voraus, dass vergleichbare Start-
bedingungen vorliegen oder man einen Weg findet, un-
terschiedliche Zielsetzungen zu objektivieren. Das
bedarf noch jeder Menge Hirnschmalz.
Über dieses System der Fachhochschulen einfach
eine Exzellenzinitiative zu stülpen, deren Ziel es ja ist,
international sichtbare „Leuchttürme“ zu generieren,
wäre ein Fehler. Dass dies die FDP in Teilen genauso
sieht, erkennt der geneigte Antragsleser an den im FDP-
Antrag beschriebenen Förderkriterien: Die „bedarfs-
gerechte Bereitstellung neuer Studienplätze“ mag eine
sinnvolle Forderung sein genauso wie „Chancen der
Absolventen auf dem Arbeitsmarkt“ und „Einführung
neuer Studiengänge“. Aber als Förderkriterien für einen
„Exzellenzwettbewerb Fachhochschulen“ taugen sie si-
cher nicht. Mit diesem Widerspruch im eigenen Antrag
zeigt die FDP, dass sie zwar in Teilen die Probleme
erkennt, aber letztlich doch wieder einmal am Ende der
Versuchung erliegt, einen populistischen Schnellschuss
abzufeuern.
Anerkennung will ich ausdrücklich auch aussprechen
für den Antrag der Grünen, nicht nur exzellente For-
schung zu prämieren, sondern dies auch auf die Lehre
auszuweiten. Auch hier sprechen bei genauerem Nach-
denken die Probleme im Detail eher dafür, sich mehr Zeit
zu nehmen als im Antrag vorgeschlagen. Wie ist „gute
Lehre“ denn eigentlich definiert, wie ist sie objektivier-
bar? Wie ist ein Wettbewerb um gute Lehre wirklich ini-
tiierbar? Allein die „Anstrengungen für exzellente Lehre“
zu belohnen – wie im Antrag vorgeschlagen – reicht si-
cher nicht aus.
Die Intentionen der vorliegenden Anträge sind erkenn-
bar, die Instrumente aber nicht tauglich. Schnellschüsse
machen keinen Sinn. Lassen Sie uns in den Ausschuss-
beratungen ernsthaft beraten, wie Fachhochschulen noch
mehr unterstützt und Lehre verbessert werden kann.
Uwe Barth (FDP): Die Fachhochschulen haben in
unserer Hochschullandschaft einen festen Platz, ihre
Ausbildungs- und ihre Forschungsleistung sind unum-
stritten anerkannt. Nicht zuletzt ihre Praxisnähe ist dabei
ein wesentliches Qualitätsmerkmal.
Nun hat gestern die „FAZ“ die schmerzhafte Feststel-
lung gemacht, dass 163 staatliche und staatlich aner-
kannte Fachhochschulen, mit ihrem Fächerspektrum aus
Ingenieur-, Wirtschafts- und Naturwissenschaften, aber
auch Sozial- und Gesundheitswissenschaften trotz dieser
Wertschätzung sinkende Drittmitteleinnahmen zu
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5931
(A) (C)
(B) (D)
verzeichnen haben. Einen Vorschlag, wie dieser Miss-
stand zu beheben ist, haben wir Ihnen bereits mit unse-
rem Antrag zur Forschungsprämie unterbreitet. Die Re-
gierung will aber offenbar nicht in der Breite die externe
Forschung der Wirtschaft an Fachhochschulen fördern.
Sie will, dass die Forschungsprämie – die übrigens di-
rekt an die Fachhochschulen ausbezahlt werden soll –
nur für die Zusammenarbeit mit sehr kleinen KMU, und
das auch nur als Pilotprojekt, angewandt wird.
Anstatt also die angewandte Forschung an Fachhoch-
schulen konsequent zu fördern, den Fachhochschulen
eine wirkliche Drittmittelfähigkeit zu geben und den
Studierenden die Möglichkeit des wissenschaftlichen
Arbeitens in der gesamten Ausbildung zu ermöglichen,
fährt diese Bundesregierung mit dem Programm
„Forschung an Fachhochschulen mit Unternehmen
(FHprofUnd)“ einen Schlingerkurs. Sie ist sich durchaus
bewusst, wie wichtig angewandte Forschung an Fach-
hochschulen ist. „FHprofUnd“ ist im Grundsatz ein rich-
tiger Schritt. Davon zeugt allein schon die Anhebung der
Mittel im Haushalt 2007 auf 27 Millionen Euro. Auf der
anderen Seite ist sie nicht bereit, ihren Anteil zur Unter-
stützung der Drittmitteleinwerbung zu leisten.
Der Wissenschaftsrat gab uns die Empfehlung, den
Ausbau der Fachhochschulen verstärkt voranzutreiben
und die Qualifizierungspotenziale sowie die Akademi-
sierung von Berufsfeldern auszuschöpfen. „Innovatio-
nen brauchen Ideen!“ Dieser Satz gilt mittlerweile als
Binsenweisheit. Die wichtigste Ressource für Ideen ist
die Kreativität der Menschen.
Von der Exzellenzinitiative der Bundesregierung blei-
ben die Fachhochschulen aber größtenteils ausgeschlos-
sen. Daher ist es ein dringendes Erfordernis, einen „Ex-
zellenzwettbewerb Fachhochschulen“ auszuleben. Unser
dahin gehender Vorstoß hat bei den Rektoren ein sehr
positives Echo hervorgerufen. Wir wissen, warum wir
neben der Lehre auch die angewandte Forschung in die
Auswahlkriterien für einen „Exzellenzwettbewerb Fach-
hochschulen“ aufgenommen haben. Auch das haben die
Fachhochschulen sehr begrüßt. Insbesondere der Ansatz,
die anwendungsorientierte Forschung besonders zu för-
dern und die Forderung nach weniger Bürokratie in der
Forschungsförderung ist auf sehr positive Resonanz bei
den Betroffenen gestoßen.
Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grü-
nen, wir lassen auch den für uns wesentlichen Aspekt
der Lehre keineswegs außer Acht. Wir wollen, dass ge-
rade solche Kriterien wie die bedarfsgerechte Bereitstel-
lung neuer Studienplätze, die Forderung nach einer
Steigerung des Anteils von Studierenden an Fachhoch-
schulen auf 40 Prozent, die Einrichtung von gestuften
Studiengängen mit Bachelor- und Masterabschluss und
die Qualitätssicherung durch Akkreditierung sowie die
Einführung von Diploma Supplements deutlich hervor-
gehoben werden.
Ich appelliere an Ihr Verantwortungsbewusstsein und
werbe damit zugleich um Unterstützung, wenn ich sage,
dass gerade bei Fachhochschulen ein wichtiges Krite-
rium des Wettbewerbs die späteren Chancen der Absol-
venten auf dem Arbeitsmarkt sind. Hier zeigt sich, wie
bedarfsgerecht, wie praxisnah und wie gut ausgebildet
wurde und vor allem wie die Fachhochschulen ihren
Lehrauftrag erfüllen.
Lassen Sie uns gemeinsam das Nötige und vor allem
das Richtige dafür tun, dass die Fachhochschulen ihren
Platz in unserem Hochschulsystem auch weiterhin be-
haupten können! Stimmen Sie unserem Antrag für einen
„Exzellenzwettbewerb Fachhochschulen“ zu.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Man möchte meinen,
im Lande sei eine neue Therapieform entwickelt wor-
den: die Exzellenztherapie oder auch Exzellenzinitiative.
Mit deren Hilfe sollen langfristig Universitäten, Fach-
hochschulen und vielleicht bald auch Kunsthochschulen
oder auch einzelne Leistungen der Einrichtungen wie
Forschung, Lehre, Weiterbildung, Lehramtsausbildung
und anderes mehr von ihren Schwächen befreit werden.
Bevor man so etwas befürwortet, sollte man erst ein-
mal einen genauen Blick auf die Wirkungsweise, die Ri-
siken und Nebenwirkungen der bereits laufenden Exzel-
lenzinitiative für die Universitäten werfen: Mit der
aktuell laufenden ersten Runde der Exzellenzinitiative
können Universitäten dieses Landes auf einen zusätzli-
chen Schub durch erhebliche Fördermittel aus dem Bun-
deshaushalt und den Länderhaushalten rechnen. Einrich-
tungen, die mit ihrem Zukunftskonzept, Exzellenzcluster
und/oder ihren Graduiertenschulen den Exzellenzkrite-
rien entsprechen konnten, sind nunmehr in die so ge-
nannte Bundesliga der Spitzenuniversitäten aufgestie-
gen. Harvard, Stanford, die ETH Zürich und andere
Eliteuniversitäten sollen das große Vorbild sein. Gemes-
sen an den zu erlangenden Mitteln in der deutschen Bun-
desliga, spielen die erwähnten Eliteuniversitäten mit ih-
ren Etats auf intergalaktischen Ligen.
Erheblich sind die Fördergelder also ausschließlich
nach bundesdeutschen Maßstäben. Und da liegt bereits
das Problem. Bevor man wie Bündnis 90/Die Grünen
und die FDP meint, die Exzellenzinitiative nun als
durchgängiges Prinzip, also sowohl für die Lehre als
auch für die Fachhochschulen, einführen zu müssen,
sollte der Rahmen, innerhalb dessen das Prinzip verortet
wird, eingeblendet werden: Diese Exzellenzinitiative
wird innerhalb eines Hochschulsystems aufgelegt, wel-
ches in Gänze hoffnungslos unterfinanziert ist. Insofern
erhalten auch die glücklichen Sieger nur eine solche Fi-
nanzspritze, mit der sie ihre Hochschulhaushalte auf
Normal fahren könnten. Dafür aber sind die Mittel eben
nicht einsetzbar.
Sie beziehen sich auf konkret in Anträgen konzipierte
Projekte und sind daher auch ausschließlich für diese zu
verwenden. Dass das für eine Universität eine ganz wert-
volle Bereicherung ist, soll überhaupt nicht bestritten
werden. Sie geben der Entwicklung ganz sicher neue Im-
pulse. Allerdings werden andere Bereiche der Hoch-
schulen an ihrer Situation nicht wirklich etwas ändern
können. Sie kränkeln weiter vor sich hin. Gleiches gilt
erst recht für rund 100 andere Universitäten, die über-
haupt keinen Erfolg mit ihren Bewerbungen hatten.
5932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Zeitgleich zu dieser Exzellenzinitiative, die also ver-
gleichsweise nur wenigen Hochschulen und nur wenigen
ausgewählten Projekten zugute kommt, wird zwischen
Bund und Ländern der Hochschulpakt 2020 verhandelt.
Dieser soll nach der Föderalismusreform seinerseits Mit-
tel in einer Höhe in das Hochschulsystem einspeisen, die
abermals deutlich unter den Berechnungen von Wissen-
schaftsorganisationen wie der Hochschulrektorenkonfe-
renz oder dem Wissenschaftsrat bleibt. Es wird sich
demzufolge in absehbarer Zeit nichts an der Unterfinan-
zierung ändern.
In diesem Kontext stellt sich zwangsläufig die Frage:
Was bringt dann die Exzellenzinitiative dem Gesamtsys-
tem? Wem ist innerhalb dieses Systems wirklich gehol-
fen? Die Studierendenvertretungen haben die Exzellenz-
initiative abgelehnt, weil sie – zu Recht, wie wir finden –
einen verstärkten Ausdifferenzierungsprozess der Hoch-
schulen befürchten. Bereits jetzt besteht ein Nord-Süd-
Gefälle. Die ostdeutschen Hochschulen haben innerhalb
der Exzellenzinitiative eine völlig marginale Rolle ge-
spielt. Hochschulen dieser Länder werden infolge der
demografischen Entwicklung erheblich unter Rechtferti-
gungsdruck geraten, wenn sie sich einer Absenkung der
Studienkapazitäten und der Mittel widersetzen. Die be-
sonders unterfinanzierten Geistes- und Sozialwissen-
schaften, die Lehramtsausbildung und Weiterbildung ha-
ben kaum Berücksichtigung gefunden. Stattdessen
werden Natur- und Ingenieurwissenschaften überpropor-
tional gefördert. Länder, deren Hochschulen deutlich
über den eigenen Bedarf ausbilden, müssen Mittel für
Studium und Lehre einsetzen, die andere Länder mittels
restriktiver Schulpolitik und konsequenter Begrenzung
von Aufnahmekapazitäten ihrer Hochschulen für For-
schung einsetzen können. Fazit: Wer hat, dem wird ge-
geben. Und wer zu wenig hat, der wird auch noch be-
straft.
Deshalb ist es so wichtig, dass die Exzellenzinitiative
nicht vom Hochschulpakt und seinen Folgen abgekop-
pelt wird. Der Hochschulpakt muss eine Lösung für die
ostdeutschen Länder und für Länder, die über eigenen
Bedarf ausbilden, beinhalten. Wenn das nicht gelingt,
wird ein weiteres Auseinanderdriften der Hochschulen
nicht zu verhindern sein. Es ist nicht hinnehmbar, dass
man bald in völliger Normalität von reichen und armen
Hochschulen, von erstklassigen Forschungs- und zweit-
klassigen Lehruniversitäten spricht. Notwendig ist eine
transparente und öffentliche Debatte zu Voraussetzun-
gen, die langfristig allen Hochschulen eine Chance ge-
ben, sich in Studium, Lehre und Forschung zu profilie-
ren.
Die Exzellenzinitiative hätte es in dieser Form nicht
geben müssen, wenn es eine verlässliche, ausreichende
Finanzierung gegeben hätte. Dabei wären Kriterien, wie
sie der FDP-Antrag in Bezug auf die Fachhochschulen
benennt, ein Anfang, um Mittel ganz gezielt zu verge-
ben. Diese Kriterien müssten ergänzt werden. Es gehö-
ren Möglichkeiten des Wechsels von Fachhochschulen
zu Universitäten, die Durchlässigkeit zwischen Bache-
lor- und Masterausbildung, Nachwuchsförderung, ge-
schlechterspezifische Förderangebote und anderes mehr
dazu. Sockelfinanzierung und leistungsbezogene Kom-
ponenten böten Förderung in der Breite ohne Gleichma-
cherei und ohne so genannte Gießkanne.
Wenn wir den Ansatz „Exzellenzinitiative“ jetzt auf
Fachhochschulen übertragen, dann bleibt außer Acht,
dass es in einigen Ländern gerade Fachhochschulen wa-
ren, die in den vergangenen Jahren die Rolle der Spar-
schweine vieler Finanzminister übernehmen mussten.
Aber auch die Einführung einer Exzellenzinitiative für
die Lehre nach Vorstellung von Bündnis 90/Die Grünen
wäre nur ein Herumdoktern, das aber die Löcher in der
Breite nicht zu schließen vermag. Nötig ist eine Debatte
über gerechtere Voraussetzungen, gesetzliche Rahmenbe-
dingungen, finanzielle Bedingungen, personelle Ausstat-
tungen, Beschäftigungschancen des wissenschaftlichen
Nachwuchses und anderer Beschäftigter im wissen-
schaftlichen und nichtwissenschaftlichen Bereich von
Hochschulen.
Die Stärke des deutschen Hochschulsystems – das
heißt die Einheit von Forschung und Lehre – droht verlo-
ren zu gehen. Wollte man dem Kassenpatienten aus die-
ser Situation jeweils mit Exzellenzinitiativen heraushel-
fen, käme man zwangsläufig an den Punkt, dass es nicht
selektive oder punktuelle Initiativen sind, die nachhaltig
wirken. Nötig ist eine Hochschul- und Wissenschaftspo-
litik, die sich aus Länderegoismen durch einen tragfähi-
gen Gesamtansatz befreit.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Ex-
zellenzinitiative ist ein Erfolg. Sie hat die Hochschul-
landschaft in Bewegung gebracht – und das ist gut so.
Diese Bewegung verläuft aber, zumindest was die
Prämierung und die Finanzen betrifft, entlang einer
Einbahnstraße. Denn in erster Linie wandert das Geld
für Exzellenzcluster, Graduiertenkollegs und Spitzen-
universitäten in den Süden: 86 Prozent der Exzellenz-
mittel gehen dorthin.
Ähnliches wird die im Rahmen des Hochschulpakts
vorgesehene Forschungsförderung bewirken: Denn Voll-
kosten werden natürlich nur dort finanziert, wo auch
DFG-Anträge bewilligt werden. Dies ist wiederum vor
allem in Süddeutschland der Fall. Der von der Bundes-
regierung geplante Hochschulpakt und die Exzellenzini-
tiative werden demnach vor allem eines bewirken: einen
weiteren „Aufbau Süd“. Diesem Trend müssen wir ent-
gegensteuern. Denn er belohnt die fatale Herangehens-
weise, vordringlich in Forschung zu investieren und bei
Lehre und Kapazitätsausbau zu sparen.
Diejenigen Hochschulen, die bislang überproportional
ausgebildet und sich um gute Lehre gekümmert haben,
sind nach der Ernennung der Spitzenunis die Deppen der
Republik. Die Bundesregierung muss zudem zahlreiche
Fragen beantworten, die nach der Prämierung der Gewin-
neruniversitäten bleiben: Wie schaffen wir es, neben der
Spitze die Breite zu erhalten? Wie schaffen wir es, dass
die Studierenden davon profitieren? Wie schaffen wir es,
dass Sozial-, Geistes- und Ingenieurwissenschaften nicht
zu kurz kommen? Wie ermöglichen wir die Chance auf
Aufstieg für nicht prämierte Universitäten?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5933
(A) (C)
(B) (D)
Mit dem bisherigen Rezept „viel Forschung, wenig
Lehre“ lässt sich auf Dauer keine ausgewogene Kost für
die Hochschulen zubereiten. Das Erfolgsrezept der deut-
schen Hochschulen besteht vielmehr in der Einheit von
Forschung und Lehre bei genügend ausfinanzierten Stu-
dienplätzen.
Dieses Zukunftskonzept müssen wir belohnen. Dazu
dient aus meiner Sicht erstens ein Hochschulpakt, der
zuallererst die bedarfsgerechte Schaffung neuer Studien-
plätze finanziert. Dazu gehört zweitens, die Prämierung
herausragender Forschung zügig um die Belohnung ex-
zellenter Lehre zu ergänzen.
Genau diese qualitative Erweiterung der Exzellenz-
initiative schlagen wir in unserem Antrag heute vor: Um
die Qualität und die Innovationskraft in der Hochschul-
lehre nachhaltig zu verbessern, muss die Förderung der
Hochschulen durch Bund und Länder schon im kommen-
den Jahr um einen Wettbewerb zur Förderung exzellenter
Lehre ergänzt werden. Eine solche Wettbewerbskom-
ponente belohnt Anstrengungen für exzellente Lehre und
etabliert einen höheren Stellenwert sowie ein neues Qua-
litätsverständnis für herausragende und innovative Lehre.
Auch in der Lehre muss sich Leistung lohnen. Der
von uns vorgeschlagene Wettbewerb für herausragende
Lehre hat mehrere Vorteile: Hochschulen erhalten finan-
zielle Anreize dafür, ein eigenes Profil als Standort für
exzellente Lehre zu entwickeln. Damit erhalten auch
diejenigen Hochschulen Aussicht auf Fördermittel, die
aufgrund ungleicher Voraussetzungen im Wettbewerb
um Forschungsexzellenz vorerst keine Chance haben.
Die von vielen geforderte Anschlussfähigkeit in der
Hochschullandschaft, der Aufstieg in die „Bundesliga“,
wird leichter möglich. Dem einzelnen Professor, der sich
außerordentlich in der Lehre engagiert, winken zudem
Reputation und Fördergelder, nicht bloß der Beifall nach
den Sonntagsreden.
Daher sagen wir: Ab 2011 muss die bestehende Ex-
zellenzinitiative um eine Linie zur Förderung exzellenter
Lehre erweitert werden. Das heißt: Künftig kann eine
Hochschule nur als Spitzenuniversität mit überzeugen-
dem Zukunftskonzept gelten, wenn sie auch exzellente
Leistungen in der Lehre bringt. Exzellenz bedeutet dann,
weder das Standbein Forschung noch das Standbein
Lehre zu vernachlässigen.
Möglicherweise kann auch ein Exzellenzwettbewerb
der Fachhochschulen, wie im FDP-Antrag vorgeschlagen,
ein sinnvoller Baustein sein. Mit den von Ihnen geforder-
ten mageren 2,5 Millionen Euro offenbaren Sie jedoch
eher eine Geringschätzung für die Fachhochschulen.
Auch halte ich es für falsch, zahlreiche unpassende und
nicht operationalisierbare Förderkriterien detaillistisch
durch die Politik vorzugeben.
Mein Fazit: Es wird dringend Zeit, dass wir die Fehl-
anreize im deutschen Hochschulsystem korrigieren: mit
einem wirksamen und gerechten Hochschulpakt für
mehr Studienplätze und mit einem Wettbewerb für heraus-
ragende Lehre.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Modernisierung der Justiz (2. Justiz-
modernisierungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 16)
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Wir beraten heute in
erster Lesung das 2. Justizmodernisierungsgesetz. In
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist ein Bündel
von Maßnahmen vorgesehen, die nahezu alle Bereiche
der Justiz betreffen. Ziel des Gesetzgebungsvorhabens
ist es, durch Entbürokratisierung und Kostenreduzierung
die Zügigkeit und Kostengünstigkeit gerichtlicher Ver-
fahren weiter zu steigern, ohne dabei rechtsstaatliche
Standards zu mindern. Zudem dient das Gesetz der Ver-
besserung der Übersichtlichkeit des Verfahrensrechts,
um die Rechtsanwendung im Justizalltag zu erleichtern.
Das Gesetz knüpft an das 1. Justizmodernisierungsge-
setz aus dem Jahre 2004 an, das der Deutsche Bundestag
einstimmig verabschiedet hat und mit dem bereits eine
Reihe von Maßnahmen zur Effektivierung gerichtlicher
Verfahren vorgenommen wurde. Wie der Name dieses
Gesetzes schon sagt, war der Modernisierungsbedarf
– damals bereits erkennbar – damit noch nicht gedeckt.
Deshalb befassen wir uns nunmehr mit dem Ergebnis der
Fortsetzung der Arbeit, dem 2. Justizmodernisierungsge-
setz.
Mit dem 2. Justizmodernisierungsgesetz sollen 26
verschiedene Gesetze verändert und modernisiert wer-
den. Bereits diese Zahl macht deutlich, dass es sich um
ein facetten- und auch umfangreiches Gesetzgebungs-
vorhaben handelt. Ich möchte hier nur auf einige Vor-
schriften hinweisen, wie zum Beispiel auf die Einfüh-
rung und Ausweitung des unbaren Zahlungsverkehrs bei
Gerichten und Justizbehörden, Änderungen im Kosten-
recht zur Steigerung der Klarheit und Systematik, die Er-
höhung der Zügigkeit im Mahnverfahren durch Einfüh-
rung der Antragstellung in maschinell lesbarer Form, die
effizientere Ausgestaltung des Sachverständigenbewei-
ses oder die Einführung eines Wiederaufnahmegrundes
bei vom Europäischen Gerichtshof festgestellten Men-
schenrechtsverletzungen.
Der bisherige Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens
hat sich als außerordentlich konsensorientiert dargestellt.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zu dem Ge-
setzentwurf eine Reihe von Prüfbitten und Änderungs-
vorschlägen unterbreitet. Die Bundesregierung hat die-
sen Anliegen in ihrer Gegenäußerung in großem Umfang
entsprochen, in einigen Fällen eine Prüfung zugesagt,
und lediglich zu zwei Punkten Ablehnung empfohlen.
Ich halte diese Verfahrensweise im Hinblick auf den Be-
ratungsgegenstand auch für absolut angemessen und ver-
antwortungsbewusst. Sowohl der Bund als auch die Län-
der haben ein vitales Interesse an einer funktionierenden
und effizienten Justiz.
Ich gehe davon aus, dass sich dieser sachorientierte
Ansatz im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfah-
rens fortsetzen wird. Der Stellungnahme der Bundesre-
gierung können wir im Wesentlichen beipflichten. Das
5934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
betrifft insbesondere auch die vorgesehene moderate Er-
weiterung des Instruments der Verwarnung mit Strafvor-
behalt im Strafgesetzbuch.
Vor dem Hintergrund des Umstandes, dass § 59 StGB
gegenwärtig kaum angewendet wird, sind wir der Auf-
fassung, dass die vorgesehene Änderung den Bedürfnis-
sen der Rechtspraxis entspricht, weil sie eine sinnvolle
Möglichkeit darstellt, auf reuige Straftäter einzuwirken.
Zudem bietet die Neuregelung aus unserer Sicht eine
gute Ergänzung zu der Vorschrift des § 153 a StPO.
Einige Anliegen des Bundesrates, zu denen sich die
Bundesregierung eine weitere Prüfung vorbehalten hat,
halten wir hingegen für berechtigt. Das betrifft etwa die
Möglichkeit, im Jugendgerichtsverfahren auch die Vor-
führung des unentschuldigt nicht erschienenen Beschul-
digten anordnen zu können, wenn dies mit der Ladung
zum Verhandlungstermin angedroht worden ist.
Die vom Bundesrat vorgeschlagene Regelung zur Er-
möglichung der Nebenklage halten wir vom Ansatz her
für sinnvoll und notwendig. Aus Opferschutzgründen ist
es geradezu dringlich, hier zu einer Erweiterung der
Möglichkeiten der Opfer, auf den Gang der Verhandlung
Einfluss nehmen zu können, zu gelangen. Die bisherige
Rechtslage hat insoweit nahezu ausschließlich die Be-
dürfnisse des Täters im Blick, indem sie Antragsrechte
des Opfers bzw. seines Anwalts ausschließt. Allerdings
darf in diesem Zusammenhang in der Tat nicht vergessen
werden, dass im Jugendstrafrecht der Erziehungsge-
danke im Vordergrund steht. Von daher sollte über einen
Kompromiss nachgedacht werden, der die Opferinteres-
sen zumindest in Fällen schwerster Kriminalität besser
als bislang schützt.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass das
Gesetzgebungsvorhaben eilbedürftig ist, weil damit auch
Rechtsvorschriften geändert werden sollen, die ohne ent-
sprechende Änderung aufgrund bisheriger Befristung
zum Jahresende auslaufen würden. Dies betrifft etwa die
Besetzungsreduktion der großen Strafkammern und der
Jugendkammern, die mit dem Gesetz zur Entlastung der
Rechtspflege eingeführt worden war. Die insoweit ur-
sprünglich vorgesehene Befristung soll nochmals verlän-
gert werden, weil sich die Regelungen in der Praxis
bewährt haben. Gleiches gilt für die mit der ZPO-Re-
form geschaffene Begrenzung der Möglichkeit der
Nichtzulassungsbeschwerde auf Streitwerte von mehr
als 20 000 Euro. Auch diese Regelung hat sich in der
Praxis bewährt und die bislang vorgesehene Befristung
kann nochmals verlängert werden.
Für unsere weitere Beratung bestehen deshalb auch
zeitliche Notwendigkeiten: Wir müssen zu einem zügi-
gen Abschluss des Gesetzgebungsvorhabens gelangen.
Gründlichkeit und Schnelligkeit sind angesagt.
Joachim Stünker (SPD): Wir beraten heute den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung für ein Zweites Justiz-
modernisierungsgesetz. Mit diesem Vorhaben knüpfen
wir an das Erste Justizmodernisierungsgesetz an, das wir
im Juli 2004 beschlossen haben. Seinerzeit haben wir ei-
nen ersten wichtigen Schritt hin zu einer Vereinfachung,
Beschleunigung und flexibleren Gestaltung von Ge-
richtsverfahren getan.
Dieses Ziel wollen wir nun konsequent weiterverfol-
gen. Deshalb haben wir heute einen umfangreichen Ka-
talog von Vorschlägen eingebracht, die zu einer Verbes-
serung des geltenden Verfahrensrechts beitragen sollen.
Die jeweilige Verbesserung betrifft entsprechend der
Fülle der geplanten Maßnahmen jeweils verschiedene
Aspekte verschiedener Prozessordnungen. So geht es um
die Steigerung der Zügigkeit und Kostengünstigkeit ge-
richtlicher Verfahren im Interesse der Rechtsuchenden,
aber auch um einen besseren Opferschutz oder die effek-
tivere Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Da-
bei sollen selbstverständlich bestehende rechtsstaatliche
Standards erhalten werden.
Der Entwurf umfasst eine Fülle von Maßnahmen in
verschiedenen Verfahrensarten, auf die ich hier im Ein-
zelnen nicht eingehen kann. Daher will ich meine Aus-
führungen auf zwei mir besonders am Herzen liegende
Teile des Entwurfes beschränken: das Strafrecht – Sank-
tionensystem – und das Jugendstrafverfahren. Hierzu hat
sich der Bundesrat in seiner Stellungnahme geäußert. Er
hat verschiedene Alternativvorschläge unterbreitet, mit
denen wir uns sachgerecht auseinander setzen werden.
Für Verbesserungen sind wir offen.
Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen:
Das bewährte Sanktionensystem wollen wir zur Fle-
xibilisierung von Strafverfahren ausbauen. Dazu schla-
gen wir eine moderate Erweiterung der Möglichkeiten
vor, in der die so genannte Verwarnung mit Strafvorbe-
halt Anwendung finden kann. Dieses Sanktionsmittel
– sozusagen eine Geldstrafe auf Bewährung – gibt den
Gerichten die Möglichkeit, Straftaten mit geringem Un-
rechtsgehalt angemessen zu sanktionieren, ohne dass
unmittelbar eine Strafe ausgesprochen und vollstreckt wer-
den müsste. Die Vollstreckung der angedrohten Geld-
strafe erfolgt nur im Fall des Bewährungsversagens.
Diese Sanktionsform ist dann angemessen, wenn einer-
seits eine Verfahrenseinstellung nicht infrage kommt,
andererseits aber ein direkter Eingriff im Wege der Straf-
vollstreckung – möglicherweise auch im Hinblick auf
Bewährungsauflagen – nicht erforderlich ist.
Der Bundesrat hat diesen Vorschlag zu meinem Be-
dauern zurückhaltend aufgenommen. Er hat sich darauf
gestützt, dass der Vorschlag zu „nicht kompensierbaren
Einnahmeausfällen bei den Ländern“ führen werde, da
die Verwarnung mit Strafvorbehalt die Geldstrafe ver-
drängen würde. Ich hoffe sehr, dass der Bundesrat seine
in dankenswerter Klarheit formulierte Position noch ein-
mal überdenkt. Unser strafrechtliches Sanktionssystem
sollte in erster Linie darauf ausgerichtet sein, den Ge-
richten Sanktionsmittel zur Verfügung zu stellen, die
eine möglichst differenzierte schuldangemessene Reak-
tion des Staates auf Straftaten ermöglichen. Sanktions-
mittel dienen aus meiner Sicht hingegen nicht der Ge-
währleistung bestimmter Staatseinnahmen.
Bestandteil des Regierungsentwurfes ist auch eine
Verbesserung des Opferschutzes, insbesondere im Ju-
gendstrafverfahren. Der Entwurf erstreckt die geltenden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5935
(A) (C)
(B) (D)
Regelungen der Schutz- und Informationsrechte des Ver-
letzten – einschließlich der Bestimmungen über den Op-
feranwalt – auch auf Strafverfahren gegen Jugendliche.
Der Bundesrat plädiert dagegen für die einge-
schränkte Zulassung der Nebenklage. Ich gestehe ein,
dass ich dabei im Hinblick auf den erzieherischen Zweck
des Jugendstrafverfahrens Bedenken habe. Ein Neben-
kläger möchte – legitim und nachvollziehbar – im eige-
nen Interesse das Strafverfahren mitgestalten. Ich sehe
hier einen gewissen Konflikt mit dem erzieherischen
Grundansatz des Jugendstrafverfahrens. Eine Neben-
klage ist daher im Jugendstrafverfahren allenfalls unter
besonders einschränkenden Voraussetzungen vorstellbar,
wie zum Beispiel bei schwersten Straftaten und schwerer
körperlicher oder seelischer Beeinträchtigung des Op-
fers.
Mit diesen und anderen Vorschlägen werden wir uns
im Ausschuss zu beschäftigen haben. Ich hoffe, dass wir
in den anstehenden Beratungen konstruktiv zusammen-
arbeiten werden und das Gesetzgebungsverfahren im
Interesse von Gerichtspraxis und Rechtsuchendem zu ei-
nem erfolgreichen und zügigen Abschluss bringen kön-
nen.
Mechthild Dyckmans (FDP): In regelmäßigen Ab-
ständen befasst sich der Deutsche Bundestag mit Gesetz-
entwürfen zur Reform der Justiz. Justizbeschleunigung,
Justizentlastung, Justizanpassung und Justizmodernisie-
rung sind nur einige der Schlagwörter, mit denen die Re-
formgesetze in den vergangenen Jahren etikettiert waren.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich Reformen, die
geeignet sind, die Justiz tatsächlich zu modernisieren,
ohne gleichzeitig die Qualität und Leistungsfähigkeit des
Rechtsstaates zu beschneiden, nie verschlossen. Die
FDP hat jedoch Bedenken, wenn ein Justizmodernisie-
rungsgesetz auf das andere folgt. In der 14. Wahlperiode
ist die große ZPO-Reform in Kraft getreten. Erst 2004
hat die Bundesregierung das l. Justizmodernisierungs-
gesetz auf den Weg gebracht. Bereits zwei Jahre später
beraten wir das 2. Justizmodernisierungsgesetz.
Justiz ist in besonderer Weise auf Kontinuität an-
gewiesen. Reformschritte in schneller Folge werden zu
Unsicherheit bei den Rechtsanwendern führen. Die Ge-
fahr ist groß, dass die Justiz mit immer neuen Reformen
überfordert wird. Eine Qualitätssteigerung in der Justiz
wird so nicht erreicht. Hinzu kommt, dass die Reform-
initiativen grundsätzlich vom Spardiktat der Länder-
finanzminister bestimmt werden. Auch die Gesetzes-
begründung weist auf die Sparzwänge der öffentlichen
Haushalte hin. Leitlinie des Gesetzentwurfs sei, so die
Begründung, dass die gerichtlichen Verfahren kosten-
günstiger durchgeführt werden können. Es wird auch
darauf hingewiesen, dass durch die im Entwurf enthalte-
nen Vereinfachungen des gerichtlichen Verfahrens Ein-
sparungen in den Länderhaushalten zu erwarten sind.
Reformen, die nur mit dem Ziel der Kostenreduktion be-
trieben werden, werden in der FDP keine Verbündeten
finden.
Die FDP-Bundestagsfraktion erkennt jedoch an, dass
der Gesetzentwurf der Bundesregierung einige Regelun-
gen enthält, die grundsätzlich zu begrüßen sind. Dies gilt
zunächst für die Einführung des neuen Wiederaufnahme-
grundes: wenn der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte eine Verletzung der Europäischen Men-
schenrechtskonvention festgestellt hat und das Urteil auf
dieser Verletzung beruht. Einen entsprechenden Wieder-
aufnahmegrund haben wir bereits in § 359 Nr. 6 StPO.
Es ist daher sachgerecht, einen entsprechenden Wieder-
aufnahmegrund auch in der Zivilprozessordnung zu ver-
ankern.
Auch die Regelungen zum Opferschutz finden die Zu-
stimmung der FDP. Es ist zu begrüßen, dass der Gesetz-
entwurf den Wiedergutmachungsansprüchen des Opfers
bei der Vollstreckung von Geldstrafen einen Vorrang
einräumt. Dies entspricht einer langjährigen Forderung
der Opferschutzverbände.
Erfreulich sind auch die vorgesehenen Neuregelungen
im Jugendgerichtsverfahren. Seit vielen Jahren wird in
der Rechtspolitik gefordert, den Opferschutz im Jugend-
gerichtsverfahren stärker zu verankern. Die FDP-Bundes-
tagsfraktion hat hierzu in den vergangenen Jahren immer
wieder Initiativen in den Bundestag eingebracht. Die
Änderungen, die der Gesetzentwurf vorsieht, entspre-
chen auch langjährigen Forderungen des Weißen Rings.
Die FDP-Bundestagsfraktion wendet sich entschieden
gegen die Behauptung, die Bereitstellung eines Opfer-
anwalts und die Einführung des Adhäsionsverfahrens im
Jugendgerichtsverfahren kollidiere mit den Grundsätzen
des Jugendstrafrechts. Der Erziehungsgedanke des Ju-
gendstrafverfahrens darf nicht dazu führen, dass dem
Opfer wesentliche Rechte versagt werden. Gerade ju-
gendliche Straftäter sollen erkennen, was sie dem Opfer
angetan haben; dies entspricht gerade dem Erziehungs-
gedanken des Jugendstrafrechts. Es wäre wünschens-
wert, wenn diese wichtigen Änderungen zur Stärkung
des Opferschutzes im Deutschen Bundestag eine breite
Mehrheit finden würden.
Wo Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten. Dies gilt
auch für diesen Gesetzentwurf. Neben Regelungen, die
die Zustimmung der FDP finden, enthält der Gesetzent-
wurf auch Forderungen, die wir für sehr problematisch
halten. Dies gilt insbesondere für den Vorschlag, Straf-
täter künftig auch dann in Haft zu lassen, wenn sie eine
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erreichen. Mit
dieser Konstellation haben sich die deutschen Gerichte
wiederholt befasst. Das Bundesverfassungsgericht hat
diese Rechtspraxis in seiner Entscheidung vom
18. August 2005 ausdrücklich für unzulässig erklärt. Es
hat entschieden, dass ein erledigter Haftbefehl grund-
sätzlich unwirksam ist. Es muss daran erinnert werden,
dass eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die
Rechtskraft der Verurteilung durchbricht und eine Fort-
setzung des Verfahrens erforderlich macht. Es ist schon
bedenklich, wenn der Gesetzgeber gerade für solche
Fälle eine gesetzliche Regelung schafft und damit den
Zustand normiert, den das Bundesverfassungsgericht für
unzulässig erklärt hat. Darüber hinaus ist fraglich, ob
tatsächlich Bedarf für eine solche Regelung besteht.
5936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Wenn ein Haftgrund vorliegt, kann gegen die betroffene
Person in der überwiegenden Zahl der Fälle bereits nach
geltendem Recht Untersuchungshaft angeordnet werden.
Im Ergebnis geht es der Bundesregierung darum, hier
ein neues Haftbefehlsverfahren zu umgehen. In der Be-
gründung des Gesetzentwurfs wird auch offen darauf
hingewiesen, dass eine sofortige erneute Inhaftierung
sehr aufwendig sei. Wir halten diese reinen Zweckmäßig-
keitserwägungen in diesem Zusammenhang für unzuläs-
sig.
Bedenken haben wir auch gegen die Regelung in § 26
Nr. 8 EGZPO. Dort ist vorgesehen, dass die Nichtzulas-
sungsbeschwerde nach § 544 ZPO bis zum 31. Dezem-
ber 2006 nur bei Beschwerdewerten von mehr als
20 000 Euro eröffnet ist. Da sich diese Vorschrift bewährt
habe, so der Gesetzentwurf, wird diese Übergangsrege-
lung bis zum 31. Dezember 2011 verlängert. Ich halte
diese Regelung für unehrlich. Man kann nicht von einer
Übergangsregelung sprechen, wenn eine Norm zehn Jahre
Bestand haben soll. Die vormals als Übergangsregelung
vorgesehene Vorschrift verliert durch eine weitere Ver-
längerung um fünf Jahre ihren vorläufigen Charakter.
Zudem wird mit dieser Regelung die Nichtzulassungs-
beschwerde bei Beschwerdewerten von weniger als
20 000 Euro ausgeschlossen. Es handelt sich dabei nicht
um Bagatellfälle. In diesen Fällen ist eine höchstrichter-
liche Überprüfung nicht mehr möglich.
Die Bundesregierung trägt zur Begründung vor, der
Bundesgerichtshof sei mit neu eingegangenen Revisio-
nen und Nichtzulassungsbeschwerden überlastet. Wenn
man mit diesem Problem ehrlich umgeht, gibt es zwei
Möglichkeiten: Entweder man stattet den Bundes-
gerichtshof personell und sachlich besser aus oder man
gibt zu, dass man sich eine Nichtzulassungsbeschwerde
bei Fällen unter 20 000 Euro künftig nicht mehr leisten
kann. Dann sollte man aber auch eine ehrliche Lösung
wählen und die Regelung nicht im Einführungsgesetz der
ZPO verstecken, sondern direkt in der ZPO verankern,
und zwar nicht nur als Übergangsregelung. Nur so wird
für den Rechtsanwender die nötige Transparenz geschaf-
fen.
Reformen die dazu dienen, die Leistungsfähigkeit und
Effizienz der Justiz tatsächlich zu steigern, sind zu be-
grüßen. Eine Verschlankung der Justiz darf jedoch nicht
mit einer Qualitätsminderung einhergehen. An diesen
Grundsätzen werden wir den Gesetzentwurf messen.
Wolfgang Nešković (DIE LINKE): In einer einzi-
gen Hinsicht ist der vorliegende Gesetzentwurf zur Mo-
dernisierung der Justiz eine echte Glanzleistung. In rein
semantischer Hinsicht. Denn der Entwurf wird zwar
nicht die Justiz modernisieren, vielleicht aber die deut-
sche Sprache. Die Entwurfsersteller erproben für den
Begriff modern einen schwindelerregenden Bedeutungs-
wandel. Jene Sinnumkehr, die der alten Bundesregierung
mit dem Begriff der „Reform“ geglückt ist, setzt die ak-
tuelle Koalition mit dem Begriff „modern“ fort. Ich fasse
in der Kürze der Zeit exemplarisch einmal zusammen,
was man im Justizministerium neuerdings unter Moder-
nität versteht. Sie werden verstehen, dass ich in der kur-
zen Redezeit, die mir gewährt wurde, kein Loblied auf
die wenigen auch sinnvollen Aspekte des Entwurfes an-
stimmen werde.
Modern ist es in der Sprache des Justizministeriums,
die Richter im Land gesetzlich zu Fortbildungen zu ver-
pflichten, ohne dabei die Tatsache zu berücksichtigen,
dass Fortbildungen nicht nur Geld, sondern vor allem
Zeit erfordern. Zeit steht den Richtern zur Erledigung ih-
rer täglichen Arbeit schon lange und bei weitem nicht
mehr ausreichend zur Verfügung. Der Amtsrichterver-
band brachte es in seiner Stellungnahme zum Entwurf
auf den Punkt:
Wenn die Fortbildung (…) zu oft kurz kommt, so
liegt dies nicht am fehlenden Bewusstsein, sondern
an der längst untragbar gewordenen Belastung – be-
sonders bei den Amtsgerichten.
Der Entwurf sieht das offenbar anders: Eine gesetzli-
che Verpflichtung zu Fortbildung soll ohne echte Entlas-
tung der Richterschaft dennoch zu mehr Fortbildung
führen. Das geht eigentlich nicht. Die Logik des Vor-
schlages ist dennoch interessant. Hätte man sich diese
Logik bei den Diskussionen zur Gesundheitsreform zu
Eigen gemacht, hätten sich die Koalitionäre sehr viel
schneller einigen und sich damit viel Verdruss ersparen
können. Man hätte nur die Kranken ganz einfach gesetz-
lich verpflichten müssen, endlich wieder gesund zu wer-
den. Modern ist es also, die Tatsachen zu ignorieren und
das Unmögliche zur Pflicht zu machen.
Modern ist es weiterhin in der Sprache des Entwurfs,
den unbaren Zahlungsverkehr an den Gerichten in vielen
Rechtsbereichen zur Regelsache zu machen. Für den ef-
fektiven Justizgewähranspruch unterscheiden wir in
Deutschland künftig Menschen mit einem Konto und
solche ohne ein Konto. Von letzteren gibt es nicht we-
nige. Denn alle bisherigen politischen Absichtserklärun-
gen zum Konto für Jedermann blieben bis jetzt nur hoh-
les Gerede. In unserem Land lebt heute eine ganz
beträchtliche Zahl von Menschen, die kein eigenes
Konto haben. Oft sind es Alte, Behinderte, sozial
Schwache, Analphabeten oder Arbeitslose. Auf der Su-
che nach ihrem Recht werden diese Menschen künftig
auf die gnädige Gestattung einer Barzahlung im Ausnah-
mefall angewiesen sein, wie sie § 40 Abs. 3 des Entwur-
fes bestimmt – und dies auch nur, wenn es um Zahlun-
gen aufgrund bundesrechtlicher Vorschriften geht.
Was ist weiterhin modern am Entwurf? Der Entwurf
sieht vor, für die Nichtzulassungsbeschwerde die hohe
Beschwerdewertgrenze von 20 000 Euro zu verlängern.
Wir wissen jetzt, dass man es im Justizministerium im-
mer noch als modern ansieht, für die Gewährung von
Rechtsmitteln zwischen wohlhabenden und armen Men-
schen zu unterscheiden. Für das Vorstandsmitglied einer
Aktiengesellschaft sind 19 999 Euro und 99 Cent mögli-
cherweise nur eine interessante Summe Geld. Für viele
andere Menschen kann es bei dieser Summe im Zweifel
um ihr gesamtes Vermögen und ihre Existenz gehen.
Interessant ist auch, dass diese Ungleichbehandlung
im Recht mit einer Überlastung des Bundesgerichtshofes
begründet wird. Diese gibt es: das ist wahr. Mich wun-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5937
(A) (C)
(B) (D)
dert nur, dass das auch der Entwurf ganz freiherzig ein-
räumt. Als nämlich meine Fraktion im Haushalts- und
im Rechtsauschuss für ein paar Pappenstiele kämpfte,
um endlich jedem Richter der obersten Gerichtshöfe ei-
nen wissenschaftlichen Mitarbeiter zu Seite zu stellen,
da lehnte man dies mit dem Bemerken ab, diese hätten
keinen Bedarf an Entlastung. Modern ist es ganz offen-
bar, die Überbelastung der Justiz dort schlicht abzustrei-
ten, wo sie objektiv mehr Finanzen nötig macht, und
dort wiederum einzuräumen, wo man Rechtsmittel kür-
zen möchte.
Modern, modern, modern. So geht das munter weiter.
Ein wenig aber wird das Bild uneingeschränkter Moder-
nität durch einen schmalen Passus gleich im Eingang der
Gesetzesbegründung getrübt. Da heißt es gewisserma-
ßen ganz altmodisch und vertraut, man müsse bei allen
Gesetzesänderungen darauf achten, rechtstaatliche Stan-
dards nicht zu mindern. Das hört sich gut an und ist auch
völlig richtig. Leider macht es für den Inhalt eines Ge-
setzespaketes keinerlei Unterschied, was Sie auf die Ver-
packung schreiben. Darin unterscheidet sich Gesetzge-
bung von keiner anderen Form der Produktion. Was hier
als Inhalt produziert wurde, ist aber genau die wieder-
holte Minderung von rechtstaatlichen Standards für die
immer breiter werdende Schicht der sozial Benachteilig-
ten. Das ist nicht hinnehmbar.
Und noch aus einem anderen, gar nicht modernen
Grund ist der Gesetzentwurf abzulehnen. Gestatten Sie
mir die Verwendung eines sehr altmodischen Wortes, um
das zu begründen: Ehrlichkeit. Es ist schlicht eine Sache
der politischen Ehrlichkeit, die Verpackung gemäß dem
Inhalt zu beschriften.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Modernisierung der Justiz ist keine Erfindung der gro-
ßen Koalition und der Regierung Merkel. Sie ist ange-
sichts des europäischen Einigungsprozesses, des vielfäl-
tigen gesellschaftlichen Wandels und weiterhin knapper
finanzieller Ressourcen eine fortwährende Herausforde-
rung der Politik. Dabei gilt es, die Bürgerrechte zu
wahren, den Rechtsstaat zu erhalten und die Justizge-
währung zu optimieren. Mit dem Justizmodernisierungs-
gesetz 2004 hat die rot-grüne Koalition diese Aufgabe
bereits angepackt. Die Union hat in der Opposition
durchgesetzt, das Justizmodernisierungsgesetz 2004 als
ein „erstes“ JuMoG zu bezeichnen. Nunmehr legt die
Bundesregierung – insoweit folgerichtig – ein „zweites“
JuMoG vor. Wir Grünen werden die Vorschläge dahin-
gehend prüfen, ob sie die Justiz tatsächlich modernisie-
ren, ohne Bürgerrechte zu verletzen und die rechtsstaatli-
chen Standards abzubauen. Eine erste Bewertung nach
diesen Kriterien fällt durchaus gemischt aus.
Wir begrüßen es, dass in der Zivilprozessordnung ein
neuer besonderer Wiederaufnahmegrund für vom Euro-
päischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte
Menschenrechtsverletzungen eingeführt wird. Wir be-
grüßen ausdrücklich die Einführung einer Fortbildungs-
verpflichtung für Richterinnen und Richter. Die Länder
sind hier in der Pflicht, den Richterinnen und Richtern
auch Gelegenheit und Zeit für eine qualifizierte Weiter-
bildung zur Verfügung zu stellen. Die Stärkung des un-
baren Zahlungsverkehrs und des Mahnverfahrens in ma-
schinell lesbarer Form findet unsere grundsätzliche
Zustimmung. Wir fordern schon lange, dass Wiedergut-
machungsleistungen an Opfer Vorrang vor der Vollstre-
ckung einer Geldstrafe haben. Dies stärkt die berechtig-
ten Interessen der Opfer auf Entschädigung.
Positiv ist auch der Vorschlag, die Verwarnung mit
Strafvorbehalt auszuweiten, da dies dem Richter ermög-
licht, flexibler und damit angemessener auf Straftaten zu
regieren. Allerdings fänden wir es eine richtige Bank-
rotterklärung schwarz-roter Rechtspolitik, wenn damit
die seit Jahren überfällige Sanktionenrechtsreform
gleichsam beerdigt würde. Diese Reform, zu der es aus
der Zeit der rot-grünen Regierung beste Vorarbeiten gibt,
ist dringend notwendig, um mehr Flexibilität der straf-
rechtlichen Sanktionen zu erreichen und unnötige Er-
satzfreiheitsstrafen zu vermeiden.
Die Ausweitung der Opferinformations- und Bei-
standsrechte im Jugendstrafverfahren wird von uns im
Grundsatz begrüßt. Allerdings muss gesichert sein, dass
der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts nicht zu-
gunsten von Genugtuungsinteressen zurückgedrängt
wird. Deshalb wird noch im Einzelnen sorgfältig zu prü-
fen sein, ob die Einschränkung der Akteneinsicht für
Opferanwälte, soweit der höchstpersönliche Lebensbe-
reich jugendlicher Angeklagter berührt ist, ausreichend
konsequent im Gesetz umgesetzt ist.
Neben diesen positiven Punkten enthält der Gesetz-
entwurf jedoch eine ganze Reihe fragwürdiger, zumin-
dest jedoch noch ausführlich zu überprüfender Regelun-
gen. Dazu gehört die Regelung, wonach Haft- und
Unterbringungsbefehle bei Wiedereinsetzungsentschei-
dungen „wiederaufleben“ sollen. Das Bundesverfassungs-
gericht hat in seiner Entscheidung – 2 BvR 1357/05 – aus-
geführt: „Ein einmal gegenstandslos gewordener
Haftbefehl bleibt gegenstandslos. Liegen die Vorausset-
zungen für eine Anordnung von Untersuchungshaft vor,
so ist (gegebenenfalls) ein neuer Haftbefehl zu erlassen.
Jede andere Sichtweise ist mit der wertsetzenden Bedeu-
tung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2
Abs. 2 Satz 2 GG) und den in Art. 104 Abs. 1 GG ent-
haltenen formellen Gewährleistungen unvereinbar.“
Sie wollen entgegen dieser klaren verfassungsrechtli-
chen Bewertung mit einer Gesetzesänderung Haft- und
Unterbringungshaftbefehle doch wieder unmittelbar
wirksam werden lassen. Die Betroffenen verweisen sie
auf gerichtliche Entscheidungen, die diese unmittelbar
wirksamen Freiheitsentziehungen im Nachhinein been-
den können. Es bedarf sorgsamer Überprüfung im weite-
ren parlamentarischen Verfahren, ob damit die Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts eingehalten sind. Wir
werden allein schon wegen dieser neuen Regelung eine
Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss beantra-
gen.
Auch die geplante Ausweitung des Adhäsionsverfah-
rens auf heranwachsende Straftäter, die nach Jugend-
strafrecht verurteilt werden, erscheint uns ausgesprochen
problematisch. Wir haben erst vor kurzem zum
1. September 2004 das Adhäsionsverfahren erheblich
5938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
ausgeweitet. Es wäre mehr als sinnvoll, nach einigen
Jahren zu überprüfen, wie die Gerichte diese neue Mög-
lichkeit der Konzentration von Straf- und Zivilverfahren
nutzen, bevor man sich an weitere Ausweitungen macht.
Doch auch in der Sache stehen wir Grünen diesem aus
der Feder der Union stammenden Vorschlag kritisch ge-
genüber. Das Jugendstrafrecht, das auf Heranwachsende
mit Reiferückständen Anwendung findet, dient in erster
Linie einer Erziehung der straffälligen Täter. Alles, was
diesen Grundgedanken des Jugendstrafrechts stört, sollte
aus dem Jugendstrafverfahren herausgehalten werden.
Die Begründung, mit der die Bundesregierung die Aus-
dehnung des Adhäsionsverfahrens auf straffällig gewor-
dene Jugendliche ablehnt, hat auch bei Verfahren gegen
Heranwachsende, auf die Jugendrecht zur Anwendung
kommt, Bestand. Erschwerend kommt hinzu, dass auch
die Geltendmachung ganz hoher Schadensersatzansprü-
che nicht notwendigerweise zu einer anwaltlichen Ver-
tretung oder Pflichtverteidigung führt. Dieser Missstand
ist in Jugendstrafverfahren besonders problematisch und
sollte beseitigt werden.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz: Im Jahr 2004 haben wir mit
dem Ersten Justizmodernisierungsgesetz eine Vielzahl
von Regelungen auf den Weg gebracht, die eine Verbes-
serung des Verfahrensrechts bewirken sollten und auch
bewirkt haben. Der Regierungsentwurf eines Zweiten
Justizmodernisierungsgesetzes verfolgt dasselbe Ziel.
Mit zahlreichen gezielten Rechtsänderungen soll dazu
beigetragen werden, dass Gerichtsverfahren zügiger und
kostengünstiger ablaufen. Die vorgeschlagenen Rechts-
änderungen haben eine ganz unterschiedliche Dimension
und betreffen insgesamt 26 Stammgesetze. Vieles hat da-
bei rechtstechnischen Charakter und soll notwendige
Korrekturen bewirken. Zugleich enthält der Entwurf
aber auch sachlich wichtige Neuerungen.
Im Bundesrat haben die Vorschläge des Regierungs-
entwurfs überwiegend Zustimmung erhalten und der von
den Ländern angemeldete Änderungsbedarf kann aus der
Sicht des Bundesjustizministeriums in vielen Punkten
mitgetragen werden. Das gilt zum Beispiel für vorge-
schlagene Änderungen zum ZPO-Teil und zur Vereinfa-
chung der Regelungen über die Schecksicherheit bei der
Zwangsversteigerung.
Dieses hohe Maß an Konsens ist erfreulich und wich-
tig; denn wir können uns mit diesem Gesetz nicht belie-
big viel Zeit lassen. Der Regierungsentwurf enthält viel-
mehr drei Vorschläge, mit denen für die Praxis wichtige
Regelungen verlängert werden sollen, die andernfalls
zum 31. Dezember dieses Jahres auslaufen würden. Es
geht dabei um die Verlängerung der Besetzungsreduk-
tion bei großen Strafkammern in Art. 5 des Entwurfs, die
für die Länder große praktische Bedeutung hat, und um
zwei Punkte, die für die Bundesgerichte wichtig sind,
nämlich die Verlängerung der Wertgrenze für Nichtzu-
lassungsbeschwerde in allgemeinen Zivilsachen und die
Verlängerung des Ausschlusses der Nichtzulassungsbe-
schwerde in allen Familiensachen – beides steht in Art. 9
des Entwurfs.
Wenn wir bei diesen Punkten der gerichtlichen Praxis
in Bund und Ländern erhebliche Probleme ersparen wol-
len, muss das Gesetz zum Ende dieses Jahres in Kraft
treten. Deshalb hoffe ich sehr und bin auch zuversicht-
lich, dass es im Zuge der weiteren Beratungen gelingen
wird, auch für die Punkte eine konsensfähige Lösung zu
finden, in denen wir bislang mit den Ländern noch nicht
einig sind. Das gilt vornehmlich für einzelne Punkte des
straf- und jugendstrafrechtlichen Teils des JuMoG 2.
Bei den Änderungsvorschlägen des Regierungsent-
wurfs im allgemeinen Strafrecht ist der zentrale und
gleichzeitig vom Bundesrat bekämpfte Punkt die Erwei-
terung des Anwendungsbereichs der Verwarnung mit
Strafvorbehalt. Damit wollen wir den Gerichten mehr
Flexibilität bei der Sanktionierung von Kleinkriminalität
geben.
Durch die vorgeschlagenen Änderungen wird die bis-
lang verkümmerte Verwarnung mit Strafvorbehalt zu
einer wertvollen Ergänzung im System der vorgerichtli-
chen und gerichtlichen Diversion. Ihr Anwendungsbe-
reich erfasst Fälle, in denen eine Benennung des began-
genen Unrechts notwendig, eine Bestrafung jedoch nicht
unbedingt erforderlich ist. In diesen Fällen kommt eine
Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen nicht in Be-
tracht. Im Übrigen kann die Verwarnung mit Strafvorbe-
halt auch in Fällen angewendet werden, in denen eine
Verfahrenseinstellung an dem Fehlen der notwendigen
Zustimmung des Beschuldigten oder der Staatsanwalt-
schaft im gerichtlichen Verfahren bzw. des Gerichts im
Ermittlungsverfahren scheitert. Da sie auch im Strafbe-
fehlsverfahren verhängt werden kann – § 407 Abs. 2 Nr. 1
StPO –, liegt der mit der Verwarnung mit Strafvorbehalt
verbundene Aufwand nicht notwendigerweise über dem-
jenigen einer Verfahrenseinstellung nach § 153 a StPO.
Der Bundesrat hat seine Ablehnung der Erweiterung
der Verwarnung mit Strafvorbehalt fast wortgleich mit
der ablehnenden Stellungnahme des Bundesrates gegen-
über dem Gesetzentwurf der früheren Bundesregierung
zur Reform des Sanktionenrechts begründet. Er berück-
sichtigt dabei nicht, dass die jetzigen Vorschläge in zen-
tralen Punkten von den damaligen abweichen. Wir haben
davon abgesehen, § 59 StGB als zwingende Regelung
– „Muss-Regelung“ – auszugestalten. Damit wurde dem
damals und jetzt wieder vom Bundesrat geäußerten Be-
denken Rechnung getragen, dass „die Geldstrafe in brei-
tem Maße durch die Verwarnung mit Strafvorbehalt ver-
drängt würde“. Darüber hinaus haben wir darauf
verzichtet, die Erteilung von Auflagen oder Weisungen
zur gesetzlich vorgeschriebenen Regel zu machen. Da-
mit sind wir Befürchtungen entgegengekommen, der
Ausbau der Verwarnung mit Strafvorbehalt verursache
einen „gravierenden Mehraufwand“ in der Praxis.
Unser neuer Regelungsvorschlag ist demnach bereits
ein Kompromiss, aber kein „fauler“, wie ich betonen
möchte. Denn beide Änderungen sind durchaus im Sinne
der erstrebten Flexibilisierung: Das Spektrum der Reak-
tionen auf geringfügige Straftaten wird erweitert, ohne
dass das Gericht zu bestimmten Reaktionen gezwungen
wird.
Bei den Änderungsvorschlägen zum Jugendstrafrecht
betrifft ein Schwerpunkt eine Verbesserung der Rechts-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5939
(A) (C)
(B) (D)
stellung des Verletzten – also des Opferschutzes – auch
im Jugendstrafverfahren. Die angemessene Behandlung
der Opfer im Strafverfahren liegt mir besonders am Her-
zen. Dies gilt gegenüber mutmaßlichen Tätern, die noch
Jugendliche sind, ebenfalls. Es entspricht letztlich auch
dem jugendstrafrechtlichen Erziehungsgedanken, ihnen
zu verdeutlichen, dass es in dem Strafverfahren nicht nur
um ihre Probleme geht, sondern dass dessen Anlass in
dem begangenen Unrecht und den dem Opfer zugefüg-
ten materiellen und immateriellen Verletzungen liegt.
Der Entwurf sieht deshalb neben Verbesserungen im
Bereich des Adhäsionsverfahrens und der Anwesen-
heitsrechte ausdrücklich die Anwendbarkeit der Schutz-
und Informationsrechte des Verletzten, die die Strafpro-
zessordnung bei erwachsenen Beschuldigten einräumt,
auch bei Jugendlichen vor. Der Bundesrat will darüber
hinaus gegen Jugendliche die Nebenklage zulassen,
wenn Gründe der Erziehung nicht entgegenstehen. Die
Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme eine noch-
malige Prüfung dieser wichtigen Frage zugesagt. Wir
haben sie unter Berücksichtigung der Argumente der
Opferschutzverbände vorgenommen und wollen den
Vorschlag nur in modifizierter Form aufnehmen.
Die Lösung des Bundesrates erscheint zum einen zu
eng: Wegen der einschränkenden Voraussetzungen, die in
jedem Einzelfall vom Gericht für die Zulassung der Ne-
benklage zu beachten wären, würden die mit ihr verbun-
denen Verbesserungen des Opferschutzes in der Praxis
wahrscheinlich zu einem großen Teil ins Leere laufen.
Zum anderen stehen die offensiven Rechte der Neben-
klage generell im Konflikt mit einer Orientierung des
Verfahrens am Erziehungsgedanken und der entspre-
chenden Zielsetzung des Jugendstrafrechts. Sie enthalten
außerdem die Gefahr von Verfahrensverzögerungen, ins-
besondere durch Beweisanträge und Rechtsmittel, die
dem besonderen Beschleunigungsgebot bei Jugendlichen
und damit der anzustrebenden möglichst zeitnahen Sank-
tionierung zuwiderlaufen. Bei schwersten Straftaten mit
schwerer Verletzung des Opfers fallen derartige zusätzli-
che Belastungen des Verfahrens durch die Nebenklage
jedoch weniger ins Gewicht. Hier würde es der Position
des Opfers nicht ausreichend gerecht, dieses im Wesent-
lichen weiterhin auf eine weitgehend passive Rolle zu
beschränken. Mit einer Begrenzung auf schwerste Ver-
brechen, wie sie zukünftig auch eine Sicherungsverwah-
rung von jugendlichen Straftätern ermöglichen könnte,
sollte deshalb die Nebenklage eröffnet werden – und
zwar dann ohne die weiteren Einschränkungen des Bun-
desrates.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Europäisches Jahr
der Chancengleichheit – Recht auf Bildung rea-
lisieren (Tagesordnungspunkt 17)
Marcus Weinberg (CDU/CSU): Vor dem Hinter-
grund des Europäischen Jahres der Chancengleichheit
fordert Die Linke einen „Rat für Chancengleichheit im
Bildungswesen“. Ziel des Rates soll unter anderem sein:
Diskriminierungsverhältnisse im Bildungssystem aufzu-
decken, politische Maßnahmen zur Beseitigung dersel-
ben zu erarbeiten und Integration von chronisch Kranken
und behinderten Kindern und Jugendlichen. Die Beset-
zung, der genaue Auftrag und die Kompetenzen des ge-
forderten Rates sollen auf Grundlage einer öffentlichen
Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung erarbeitet und anschließend
dem Bundestag und Bundesrat zur Verabschiedung vor-
gelegt werden.
Begriffe wie „Chancengleichheit“ und „Verschärfung
der sozialen Ungleichheit“ dürfen nicht falsch verstan-
den werden und man sollte sie vor allem nicht inflationär
verwenden oder gar missbrauchen.
Wirkliche Chancengleichheit hat mit Eigeninitiative,
Verantwortung, Freiheit und Arbeit zu tun. Das muss
man fordern und fördern. Eltern müssen in die Pflicht
genommen werden und der Staat muss kompensatorisch
bestehende Defizite ausgleichen. Das Tragen von Ver-
antwortung, Liebe und die Sorge um die eigenen Kinder
sind leider nicht mehr selbstverständlich in unserem
Land. Wer Leistungen und Verantwortung vom Staat
will, muss selbst auch welche erbringen und nicht aus-
schließlich nach dem Staat rufen. Es gilt das Prinzip der
Subsidiarität.
Die Errichtung von Institutionen, von denen wir
schon viel zu viele haben, die noch mehr Verwaltungs-
strukturen schaffen – davon sollte man dann Abstand
nehmen, wenn die Ziele bereits durch bestehende Struk-
turen erreicht werden. Überinstitutionalisierung hält kein
Staat aus. Verwaltungsstrukturen sind kostenintensiv.
Der Nutzen steht hier in keinem Verhältnis zum Einsatz
der Mittel. Auch im Bildungsbereich geht es um einen
effizienten Einsatz der Mittel – für mehr Bildungsquali-
tät – für alle Kinder.
Man muss davon wegkommen, Kitas und Schulen als
reine Verwahr- und Verwaltungsapparate zu betrachten.
Ähnlich wie in mittelständischen Unternehmen ist und
sollte das Produkt die Qualität der Lehre sein. Unter die-
sem Gesichtspunkt bekommt man eine Dynamik die
wegbewegen kann von teuren aufgeblasenen Verwal-
tungsstrukturen und nivellierten Bildungskontrollen, die
zur Versteinerung jeglichen Denkens führen. Zur Chan-
cengleichheit gehört auch Freiheit und Wettbewerb. Das
kann man nicht trennen. Das eine bedingt das andere!
Wir wollen und brauchen Bildungsqualität, um in der
Zukunft bestehen zu können. Unsere Reserven für nach-
folgende Generationen sollten und dürfen wir nicht ver-
brauchen.
Schauen wir uns Berlin an: Eine rot-rote Regierung,
die einen 61 Milliarden Euro Schuldenberg angehäuft
hat. Sie haben ihre Flexibilität verbraucht, die Kitage-
bühren erhöht und Schulen geschlossen, auch wegen der
Kosten durch die Überinstitutionalisierung. Inhalt und
Qualität der Lehre und des Umgangs miteinander ver-
schlechterten sich zunehmend, nicht nur wegen des Leh-
rermangels.
5940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Statt Wettbewerb unter den Schulen zu fördern, legen
sie ihn lahm. Ein Wettbewerb aber kann maßgeblich die
Dynamik steigern und damit Bildungsqualität fordern
und fördern. Es wundert wenig, dass das Interesse der
Eltern an Privatschulen steigt, auch in sozial schwachen
Familien. Der Staat muss Eigeninitiative fordern und
fördern. Er sollte den Menschen die Eigeninitiative nicht
abnehmen. Dann würden sie unmündig. Das kennen wir
schon aus der Geschichte. Verantwortung füreinander
übernehmen und tragen, kommunizieren, miteinander
sprechen, Netzwerke bilden, sich austauschen, das ge-
hört zum Leben. Das kann keine teuer geschaffene, Steu-
ergelder verbrauchende Institution ersetzen, deren Auf-
gaben bereits erfüllt werden.
Im Antrag heißt es, auf europäischer Ebene und auf
der Grundlage der Lissabonstrategie hätten getroffene
Vereinbarungen zur Bildungspolitik bisher keinen Bei-
trag zur Realisierung der Chancengleichheit geleistet
und wirkten sogar häufig in die gegenteilige Richtung.
Dieser Satz ist schlichtweg falsch. Ein Beispiel: Ausge-
hend von einem Beschluss des Deutschen Bundestages
vom 1. Juli 2004 wurde im Jahr 2004 durch ein Natio-
nalkomitee bei der Deutschen UNESCO-Kommission
ein Nationaler Aktionsplan für die Dekade entwickelt,
der das Hauptziel verfolgt, den Gedanken der nachhalti-
gen Entwicklung in allen Bildungsbereichen in Deutsch-
land zu verankern. Das Nationalkomitee hat 2005 einen
durch konkrete Maßnahmen angereicherten Nationalen
Aktionsplan vorgelegt. Die Länder werden innerhalb der
Dekade zunehmend aktiv. Seit Beginn der Dekade im
Jahr 2005 werden Projekte und Initiativen aus Deutsch-
land, die dem Ziel der Bildung für eine nachhaltige Ent-
wicklung entsprechen, als offizielle Dekadeprojekte aus-
gezeichnet. Bisher haben bereits mehr als 250 Projekte
die Auszeichnung erhalten. Die UN-Dekade ist bisher
ausgesprochen positiv und mit großer öffentlicher Reso-
nanz verlaufen. Sie ist ein gutes Beispiel für eine
wirkungsvolle Kooperation von Bund, Ländern und
zivilgesellschaftlichen Akteuren innerhalb eines zu-
kunftsrelevanten Bildungsthemas. Der Föderalismus ist
hier kooperativ und fördernd. Es funktioniert doch!
International werden die deutschen Aktivitäten sehr
positiv wahrgenommen. Sie gelten als weit entwickelt
und als beispielhaft für andere Staaten. Für Punkt 3 Ihres
Antrages gilt dasselbe. Sie sagen: Das europäische Jahr
der Chancengleichheit solle zum Anlass genommen wer-
den, um die bisherige Bildungspolitik in Europa, im
Bund, in den Ländern und den Kommunen kritisch zu
evaluieren und bildungspolitische Maßnahmen auf den
Weg zu bringen, die dazu beitragen, das Recht auf Bil-
dung zu realisieren. Das ist längst geschehen. Sie haben
nicht zugehört und schauen weg.
Zudem haben sich Bund und Länder auf die Grundla-
gen einer gemeinsamen Zusammenarbeit in den Berei-
chen Bildung und Forschungsforderung gemäß der im
Juni und Juli 2006 von Bundestag und Bundesrat be-
schlossenen Föderalismusreform bereits verständigt,
beispielsweise bei internationalen Vergleichsstudien im
Bildungsbereich, bei der Fortschreibung des Nationalen
Bildungsberichts und der gemeinsamen Forschungsför-
derung einschließlich der Förderung von Forschungs-
bauten an Hochschulen und Großgeräten.
Mit der Föderalismusreform und der Neuformulie-
rung des Art. 91 b GG wurde ein Handlungsspielraum
eröffnet, der es ermöglicht, die gemeinsame Verantwor-
tung von Bund und Ländern wahrzunehmen. Die neue
Gemeinschaftsaufgabe zur Finanzierung von Vorhaben
der Wissenschaft und Forschung an Hochschulen er-
möglicht auch die gemeinsame Förderung der Lehre an
Hochschulen, gerade auch im Hinblick auf die steigen-
den Studierendenzahlen. Die Vereinbarungen tragen den
im Grundgesetz verankerten neu geregelten Verantwort-
lichkeiten im Bildungsbereich Rechnung.
Gemeinsames Ziel von Bund und Ländern ist die
Stärkung des Bildungs- und Forschungsstandorts
Deutschland im internationalen Vergleich. Im Bereich
der Forschungsförderung wird künftig eine Gemeinsame
Wissenschaftskonferenz, GWK, an die Stelle der Bund-
Länder-Kommission für Bildungsplanung und For-
schungsförderung, BLK, treten. Ihr gehören die für Wis-
senschaft und Forschung sowie die für Finanzen zustän-
digen Ressortchefs des Bundes und der Länder an.
Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz wird alle
Bund und Länder gemeinsam berührenden Fragen der
Forschungsförderung, der wissenschafts- und for-
schungspolitischen Strategien und des Wissenschaftssys-
tems behandeln. Ziel ist, in enger Koordination auf dem
Gebiet der nationalen, europäischen und internationalen
Wissenschafts- und Forschungspolitik die Leistungsfä-
higkeit des Wissenschafts- und Forschungsstandortes
Deutschland zu steigern.
Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz wird tätig
in Fällen von überregionaler und gesamtstaatlicher Be-
deutung, bei der Förderung von Einrichtungen und Vor-
haben der wissenschaftlichen Forschung außerhalb von
Hochschulen, Vorhaben der Wissenschaft und For-
schung an Hochschulen und Forschungsbauten an Hoch-
schulen einschließlich Großgeräten.
Als übergreifendes Ziel sehen Bund und Länder die
Verbesserung der investiven Voraussetzungen der deut-
schen Hochschulen für eine erfolgreiche Teilnahme am
nationalen und internationalen Wettbewerb in der For-
schung. Der Wissenschaftsrat wird seine Grundaufträge
„Beobachtung und Fortentwicklung des Wissenschafts-
systems“ einerseits sowie „Qualitätssicherung der Wis-
senschaft“ andererseits auch in Zukunft in bewährter
Form wahrnehmen. Die Gemeinschaftsaufgabe Bil-
dungsplanung ist mit der Föderalismusreform entfallen.
Künftig werden Bund und Länder im Bildungsbereich
bei der Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungs-
wesens im internationalen Vergleich zusammenwirken.
Wesentliche Vorhaben im Bereich der neuen Gemein-
schaftsaufgabe werden in Zukunft in regelmäßigen Zu-
sammenkünften der Bundesministerin bzw. des Bundes-
ministers für Bildung und Forschung mit den für
Bildung zuständigen Ministerinnen und Ministern, Sena-
torinnen und Senatoren der Länder erörtert. Nachdem
Einvernehmen über die jeweiligen Vorhaben hergestellt
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5941
(A) (C)
(B) (D)
worden ist, werden die Ergebnisse der Öffentlichkeit ge-
meinsam vorgestellt.
Das Abkommen, das mit Wirkung zum l. Januar 2007
in Kraft treten soll, sieht darüber hinaus Übergangsver-
einbarungen nach dem Außer-Kraft-Treten der Rahmen-
vereinbarung Modellversuche für die über den
31. Dezember 2006 hinaus laufenden Vorhaben der Bil-
dungsplanung vor. Bund und Länder verpflichten sich
damit, in enger Abstimmung für einen geordneten Über-
gang der Vorhaben und für ihre Ausfinanzierung Sorge
zu tragen.
Die Übergangsregelungen betreffen laufende Vor-
haben der Bildungsplanung – BLK-Modellversuchs-
programme, BLK-Verbundprojekte, BLK-Einzelmodell-
versuche, Projekte im BLK-Förderschwerpunkt
„Fernstudium“ und Projekte zur Förderung des Einsatzes
neuer Medien in der Lehre –, bundesweite Schüler- und
Jugendwettbewerbe, die Deutsche Schüler Akademie,
Medienprogramme und Medienprojekte im Schulbereich
sowie Internetportale im Bildungsbereich.
Bildung, Forschung und Technologie sind elementare
Voraussetzungen für ein zukunftsfähiges Europa. Sie be-
gründen Innovation für ein nachhaltiges Wachstum,
mehr Beschäftigung und den kulturellen und sozialen
Zusammenhalt. Vor dem Hintergrund der Frage nach der
Zukunft Europas und der angestrebten Wiederbelebung
des europäischen Verfassungsprozesses findet die deut-
sche Ratspräsidentschaft im Bereich der Bildung und
Forschung folgende übergreifende Rahmenbedingungen
vor: Lissabonstrategie zur Stärkung der Wettbewerbsfä-
higkeit Europas, 50 Jahre Römische Verträge am
25. März 2007, Start des Bildungsprogramms für lebens-
langes Lernen, verbunden mit einer größeren Synergie
zwischen nationalen und europäischen Maßnahmen,
Start des 7. Forschungsrahmenprogramms einschließlich
der Etablierung des Europäischen Forschungsrates,
ERC, und des Sicherheitsforschungsprogramms.
Deutschland wird die Ratspräsidentschaft 2007 nut-
zen, um die neuen EU-Rahmenprogramme in Bildung
und Forschung transparent und nutzerfreundlich zu im-
plementieren und Initiativen anzustoßen, die zu einem
nachhaltigen Ausbau eines global wettbewerbsfähigen
europäischen Raums der Bildung und Forschung führen.
Bildung ist der Schlüssel für individuelle Lebens-
chancen – die Chance auf kulturelle, wirtschaftliche und
soziale Teilhabe des Einzelnen. Dieser Erkenntnis fol-
gend erklärt sich die zentrale Rolle der Bildungspolitik
im Rahmen der Lissabonstrategie der EU: Die Summe
der individuellen Lebenschancen der Bürgerinnen und
Bürger in Europa entscheidet über die Wettbewerbsfä-
higkeit der europäischen Wirtschaft, den sozialen Zu-
sammenhalt in der Gesellschaft und nicht zuletzt über
das Zusammenwachsen der Mitgliedstaaten auf der Ba-
sis eines gemeinsamen Verständnisses von Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Werten. In diesem Selbstver-
ständnis und mit diesem bildungspolitischen Anspruch
werden wir die zentralen Handlungsfelder der europäi-
schen Bildungszusammenarbeit vorantreiben: Zu nennen
sind unter anderem die Bildungsprogramme SOKRA-
TES und LEONARDO. Mit dem Start des Programms
für lebenslanges Lernen unter deutscher Ratspräsident-
schaft ist die Grundlage geschaffen, diese Erfolgsge-
schichte fortzuführen und weiter auszubauen.
Zu diesem Anlass wird der deutsche Ratsvorsitz in
Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission am
6. und 7. Mai 2007 in Berlin eine große europäische
Startkonferenz durchführen. Das Programm Laufzeit
2007 bis 2013 unterstützt mit einem Budget von rund
7 Milliarden Euro die grenzüberschreitende Mobilität
von Lehrenden und Lernenden aller Bildungsstufen so-
wie die Zusammenarbeit von Bildungseinrichtungen aus
verschiedenen europäischen Ländern. Forderungen nach
Verankerung von Rechtsansprüchen auf Gebührenfrei-
heit von Bildung im Grundgesetz weist die CDU/CSU-
Fraktion zurück. Es entspricht nicht der Funktion und
dem Charakter des Grundgesetzes, konkrete monetäre
Rechtsansprüche des Bürgers gegenüber dem Staat fest-
zulegen. Die Konkretisierung erfolgt im Rahmen der
einfachen Gesetzgebung auf der Grundlage der jeweili-
gen Gesetzgebungskompetenz.
Die Gesetzgebungskompetenz für die Erhebung von
Studiengebühren liegt nach Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts bei den Ländern. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat gleichzeitig die sozialstaatliche Ver-
pflichtung der Länder in seinem Urteil vom 26. Januar
2005 betont. Das Urteil hat damit gleichzeitig deutlich
gemacht, dass das Sozialstaatsprinzip der Erhebung von
Gebühren im Bildungssystem nicht entgegensteht, so-
lange die Chancengleichheit durch angemessene soziale
Abfederung der Gebühren gewährleistet bleibt. Dem ist
nichts hinzuzufügen.
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Die Fraktion
Die Linke nimmt das Europäische Jahr der Chancen-
gleichheit zum Anlass, die Bundesregierung aufzufordern,
in Zusammenarbeit mit den Ländern und den Kommunen
einen Rat für Chancengleichheit im Bildungswesen ein-
zurichten. Der Antrag ist kurz, die Begründung mager,
der Vorschlag wohlfeil. Dieses Mal habe ich mich dabei
über einen Antrag der Fraktion Die Linke nicht nur ge-
wundert, sondern auch ein Gutteil geärgert. Denn was
hier so leichthin mal eben aufgeschrieben wird, verrät
wirklich nicht viel von gedanklicher Durchdringung und
konzeptioneller Anstrengung.
Schon der Anlass wirkt sehr vordergründig. Braucht
die Linkspartei ein Europäisches Jahr der Chancen-
gleichheit, um zu einem solchen Vorschlag zu kommen?
Soll dieser Rat für Chancengleichheit nur so lange wirk-
sam sein, wie das Europäische Jahr ausgerufen ist? Was
hat dieser Rat für Chancengleichheit eigentlich mit Eu-
ropa zu tun? Den Fragen hierzu ließen sich weitere fin-
den.
Auch die Herleitung der sozialen Begründung ist faden-
scheinig und unsauber aufgebaut. Natürlich trifft der
erste Satz der Analyse noch den Kern, nämlich dass in
keinem anderen vergleichbaren Land in Europa der Bil-
dungsstand so stark von der sozialen Herkunft abhängig
ist wie in der Bundesrepublik Deutschland, nur sind die
weiteren Erläuterungen dann doch sehr widersprüchlich
und fragwürdig. Sicherlich gibt es mehr Ursachen als
5942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
nur die Einstellung der Lernmittelfreiheit und die Ein-
führung der Studiengebühren, die zu einer Verschärfung
der sozialen Ungleichheit führen können. Die Debatte
um Bildungsarmut, die kürzlich auch im Bundestag
geführt worden ist, hat hierzu doch schon tieferes
Verständnis aufgezeigt, hinter das wir jetzt nicht zurück-
fallen sollten. Vollends ärgerlich werden dann aber Sätze
wie der folgende im Antrag der Linkspartei, dass die
Verschärfung der sozialen Ungleichheit vor allem chro-
nisch Kranke und behinderte Jugendliche im Bildungs-
system diskriminiere. Diese Gruppe der chronisch Kran-
ken und behinderten Jugendlichen soll zugleich, wie aus
der abschließenden Forderung des Antrags der Linken
hervorgeht, zu einem Schwerpunkt des angesprochenen
Rates für Chancengleichheit im Bildungswesen gemacht
werden.
Damit kein Missverständnis entsteht: Dass chronisch
Kranke und behinderte Jugendliche eine besondere Auf-
merksamkeit aller Beteiligten erfahren müssen, um im
Bildungssystem eben nicht diskriminiert, sondern inte-
griert, gefördert oder in ihren Möglichkeiten gestärkt zu
werden, ist ausdrücklich anzuerkennen und wird von der
SPD breit und nachhaltig unterstützt. Auch der Fraktion
Die Linke sollte nicht entgangen sein, dass es hierzu in
den letzten Jahren das ernsthafte Bemühen um deutliche
Verbesserungen gegeben hat, von der verstärkten und
verantwortlichen Frühförderung über die Einrichtung
von pädagogischen Zentren an den Förderschulen der
verschiedenen Art bis hin zu der Öffnung von Regel-
unterricht für die Integration von Kindern und Jugend-
lichen mit Behinderungen in Form von Integrationsklas-
sen, Integrationsgruppen und Ambulatorien. Dass es hier
immer noch zu weiteren Verbesserungsmöglichkeiten
kommen kann, steht gleichwohl außer Frage, außerdem
dass wir wachsam sein müssen in Bezug auf ein mögli-
cherweise nachlassendes Interesse, Verdrängungswett-
bewerbe, Beschneidung der besonderen Förderung die-
ser besonders betroffenen Kinder und Jugendlichen
durch konkurrierende Interessen und andere Prioritäten
in der Schule, wird hier im Hause sicherlich genauso von
allen Kräften geteilt.
Nur einen Rat für Chancengleichheit im Bildungswe-
sen speziell mit den Anliegen dieser Gruppe zu begrün-
den, wäre sicherlich sehr kurz gesprungen. Ich wage die
Hypothese: Zu einem anderen Zeitpunkt hätte die Frak-
tion Die Linke die besondere Zielsetzung eines solchen
Bildungsrates anhand der Jugendlichen mit Migrations-
hintergrund, zu einem zweiten Zeitpunkt anhand der
Kinder- und Jugendlichen aus sozialer Armut, zu einem
dritten Zeitpunkt mit Blick auf die bildungsfernen Mi-
lieus hergeleitet. Dieses Hochziehen ständig wechseln-
der Problemgruppen wird dem durchaus berechtigten
Anliegen der Fraktion Die Linke keineswegs gerecht,
dass das Bildungswesen in Deutschland wahrlich durch-
lässiger, unabhängiger von der sozialen Herkunft und
leistungsfähiger in Bezug auf die Förderung aller Kinder
und Jugendlicher werden muss. Um es polemisch zu sa-
gen: Dieses Problemgruppen-Hopping ist dem großen
und berechtigten Anliegen von mehr Chancengleichheit
nicht angemessen, ja unwürdig.
Es bleibt schließlich der entscheidende Punkt, wes-
halb wir von der Sozialdemokratie aus die schnell hinge-
schriebene Forderung nach einem Rat für Chancen-
gleichheit im Bildungswesen nur als wohlfeil und
politisch vordergründig ansehen können. Auch der Frak-
tion Die Linke wird bekannt sein, welche Ergebnisse bis
hin zu harten Auseinandersetzungen zwischen Bund und
Ländern die Föderalismusreform gehabt hat. Instru-
mente, an denen die auch von uns im Bundestag ge-
wollte gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern
und Kommunen für die Bildungsentwicklung jetzt anset-
zen kann, sind die Bildungsberichterstattung, die Bil-
dungsforschung und einige sehr konkrete Aufgaben, wie
wir sie beispielhaft mit dem Hochschulpakt aktuell dis-
kutieren und nach vorne bewegen. Passend zu dem Zeit-
punkt, da die Bund-Länder-Kommission, durchaus zum
Bedauern der Sozialdemokraten hier im Bundestag, vor
ihrer Auflösung steht, mag Die Linke hier noch einmal
eine alternative Duftmarke setzen wollen, nur wirklich-
keitsnah und strategisch ist dieses auch nicht.
Die Forderung nach einem solchen Bildungsrat ist
auch deshalb aktuell wohlfeil, weil es ja tatsächlich
schon einen Bildungsrat in der großen Reformzeit der
70er-Jahre aus der gemeinsamen Regierungsarbeit der
sozialliberalen Koalition und den damals noch aus Über-
zeugung oder Taktik aufgeschlossenen CDU-regierten
Ländern gegeben hat. Nur auch hier kennt die Fraktion
Die Linke den Verlauf der Geschichte; denn nach ersten
hoffnungsvollen Anstrengungen, die gemeinsam ergrif-
fen wurden, ist dieser Bildungsrat dann genauso schnell
als Institution ins Abseits gedrängt worden.
Schließlich bleiben die Erfahrungen mit dem Forum
Bildung, das sehr erfolgreich von der Bundesministerin
Edelgard Bulmahn am Anfang der rot-grünen Regie-
rungszeit eingerichtet worden ist und das im Wechsel-
spiel nicht zuletzt mit dem damaligen bayerischen Kul-
tusminister Zehetmair zu einer überzeugenden Reihe
von Ergebnissen gekommen ist, was Analyse, Hand-
lungsfelder und Lösungsvorschläge angeht. Die Schrif-
tenreihe aus diesem Forum Bildung steht durchaus
gleichberechtigt neben den Schriften aus dem damaligen
ersten Bildungsrat, die ja schon zu legendären analytisch-
programmatischen Bänden, wie dem über Begabung und
Lernen, geführt hat.
Und dennoch auch hier: Viel Papier kann geduldig
sein und immer neues Papier muss noch keinen Fort-
schritt erbringen. Die Bereitschaft in Deutschland, einen
Bildungsrat mit der notwendigen Weite der Aufgaben-
stellung, der Offenheit der Lösung wie der Verbindlich-
keit der Ergebnisse einzurichten, muss offensichtlich
noch wachsen. So schnöde kann Realpolitik sein. Aber
wir haben jetzt anzufangen und anzuknüpfen an den In-
strumenten der Bildungsberichterstattung, der Bildungs-
forschung, der gemeinsamen Arbeit von Bund und Län-
dern in der beruflichen Bildung, an den Hochschulen
sowie in der Weiterbildung, an der Verpflichtung von
Bund, Ländern und Kommunen zur Umsetzung solcher
konkreter Arbeitsansätze wie der Integration von zuge-
wanderten Kindern und Jugendlichen und ihren Familien,
die jetzt durch den Integrationsgipfel angestoßen worden
ist, der gemeinsamen und verbindlichen Verabredungen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5943
(A) (C)
(B) (D)
in der KMK und der Intensivierung der Zusammenarbeit
von Ländern mit Kommunen in regionalen Bildungs-
plänen, aus denen am Ende auch wieder ein nationaler
Bildungsplan und ein nationaler Bildungsrat erwachsen
können. Der Weg ist hier nicht das Ziel, aber ohne einen
solchen Weg wird man realistischerweise nicht zum Ziel
kommen können. Der Antrag der Fraktion Die Linke
liegt neben diesem Weg und führt deshalb auch nicht
zum Ziel. Wir lehnen eine solche Initiative zum jetzigen
Zeitpunkt deshalb ab.
Patrick Meinhardt (FDP): Chancengleichheit für
alle ist die ureigene Philosophie der Liberalen. Deswe-
gen ist ein „Europäisches Jahr der Chancengleichheit“
ein liberales Jahr. Wenn aber nach dem Willen der euro-
päischen Gremien dieses Jahr zugleich Auftakt des ers-
ten Jahres der Antidiskriminierungsrichtlinie sein soll,
werden wir Liberale hellhörig. Das Gesetz, für das Rote
und Schwarze auf der Grundlage der Koalitionsverein-
barungen von Rot-Grün im Jahre 2002 die Hände geho-
ben haben, ist nun wirklich kein Grund für ein eigenes
Jahr – außer einem Trauerjahr; denn dieses so genannte
Antidiskriminierungsgesetz hilft keinem. Nein, es ver-
schärft Diskriminierung in Deutschland. Wir erwarten
deshalb, dass der Etat der EU für dieses Europäisches
Jahr von 13,6 Millionen Euro nicht sinnlos für unge-
zielte Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit ausgegeben
wird.
Gemeinsam können wir feststellen, dass die Chancen
auf Bildung in Deutschland ungerecht verteilt sind. Die
soziale Herkunft bestimmt in deutschen Schulen zu stark
den Verlauf des persönlichen Bildungswegs. So weit teilt
die FDP die Bestandsaufnahme, danach hört sie aber
auch genau so schnell wieder auf. Richtig ist, dass Kin-
dergärten in Deutschland jahrzehntelang nicht als erste
Bildungseinrichtung gesehen wurden. Diese Fehler of-
fenbarten sich spätestens mit PISA I und II. Aus dem
Vergleich mit unseren Nachbarländern sollten die Bun-
desregierung und die Länder endlich wirkliche Schluss-
folgerungen ziehen. Die FDP-Bundestagsfraktion for-
dert, dass frühkindliche Bildung und Betreuung zu
einem politischen Schwerpunkt werden. Frühkindliche
Bildungsangebote sind eine wichtige Voraussetzung für
eine der zentralen Forderungen der FDP an die Bil-
dungspolitik: Die Chancen am Start müssen für alle
gleich sein, nicht jedoch die Ergebnisse am Ziel.
Frühkindliche Bildung ist auch notwendig, um Kin-
dern eine gezielte Förderung zu geben, die Deutsch nicht
als Muttersprache haben. So haben sie bei Schulantritt
die gleichen Chancen wie andere Kinder. Wir brauchen
verbindliche Sprachtests und anschließend gezielte För-
derung für alle Kinder. Denn gerade 25 Prozent der deut-
schen Kinder kommen mit erheblichen sprachlichen
Mängeln in die Grundschulen. Jahrzehntelang wurden
Kindergärten nur als Betreuungseinrichtung gesehen:
Dies ist mit verantwortlich dafür, dass Deutschlands Bil-
dung im internationalen Vergleich zurückgefallen ist.
Der Kindergarten muss endlich zur ersten Bildungsein-
richtung werden. Damit verbessern wir am effektivsten
die Ergebnisse von Schülern während der Schulzeit und
verbessern auch wesentlich die Bildungschancen von
Kindern von Migranten.
Entschieden weist die FDP die Feststellung zurück,
dass das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland für
die mangelnden Chancen verantwortlich ist. Diese Fest-
stellung hat ihren Ursprung wohl eher in Ihren Partei-
doktrinen als in aktuellen wissenschaftlichen Erhebun-
gen. Ich bin ein Fan einer Schullandschaft, die sich am
Talent orientiert und nicht an Parteiideologien. Unter
den PISA-Spitzenreitern finden sich mit den Niederlan-
den und Südkorea gleich mehrere Länder, die ihre Schü-
ler keineswegs nur in Einheitsschulen schicken. Gerade
bei den Niederlanden fällt auf, dass es dort eine Vielfalt
der Schulen gibt und sich die Schulen durch eine große
Selbstständigkeit auszeichnen. Das ist die eigentliche
Botschaft: Nicht Bundeszentralismus, nicht Landeszen-
tralismus, sondern selbstständige Schulen vor Ort sind
für unsere Bildungslandschaft das richtige Zeichen. Je
weniger Bürokratie von oben kommt, je mehr Freiheit
wir den Schulen vor Ort einräumen, desto mehr erhöhen
wir die Chancen jedes einzelnen Schülers. Vielfalt und
Wettbewerb um die besten Köpfe sichern einerseits die
Qualität der Bildungslandschaft und andererseits die op-
timale Betreuung und Bildung für jeden Einzelnen.
Frei werdende Mittel im Bildungsbereich, die durch
sinkende Schülerzahlen entstehen, müssen in den Bil-
dungshaushalten bleiben und konsequent in eine Verbesse-
rung der frühkindlichen Bildung, ein Qualitätsprogramm
für Hauptschüler und in eine offensive Weiterbildung in-
vestiert werden. Klar muss auch sein: Jeder Schritt zu
mehr integrativer Bildung ist richtig. Immer mehr behin-
derte und nichtbehinderte Jugendliche sollen gemeinsam
unterrichtet werden. Sowohl die FDP-Bundestagsfrak-
tion als auch die ALDE-Fraktion unterstützen ein wirkli-
ches Jahr für Chancengleichheit.
Die von Ihnen in Ihrem Antrag eingeforderten Maß-
nahmen und Förderprogramme sind ein weiteres Bei-
spiel für linken Aktionismus ohne Konzept. Ihr Rat für
Chancengleichheit ist so überflüssig wie ein Kropf. Ihr
Vorschlag erinnert mich an den alten Spruch: „Und wenn
man nicht mehr weiter weiß, gründe einen Arbeitskreis!“
Bedauerlich, nein vielmehr schädlich sind Vorbehalte
gegen private Bildungseinrichtungen. Gerade im sonder-
pädagogischen Bereich arbeiten Schulen in privater Trä-
gerschaft mit viel Leidenschaft, Kompetenz und En-
gagement. Wir Liberale glauben, dass ein Mehr an
Vielfalt durch private Bildungsträger auch ein Mehr an
Bildung mit sich bringt. Europa und Deutschland haben
bei der Dienstleistungsrichtlinie leider nicht den Mut ge-
habt, wirkliche Angebotsvielfalt bei Bildungseinrichtun-
gen zu schaffen. Und trotzdem gilt: Der Lissabonprozess
ist richtig. Das Ziel ist richtig, die EU innerhalb von
zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischs-
ten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Europa muss
ein dynamischer Wissenschafts- und Bildungsraum wer-
den – durch weniger Bürokratie, weniger Richtlinien,
weniger Vorurteile und mehr Vielfalt, mehr Selbststän-
digkeit und mehr Freiheit.
5944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Das bundesrepubli-
kanische Bildungssystem weist einen der höchsten Zu-
sammenhänge zwischen Bildungserfolg und sozialer
Herkunft auf. Dieser Missstand wurde durch Studien wie
PISA oder die Kritik des UN-Sonderberichterstatters für
das Recht auf Bildung auch einer breiteren Öffentlich-
keit bekannt. Anstatt jedoch Maßnahmen zu entwickeln,
die diesen Missstand aufheben, schieben Bund, Länder
und Kommunen sich gegenseitig die Verantwortung für
die Misere zu. Auch bei den auf europäischer Ebene ge-
troffenen Vereinbarungen zur Bildungspolitik steht die
soziale Dimension im Hintergrund.
Die Fraktion Die Linke hält das für falsch. Wir for-
dern, dass Bund und Länder gleichermaßen ihre Bil-
dungspolitik an dem Ziel orientieren, soziale Ungleich-
heit in allen Bildungsphasen abzubauen und soziale
Durchlässigkeit zu erhöhen.
Bisher geht die Politik von Bund und Ländern statt-
dessen in die entgegengesetzte Richtung: In den Ländern
wird die Lernmittelfreiheit aufgehoben, mit großer Ve-
hemenz wird am gegliederten Schulsystem festgehalten
und konkrete Schritte hin zu einem quantitativen und
qualitativen Ausbau der frühkindlichen Bildung stehen
auch noch viel zu selten auf der Tagesordnung. An den
Hochschulen werden in immer mehr Bundesländern all-
gemeine Studiengebühren eingeführt.
Auch der Bund nimmt seine Verantwortung für eine
soziale Entwicklung des Bildungssystems nicht wahr.
Unter anderem wird schon seit Jahren ein Ausbau der
BAföG-Förderung verschleppt. Ein zweites Beispiel ist
die Zulassung zu den Hochschulen. In ihrem Koalitions-
vertrag hatten sich Bund und Länder noch darauf ver-
ständigt, dass ein Berufsabschluss grundsätzlich als
Hochschulzugangsberechtigung anerkannt werden soll.
Das wäre ein wichtiger Schritt hin zu mehr sozialer
Durchlässigkeit. Auf unsere Nachfrage an die Bundesre-
gierung zum Stand dieses Vorhabens, erhielten wir nun
allerdings die Auskunft, dass der Bund sich dafür nicht
zuständig fühle und die Länder sich stattdessen darum
kümmern sollten. Wir halten das für falsch. Der Zugang
sollte bundeseinheitlich geregelt werden. Es ist nicht ak-
zeptabel, dass die Bundesregierung sich ausgerechnet
von den wenigen sinnvollen Vorhaben des Koalitions-
vertrages verabschiedet.
Die Vereinbarung zu einem „Europäischen Jahr der
Chancengleichheit für alle“ in der Europäischen Union
steht in einem merkwürdigen Kontrast zu der übrigen
Politik. Die auf europäischer Ebene im Rahmen der Me-
thode der offenen Koordination und auf Grundlage der
Lissabonstrategie getroffenen Vereinbarungen zur Bil-
dungspolitik leisten bisher keinen Beitrag zum Abbau
von sozialer Ungleichheit. Bildung wird primär unter
ökonomischen Verwertbarkeitsaspekten und weniger als
ein zu garantierendes Grundrecht betrachtet. Bildungs-
privatisierungen werden von der EU-Kommission aus-
drücklich begrüßt. Damit verschärft sich soziale Aus-
grenzung.
Diese Entwicklung geht zulasten der großen Mehrheit
der Bevölkerung. Auf die Gestaltung der Bildungspolitik
können die Betroffenen selbst bisher kaum Einfluss neh-
men. Wir fordern deshalb, dass das „Europäische Jahr
der Chancengleichheit für alle“ von der Bundesregie-
rung zum Anlass genommen wird, um endlich einen
breiteren gesellschaftlichen Diskurs über Ziele und
Struktur unseres Bildungssystems anzustoßen. Dabei
sollen allen voran die Interessenvertretungen der Schüle-
rinnen und Schüler, Auszubildenden, Studierenden und
der Beschäftigen in die bildungspolitische Diskussion
einbezogen werden. Ziel sollte es sein, bildungspoliti-
sche Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die dazu bei-
tragen, das Recht auf Bildung zu realisieren.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das Europäische Jahr der Chancengleichheit
kann und soll zum Anlass genommen werden, die Bil-
dungspolitik in den Mittelpunkt zu stellen. Denn der Zu-
gang zu sozialer Teilhabe, zu Ausbildung und Arbeits-
welt kann entscheidend durch Bildung befördert werden.
Dies sollten wir auch im Zuge der aktuellen Debatte über
„neue Armut“ immer wieder deutlich machen.
Ebenso wichtig ist Bildung für den sozialen Zusam-
menhalt in unserer Gesellschaft, für die persönliche Ent-
wicklung und für die demokratische Mitwirkung eines
und einer jeden Einzelnen. Die Politik hat daher die Auf-
gabe, gleiche Chancen für alle beim Zugang zu Bildung
zu schaffen und der Ausgrenzung entgegenzuwirken.
Insbesondere Benachteiligungen im Bildungswesen auf-
grund von Behinderung oder Krankheit muss die Politik
strukturell bekämpfen. Was der von der Linksfraktion
geforderte „Rat für Chancengleichheit im Bildungs-
wesen“ in Deutschland in diesem Zusammenhang leisten
soll, ist uns allerdings mehr als schleierhaft. Wenn ich
die Forderung nach einem solchen Rat höre, fällt mir un-
willkürlich ein: Wenn du nicht mehr weiterweißt, gründe
einen Arbeitskreis.
Natürlich ist es richtig, dass das deutsche Bildungs-
wesen überprüft und auf Chancenungleichheit abge-
klopft werden muss. Aber diese Evaluation des Bil-
dungssystems erfolgt doch bereits. Seit Jahren zeigen
uns internationale und nationale Studien wie TIMSS,
PISA, PISA-E oder IGLU die Stärken und Schwächen
des deutschen Bildungssystems. Es gibt das Institut für
Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, das mit Hoch-
druck an der Einführung von Bildungsstandards arbeitet
und Lehrerfortbildung sowie Schulevaluation unter-
stützt. Nicht zuletzt haben wir die Ergebnisse der von
Bund und Ländern in Auftrag gegebenen nationalen Bil-
dungsberichterstattung. Der dieses Jahr vorgelegte Be-
richt mit dem Schwerpunkt „Migration“ macht ja auch
noch einmal deutlich, wo wir in Deutschland noch Pro-
bleme mit der Chancengleichheit für diese spezielle
Gruppe haben.
Hinsichtlich der nationalen Berichterstattung ist übri-
gens nicht unwichtig zu erwähnen, dass das zuständige
Konsortium unabhängig ist. Die Besetzung wurde nicht
zwischen Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat „aus-
gedealt“. Die Linksfraktion fordert nun aber mit ihrem
Rat für Chancengleichheit genau ein solches politisch
zusammengesetztes Organ, das von Bundestag und
Bundesrat den Segen erhalten soll. Dem können wir
nicht zustimmen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5945
(A) (C)
(B) (D)
Politische Schlussfolgerungen aus den Bildungs-
berichten muss natürlich die Politik ziehen. Es ist daher
gut, dass Anfang nächsten Jahres im Ausschuss für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung eine
Anhörung zur Bildungsberichterstattung stattfinden
wird. Vielleicht kommen wir dann als Konsequenz aus
dieser Anhörung zu der Forderung, den nächsten
Schwerpunkt der nationalen Bildungsberichterstattung
auf das Thema „Inklusion“ zu legen. Die Fraktionen
könnten dann der Regierung den Auftrag geben, dass sie
dies mit der Kultusministerkonferenz vereinbart.
Es ist richtig, dass die Schlussfolgerungen aus der
Bildungsberichterstattung schließlich in bildungspoliti-
sche Maßnahmen münden müssen, wie es Die Linke in
ihrem Antrag formuliert. Doch leider hat die große Ko-
alition durch die Föderalismusreform den Gestaltungs-
spielraum des Bundes sehr stark eingeschränkt. Die
Bundesseite hat keine Chance mehr, Programme zu ent-
wickeln, um das Bildungssystem zu verbessern. Erst am
Montag wurde die Auflösung der Bund-Länder-Kom-
mission für Bildungsplanung, BLK, beschlossen. Es ist
aus unserer Sicht mehr als fraglich, was der von der Lin-
ken geforderte Rat an dieser Situation ändern könnte.
Natürlich ist es weiterhin nötig, über öffentliche Dis-
kussion, politischen Druck und die Unterstützung der
Bildungsforschung von Bundesseite Defizite aufzu-
zeigen und Reformen im Bildungswesen anzumahnen.
Dafür muss aber kein neu gegründetes Gremium zustän-
dig sein.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes (Ta-
gesordnungspunkt 18)
Günter Baumann (CDU/CSU): Bündnis 90/Die Grü-
nen gehen bei ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des
Staatsangehörigkeitsrechtes von einer völlig falschen
Grundannahme aus: Für Sie, Bündnis 90/Die Grünen,
geht die Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit
einher mit einer automatischen Integration. Jedoch eine
Erleichterung zum Zugang der deutschen Staatsangehö-
rigkeit bedeutet eben nicht eine gleichzeitige Integration
jener ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Dies bewies uns der Schiffbruch des Multikultiansat-
zes Ihrer Partei, nachdem die Integration jahrzehntelang
als Selbstläufer betrachtet wurde. Das Nebeneinander-
Leben in einer Gesellschaft bedeutet mitnichten ein Mit-
einander-Leben. Diese Erkenntnis, dass Multikulti ins-
besondere in den deutschen Großstädten gescheitert ist,
muss sich auch bis zu den Grünen herumgesprochen ha-
ben. Die Grünen waren doch schon mit Ihrer Politik in-
aktiv in Integrationsfragen unter der vorangegangenen
Regierung. Erneut begehen Sie mit diesem Gesetzent-
wurf den Fehler, anzunehmen, dass dauerhaft hier le-
bende Migranten automatisch integriert wären.
Schon allein unter dem Aspekt der inneren Sicherheit
Deutschlands kann man ihrem Vorhaben nicht zustim-
men. In der heutigen Bedrohung durch den internationa-
len Terrorismus, der, wie wir seit Ende Juli – versuchte
Kofferbombenattentate – wissen, auch nicht vor Deutsch-
land Halt macht, brauchen wir genaue gesetzliche Rege-
lungen, wer für den Erhalt einer deutschen Staatsbürger-
schaft infrage kommt. Hierzu gehören eben auch die
Einschränkungen, die das Staatsangehörigkeitsgesetz
vom 1. Januar 2005 macht.
Mit Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie zum Beispiel die
vollständige Aufhebung des Grundsatzes der Vermei-
dung von Mehrstaatigkeit oder zumindest eine generelle
Hinnahme der Mehrstaatigkeit bei bestimmten Gruppen
erreichen. Darüber hinaus schlagen die Kolleginnen und
Kollegen des Bündnisses 90/Die Grünen im Falle der
nicht generellen Aufhebung der Vermeidung der doppel-
ten Staatsangehörigkeit eine höchst interessante Verän-
derung vor. Mehrstaatigkeit soll, erstens, innerhalb der
Europäischen Union nicht mehr von der Gegenseitigkeit
abhängig gemacht werden und, zweitens, auch „assozi-
ierte Staaten“, deren Assoziationsverhältnis auf einen
Beitritt in die EU gerichtet ist, in den gleichen Genuss
bringen.
Hierbei haben Sie gleich zwei Problemfelder miss-
achtet: Erstens. Die Beitrittskandidaten für die EU sind
eben noch keine Mitgliedstaaten der Europäischen
Union und können deshalb nicht die gleichen Privilegien
nutzen wie Staaten, die den Schengenstatus sicher ein-
halten. Außerdem hat sich innerhalb der EU-Staaten das
Prinzip der Gegenseitigkeit bewährt. Zweitens. Durch
diese angedachte Regelung wird dem Missbrauch von
Staatsangehörigkeiten Tür und Tor geöffnet. Mittels des
Grundsatzes der Vermeidung der Mehrstaatigkeit will
der Gesetzgeber verhindern, dass sich die Bürgerinnen
und Bürger nur ihre Vorteile aus der einen oder anderen
Staatszugehörigkeit ziehen; denn mit der Einbürgerung
hat man wie alle anderen deutschen Staatsbürger nicht
nur Rechte, sondern auch Pflichten. Es würde dem
Gleichheitsgrundsatz widersprechen, wenn sich ein
Staatsbürger seiner Pflichten durch eine zweite Staatszu-
gehörigkeit eines anderen Landes entledigen kann.
Weiterhin begehen die Grünen, wie eingangs schon
erwähnt, immer wieder den gleichen Fehler. Sie gehen
davon aus, dass ein Migrant mit Niederlassungserlaubnis
schon voll integriert wäre, da er schon seit mindestens
fünf Jahren im Land ist. Aus dieser Überzeugung wollen
Sie die Prüfung der Sprachkenntnisse, die für eine Ein-
bürgerung Voraussetzung ist, für über 54-Jährige, die
seit mindestens 15 Jahren in Deutschland leben und für
unter 14-Jährige, die hier die Schule besuchen, abschaf-
fen. Hierbei lassen Sie aus der jüngsten Vergangenheit
gewonnene Erkenntnisse völlig außer Acht. Ein 15-jäh-
riges Verweilen in Deutschland setzt nicht automatisch
genügend deutsche Sprachkenntnisse voraus. Wenn je-
ner ausländische Mitbürger in einem „geschlossenen
System“ lebt, bei dem er nie Deutsch sprechen muss,
dann kann man nicht behaupten, dass genügend Sprach-
kenntnisse vorliegen. Den großen Integrationsbedarf
verdeutlicht auch die Jahresbilanz des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge für das Jahr 2005, dass fast
5946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
die Hälfte der Teilnehmer an Integrationskurse in Abso-
lutzahlen 54 050, schon länger in Deutschland leben und
den Antrag auf besonderen Integrationswillen beim
BAMF selbst gestellt haben.
Die zweite Kritik an Ihrem Vorschlag ist, dass unter
14-jährige, die auch hier in Deutschland die Schule be-
suchen, nach Ihrem Dafürhalten genügend Deutsch-
kenntnisse besitzen und deshalb keine Sprachprüfung
ablegen müssen. Diese Annahme ist angesichts der Er-
fahrungen aus den letzten Wochen und Monaten völlig
haltlos. Der Integrationsgipfel hat verdeutlicht, dass Kin-
der und Jugendliche mit Migrationshintergrund weniger
Chancen auf gute Bildung und Lehrstellen haben, da sie
nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Spra-
che verfügen. Weiterhin hat der Integrationsgipfel die
Schlüsselposition der deutschen Sprache in der Integra-
tion hervorgehoben. Somit läuft diese Forderung völlig
konträr zu den derzeitig geplanten und angeschobenen
Maßnahmen zu einer Verbesserung der Chancen für
diese Kinder und Jugendlichen. Denn eines muss auch,
den Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grü-
nen klar sein: Die Erlangung der Staatsangehörigkeit
steht am Ende eines erfolgreichen Integrationsprozesses
und sollte nicht als Geschenk im Voraus wahllos verteilt
werden.
Anhand des Evaluierungsberichtes des Bundesminis-
teriums des Innern zu dem am 1. Januar 2005 in Kraft
getretenen Zuwanderungsgesetzes hat sich das Staatsan-
gehörigkeitsrecht auch im Zusammenhang mit der auto-
matischen Aberkennung der deutschen Staatsbürger-
schaft bei Wiederannahme einer anderen bewährt. Somit
ist die von den Grünen geschilderte Fallkonstellation
nicht nachvollziehbar. Denn es war auf Grundlage des
Staatsangehörigkeitsgesetzes nicht unklar, dass im Falle
einer Annahme einer anderen Staatsbürgerschaft die
deutsche automatisch erlischt. Des Weiteren kann man
den Vorschlag, dass erst bei Erkenntnis der Behörden
über die Annahme einer anderen Staatsangehörigkeit die
deutsche erlischt, nicht unterstützen, da diese Vorge-
hensweise dem Prinzip der Mehrstaatigkeit entsprechen
würde.
Schon allein diese angeführten Punkte zeigen, dass
Ihr Vorschlag unausgegoren und damit nicht zustim-
mungsfähig ist. Wir wollen in Deutschland keine Paral-
lelgesellschaft verfestigen, sondern Integration in eine
Gesamtgesellschaft fördern. Dazu gehören eben auch
bestimmte Voraussetzungen für den Erwerb einer Staats-
angehörigkeit um Mitglied in dieser Gesamtgesellschaft
werden zu können. Die Integration ist als Angebot des
Staates zu verstehen; aber es ist auch die Pflicht jedes
einzelnen Antragstellers, für die Anerkennung der deut-
schen Staatsbürgerschaft diese Angebote wahrzunehmen
und sich in unser Land zu integrieren. Somit denke ich,
dass diese Voraussetzungen durch das Staatsangehörig-
keitsgesetz vom 1. Januar 2005 gerecht gefasst worden
sind.
Rüdiger Veit (SPD): Zu diesem Gesetzentwurf will
ich hier und heute nur in wenigen Beispielen mit drei
Bemerkungen Stellung nehmen.
Erstens. Sie schlagen unter anderem vor, Flüchtlingen
nach lediglich drei Jahren Aufenthaltszeit im Bundesge-
biet den Rechtsanspruch für den Erwerb der deutschen
Staatsangehörigkeit einzuräumen. Dies ist für mich nicht
nachvollziehbar; denn wir haben gerade mit dem Zu-
wanderungskompromiss erst erreicht, dass Asylberech-
tigte und GfK-Flüchtlinge nach dreijährigem Aufenthalt
den Anspruch auf den dauerhaften Status einer Nieder-
lassungserlaubnis haben. Diesen Personenkreis stattdes-
sen nach drei Jahren gleich einzubürgern wäre system-
widrig und eine sachliche Begründung vermag ich nicht
zu erkennen.
Zweitens. Einige Ihrer Vorschläge werden auch von
der jetzigen Koalition bei dem Richtlinienumsetzungs-
gesetz sowieso schon ganz oder teilweise aufgegriffen.
Dabei handelt es sich zum Beispiel um die Hinnahme
von Mehrstaatigkeit hinsichtlich der Mitgliedstaaten der
EU und der Schweiz – konsequenterweise auch mit Aus-
wirkungen auf den Verlusttatbestand des § 25 StAG –,
aber auch um eine dringend erforderliche umfassende
Härtefallklausel für die Anforderung ausreichender
Sprachkenntnisse, und zwar nicht nur, wie von Ihnen
vorgeschlagen, für die über 54-Jährigen.
Eine solche Härtefallklausel ist im Übrigen umso not-
wendiger, als die Innenministerkonferenz der Bundes-
länder am 4./5. Mai 2006 eine Anhebung des Sprach-
niveaus auf die Orientierung am Ziel B 1 des
Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens, GER,
vorschlägt. Politisch wichtig ist in diesem Zusammen-
hang, darauf hinzuweisen, dass dieser Vorschlag der In-
nenministerkonferenz nicht strikt am Bestehen des
Sprachtests auf dem Niveau B 1 anknüpft, sondern ganz
bewusst den Begriff der Orientierung verwendet und so-
mit mehr das Ziel, aber keinen harten Ausschlussgrund
formuliert hat.
Ferner soll vorgesehen werden, dass bei besonderen
Integrationsleistungen die Mindestfrist für den Erwerb
der deutschen Staatsbürgerschaft von bisher sieben auf
dann sechs Jahre verkürzt wird. Zumindest für eine
kleine Gruppe wird damit auch dem Ziel Ihres Gesetz-
entwurfes einer regelmäßigen Abkürzung auf sechs statt
acht Jahren Rechnung getragen werden können.
Drittens. Ihr Gesetzentwurf mit weiteren Vorschlägen
zur Hinnahme von Mehrstaatigkeit, vor allem aber zur
Streichung der so genannten Optionslösung im § 29 StAG,
enthält Ziele, zu deren Realisierung 1999 die Kraft der
rot-grünen Koalition hier im Bundestag nicht ausge-
reicht hat. Bekanntlich mussten im damaligen Verfahren
zur umfassenden Reform des Staatsangehörigkeitsrechts
erhebliche Zugeständnisse an die unionsregierten Länder
im Bundesrat gemacht werden. Da können dann aber
weder Sie noch ich – so sehr wir dies auch bedauern mö-
gen – erwarten, dass heute eine schwarz-rote Mehrheit
im Bundestag den damals gefundenen Kompromiss voll-
ständig wieder aufknotet. Man mag manches zwar sach-
lich für notwendig oder politisch für wünschenswert hal-
ten, man sollte dabei jedoch stets auf dem Boden der
Realität des derzeit politisch Machbaren bleiben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5947
(A) (C)
(B) (D)
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Der Antrag der
Grünen mutet wie ein Überständer aus der guten alten
Zeit der Multikulti-Ideologie an. Die Diskussion um die
Probleme der Integration, wie sie in den letzten fünf Jah-
ren in ganz Europa geführt worden ist, haben die Grünen
tapfer ignoriert. Die Grünen verschließen sich einer ver-
nünftigen Debatte nach dem Motto: mehr Fundis, weni-
ger Realos.
Die Grünen fordern die Abschaffung des Options-
modells. Die Auswertung der Erfahrungen mit dem Op-
tionsmodell wollen die Grünen gar nicht erst abwarten.
Für in Deutschland aufgewachsene junge Menschen ist
es nach Auffassung der Grünen nicht zumutbar, sich bei
Volljährigkeit für die deutsche Staatsangehörigkeit zu
entscheiden. Sie halten auch die Mehrstaatigkeit für hin-
nehmbar. Emotionale Bindungen ans Herkunftsland ei-
nes Migranten sollen in Form der Staatsangehörigkeit
beibehalten werden können und zusätzlich soll die deut-
sche Staatsangehörigkeit möglich sein.
Diese Verknüpfung von emotionalen Bindungen und
Staatsangehörigkeit ist sachfremd. Vielmehr ist es not-
wendig, dass sich auch Migranten der Realität stellen:
Integration in die deutsche Gesellschaft kann nur gelin-
gen, wenn man sich mit gleichen Rechten und Pflichten
wie die anderen Staatsbürger in die deutsche Gesell-
schaft integriert und dazu steht.
Doppelstaatsangehörigkeit ist, außer in Sonderfällen,
zum Beispiel bei Kindern aus binationalen Ehen, durch-
aus problematisch. Sie kann die Integration behindern,
wenn Migranten mit Doppelstaatsangehörigkeit dem Irr-
tum verfallen, man könne politisch und kulturell zwei
Nationen gleichzeitig angehören. Migrantenschicksale
zeigen oft, dass dies eben nicht möglich ist. Wer weder
ganz hier sein noch ganz dort bleiben will, ist nirgendwo
als gleichberechtigter Mitbürger akzeptiert – ganz unab-
hängig vom formalrechtlichen Status. Die Staatsangehö-
rigkeit sollte für Migranten genauso eindeutig entschie-
den sein wie für geborene Mitbürger.
Die Grünen möchten die Fristen für die Einbürgerung
generell verkürzen. Sie möchten den Erwerb der deut-
schen Staatsangehörigkeit möglichst billig machen. Da-
mit sinkt der Wert dieser Staatsangehörigkeit für die, die
sie haben, und die, die sie bekommen sollen. Die Ab-
sicht der Grünen ist Ausdruck von mangelndem staats-
bürgerlichen Selbstwertgefühl. Offensichtlich halten die
Grünen die deutsche Staatsangehörigkeit nicht für son-
derlich wertvoll.
Die Grünen folgen mit ihrer Politik der irrigen Vor-
stellung, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht seien ein
Mittel der Integration. Gerade beim Wahlrecht wird
deutlich, dass Voraussetzung für demokratische Partizi-
pation die Teilnahmemöglichkeit am gesellschaftlichen
Diskurs ist. Dafür ist die deutsche Sprachkompetenz es-
senziell. Deshalb muss die Staatsangehörigkeit Resultat
der Integration sein. Wird nicht integrierten Migranten
die Staatsangehörigkeit verliehen, wird lediglich der Zu-
sammenhalt der Gesellschaft der Staatsbürger untergra-
ben. Ein Anreiz zur Integration kann davon nicht ausge-
hen.
Eine Einbürgerung nach vier oder gar drei Jahren, wie
die Grünen sie fordern, wird natürlich Folgen haben. Ich
frage mich aber, ob die Grünen das wollen. Durch eine
solche unkritische und massive Einbürgerungspraxis
wird sich das Werte-Koordinatensystem unserer Gesell-
schaft massiv verschieben. Es ist nicht unwahrschein-
lich, dass dies – besonders örtlich – zu einer Verände-
rung der Rolle der Frau, zur Zurückdrängung der
Freiheit der Meinungsäußerung zugunsten des Schutzes
der Religionsausübung und auch zu einer sprachlichen
Desintegration unserer Gesellschaft führen wird. Die
Gefahr von Parallelgesellschaften wächst. Die Grünen
scheinen das ausdrücklich zu wollen, etwa indem sie
Kinder unter 14 Jahren von der Überprüfung der Sprach-
kenntnisse ausnehmen wollen.
Bei allen wohlmeinenden Bemühungen um das Ab-
senken von Hürden zur Zuerkennung staatsbürgerlicher
Rechte an Migranten sollten wir die Menschen nicht aus
den Augen lassen, die bisher deutsche Staatsangehörige
sind. Eine Einbürgerungsregelung, die von weiten Teilen
der Bevölkerung nicht akzeptiert wird, stärkt keinesfalls
die Akzeptanz von Migranten. Das allerdings wäre kon-
traproduktiv und hilft auf dem Weg zu wirklicher Integra-
tion von Migranten in unsere Gesellschaft nicht weiter.
Die Vorschläge der Grünen würden den bisherigen
Grundfehler deutscher Zuwanderungs- und Integrations-
politik verschärfen. Dieser Fehler ist die Ignoranz, also
so zu tun, als gäbe es keine Probleme bei der Integration
und als gäbe es keine Anforderungen und keine Werte in
der deutschen Gesellschaft, die zu bewältigen, zu beher-
zigen oder abzuverlangen sind.
Deutschland hat in seiner Zuwanderungspolitik sich bis
heute den Luxus erlaubt, das Gegenteil von dem zu tun,
was die erfolgreichen Zuwanderungsländer praktizieren,
nämlich Steuerung der Migration durch Berücksichtigung
der Qualifikation von Zuwanderern, Berücksichtigung des
eigenständigen Erwerbs des Lebensunterhalts, Überprü-
fung der sprachlichen Kompetenz und Verpflichtung auf
die Verfassung.
Die Grünen haben die Diskussion der letzten fünf
Jahre zum Thema „Toleranz durch Wegschauen“ ver-
schlafen und wollen tapfer den Weg forcieren, der über-
haupt erst in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden
und anderswo die Integrationsprobleme verursacht hat.
Die FDP lehnt diesen Antrag ab.
Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): Wir debattieren den
Gesetzentwurf der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts leider
zu dieser späten Abendstunde. Ich finde dies bedauer-
lich, da es sich um ein äußerst wichtiges Thema handelt,
das die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenle-
bens in Deutschland mehr als stark berührt.
Die Fraktion Die Linke will die bestehenden Pro-
bleme, auf die ich näher eingehen werde, im Interesse
der Betroffenen lösen. Eine rein parteipolitische Kontro-
verse mit gegenseitigen Schuldzuweisungen hilft den
Betroffenen nicht weiter. Davon bin ich zutiefst über-
zeugt.
5948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Wie der Gesetzentwurf der Grünen exemplarisch ver-
deutlicht, weist das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht
erhebliche Defizite auf. Es ist für einen demokratischen
Rechtsstaat schlichtweg inakzeptabel, dass rund sieben
Millionen Menschen, die hier zum Teil schon seit meh-
reren Jahrzehnten leben oder sogar hier geboren wurden,
noch immer unter den Sonderstatus eines „Ausländers“
fallen. Hinzu kommt, dass durch die Staatsangehörig-
keitsreform im Jahr 2000 die tatsächlichen Einbürge-
rungsmöglichkeiten insbesondere für die erste und
zweite Einwanderergeneration massiv erschwert wur-
den. Dies wird durch die Einbürgerungsstatistik eindeu-
tig belegt. Seit Mitte der 90er-Jahre wurden durch-
schnittlich zwischen 200 000 und 300 000 Personen pro
Jahr eingebürgert. Mit dem In-Kraft-Treten des neuen
Staatsangehörigkeitsrechts sank dagegen die Zahl der er-
folgten Einbürgerungen von 186 688 im Jahr 2000 auf
lediglich 117 241 Personen im Jahr 2005. Dies bedeutet
im genannten Zeitraum einen Rückgang von 37 Prozent.
Die Ursache dieser fatalen Entwicklung ist, dass man
von den Einbürgerungsbewerbern verlangt, ihre ur-
sprüngliche Staatsbürgerschaft aufzugeben. Wie Ihnen
bekannt ist, verliert nach § 25 Abs. 1 Staatsangehörig-
keitsrecht, StAG, seit dem 1. Januar 2000 ein in Deutsch-
land lebender deutscher Staatsangehöriger automatisch
die deutsche Staatsangehörigkeit immer dann, wenn der
oder die Eingebürgerte eine ausländische Staatsangehö-
rigkeit freiwillig oder auf Antrag annimmt und keine
Beibehaltungsgenehmigung vorliegt. Das ist völlig para-
dox; denn so verlieren auch diejenigen ihre Staatsbürger-
schaft, die vor dem In-Kraft-Treten des neuen Gesetzes
die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten und den Rück-
erwerb der alten Staatsbürgerschaft beantragt haben,
diese jedoch erst nach dem Jahr 2000 wiedererlangten.
Hiervon sind laut Schätzungen rund 50 000 Doppelstaat-
ler türkischer Herkunft sowie möglicherweise mehrere
Tausend Einwanderer jüdischen Glaubens betroffen. Ihr
Aufenthaltsstatus verschlechtert sich aufgrund dieser
Regelung massiv.
Die deutsche Politik muss sich der damit verbunde-
nen menschlichen Probleme und Ängste unverzüglich
annehmen. Die Fraktion Die Linke, fordert deshalb mit
Nachdruck, dass alle ehemaligen Deutschen ausländi-
scher Herkunft, die aufgrund dieser Neuregelung die
deutsche Staatsangehörigkeit verloren haben, automa-
tisch ihren alten, gesicherten Aufenthaltsstatus umge-
hend zurückerhalten. Dieser Personenkreis muss dann
ohne erneute Prüfungsverfahren und Gebühren wieder
eingebürgert werden. Darüber hinaus ist in der Einbürge-
rungspolitik ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel
dringend notwendig. Die Fraktion Die Linke fordert,
dass das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht dahin ge-
hend überarbeitet und vereinfacht wird, dass alle in
Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshinter-
grund nach Erfüllung bestimmter Kriterien die deutsche
Staatsbürgerschaft erhalten. Bei der ersten und zweiten
Einwanderergeneration ist die Beibehaltung der ur-
sprünglichen Staatsbürgerschaft zu tolerieren. Von dieser
Personengruppe sollten – wie vor dem Jahr 2000 – nur
„einfache“ deutsche Sprachkenntnisse nachgewiesen
werden müssen. Die Beibehaltung der alten Staatsange-
hörigkeit darf in Deutschland nicht mehr länger ein Ein-
bürgerungshindernis sein.
Eine erleichterte Einbürgerung ist in der Tat der ent-
scheidende Faktor, ob Integration gelingt oder nicht. Erst
durch den Erhalt der vollen Bürgerrechte werden diese
kulturellen Minderheiten zu gleichberechtigten Bürge-
rinnen und Bürgern. Das ist nicht nur recht und billig,
sondern ein Gebot des demokratischen Rechtsstaats.
Dies würde den solidarischen Zusammenhalt in unserer
Gesellschaft stärken sowie die rechtliche und politische
Ausgrenzung von Menschen nicht deutscher Herkunft
verhindern.
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes
durch die rot-grüne Koalition war ein entscheidender ge-
sellschaftspolitischer Fortschritt, mit dem das Recht an
die elementaren Notwendigkeiten eines Einwanderungs-
landes angepasst wurde. Die Praxis zeigt jedoch, dass
das System an einer Reihe von Stellen weiter ausgebaut
werden muss und Fehler in der Gesetzesanwendung kor-
rigiert werden müssen. Denn es ist auf Dauer nicht hin-
nehmbar, dass ein großer Teil der Gesellschaft von der
aktiven Partizipation durch Wahlen und Abstimmungen
ausgeschlossen ist. Die Politik eines neuen gesellschaft-
lichen Integrationsvertrages erfordert deshalb auch wei-
tere Verbesserungen bei den Regeln über den Erwerb der
deutschen Staatsangehörigkeit.
Kernbestandteile des vorliegenden Reformvorschla-
ges sind folgende Punkte:
Der Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt im
Inland (Geburtsrecht) wird ausgebaut. Dabei wird auf
das so genannte Optionsmodell verzichtet, das die Be-
troffenen zwingt, sich mit der Volljährigkeit für eine
Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Es ist integrations-
politisch kontraproduktiv, Menschen, die von ihrer Ge-
burt an Teil dieser Gesellschaft sind, dazu zu zwingen,
mit ihrer Volljährigkeit eine Entscheidung zu treffen, die
ihre Zugehörigkeit zu diesem Staat infrage stellt. Auch
unter Gesichtspunkten der Gleichbehandlung ist die bis-
herige Optionsregelung problematisch. Bei anderen
Staatsangehörigen, die sich in einer vergleichbaren Situa-
tion befinden (zum Beispiel Kinder, die aus binationalen
Partnerschaften stammen), gibt es eine derartig bedingte
Staatsangehörigkeit nicht.
Die Fristen für die Einbürgerung werden verkürzt.
Dabei werden auch neue Ansprüche – insbesondere für
staatsangehörigkeitsrechtlich besonders schutzbedürf-
tige Gruppen (Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konven-
tion, Staatenlose) – verankert. Im Bereich der Staatenlo-
sigkeit sieht der Entwurf darüber hinaus eine Reihe von
Regeln vor, die – entsprechend der international aner-
kannten Zielrichtung – zu ihrer Beseitigung beitragen
und ihre Entstehung verhindern.
Der Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit
ist – angesichts oft bürokratischer Entlassungsverfahren
und emotionaler Bindungen gerade älterer Ausländer ans
Herkunftsland – immer noch ein wesentlicher Grund da-
für, dass die Einbürgerungsquote zu niedrig ist. Es gibt
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5949
(A) (C)
(B) (D)
für ihn keine ausreichende Begründung. Aus diesem
Grunde ist es nach wie vor vertretbar, diesen Grundsatz
vollständig aufzugeben. Zumindest aber muss es auf
dem Weg zu einer generellen Hinnahme von Mehrstaa-
tigkeit Lösungen für bestimmte problematische Fall-
gruppen geben. Ebenso muss dem Zusammenwachsen
Europas Rechnung getragen werden. Wir sehen daher
Ausnahmen vom Grundsatz der Vermeidung von Mehr-
staatigkeit vor. Bei Einbürgerungen von Unionsbürgern,
Schweizer Bürgern und Angehörigen bestimmter, beson-
ders eng assoziierter Staaten (Türkei) soll generell die
Hinnahme von Mehrstaatigkeit erfolgen. Bei den türki-
schen Staatsangehörigen ist dies in besonderem Maße
gerechtfertigt, weil ihr Rechtsstatus sich dem der Uni-
onsbürger weitgehend angenähert hat – und weil wir po-
litisch davon ausgehen, dass es zu einem EU-Beitritt der
Türkei kommen wird.
Nach der Rechtsprechung des Bundsverwaltungsge-
richtes, die vom Bundesverfassungsgericht auch unter
grundrechtlichen Aspekten gebilligt worden ist, kann
eine rechtswidrige Einbürgerung unter bestimmten Vo-
raussetzungen zurückgenommen werden. Das Bundes-
verfassungsgericht hat dabei allerdings auch darauf hin-
gewiesen, dass es sinnvoll sein könnte, dass der
Gesetzgeber diesen Bereich näher ausregelt, da sich an-
gesichts der grundlegenden Statusfunktion der Staatsan-
gehörigkeit hier insbesondere bei Kindern der rechtswid-
rig Eingebürgerten schwerwiegende Fragen stellen
können. Der Entwurf beschränkt die Rücknahmemög-
lichkeit angesichts der grundlegenden Zuordnungsfunk-
tion der Staatsangehörigkeit daher zum einen auf einen
Zeitraum von fünf Jahren nach der Einbürgerung. Zum
anderen ist es wegen der grundlegenden Zuordnungs-
funktion der Staatsangehörigkeit nicht sinnvoll, dass
rückwirkend in diese Zuordnung eingegriffen werden
kann. Die Rücknahme soll daher nur mit Wirkung für die
Zukunft vorgenommen werden können.
Der Grundsatz, dass jederzeit möglichst klar ersicht-
lich sein soll, wer deutscher Staatsangehöriger ist, ist da-
bei auch Grund für weitere Änderungen. So ist es jüngst
in einer Reihe von Fällen unklar gewesen, ob Deutsche
ihre Staatsangehörigkeit durch die Wiederannahme einer
anderen Staatsangehörigkeit (automatisch) verloren hat-
ten. Deshalb sieht der Entwurf vor, dass dieser Verlust
erst wirksam wird, wenn er von der Behörde festgestellt
wird. Damit wird auch in anderen Rechtsbereichen kla-
rer ersichtlich (etwa dem Wahlrecht), wer Deutscher ist
und wer nicht.
Gegenwärtig werden Einbürgerungsanträge von
Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention
regelmäßig vom Bundesamt für Migration und Flücht-
linge (BAMF) zum Anlass genommen, um bei einer ent-
sprechenden Anfrage der Einbürgerungsbehörde die
Flüchtlingsanerkennung zu überprüfen. Dies hat eine ab-
schreckende Wirkung auf die Antragstellung von einbür-
gerungswilligen Flüchtlingen. Ein derartiger Umgang
mit Einbürgerungsanträgen von Flüchtlingen ist welt-
weit beispiellos. Die Praxis des BAMF steht überdies in
offenem Widerspruch zu den Zielen der Genfer Flücht-
lingskonvention. Denn nach Art. 34 der Konvention ist
die Einbürgerung von anerkannten Flüchtlingen mög-
lichst weit gehend zu erleichtern. Damit steht es nicht in
Einklang, wenn Flüchtlinge mittelbar mit der Drohung,
ihr Status werde bei Stellung eines Einbürgerungsantra-
ges überprüft, von einer Antragstellung abgehalten wer-
den. Die vorgeschlagene Regelung im grünen Gesetzes-
antrag macht die beschriebene Praxis deshalb
unmöglich.
Der Entwurf sieht damit insgesamt an einer Reihe von
Stellen die notwendigen Problemlösungen im Staatsan-
gehörigkeitsrecht vor. Hinzuweisen ist allerdings darauf,
dass mit diesen Änderungen nicht alle Probleme zu lösen
sind, sondern dass auch eine vernünftige, einheitliche
und den gesetzlichen Regelungen entsprechende Verwal-
tungspraxis in den Ländern nötig ist.
Im Gegensatz zu Regelungsvorschlägen aus der Ko-
alition im Rahmen des EU-Richtlinienumsetzungsgeset-
zes und zu Beschlüssen der Innenministerkonferenz, die
auf eine Erschwerung der Einbürgerung hinzielen und
die deshalb integrationspolitisch kontraproduktiv sind,
setzen Bündnis 90/Die Grünen auf Erleichterungen beim
Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit.
Wir setzen uns beim Staatsangehörigkeitsrecht schon
seit langem dafür ein, dass für Menschen, die in
Deutschland ihren Lebensmittelpunkt gefunden haben,
die hier arbeiten und Steuern zahlen, keine unzumutba-
ren Hürden beim Einbürgerungsverfahren aufgebaut
werden dürfen. Denn wir haben schon lange zu wenige
Einbürgerungen, nicht zu viele.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Bei Warenetikettie-
rung mit RFID-Chips den Datenschutz sichern
(Tagesordnungspunkt 19)
Beatrix Phillip (CDU/CSU): Und sollten die Ängste
von Verbrauchern vor der RFID-Technologie zum Teil
oder völlig unbegründet sein: Wir müssen sie ernst neh-
men und versuchen, sie abzubauen. Eine Technologie
wie RFID wird sich auf dem Markt langfristig nur dann
durchsetzen können, wenn auch die Verbraucher die Vor-
teile erkennen und Vertrauen entwickeln können. Bester
Beweis dafür ist die Reaktion eines großen Konzerns,
der seine Kundenkarte zurückgezogen hat. Auf dem An-
trag zur Ausstellung einer solchen Kundenkarte fehlten
die notwendigen Hinweise über die Verwendung eines
Chips auf derselben.
Wir werden uns an keiner Panikmache beteiligen, die
die Befürchtungen von Bürgern vor Überwachung oder
gar Datenspionage unter dem Deckmantel des Fort-
schritts schürt. Was wir brauchen, ist Transparenz, also
Information der Menschen über RFID-Technologie.
Dazu gehört es, den Bürgerinnen und Bürgern zu sa-
gen:
Erstens. RFID-Chips unterscheiden sich von dem bis-
herigen Barcode oder Strichcode auf jeder Verpackung
5950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
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lediglich dadurch, dass der Zahlencode auf dem Chip
durch Radiowellen vom Lesegerät abgerufen wird.
Zweitens. RFID-Chips enthalten derzeit keine perso-
nenbezogenen Daten.
Drittens. Die RFID-Technologie ist noch keine eta-
blierte, das heißt, ausgereifte, Technologie und wird bis-
her fast ausschließlich im Bereich Handel und Logistik
angewendet. Sie wird zwar auch für Eintrittskarten wie
zum Beispiel bei der Fußballweltmeisterschaft oder auch
als Wegfahrsperre beim Auto genutzt, hat aber noch
nicht auf unmittelbarer Verbraucherebene im Alltag Ein-
zug gehalten.
Viertens. Zweifellos ist mit dieser Technologie neben
berechtigten Bedenken auch und gerade für den Vorrei-
ter Deutschland ein hoher Nutzen und hohes Wirt-
schaftspotenzial verbunden. Deutschland nimmt eine in-
ternationale Spitzenstellung im Bereich Logistik ein.
2,5 Millionen Beschäftigte in Deutschland erwirtschaf-
ten pro Jahr einen Umsatz von rund 170 Milliarden
Euro.
Die RFID-Materie ist vielfältig und technisch so
kompliziert, dass eine politische und datenschutzrechtli-
che Bewertung erst in den jeweiligen konkreten Anwen-
dungsbereichen erfolgen kann und sollte. Im Bereich des
Handels ergeben sich bei der Anwendung von RFID-
Chips zweifelsfrei andere Datenschutzfragen als im be-
sonders sensiblen Bereich der Gesundheit, zum Beispiel
bei der Gesundheitskarte. Aus datenschutzrechtlicher
Sicht ist also nicht der RFID-Chip selbst, sondern dessen
Verwendung bzw. Zweckentfremdung für die Beurtei-
lung relevant. Drei wesentliche Datenschutzaspekte bei
möglichen Verwendungen möchte ich im Folgenden er-
wähnen:
Erstens. Möglichkeit der Personenbeziehbarkeit. Theo-
retisch ist es möglich, dass durch den RFID-Code, zum
Beispiel an Kleidungsstücken, Bewegungsprofile von
Objekten erstellt werden. Da der Chip selbst aber keine
personenbezogenen Daten enthält, greift hier das Daten-
schutzrecht nicht. Dennoch: Mit Blick auf sorgenvolle
Mienen und Verständnis für Unsicherheiten sprechen wir
uns für eine Kennzeichnungspflicht und die Notwendig-
keit der Deaktivierung von RFID-Chips „nach Ge-
brauch“ aus.
Zweitens. Möglichkeit der Verknüpfung mit persönli-
chen Daten. Die über das Lesegerät ausgelesenen Daten
des RFID-Codes könnten einer bestimmten Person zuge-
ordnet werden. So ist der Einsatz von RFID-Chips in
Verbindung mit EC- oder Kundenkarten datenschutz-
rechtlich nur dann bedenklich, wenn die im Bundesda-
tenschutzgesetz vorgeschriebenen Informations- und
Hinweispflichten sowie der Grundsatz der Zweckbin-
dung nicht erfüllt sind. Für die Datenverarbeitung in
Kundenbindungssystemen – wie im Falle einer Kunden-
karte – ist nach geltendem Recht eine Einwilligung des
Betroffenen notwendig. Bei einer automatisierten Verar-
beitung der Daten begründet § 6 Bundesdatenschutzge-
setz noch weiter gehende Informationspflichten. Nach
§ 35 Abs. 2 Nr. 3 Bundesdatenschutzgesetz ist eine Lö-
schung der mit RFID erhobenen Daten geboten, sobald
die Datenspeicherung nicht mehr zur Erfüllung des
Zwecks erforderlich ist. Schließlich ist auch bei der
RFID-Technologie datenschutzrechtlich nach wie vor
gewährleistet, dass jeder Bürger bestimmen kann, wem
er zu welchem Zweck seine persönlichen Daten gibt.
Drittens. Möglichkeit des Auslesens der Daten durch
Dritte. Da bei der RFID-Technologie die Übertragung
von Daten per Funk erfolgt, wird häufig die Befürchtung
geäußert, dass diese Daten ohne Wissen der Betroffenen
durch unbefugte Dritte ausgelesen werden können.
Diese Befürchtung kann nicht von der Hand gewiesen
werden. Technisch wäre dies auch machbar, aber es ist
verboten. Zugleich sind aber im Verbraucheralltag be-
reits etablierte Technologien wie das Handy weitaus ge-
eigneter als RFID-Chips, wenn es zum Beispiel um die
Ortung, das heißt Verfolgung, von Personen geht.
Wir verschließen uns hier keiner kompetenten und
sachgerechten Prüfung, inwieweit zum Beispiel ein
Kennwort oder Ähnliches zusätzlichen Datenschutz ge-
währleisten könnte. Nach dem derzeitigen Entwick-
lungsstand sind die Anwendungen der RFID-Technolo-
gie in Deutschland durch unser Bundesdatenschutzgesetz
hinreichend abgedeckt.
Als zusätzliche Rechtsgrundlage dient unter anderem
auch die EU-Richtlinie über die Verarbeitung personen-
bezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der
elektronischen Kommunikation vom 12. Juli 2004.
Der von der FDP-Fraktion in ihrem Antrag angespro-
chene datenschutzrechtliche Handlungsbedarf bei nicht
löschbaren RFID-Chips steht derzeit nicht zur Debatte,
da es derartige Chips in der Praxis noch nicht gibt. Hier
zeigt sich, dass noch erheblicher Forschungsbedarf be-
steht. Experten erwarten eine flächendeckende Einfüh-
rung der RFID-Chips ohnehin erst in circa 30 Jahren.
Bereits jetzt wird aber erfolgreiche Forschungsarbeit
zum Beispiel auf dem Gebiet der Verschlüsselung von
RFID-Codes betrieben.
Summa summarum. Wir sehen derzeit keinen gesetz-
geberischen Handlungsbedarf. Wir sprechen uns deut-
lich gegen eine übereilte Überregulierung aus, stehen
aber einem weiterem Diskussionsprozess zugunsten der
Datensicherheit und Verbraucherfreundlichkeit offen ge-
genüber.
Das gilt auch für die in dem Antrag gestellte Forde-
rung nach einer Selbstverpflichtung der RFID-Anwen-
der. Selbst der Bundesdatenschutzbeauftragte hat sich in
einem Interview mit der Zeitschrift „Das Parlament“ am
21. August dieses Jahres dahin gehend bereits zuver-
sichtlich geäußert. Ich zitiere Herrn Schaar:
Und inzwischen spüre ich in der Wirtschaft die Be-
reitschaft, über Selbstregulierung und Selbstver-
pflichtungen den Einsatz der Funkchips daten-
schutzgerecht zu gestalten.
Das veranlasst auch uns zu Hoffnung und Gelassenheit.
Die Konsumgüterwirtschaft hat bereits Leitlinien zum
Umgang mit RFID erarbeitet und veröffentlicht. Deren
Entstehung wurde von der Bundesregierung moderie-
rend begleitet. Derartige einheitliche Standardvorgaben
könnten als Vorbild für weitere Branchen dienen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5951
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Und schließlich: Die datenschutzrechtlichen und ver-
braucherrelevanten Faktoren der RFID-Technologie wer-
den seit längerer Zeit intensiv mit allen Beteiligten de-
battiert. Das dürfte der antragstellenden Fraktion nicht
entgangen sein, deshalb hätte es des Antrages nicht be-
durft.
Im Folgenden sei auf die wichtigsten Aktivitäten ver-
wiesen: Erstens. Auf Bundesebene gibt es unter der Fe-
derführung des Bundesministeriums für Wirtschaft und
Technologie seit 2004 ein Diskussionsforum „RFID und
Verbraucherschutz“, welches allen offen steht. Zweitens.
Im vergangenen Jahr hat das Bundesamt für Sicherheit
in der Informationstechnik eine Studie mit dem Titel
„Risiken und Chancen des Einsatzes von RFID-Syste-
men“ herausgegeben. Drittens. Im Juni dieses Jahres hat
das Bundeswirtschaftsministerium eine RFID-Dialog-
plattform eingerichtet, die verstärkt dazu beitragen soll,
den Informationsaustausch zu bündeln, gemeinsame
Positionen abzustimmen und in die aktuelle Diskussion
auf EU-Ebene einzubringen. Viertens. Auf europäischer
Ebene beschäftigt sich die EU-Kommission intensiv mit
dem Thema RFID. Seit 2005 gibt es dort eine dienststel-
lenübergreifende RFID-Gruppe. In diesem Frühjahr
wurden fünf Workshops zum Thema „Potenzial und Ge-
fahren der RFID-Technik“ abgehalten. Fünftens. Vor
nicht einmal zwei Wochen, am 16. Oktober 2006, tagte
die Abschlusskonferenz der EU-Kommission zu RFID.
Die so genannte Art.-29-Datenschutzgruppe – ein un-
abhängiges EU-Beratungsgremium in Datenschutzfra-
gen – befasst sich seit zwei Jahren mit dem Thema
RFID. Den Vorsitz hat – wie Ihnen bekannt sein dürfte –
der deutsche Bundesdatenschutzbeauftragte inne, der
selbstverständlich auch in den gesamten Diskussionspro-
zess auf Bundesebene eingebunden ist. Wichtige Ergeb-
nisse dieser thematischen Auseinandersetzung stehen
noch bis Ende dieses Jahres an.
So wird die EU-Kommission basierend auf den Er-
gebnissen des Konsultationsprozesses auf europäischer
Ebene voraussichtlich bis Ende dieses Jahres eine Kom-
missionsmitteilung herausgeben. Das Europäische Parla-
ment wird möglicherweise Anfang 2007 eine Richtlinie
zu dem bereits bestehenden und erwähnten Regelwerk
formulieren. Das Ergebnis eines Gutachtens des Bundes-
wirtschaftsministeriums zu Stand und Perspektiven von
RFID-Anwendungen soll bis Ende des Jahres vorliegen.
Im Sinne einer sachlichen Lösung wäre es sicherlich
klug, die Vorschläge der EU-Kommission und die Er-
gebnisse des Gutachtens abzuwarten. Da es aber so viele
Aktivitäten auf diesem Gebiet gibt, in der „Pipeline“
jede Menge noch nicht ganz ausgereifter Projekte sind,
kommt es auf die Beratung eines weiteren Antrages
nicht mehr an.
Der Überweisung in den Ausschuss stimmen wir zu.
Dr. Michael Bürsch (SPD): Zunächst ist Aufklärung
geboten. Was sind überhaupt RFID-Chips? RFID steht
für Radio Frequency Identification, was so viel heißt wie
Funkfrequenzerkennung. Ein RFID-System besteht aus
einem Sender, dem so genannten Transponder, der mit
einer sehr kleinen Antenne ausgestattet ist, und einem
Empfänger, dem Lesegerät. Der Transponder enthält auf
einem Chip gespeicherte Daten, die berührungslos und
ohne Sichtkontakt mittels elektromagnetischer Wellen
an das Lesegerät übertragen werden können.
RFID-Systeme werden von vielen Fachleuten als
Technologie mit Zukunft gesehen, die bald in vielen
Bereichen des Lebens einsetzbar ist und uns das Leben
erleichtern soll. Mit dem RFID-System kann man Infor-
mationstechnik in den Alltag einbauen. Normale All-
tagsprodukte können über diese Technik miteinander
kommunizieren. Das klingt zunächst beängstigend nach
Science-Fiction. Deshalb ein paar lebensnahe Beispiele
für den Einsatz von RFID-Systemen: RFID-Systeme
können in Bibliotheken eingesetzt werden. Die Bücher
werden mit RFID-Chips ausgerüstet und so ist eine
selbstständige Ausleihe und eine Rückgabe außerhalb
der Öffnungszeiten problemlos möglich. Die Wiener
Hauptbibliothek hat ihr Ausleihsystem bereits auf RFID
umgestellt. Museen können ihre Ausstellungsstücke mit
Chips versehen. Das würde es den Museumsbesuchern
mittels eines Zusatzinstruments ermöglichen, auf die
Datenbank des Museums und damit auf Hintergrund-
informationen zu den einzelnen Ausstellungsstücken
zuzugreifen. RFID-Chips werden bereits jetzt zur Zeit-
messung bei Sportveranstaltungen genutzt. Außerdem
werden sie bereits seit längerem, integriert in Halsbänder
oder Ohrmarken, zur Tieridentifikation benutzt.
Die FDP hat in ihrem Antrag ein weiteres, uns alle be-
treffendes Anwendungsfeld herausgegriffen: die Nutzung
von RFID-Systemen bei der Warenetikettierung. Es ist
denkbar, dass RFID-Chips bald die heute gebräuchlichen
Barcodes ablösen werden. Barcodes müssen an der Super-
marktkasse mit einem Scanner erfasst werden. Mit RFID-
Chips ist eine Erfassung ohne Sichtkontakt möglich und
damit eine Abrechnung, ohne dass der Einkaufswagen
ausgepackt werden muss. Die Nutzung dieses neuen Sys-
tems bei der Warenetikettierung soll aber vor allem auch
die Rückverfolgung von Produkten in der Lieferkette er-
leichtern und damit Fehler im Lieferprozess reduzieren
und insgesamt die Logistik verbessern.
Es lassen sich noch viele andere Möglichkeiten für
den Einsatz dieser neuen Technik denken und es wird
auch bereits über eine Vielzahl weiterer Anwendungsfel-
der nachgedacht. Neue Technologien können aber neben
vielen Chancen auch immer Risiken bergen und deshalb
ist es richtig, dass die FDP auf den Datenschutz im Zu-
sammenhang mit der RFID-Technologie hinweist.
In der Tat können bei dem Einsatz von RFID-Chips
Datenschutzrechte betroffen sein, wenn beispielsweise
der RFID-Chip selbst personenbezogene Daten enthält,
was bei der Warenetikettierung allerdings in der Regel
nicht der Fall sein wird, und diese durch die Lesegeräte
abgerufen werden. Es können aber auch dann Daten-
schutzrechte betroffen sein, wenn die auf einem Chip ge-
speicherten, nicht personenbezogenen Daten über zusätz-
liche Informationen einer bestimmten oder bestimmbaren
Person zugeordnet werden können. Kauft ein Kunde im
Supermarkt mit RFID-Chips etikettierte Ware und legt er
zur Bezahlung seine Kunden- oder EC-Karte vor, dann
können die Produktdaten mit den Kundendaten ver-
knüpft werden.
5952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
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An dieser Stelle müssen wir uns aber klar machen: In
den Fällen, in denen eine Zuordnung zu einer bestimmten
oder bestimmbaren Person möglich ist, ist das Bundes-
datenschutzgesetz anwendbar und damit gelten auch die
datenschutzrechtlichen Grundsätze der Zweckbindung,
Datensparsamkeit und Vertraulichkeit. Darüber hinaus ist
nach § 4 Bundesdatenschutzgesetz die Erhebung, Verar-
beitung und Nutzung personenbezogener Daten nur zuläs-
sig, soweit das Bundesdatenschutzgesetz oder eine andere
Rechtsvorschrift dies ausdrücklich erlaubt oder anordnet
oder der Betroffene eingewilligt hat. Nach § 9 Bundesda-
tenschutzgesetz müssen die Stellen, die personenbezogene
Daten nutzen, diese durch geeignete technische und orga-
nisatorische Maßnahmen vor dem unbefugten Zugriff
Dritter schützen.
Datenschutz ist uns sehr wichtig; das habe ich schon
letzte Woche bei der Diskussion über das Daten-
schutzaudit ganz deutlich gemacht. Die informationelle
Selbstbestimmtheit des einzelnen Bürgers ist für uns ein
besonders schützenswertes Gut. Aber deshalb sollten wir
nicht in übertriebenen Aktivismus verfallen und bei dem
Auftauchen einer neuen Technologie sofort nach Selbst-
verpflichtungserklärungen oder neuen Gesetzen rufen.
Wir sollten erst einmal gründlich prüfen, ob nicht die
bestehenden Datenschutzgesetze ausreichen, um die
Persönlichkeitsrechte von Bürgerinnen und Bürgern zu
schützen. Das ist unserer Ansicht nach derzeit der Fall.
Das Bundesdatenschutzgesetz schützt den Einzelnen vor
dem unbefugten Umgang mit seinen personenbezogenen
Daten, unabhängig davon, welche Technik für die Er-
hebung und Verarbeitung der Daten genutzt wird. Es ist
bewusst technikneutral formuliert worden und das ist
auch sachgerecht. Anderenfalls müsste es bei jeder der
vielen technischen Neuerungen auch eine Gesetzesände-
rung geben.
Deshalb sehen wir derzeit keinen Gesetzgebungs-
bedarf im Hinblick auf die RFID-Technik. Es ist aber
richtig und selbstverständlich, dass wir die Entwicklung
der RFID-Technologie und ihre Verwendung weiter ge-
nau beobachten und die geltenden Gesetze laufend dahin
gehend überprüfen, ob sich Schutzlücken ergeben oder
nicht.
Gisela Piltz (FDP): Stellen Sie sich einmal folgende
leider nur zu realistische Zukunftsvision vor: Sie, meine
Damen und Herren, betreten in nicht allzu ferner Zu-
kunft ein Geschäft und ziehen sich dafür einmal nicht Ih-
ren neuesten, sondern einen immer noch neu aussehen-
den und hochwertigen, aber älteren Mantel an. In den
folgenden Tagen finden Sie ungefragt Post über die aktu-
ellen Angebote an hochwertigen Mänteln in Ihrem Brief-
kasten. Sie fragen sich nun, ob diese Post vielleicht ihren
Ursprung darin hat, dass der Chip in Ihrem Mantel am
Tag zuvor in dem besagten Ladengeschäft sein Alter
preisgab und sodann Ihre persönlichen Daten aus dem
Personalausweis abgefragt wurden. Selbst wenn die Post
nur purer Zufall war, die Ungewissheit, ob nicht doch
ein Zusammenhang zu den Einkäufen vom Vortag be-
steht, die bleibt.
Und nun frage ich Sie: Ist eine solche mögliche zu-
künftige Situation geeignet, die Zustimmung zum Einsatz
von RFID-Chips zu erhöhen und damit dessen Vermark-
tungschancen als Technologie zu verbessern? Ich denke
nicht.
Die Radiofrequenz-Identifikation (RFID) ermöglicht
es, Objekte eindeutig und kontaktlos zu erkennen. Diese
Technologie findet einen immer größeren Anwendungs-
bereich in allen Bereichen der Wirtschaft und dabei zu-
nehmend auch bei der Produktauszeichnung im Einzel-
handel.
Seit mehr als eineinhalb Jahren versucht die Bundes-
regierung, der Wirtschaft eine Selbstverpflichtungserklä-
rung abzuringen, welche den Datenschutzerfordernissen
genügt. Herausgekommen ist bisher eine Erklärung, wel-
che von der Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. als
„wischi-waschi“ und völlig unzureichend bezeichnet
wird. Und das mit Recht. Eine Selbstverpflichtungser-
klärung muss geeignet sein, das Vertrauen in die Daten-
sicherheit und Datensparsamkeit zu gewährleisten; diese
Anforderungen erfüllt die vorhandene Vorlage für eine
Selbstverpflichtungserklärung nicht. Wir brauchen end-
lich einen echten Fortschritt bei diesem Thema, damit
diese aufstrebende Technik nicht durch Misstrauen ge-
bremst wird.
Wir haben die Probleme der Datensicherheit nun
schon anhand von verschiedenen Anwendungen der
RFID-Technologie in diesem hohen Haus diskutiert. Wir
haben als FDP-Fraktion Anträge wegen der heiklen Da-
tensituation in unseren Ausweispapieren gestellt. Bei
den Reisepässen ist das Sicherheitsrisiko virulent, bei
den Personalausweisen werden wir Ähnliches im nächs-
ten Jahr nach der Einführung des elektronischen Perso-
nalausweises erleben. Wir brauchen nun endlich einen
verantwortungsvollen Umgang mit dieser neuen Techno-
logie, den Funkchips.
Nur wenn es uns gelingt, die Datensicherheit zu ge-
währleisten, nur dann werden die Bürger und Konsu-
menten diese neue Technologie auch annehmen. Denn
eins ist doch sicher: Wenn die Menschen im Ungewissen
bleiben, was mit ihren Daten passiert, dann ist das bei ei-
ner Technologie, bei der weder der Abrufvorgang noch
der Verarbeitungsvorgang von außen erkennbar sind,
eine schwere Bürde für den Einsatz und die Vermarktung
der Technik. Die Unkontrollierbarkeit, das Gefühl, nicht
feststellen zu können, ob gerade Daten abgerufen wer-
den, erzeugt bei den Menschen Misstrauen. Das ist doch
nur zu verständlich. Wenn wir hier keine klaren Regeln
für den Umgang mit den RFID-Chips finden, dann bleibt
das Misstrauen gegenüber den Verarbeitungs- und Ab-
rufvorgängen, und die Technologie erhält ein negatives
Image als „Schnüffelchips“.
Deswegen brauchen wir ein Optimum an „Abhör-
sicherheit“ für die per Funk übertragenen Daten. Da ist
bei den Ausweispapieren noch viel zu tun.
Und wir brauchen Datensicherheit bei demjenigen,
der die Daten von den Funkchips bestimmungsgemäß
abruft. Dies gilt nicht nur für den Staat, sondern generell.
Daher brauchen wir auch für den Einsatz dieser Techno-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5953
(A) (C)
(B) (D)
logie im privaten Sektor dort, wo die persönlichen Daten
der Konsumenten betroffen sind, Regeln, welche die
Menschen vor einem Verlust der Kontrolle über das ei-
gene öffentliche Erscheinungsbild bewahren.
Wenn Sie letztlich von der Zukunft dieser Miniatur-
funkchips überzeugt sind, dann stimmen Sie mit uns für
Regeln zu einem verantwortungsvollen Einsatz dieser
Technologie. Am liebsten wäre uns natürlich der Weg
über eine wirkungsvolle Selbstverpflichtung der Wirt-
schaft. Nur wenn dieser von der Wirtschaft nicht einge-
schlagen wird, dann sollte der Staat selbst für die nötigen
Regeln sorgen. Dabei dürfen wir uns natürlich auch
nicht auf den Sankt Nimmerleinstag vertrösten lassen.
Von daher stellt dieser Antrag eine ausgewogene Lösung
für die Förderung der Akzeptanz dieser Technologie in
der Bevölkerung dar und ich werbe um Ihre Unterstüt-
zung.
Jan Korte (DIE LINKE): Mit RFID ist es wieder so
eine Sache. Es mag ja ganz nett sein, wenn der Kühl-
schrank von alleine Bier und Käse bestellt oder vor der
längst vergammelten Milch warnt. Jeder mag selbst ent-
scheiden, welche Machtbefugnisse er seinen Haushalts-
geräten einräumen will. Der Komfort, den ein emanzi-
pierter Kühlschrank bietet, relativiert sich jedoch durch
die Risiken, die RFID-Technologie in sich birgt. Aus
diesem Grunde müssen die Verbraucher in der Lage sein,
abschätzen zu können, welche Daten die Etiketten auf
Produkten an welchen Empfänger funken.
RFID ist nämlich nicht nur eine Komfort-Angelegen-
heit. Lassen Sie mich dazu zwei Beispiele benennen.
Eine Anwendungsmöglichkeit von RFID-Tags ist der
Einzelhandel. Durch diese Technologie wird jeder
Joghurtbecher eindeutig identifizierbar. Problematisch
ist das, wenn eine Kombination der Produktseriennum-
mer mit persönlichen Daten stattfindet, also beispiels-
weise dann, wenn die Zahlung mit Kreditkarte oder per
Bankeinzug erfolgt oder wenn eine Kundenkarte zum
Einsatz kommt. Dann lassen sich recht problemlos Kun-
denprofile anlegen. Wird dann der RFID-Tag nicht deak-
tiviert, funkt er weiterhin Daten, die von dritter Stelle
ausgelesen werden könnten. Beispielsweise in einem an-
deren Geschäft einer Handelskette. So wird aus einem
Kunden- und Konsumprofil ein weit reichendes Bewe-
gungsprofil.
Zweitens. Die Universität Massachusetts hat einen
Versuch mit Kreditkarten gemacht, in die RFID-Tags
eingebaut waren. Das Ergebnis lässt aufhorchen: In 20
von 20 Fällen funkten die Kreditkarten den Namen des
Inhabers, die Kreditkartennummer und das Verfallsda-
tum der Karte durch den Umschlag. Jeder, der über ge-
ringe technische Kenntnisse verfügt, kann die Daten
empfangen, auswerten und entsprechend Schindluder
damit treiben. Sicherungsmaßnahmen, die ein Durch-
leuchten des Umschlages verhindern sollen, erscheinen
vor diesem Hintergrund niedlich.
Unabhängig von diesen Risiken sollte es eine Selbst-
verständlichkeit sein, dass Verbraucher selbst entschei-
den können, welche Daten sie wem preisgeben. Das er-
fordert ein hohes Maß an Transparenz seitens der
Unternehmen, die RFID-Technologie einsetzen wollen.
Das bedeutet konkret, dass Betroffene über den Einsatz
und den Verwendungszweck von RFID-Tags einfach
und umfassend informiert werden müssen. Das betrifft
auch den Inhalt der Chips und die Weiterverarbeitung
der Daten. Ein verborgener Einsatz verbietet sich damit.
Es muss gewährleistet sein, dass die Chips deaktiviert
werden können. Das Unternehmen sollte dies von sich
aus sicherstellen. Es muss aber zusätzlich auch für den
Kunden eine Möglichkeit geben, die Deaktivierung der
Chips vorzunehmen – auch nachträglich. Und selbstver-
ständlich darf es keinen direkten oder indirekten Nut-
zungszwang von RFID-Chips geben.
Der vorliegende Antrag der FDP-Fraktion verfolgt all
diese Ziele sicherlich. Allein das Problem ist, dass das
achtbare Ansinnen, den Datenschutz zu gewährleisten,
mit der wirtschaftsliberalen Grundposition der FDP kol-
lidiert. Anders kann ich mir nicht erklären, dass die FDP
zunächst auf eine Selbstverpflichtungserklärung der
Wirtschaft setzt. Eine solche setzt Vertrauen voraus. Sie
werden mir nachsehen, dass ich dieses Vertrauen in die
Wirtschaft nicht setzen kann. Nicht nach den Erfahrun-
gen, die bisher mit der praktischen Anwendung von
RFID-Technologie gemacht wurden. Nehmen Sie nur
den Future-Store der Metro AG. Er ist nicht nur ein Mo-
dellprojekt für moderne Technologie in Supermärkten,
er ist auch ein Modell für die völlige Ignoranz, die der
Einzelhandel der Privatsphäre seiner Kunden entgegen-
bringt. Völlig zu Recht hat die Metro deshalb im Jahr
2003 den „Big-Brother-Award“, den Überwachungs-
oscar, für ihre RFID-Anwendung bekommen. Entgegen
aller Beteuerungen hat das Unternehmen die Kunden
nicht nur nicht über den Einsatz der Chips informiert,
sondern durch aktives Handeln die Kunden über das
Ausmaß der Datenverarbeitung getäuscht.
Ich bin daher der Auffassung, dass wir gleich zu
Punkt zwei Ihres Antrages springen und eine gesetzliche
Regelung durchsetzen sollten. Im Sinne der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher sollten wir das tun, anstatt auf
nutzlose Selbstverpflichtungserklärungen zu setzen, die
das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Die RFID-Technologie bewegt sich im
Spannungsfeld zwischen Datenschutz und Verbraucher-
schutz auf der einen Seite und ökonomischen Interessen
auf der anderen Seite. In den unterschiedlichsten Foren
wird derzeit der Versuch unternommen, einen Rahmen
für die Anwendung der kleinen Funkchips mit großer
Wirkung zu finden.
Blamabel gescheitert ist der Bundeswirtschaftsminis-
ter Glos. Das Forum „RFID und Verbraucherschutz“ ist
zwar nicht aufgelöst, tagt aber seit dem Sommer nicht
mehr. Sowohl der Bundesverband der Verbraucherzen-
tralen als auch der Bundesbeauftragte für den Daten-
schutz und die Informationsfreiheit haben im Sommer
erklärt: Die Bereitschaft der Wirtschaft, sich in einer
Selbstverpflichtung an Datenschutz- und Verbraucher-
schutzstandards zu halten, ist völlig unzureichend.
5954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
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(B) (D)
Irritiert waren alle Beteiligten über die ständig wech-
selnde Besetzung des Forums durch die Bundesregie-
rung. Mal war das Wirtschaftsministerium da, dann das
Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung
und Landwirtschaft und auch das Innenministerium
schaute vorbei. Die Bundesregierung weiß offensichtlich
bis heute nicht, wer zuständig ist und eine abgestimmte
Position hat sie auch nicht. Hier sehen wir an einem
praktischen Beispiel, welchen Stellenwert Innovation in
dieser Regierung wirklich hat. Keiner ist zuständig und
jeder sagt etwas anderes. Teil einer Lösung kann man so
nicht sein.
So kursieren nach wie vor die unterschiedlichsten Po-
sitionspapiere, Gutachten und Grundsatzerklärungen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Zuständigkei-
ten zu klären und einen verlässlichen und verbindlichen
Dialogprozess aufzunehmen, denn wir brauchen eine
Klärung im Interesse des Verbraucherschutzes und im
Interesse der Wirtschaft.
Spannend war das Online-Consulting der EU-Kom-
mission. Hierbei traten erstaunliche Zahlen zutage: Nur
15 Prozent der Befragten glaubten daran, dass die Indus-
trie die Privatsphäre mit ihren Selbstregulierungsvor-
schlägen ausreichend schützt. 55 Prozent wünschten sich
gesetzliche Regelungen, die diesen Schutz gewährleis-
ten. 67 Prozent der Befragten wollten die Risiken und
Chancen der Chips genauer untersuchen lassen. Diese
Zahlen belegen deutlich, dass die RFID-Technologie ein
erhebliches Akzeptanzproblem hat. Schlussfolgerungen
aus dem Online-Consulting will die EU-Kommission bis
zum Ende des Jahres 2006 vorlegen. Es soll ein Fahrplan
für ein „solides rechtliches Rahmenwerk“ vorgelegt wer-
den.
Zahlreiche Studien haben sich in jüngster Vergangen-
heit mit der RFID-Technologie befasst: In einer Studie
des BSI zu „Risiken und Chancen des Einsatzes von
RFID-Systemen heißt es: „Wenn die Bewegung und Be-
nutzung von Alltagsgegenständen Datenspuren hinter-
lässt, die sich zunehmend der Kontrolle des Benutzers
entziehen, so kann dies tief greifende Auswirkungen für
unser Verständnis von Sicherheit und Privatsphäre ha-
ben.“
Die TAUCIS-Studie des Unabhängigen Landeszen-
trums für Datenschutz und der Humboldt-Universität
kommt zu dem Ergebnis, dass vor allen Dingen die Be-
treiber in der Pflicht für eine datenschutzkonforme Ge-
staltung stehen. Nicht zuletzt hat auch der Bundestag ei-
nen Auftrag zur Untersuchung der Technologiefolgen
von RFID an das TAB vergeben.
Nur dieser kurze Ausblick macht deutlich, wie kom-
plex das Thema ist. Der Antrag der FDP greift einige
Fragestellungen richtig auf, in meinen Augen kommt er
allerdings zu früh und greift in der Lösung zu kurz.
Wir wollen den Druck auf die Wirtschaft aufrecht-
erhalten. Wir erwarten eine verbindliche Selbstverpflich-
tung aller Marktanbieter. Gleichzeitig bin ich der Auf-
fassung, wir werden darüber hinaus Details auch
rechtlich regeln müssen. Bevor wir an das nationale
Recht gehen, sollten wir abwarten, welche Vorschläge
die EU, wie angekündigt, bis zum Ende des Jahres vor-
legt.
Waren mit RFID-Tags werden zukünftig auch aus den
USA oder China zu uns kommen. Hier stößt eine globale
Technik auf die Grenzen des nationalen Rechts. Wir
schaffen keine Verbrauchersicherheit, wenn wir einen
Paragrafen im Bundesdatenschutzgesetz ändern oder
hinzufügen, hier macht es sich der FDP-Antrag zu leicht.
Wir brauchen ein Bündel von Maßnahmen, national, eu-
ropäisch und international, um hier Datenschutz und
Verbraucherschutz zu gewährleisten.
In den Forderungen, die wir umsetzen wollen,
herrscht weitestgehend Einigkeit:
Wir fordern Transparenz: über Einsatz, Verarbeitung
und Inhalt von RFID-Chips muss umfassend informiert
werden. RFID-Chips mit unlöschbarer Seriennummer
müssen einer Kennzeichnungspflicht unterliegen.
Wir wollen, dass die RFID-Tags spätestens an der
Kasse deaktiviert werden, ohne dass Nachteile für Ser-
vice und Beratung entstehen.
Datenschutz muss integraler Bestandteil der Technik
sein, unbefugtes Auslesen der Daten muss technisch ver-
hindert werden.
Wir brauchen eine wirksame Kontrolle und bei Ver-
stößen auch die Möglichkeit für Sanktionen.
Das Datenschutz-Audit, das auch hier ein sinnvolles
und hilfreiches Instrument wäre, habe ich hier in einem
Antrag bereits in der letzten Sitzungswoche gefordert.
Wir sollten im Innenausschuss eine Anhörung durch-
führen und mit Experten beraten, mit welchen Instru-
menten wir unsere Ziele am ehesten erreichen.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Den Hunger in Ent-
wicklungsländern wirksam bekämpfen – Das
Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche
Entwicklung fördern (Tagesordnungspunkt 20)
Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Den Hunger auf der
Welt zu bekämpfen, ist eine der dringendsten und wich-
tigsten Aufgaben der internationalen Politik. Weltweit
leiden heute über 850 Millionen Menschen an Hunger,
das heißt, dass jeden Tag bis zu 100 000 Menschen an
Hunger oder seinen Folgen sterben. Insofern ist die In-
tention des Antrags, den Hunger weltweit zu bekämpfen
und das Recht auf Nahrung umzusetzen, auf jeden Fall
unterstützenswert.
Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass der
Adressat der „freiwilligen Leitlinien zur Umsetzung des
Rechts auf Nahrung“ zuallererst die nationalen Regie-
rungen sind. Dabei können und müssen wir ihnen helfen,
diese Hilfe entbindet sie aber nicht aus ihrer Verantwor-
tung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5955
(A) (C)
(B) (D)
Auch dürfen wir nicht glauben, dass die deutsche Ent-
wicklungszusammenarbeit allein in der Lage wäre, den
Hunger auf der Welt zu bekämpfen. Diese Aufgabe ist zu
gewaltig und bedarf vielmehr einer internationalen, ko-
ordinierten Kraftanstrengung, zu der sich die Staatenge-
meinschaft auf dem Welternährungsgipfel in Rom 1996
auch bekannt hat. Doch wir wissen auch, dass wir dem
Ziel, den Hunger auf der Welt bis 2015 zu halbieren
– abgesehen von einigen Erfolgen in China und Indien –
leider noch nicht viel näher gekommen sind. Insofern
muss auch darüber diskutiert werden, ob die richtigen
Instrumente und Institutionen zum Erreichen dieses ehr-
geizigen Ziels eingesetzt werden.
Als zentrale Institution zur Hungerbekämpfung nennt
der Antrag die Welternährungsorganisation FAO. Diese
leistet dazu sicherlich wichtige Beiträge und ist ein be-
deutendes Forum. Doch ich bin mir nicht sicher, ob die
FAO wirklich in der Lage ist, ein solches Mammutpro-
jekt federführend zu meistern. Vielmehr vermisse ich im
vorgelegten Antrag den Verweis auf andere wichtige in-
ternationale Gremien, wie beispielsweise die „global
donor platform for rural development“. Welche dieser
Institutionen am besten in der Lage ist, den Hunger zu
bekämpfen, vermag ich pauschal – anders als im vorge-
legten Antrag – nicht zu sagen. In dieser Frage wäre es
vielleicht empfehlenswert, auf die Expertise des Welt-
entwicklungsberichts 2008 – agriculture for rural de-
velopment – zurückzugreifen. Ich bin sicher, dass dieser
bestimmt auch im Deutschen Bundestag eingehend be-
handelt werden wird.
Der Antrag bemängelt, dass „Fair-Trade“-Produkte
nicht ausreichend gefördert werden. Ich glaube, dass es
gerade im Bereich des „Fair-Trade“ die deutsche Politik
geschafft hat, durch diverse Programme und Öffentlich-
keitsarbeit eben diese Produkte zu fördern und gleichzei-
tig in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die sozialen
Belange der Menschen in Entwicklungsländern zu schaf-
fen. Allein im letzten Jahr wurde in Deutschland mit
Produkten, die das Trans-Fair-Siegel tragen, ein Umsatz
von 130 Millionen Euro gemacht. Daher teile ich diese
Kritik nicht und glaube, dass es wichtigere Baustellen
zur Bekämpfung des Hungers als diese gibt.
Den Bauern in Entwicklungsländern müssten viel-
mehr ein verbesserter Zugang zu den Ergebnissen der
CGIAR – Consultative Group on International Agricul-
tural Research – ermöglicht werden, die bedeutende For-
schungsarbeit für die Landwirtschaft in unterentwickel-
ten Regionen leistet. Gerade in den letzten Jahren hat
diese Forschungseinrichtung – anders als im Antrag be-
hauptet – wichtige Beiträge geleistet, die sich an den Be-
dürfnissen der Bauern orientieren, die keinen Zugang zu
Bewässerung oder ertragreichen Böden haben. Denn ei-
nes darf man nicht vergessen: 50 Prozent der Hungern-
den sind Kleinbauern, die von dem leben, was sie selbst
anbauen.
Dieser vermeintliche Widerspruch hat eine einfache
und doch sehr schwer zu durchbrechende Logik: Klein-
bauern sind in der Regel arm, können keine ausreichen-
den Flächen für den Anbau von Nahrungsmitteln kaufen
und sind von Hunger bedroht, wenn ihre Ernte schlecht
ausfällt. Dies ist ein Teufelskreis, aus dem nur sehr müh-
sam durch Landreformen, Vergabe von Kleinstkrediten
oder Verbesserung des Ertrags ausgebrochen werden
kann.
Allein daraus lässt sich ablesen, wie schwer es ist, Lö-
sungen für diese gewaltige Aufgabe der Bekämpfung
des Hungers zu finden. Wir müssen auch über Wege
nachdenken, die über die Anstrengungen hinausgehen,
die wir bisher unternommen haben. So ist im Antrag zu
lesen, dass wir die Markt verzerrenden Agrarsubventio-
nen senken sollen. Ich glaube, auf Dauer reicht das nicht.
Wir müssen die Agrarexportsubventionen nicht nur sen-
ken, sondern langfristig ganz abschaffen. Daher hat die
EU mit Unterstützung der Bundesregierung auf der WTO-
Ministerkonferenz in Hongkong im Dezember 2005 ange-
kündigt, die Agrarsubventionen bis 2013 auslaufen zu
lassen, und nicht nur das, auch die von anderen Staaten
angewandten Exportsubventionen wie Exportkredite,
kommerzielle Nahrungsmittelhilfen oder der Export
durch Staatshandelsunternehmen sind darin mit einge-
schlossen. Ich glaube, dass dies ein großer Schritt zur
Bekämpfung des Hungers und ein wichtiger Beitrag für
faire Handelsbeziehungen zwischen Industrie- und Ent-
wicklungsländern ist.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit bemüht
sich, der Herausforderung, den Hunger auf der Welt zu
bekämpfen, gerecht zu werden. Sie hat den Haushalts-
titel für Entwicklungszusammenarbeit in den letzten
zwei Jahren um rund 600 Millionen Euro erhöht und die
Bekämpfung von Hunger zum Schwerpunktthema er-
klärt. Sie versucht, vor Ort für eine ausreichende Pro-
duktion von Nahrungsmitteln zu sorgen oder den Zu-
gang zum Erwerb von Nahrungsmitteln zu ermöglichen.
Nur über das Vorantreiben der ländlichen Entwicklung
lässt sich auf Dauer Hunger wirksam bekämpfen. Dies
unterstützt das Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung durch den Bau von
Infrastrukturprojekten wie Straßen, der Implementierung
von Märkten, Landreformen oder Projekten zur Verbes-
serung der Wasserversorgung. Dies allein reicht aber
nicht aus! Oftmals hapert es leider auch an guter Regie-
rungsführung in den entsprechenden Ländern, an nicht
angebotenen Mikrokrediten, die auf die Bedürfnisse von
Kleinbauern abgestimmt sind, oder an fehlenden oder
mangelhaft durchgeführten Landreformen. Vielfach fin-
det man auch die Situation, dass ein Entwicklungsland,
in dem ein Nahrungsüberschuss erwirtschaftet wird, die-
sen nicht im Nachbarland, in dem Hunger herrscht, an-
bieten kann, weil es einfach an entsprechenden Handels-
beziehungen und -abkommen mangelt. Dies ist ein
Bereich, in dem die deutsche Entwicklungszusammenar-
beit – ohne viel Geld in die Hand nehmen zu müssen –
durch Beratung und Vermittlung viel erreichen kann.
Über das Ziel, den Hunger in der Welt zu bekämpfen
und das Recht auf Nahrung weltweit durchzusetzen,
herrscht Einigkeit. Diesem Ziel sind wir alle verpflichtet,
und ich glaube, dass wir es schaffen, auch gemeinsam an
Lösungen für dieses gewaltige Problem zu arbeiten. Da-
bei dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass jede Re-
gion andere soziale, politische, wirtschaftliche und öko-
logische Bedingungen hat und es dementsprechend
5956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
keine Patentrezepte gibt, die überall auf der Welt gelten.
Der vorliegende Antrag hat viele wichtige und richtige
Punkte und diese unterstütze ich ausdrücklich. Aller-
dings ist er an vielen Stellen zu pauschal und tendenziös
und lässt wichtige Elemente wie die Forderung nach ei-
ner verbesserten internationalen Koordination vermis-
sen. Daher lehnt ihn die Fraktion der CDU/CSU im
Deutschen Bundestag ab und hofft, im Vorfeld des schon
genannten Welternährungsberichts einen fraktionsüber-
greifenden Antrag einbringen zu können, der die vorge-
brachten Kritikpunkte aufgreift. Die Bekämpfung von
Hunger ist Voraussetzung für Entwicklung – und nicht
umgekehrt. Nur wenn wir den Hunger in der Welt in den
Griff bekommen, werden wir auch die Armut bekämp-
fen können. Dies ist ein Ziel, für das sich jede Anstren-
gung lohnt.
Dr. Sascha Raabe (SPD): Der Antrag „Den Hunger
in Entwicklungsländern wirksam bekämpfen – Das
Recht auf Nahrung umsetzen und ländliche Entwicklung
fördern“ der Bundestagsfraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen, der heute zur Debatte steht, ist meiner Mei-
nung nach in der Zielsetzung prinzipiell zu unterstützen.
Ich bin mir sicher, dass wir uns als Entwicklungspoliti-
ker aller Couleur darüber einig sind, dass wir den Kampf
gegen Hunger in der Welt mit allen Kräften weiter füh-
ren müssen. Das erste Millenniumsentwicklungsziel, bis
zum Jahr 2015 die Zahl der Hungernden zu halbieren, ist
und bleibt unsere Richtmarke. Natürlich wollen wir da-
rüber hinaus so schnell wie möglich erreichen, dass
überhaupt kein Mensch mehr hungern muss.
Wie der vorliegende Antrag richtigerweise aufführt,
leben etwa 800 Millionen hungernde Menschen in Ent-
wicklungsländern. Davon leben über drei Viertel auf
dem Land. Aufgrund dieser Fakten wird dem landwirt-
schaftlichen Sektor in der Entwicklungszusammenarbeit
weiterhin ein sehr hoher Stellenwert beigemessen. Wenn
man den Antrag der Grünen durchliest, scheint diese
Aussage zunächst wie ein Widerspruch zu klingen.
Schließlich sind die Mittel der meisten Geberländer für
diesen wichtigen Bereich in den letzten Jahren zurück-
gefahren worden.
An dieser Stelle scheint es mir zunächst angebracht
festzuhalten, was unter „ländlicher Entwicklung“ zu ver-
stehen ist. Eine verkürzte Vorstellung reduziert den Be-
reich vor allem auf die technische Hilfe zur Subsistenz-
landwirtschaft. Sprich: Es wird einer kleinbäuerlichen
Familie in einem Land wie Guatemala oder Tansania bei
ihrer Selbstversorgung geholfen.
Diese Vorstellung mag in einigen Fällen richtig sein,
doch insgesamt ist sie nicht mehr zeitgemäß. Spätestens
nachdem unsere Entwicklungsministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul Ende der 90er-Jahre ein neues Verständ-
nis der Entwicklungszusammenarbeit in die Regierungs-
arbeit einführte, kam es zu einem Paradigmenwechsel.
So versteht sich die Entwicklungszusammenarbeit in
Deutschland heute auch als globale Strukturpolitik und
fordert Kohärenz ein. Vor diesem Hintergrund ist für
mich die Förderung des ländlichen Raumes mehr als
technische Landwirtschaftshilfe. Sie betrifft andere poli-
tische Sektoren wie insbesondere die Handels- und
Landwirtschaftspolitik. Um es anschaulicher zu formu-
lieren: Was macht es für einen Sinn, einem Bauer in ei-
nem Entwicklungsland mit einem Traktor zu helfen,
wenn es sich aufgrund der momentan globalen unge-
rechten Handelsbedingungen und der landwirtschaftli-
chen Subventionspolitik in Europa für ihn nicht rentiert
zu produzieren?
Deshalb verstehen wir unter „ländlicher Entwick-
lung“ viel mehr. Das Ziel, die Menschen im ländlichen
Raum zu entwickeln, umfasst neben einem kohärenten
Handeln in den bereits genannten Politikbereichen wei-
tere Maßnahmen, wie beispielsweise:
Auf politischer Ebene umfasst sie die Unterstützung
der Regierungen der Partnerländer bei einer entwick-
lungsorientierten Politik, die geeignete Rahmenbedin-
gungen für eine nachhaltige ländliche Entwicklung
schafft. Hierzu zählen unter anderem Menschenrechte
und demokratische Strukturen, Rechtssicherheit und Ge-
schlechtergerechtigkeit, Transparenz staatlichen Han-
delns und Korruptionsbekämpfung, marktwirtschaftliche
Reformen, ein gesicherter Zugang der Landbevölkerung
zu produktiven Ressourcen und eine breitenwirksame
Bildungs- und Gesundheitspolitik.
Im sozialen Bereich umfasst sie die Förderung von
Mechanismen des gesellschaftlichen Interessenaus-
gleichs und der Konfliktbewältigung, die Förderung von
Partizipation und Gleichberechtigung und die Entwick-
lung leistungsfähiger sozialer Sicherungssysteme.
In ökologischer Hinsicht umfasst sie die Unterstüt-
zung der ländlichen Bevölkerung bei der Entwicklung
und Anwendung ressourcenschonender und umweltver-
träglicher Ansätze der Landnutzung, welche Bodenero-
sion vermeiden, Wasser sparsam einsetzen und die vor-
handene Biodiversität bewahren.
Auf wirtschaftlichem Gebiet umfasst sie die Unter-
stützung der wirtschaftlichen Akteure bei der Schaffung
produktiver und entlohnter Beschäftigung auch über den
landwirtschaftlichen Bereich hinaus, und die Förderung
dienstleistungsorientierter Institutionen für den ländli-
chen Raum, zum Beispiel in den Bereichen Finanz-
dienstleistungen, Beratungsdienste und Vermarktung.
Eine auf die nachhaltige Förderung ländlicher Ent-
wicklung abzielende Gesamtstrategie muss sich also im
Sinne globaler Strukturpolitik auch eine Reform ent-
wicklungshemmender internationaler Rahmenbedingun-
gen zur Aufgabe machen. Das erfordert eine faire und
entwicklungsförderliche Ausgestaltung der Handels-,
Agrar-, Finanz-, Wirtschafts- und Umweltpolitik der In-
dustrieländer.
Während wir Geberländer uns um gerechtere Außen-
bedingungen kümmern sollten, sind die Empfängerlän-
der größtenteils selber für die gerechte Verteilung beim
Zugang zu Land, für Bildung und für die Infrastruktur-
planung zuständig. Diese sind der Schlüsselbereich für
die Armutsbekämpfung. Es verlangt also auch den poli-
tischen Willen unserer Partner, diese Stellschrauben zu
verändern.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5957
(A) (C)
(B) (D)
Der Antrag der Grünen fokussiert sich insbesondere
im Forderungsteil zu sehr auf ein zu enges Verständnis
von ländlicher Entwicklung und wird den komplexen
Herausforderungen des Themas nicht gerecht. Ich
möchte zwei weitere Aspekte erwähnen, die ich für nicht
richtig halte und die es uns nicht ermöglichen, den An-
trag zu unterstützen.
Der Antrag der Grünen legt, wie nicht anders zu erwar-
ten, einen sehr hohen Stellenwert auf den ökologischen
Anbau. Im Prinzip ist dies nicht falsch; doch ich würde
den Schwerpunkt richtigerweise auf „Nachhaltigkeit“ le-
gen. Die Forderung zur Förderung des ökologischen
Landbaus greift meiner Meinung nach viel zu kurz.
Wichtiger als die Orientierung auf eine Marktnische ist
die breitenwirksame Förderung verbesserter standortge-
rechter und nachhaltiger Anbaumethoden – dies erst
recht vor dem drohenden Hintergrund radikaler Verände-
rungen infolge des Klimawandels.
Eine weitere Forderung der Grünen lautet, sich an
landwirtschaftlichen Projekten, bei denen gentechnisch
manipuliertes Saatgut verwendet wird, nicht zu beteiligen.
Ich bin kein glühender Verfechter der Gentechnik, aber
es ist doch absurd zu glauben, dass sich die Verbreitung
der Gentechnik durch einen deutschen Rückzug aus ent-
sprechenden Landwirtschaftsprojekten stoppen lassen
würde. Außerdem ist der Wille der jeweiligen Länder zu
respektieren. Bei allen Risiken dieser Technik kann sie
auch Chancen für die Ernährungssicherheit bieten. Ent-
scheidend sind die Rahmenbedingungen. Es muss unter
anderem sichergestellt werden, dass einheimisches Saat-
gut nicht durch genmanipuliertes Saatgut verloren geht
und nicht eine teure Abhängigkeit von transnationalen
Biotechnologiekonzernen entsteht. Gerade weil die Gen-
technologie Risiken birgt, die nur durch gute Rahmenbe-
dingungen in den Griff zu bekommen sind, ist es notwen-
dig, dass wir denjenigen Entwicklungsländern, die sich
für Gentechnik in der Landwirtschaft entscheiden, dabei
helfen, diese Technologie verantwortungsvoll einzuset-
zen.
Der Antrag der Grünen weist also trotz richtiger Ziel-
setzung erhebliche Schwächen auf. Die SPD-Bundes-
tagsfraktion hat in der letzten Legislatur mit dem grünen
Koalitionspartner, aber auch in der jetzigen Legislatur
mit der CDU/CSU bessere Anträge zu dem Thema in
den Deutschen Bundestag eingebracht.
So hatten wir zum Beispiel in der 15. Legislaturperiode
zwei Anträge eingebracht, die auf einen gerechteren
Welthandel abzielen. Auch in der momentan von uns
geführten großen Koalition steht das Thema weit oben
auf der Tagesordnung. Anfang dieses Jahres haben wir
den Antrag „Erfolgreichen Abschluss der laufenden
Doha-Welthandelsrunde bis Ende 2006 sicherstellen“,
Drucksache 16/556, im Bundestag verabschiedet. In den
Anträgen fordern wir ganz konkret den Abbau interner
handelverzerrender Subventionen in Europa sowie die
Öffnung der Märkte für landwirtschaftliche Produkte aus
Entwicklungsländern. Gleichzeitig soll es den Entwick-
lungsländern im Rahmen eines „Special and Differential
Treatments“ möglich sein, ihre Märkte zu schützen, bis
sie wettbewerbsfähig sind.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung ist in über 30 Ländern in
Programmen der ländlichen Entwicklung engagiert. Im
vergangenen Jahr wurden dafür rund 350 Millionen Euro
zur Verfügung gestellt. Trotzdem ist es wahr, dass in den
letzten Jahren insgesamt die bilateralen Mittel für ländli-
che Entwicklung und für den Agrarsektor zurückgegan-
gen sind. Eine Ursache liegt in der geringen Rentabilität
unter marktverzerrten Rahmenbedingungen. Denn die
internationalen Handels- und Preisverzerrungen, vor al-
lem ausgelöst durch Exportsubventionen der reichen
Länder zusammen mit einer weitgehenden Marktöffnung
der Entwicklungsländer, verursachen, dass Nahrungs-
mittel zu Dumpingpreisen die Entwicklungsländer über-
schwemmen und die eigene Landwirtschaft von ihrer lo-
kalen Nachfrage abkoppeln. Es lohnt sich rein
wirtschaftlich oft nicht mehr, in Landwirtschaft zu inves-
tieren. Das soll aber nicht heißen, dass wir uns aus dem
Bereich zurückziehen sollten. Nein, im Gegenteil, eine
Doppelstrategie wird hier verlangt: Förderung der ländli-
chen Entwicklung bei gleichzeitiger Errichtung eines ge-
rechten Welthandels.
Sehr wichtig in diesem Zusammenhang sind die derzeit
stattfinden EPA-Verhandlungen, Economic Partnership
Agreements, mit verschiedenen afrikanischen und karibi-
schen Entwicklungsländern. Zusätzlich zu den EPA-Ver-
handlungen sollte natürlich aber auch die WTO-Verhand-
lungsrunde endlich erfolgreich abgeschlossen werden.
Denn letztlich müssen für alle Entwicklungsländer ge-
rechte Handelsbedingungen geschaffen und das Verspre-
chen einer „Entwicklungsrunde“ eingelöst werden.
Vor wenigen Tagen – am 16. Oktober – hatten wir den
Welternährungstag. Es ist kein Tag zum Feiern, solange
wir wissen, dass weiterhin 30 000 Menschen täglich an
den Folgen von Hunger sterben. Dennoch habe ich Hoff-
nung, dass die internationale Gemeinschaft sich des The-
mas endlich durchgreifend annimmt. Mut macht zum
Beispiel auch die Auswahl von Herrn Muhammad Yunus
als Friedensnobelpreisträger für seine jahrzehntelange
Tätigkeit im Bereich der Mikrokreditvergabe an arme
Menschen, zumal die meisten der von ihm unterstützten
Kreditnehmer im ländlichen Sektor zu finden sind. Nun
sollten die Industrieländer aber auch ihren Friedensbei-
trag leisten, indem gerechte Wirtschafts- und Handelsbe-
dingungen geschaffen werden. Wenn nicht, wären auch
die Anstrengungen von Herrn Yunus umsonst.
Dr. Karl Addicks (FDP): Die Nahrungssicherung
und die Verbesserung der ländlichen Entwicklung sind
eines der elementaren Probleme der Armutsursachenbe-
kämpfung und eine globale Aufgabe, der wir uns alle
stellen müssen. Denn ohne ausreichende Ernährung
kann keine Entwicklung stattfinden und somit auch
keine wirtschaftliche Entwicklung, Gesundheit oder Bil-
dung. Der aktuelle Bericht der Welthungerhilfe hat wie-
der einmal verdeutlicht, dass es noch keine sichtbaren
Erfolge bei der Halbierung der Zahl der Hungernden bis
2015 gibt, wie es sich die Weltgemeinschaft vorgenom-
men hat. Das Gegenteil ist der Fall. Die Zahlen steigen.
5958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Anhand dieser Zahlen wird deutlich, dass die bisheri-
gen Konzepte und Strategien in der Entwicklungszusam-
menarbeit nicht ihr gewünschtes Ziel erreicht haben. Da
fragt man sich, was kann und muss anders gemacht wer-
den? Die Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen versuchen in ihrem An-
trag Lösungsansätze auf diese Frage zu finden. Manche
vernünftigen Vorschläge mache ich mir auch zu Eigen,
zum Beispiel ländliche Entwicklung stärken oder ge-
rechter Agrarhandel. Das sind aber nur einige Maßnah-
men, die allein zu keiner Verbesserung führen. Indessen
müssen wir alle endlich begreifen, dass die wirksame
Bekämpfung des Hungers nicht isoliert betrachtet wer-
den kann. Wo bleibt die gute Regierungsführung oder
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit? Das habe ich in Ihrem
Antrag an keiner Stelle gefunden. Sie werden einwen-
den, gute Regierungsführung, Demokratie und Rechts-
staatlichkeit könne man nicht essen. Richtig. Aber diese
sind die Voraussetzung jeder Entwicklung, die die Men-
schen letztlich in die Lage versetzt, sich selbst zu versor-
gen.
Warum hungern Menschen? In vielen Ländern Afri-
kas gibt es geradezu ideale Anbaubedingungen. Afrika
könnte 2 Milliarden Menschen versorgen. In vielen Ge-
bieten sind ohne weiteres zwei bis drei Ernten im Jahr
möglich; in anderen Gebieten bei entsprechender Be-
wässerung auch. Warum also der Hunger? Ich kann
Ihnen die Antwort geben: wegen der unaufhörlichen
Misswirtschaft, wegen der Korruption, wegen Zweck-
entfremdung, Diebstahl und Veruntreuung von Mitteln.
Schauen Sie nach Simbabwe. Was in dem Lande an
Nahrungsmittelproduktion möglich war, haben frühere
Zeiten gezeigt.
Wie beseitigen wir also die Ursachen? Ich meine da-
mit die kausale Bekämpfung der Armut und des Hun-
gers. Dafür weigere ich mich auch, von Armutsbekämp-
fung zu sprechen, sondern ich spreche konsequent von
Armutsursachenbekämpfung. Denn hier liegt der
Schlüssel zum Erfolg. Wer will schon ewig Placebos
verteilen? Wir wollen eine kausale Therapie. Also nen-
nen Sie doch die Dinge beim Namen. Nennen Sie die
Begriffe gute Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit,
Bekämpfung von HIV/Aids, Freiheit, Demokratie und
lassen Sie uns danach handeln.
Im aktuellen Hungerindex der Deutschen Welthun-
gerhilfe werden diese Faktoren genannt, wenn es um die
Beseitigung von Hunger geht. Gerade in Afrika sind
HIV/Aids oder fehlende gute Regierungsführung die
Hauptgründe für Hunger und Armut! Dies muss in der
Betrachtung berücksichtigt werden. Denn nur wenn
rechtsstaatliche Strukturen vorhanden sind, kann auch
der in Ihrem Antrag geforderte Zugang zu Land realisiert
werden. Nur wenn Rechtssicherheit herrscht, die vor
Enteignung schützt, oder ein Katasterwesen vorhanden
ist, kann auch ländliche Entwicklung umgesetzt werden.
All dies wurde in Ihrem Antrag leider nicht berücksich-
tigt.
Ich möchte gerne weitere Punkte anführen, die eine
Zustimmung meiner Fraktion zu Ihrem Antrag unmög-
lich machen. Ein zentraler Punkt, der für die FDP nicht
nachvollziehbar ist, betrifft den Einsatz von Gentechnik.
Sie lehnen dies kategorisch ab; verdammen sie gera-
dezu! Warum, frage ich mich. Verlassen Sie doch end-
lich dieses Dogma!! Selbst die FAO-Food and Agricul-
ture Organization – beurteilt den Anbau von BT-Mais in
China als sehr positiv, weil dadurch in großem Umfang
Unfälle mit Pflanzenschutzmitteln vermieden werden
können. So schädlich kann also der Anbau von gentech-
nisch veränderten Pflanzen dann nicht sein. Darüber hi-
naus haben Kleinbauern in Entwicklungsländern auch
einen finanziellen Nutzen vom Anbau gentechnisch ver-
änderter Pflanzensorten. Warum wollen Sie das nicht?
Lassen Sie doch Ihre Denkverbote endlich hinter sich!
Abgesehen von den wirtschaftlichen Vorteilen, liegt
es mir als Arzt am Herzen, Ihnen anhand der gesundheit-
lichen Auswirkungen von Unterernährung darzulegen,
welch Vorteil in dem Anbau von beispielsweise gentech-
nisch verändertem Reis liegt. Der Goldene Reis, angerei-
chert mit Karotin, schützt vor Erblindung. Diese bzw.
Sehstörungen sind die Folgen eines Vitamin-A-Mangels,
wie er häufig bei Kindern in Entwicklungsländern vor-
zufinden ist. Lassen Sie mich dieses Problem anhand ei-
ner Zahl verdeutlichen: 50 Millionen Menschen erblin-
den jährlich aufgrund von Karotinmangel. Wenn dies
beseitigt werden kann, dann bin ich für den Einsatz der
Grünen Gentechnik in der ländlichen Entwicklung und
Landwirtschaft. Es ist zynisch, auf diese Möglichkeit zu
verzichten. Wenn Pflanzen dadurch resistenter gegen-
über Wasserknappheit bzw. Schädlingen sind, dann be-
fürworte ich den Einsatz der Grünen Gentechnik. Ich
kann und will ihre völlige Abneigungen gegenüber die-
ser nicht verstehen, finde Sie auch verantwortungslos
gegenüber den Betroffenen.
Auch die Wirtschaft hat die Notwendigkeit der Gen-
technik in der Entwicklungspolitik erkannt, denn rund
70 Firmen haben, um noch einmal auf den Goldenen
Reis zurückzukommen, auf Lizenzgebühren für ihre Pa-
tente verzichtet. Ein wichtiger Schritt, auch für die Ent-
wicklungspolitik. Damit möchte ich jetzt nicht Tür und
Tor für die Grüne Gentechnik öffnen, sicherlich muss in
diesem Zusammenhang für die Entwicklungsländer, die
sich für einen Einsatz der Grünen Gentechnik entschlos-
sen haben, auch die nötige rechtliche Beratungsleistung
zur Verfügung stehen und müssen auch entsprechende
Rahmenbedingungen geschaffen werden, um einen ver-
antwortungsvollen Umgang mit der Grünen Gentechnik
zu erreichen.
Ein weiterer Punkt, der mir in Ihrem Antrag aufgefal-
len ist, betrifft die Festlegung von Sozial- und Ökostan-
dards und Labels. Darüber brauche ich gar nicht lange zu
reden, denn Handelshemmnisse, die dadurch erzeugt
werden, können und wollen wir Liberalen nicht unter-
stützen.
Ein ganz zentrales Problem in Ihrem Antrag ist, dass
Sie zwar mehr Geld für die ländliche Entwicklung for-
dern, aber nicht sagen, wo das Geld herkommen soll?
Wissen Sie, mehr Geld zu fordern, ist immer einfach,
doch Vorschläge zu machen, wie auch mit dem vorhan-
denen Geld eine Verbesserung erreicht werden kann, das
ist schwer und wird leider häufig nicht gemacht. Bevor
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5959
(A) (C)
(B) (D)
mehr Geld gefordert wird, sollte über Geberharmonisie-
rung nachgedacht werden, sollten Effizienzreserven mo-
bilisiert werden, sollten die oben genannte Fehlverwen-
dung und der Fehlabfluss gestoppt werden und, und,
und. Denn nur so können doppelte Arbeit vermieden und
die Gelder dann auch effizient eingesetzt werden. Das
allein führt meist schon zu verbesserten Ergebnissen.
Glauben sie mir.
Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Ein Antrag,
der die weltweite Hungerbekämpfung ins Zentrum der
Politik stellt, findet die Zustimmung der Linksfraktion.
Insbesondere begrüßen wir die Absicht, die Ergebnisse
der zweiten Weltkonferenz für Agrarreform und ländli-
che Entwicklung – ICAARD – vom März 2006 auf die
Tagesordnung des Bundestages zu stellen. Ich erinnere
daran, dass diese Konferenz von der Bundesregierung,
wie auch vielen anderen Regierungen, sträflich vernach-
lässigt wurde.
Die Ursache dafür ist nicht schwer auszumachen. Die
erste Weltkonferenz, die den Zusammenhang zwischen
Hunger und ungerechter Landverteilung zum Inhalt
hatte, fand 1979 statt. Danach brach diese globale De-
batte ab. Seit den 80er-Jahren wird sie stattdessen von
Konzepten dominiert, die die enthemmte Privatisierung
staatlich geschützter Bereiche in der Dritten Welt als ei-
nen Beitrag zur Entwicklung verkaufen.
Das Ergebnis ist bekannt. Die so genannten Struktur-
anpassungsprogramme der 80er- und 90er-Jahre von
Weltbank und IWF haben die Massenarbeitslosigkeit in
vielen Entwicklungsländern in unerträgliche Höhen ge-
schraubt und so die vorangegangenen Erfolge von zwei
Jahrzehnten Armutsbekämpfung vernichtet. Lassen Sie
mich eines betonen: In den meisten Hungerepidemien
fehlt es nicht an Nahrungsmitteln, sondern an Geld, um
Essen zu kaufen. So wurden während der Hungerkata-
strophe in Niger von 2005 noch Nahrungsmittel in das
benachbarte Nigeria ausgeführt, während die Armen im
eigenen Land starben. Eine Beeinträchtigung der Ernte
um rund 10 Prozent genügte, um die Getreidepreise so
zu steigern, dass sich viele Menschen im Niger schlicht-
weg kein Essen mehr leisten konnten.
Armut ist das Ergebnis des globalen Kapitalismus.
Sie kann nur durch staatliche Eingriffe gedämpft wer-
den. Die WTO-Verhandlungen aber zielen seit zehn Jah-
ren darauf ab, den von IWF und Weltbank angestoßenen
Prozess der Zerstörung der staatlichen Grundversorgung
in den Entwicklungsländern fortzusetzen. Die Bundes-
regierung hält an den neoliberalen Dogmen fest, ob-
gleich die Liste der gescheiterten Entwicklungsprojekte
jährlich länger wird. Nehmen wir das Beispiel Tansania.
Im August 2003 gewährte die tansanische Regierung
City Water, ein privates deutsch-britisch-tansanisches
Gemeinschaftsunternehmen, die Übernahme der Was-
serversorgung in der Hauptstadt Dar es Salaam. Das Pri-
vatisierungsprojekt war Ergebnis der Verhandlungen im
Rahmen des vom IWF aufgelegten Strukturanpassungs-
programms von 1996 bis 1999, sowie des Armutsredu-
zierungsprogramms der Jahre 2000 bis 2003. Dem Kon-
sortium brachte der Vertrag Gewinne, den Armen neue
Not. Die Wasserpreise stiegen, ebenso die Anfälligkeit
für Cholera. Die Bilanz des „Entwicklungsprojektes“
war so miserabel, dass sich die tansanische Regierung
nach nicht einmal zwei Jahren im Mai 2005 gezwungen
sah, den Vertrag mit City Water wieder zu kündigen.
Staatlicher Schutz vor Marktmechanismen ist auch in
ländlichen Gebieten entscheidend im Kampf gegen ex-
treme Armut und Hunger. Eine wichtige Funktion üben
in diesem Zusammenhang Zölle aus, mit denen die Ent-
wicklungsländer ihre Landwirtschaft vor den Agrar-
exporten aus dem Norden abschirmen. Wenn Milch aus
subventioniertem Milchpulver der Industriestaaten billi-
ger ist als die Frischmilch der einheimischen Viehzüch-
ter, dann wird die Existenzgrundlage der Kleinbauern in
den Entwicklungsländern vernichtet. Dieses Phänomen
lässt sich in vielen subsaharischen Staaten Afrikas be-
obachten. Es erklärt, warum der größte Teil der Hun-
gernden selbst auf dem Land lebt. Die im Zuge der
jüngsten WTO-Verhandlungen erhobene Forderung nach
einer Absenkung der Schutzzölle für Entwicklungs-
länder hätte diesen Prozess weiter verschärft. Insofern
kann man das Scheitern der Verhandlungsrunde nicht be-
dauern.
Es ist deshalb im höchsten Maße irreführend, wenn
die Grünen in ihrem ansonsten unterstützenswerten An-
trag die Hoffnung auf eine Wiederbelebung des „Ent-
wicklungsmandates der WTO-Verhandlungen“ ausspre-
chen. Bei den Verhandlungsteilnehmern in der so
genannten Doha-Entwicklungsrunde handelte es sich um
die Vertreter der Wirtschaftsministerien. Ihr einziger
Auftrag bestand in der Durchsetzung der globalen Inte-
ressen der eigenen Unternehmen. Sie verfügten über
kein Entwicklungsmandat, sondern über ein reines Pri-
vatisierungsmandat. Im Interesse der Armen in den Ent-
wicklungsländern sollten wir den Mut haben, solche
Fehlentwicklungen klar auszusprechen.
Drei Viertel der weltweit 852 Millionen Hungernden
leben auf dem Lande. Die extrem ungleiche Verteilung
von Land ist eine der Hauptursachen für die Existenz
von Hunger. Dazu wurde während der ICAARD festge-
stellt:
Landwirtschaftliche Modernisierung durch die Inte-
gration in die Weltmärkte, gewöhnlicherweise nicht
begleitet von Veränderungen in den ländlichen
Strukturen, haben oft ungewollte Konsequenzen:
Ein Anstieg von Einkommensungleichheiten und
Landkonzentration, eine Verminderung der Wettbe-
werbsfähigkeit, eine verstärkte Existenzunsicher-
heit für Familienbetriebe, Umweltzerstörung … Ein
hohes Maß an ökonomischer und ländlicher Kon-
zentration stellt eine Hürde für die Verwirklichung
sozialer Gerechtigkeit dar, die Millionen nicht die
Ausübung ihrer vollen Staatsbürgerrechte erlaubt.
Diese Erkenntnis will ich unterstreichen. Die Be-
kämpfung von Hunger erfordert in vielen Ländern der
Erde mutige Schritte zu ausgedehnten Landreformen.
Nur wenn Großgrundbesitzer zugunsten der Landlosen
enteignet werden, kann das Übel an der Wurzel gepackt
werden. Ich betone: Es geht nicht um blinde Aktionen,
die wie in Simbabwe nur dazu führen, die ländliche
5960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Produktion zu untergraben. Es geht um die Demokrati-
sierung der armen Gesellschaften.
Es ist deshalb kein Zufall, dass an der zweiten Welt-
konferenz für Agrarreform und ländliche Entwicklung in
Porto Alegre einige Tausend Bauern teilnahmen. Denn
auch in Brasilien geht die versprochene Landreform viel
zu langsam vonstatten. Die Ausrichtung der Lula-Regie-
rung auf das große exportorientierte Agrarkapital bringt
den Landlosen wenig. Hinzu kommt, dass viele brachlie-
gende Latifundien einfach nicht enteignet werden. In
den vergangenen zehn Jahren haben 600 000 Landlose
eine Scholle erhalten. Aber immer noch gibt es mehr als
vier Millionen landlose bäuerliche Haushalte.
Es ist bitter, dass sich die Zahl der Hungernden und
extrem Armen seit Verkündung der Millenniumsziele
nicht reduziert hat. Dies zeigt, dass bloße Absichtserklä-
rungen nichts ausrichten, solange die grundlegenden Ur-
sachen für die extreme Armut in weiten Teilen der Welt
nicht beseitigt werden. Die Linke steht für die Sicherung
und Wiederherstellung von Ernährungssouveränität
durch den Schutz ländlicher Strukturen in den Entwick-
lungsländern, für den Wiederaufbau staatlicher Daseins-
vorsorge und die Umverteilung von Land zugunsten der
Landlosen. Dies allein kann dafür sorgen, auf dem Weg
zu einer effektiven Armuts- und Hungerbekämpfung vo-
ranzukommen.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bis-
her gab es unter den Fraktionen dieses Hauses bei der
Frage der Ernährungssicherheit in vielen Punkten Kon-
sens. Es waren die Regierung Kohl, die auf dem Welter-
nährungsgipfel 1996 in Rom das Menschenrecht auf Er-
nährung anerkannt hat, und vor allem Ministerin Künast,
die den Prozess finanziell und politisch unterstützt hat.
Dieser Welternährungsgipfel jährt sich jetzt zum
zehnten Mal und es bleibt festzuhalten, dass es dennoch
im Kampf gegen den Welthunger unter dem Strich kaum
positive Ergebnisse vorzuweisen gibt. Vielmehr muss
festgestellt werden, dass es statt zu einer Verminderung
der Zahl der Hungernden zu einem Anstieg der Betroffe-
nen gekommen ist. Da helfen auch keine statistischen
Tricks, die die Zahlen schöner färben sollen und statt
von der absoluten Zahl der Betroffenen von dem relati-
ven Anteil der Hungernden an der Weltbevölkerung zu
reden. Ziel der Millennium Developement Goals war es,
die Zahl der Hungernden bis 2015 auf 400 Millionen zu
senken. Das auch nur als ein erstes Etappenziel. De facto
sind wir aber heute bei über 850 Millionen Kindern,
Frauen und Männern, die vom Tod bedroht sind, und
werden 2015 voraussichtlich immer noch erst bei
600 Millionen Hungernden angelangt sein.
Der gerade erschienene „Welthungerindex“, heraus-
gegeben von der Welthungerhilfe und dem International
Food Policy Research Institute, zeigt, dass Hunger und
Unterernährung sehr ungleich verteilt sind in den Regio-
nen der Welt. Die Ursachen hierfür sind zum Beispiel
Krieg, Armut, schlechte Regierungsführung und die
Seuche Aids. Leider zeichnet sich ab, dass Afrika wei-
terhin der Kontinent sein wird, der am meisten Besorg-
nis erregt.
Lebensmittel für die Weltbevölkerung gäbe es heute
genug. Doch paradoxerweise sind es vor allem diejeni-
gen, die auf dem Land leben, die am stärksten unter
Hunger zu leiden haben. Gerade dort, wo die Lebensmit-
tel erzeugt werden könnten, ist Unterernährung das
Hauptproblem. Das heißt aber auch, dass gerade dort an-
gesetzt werden muss. Hier wird man an der Frage der
Landrechte und der Umverteilung der Ressource Boden
nicht vorbei kommen, ebenso wenig wie an einer ge-
rechteren Regelung des Agrarhandels.
Von besonderer Bedeutung ist daher, dass der „ländli-
chen Entwicklung“ in der Entwicklungszusammenarbeit
eine hohe Priorität eingeräumt wird. Etwa kann eine Ent-
wicklungszusammenarbeit, die sich viel stärker als bis-
her an der Umsetzung des Rechts auf Nahrung orientiert,
dem Hunger entgegenwirken. Die 2004 auf Initiative
von Renate Künast von allen 184 Mitgliedstaaten der
Welternährungsorganisation FAO beschlossenen interna-
tionalen Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nah-
rung könnten ein hervorragendes Instrument sein, der
Bekämpfung des Hungers mehr Gewicht zu verleihen.
Dazu braucht es aber Staaten, die diese Richtlinien enga-
giert anwenden.
Nach diesen Leitlinien wäre jedes Land verpflichtet,
zunächst Rechenschaft darüber abzulegen, welche Be-
völkerungsgruppen in welchen Regionen chronisch un-
terernährt sind, um dann mit einem nationalen Strategie-
plan zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung auf diese
Missstände zu antworten.
Nach den von den FAO-Mitgliedsstaaten beschlosse-
nen Leitlinien wird unter dem Recht auf Nahrung vor al-
lem das Recht gemeint, ausreichend Lebensmittel an-
bauen oder erwerben zu können. Dies bedeutet unter
anderem Zugang zu Land, Wasser und Saatgut – vor al-
lem für Kleinbauern, die in vielen Ländern der Welt von
Großgrundbesitzern und transnationalen Konzernen ent-
rechtet und verdrängt werden.
Eine wichtige Aufgabe der Entwicklungszusammen-
arbeit müsste es sein, Unterstützung bei der Umsetzung
von Landreformen zu geben und vor allem den Anbau
von Grundnahrungsmitteln für regionale Märkte zu för-
dern. Programme zur Förderung der Agrarexportwirt-
schaft sind nur dann zu verantworten, wenn sie der Er-
nährungssicherung der Menschen in den Anbauländern
nicht zuwiderlaufen. Die Mittel und Methoden der „grü-
nen Gentechnik“ sind unserer Meinung nicht geeignet,
einen Beitrag zur Bekämpfung des Hungers zu leisten.
Ganz im Gegenteil: In vielen Entwicklungs- und
Schwellenländem haben sie zu ökologischen und sozia-
len Verwerfungen geführt und die prekäre Situation der
Kleinbauern noch weiter verschlechtert.
Deutschland sollte im nächsten Jahr im Rahmen sei-
ner G-8- und EU-Ratspräsidentschaft zu einer Umset-
zungskonferenz der „Recht auf Nahrung“-Leitlinien ein-
laden und darauf achten, dass auch in bi- und
multilateralen Zoll- und Handelsabkommen das Recht
auf Nahrung gefordert und nicht konterkariert wird.
Ebenso fordern wir die Bundesregierung auf, fol-
gende wichtige Elemente umzusetzen: Den fairen Agrar-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5961
(A) (C)
(B) (D)
handel in der WTO voranzubringen, das heißt, sich für
die Senkung von Agrarsubventionen, die sich besonders
Markt verzerrend auswirken, in den Industrieländern
einzusetzen, damit die Produzenten in den Entwick-
lungsländern nicht weiter durch Agrardumping geschä-
digt werden. Im Bundeshaushalt deutlich mehr Mittel für
die ländliche Entwicklung in Entwicklungsländern zur
nachhaltigen Bekämpfung des Hungers bereitzustellen.
Durch die Schaffung von ökologischen und sozialen
Standards und Labels insbesondere bei Soja, Mais und
anderen als Futtermittel dienenden oder Energie liefern-
den Pflanzen darauf hinzuwirken, dass Vertreibung von
Indigenen und Kleinbauern sowie die Zerstörung der na-
türlichen Lebensgrundlagen und der biologischen Viel-
falt unterbleiben.
Aber auch wir können als Konsumenten etwas tun:
„Grün leben“, einen nachhaltigen Lebensstil und Kon-
sum zu praktizieren, ist heute „cool“. Einmal in der Wo-
che Biomilch trinken, weniger Fleisch essen, faire Pro-
dukte kaufen: Es gibt viele Möglichkeiten zu verhindern,
dass mit Gen-Soja sich die agrarindustrielle Produktion
weiter breit macht und die Lebensräume der Armen, ihre
landwirtschaftlichen Nutzflächen und die Wälder der
Entwicklungs- und Schwellenländer weiter zerstört.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: In der EU-Mittel-
meerpolitik mehr auf Demokratisierung und
Good Governance drängen (Tagesordnungs-
punkt 21)
Joachim Hörster (CDU/CSU): Der Antrag der
FDP-Fraktion, über den wir heute reden, enthält einige
gute Ansätze. Er zeichnet ein recht genaues Bild des mo-
mentanen Zustands der EU-Mittelmeerpolitik.
Ich teile die Auffassung, dass das Strategiepapier, das
die Europäische Kommission 2004 vorgestellt hat, ein
guter Ansatz ist, der Europäischen Nachbarschaftspolitik
– ENP – neue Impulse zu geben. Auch eine Zusammen-
führung der Finanzierungsprogramme MEDA und
TACIS zum neuen Nachbarschafts- und Partnerschafts-
instrument ENPI halte ich für sinnvoll. Die Europäische
Union muss mehr Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten
haben, was mit ihrem Geld passiert. Bei ENPI wird stär-
ker auf die Reformwilligkeit der betreffenden Länder ab-
gestellt. Das ist wichtig, denn wir wollen auch nachhal-
tige Erfolge sehen.
Sie erwähnen den so genannten Barcelonaprozess und
schlussfolgern, seine Ergebnisse seien ernüchternd. Das
würde ich so negativ nicht formulieren. Mehr als zehn
Jahre ist es her, dass der Barcelonaprozess, der inzwi-
schen in die neue Europäische Nachbarschaftspolitik in-
tegriert ist, in Gang gesetzt wurde. Der Europäische Rat
in Essen hat 1994 auf Grundlage eines während der deut-
schen EU-Ratspräsidentschaft unter Bundeskanzler
Helmut Kohl erarbeiteten Berichts zur Mittelmeerpolitik
die Weichen für die Konferenz der Außenminister der
Europäischen Union im November 1995 in Barcelona
gestellt. Nach 20 Jahren intensiver bilateraler Handels-
und Entwicklungszusammenarbeit wurde in Barcelona
die heutige Euro-Mittelmeer-Partnerschaft ins Leben ge-
rufen. Der mit dieser Konferenz in Gang gesetzte Barce-
lonaprozess gliedert die Zusammenarbeit zwischen der
Europäischen Union und den Mittelmeerstaaten Nord-
afrikas und des Nahen Ostens in drei Bereiche, so
genannte Körbe: erstens politische und sicherheitspoliti-
sche Partnerschaft, zweitens Wirtschafts- und Finanzpart-
nerschaft und drittens soziale, kulturelle und menschliche
Partnerschaft.
Die Hervorhebung der menschlichen Dimension in
Korb 3 sollte ein politisches Signal sein, dem alle Part-
ner des Barcelonaprozesses, insbesondere im Bereich
der Menschen- und Bürgerrechte, der Sozialpartner-
schaft und der Rechte auf freie wirtschaftliche Betäti-
gung auch außerhalb der Regierungsebene eine beson-
dere Bedeutung beimessen.
Ende 2005 wurde in Barcelona der zehnte Jubiläums-
gipfel des Barcelonaprozesses gefeiert. Unglücklicher-
weise fehlten bei den Feierlichkeiten die meisten Staats-
und Regierungschefs des Südens. Warum? Ich denke,
dafür gibt es verschiedene Gründe.
Zum einen liegt es wohl daran, dass viele Länder, die
mit der Europäischen Union getroffenen Vereinbarungen
nicht umgesetzt haben. Daran sind größtenteils regionale
Konflikte schuld – im Nahen Osten stärker, in den Staa-
ten Nordafrikas etwas weniger. Zum anderen sind aufs-
eiten der Europäischen Union Kompetenzen teilweise
unklar und Überprüfungskriterien zu schwammig formu-
liert.
Ich möchte an dieser Stelle die Euromediterrane Par-
lamentarische Versammlung – EUROMED-PV – erwäh-
nen, der wir auch in unserem Hause mehr Aufmerksam-
keit schenken sollten, weil sie ein wichtiges Organ in
diesem Zusammenhang ist. Von den Außenministern der
Teilnehmerstaaten des Barcelonaprozesses im Dezember
2003 in Neapel als Nachfolgeorgan des Euromediterra-
nen Parlamentarischen Forums beschlossen, wurde die
EUROMED-PV in einer beratenden Eigenschaft in den
Rahmen des Barcelonaprozesses aufgenommen. Der
Deutsche Bundestag trat der EUROMED-PV mit Be-
schluss vom 10. März 2004 bei. Die Versammlung soll
den Gedankenaustausch zwischen den Parlamenten der
Partnerländer fördern und der euromediterranen Zusam-
menarbeit durch die stärkere Institutionalisierung der
parlamentarischen Dimension neue Impulse verleihen.
Sie setzt sich zusammen aus 240 Parlamentariern, von
denen jeweils die Hälfte aus den Partnerländern im Mit-
telmeerraum und der Europäischen Union entsendet
werden. Das Europäische Parlament schickt 45 Mitglie-
der in die Versammlung. Nach der Konstituierung im
März 2004 fand ein Jahr später, im März 2005, die erste
mehrtätige Plenarsitzung dieses Gremiums in Kairo
statt. Neben den oben Genannten waren Bulgarien, Li-
byen, Mauretanien und Rumänien bei der Plenarsitzung
in Kairo als Beobachter vertreten, genauso wie Vertreter
der Arabischen Parlamentarischen Union, der Interparla-
mentarischen Union und der Parlamentarischen
5962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Versammlung des Europarates. Im Rahmen der Plenar-
sitzung wurden mehrere Resolutionen verabschiedet. Zu
deren wesentlichen Elementen gehörten die Bekräfti-
gung des Barcelona-Prozesses als der zentrale Rahmen
der künftigen Zusammenarbeit sowie die Würdigung der
Europäischen Nachbarschaftspolitik.
Die Auffassung vieler Kritiker, die den Barcelona-
Prozess schön häufiger für – fast – tot erklärt haben, tei-
len die Mitglieder der EUROMED-PV nicht. Mehrere
Redner hatten während der Plenarsitzung die Befürch-
tung geäußert, dass die Europäische Nachbarschafts-
politik die Bemühungen der EU, im Rahmen des
Barcelonaprozesses mit den Mittelmeeranrainern zusam-
menzuarbeiten, in den Hintergrund drängen könnte. Die
Delegierten betonten außerdem, dass der ungelöste Nah-
ostkonflikt kein Vorwand für mangelnde Reformen sein
dürfe. Die Roadmap wurde als Referenzrahmen für die
Lösung des Nahostkonfliktes bestätigt. Dem stimme ich
uneingeschränkt zu. Ich bin der Meinung, dass in diesem
Gremium genau die richtigen Akteure zusammensitzen,
um die wichtigen Ziele dieser euromediterranen Zusam-
menarbeit zu erreichen, nämlich den Aufbau eines Rau-
mes von Frieden, Demokratie und Stabilität und einer
Freihandelszone im Mittelmeerraum. Wir sollten uns
also bemühen, dieses wichtige Gremium entsprechend
zu würdigen und seine Arbeit zu unterstützen, anstatt es
schlecht zu reden und seine Bedeutung infrage zu stel-
len.
Die FDP kritisiert in ihrem Antrag, Aufbau und Stär-
kung der Zivilgesellschaft im südlichen und östlichen
Mittelmeerraum seien im Barcelonaprozess sträflich ver-
nachlässigt worden. Der Anteil der EU-Fördergelder, der
Akteuren der Zivilgesellschaft zugute komme, sei im
Mittelmeerraum geringer als bei allen anderen Entwick-
lungsregionen. Obwohl 90 Prozent der Mittel für Pro-
jekte zur Stärkung der wirtschaftlichen Konkurrenzfä-
higkeit der Mittelmeernachbam ausgegeben worden
seien, habe sich die Erwartung, dadurch werde auch ein
politischer Reformprozess ausgelöst, in den meisten
Ländern nicht erfüllt.
Ich habe diese Zahl nicht eigens überprüft, stimme
mit Ihnen aber insoweit überein, dass der Entwicklung
der Zivilgesellschaft die Schlüsselposition im Wandel
hin zu Frieden, Demokratie und Stabilität zukommt. Wir
müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir es mit vie-
len verschiedenen Staaten zu tun haben, die oft einen un-
terschiedlichen geschichtlichen und politischen Hinter-
grund haben. Es gibt insofern keine Universalstrategie.
Ein differenzierter Ansatz für die spezifischen Probleme
in den einzelnen Ländern wird benötigt. Am wenigsten
gewinnbringend wäre es, wenn bei unseren Partnerlän-
dern im südlichen und östlichen Mittelmeerraum der
Eindruck entstünde, man wolle ihnen Lösungen für regio-
nale Konflikte aufpfropfen.
Die Aussicht wäre schön, um Europa herum einen
Kreis von Staaten zu wissen, die unsere Auffassungen
von Demokratie und Frieden teilen. Wir haben allerdings
unlängst in Palästina gesehen, was passieren kann, wenn
Wahlen nach unserem Dernokratieverständnis zwar frei
und fair ablaufen, am Ende aber eine Regierung demo-
kratisch gewählt ist, die etablierte internationale Normen
vollständig zurückweist und insofern von niemandem
anerkannt wird.
Gerade in ethnisch gespaltenen Gesellschaften – wir
beobachten dies gerade im Irak – können freie und faire
Wahlen zu Instabilität führen, wenn die nationale Identi-
tät schwach ist und ethno-religiöse Trennlinien mobili-
siert werden.
Wir müssen also früher ansetzen. Wir sollten uns zum
Ziel setzen, die Fundamente der Demokratie zu stärken,
insbesondere die Förderung der nationalen Integration,
die Entwicklung der Medien, die Schaffung von Rah-
menbedingungen für kollektives Handeln und der Aus-
bau des Rechtsstaates. Nur so werden mittels freier und
fairer Wahlen auch – aus unserer Sicht – akzeptable Per-
sönlichkeiten in Führungspositionen gewählt werden.
Ein zentrales Anliegen hin zu mehr Demokratisierung
muss sein, die hartnäckig hohen Analphabetenquoten,
insbesondere bei Frauen, zu reduzieren und den Zugang
zu Bildungseinrichtungen, seien es Schulen oder Hoch-
schulen, entscheidend zu verbessern. Der Bericht der
Vereinten Nationen zur menschlichen Entwicklung in
den arabischen Staaten – Arab Human Development Re-
port – zeichnet gerade in diesen wichtigen Bereichen
menschlichen Lebens gravierende Defizite in der arabi-
schen Welt nach. Gerade die Zivilgesellschaft ist hier ge-
fordert, sich zu engagieren, natürlich mit unserer Hilfe,
aber auch so, dass Erfolge endlich sichtbar werden und
somit die Verwendung der Mittel, die vonseiten der Eu-
ropäischen Union in diesem Bereich investiert werden,
auch eine Rechtfertigung haben. Aber auch Europa muss
erkennen, dass hier Handlungsbedarf besteht. Die im
Rahmen der Mittelmeerkomponente der Europäischen
Nachbarschaftspolitik zu vereinbarenden Aktionspläne
müssen die Bereiche Bildung und Forschung ganz klar
priorisieren. Insoweit stimme ich der FDP zu.
Ich will zum Schluss kurz auf den Nahostkonflikt ein-
gehen, der oft als Bremse im Barcelonaprozess genannt
wird. Der Antrag der FDP beschäftigt sich ja ebenfalls
mit dem Thema. Ich stimme mit Ihnen überein, dass das
Stocken des Friedensprozesses im Nahen Osten keine
Entschuldigung für reformunwillige Regime sein darf.
Die Araber und auch Israel betrachten diesen Kon-flikt
sehr emotional. Das würden wir auch tun, wenn wir um
unsere Existenz bangen würden. Die internationale Staa-
tengemeinschaft muss positive Ansätze zur Lösung die-
ses Konfliktes finden. Bereits genannt habe ich die
Roadmap. Erwähnen möchte ich aber auch den Frie-
densplan des saudischen Kronprinzen Abdallah, den die
Arabische Liga auf ihrem Gipfeltreffen in Beirut im Jahr
2002 verabschiedet hat. Er enthält konkrete Friedensvor-
schläge und fordert die Sicherheit und Souveränität des
Staates Israel. Dieser Plan ist aus arabischer Sicht abso-
lut unverdächtig und sollte mehr in die Verhandlungen
einbezogen werden.
Die FDP-Fraktion schließt ihren Antrag mit einem
umfangreichen Forderungskatalog ab. Die parlamentari-
schen Beratungen werden zeigen, ob, und, wenn ja, wel-
che, Forderungen machbar und in diesem Hause kon-
sensfähig sind.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5963
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Rolf Mützenich (SPD): Seit über einem Jahr-
zehnt verfolgt die EU im Rahmen des Barcelonapro-
zesses eine multilaterale Nachbarschaftspolitik mit den
Mittelmeeranrainern. Doch der euro-mediterrane Dialog
scheint festzustecken. Wesentliche Erfolge der euro-
mediterranen Partnerschaft sind bis heute ausgeblieben.
Abgesehen von Marokko, sind in den südlichen Nach-
barländern der EU bisher kaum Fortschritte bei der De-
mokratisierung und den Menschenrechten erzielt worden
Innerhalb der EU ist man sich zu oft nicht einig, wie
mit der Menschenrechtssituation in solchen Ländern um-
gegangen werden soll, die autoritär regiert werden. Die
Glaubwürdigkeit der EU-Mittelmeerpolitik leidet auch
darunter, dass oftmals Menschenrechte gegen Zuge-
ständnisse in der Sicherheitspolitik regelrecht einge-
tauscht werden.
Die Bundesregierung sollte sich daher in Brüssel da-
für einsetzen, dass die finanzielle Förderung künftig
noch stärker als bisher an deutliche Fortschritte bei der
Demokratisierung gebunden wird. Deshalb ist es auch
richtig, dass die EU in Zukunft ihre finanzielle Unter-
stützung für die südlichen Mittelmeeranrainer verstärkt
Nichtregierungsorganisationen zukommen lassen will.
Bislang ist nämlich der Aufbau der Zivilgesellschaft in
diesen Ländern vernachlässigt worden. Der Anteil der
EU-Fördergelder, der den Akteuren der Zivilgesellschaft
zugute kommt, muss also deutlich erhöht werden. Vor al-
lem die Förderung der Bildung muss in den betroffenen
Ländern stärker berücksichtigt werden. Der Ausbau von
Wissenskapazität ist eine sichere Investition in die Zu-
kunft der Menschen, vor allem vor dem Hintergrund,
dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung in den medi-
terranen Partnerstaaten unter 15 Jahren alt ist.
Der Nahostkonflikt belastet weiterhin die Beziehun-
gen zwischen den Partnern: Bereits nach dem Beginn der
zweiten Intifada im September 2000 traten die Grenzen
des Dialogs deutlich zutage. So boykottierten die syri-
sche und die libanesische Delegation die Ministerkon-
ferenzen von Marseille 2000 und Valencia 2002 und pro-
testierten damit gegen die israelische Besetzung der
Palästinensergebiete.
Der Nahostkonflikt hat sich damit immer wieder als
das große Hindernis für den Barcelonaprozess erwiesen.
Hier muss – vor allem auf bilateraler Ebene – klar-
gemacht werden, dass der Konflikt keine Entschuldi-
gung für reformunwillige oder gar -unfähige Regime
sein darf. Natürlich muss sich auch die EU insgesamt
weiterhin verstärkt um eine Fortführung des Nahost-
Friedensprozesses bemühen. Aber, liebe Kolleginnen
und Kollegen der FDP, wenn Sie in Ihrem Antrag eine
Lösung des Nahostkonflikts als Voraussetzung für Fort-
schritte im EU-Mittelmeerdialog anmahnen, wieso ha-
ben Sie dann gegen den Libanoneinsatz der Bundeswehr
gestimmt, der im Rahmen von UNIFIL einen wichtigen
Beitrag hierfür leistet?
Für neue Impulse in der EU-Mittelmeerpolitik ist al-
lerdings auch eine grundsätzliche Reformbereitschaft
der südlichen EU-Nachbarländer notwendig. Ohne ein
verstärktes Engagement der EU werden diese Ziele
kaum erreicht werden können.
Doch nicht nur für die EU-Anrainerstaaten des Mittel-
meeres sind gute Beziehungen zu den nordafrikanischen
Staaten wichtig. Der Mittelmeerraum und die Erweite-
rung sind für die Europäische Union von gemeinsamem
Interesse. Der politische Dialog mit diesen Ländern
muss auch auf religiöser und kultureller Ebene vertieft
werden. Letztlich muss den Menschen in Nordafrika
eine wirtschaftliche und soziale Perspektive geboten
werden. Und: Die EU-Mittelmeerpolitik wird nur erfolg-
reich sein, wenn der Nahostkonflikt gelöst wird.
Die Förderung und Achtung der Demokratie, der
Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Grund-
freiheiten sind eine wesentliche Grundlage für die Ent-
wicklung des Mittelmeerraums.
Ich möchte hier den Forderungskatalog des Euro-
päischen Parlaments ausdrücklich unterstützen, der die
Unterzeichner der Europa-Mittelmeer-Assoziierungs-
abkommen unter anderem dazu auffordert, die Men-
schenrechts- und Demokratieklausel durch ein Aktions-
programm zur Stärkung und Förderung der Achtung der
Menschenrechte aufzuwerten.
Auf einen Punkt möchte ich abschließend besonders
hinweisen. Es ist meines Erachtens von besonderer Be-
deutung, die Zusammenarbeit zwischen der Euro-
päischen Union und den Mittelmeerländern auch im
Bereich der Sicherheit fortzusetzen und zu vertiefen. Die
Aufnahme von Klauseln über die Nichtverbreitung von
Massenvernichtungswaffen in die jüngsten Abkommen
und Aktionspläne weist in die richtige Richtung. Lang-
fristig bleibt das Ziel, den Mittelmeerraum zu einem
massenvernichtungswaffenfreien Raum zu erklären.
Dabei darf die künftige Zusammenarbeit sich nicht
nur an sicherheitspolitischen oder anderen damit verbun-
denen Bedürfnissen der Europäischen Union orientieren.
Vielmehr muss der Zusammenhang zwischen den drei
Bereichen der Zusammenarbeit – Frieden, Handel und
Zivilgesellschaft – stärker in den Vordergrund gerückt
werden.
Angesichts der Schwächen des Barcelonaprozesses in
der Vergangenheit sind der politische Wille und eine
pragmatische Betrachtungsweise jetzt mehr denn je
Grundvoraussetzungen für das Gelingen der Partner-
schaft. Ich stimme deshalb den Kollegen von der FDP
insofern zu, als die Beziehungen zwischen den Mittel-
meerländern dringend neue Impulse benötigen, und for-
dere insbesondere alle Mitgliedstaaten der Europäischen
Union auf, sich konzentriert darum zu bemühen, dem
Barcelonaprozess neuen Schwung zu verleihen.
Die Achtung der Menschenrechte, die Stärkung der
Demokratie, die bessere Beteiligung der Bürger wie der
Zivilgesellschaft an politischen Entscheidungen, die
Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie die
Meinungs- und Informationsfreiheit, außerdem der
Kampf gegen den Terrorismus sowie die Nichtverbrei-
tung von Massenvernichtungswaffen sind wichtige
Punkte der Nachbarschaftspolitik. Nicht zuletzt gründet
sie auf den Prinzipien der Marktwirtschaft und der nach-
haltigen Entwicklung.
5964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Karl Addicks (FDP): Zehn Jahre nach Beginn
des Barcelonaprozesses ist es Zeit, Bilanz zu ziehen.
Leider fällt die Bilanz ernüchternd aus. Ich sage bewusst
leider, denn 1996 ist man mit großen Zielen angetreten,
um eine bessere Zusammenarbeit zwischen der EU und
den Mittelmeeranrainerstaaten zu erreichen. Doch, bis
auf Marokko, zeigen sich keine erwähnenswerten Fort-
schritte bei der Demokratisierung und der Durchsetzung
von Menschenrechten.
Die Fortschritte in Marokko habe ich erst kürzlich
selbst gesehen, als ich gemeinsam mit Frau Bundes-
ministerin Wieczorek-Zeul das Land besuchen konnte.
In Gesprächen mit dem Premierminister und anderen
Ministern der marokkanischen Regierung sowie mit Par-
lamentarierinnen wurden vor allem die Fortschritte des
Landes in den letzten Jahren sichtbar. Dort wurde eine
sehr ermutigende neue Politik in Gang gesetzt. Aber lei-
der stellt Marokko eine Ausnahme dar.
Im Zuge der EU-Osterweiterung hat die Europäische
Kommission im Jahr 2004 ein Strategiepapier zur neuen
europäischen Nachbarschaftspolitik vorgelegt. Darin
wird eine Vertiefung der Beziehungen der EU zu ihren
Nachbarländern angestrebt. Der Barcelonaprozess ist in
diese neue europäische Nachbarschaftspolitik integriert.
Ein guter Ansatz ist in diesem Zusammenhang die
Neustrukturierung der finanziellen Förderung der ENP-
Partnerländer. Ab 2007 werden MEDA und TACIS zu
dem neuen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstru-
ment ENPI zusammengefasst. Dabei soll zukünftig stär-
ker auf die Reformwilligkeit der betreffenden Länder ab-
gestellt werden. Länder, die diese Reformwilligkeit nicht
erkennen lassen, müssen dann auch mit entsprechenden
Kürzungen oder dem Wegfall der finanziellen Förderung
durch die EU rechnen. Die Gelder der EU sollten dann
nämlich direkt an anerkannte Nichtregierungsorganisa-
tionen vergeben werden. Um solche Entwicklungen
rechtzeitig zu erkennen, muss ein zeitnahes Monitoring
durch Sub-Comittees die Fortschritte in den Ländern
umfassend bewerten. Ich denke dass wir uns in diesem
Punkt einig sind. Es müssen sichtbare Fortschritte in den
Bereichen der Menschenrechte, Demokratisierung, eine
transparente Mittelverwendung, die Ablehnung des Ter-
rorismus sowie bei Good Governance erkennbar sein,
um eine weitere finanzielle Förderung zu gewährleisten.
Dies sind für meine Fraktion die grundlegenden Ele-
mente für eine Zusammenarbeit.
Die letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass diese Be-
dingungen nicht gestellt wurden oder nicht nachdrück-
lich eingefordert wurden. Der Bertelsmann Transforma-
tionsindex 2006 bestätigt meine Einschätzung über den
bisherigen Erfolg des Barcelonaprozesses. Denn keinem
der arabischen euromediterranen Partnerländer ist es bis
2005 gelungen demokratische Reformprozesse einzulei-
ten. Laut Index sind alle Staaten nach wie vor als autori-
tär geführt anzusehen, wobei hier auch Marokko wieder
gesondert zu betrachten ist. Ich weiß nicht, ob der
Bertelsmann Transformationsindex die neueste Politik
Marokkos und anderer Länder schon berücksichtigt.
Die europäische Nachbarschaftspolitik ist angetreten,
um Stabilität, Sicherheit und Wohlstand aller Betroffe-
nen zu stärken. Sie werden mir zustimmen, wenn ich Ih-
nen sage, dass alle drei Ziele nur durch eine Öffnung der
politischen Systeme, eine Stärkung des Rechtsstaates,
die Bekämpfung von Korruption und die Ausweitung
der demokratischen Rechte der Bevölkerungen zu errei-
chen sind. Ein friedliches, freiheitliches und demokrati-
sches Klima in den Ländern des Maghreb und des Nahen
Ostens zu schaffen, muss eine der Kernaufgaben europäi-
scher Nachbarschaftspolitik sein. Mit einer kurzfristigen
Stabilisierung des Status quo in der Region ist keinem
geholfen, ganz im Gegenteil: Es würden verschärfte
Spannungen innerhalb der Gesellschaften entstehen, die
nicht im Interesse der Europäischen Union sind.
Die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten und
auch der Karrikaturenstreit zeigen, wie wichtig die Ein-
beziehung und Bedeutung der Maghreb-Region und des
Nahen Ostens ist. Dialog der Kulturen ist nur ein Stich-
wort, das ich in dem Zusammenhang ansprechen
möchte. Die Islamkonferenz war dabei auch ein Schritt
in die richtige Richtung. Auf diesem Gebiet steht uns
noch viel Arbeit bevor, die aber gemacht werden muss
und an der sich alle beteiligen müssen! Der ungelöste
Nahost-Konflikt hat sich in der Vergangenheit immer
wieder als ein fast unüberbrückbares Hindernis für den
Barcelonaprozess erwiesen. Das kann nicht länger hin-
genommen werden. Wir und auch die EU müssen uns
stärker um eine Vermittlung zwischen Israel und Paläs-
tina bemühen und uns stärker im Nah-Ost-Quartett enga-
gieren. Es ist noch gar nicht so lange her, da hat sich der
Deutsche Bundestag mit einem Einsatz der Bundeswehr
im Libanon befasst. Nun kann man anscheinend wieder
die Hände in den Schoß legen. Ich selbst und auch die
Mehrheit meiner Fraktion hat gegen eine deutsche Betei-
ligung an einem Libanoneinsatz gestimmt, weil wir nicht
glauben, dass dies für Deutschland der richtige Weg ist.
Es muss ein außenpolitisches Ziel Deutschlands sein,
ohne eigene militärische Beteiligung, einen Friedenspro-
zess im Nahen Osten in Gang zu setzen, an dessen Ende
eine Zweistaatenlösung auf Grundlage der Roadmap
steht. Die Anerkennung dieser Lösung muss auch die
EU in ihrer Nachbarschaftspolitik von ihren Partnern
einfordern. Ich will Sie alle ermuntern, hier mutiger als
bisher voranzugehen und wirklich daran zu arbeiten,
dass es endlich zu Gesprächen kommt:
Während des Libanonkrieges haben die UN und die
europäischen Außenminister gefordert, dass nun endlich
eine politische Lösung für den Nahostkonflikt gefunden
werden muss. Nach den akuten Kriegsereignissen ist der
Waffenstillstand im Libanon fragil, der Nahostkonflikt
schwelt weiter.
Daher darf die Politik jetzt nicht die Hände in den
Schoß legen, sondern wir müssen die Zeit nutzen, um
nach Wegen zu einer politischen Lösung zu suchen. An-
gesichts der Gefahr neuer, vielleicht atomarer Aufrüs-
tung in Nahost darf es nicht bei Lippenbekenntnissen
bleiben.
Politische Lösungen brauchen Gespräche. Wer nicht
miteinander spricht, kann nicht zu politischen Lösungen
kommen. Bisher sind Gespräche an den jeweiligen Vor-
bedingungen gescheitert, die von offiziellen Vertretern
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006 5965
(A) (C)
(B) (D)
beider Seiten als Maximalbedingungen abgelehnt wer-
den. Es gibt indessen gemäßigte und pragmatische
Kräfte auf beiden Seiten, die zur Anbahnung von Ge-
sprächen ohne Vorbedingungen bereit wären. Wobei das
Existenzrecht Israels und das Recht der Palästinenser auf
einen eigenen Staat keine Vorbedingung in diesem Sinne
darstellen. Diese gemäßigten Kräfte müssen an einen
Tisch gebracht werden. Unter gemäßigten Kräften ver-
stehen wir Politiker, die ihren Willen zu einer politischen
Lösung bekunden und die kein Blut an den Händen ha-
ben.
Solche Gespräche ohne Vorbedingungen wären mög-
licherweise ein Ausweg aus der Sackgasse von Gewalt
und gegenseitiger Verweigerung; sie könnten den Weg
zu offiziellen Gesprächen ebnen und damit Bewegung in
den Konflikt bringen. Dazu müssen jedoch dogmatische
Positionen geräumt und Denk- und Sprechverbote über-
wunden werden, wie seinerzeit im Ost-West-Konflikt.
Eine neue Nahostpolitik sollte heute ebenso auf Wandel
durch Gespräch und Annäherung setzen, wie dies seiner-
zeit die neue deutsche Ostpolitik tat; dadurch wurde
letztlich die Ost-West-Konfrontation überwunden. Einen
erheblichen Beitrag hat damals die Konferenz für Si-
cherheit und Zusammenarbeit in Europa – KSZE – ge-
leistet. Wir Liberale fordern deshalb schon seit längerem
eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Nahost, KSZNO! Wir Deutschen haben erfahren, was
ein neues Denken bewirken kann; deshalb sind wir auch
in diesem Konflikt besonders gefordert. Unterstützen Sie
unseren Antrag für mehr Demokratisierung und Good
Governance in der EU-Mittelmeerpolitik!
Monika Knoche (DIE LINKE): Die FDP legt heute
einen Antrag vor, den wir interessant finden. Es ist aus
unserer Sicht durchaus als ein Verdienst der Freidemo-
kraten anzusehen, dass sie – wenn Sie mir gestatten, das
so auszudrücken – sich von der auf Osteuropafixierung
reduzierten deutschen Europapolitik nunmehr lösen und
auf den südlichen Mittelmeerraum ausweiten wollen.
Geschichtlich ist es natürlich verständlich, wenn nach
dem Fall der Systemgrenze zwischen Ost und West ge-
rade Deutschland seine Ostpolitik herausstellt. Dennoch:
Den Südmittelmeerraum kann man schon deshalb nicht
zum alleinigen politischen Aktionsraum der südeuropäi-
schen Staaten machen, weil es eine Aufgabenteilung
nicht geben kann, wenngleich die Südstaaten stark von
den Flüchtlingen aus Nordafrika betroffen sind und da-
mit die direkteste Beziehung zu den neuen Herausforde-
rungen haben, denen sich Europa in migrationspoliti-
scher Hinsicht hinzuwenden hat, um eben nicht zur
Festung Europa zu degenerieren. Schon die Flüchtlinge
aus Albanien nach Italien haben Europa vor Jahren vor
Augen geführt, dass die Transformationsprozesse in den
Herkunftsgesellschaften der Migrantinnen und Migran-
ten mehr Bezug zu deutscher, respektive europäischer
Außen- und zum Teil Kriegspolitik aufweisen, als das
gemeinhin wahrgenommen wird.
In Ihrem Antrag, meine Herren und Damen von der
FDP, er ist datiert vom 8. März 2006, konnten Sie die Li-
banon-Israel-Kriegsfrage genauso wenig voraussehen,
wie die unerträgliche Repression Israels im Gazastreifen
und die gravierenden Konflikte, die jetzt zwischen Ha-
mas und Fatah gewaltförmig ausgetragen werden.
Dass im südlichen Mittelmeer deutsche Marine
kreuzt, hat Ihre Zustimmung nicht gefunden. Das erken-
nen wir als Linke an. Sie werden es mir daher nicht ver-
übeln, wenn ich sage, dass irgendwie doch schon zu viel
Zeit drüber vergangen ist, um den Antrag noch als wirk-
lich aktuell anzusehen. Das tut der damit verfolgten In-
tention jedoch keinen Abbruch, sondern verweist viel-
mehr auf die jetzt anstehenden Ausschussberatungen.
Die FDP legt großen Wert auf den Aufbau und die
Stärkung der Zivilgesellschaften im südlichen und östli-
chen Mittelmeerraum. Ich sage: Vergessen Sie dabei die
Frauen nicht! Die politischen Bedrängungen und die re-
ligiösen Pressuren, denen Frauen zunehmend ausgesetzt
sind, stellen im Ergebnis auch ein Hindernis im Zugang
zu Wissen und Bildung dar. Diese jedoch stellen Sie zu
Recht ins Zentrum Ihrer Bemühungen.
Wir Linken bereiten gerade eine Fraktionsfrauenreise
in den Nahen Osten vor, um die Stellung und unsere Pro-
tektion für Friedensfrauen im gesamten Nahen Osten he-
rauszustellen. Wie sehr gerade der Libanonkrieg wieder
mal Frauen in die Rolle der Opfer verweist, die zugleich
die Wunden eines nicht verschuldeten Krieges heilen
müssen, wird ein Thema sein. Die daraus gewonnen Er-
gebnisse unserer Reise möchten wir gerne in die Aus-
schussberatungen einfließen lassen.
Vielleicht kommen wir gemeinsam zu dem Ergebnis,
dass – wie Sie vorschlagen – für Good Governance di-
rekt Fördermittel an NGO-Frauen weiterzuleiten geeig-
net ist, die Ziele effektiv zu erreichen, die die europäi-
sche Nachbarschaftspolitik benennt.
Darüber hinaus halte ich es aber für erforderlich, auch
in diesem Rahmen darauf hinzuwirken, dass eine Nah-
ostkonferenz wie wir Linken sie vorschlagen und deren
Sitz in Berlin sein soll, unbedingt NGOs und Frauen als
Repräsentantinnen der Zivilgesellschaft am Friedenspro-
zess beteiligt sein müssen.
Weniger Sympathie hingegen haben wir für Ihre Posi-
tion, die vorliegenden Programme der NATO und G 8
weiter zu entwickeln. Sie erscheinen uns zu einseitig
eine US-amerikanisch protegierte und die undifferen-
zierte Pro-Israel-Regierungsmeinung auszudrücken, die
die Sache Palästinas fallenlässt. Es ist anzuerkennen,
dass Sie die Zweistaatenlösung in Ihren Antrag hervor-
heben. Wenn Sie diese jedoch mit der NATO und G-8-
Strategie zusammenbringen, bringt es jedenfalls einen
gewissen Widerspruch hervor. Ich sehe also den Aus-
schussberatungen entgegen.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die EU-Nachbarschaftspolitik spielt für die Au-
ßenbeziehungen der EU eine zentrale Rolle, denn die
Stabilisierung und Demokratisierung unseres Umfeldes
gehört zur ursprünglichen Idee des europäischen Integra-
tionsprozesses als Friedensprojekt.
5966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
(A) (C)
(B) (D)
Die wenigsten Regierungen in den Ländern des
Mittelmeerraums haben bisher ein Interesse an demokra-
tischen Reformen gezeigt. Darauf muss die Nachbar-
schaftspolitik reagieren. Die Bedingungen für die Mittel-
vergabe müssen darauf eingestellt werden, Fortschritte
bei der Garantie der Menschenrechte, der Stärkung des
Rechtsstaats und der Demokratisierung der Gesellschaft
zur Voraussetzung für weitere Förderungen zu machen.
Wirtschaftliche Dynamik, so sie denn entsteht, erzeugt
keinen Automatismus für politische Reformen.
Gleichzeitig ist eine Überprüfung der inhaltlichen
Prioritätensetzungen des Mitteleinsatzes notwendig. Ein
Schwerpunkt müssen Investitionen in Bildung und For-
schung sein. Die Entwicklungshemmnisse in den EU-
Nachbarschaftsstaaten des Barcelonaprozesses sind
nicht zuletzt Defiziten auf diesem Gebiet zu verdanken.
Im Umkehrschluss heißt das: Demokratie, wirtschaftli-
che Entwicklung und wachsender Wohlstand als Voraus-
setzungen für Stabilität entstehen im Mittelmeerraum
wie überall auf der Welt umso eher, je gebildeter und
ausgebildeter die Menschen sind. Diese Erkenntnis muss
toritäre und repressive Regime ohnehin nicht erfolgreich
und dauerhaft überwunden werden.
Eine Anmerkung schließlich noch zum Nahostkon-
flikt: Die EU muss sich auch unabhängig von der Nach-
barschaftspolitik spätestens seit der Ausweitung des
UNIFIL-Mandats deutlich stärker um einen Friedenspro-
zess im Nahen Osten bemühen. Aber die Nachbar-
schaftspolitik kann auch dazu beitragen, die Bedingun-
gen dafür zu verbessern. Ohne die Anerkennung einer
von beiden Seiten akzeptierten Zweistaatenlösung, ohne
Ablehnung des Terrorismus als Mittel zur Durchsetzung
politischer Ziele kann keine Regierung damit rechnen,
von der EU-Nachbarschaftspolitik unterstützt zu wer-
den.
Die deutsche sowie die EU-Politik müssen auch da-
rauf gerichtet sein, die Kooperation in den jeweiligen
Regionen zu stärken und zu unterstützen. Damit muss
die Nachbarschaftspolitik ein deutliches Zeichen setzen,
dass kooperative Ansätze auf Dauer profitabler sind als
eine nach ebenso kurzfristigen wie Ungewissen Vortei-
len strebende Wettbewerbspolitik zwischen den Staaten,
die potenzielle Synergien verschenkt: Die regionale
Grundlage von Förderzielen und Mittelvergaben sein.
Eine weitere Voraussetzung für Erfolge in der Zusam-
menarbeit ist eine transparente und kontrollfähige Mit-
telverwendung über das Nachbarschafts- und Partner-
schaftsinstrument ENP. Dazu gehört natürlich auch die
Evaluierung der Ergebnisse. Dies ist nicht nur eine tech-
nische Aufgabe. Institutionen, die sich als nicht effektiv
oder kooperativ im Sinne der inhaltlichen Zielsetzung
erweisen, können nicht auf dauerhafte Unterstützung
rechnen. Das kann auch Regierungen betreffen. Gleich-
zeitig sind Initiativen aus der Zivilgesellschaft oft nicht
nur unterstützungsbedürftig, sondern auch unterstüt-
zungswürdig. Und um dem möglichen Argument, in vie-
len Ländern sei die Zivilgesellschaft zu schwach, zuvor-
zukommen: Umso notwendiger ist ihre Förderung, denn
ohne eine funktionierende Zivilgesellschaft können au-
Kooperation, die Fähigkeit der einzelnen Staaten, effek-
tiv und friedlich mit seinen Nachbarn zusammenzuarbei-
ten und eine Interessengemeinschaft zu bilden, ist Vo-
rrausetzung für jedwede Annäherung an die EU.
Vor diesem Hintergrund sprechen wir uns dafür aus,
die ENP so weiterzuentwickeln, dass die östliche und
südliche Dimension voneinander getrennt werden. Wir
brauchen eine stärkere Differenzierung zwischen der
Nachbarschaftspolitik für die osteuropäischen Staaten
bis zum Kaukasus, die eine grundsätzliche Beitrittsper-
spektive haben, und einer Nachbarschaftspolitik für die
südlichen und östlichen Mittelmeeranrainer. Für beide
Räume sollten die Instrumente der Nachbarschaftspolitik
stärker genutzt werden, um die Entwicklung der Zivilge-
sellschaft zu unterstützen und die Grundwerte der De-
mokratie zu fördern.
60. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13