Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Zunächst möchte ich dem Kollegen Ulrich Heinrich,
der am 11. Dezember seinen 65. Geburtstag feierte, und
dem Kollegen Michael Glos, der am 14. Dezember sei-
nen 60. Geburtstag beging, nachträglich die besten
Glückwünsche aussprechen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Neuvertei-
lung der Sitze des Deutschen Bundestages im Ausschuss
fassungsgerichts vom 8. Dezember 2004
– Drucksache 15/4494 –
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: zu den
Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 14 bis 23
in Drucksache 15/4476
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Deutsch-rus-
Redet
sischen Jugendaustausch ausweiten und stärken
– Drucksache 15/4530 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 30. September 2003 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deut
der Regierung der Republik Bulgarien
sammenarbeit bei der Bekämpfung der o
und der schweren Kriminalität
– Drucksache 15/3880 –
brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Strafvollzugsgesetzes
– Drucksache 15/2252 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
– Drucksache 15/4537 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Siegfried Kauder
Jerzy Montag
Jörg van Essen
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
schusses
Sammelübersicht 173 zu Petitionen
– Drucksache 15/4509 –
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
schusses
ext
Sammelübersicht 174 zu Petitionen
– Drucksache 15/4510 –
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
schusses
Sammelübersicht 175 zu Petitionen
– Drucksache 15/4511 –
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
schusses
Sammelübersicht 176 zu Petitionen
– Drucksache 15/4512 –
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Zwi-
schenbilanz des nationalen Paktes für Ausbildung und
Fachkräftenachwuchs in Deutschland
es Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Scheer,
elmann, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und
on der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef
haele Hustedt, Volker Beck , weiterer
schland und
über die Zu-
rganisierten ZP 6 Beratung dRolf Hemp
der Frakti
Fell, Mic
13782 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Präsident Wolfgang Thierse
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN: Nationales Energieforschungsprogramm vorle-
gen
– Drucksache 15/4514 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Hellmut Königshaus, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Rechtssicherheit für die Einwer-
bung von Drittmitteln an Hochschulen und Universitäts-
kliniken für Forschung und Lehre
– Drucksache 15/4513 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Rechtsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich
, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Flughafenkon-
zept für Deutschland
– Drucksache 15/4517 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-
schusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Angela
Merkel, Michael Glos, Siegfried Kauder ,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ein-
setzung eines Untersuchungsausschusses
– Drucksachen 15/4285 –
ZP 10 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für eine Selbstver-
pflichtung öffentlich-rechtlicher und privater Rund-
funksender zur Förderung von Vielfalt im Bereich
von Pop- und Rockmusik in Deutschland
– Drucksache 15/4521 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen
Kampeter, Günter Nooke, Bernd Neumann ,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:
Musik aus Deutschland fördern – Für eine freiwillige
Selbstverpflichtung der Hörfunksender zugunsten
deutschsprachiger Musik
– Drucksache 15/4495 –
ZP 11 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernhard
Brinkmann , Ernst Bahr (Neuruppin),
Lothar Binding , weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Anja
Hajduk, Volker Beck , Alexander Bonde, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN: Bewältigung der Konversionslasten
durch gemeinsame Anstrengungen von Bund, Län-
dern und Kommunen
– Drucksache 15/4520 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich
Austermann, Steffen Kampeter, Ilse Aigner, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Konver-
sionsregionen stärken – Verbilligte Abgabe von zu
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– Drucksache 15/4067 –
überwiesen:
Rechtsausschuss
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? –
ch höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13783
)
)
Präsident Wolfgang Thierse
Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Friedbert Pflüger,
Peter Hintze, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die
Türkei
– Drucksachen 15/3949, 15/4522 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ludger Volmer
Dr. Werner Hoyer
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Türkeipolitik der EU verlässlich fortsetzen
und den Weg für Beitrittsverhandlungen mit
der Türkei freimachen
– Drucksachen 15/4031, 15/4523 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ludger Volmer
Dr. Werner Hoyer
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Dr. Wolfgang Gerhardt, Dr. Guido Westerwelle,
Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Zu der Empfehlung der EU-Kommission über
Beitrittsverhandlungen der Europäischen
Union mit der Türkei
– Drucksachen 15/4064, 15/4524 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ludger Volmer
Dr. Werner Hoyer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eindreiviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sage
es gleich zu Beginn und ohne jede Umschweife: Die
Union hat diese heutige Debatte nicht deshalb beantragt,
weil wir uns der Hoffnung hingeben, wir als Opposition
könnten die Bundesregierung, Herr Bundeskanzler und
Herr Bundesaußenminister, noch von ihrer Haltung zum
EU-Beitritt der Türkei abbringen. Wir wissen, dass wir
sie nicht umstimmen werden. Wir machen uns da keine
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Wir haben die Debatte heute hier in diesem Hause aus
inem anderen Grund gewollt. Wir haben sie gewollt,
m mit den Menschen über die Folgen dieser Entschei-
ung zu sprechen. Ich glaube, darauf haben die Men-
chen am Vorabend einer für Europa historischen Ent-
cheidung wirklich einen Anspruch.
ch frage Sie: Wer, wenn nicht dieser Deutscher Bundes-
ag, sollte diesen Anspruch einlösen? Deshalb haben wir
ls Opposition beantragt, darüber zu debattieren, weil
ir aus vielen Umfragen und Gesprächen wissen, wie
ehr dieses Thema die Gemüter in Deutschland bewegt.
Ich glaube, wir alle sind uns darüber einig, dass wir
in solches Thema nicht Rattenfängern und Hetzern
berlassen dürfen,
ondern diese Debatte verantwortlich führen müssen.
Meine Damen und Herren, wer denen, die diese
ebatte führen, Begriffe wie „Brandstifter“ entgegen-
ält, wer von „zynischem Spiel“ oder von „politischer
etze – hysterisch und schamlos“ redet, der will keine
ffene, ehrliche Debatte über diese wichtige Frage,
er will anderen den Mund verbieten und nicht Argu-
ente austauschen. Dieses Verhalten und diese Herange-
ensweise sprechen für mich dafür, dass man ein uner-
ünschtes Thema tabuisieren will, vielleicht weil man
laubt, seiner eigenen Klientel irgendetwas schuldig zu
ein.
Aber, meine Damen und Herren, das ist ein Thema,
as die Menschen bewegt und das mit allergrößten Fol-
en für die deutsche und die europäische Politik verbun-
en ist. Deshalb, glaube ich, werden sich die Deutschen
uch ein eigenes Urteil darüber bilden, dass der Bundes-
anzler der Bundesrepublik Deutschland in einer sol-
hen Debatte nicht das Wort ergreift oder uns sogar, wie
an es erwarten müsste, in einer Regierungserklärung
eute hier seine Haltung darlegt.
Sie werden die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
it der Türkei beschließen und Sie werden unseren
13784 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Dr. Angela Merkel
Vorschlag eines dritten Weges, einer privilegierten
Partnerschaft, ausschlagen. Dies werden Sie auch da-
mit begründen, dass alle Bundesregierungen seit Konrad
Adenauer der Türkei den Beitritt zur Europäischen
Union versprochen hatten. Deshalb möchte ich auf den
Historiker Professor Heinrich August Winkler verwei-
sen, der immer wieder betont, dass bei der Beurteilung
von Entscheidungen stets auch die Umstände, unter de-
nen sie getroffen wurden, zu berücksichtigen sind und
dass es aus diesem Grunde keinen Automatismus geben
kann.
Wenn wir uns einmal die Entwicklung der Europäi-
schen Union vor Augen führen, erkennen wir, dass in
den 60er-, 70er-, 80er-Jahren die Ausgestaltung einer
Wirtschaftsgemeinschaft weit vorangekommen und
durch die Vollendung des Binnenmarktes sicherlich ein
qualitativer Sprung gemacht worden ist. Aber inzwi-
schen ist die Entwicklung wesentlich über den Binnen-
markt hinausgegangen. Wir haben die Verträge von
Maastricht und Amsterdam, eine gemeinsame Währung
ist eingeführt worden, wir haben eine Unionsbürger-
schaft – im Übrigen ein Punkt, der sehr wenig diskutiert
wird; diese Unionsbürgerschaft führt nämlich zum Kom-
munalwahlrecht für alle bei uns lebenden Bürger der Eu-
ropäischen Union –, eine Erweiterung der Politik der Eu-
ropäischen Union um die Innen- und Rechtspolitik, eine
Grundrechtscharta und einen Verfassungsvertrag. Das
heißt, es gibt eine Entwicklung von einer Freihandels-
zone hin zu einer politischen Union. Deshalb müssen wir
uns fragen: Was bedeutet es für diese politische Union,
wenn ein Land wie die Türkei Mitglied der Europäi-
schen Union wird?
Genau aus diesem Grund befassen sich die Kopenha-
gener Kriterien nicht nur mit dem beitrittswilligen
Land, sondern fragen – das wird in der Diskussion im-
mer wieder unterschlagen – zu einem Teil auch: Ist die
Integrationsfähigkeit der Europäischen Union gefähr-
det, wenn ein weiteres Land aufgenommen wird? An
dieser Stelle sage ich: Wir müssen uns vor Augen füh-
ren, dass die Vertiefung der politischen Union mit der
Türkei als Vollmitglied nicht so erfolgen können wird,
wie wir uns das vorstellen. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt.
Deshalb möchte ich den ehemaligen Verfassungsrich-
ter Böckenförde zitieren, der neulich in einer Danksa-
gung anlässlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Prei-
ses deutlich gesagt hat – Zitat –:
Die Türkei ist nach geographischer Ausdehnung,
Bevölkerungszahl, nationaler und kultureller Identi-
tät, ökonomischer und politischer Struktur von ei-
ner Bedeutung und Eigenart, die die Frage nach
dem Konzept, der finalité der europäischen Eini-
gung unausweichlich macht.
Diese Frage, meine Damen und Herren, wird von der
Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen nicht
beantwortet: Ist es eine politische Union, ein geostrategi-
sches Bündnis oder eine Freihandelszone, was wir uns
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eine Damen und Herren, es nützt doch nichts, so zu
un, als ob die Menschen das nicht beschäftigt. Denken
ie doch einmal an Konstruktionen wie das Schengen-
bkommen und die Definition der Außengrenzen! Da-
er muss doch über eine solche Tatsache debattiert wer-
en.
Man hilft der Türkei nicht, wenn man immer wieder
arüber hinwegsieht, dass die Kopenhagener Kriterien
on der Türkei nicht so erfüllt werden, wie wir uns das
orstellen. Es besteht kein Zweifel daran, dass es dort
olter gibt. Es besteht auch kein Zweifel daran, dass es
ine Religionsfreiheit nicht gibt. An dieser Tatsache
erden Sie nicht vorbeikommen, wenn Sie die Möglich-
eiten betrachten, die christliche Kirchen in der Türkei
aben. Es kann für den türkischen Ministerpräsidenten
u einem Eigentor werden – Wolfgang Schäuble hat dies
estern bemerkt –, wenn er uns bezichtigt, ein Christen-
lub zu sein, aber gleichzeitig Religionsfreiheit in sei-
em Lande nicht ausreichend garantiert.
Der Herr Bundesaußenminister spricht – so auch in
en letzten Tagen – immer wieder von der geostrategi-
chen Bedeutung, die der Beitritt der Türkei zur Euro-
äischen Union habe. Es ist richtig: Die Europäische
nion ist entstanden aufgrund der Lehren aus dem Zwei-
en Weltkrieg und aus der Schreckensherrschaft des Na-
ionalsozialismus sowie der festen Überzeugung der eu-
opäischen Länder, nie wieder Krieg gegeneinander zu
ühren.
Es ist auch richtig, dass der 11. September des Jahres
001 die Welt verändert hat. Aber ich bezweifle, dass
an argumentieren kann, die dadurch entstandene Situa-
ion hinsichtlich der Beziehung zwischen der Europäi-
chen Union und der Türkei sei vergleichbar mit der
ituation in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir
aben ein gutes, freundschaftliches und enges Verhältnis
it der Türkei in den letzten Jahrzehnten. Die Türkei ist
in assoziiertes Mitglied der Europäischen Union.
Man kann nicht behaupten, dass die geostrategische
rage, die sich nach dem 11. September 2001 natürlich
tellt, mit einem Beitritt der Türkei zur Europäischen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13785
)
)
Dr. Angela Merkel
Union beantwortet werden kann. Es stellt sich eine ganz
andere Frage: Welche Kraft auf sicherheitspolitischem
Gebiet hat der Westen und insbesondere die Europäische
Union? Ich glaube, da handeln wir nach dem Prinzip
Hoffnung. Die Europäische Union ist keine sicherheits-
politisch global agierende Macht. Die globale Sicher-
heitsarchitektur des Westens beruht auf einer starken
NATO, in der die Türkei Mitglied ist.
– Meine Damen und Herren, wenn Sie den Unterschied
zwischen einem geostrategischen Bündnis, wie es die
NATO darstellt, und einer politischen Union, wie sie die
heutige Europäische Union ist, nicht erkennen, dann
wird es natürlich schwierig.
Der Bundesaußenminister spricht davon, dass nach
dem 11. September 2001 kleineuropäische Lösungen
nicht weiterhelfen würden, weil wir es mit großen Län-
dern wie Indien, China und den Vereinigten Staaten zu
tun hätten. Er suggeriert damit, dass durch den Beitritt
der Türkei aus einer kleineuropäischen Lösung eine
großeuropäische Lösung wird. Heinrich August
Winkler sagt dazu – wie ich finde, sehr zutreffend –:
Man darf Größe nicht mit Stärke verwechseln. Das ist
genau das Problem: Wenn es um die Verteidigung unse-
rer westlichen Werte geht, sind wir nur stark innerhalb
der NATO. Daneben brauchen wir aber eine handlungs-
fähige politische Union, mit der die Ziele Europas ver-
wirklicht werden können.
Über die geostrategische Bedeutung der Türkei wird
gesagt, die Türkei habe eine Brückenfunktion.
Eine Brücke ist immer ein Konstrukt – auch das ist hier
schon gesagt worden –, das niemals vollständig zu einer
Seite gehört. Das heißt, die Türkei kann ihre Brücken-
funktion besser erfüllen, wenn sie nicht Vollmitglied der
Europäischen Union ist und Aufgaben in anderen Berei-
chen wahrnehmen kann.
Es wird argumentiert, wir müssten jetzt beweisen
– ich glaube, dass Europa dies nicht beweisen muss;
denn wir sind kein, wie uns manchmal vorgeworfen
wird, religiös ausgerichteter Klub –, dass die Europäi-
sche Union mit einem muslimischen Mitgliedstaat aus-
kommen könne. Dieses Argument ließe sich, wenn man
konsequent zu Ende denkt, auch auf andere Länder über-
tragen, indem man sagt, die Türkei sei kein typisch ara-
bisches und islamisches Land. Wo diese Beweiskette
enden soll, wird sich dann zeigen. Aber darüber diskutie-
ren Sie einfach nicht, weil Sie sich mit dieser Frage nicht
auseinander setzen.
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Meine Damen und Herren, Sie wissen natürlich, dass
as Argument der geostrategischen Bedeutung allein
icht ausreicht. Das heißt, dass die Vollmitgliedschaft
er Türkei weiter gehend begründet werden muss. Des-
alb weisen Sie dann, wenn es um die Aufnahme von
erhandlungen geht, immer darauf hin, es sei ja noch ein
anger Zeitraum, es gehe eigentlich nur um die Auf-
ahme von Verhandlungen und es gebe keinen Beitritts-
utomatismus.
Helmut Kohl hat gestern ganz deutlich gesagt – inso-
ern können Sie ihn nicht als Kronzeugen nehmen –, er
ei immer der Auffassung gewesen, dass die Erfüllung
er Kopenhagener Kriterien – ich betone: aller Kriterien,
er des Beitrittslandes und der der Integrationsfähig-
eit – die Voraussetzung für die Aufnahme von Verhand-
ungen sei und sich nicht das Prinzip Hoffnung, dass das
chon alles irgendwie gut gehen werde, durchsetzen
önne.
eshalb sage ich jetzt eindeutig: Genau dies ist auch un-
ere Haltung.
Was heißt Beitrittsautomatismus? Ich glaube, hier
pielen Sie mit der Ernsthaftigkeit dieser Frage.
enn es ist nicht redlich, so zu tun, als könne man fünf
der zehn Jahre verhandeln, um dann entweder die Voll-
itgliedschaft oder das totale Scheitern zu erreichen. Ich
age Ihnen: Dies ist so unehrlich wie vieles in den letz-
en 40 Jahren im Umgang mit der Türkei.
ie wissen genau, dass, wenn es keine Auffangposition
ibt, ein Scheitern eine Katastrophe für die Türkei und
leichzeitig für die Politische Union Europas wäre. Des-
alb halten wir diesen Weg für nicht richtig. Wir glau-
en, es muss eine Alternative bzw. eine weitere Option
eben.
Wir wissen, dass Sie, obwohl Sie von keinem Bei-
rittsautomatismus sprechen, eine Rückfallposition, eine
ption B, eine Alternative, wie es für uns die privile-
ierte Partnerschaft ist, ablehnen werden.
as eigentlich Unredliche an der Argumentation ist,
ass Sie den Eindruck erwecken, dass das Konzept der
rivilegierten Partnerschaft im Grunde nichts weiter als
in glattes Nein gegenüber der Türkei ist.
13786 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Dr. Angela Merkel
Das ist nicht redlich, weil die privilegierte Partnerschaft
ein Konzept ist, das der Türkei einzigartige Beziehungen
intensivster Art mit der Europäischen Union in Aussicht
stellt.
Genau diesen Weg halten wir als Alternativweg für
wichtig, um ein Scheitern und eine Katastrophe zu ver-
hindern. Deshalb ist Ihre Argumentation an dieser Stelle
nicht in Ordnung.
Meine Damen und Herren, es ist doch wahr – das wis-
sen doch auch Sie –: Seitdem die privilegierte Partner-
schaft als ein dritter Weg im Raum ist, ist die Diskussion
in Europa weitergegangen. Schauen Sie sich die Debat-
ten in der französischen Nationalversammlung an!
Schauen Sie sich an, was selbst der französische Präsi-
dent auf dem deutsch-französischen Gipfel in Lübeck
gesagt hat! Alle wissen, dass es im Grunde richtig wäre,
eine Alternative, eine privilegierte Partnerschaft, die wir
für die richtige halten, als Option im Auge zu haben,
nicht von einem Beitrittsautomatismus zu sprechen und
ansonsten das Ganze, was da passiert, offen zu lassen.
Ich glaube, wir alle sind uns darüber im Klaren – egal
welche Haltung die einzelnen Kolleginnen und Kollegen
haben –, dass die Entscheidung des Rates zur Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und
Europa von historischer Bedeutung für die Europäische
Union ist. Wer das wegdrückt, wer sich dessen nicht be-
wusst ist und wer versucht, an einem solchen Vorabend
keine Debatte stattfinden zu lassen, dem sage ich, dass er
dieser Aufgabe nicht gerecht wird und den Menschen
Sand in die Augen streut.
Die Diskussion hat sich aus meiner Sicht völlig ver-
engt.
Es wird so getan, als ginge es nur um die Türkei. Im We-
sentlichen geht es aber um uns, um die Zukunft eines
jahrzehntelangen Aufbauwerks der Europäischen Union,
um seine Vertiefung, das mit der Abgabe von Souveräni-
tätsrechten verbunden ist. Dass es um uns geht, dass es
um unsere Zukunft geht, muss in einer verantwortlichen
Weise und deutlich ausgesprochen werden. Darüber ge-
hen Sie leichtfertig hinweg.
Ich möchte Giscard D’Estaing zitieren, der immer-
hin Präsident des Europäischen Verfassungskonvents
war. In der „FAZ“ vom 26. November sagte er:
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Es kann ja sein, dass Ihnen die Zitate nicht passen. Sie
üssen sich mit der Realität aber schon auseinander-
etzen.
Es ist ja nicht schlimm, dass wir unterschiedlich argu-
entieren.
ch sage es ganz nüchtern: Mit einer Entscheidung in der
orm, wie sie morgen aller Voraussicht nach getroffen
ird, ist ein Alles oder Nichts, ein Entweder-oder, ein
cheitern oder eine Vollmitgliedschaft verbunden. Ich
laube, dass dies der geostrategischen Aufgabe Europas
nd der Politischen Union nicht gerecht wird. Deshalb
rauchen wir ein durchdachtes Konzept, das der Türkei
atürlich nicht die Tür vor der Nase zuschlägt.
Sie schlagen die Möglichkeit eines dritten Weges aus.
ls Opposition können wir diese Entscheidung nicht
erhindern; wir werden aber
it der Bevölkerung in diesem Lande über die Folgen
iner solchen Entscheidung für Europa und für die Ge-
amtlage weiter sprechen.
Es ist für mich und für uns wichtig – das macht die
edeutung Europas aus –, dass die Politische Union der
uropäischen Union weitergeführt werden kann, dass sie
icht in Gefahr gerät und dass wir trotzdem unseren geo-
trategischen Aufgaben gerecht werden, nicht als Europa
egen Amerika, sondern in den gemeinsamen Bündnis-
en.
Deshalb werden wir diese Debatte 2005 und 2006
eiterführen. Anhand des Sachstandes, den wir 2006,
enn wir an der Regierung sind, vorfinden,
erden wir prüfen, wie wir unsere Ideen, von denen wir
berzeugt sind, in die Tat umsetzen können,
nd zwar genauso verantwortlich gegenüber unseren tür-
ischen Freunden wie verantwortlich gegenüber dem
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13787
)
)
Dr. Angela Merkel
Friedenswerk der Europäischen Union. In diesem Sinne
werden wir weiterhin handeln.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Franz
Müntefering, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dies ist eine wichtige Woche für Europa. Frau
Merkel, Sie haben gesagt, es ist eine Woche von histori-
scher Bedeutung. An dieser Stelle sind wir uns einig.
Wir gehen im Bewusstsein um die große Verantwortung
an die Entscheidung, um die es jetzt geht, heran.
Gestern hat das Europäische Parlament mit großer
Mehrheit beschlossen, dass Beitrittsverhandlungen mit
der Türkei aufgenommen werden sollen. Die SPD-Frak-
tion begrüßt diese Entscheidung des Europäischen Parla-
ments sehr.
Morgen entscheiden die Regierungschefs. Alles
spricht dafür, dass sie bei der bisherigen Linie bleiben:
Mit der Türkei werden Verhandlungen mit dem Ziel des
Beitritts aufgenommen. Die Bundesregierung bzw. der
Kanzler und der Vizekanzler haben für diese Entschei-
dung am morgigen Tag die klare Unterstützung der SPD-
Fraktion.
Die gestrige Entscheidung im Europäischen Parla-
ment hatte eine Besonderheit, die als Absonderlichkeit
in die Geschichtsbücher eingehen wird. Die Konservati-
ven im Europäischen Parlament, voran die CDU/CSU-
Abgeordneten aus Deutschland, haben dort geheime Ab-
stimmung verlangt.
In Deutschland kündigen Sie Unterschriftenlisten an,
wollen aber selbst geheim abstimmen – das ist ein seltsa-
mes Demokratieverständnis.
Das ist gewissermaßen die christdemokratische Leitkul-
tur. Was sollen die Türken davon halten?
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Das Ganze hat eine Vorgeschichte. Im Jahre 1963 ist
nter einer CDU/CSU-geführten Regierung von der da-
aligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein Ab-
ommen mit der Türkei geschlossen worden, in dem die
öglichkeit des Beitritts eröffnet wurde.
Mit Billigung von Kanzler Kohl ist der Türkei auf
em Europäischen Rat in Luxemburg im Jahre 1997
usdrücklich bescheinigt worden, dass sie „für einen
eitritt zur Europäischen Union in Frage kommt“.
Herr Kohl hat anschließend eine Pressekonferenz
egeben und bekräftigt, dass es dabei um eine Bestäti-
ung der europäischen Berufung der Türkei und ihrer
erspektive für einen späteren Beitritt zur EU geht.
ie, Herr Glos, haben damals das deutsche Interesse be-
üht und gesagt:
Es ist vor allem im deutschen Interesse, die Türkei
in Europa zu sehen.
Herr Glos, Sie hatten vorgestern Geburtstag und sind
0 Jahre alt geworden. Herzlichen Glückwunsch von
ollege zu Kollege! 60 ist ein schönes Alter.
ann ist der jugendliche Leichtsinn vorbei und langsam
eginnt die Altersweisheit. Ich hoffe, man wird das auch
ei Ihnen ein bisschen merken. Ich jedenfalls wünsche
hnen alles Gute!
Die Geschichte mit Europa geht weiter. In der Konti-
uität der früheren CDU/CSU-Politik ist der Türkei
999 vom Europäischen Rat in Helsinki der Status eines
eitrittskandidaten zuerkannt worden. Die Kopenha-
ener Kriterien müssen erfüllt werden. Dazu haben Sie,
rau Merkel, einige Monate, bevor es die Kommission
etan hat, gesagt: „Die Türkei wird die Kopenhagener
riterien erfüllen.“ Lesen Sie einmal nach, was Sie
eute Morgen dazu gesagt haben.
Der Gipfel war, dass Sie, die Opposition, angekündigt
aben: Sollten Sie 2006 die Regierung übernehmen,
13788 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Franz Müntefering
werden Sie versuchen, einen Beschluss der Staats- und
Regierungschefs der EU, Beitrittsverhandlungen mit der
Türkei aufzunehmen, rückgängig zu machen. Ich kann
Sie beruhigen: Das werden Sie 2006 nicht schaffen.
Trotzdem sollte man sich einmal ansehen, was Sie da ei-
gentlich sagen.
Sie sagen: Wenn Sie die Chance dazu hätten, die Sie
aber nicht haben werden, würden Sie die Entscheidung
einer deutschen Bundesregierung, mit solchen Verhand-
lungen zu beginnen, aushebeln. Dadurch disqualifizieren
Sie sich für jedwede Aufgabe, sowohl außenpolitisch als
auch bundespolitisch;
denn Verträge müssen gehalten werden. Das Schlimmste,
was Sie als Opposition tun können, ist, ein solches Vor-
gehen anzukündigen.
Auch heute habe ich Sie nicht anders verstehen können.
Niemand behauptet, dass das, was wir vor uns haben,
leicht ist. Das werden schwierige Verhandlungen. Es
wird sicherlich auch Rempeleien und Schwierigkeiten
geben. Die Verhandlungen werden nicht automatisch zu
dem Ergebnis führen, das wir uns wünschen. Die Türkei
muss die Voraussetzungen schaffen, und zwar nicht nur
per Gesetz und verbal. Sie müssen vielmehr Lebens-
wirklichkeit werden. Darauf werden wir zu achten ha-
ben. Das tun wir auch.
Die Verhandlungen werden lange dauern und schwie-
rig sein. Ihr Ausgang ist offen; das wissen Sie. Vor 2014
jedenfalls ist ein Beitritt der Türkei zur EU nicht zu er-
warten.
– Es geht nicht um mich persönlich; die Sozialdemokra-
ten möglicherweise doch, Herr Kauder, also seien Sie
mal nicht so mutig!
Die Türkei ist kein Beitrittskandidat wie jeder andere.
Wir wissen um die Sorgen und Bedenken, die es auch in
unserem Lande gibt: Die Türkei ist ein sehr großes Land,
ein Land mit einer Kultur, die nicht ohne weiteres in Eu-
ropa Tradition hat, wenigstens nicht in der Dimension
wie andere Kulturen. Das bedeutet: Nicht nur die Türkei
muss beitrittsfähig sein, die EU muss auch aufnahmefä-
hig sein.
– Ja, das sagen wir: Es liegt auch an uns. Mit uns wird
die EU aufnahmefähig sein; ob das mit Ihnen auch der
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er von vornherein sagt: „Wir wollen es nicht“, wie
ann der sich aufnahmefähig machen?
Die Verhandlungen können ausgesetzt werden, falls
ie Türkei die politischen Kriterien ernsthaft und dauer-
aft verletzt. Die EU muss dafür Sorge tragen, eine Auf-
ahme der Türkei finanziell verkraften zu können. Wir
assen nichts aus: Die Sache wird schwierig. Für die aus-
abenintensivsten Bereiche – die Agrarpolitik und die
trukturpolitik – müssen in den Verhandlungen mit der
ürkei Regelungen gefunden werden. Was die Freizü-
igkeit der Personen angeht, wird in den Verhandlungen
u entscheiden sein, ob es den Mitgliedstaaten erlaubt
erden soll, den Zuzug von Türkinnen und Türken dau-
rhaft zu begrenzen, oder wie lange die volle Freizügig-
eit nicht gegeben ist.
Wir verkennen nicht: Die Türkei kann und muss noch
iel tun. Aber sie hat die Chance. Die Erfahrung, die wir
it anderen Ländern gemacht haben, ist: Die Chance,
ur EU dazukommen zu können, ist der Ansporn für alle
emokraten in diesen Ländern, dies auch zu versuchen.
eshalb sind Sie so kleinmütig, zu glauben, dass das,
as an demokratischer Idee, an Freiheitsidee in der EU
teckt, sich nicht auch in andere Länder transportieren
ässt, sie nicht anspornt, dazugehören zu wollen?
Sie reden über die Risiken, wir reden über die Chan-
en, die es auch gibt. Sie reden kleinmütig und Sie reden
utlos. Deutschland ist der größte Handelspartner der
ürkei. Der Zuwachs der deutschen Exporte war auch in
iesem Jahr wieder fulminant. Der BDI hat erklärt:
Für die deutsche Industrie ist die Türkei ein Wachs-
tumsmarkt mit großem strategischem Potenzial.
Eine berechenbare europäische Perspektive und die
schrittweise Übernahme des europäischen Rechts
erhöht die Planungssicherheit für die Unternehmen.
o sie Recht haben, haben sie Recht: Die Perspektive
es Beitritts der Türkei zur Europäischen Union liegt
uch im ökonomischen Interesse Deutschlands und der
U. Das ist so und das darf man auch sagen.
Der Beitritt der Türkei zur EU hat auch eine sicher-
eitspolitische Komponente. Sie haben eben die Sache
it der Brücke beschrieben, Frau Merkel. Dass Sie eine
ute Naturwissenschaftlerin sind, das weiß man ja – das
ezweifle ich auch nicht –, aber eine Architektin sind Sie
ott sei Dank nicht geworden;
a wären Sie mit dieser ganzen Sache gescheitert. Denn
ei der Brücke ist das Entscheidende, dass man ein ver-
ünftiges Widerlager hat: Sie muss gut aufliegen. Diese
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13789
)
)
Franz Müntefering
wichtige Funktion kann dieses Land übernehmen. Denn
der NATO-Partner Türkei hat eine strategische Lage
zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten.
Es ist ein muslimisch geprägtes Land. Viele andere mus-
limisch geprägte Länder werden auf diese Türkei
schauen; sie tun das heute schon. Die Türkei leistet Frie-
densbeiträge und exportiert Stabilität. Es ist vernünftig
von Europa und von Deutschland, die Türkei unter Be-
dingungen einzuladen. Die Türkei wird für andere Län-
der ein gutes Beispiel sein, wenn sie die Werte verwirk-
licht, die Bedingung sind: Demokratie und Freiheit,
Pluralismus und Toleranz.
Wer Frieden und Freiheit, Wirtschaftlichkeit und
kulturelle Stärke für ganz Europa bewahren will,
muß sich auf diese Annäherung einlassen.
Das ist ein gutes, ein wichtiges Wort. Es stand in der
„Bild“-Zeitung, aber auch da gilt: Wo sie Recht haben,
haben sie Recht.
Wir sehen die Entscheidung zur Aufnahme von Bei-
trittsverhandlungen nüchtern: Es werden schwierige Ver-
handlungen sein. Aber das Ziel lohnt solche Anstren-
gung. Deshalb gehen wir verantwortungsbewusst an
diese Aufgabe heran. Wir wünschen Europa, wir wün-
schen uns dabei eine gute und glückliche Hand und vor
allen Dingen eine klare Botschaft an die Türkei, in der
sich in den vergangenen Jahren so unglaublich viel ver-
ändert hat, und das unter einer konservativen Regierung.
Wir alle sind – das muss man doch zugeben – überrascht
von der Entwicklung in der Türkei, nicht nur in verbalen
Bekundungen, sondern auch in der Praxis. Heute von
hier aus im Deutschen Bundestag zu sagen: „Wir laden
euch ein, mit uns zusammen dieses Europa zu gestalten“,
das hat in der Tat, Frau Merkel, eine historische Dimen-
sion. Die Lösung liegt aber nicht in dem, was Sie sagen,
sondern in dem, was diese Bundesregierung und diese
Koalitionsmehrheit im Bundestag zu tun sich vorgenom-
men haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Kollegen Werner Hoyer, FDP-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Europäische Rat wird morgen die Aufnahme von Bei-
trittsverhandlungen mit der Türkei beschließen. Vielen
kommt dieser Termin zu früh; auch mir geht es so, ob-
wohl ich nicht zu denen gehöre, die auf ein Nein pro-
grammiert sind. Nicht zuletzt diese Bundesregierung hat
1999 vor und in Helsinki dazu beigetragen, dass wir jetzt
eine Entscheidung treffen müssen, hinter die es dann
auch kein Zurück mehr geben wird.
Dies gilt auch für die Zeit nach 2006. Spätestens
dann, wenn diese Regierung abgewählt sein wird, wer-
den andere darüber zu entscheiden haben, wie es weiter-
gehen wird. Für die FDP sage ich, dass es ein Zurück
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er bayerische Ministerpräsident überschätzt sich an
ieser Stelle; seine eigenen Parteifreunde im Europäi-
chen Parlament, aber auch im Europäischen Rat werden
hm da nicht folgen.
ies steht für die FDP fest. Die FDP ist national wie in-
rnational ein verlässlicher Partner; das gilt mit Sicher-
eit auch für die Außenpolitik nach 2006.
Im Übrigen halte ich nichts davon, bei diesem Thema
n den Sorgen der Bürgerinnen und Bürger vorbeizu-
ehen. Wir müssen uns dieser Sorgen ernsthaft anneh-
en, die übrigens tief in die sozialdemokratische Wäh-
rschaft hineinreichen. Umgekehrt halte ich überhaupt
ichts davon, Emotionen und Ängste geradezu zu schü-
en.
Rot-Grün erweckt den Eindruck, als sei die Sicherheit
uropas nur zu gewährleisten und der Kampf gegen den
nternationalen islamistischen Terrorismus nur zu gewin-
en, wenn wir möglichst rasch die Europäische Union
is tief nach Mittelasien hinein ausdehnen.
s wird so getan, als sei jeder, der sorgfältig und vorsich-
ig, vielleicht auch skeptisch an das Thema herangeht,
on vornherein ein intoleranter Ausländerfeind oder zu-
indest jemand, der die strategischen Chancen nicht be-
reifen will, die im EU-Beitritt der Türkei stecken.
Umgekehrt ist auch die Art der Ablehnung der Ver-
andlungen ein gefährliches Spiel mit dem Feuer; denn
s können sehr leicht Ressentiments geweckt werden.
ebenbei bemerkt können auch völlig falsche Botschaf-
en an die türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in
eutschland ausgesandt werden. Beides bringt uns nicht
eiter. Wir Liberalen kämpfen für eine Versachlichung
er Debatte.
Es wird am Freitag nicht um eine Entscheidung über
en Beitritt selbst, sondern um eine Entscheidung über
ie Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gehen. Erst
m Ende dieser Verhandlungen – in zehn, zwölf, 15 Jah-
en oder später – kann die Entscheidung über Aufnahme,
blehnung oder auch über eine differenzierte Position
tehen. Daran ist immer wieder zu erinnern; denn eines
13790 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Dr. Werner Hoyer
ist klar: Heute wäre weder die Türkei beitrittsfähig noch
wäre die Europäische Union aufnahmefähig.
Richtig ist aber auch, dass die Türkei in den letzten
Jahren einen bemerkenswerten Aufhol- und Reformpro-
zess begonnen hat und sich ernsthaft um die Implemen-
tierung der Reformen bemüht. Diese Bewegung, die die
Türkei vollzogen hat, ist eine Bewegung in die richtige
Richtung, nämlich in Richtung unserer Wertvorstellun-
gen. Das ist das Entscheidende. Weder die Religion noch
die Frage der Geographie ist entscheidend, sondern die
Verständigung auf gemeinsame Werte wie Würde des
Menschen, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Hier hat
die Türkei noch einen langen Weg vor sich. Aber sie hat
ihn eindeutig und klar eingeschlagen. Darin steckt für
Stabilität, Frieden und Wohlstand in Europa eine große
Chance.
Deshalb ist es wichtiger, jetzt über die Ausgestaltung
des Verhandlungsprozesses zu debattieren. Die Kommis-
sion macht hierzu durchaus kluge Vorschläge. Für uns
Liberale sind dabei drei Elemente von herausragender
Bedeutung. Die Stichworte lauten: Konditionierung,
Monitoring und Ergebnisoffenheit.
Konditionierung – was heißt das hier? Es muss der
Türkei vollkommen klar sein, dass an einer Fortsetzung
und Implementierung ihres Reformprozesses kein Weg
vorbeigehen kann. Wir müssen mit unseren türkischen
Kollegen dabei fair umgehen. Es kann auf unserer Seite
weder ein Draufsatteln geben – die Kopenhagener Krite-
rien gelten – noch kann es einen Rabatt gegenüber der
Türkei geben. Die EU muss sich ihrerseits durch die Ra-
tifizierung des Verfassungsvertrages, durch die erfolgrei-
che Bewältigung der letzten Aufnahmerunde und nicht
zuletzt durch die Reform ihrer Gemeinschaftspolitiken
an Haupt und Gliedern aufnahmefähig machen.
Schließlich zu Zypern. Ich halte es für völlig undenk-
bar, dass ein Land Mitglied der Europäischen Union
wird, das in einem anderen Land der Europäischen
Union gegen dessen Willen militärisch präsent ist. Das
muss den Türken klar gesagt werden.
Als absolutes Minimum muss erwartet werden, dass die
Türkei das Zollunionsprotokoll unterzeichnet;
denn das würde zumindest inzidenter zum ersten Mal die
Anerkennung Zyperns durch die Türkei beinhalten. Es
ist absurd, sich vorzustellen, dass die Türkei in einer Re-
gierungskonferenz Beitrittsverhandlungen mit 25 Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union führt, von denen es
einen gar nicht anerkennt.
Beim Thema Monitoring bin ich von den Vorschlä-
gen der Kommission schon weniger begeistert. Ich hätte
mir gewünscht, dass die nationalen Parlamente und das
Europäische Parlament in diesen Prozess einbezogen
wären. Wir werden jetzt wieder die übliche Kommis-
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uch die Türkei hat eine Innenpolitik. Auch die Türkei
ill diesen Reformprozess mit Rückenwind aus Brüssel
ortsetzen. Aber ob das Ziel erreicht wird, kann niemand
orhersagen und erst recht nicht garantieren. Wenn es
icht erreicht wird, dann muss alles darangesetzt wer-
en, dass sich die Türkei nicht von Europa abwendet.
eshalb muss es Optionen geben dürfen – nicht im
inne einer als Diskriminierung empfundenen Reduzie-
ung des Verhandlungsziels,
ondern im Sinne von möglicherweise eines Tages als
innvoll oder überlegen angesehenen Alternativen zum
rsprünglich angepeilten Verhandlungsergebnis.
Ich halte das für durchaus denkbar; übrigens weniger,
eil ich der Türkei nicht zutrauen würde, dass sie den
eformprozess mutig fortsetzt oder dass sie in der Lage
t, ihre Volkswirtschaft weiter erfolgreich zu moderni-
ieren, sondern eher deshalb, weil ich zumindest Zweifel
abe, ob sich die türkischen Freunde voll darüber im
laren sind, dass die Europäische Union kein definierter
ndzustand ist, sondern ein Prozess, der auch in den
ächsten 15 Jahren rasant weitergehen wird. Eine Voll-
itgliedschaft in der Europäischen Union setzt die Be-
eitschaft voraus, sich in diesen Prozess aktiv gestaltend
inzubringen und in einem Umfang Souveränitäts-
echte abzugeben und sich in die Innenpolitik hineinre-
en zu lassen, wie sich das manche in der Türkei gegen-
ärtig noch nicht vorstellen können. Wenn das allen am
nde des Prozesses erst einmal bewusst ist, dann ist es
urchaus denkbar, dass im Konsens eher eine besondere
artnerschaft als eine volle Mitgliedschaft heraus-
ommt – im Konsens mit den Türken und nicht als Ab-
ehrreaktion gegenüber den Türken.
Die Kommission baut hier ja schon vor. Ich glaube, es
st klug, dass man vorsichtshalber darauf eingerichtet ist,
ass es nicht zu einer Vollmitgliedschaft kommt; denn
as Schlimmste, was passieren könnte, wäre, dass das
erhandlungsziel verfehlt würde und sich die Türkei von
uropa abwendet.
eswegen hat die Türkei Vorschläge gemacht, die weit-
ehend eine dauerhafte Abweichung vom Prinzip der
reizügigkeit möglich erscheinen lassen. Dann werden
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13791
)
)
Dr. Werner Hoyer
die Grenzen zwischen Vollmitgliedschaft und einer be-
sonderen Partnerschaft ohnehin schon sehr schnell ver-
wischt. Nehmen wir das, was die Kommission als Ergeb-
nisoffenheit benennt, ernst und nehmen wir es wörtlich!
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Bundesminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von allen
Rednerinnen und Rednern wurde zu Recht unterstrichen,
dass es sich um eine wichtige, ja sogar um eine histori-
sche Entscheidung nicht nur für Europa, sondern selbst-
verständlich auch für die Türkei handelt. Ich will versu-
chen, die Argumente im Einzelnen aufzunehmen, und
unsere Sicht dazu darstellen.
Lassen Sie mich zuerst unsere Erwartung zweifelsfrei
klarstellen. Wir gehen davon aus, dass der Europäische
Rat den Beschluss fassen wird, zu einem bestimmten
Datum im nächsten Jahr die Beitrittsverhandlungen
– und nichts anderes – mit der Türkei aufzunehmen. Die
Bundesregierung wird sich dafür mit allem Nachdruck
einsetzen.
Wir müssen doch sehen, dass das europäische Eini-
gungsprojekt seit dem Ende des Kalten Krieges eine
unglaublich positive Wirkung ausstrahlt. Hier verstehe
ich ehrlich gesagt Ihren Kleinmut nicht. Frau Merkel,
wenn ich über Klein- bzw. Großeuropa spreche, dann
meine ich das Europa der 25, ein Europa, das um zehn
Mitgliedstaaten größer geworden ist. Es gab eine ge-
wisse Skepsis. Man fragte sich, wie lang es dauern
werde, bis wir das verarbeiten könnten. Gerade die
Ukrainekrise hat doch gezeigt, dass wir in der 25er-
Union keineswegs weniger handlungsfähig sind. Wir
konnten feststellen, dass die Zusammenarbeit der beiden
Präsidenten Kwasniewski aus Polen und Adamkus aus
Litauen mit dem Hohen Beauftragten der Europäischen
Union hervorragend war. Im Hintergrund haben viele,
auch die Bundesregierung und der Bundeskanzler, dazu
beigetragen, dass wir hier vorangekommen sind.
An diesem Punkt muss ich Ihnen ehrlich sagen – es
wird dauernd über Stolz geredet –, dass wir stolz darauf
sein sollten, dass diese erweiterte Union die Verfassung
zustande gebracht hat. In der gemeinsamen Sicherheits-
und Verteidigungspolitik und in der gemeinsamen Au-
ßenpolitik kommen wir jetzt weiter. Wenn die Verfas-
sung umgesetzt wird, dann wird die Verhandlungsfähig-
keit weiter zunehmen. Dabei war die Türkei nicht nur in
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ie Türkei war bei der Unterzeichnung der Verfassung
m Kapitol dabei und an den Beratungen über die Verfas-
ung hat sie durch ihre Repräsentanten nicht nur der Re-
ierung, sondern auch des Parlaments von Anfang an
eilgenommen. In allen wichtigen Gremien der Europäi-
chen Union sitzt sie beratend und sie nimmt an den Be-
atungen teil. Es gibt die Zollunion und inzwischen auch
nge wirtschaftliche Beziehungen. Das heißt: Das, was
ie privilegierte Partnerschaft nennen und worüber Sie
erhandeln wollen, existiert bereits.
Nein, ich widerspreche mir überhaupt nicht. Vielmehr
xistieren diese engen Beziehungen.
Sie haben das große Problem, dass die Regierung
rdogan bereits Fortschritte erreicht hat. Sie hat mit der
urchsetzung rechtsstaatlicher Grundsätze, mit der Ab-
chaffung der Todesstrafe und mit Rechtsstaatsreformen
rnst gemacht, die wir seit Jahrzehnten gefordert haben,
ie aber erst jetzt angegangen wurden und noch umge-
etzt werden müssen. Frau Merkel, wenn Sie ehrlich
ind, dann müssen Sie sagen, dass Sie Schwierigkeiten
it einer Regierung haben, die das tut, was auch die
DU/CSU vier Jahrzehnte lang von der Türkei verlangt
at.
Dahinter steckt etwas ganz anderes. Ich komme da-
auf nachher noch zu sprechen. Es geht nicht um Ihr Ar-
ument, dass Sie sich um Europa sorgen. Im Übrigen
eile ich Ihren Dreisatz nicht. Sie sprachen von der Frei-
andelszone. Die EU war von Anfang an mehr als eine
reihandelszone.
ie EFTA war die Freihandelszone, die EU hat von An-
ang an auf Integration gesetzt.
as Wesen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
ar schon damals die Idee der Integration. Deswegen
urden der Gemeinsame Agrarmarkt und der Gemein-
ame Markt für Industriegüter gleich am Anfang ge-
chaffen. Das heißt, die Integration ist das wesentliche
lement der Europäischen Union.
13792 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Bundesminister Joseph Fischer
Wenn Sie Ihr Argument ernst nehmen würden, dann
müssten Sie den damaligen Beitritt Großbritanniens und
von skandinavischen Ländern in der Tat sehr skeptisch
sehen. Ich tue das nicht. Wenn Sie sich die aktuelle Lage
der Europäischen Union anschauen, dann werden Sie er-
kennen, dass das offensichtlich richtig ist.
Ich komme zur Integration. Sie sprechen von der
Wirtschaftsgemeinschaft. Ich sehe hier keinen Wider-
spruch. Die Vertiefung und Herstellung des Gemeinsa-
men Marktes und die Wirtschafts- und Währungsunion
stehen in einem engen Zusammenhang mit einem ver-
tieften politischen Zusammenwachsen. Das hat auch die
Erweiterung der Europäischen Union gezeigt. Ich frage
Sie: Woher wissen Sie, dass Ihre These, mit der Türkei
sei das nicht möglich, stimmt? Wir entscheiden heute
nicht über den Beitritt der Türkei, sondern wir entschei-
den über die Modernisierung der Türkei. Die Entschei-
dung über die Unterstützung der bisher erfolgreichen
Modernisierung steht an.
Weder Sie noch ich wissen, was passieren wird. Es
geht um Folgendes: Wenn wir Ihre Position übernehmen,
wird das, ob Sie das intendieren oder nicht – ich meine
das jetzt nicht negativ –, in der Türkei als Nein gesehen.
Die Konsequenzen aus diesem Nein müssen wir dann
auch durchbuchstabieren. Wir haben der Türkei über
41 Jahre lang den Beitritt zugesagt. Franz Müntefering
hat noch einmal die Positionen und Zusagen, die auch
Ihre Partei und die von Ihnen gestellten Regierungen
vertreten haben, zitiert. Die Konsequenzen aus diesem
Nein – darin sind wir uns doch zumindest hinter ver-
schlossenen Türen einig – wären extrem fatal.
Sie können uns heute nicht nachweisen, dass wir mit
einem Ja einen Automatismus in Gang setzen. Das tun
wir nicht, sondern wir sprechen uns expressis verbis ge-
gen jeden Beitrittsautomatismus aus. Dann kann ich Sie
nur fragen: Warum ist es Ihnen nicht möglich, dass Sie
diesen Prozess, der – das wird so beschlossen – völlig
offen ist, weiterhin positiv oder meinetwegen auch skep-
tisch begleiten? Ich dachte, zwischen Ihnen und uns gibt
es in einem Punkt Einigkeit, nämlich dass wir ein großes
Interesse an der Modernisierung der Türkei haben. Ich
dachte auch, dass wir ebenso darin einig sind, dass diese
Modernisierungsperspektive der Türkei mit der europäi-
schen Perspektive verbunden ist.
Ich sage Ihnen: Eine europäische Perspektive bedeutet
auch eine feste Verankerung.
Ich komme jetzt zu dem entscheidenden Punkt. Wir
wollen die Entscheidung über den Beitritt der Türkei
dann, wenn sie beitrittsfähig ist. Wir wissen, dass dieser
Prozess zehn, vielleicht sogar 15 Jahre dauern wird. Wir
wissen, dass es keinen Automatismus geben wird. Wir
wissen auch, dass mit entsprechenden Benchmarks Vor-
sorgeregelungen für den Fall getroffen werden, dass die
Entwicklung in der Türkei stagniert oder sie sich in die
völlig andere Richtung bewegt. Ich frage nochmals die
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Das ist nicht das alleinige Argument und für sich ge-
ommen noch nicht ausreichend. Aber es ist natürlich
in sehr wichtiges Argument. Nach dem 11. September
eht es darum, dass wir in der islamisch-arabischen Welt
ntweder die Transformation unterstützen oder in Kauf
ehmen, auf eine Explosion zuzusteuern, die dann ir-
endwann kommen wird. Das scheint mir ganz klar zu
ein. In dieser Situation ohne Not Nein zu sagen, halte
ch für dermaßen blind und gegen die Interessen Euro-
as, der gesamten westlichen Welt und Deutschlands ge-
ichtet, dass ich Sie noch einmal auffordern möchte, Ihre
osition im Lichte der Fakten grundsätzlich zu überprü-
en.
Ich glaube, bei Ihnen ist es im Wesentlichen etwas an-
eres. Es geht nicht um die Argumente, die jetzt vorge-
ragen wurden. Vielmehr steckt eine tief sitzende Aver-
ion
gar nicht einmal bei Ihnen persönlich, aber bei Teilen
hrer Partei – dahinter. Sonst könnten wir diesen Prozess
uf der Grundlage der Vorschläge,
ie die Präsidentschaft jetzt vorgelegt hat, gemeinsam
eiter verfolgen. Sie würden sich damit gar nichts ver-
eben. Sie könnten an Ihrer Skepsis festhalten, aber wir
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13793
)
)
Bundesminister Joseph Fischer
könnten den Prozess der Modernisierung gemeinsam be-
gleiten. Wir könnten den hier lebenden Menschen, die
aus der Türkei stammen oder noch türkische Staatsange-
hörige sind, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu uns geben,
was ich für ganz wichtig halte.
Frau Merkel, auch unter dem Gesichtspunkt des Kamp-
fes gegen den internationalen Terrorismus wäre es das
Dümmste, Kurzsichtigste und Gefährlichste, was wir
machen könnten, wenn wir die Mehrheit der Muslime in
die Ecke derer stellen würden, die meinen, uns mit Ter-
ror gefährden oder angreifen zu müssen.
Im Gegenteil: Die Mehrheit der Muslime muss auf unse-
rer Seite stehen, wenn wir diese Auseinandersetzung ge-
winnen wollen.
Die Bundesregierung hat sich ihre Position nicht
leicht gemacht. Wir werden uns mit allem Nachdruck
dafür einsetzen, dass wir jetzt auf dem Europäischen Rat
eine Entscheidung auf der Grundlage bekommen, dass
der Prozess offen ist, es keinen Beitrittsautomatismus
gibt und die Umsetzung der notwendigen Reformen in
die gesellschaftliche Realität überprüft wird. Es muss
eindeutig sein, dass die Türkei einen Termin im nächsten
Jahr bekommt, an dem wir die Beitrittsverhandlungen
eröffnen. Dies ist im Interesse Europas und im Interesse
unseres Landes.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort Kollegen Gerd Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch-
land und die Türkei verbindet eine historische Freund-
schaft. Nicht zuletzt CDU und CSU haben die Verwirkli-
chung der Zollunion damals gegen die Stimmen von
Sozialisten und Grünen im Europäischen Parlament
durchgesetzt.
Wir lassen uns bei unseren Entscheidungen von nieman-
dem unter Druck setzen. Wir sagen ein klares Nein zu
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Wir sagen aber Ja
zur Zusammenarbeit mit einer starken, souveränen und
stolzen Türkei. Das Konzept der privilegierten Part-
nerschaft, wie es von Frau Dr. Merkel aufgezeigt
wurde, ist dazu der richtige Weg.
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s ist der richtige Weg für die Türkei, für Deutschland
nd für Europa.
Herr Außenminister, wenn man Ihre Argumentation
gisch verfolgt, dann stellt man fest, dass das eigentlich
ie Argumentation für den Weg der Union ist. Es ist un-
erantwortlich, heute zu sagen: Alles oder nichts. Wir
eigen der Türkei den Weg auf: Ja oder nein. Wir ver-
andeln zehn bis 15 Jahre und am Schluss sagen wir: Ja
der nein. – Das ist der falsche Weg. Wir von der Union
agen: Wir wollen heute den Ausbau und die Vertiefung
er Partnerschaft und Freundschaft mit der Türkei, und
war schrittweise und stufenweise mit dem Konzept der
rivilegierten Partnerschaft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
oalition, Sie sprechen von der Mehrheit der Muslime
Land, die Sie brauchen. Ich frage Sie: Brauchen wir
ür einen solchen historischen Schritt nicht die Mehrheit
er deutschen Bevölkerung hier in Deutschland?
s ist beschämend, dass der Kanzler bei einer solchen
ebatte, vor einem solchen historischen Schritt in Eu-
opa nicht auf der Regierungsbank sitzt, geschweige
enn, dass er dem deutschen Parlament die Möglichkeit
äbe, über einen solchen Schritt abzustimmen. Sie ent-
cheiden gegen die Mehrheit des deutschen Volkes und
egen das deutsche Parlament.
as ist die Arroganz der Macht. Sie, Herr Bundeskanz-
r, und Sie, Herr Außenminister, haben Ihre Freunde
on der Industrie an Ihrer Seite, Herrn Breuer und Herrn
ogowski. Ich aber sage Ihnen: Die deutsche Industrie
nd die deutsche Wirtschaft profitieren heute schon von
er Partnerschaft und der Zollunion. Das ist kein qualita-
ver Sprung.
ragen Sie doch einmal Herrn Vosseler! Fragen Sie ein-
al die Opel-Mitarbeiter! Fragen Sie den normalen Ar-
eitnehmer! Diese Menschen bangen um ihre Arbeits-
lätze. Sie haben ein Stück weit Angst vor dieser
ntwicklung und sehen sie mit Sorge.
Ich komme auf die zentralen Punkte zu sprechen. Was
ind unsere Gründe gegen den EU-Beitritt der Türkei?
ir sind überzeugt, dass die Aufnahme der Türkei das
nde der Politischen Union Europas bedeutet. Europa
erliert dadurch seine Identität und seine Zustimmung
ei den Bürgern. Das können wir nicht anstreben.
13794 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Dr. Gerd Müller
Egon Bahr als Wegbereiter der Osterweiterungspoli-
tik bringt seine Kritik an einer Vollmitgliedschaft auf
den Punkt, indem er feststellt:
Nimmt man die Türkei auf, dann ist das das Ende
der Vision von der politischen Union Europas.
Nicht nur die großen Sozialdemokraten Egon Bahr und
Helmut Schmidt, den man ebenfalls in diesem Zusam-
menhang anführen könnte, warnen davor. Herr
Müntefering, Sie haben vorhin von der geheimen Ab-
stimmung gesprochen. Das hat auch einigen Sozialde-
mokraten im Europäischen Parlament geholfen. Der So-
zialdemokrat Klaus Hänsch, der frühere Präsident des
Europäischen Parlaments, hat sich vorgestern wie folgt
zu der Debatte geäußert:
Die Verhandlungen müssen beginnen, aber ein Tag
der Freude ist dies nicht. Es fehlt ein überzeugendes
Argument dafür, dass die Türkei den Zusammen-
halt Europas stärkt und nicht schwächt.
Die politische Vertiefung wird der Euphorie über die
Größe und die Fläche geopfert. Das wissen Sie auch,
Herr Außenminister. Das ist im Übrigen auch der Grund,
warum die Briten für den Beitritt Ankaras stimmen und
warum es viele Ja-Stimmen aus unterschiedlichen Moti-
ven gibt.
Frits Bolkestein, der frühere niederländische EU-
Kommissar, spricht in aller Offenheit und Deutlichkeit
klar aus, dass Vertiefung und Erweiterung die Lebens-
lüge der Union seien. Die Erweiterung und Vertiefung
schafften in Brüssel ein Monster oder Chaos. Wahr-
scheinlich schafften sie beides. Denn Sie können nicht
auf der einen Seite den Weg zur Politischen Union und
die Handlungsfähigkeit Europas vertiefen – was wir alle
wollen – und auf der anderen Seite die Europäische
Union durch die Ausdehnung bzw. Erweiterung bis an
die Grenzen Syriens und Armeniens in eine Größenord-
nung bringen, in der wir den Weg der Politischen Union
nicht mehr gemeinsam gestalten können.
Für unseren Außenminister hat Europa noch nicht die
richtige Größe. Das hat er mehrfach betont. Nur mit der
Türkei kann die EU hinsichtlich der Größe mit Amerika,
Russland und China Schritt halten. Frau Merkel hat Sie
bereits darauf hingewiesen, Herr Fischer: Sie verwech-
seln in Ihrer Großmannssucht Größe und Stärke. Ein
Europa, das in der Welt eine Rolle spielt – das wäre ent-
scheidend –, sollte und müsste mit einer Stimme spre-
chen. Das ist der Weg, den wir gehen müssen.
Auch das Strategieargument wurde entkräftet.
Die Türkei ist weder eine Brücke zur arabischen Welt
noch ein Vorbild für sie.
Auch diese Wahrheit muss gesagt werden. Denken Sie
an das Verhältnis zwischen der Türkei und ihren arabi-
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ie Türkei ist weder Brücke noch Vorbild für die arabi-
che Welt. Dies bestätigen Ihnen nicht nur Herr Winkler,
ondern auch viele andere Professoren, Wissenschaftler
nd Fachleute.
Sie brechen mit der Aufnahme der Verhandlungen mit
inem Grundsatz. Sie nehmen Verhandlungen auf, ohne
ass die politischen Kopenhagener Kriterien erfüllt
ind. Ankara missachtet die Menschenrechte. Die Zypern-
rage ist weiter offen. Das Völkerrecht wird verletzt. An-
ara verletzt das Recht auf Religionsfreiheit. Die EU-
ommission stellt zum Thema Folter fest, dass es zwar
eine systematische, aber eine permanente Folter gibt.
llein 2004 sind 600 Folterfälle dokumentiert worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Bun-
esinnenminister Schily, allein aus der Türkei sind in
en letzten zwölf Monaten 12 000 Asylbewerber nach
eutschland gekommen. Dennoch stellen Sie fest, dass
lle Kriterien hinsichtlich der Demokratie und Men-
chenrechte erfüllt seien. Sie geben einen Freifahrt-
chein und brechen mit dem Grundsatz, Verhandlungen
rst dann aufzunehmen, wenn die politischen Kriterien
rfüllt sind.
Natürlich stellen sich die Menschen in unserem
ande auch die – bislang völlig unbeantwortete – Frage
ach den Kosten. Wer soll angesichts leerer Staats- und
entenkassen den Beitritt der Türkei finanzieren?
5 Milliarden Euro im Jahr! Woher soll das Geld kom-
en? Diese Frage bleibt völlig offen. Die Menschen
tellen sich ebenfalls die Frage, was Freizügigkeit be-
eutet. Das Osteuropa-Institut weist heute noch einmal
arauf hin, dass Freizügigkeit freier Zugang für alle
enschen zu den Mitgliedstaaten der Europäischen
nion und zu den europäischen Märkten bedeutet. Das
steuropa-Institut prognostiziert heute, dass 4 Millio-
en Türken über die Brücke nach Europa kommen wer-
en; denn es gibt eine enorme Einkommensdifferenz
wischen der Türkei und den europäischen Mitglied-
taaten.
ie Kaufkraft in der Türkei liegt bei 23 Prozent des EU-
urchschnitts. 20 Millionen Türken leben von einem
onatseinkommen in Höhe von unter 50 Euro. Wer
ollte es diesen Menschen verdenken, wenn sie hoff-
ungsfroh über die Brücke gehen und zu uns kommen?
er glaubt nicht, dass sie das tun werden?
Erdogan hat in dieser Woche in seiner Rede vor dem
ürkischen Parlament ganz klar gemacht, er werde es
icht hinnehmen, dass die Freizügigkeit langfristig aus-
eschlossen wird. Wenn Sie aber die Freizügigkeit lang-
ristig ausschließen, dann machen Sie sich genau unser
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13795
)
)
Dr. Gerd Müller
Konzept einer privilegierten Partnerschaft zu Eigen. Das
ist ein sinnvollerer Weg als derjenige, den Sie vorschla-
gen.
Ich komme auf einen weiteren Punkt zu sprechen. Die
Europäische Union ist nach der Osterweiterung überfor-
dert, nun den Beitritt der Türkei zu schultern. Geben Sie
eine Antwort auf die Frage, wie die Aufnahme der Tür-
kei institutionell erfolgen soll, die dann mit 80 Millionen
Einwohnern – das wären 15 Prozent der Bevölkerung
der Europäischen Union – Anspruch auf 96 Abgeordnete
im Europäischen Parlament und 15 Prozent der Minis-
terratsstimmen hätte. Weder sind die politischen Insti-
tutionen darauf vorbereitet noch sind die wirtschaftli-
chen Bedingungen dafür gegeben. Mit dem Beitritt der
Türkei würde sich der Anteil der Kohäsionsländer in der
EU auf 36 Prozent der Bevölkerung, 41 Prozent der Par-
lamentsstimmen und 43 Prozent der Ratsstimmen erhö-
hen, und das bei einem BIP-Anteil von 9 Prozent. Das
würde den politischen, den institutionellen und den wirt-
schaftlichen Rahmen der Europäischen Union sprengen.
Auch der Verfassungsvertrag gibt darauf keine Antwort.
Er ist kein Erweiterungsplan.
Ich komme zum Schluss. Ihre Alles-oder-nichts-Stra-
tegie ist falsch. Bei Ihnen heißt „ergebnisoffen“ Ja oder
Nein. Das ist falsch. Verhandlungen über zehn oder
15 Jahre mit dem Ziel eines Beitritts zu führen und am
Ende – möglicherweise – doch Nein zu sagen, das wäre
eine verheerende Katastrophe für beide Seiten. Deshalb
fordern wir Sie auf: Nehmen Sie die von uns, der Union,
vorgeschlagene Option einer privilegierten Partnerschaft
in die Verhandlungen auf!
Herzlichen Dank.
Ich erteile der Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, dass die Rede von Herrn Müller eine Zusammen-
ballung aller falschen Argumente in einem eigentlich ra-
tional zu führenden Diskurs darstellt. Das zeigt, auf wel-
che Art und Weise Sie
– Herr Kollege, ich überlege mir das immer – vorgehen.
Frau Merkel hat gesagt, das Thema bewege – das ist
richtig – und wir müssten Argumente austauschen. Im
gleichen Atemzug hat sie aber von einer Katastrophe ge-
sprochen, wenn nun die Verhandlungen eröffnet würden.
Das nenne ich nicht „Argumente austauschen“.
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Die CDU/CSU behauptet, die Vollmitgliedschaft der
ürkei scheitere an den Menschen in Europa. Sie imple-
entieren einen Diskurs, der darauf abzielt, den Men-
chen zu suggerieren, dass die Integration der Türkei
cheitern muss. In der letzten Diskussion hat Herr Glos
n einem Zwischenruf gesagt: Wir wollen Hilfe vom
eutschen Volk. Sie wollen nämlich, dass das deutsche
olk eine Mitgliedschaft der Türkei ablehnt.
m Moment sind Sie dabei – Sie führen keinen rationalen
ialog –, diesen Dialog mit einer beispielhaften Verdre-
ung der Argumente – Herr Müller war ein Paradebei-
piel dafür – zu verhindern.
Herr Pflüger hat erst kürzlich im Zusammenhang mit
em Verzicht auf die geplante Unterschriftenaktion ge-
rahlt, als er sagte: Wir hätten ja viel Unterstützung ge-
abt; trotzdem haben wir darauf verzichtet.
ie NPD hat das nämlich aufgegriffen. So treibt man
ähler in die rechtsextremen Scheuern. Was Sie betrei-
en, ist nicht nur Populismus, sondern hat auch weit rei-
hende Auswirkungen auf die Innen- wie auf die Außen-
olitik. Es schert Sie in keiner Weise, dass Sie durch das
chüren von Ängsten, das Sie hier betreiben, Schäden
nrichten.
Zum Beispiel hat Herr Pöttering vor einigen Tagen im
eutschlandfunk gesagt: Zum Zeitpunkt des vermutli-
hen Beitritts wird die Türkei eine Bevölkerungszahl
on 100 Millionen haben. Kein Einziger von Ihnen hat
inmal einen Blick in die Geburtenstatistik der Türkei
eworfen; sonst hätten Sie nämlich festgestellt, dass es
ort ähnlich wie bei uns einen erheblichen Geburten-
ückgang gibt, und das sowohl in den Metropolen als
13796 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Uta Zapf
auch in Südostanatolien. Das ist keine wirklich rationale
Diskussion, sondern eine Verkehrung der Tatsachen.
Dasselbe gilt im Hinblick auf die wirtschaftliche
Entwicklung. Herr Müller hat gerade das Quaisser-
Gutachten erwähnt. Dieses Gutachten hat Herr Sinner,
der bayerische Europaminister, stolz vorgestellt.
– Ja, ich weiß; und das vorherige auch. – Ich habe selbst
mit Herrn Quaisser über seine Gutachten diskutiert.
Wenn Sie genau hingeschaut hätten, dann hätten Sie be-
merkt, dass Herr Quaisser genauso wie Sie die Parame-
ter des Jahres 2004 zugrunde legt und in keiner Weise
berücksichtigt, dass es während des gesamten Prozesses
der Verhandlungen über einen Beitritt eine Entwicklung
geben wird und dass es Prognosen gibt, die der Türkei
durchaus eine positive Wirtschaftsentwicklung attestie-
ren. Heute früh hat Herr Sahin, der Vorsitzende der
Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer, die
entsprechenden Argumente sehr genau aufgeführt.
Wenn Sie mit diesem Thema wirklich fair und ratio-
nal umgehen wollen, wenn Sie mit diesem Thema umge-
hen wollen, ohne Ängste zu schüren und ohne zu hetzen,
dann müssen Sie auch diese Dinge erwähnen und Sie
dürfen nichts vortragen, was schief ist und auf falschen
Annahmen basiert.
Wir begeben uns mit der Eröffnung der Verhandlun-
gen doch in einen Prozess hinein. Diesen Prozess durch-
laufen beide Seiten, sowohl die EU als auch die Türkei.
Beide Seiten werden sich in diesem Prozess verändern
und beiden Seiten wird dabei viel abverlangt. Innen- und
außenpolitisch verantwortliches Handeln bedeutet, dass
man mit den politischen Argumenten rational und ehr-
lich umgeht, dass man einen Beitrag zur politischen Wil-
lensbildung leistet und dass man in einem Abstim-
mungsprozess eine Entscheidung herbeiführt, so wie es
das Europäische Parlament gemacht hat.
Ich bin mir ganz sicher, dass der Rat morgen entspre-
chend entscheiden wird und dann dieser Prozess eröffnet
wird.
Ich möchte noch auf ein Argument eingehen, das Herr
Söder aufgegriffen hat und das auch Sie, Herr Müller,
haben anklingen lassen: das Argument des Terrorismus.
Herr Söder hat gesagt: Wenn wir jetzt Beitrittsverhand-
lungen beginnen, dann importieren wir den islamisti-
schen Terror aus der Türkei nach Europa.
Die ist so falsch wie nur irgend möglich,
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eil die Türkei in der Terrorbekämpfung einer unserer
esten Partner ist; sie ist selbst von diesem Terror betrof-
en. Fragen Sie doch bitte einmal das BKA danach, das
hnen mitteilen wird, welch hervorragende Zusammen-
rbeit es an dieser Stelle gibt! Mit solchen Horrorargu-
enten – wenn sie zuträfen, dann hätte Frau Merkel na-
ürlich Recht; das wäre eine Katastrophe – zu hantieren
st in der Tat völlig unverantwortlich.
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt aufgreifen:
as sicherheitspolitische Argument. Das ist hier von
hrer Seite völlig zerpflückt worden. Herr Fischer, Sie
aben es sehr klar dargestellt. Ich bedanke mich dafür,
ass Sie das noch einmal so deutlich gemacht haben.
en Partner Türkei werden Sie, meine Damen und Her-
en, vor den Kopf stoßen, wenn Sie so argumentieren.
ie Türkei ist jahrzehntelang Partner der NATO, ist als
ollwerk gegen den Kommunismus wunderbar brauch-
ar, ist auch unerlässlich – das verdrängen Sie jetzt völ-
ig – für den Ausbau der ESVP, der Europäischen Si-
herheits- und Verteidigungspolitik. Und nun wollen Sie
hr die Tür vor der Nase zuschlagen, obwohl richtig ist,
as Sie bestreiten, nämlich dass die Türkei in dieser Re-
ion mittlerweile ein Garant und ein Promoter für Si-
herheit ist und sein wird, weil sie gute Beziehungen zu
hren Nachbarn hat. Ja, sie hatte vor zwei Jahren einen
treit mit Syrien. Aber heute gibt es einen intensiven
nnäherungsprozess mit Syrien. Es gibt einen Annähe-
ungsprozess mit Iran. Dort ist die Türkei ein guter Ver-
ittler. Vergessen Sie nicht, dass die Türkei das einzige
and in dieser Region ist, das gute Beziehungen zu Is-
ael hat!
elches Pfund wir dort wegwerfen, wenn wir unseren
artner Türkei so vor den Kopf stoßen, das vergessen
ie hier völlig.
Leider ist meine Redezeit jetzt fast zu Ende. Ich wäre
erade so richtig in Fahrt gekommen. – Wir sind gut be-
aten, glaube ich, wenn wir als Volksvertreter diesen
rozess begleiten, wie Herr Hoyer das gesagt hat. Es
indert uns niemand daran, diesen intensivierten euro-
äisch-türkischen Dialog zu führen. Es hindert uns nie-
and daran, den deutsch-türkischen Dialog nicht nur in
er deutsch-türkischen Parlamentariergruppe zu führen,
ondern generell unsere Kolleginnen und Kollegen im
ürkischen Parlament zu beraten, wenn sie es wünschen
das tun sie übrigens –, und sie bei diesem Prozess zu
nterstützen, der für die Türkei schwer ist, der in der
ürkei aber einen ganz hohen Akzeptanzgrad bei den
enschen hat. Die Kurden gehen auf die Straße und de-
onstrieren für den Beitritt zu Europa, weil sie genau
issen, dass ihre Menschenrechte, ihre bürgerlichen
echte und ihre sozialen Rechte nur mit diesem Beitritts-
rozess gewahrt bleiben. Die zivile Gesellschaft in der
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13797
)
)
Uta Zapf
Türkei ist mittlerweile so stark und so gut, dass sie selbst
die Kontrolle über die Einhaltung und die Implementie-
rung der Kriterien leisten wird. Schlagen wir der Türkei
die europäische Tür nicht vor der Nase zu! Das, aber
nicht die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen, wäre
eine Katastrophe.
Danke.
Ich erteile der Kollegin Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, FDP-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Ich möchte doch noch einmal auf die
Beschlussfassung des Europäischen Parlaments von
gestern zu sprechen kommen, die für den heute Abend
beginnenden Europäischen Rat nicht bindend ist, aber
doch ein ganz wichtiges politisches Bild widerspiegelt.
Über 400 europäische Abgeordnete, Volksvertreter, ha-
ben sich für die Aufnahme von Verhandlungen mit der
Türkei ausgesprochen. Auch deutsche Liberale im Euro-
paparlament haben Ja zu Verhandlungen gesagt, denn
ein Ja zu Verhandlungen bedeutet kein Ja zu einem Bei-
tritt. Sie haben da deutlich unterschieden.
Aber natürlich fühlen sie sich dazu verpflichtet, das
einzuhalten, was in einem jahrzehntelangen Prozess der
Heranführung der Türkei an die Europäische Union ge-
sagt und auf den Weg gebracht worden ist. Auch vor
1998 sind die Weichen nicht in Richtung einer privile-
gierten Partnerschaft gestellt worden. Nirgendwo, in
keinem Vertrag ist diese Alternative als eine Perspektive
aufgezeigt worden. Es ist zwar auch nicht der Beitritt
versprochen worden, aber er ist als eine Perspektive auf-
gezeigt worden. Auch in dieser heutigen Debatte muss
die Kontinuität wichtiger außenpolitischer Entscheidun-
gen der EU gewahrt bleiben.
Man darf aber auch nicht die Augen vor dem ver-
schließen, was in den nächsten Jahren, wenn die Ver-
handlungen aufgenommen werden – davon gehen wir
aus, auch dank der Unterstützung vieler konservativer
Regierungschefs im Europäischen Rat –, auf uns zu-
kommt. Dann stehen wir vor der Aufgabe, offene und
transparente Verhandlungen zu führen und ehrlich zu
bewerten, welche Fortschritte erzielt worden sind, aber
zugleich auch deutlich zu machen, wo es noch Defizite
gibt. Dass gerade diejenigen, die in den letzten Jahren
häufig in der Türkei gewesen sind, die dort Prozesse be-
obachtet haben und miterleben mussten, wie Abgeord-
nete, weil sie die kurdische Sprache sprechen, zu Ge-
fängnisstrafen verurteilt wurden, hoffen, dass sich hier in
der Türkei etwas ändert, ist doch klar. Die Menschen-
rechtler erhoffen sich von der Entscheidung über die
Aufnahme von Verhandlungen eine Verstärkung des
Druckes und damit einen weiteren Schub bei der Unter-
stützung ihrer Anliegen. Dass deren Vorstellungen
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Auch beim Bild der Frau in der Gesellschaft muss es
u Veränderungen kommen. Auch Frauen in der Tür-
ei müssen an allen gesellschaftlichen Entwicklungen
eilhaben können. Angesichts der Größe und der starken
egionalen Unterschiede in der Türkei reicht es nicht,
ass so etwas irgendwo auf einem Papier steht. Vielmehr
uss alles getan werden, dass die wirtschaftliche und
esellschaftliche Realität so aussieht, dass Frauen an der
irtschaftlichen Entwicklung teilhaben und ihre Rechte
n einem nicht mehr autoritär geführten System auch tat-
ächlich wahrnehmen können. Das durchzusetzen wird
in entscheidender Punkt bei den Verhandlungen in den
ächsten Jahren sein. Wir alle gehen davon aus, dass sie
uf mehr als zehn Jahre angelegt sein werden. Wenn erst
m Jahre 2014 über die Finanzen verhandelt werden soll,
st klar, dass in dem gleichen Jahr die Verhandlungen
icht auch schon abgeschlossen sein können. Vielmehr
ird man davon ausgehen müssen, dass dieser Prozess
ehr viel länger dauert.
Das Monitoring darf jedoch nicht zu einem bloßen
eobachtungsritual verkommen, indem alle Jahre ein
ericht vorgelegt wird, der von jedem anders interpre-
iert wird, weil er vielleicht Gespräche geführt hat oder
on Menschenrechtlern, die in den Ausschüssen des
eutschen Bundestages angehört wurden, ein Bild ver-
ittelt bekommen hat, sondern es müssen greifbare Er-
ebnisse erzielt werden. Es müssen andere Instanzen ge-
chaffen werden, die Fortschritte einfordern und einmal
rzielte überwachen. Damit soll das erreicht werden, was
ir, die wir dieser Entwicklung positiv gegenüberstehen,
rwarten, nämlich dass sich die Türkei so verändert, dass
ie nach einem über längere Zeit laufenden Prozess bei-
ittsfähig sein wird.
Wenn das nicht der Fall sein wird, meine Damen und
erren, dann ist für uns auch klar, dass es nicht aufgrund
er Tatsache, dass einmal die politische Entscheidung
ber die Aufnahme von Verhandlungen getroffen wurde,
inen Automatismus nach dem Motto geben darf: Der
olitische Druck ist so groß, wir können nicht mehr an-
ers entscheiden. Ich bin deshalb der Meinung, wir soll-
en genau hinschauen, wie die Realität in den Staaten,
it denen wir schon verhandeln und die demnächst Bei-
rittsverträge unterzeichnen wollen, aussieht und welche
ortschritte dort bei der Umsetzung notwendiger Refor-
en erzielt wurden. Wir sollten uns nicht in die Lage
ringen, dass uns vorgehalten werden kann, dass wir bei
llen anderen Beitrittskandidaten die Augen vor vorhan-
enen Defiziten verschlossen hätten, bei der Türkei aber
ie Augen ganz weit aufmachen würden. Die Türkei soll
o behandelt werden wie die anderen Staaten auch und
13798 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
die anderen Staaten sollen an den Maßstäben gemessen
werden, die wir an die Türkei anlegen.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegin Claudia Roth, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Michel
Glos! – Die heutige Debatte markiert einen wichtigen
Schritt in der Einigungsgeschichte Europas, denn die
Türkei ist Teil Europas. Es ist wichtig, das am heutigen
Tage immer wieder zu sagen. Das Ziel der Vollmitglied-
schaft wurde bereits 1963 mit dem Ankaraabkommen
besiegelt. Seit 41 Jahren haben alle Bundesregierungen,
auch die unionsgeführten, dieses Ziel unterstützt – zu-
mindest offiziell, wie es heute erscheinen muss.
Der Europäische Rat von Luxemburg 1997 hat – das
hat Franz Müntefering deutlich gemacht – das Recht der
Türkei auf einen EU-Beitritt nicht infrage gestellt. 1999
wurde die Türkei offiziell zum Beitrittskandidaten er-
klärt. Im Oktober dieses Jahres hat die Kommission auf
der Basis der Kopenhagener Kriterien, die sie für hin-
länglich erfüllt ansieht, die Beitrittsverhandlungen emp-
fohlen. Gestern hat – das ist ein wichtiges Signal an den
Europäischen Rat – das Europäische Parlament mit gro-
ßer Mehrheit gegen die privilegierte Partnerschaft und
für die unverzügliche Aufnahme der Verhandlungen ge-
stimmt. Das ist ein Signal, das der Rat sicher ernst neh-
men wird.
Wenn der Rat nun hoffentlich die Aufnahme der Ver-
handlungen beschließen wird, dann tritt das, was schon
seit über 40 Jahren auf dem Weg ist, in ein neues Sta-
dium ein. Dieser Schritt ergibt sich doch nicht nur aus
der Logik der Beziehungen der Europäischen Union zur
Türkei, sondern er steht auch in einer ganz besonderen
Tradition der bundesdeutschen Politik: der Tradition
der Integration. Willy Brandts Ostpolitik war doch ge-
prägt von Dialog und Integration und eben nicht von Zu-
rückweisung. Es war genau diese Dialogbereitschaft,
diese Integrationsbereitschaft, die die Veränderungen in
Europa seit 1989 vorbereitet hat.
Integration und nicht Zurückweisung war doch wirk-
sam bei der Süderweiterung der Europäischen Gemein-
schaft. Spanien, Portugal und Griechenland hatten ganz
schlimme Diktaturen hinter sich, als sie sich damals auf
den Weg in die Europäische Gemeinschaft gemacht ha-
ben. Es war doch genau der Prozess der europäischen In-
tegration, der den Demokratisierungsprozess in diesen
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Ähnlich ist es bei der Osterweiterung. Es gibt noch
robleme; aber die Erfolge sind unübersehbar. Die alten
nd die neuen Mitgliedstaaten profitieren davon, allen
oran Deutschland.
Genau das erwarte ich auch mit Blick auf die Türkei.
nser Ja zu der Aufnahme von Verhandlungen ist sehr
ohl abgewogen; es ist keinesfalls eine Augenblicksein-
ebung. Klares Ziel ist, dass auf Erfolg verhandelt wird.
ber der Verhandlungsbeginn setzt eben keinen Beitritts-
utomatismus in Gang. Am Ende des Prozesses – das
ird ein langer und schwieriger Prozess sein, ein Pro-
ess, der der Türkei viel an Wandel abverlangen wird –
st die Entscheidung zu treffen. Ergebnisoffen heißt doch
ben nicht, werte Kollegen von der Union, auf der privi-
egierten Partnerschaft und nur auf der privilegierten
artnerschaft zu bestehen, denn sie ist kein Angebot und
as wissen Sie auch; sie ist in Teilen sogar weniger als
er Status quo. Wenn Sie also von „ergebnisoffen“ spre-
hen, werte Kollegen, dann meinen Sie die rote Karte
nd das ist ganz genau das Gegenteil von seriösem Ver-
andeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch
inmal versuchen, zu begründen, warum wir so vehe-
ent für den Beginn von Verhandlungen mit der Türkei
ind. Wir sind dafür, weil wir ein vitales Interesse an ei-
er demokratischen Türkei, an der Einhaltung von Men-
chenrechten, Minderheitenrechten und Rechtsstaatlich-
eit haben. Mit der Frage, was wir dazu beitragen
önnen, dass es zu einem Demokratisierungsprozess und
ur stärkeren Beachtung der Menschen- und Minderhei-
enrechte in der Türkei kommt, beschäftige ich mich seit
8 Jahren. Die glaubwürdige Beitrittsperspektive seit
999 hat diesen Reformprozess unterstützt und dafür ge-
orgt, dass es große Veränderungen in der Türkei gege-
en hat. Diese Veränderungen sind der Beweis dafür,
ie wichtig diese Perspektive ist.
Frau Merkel, ich weiß, dass nicht die Papierform von
esetzen zählt, sondern dass es auf die Implementierung
nkommt. Ich weiß sehr genau, dass Defizite noch über-
unden werden müssen. Ich weiß, dass es ein Folter-
erbot gibt. Aber ich weiß auch, dass dieses Folterver-
ot bis in die letzte Polizeistation in der Türkei
mgesetzt werden muss.
Ich weiß, dass es ein Gesetz von Verfassungsrang zur
leichstellung von Mann und Frau gibt. Aber es muss
etzt noch in die Praxis umgesetzt werden, Gerd Müller.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13799
)
)
Claudia Roth
Es darf keine Ehrenmorde und keine Zwangsverheira-
tungen mehr geben.
Ich weiß, dass sich die Situation der religiösen Minder-
heiten massiv verändert hat. Gleichwohl muss man sa-
gen, dass es Defizite bei der Priesterausbildung und
beim Rechtsstatus dieser Minderheiten gibt.
Ich weiß, dass der Ausnahmezustand in den kurdi-
schen Gebieten aufgehoben worden ist und dass damit
begonnen wurde, die kulturelle Realität anzuerkennen.
Das reicht aber noch nicht, dass die Kurden tatsächlich
akzeptiert werden.
Weil ich all das weiß, unterstütze ich diesen Integrations-
prozess, der den Demokratisierungsprozess begleitet und
absichert.
Wenn Sie sich dafür interessieren würden, Gerd
Müller, dann wüssten Sie, dass alle – wirklich alle –
Menschenrechtsorganisationen in der Türkei, entspre-
chende Stiftungen und Vereine, alle Vertreter der religiö-
sen Gruppen, Vertreter der Kurden und der Armenier
und nicht zuletzt die Mitglieder des Menschenrechtsaus-
schusses der türkischen Nationalversammlung, die eine
enge Kooperation mit unserem Parlament wollen, der
Meinung sind: Bei der Demokratisierung in der Türkei
kommt es jetzt darauf an, die Dynamik der Verände-
rungen nicht zu unterbrechen und in den Anstrengungen
nicht nachzulassen. Der Beginn der Verhandlungen und
das begleitende Monitoring fördern den Demokratisie-
rungsprozess, den wir alle wollen.
All diejenigen, die wirklich für die Menschenrechte
eintreten und die sie nicht nur dann einfordern, wenn es
ihnen politisch in den Kram passt, müssen für die EU-In-
tegration der Türkei sein. Das ist der Unterschied zwi-
schen Ihnen und uns.
Ich möchte noch einmal auf das Argument hinsicht-
lich der Sicherheit zurückkommen. Seit jenem 11. Sep-
tember haben Tausende von Menschen ihr Leben verlo-
ren. Die Liste der von Terroranschlägen betroffenen
Städte wird traurigerweise immer länger: New York,
Bagdad, Riad und Madrid. Aber Uta Zapf hat Recht: Auf
dieser Liste steht auch Istanbul. Auch in Istanbul haben
Menschen ihr Leben verloren; auch die Türkei ist im Fa-
denkreuz des internationalen Terrorismus.
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Herr Müller, ich gebe Ihnen Recht: Dieses Europa
uss von unten entstehen. Es muss von den Menschen
ewollt werden.
Hören Sie mir doch einmal zu!
abei geht es um die Begegnung der Zivilgesellschaf-
en, um kulturellen Austausch sowie um ein gestärktes
nd vertieftes Verständnis füreinander. Dafür braucht es
ber die Bereitschaft zur Annäherung und zum Dialog.
ine Ausgrenzung, das Schüren von Ängsten und das
ufstellen von Bedrohungsszenarien, wie Sie es heute
orgen exemplarisch vorgeführt haben, darf es nicht ge-
en.
Bitte erinnern Sie sich, liebe christdemokratische
ollegen: Sie haben dereinst die Entspannungspolitik
bgelehnt und sind damit für lange Jahre in das politi-
che Abseits manövriert worden. Sie beginnen, mit der
ürkei genau die gleichen Fehler zu machen. Wieder set-
en Sie auf Ab- und Ausgrenzung. Wieder erkennen Sie
icht die Zeichen des Wandels und wieder einmal setzen
ie auf innenpolitische Stimmungsmache.
err Müller, das haben Sie auch heute Morgen wieder
etan.
Sie wollen die Türkeifrage 2006 zum Wahlkampf-
hema machen. Daran kann Sie niemand hindern. Aber
hr Antrag, den Sie in der nächsten Sitzungswoche ein-
ringen werden und in dem Sie einen Zusammenhang
wischen Beitrittsverhandlungen und islamistischem
error und Bandenkriminalität herstellen, Ihr Brief, den
ie einen Tag vor dem CDU-Parteitag an Bundeskanzler
chröder geschrieben haben – das war doch kein ernst
emeinter Brief an den Bundeskanzler; das war der Auf-
kt zu einer antitürkisch aufgeladenen Patriotismus-
ebatte –,
13800 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Claudia Roth
und das Spekulieren über Unterschriftenlisten, das ist
doch – ich bitte Sie von Herzen – keine differenzierte
Auseinandersetzung, sondern Wahlkampf. Den betrei-
ben Sie auf dem Rücken von Migranten. Das ist genau
das Gegenteil von Integration.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
mit der Ankündigung von Herrn Stoiber – die wird er
nicht einlösen, weil Sie 2006 nicht in der Regierung sein
werden – zerschlagen Sie außenpolitische Glaubwür-
digkeit, indem Sie sagen: Wir werden mit allen Mitteln
versuchen, das, was der Europäische Rat morgen – hof-
fentlich – beschließen wird, wieder einzukassieren.
Damit zerschlagen Sie außenpolitisches Porzellan. Sie
zerschlagen die Glaubwürdigkeit der deutschen Außen-
politik. Gut, dass Sie nicht in die Regierung kommen
werden!
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
men.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ja. – Sie haben sich von einer gestalterischen und ver-
antwortlichen Europa- und Außenpolitik abgemeldet.
Ich muss Ihnen sagen: Ich finde es wirklich schlimm,
dass Sie in dieser Frage eine Politik nach dem Motto
„Der Zweck heiligt die Mittel“ betreiben, um an die
Macht zu kommen.
Ich bin davon überzeugt, dass gerade in der Politik der
Zweck die Mittel nicht heiligt.
Das ist ein böses Beispiel für die politische Unkultur in
diesem Land.
Wir sagen heute Ja zur Türkei in Europa, Ja zu einer
demokratischen Türkei.
Wir werden diesen Verhandlungsprozess sehr ernsthaft
– im Sinne der Menschenrechte –
begleiten.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. Sie
haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten.
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Ja, Herr Präsident. – Aber lassen Sie mich noch eines
agen:
enn es um Menschenrechte geht, muss ich mir von Ih-
er Fraktion wirklich nichts vorhalten lassen.
Ich erteile das Wort Kollegen Friedbert Pflüger, CDU/
SU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
erren! Kollegin Roth, die Einzige, die in der bisher im
anzen eigentlich sachlichen Debatte auflädt, emotiona-
isiert und innenpolitisch instrumentalisiert, sind Sie und
icht die Opposition.
Es muss möglich sein, mit einem Land gute Bezie-
ungen zu unterhalten, den Dialog mit ihm zu pflegen
nd Freund dieses Landes zu sein, ohne dass dieses Land
leichzeitig ein Angebot zur Vollmitgliedschaft in der
uropäischen Union erhält.
Herr Erdogan hat in einem Interview in der „Bild am
onntag“ gesagt, dass, wer gegen die Vollmitgliedschaft
ei, dies aus antitürkischen Motiven tue, aus Motiven,
ie damit zu tun hätten, dass man Europa als Christen-
lub verstehe. Ich glaube nicht, dass er damit seinem
and und sich selbst einen großen Gefallen getan hat.
enn es ist ein Fehler, das Bekenntnis zur EU-Mitglied-
chaft der Türkei zum entscheidenden Maßstab für die
ürkenfreundlichkeit eines Menschen oder eines Landes
u machen.
Helmut Kohl hat das gestern in einem, wie ich finde,
anz ausgezeichneten Interview in der „Frankfurter All-
emeinen Zeitung“ auch für sich bekundet. Er hat davon
erichtet, wie er in der Vergangenheit mehrfach gegen-
ber der Türkei – übrigens auch in Washington – hilf-
eich gewesen ist. Er sagt, er finde es schon seltsam, dass
r wegen seiner ablehnenden Meinung zum EU-Beitritt
lötzlich in das Lager der Türkenfeinde gestellt werde.
ch glaube, da können wir den früheren Bundeskanzler
ut verstehen.
uch wir finden es seltsam, dass wir plötzlich ein Chris-
enklub und antitürkisch sein sollen, nur weil wir sagen:
ie Vollmitgliedschaft ist nicht das richtige Instrument
ür diese Freundschaft.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13801
)
)
Dr. Friedbert Pflüger
Giscard d’Estaing,
ehemaliger französischer Staatspräsident und ehemaliger
Präsident des europäischen Verfassungskonvents, hat
diesen Gedanken auf den Punkt gebracht. In der „Frank-
furter Allgemeinen Zeitung“ hat er gesagt: „Wenn die
einzig denkbare Lösung entweder der Beitritt der Türkei
zur Union oder das Zerwürfnis mit seinen Partnern sein
sollte, wäre die EU dazu verdammt, zu einer regionalen
Sektion der Vereinten Nationen abzugleiten, zu einem
Ort der Begegnung, des Dialogs …“
Dieses Argument sollten Sie ernst nehmen. Wer will be-
streiten, dass der Dialog, eine Anbindung der Türkei an
Europa und ein gutes Verhältnis zu den hier lebenden
Türken notwendig sind; aber deshalb muss ich nicht für
die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen
Union sein.
Ein zweiter Gedanke. Im Vertrag zur Europäischen
Union heißt es:
Jeder europäische Staat kann beantragen, Mitglied
der Union zu werden.
Ist die Türkei ein europäischer Staat?
Darüber wird eine intensive Debatte geführt. Ein ent-
scheidendes Kriterium dafür ist die geographische Lage.
Es kann nun einmal nicht bestritten werden, dass die
Türkei zu weniger als 5 Prozent in Europa liegt und we-
niger als 10 Prozent der Bevölkerung im europäischen
Teil der Türkei leben. Die Türkei reicht 1 500 Kilometer
nach Asien hinein – das ist die anatolische Hochebene.
1 500 Kilometer beträgt in etwa die Entfernung von
Warschau nach London.
Wenn man die Europäische Union als mehr als eine
Freihandelsunion, nämlich als politische Union versteht,
muss die Frage legitim sein, ob wir sie beliebig auf an-
dere Kontinente ausdehnen sollten.
Ich glaube, dass Ernst Wolfgang Bockenförde mit sei-
ner Bemerkung Recht hat: Mit dem Beitritt der Türkei in
die EU würde geographisch aus der Europäischen Union
eine europäisch-kleinasiatische Union werden. Das ist
ein wesentlicher Punkt, den man in aller Ruhe diskutie-
ren kann, ohne sich gleich so aufzuregen wie die Kolle-
gin Roth.
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Herr Pflüger, Sie haben Europa geographisch defi-
iert. Ich möchte Sie fragen, wie Sie die Aussage im An-
araabkommen einschätzen. Sie wissen, dass Walter
allstein, ein CDU-Mann, 1963 Kommissionspräsident
ar. In dem Ankaraabkommen wird eindeutig definiert,
ass die Türkei Teil Europas ist. Das ist die wichtige
ussage dieses Abkommens. Es wird deutlich gemacht,
ass sich Europa über Werte definiert und weder kultu-
ell noch geographisch ausgrenzend wirkt. So in etwa
ich habe nicht wortwörtlich zitiert – lautet die im An-
araabkommen unterschriebene Formulierung.
Frau Kollegin Roth, ich habe gesagt, dass die Geogra-
hie ein Kriterium ist, wenn auch ein wesentliches. Ich
abe nicht bestritten, dass man Europa auch anders defi-
ieren kann.
Sie haben das Assoziationsabkommen von 1963 an-
esprochen. In diesem Assoziationsabkommen heißt es:
iel des Assoziationsabkommens ist eine beständige und
usgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschafts-
eziehungen. Damals gab es eine EWG und noch keine
olitische Union. Es ging um das Versprechen, Teil der
WG zu werden, und um nichts anderes.
Zurück zu dem Brückenargument. Der Kollege
üntefering hat vom Widerlager gesprochen. Er wird
icht bestreiten, dass eine Brückenfunktion die Selbst-
tändigkeit beider Teile, die die Brücke verbindet, vo-
aussetzt. Wenn der Westen bzw. die EU die Türkei
urch eine Vollmitgliedschaft völlig vereinnahmt, dann
st sie nicht mehr Brücke, sondern Teil des Westens bzw.
er Europäischen Union.
13802 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Dr. Friedbert Pflüger
Die geistige und politische Vermittlung zwischen Europa
und dem Orient, von der wir wollen, dass die Türkei sie
übernimmt,
kann sie nur dann leisten, wenn sie souverän und selbst-
ständig bleibt, nicht aber, wenn sie vereinnahmt wird.
Viertens. Immer wieder hören wir das Argument, es
sei ungeheuer wichtig, die Türkei aufzunehmen, weil sie
sonst in den Islamismus abdrifte. Günter Verheugen,
der die Verhandlungen für die EU-Kommission geführt
hat, hat gesagt, es sei denkbar, dass die Türkei in einen
antieuropäischen, fundamentalistischen Islam abrut-
sche. Deshalb müsse man jetzt mit den Verhandlungen
über einen Beitritt zur EU beginnen.
Meine Damen und Herren, merken Sie gar nicht, was
in dieser Argumentation steckt? Wenn wirklich eine
reale Gefahr darin besteht, dass die Türkei ins funda-
mentalistische Lager abdriftet, dann soll die EU ihr also
helfen? Müsste es nicht umgekehrt sein? Müsste sich
nicht die Türkei zuerst ihrer selbst und ihres Weges si-
cher sein, die notwendigen Reformen durchgeführt und
dem Islamismus eine endgültige Absage erteilt haben,
bevor wir mit ihr verhandeln? Es kann doch nicht Auf-
gabe der EU sein, die Demokratie in der Türkei zu festi-
gen. Dieses Argument ist aberwitzig.
Wenn es wirklich so wäre, dass die Türkei für ihre
Modernisierung, Verwestlichung und Europäisierung so-
wie für die Einhaltung der Werte die EU bräuchte, dann
wäre der innere Reformprozess der Türkei relativ ober-
flächlich.
Ich habe, wenn Sie so wollen, mehr Vertrauen in die Tür-
kei. Ich glaube, die Türkei schafft das, und zwar auch im
Rahmen einer privilegierten Partnerschaft und ohne
Vollmitgliedschaft.
Ich möchte ein fünftes Argument, das in dieser De-
batte angeführt wird und das sehr wichtig ist, aufgreifen.
Ich meine die Frage, ob sich ein Christenclub und der Is-
lam vertragen. Meine Fraktion und ich würden nie sa-
gen, dass Islam und EU nicht zusammenpassen; denn es
gibt zum Beispiel das Assoziationsabkommen mit Bos-
nien-Herzegowina. Es ist gar keine Frage, dass das mög-
lich sein kann. Aber ich glaube, Europa hat auch mit
kultureller Identität, Geschichte und Traditionen, die
über Jahrhunderte gewachsen sind, zu tun.
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Meine Damen und Herren, schließlich wird – sechs-
ens – argumentiert, dass die Türkei seit über 40 Jahren
in Versprechen habe, vier Jahrzehnte lang gewartet
abe und die EU jetzt endlich zu ihrem Versprechen ste-
en müsse. Ich finde dieses Argument ziemlich absurd,
enn ich mir die türkische Geschichte in den vier Jahr-
ehnten seit Anfang der 60er-Jahre ansehe. In der Türkei
at es seit Anfang der 60er-Jahre drei Militärputsche
egeben.
och in den 90er-Jahren musste durch die Einwirkung
nd den Druck des Militärs die islamistische Heilspartei
on Herrn Erbakan verboten werden. Daran zeigt sich:
s war doch nicht die EU, die der Türkei lange Zeit ein
ersprechen nicht erfüllt hat. Vielmehr war es so, dass
ie Türkei über 40 Jahre hinweg nicht einmal ansatz-
eise die Kriterien erfüllt hat, deren Einhaltung für ei-
en Beitritt oder auch nur für die Aufnahme von Ver-
andlungen notwendig gewesen wäre.
etzt haben wir gerade zwei Jahre Erdogan – mit beacht-
ichen Reformen,
ie wir überhaupt nicht infrage stellen, zu denen wir er-
utigen und bei denen wir unterstützen wollen. Aber der
ollege Müller hat Recht: Ein großer Teil davon steht
ur auf dem Papier. Und wissen wir denn wirklich so ge-
au, in welche Richtung sich die Türkei und die AKP
ntwickeln?
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13803
)
)
Dr. Friedbert Pflüger
Ich bin erst im Juni dieses Jahres in der Türkei gewesen
und habe viele gehört, die gesagt haben: „Wir wollen ge-
rade deshalb in die EU, um dann eine islamische Demo-
kratie zu bekommen, um dann die Grenzen, die das Mili-
tär im kemalistischen Staat zieht, aufzuweichen.“ Es
könnte also sogar der Fall eintreten, dass die Türkei im
Zuge der Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft ge-
nau das verliert, was wir an ihr schätzen: die klare Tren-
nung zwischen Religion und Staat.
– Ich bitte Sie, solche Bedenken ernst zu nehmen; sie
werden in Europa breit diskutiert.
Warum gehen Sie eigentlich nicht auf die Vorlage ein,
die Ihnen der Konvent für eine europäische Verfassung
ermöglicht hat?
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme gern zum Schluss, Herr Präsident, ich darf
nur diesen Gedanken zum Ende bringen. – Der Verfas-
sungskonvent hat in Art. I 57 ganz klar festgelegt, dass
es die Möglichkeit einer privilegierten Partnerschaft
mit der EU gibt.
Warum halten Sie sich das nicht zumindest als eine
Möglichkeit offen? Dann müssen wir die Türkei in zehn
oder 15 Jahren nicht vor die Alternative stellen: entwe-
der totaler Abbruch – Sie sagen ja: „Es soll ergebnis-
offen verhandelt werden“ – oder aber Vollmitgliedschaft.
Warum bauen wir nicht Möglichkeiten ein, wie wir die
Türkei in europäischen Strukturen auffangen können,
auch wenn dieser angeblich ergebnisoffene Prozess
scheitern sollte?
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kom-
men; Sie haben Ihre Redezeit schon weit überschritten.
Damit würden wir uns, der EU und der Türkei einen
großen Gefallen tun.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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13804 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
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Kollege Pflüger, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.
Frau Kollegin Nickels, ich weiß wirklich nicht, wa-
rum Sie sich so aufregen.
Ich habe sehr ruhig und sehr sachlich argumentiert; von
Beleidigung der Türkei kann keine Rede sein. Ich habe
eben ganz deutlich gemacht, dass ich den großen Re-
formprozess der letzten zwei Jahre anerkenne. Aller-
dings habe ich auch gesagt, dass vieles nur auf dem Pa-
pier steht,
was vor Aufnahme von Verhandlungen eigentlich in die
Praxis umgesetzt sein sollte.
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele: Ihr Parteivorsit-
zender, Herr Bütikofer, ist Anfang November in der Tür-
kei gewesen und hat nach seiner Rückkehr gesagt, die
Folter sei in der Türkei noch verbreitet.
Darüber muss man einmal nachdenken: Die Menschen-
rechtsbeauftragte der Bundesregierung hat immer er-
klärt, bevor man über Beitrittsverhandlungen diskutieren
könne, müsse erst die Folter ein Ende haben, und nun
sagt Herr Bütikofer, es werde nach wie vor gefoltert.
Frau Lochbieler, die Vorsitzende von Amnesty Inter-
national, sagt, es gebe in der Türkei zwar eine Reihe be-
grüßenswerter Reformen, doch lasse die Umsetzung
mehr als zu wünschen übrig. Prälat Rainer Korten, der in
Antalya arbeitet, hat mehreren Kollegen von uns einen
Brief geschrieben, in dem es heißt, Religionsfreiheit
– davon haben Sie eben geredet – gebe es in der Türkei
nicht einmal in Ansätzen.
Frau Kollegin, über all diese Fragen müssen wir reden
können. Wir müssen auch auf Defizite hinweisen kön-
nen, ohne dass es eine Beleidigung der Türkei ist. Wir
sind Freunde der Türkei.
Ich erteile Kollegin Lale Akgün, SPD-Fraktion, das
Wort.
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Ich betone dies, weil Sie, Kolleginnen und Kollegen
er Union, in den letzten Wochen und Monaten jedes
och so hanebüchene Argument gegen den Beginn der
erhandlungen der EU mit der Türkei, gegen die Posi-
ion der SPD in dieser Frage und gegen die 2,6 Millionen
enschen türkischer Herkunft in Deutschland eingesetzt
aben. Sie machen Stimmung im Lande, indem Sie
espenster an die Wand malen: Gespenster von politi-
cher Legalisierung, Islamismus, Destabilisierung, stei-
ender Kriminalität und Terrorismus.
Diese Argumentation ist nicht nur falsch, sie ist schä-
ig.
ie ist schäbig, weil sie die Wahrheit verdreht. Sie ist
chäbig, weil sie zum Ziel hat, Wahlkampf auf dem Rü-
ken von Zugewanderten zu machen. Schließlich ist sie
chäbig, weil sie die Leistungen und die Integrations-
raft des europäischen Einigungsprozesses in ungeheu-
rlicher und unpatriotischer Weise diffamiert.
ie tragen mit Ihren ausgrenzenden Argumenten die po-
itische und die moralische Verantwortung dafür, dass
iese Gesellschaft immer weiter gespalten wird. Für ein
aar Stimmen am rechten Rand nehmen Sie die Explo-
ion von Millionen von Menschen in Kauf.
Über den Beitritt selbst debattieren wir heute nicht.
as werden wir in zehn bis 15 Jahren tun, wenn der
undestag den Beitritt ratifizieren wird. Heute geht es
m die Frage, ob ein Land wie die Türkei, überwiegend
on Muslimen bewohnt, Teil der europäischen Familie
erden kann, wenn es die Werte und Ziele Europas teilt.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13805
)
)
Dr. Lale Akgün
Die sozialdemokratische Antwort auf die Frage danach
ist ein klares Ja. Europa ist für uns in erster Linie eine
große Bewegung für die Stärkung des Friedens, der De-
mokratie und der Menschenrechte.
Heute vernehmen wir aus der Türkei Dinge, die selbst
1999, in dem Jahr, in dem die EU der Türkei den Kandi-
datenstatus verliehen hat, noch schier unmöglich er-
schienen. Wie heute bereits erwähnt, demonstrieren im
Südosten der Türkei Zehntausende Kurden im Einklang
mit den Zielen der türkischen Regierung für einen Bei-
tritt zur EU. Armenische und christliche Repräsentanten
werben gemeinsam mit der Regierung der Türkei für den
Beitritt. Dinge, die vor wenigen Jahren noch unter Strafe
standen, sind heute als Bürgerrechte im Gesetz verankert
und werden mehr und mehr auch implementiert.
An all dem zeigt sich: Europa schafft Stabilität; es
ist die Grundlage für Frieden und Freiheit. Das ist eine
Erkenntnis, die Ihre Partei zu anderen Zeiten nicht nur
geteilt, sondern unter Konrad Adenauer entscheidend
mitgeprägt hat. Das war einmal, leider. Heute schürt die
CDU/CSU Ressentiments. Unter Angela Merkel und
Edmund Stoiber ist es europäische Friedenspolitik ge-
nug, wenn sie ihren internen Streit über wirtschafts- und
sozialpolitische Fragen mit Debatten zum Thema Türkei
überdecken können. Das ist eine miese und durchsich-
tige Strategie.
Unsere Europapolitik hat einen anderen Anspruch.
Wir möchten Politik für das Europa von morgen ma-
chen. Wie ich erwähnt habe, ist der Türkei bereits 1999
der Kandidatenstatus verliehen worden. Seitdem hat sich
in der Türkei sehr viel zum Positiven verändert. Seitdem
hat sich aber auch Europa verändert. Es gab weit rei-
chende strukturelle Reformen, eine Stärkung des Euro-
päischen Parlaments und im Mai dieses Jahres den Bei-
tritt von zehn neuen Mitgliedern. Wir sind auf dem
besten Weg, Europa eine Verfassung zu geben, die die
Werte und Grundlagen des europäischen Integrations-
prozesses klar beschreibt. Wir alle wissen: Ohne Refor-
men der EU und ihrer Institutionen funktioniert die Er-
weiterung der Union nicht. Aber wir wissen auch: Ohne
die Erweiterung, ohne die Impulse der neuen Mitglied-
staaten wären die Reformen nicht auf den Weg gebracht
worden. Das ist ein interaktiver Prozess, der für einen
künftigen Beitritt der Türkei ebenfalls gilt.
Ich stelle fest: Die EU wurde im Laufe der Zeit und
im Prozess der Erweiterung immer politischer. Erweite-
rung und Vertiefung sind also doch kein Widerspruch,
wie von Ihnen immer gern behauptet wird.
Das Argument, die EU werde sich mit der Aufnahme
der Türkei wirtschaftlich und finanziell übernehmen und
die Türkei werde den Strukturfonds und die Landwirt-
schaftspolitik der EU sprengen, ist nicht stichhaltig.
Wenn sich die Türkei noch zehn Jahre in gleichem Maße
weiterentwickelt und anschließend Mitglied der EU
wird, dann wird es eine dynamische Türkei sein, die die
EU wirtschaftlich und politisch voranbringen wird.
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Wenn unser Bundeskanzler morgen für die Aufnahme
on Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stimmt, dann
st das ein Stück ursozialdemokratischer Politik. Das ist
ut für die Türkei, gut für uns in Deutschland und gut für
uropa. Auch das ist kein Widerspruch, sondern passt
ervorragend zusammen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
DS ist dafür, dass mit der Türkei Verhandlungen über
en Beitritt zur Europäischen Union aufgenommen
13806 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Petra Pau
werden. Die PDS hat gestern im Europaparlament zuge-
stimmt und wir werden das auch hier im Bundestag tun.
Im Gegensatz zur CDU/CSU stehen wir nicht im Wort
eines Kanzlers Adenauer oder Kanzlers Kohl. Wir stim-
men zu, weil es politisch vernünftig ist und weil die EU
kein christlich-abendländischer Klub ist.
Nun kann man einen EU-Beitritt selbstverständlich
befördern oder auch ablehnen. Das muss jede Partei mit
sich selbst ausmachen. Mit Sorge verfolge ich allerdings,
dass bei diesem Thema in den letzten Tagen verbal auf-
gerüstet und das gesellschaftliche Klima damit vergiftet
wurde. Das ist aus meiner Sicht verantwortungslos und
weckt die falschen Geister.
Natürlich fühlen sich viele Türkinnen und Türken di-
rekt angegriffen, wenn der CSU-Vorsitzende Edmund
Stoiber droht, er werde alles – wohlgemerkt: alles – da-
für tun, dass die Türkei nie EU-Mitglied werde.
Die türkische Gemeinde in Berlin beispielsweise hat ent-
sprechend harsch reagiert und erklärt – ich zitiere –:
„Wir nehmen die Kriegserklärung an.“ Ich finde das
falsch; denn das spielt Herrn Stoiber und den anderen,
die hier verbal aufrüsten, in die Hände, und das auf deren
Niveau. Das sollten auch die türkischen Gemeinden in
der Bundesrepublik bedenken und vermeiden.
Das Ja der PDS zu den Beitrittsverhandlungen ist
nicht bedingungslos und auch nicht unumkehrbar. Der
Türkei werden Fortschritte bescheinigt, wenn es um
Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte geht – zu Recht. Es
bestehen aber weiterhin erhebliche Differenzen zwi-
schen Wort und Tat, zwischen Gesetz und Praxis. Insbe-
sondere der Alltag der 20 Millionen Kurdinnen und
Kurden in der Türkei wird noch immer von Diskrimi-
nierung, Unterdrückung und sogar Terror geprägt. Daher
wundere ich mich schon, dass die SPD und vor allem die
Grünen dies nicht hörbarer kritisieren und auf Änderung
drängen.
Im EU-Parlament haben Ihre Kolleginnen und Kollegen
gestern jedenfalls jeden Antrag, in dem es um die Rechte
der Kurdinnen und Kurden ging, abgelehnt und nicht in
die entsprechende Resolution aufgenommen.
Eine offene europäische Wunde ist nach wie vor auch
die Zypernfrage. Es wäre widersinnig, den Fall der deut-
schen Mauer zu bejubeln und die Mauern durch Zypern
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Als letzter Redner hat das Wort der Kollege Gert
eisskirchen von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bis
uf einige Entgleisungen fand ich die Debatte sehr auf-
chlussreich. Mich verwundert sehr, Dr. Pflüger, dass Sie
m Grunde genommen das bestätigen, was Sie ansonsten
ritisieren, nämlich dass die Gefahr einer solchen De-
atte darin besteht – in Ihrem Beitrag konnte man das
ehr plastisch erkennen –, dass man sich auf der einen
eite gegen eine Kulturalisierung der Politik wendet, auf
er anderen Seite aber genau diese Gefahr verstärkt,
enn man den Islam in einer solchen Weise in den Mit-
elpunkt der Auseinandersetzung stellt.
Wenn es richtig ist, dass die Europäische Union eben
ein religiöses Projekt ist, sondern eines, das der Auf-
lärung verpflichtet ist, dann kommt es doch darauf an,
ass wir die Kräfte innerhalb der Türkei stärken müssen
viele Türken leben bei uns in der Bundesrepublik
eutschland; Markus Löning kann als Berliner Abge-
rdneter sicherlich einiges dazu sagen –, die sich von der
slamisierung abwenden und versuchen, die Aufklärung
n ihre Religion hineinzubringen. Genau das zerstören
ie mit Ihrem Argument, es gehe darum, die gefährli-
hen Triebkräfte, die es innerhalb des Islam gebe, zu
onterkarieren.
Lieber Herr Pflüger, ich glaube, dass Sie in noch ei-
em Punkt missverstehen, was die Europäische Union
st. Die Europäische Union ist auch kein geographisches
rojekt. Die Europäische Union ist ein Projekt der euro-
äischen Werte. Es ist nicht ausgeschlossen und darf
uch nicht ausgeschlossen werden – das Beispiel Bos-
ien haben Sie selbst genannt –, dass sich der Islam so
ntwickelt, dass er innerhalb der europäischen Werte
ine komplementäre Aufgabe übernimmt. Im Gegenteil:
chauen Sie sich die Debatte in Frankreich an, die bei-
pielsweise von Sarkozy angestoßen wurde! Es lohnt
ich, darüber nachzudenken, was Säkularismus heute be-
euten kann. Es kommt darauf an, den Islam zu europäi-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13807
)
)
Gert Weisskirchen
sieren. Das ist die zentrale Aufgabe der Europäischen
Union.
Wenn Sie schon dazu aufrufen, mit den Argumenten
und Problemen, die damit verbunden sind, rational um-
zugehen, dann sage ich Ihnen: Die große Aufgabe, die
uns bevorsteht, ist, den Islam gemeinsam mit den Tür-
ken, die bei uns leben, gemeinsam mit den Kräften der
Aufklärung in der Türkei zu europäisieren. Dafür
braucht die Türkei eine Perspektive. Diese darf aber
nicht, wie es die Union fordert, lauten: Ihr werdet nie
Vollmitglied der Europäischen Union. Diese schwierige,
harte Debatte, die auch in der Türkei geführt wird, len-
ken Sie in eine Bahn der inneren Radikalisierung. Das
müssen Sie bitte zur Kenntnis nehmen.
Manchmal wird hier nicht genau beachtet, wie inner-
halb der Türkei selber debattiert wird. Schauen wir uns
einmal den inneren Charakter der Türkischen Republik
an, die einen langen historischen Vorlauf hat. Die Türki-
sche Republik – das ist besonders gut bei Kemal Atatürk
nachzulesen und zu erkennen – hat mit dem Osmani-
schen Imperium geradezu einen Bruch vollzogen. Das
ist im 20. Jahrhundert die entscheidende Wende ge-
wesen, vorangetrieben durch ebenjene Kräfte, die
Anschluss an die europäische Aufklärung suchten.
Das Konzept, das Kemal Atatürk in den 20er-Jahren
entwickelt hat, ist der Versuch, die Türkei zu europäisie-
ren und den Anschluss an Europa – das betrifft auch die
europäischen Werte – zu erreichen. Das ist ein schwieri-
ger Prozess. Dieser Kampf innerhalb der Türkei ist – da
haben Sie, die Sie das kritisieren, Recht – noch längst
nicht beendet. Aber auch da gilt: Wenn wir heute die Tür
für eine mögliche Vollmitgliedschaft der Türkei schlie-
ßen – und das wollen Sie –, dann heißt das, der Radikali-
sierungstendenz innerhalb der Türkei neue Nahrung zu
geben und die Türkei von Europa zu entfernen. Das wol-
len wir nicht. Deshalb ist das, was die EU morgen be-
schließen wird, im Interesse des aufklärerischen Islam
und im Interesse Europas. Das ist ein weiteres Argu-
ment, das, wenn wir schon miteinander offen und hart
debattieren, angeführt werden muss.
Schließlich: Lesen Sie einmal nach, was Frau Merkel
gesagt hat. Mir ist eines von ihrer Rede in Erinnerung
geblieben. Das war nichts Substanzielles. Sie hat gesagt:
Es geht nicht um die Türkei, sondern es geht um uns. Ja,
es geht um uns, es geht um Sie. Sie vollziehen einen
Bruch mit der Politik, an der Frau Merkel als Ministerin,
Herr Kollege Dr. Schäuble und die anderen Kolleginnen
und Kollegen der Union beteiligt waren. Sie vollziehen
einen Bruch mit der Politik, die eine lange Tradition in
Deutschland hat. Diese Politik bestand darin, verlässlich
zu sein und der Türkei eine Perspektive zu geben. Sie
brechen mit dieser Politik der Verlässlichkeit. Damit ver-
abschiedet sich die Union aus dem europäischen Kon-
zert. Das kann doch wahrlich nicht in Ihrem Interesse
sein. Ich bitte Sie, bei diesem Punkt wenigstens einmal
nachzudenken, ob das Ihr letztes Wort sein kann.
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Herr Weisskirchen, erlauben Sie eine Zwischenfrage
es Kollegen Kossendey?
Ja.
Bitte schön, Herr Kossendey.
Herr Kollege Weisskirchen, Sie beschwören gerade
en Bruch, den die CDU/CSU vollzogen haben soll. Wie
rklären Sie sich dann die Äußerungen von Frau
chröder-Köpf in der Zeitung „Milliyet“ vom 19. April
998, wonach die Türken die SPD wählen sollten, weil
ie CDU/CSU nie zulassen würde, dass die Türkei Mit-
lied der Europäischen Union wird? Hat sich Frau
chröder-Köpf damals geirrt?
Ich wusste gar nicht, dass die Frau des Bundeskanz-
ers als Kronzeugin genannt werden kann. Natürlich
ann Frau Schröder-Köpf ihre Meinung genauso wie Sie
nd ich sagen.
Fragen Sie bitte die Aufgeschlossenen in der Türkei
nd hier in Deutschland, die genau wissen, welchen in-
eren Kampf sie zu bestehen haben, wenn es darum
eht, die Türkei zu einem Mitglied der Europäischen
nion zu machen. Diesen inneren Kampf so zu beglei-
en, dass in der Türkei selbst ein fester innerer Wille ent-
teht, zu Europa zu gehören, ist die Aufgabe, die vor uns
teht. Ich bitte Sie herzlich darum, sich an dieser Ausein-
ndersetzung so konstruktiv zu beteiligen, wie es Ihrer
igenen Tradition entspricht, nicht aber so zu handeln,
ie Sie es heute hier getan haben.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
en Ausschusses auf Drucksache 15/4522 zu dem Antrag
er Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Für ein glaub-
ürdiges Angebot der EU an die Türkei“. Der Ausschuss
mpfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3949 abzuleh-
en. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
enstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
ung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
DP-Fraktion und der beiden fraktionslosen Abgeordne-
en bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion ange-
ommen.
13808 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses auf Drucksache 15/4523 zu dem An-
trag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen mit dem Titel „Die Türkeipolitik der EU verläss-
lich fortsetzen und den Weg für Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei freimachen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 15/4031 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der beiden fraktionslosen Abgeordneten gegen die Stim-
men von CDU/CSU und der FDP-Fraktion angenom-
men.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
auf Drucksache 15/4524 zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Zu der Empfehlung der EU-Kom-
mission über Beitrittsverhandlungen der Europäischen
Union mit der Türkei“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 15/4064 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen?
– Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/
CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und
bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
auftragten
Jahresbericht 2003
– Drucksachen 15/2600, 15/4475 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Merten
Anita Schäfer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Das ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Wehrbeauftrage des Deutschen Bundestages, Dr. Willfried
Penner, das Wort. Herr Penner, bitte schön.
Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeord-
nete! Aus aktuellem Anlass bemerke ich: Was Miss-
handlungen in der Bundeswehr angeht, so haben meine
Amtsvorgänger und ich immer wieder darüber berichten
müssen, und zwar klar und unmissverständlich auch an-
hand von Fallbeispielen. Aber auch dies ist wahr: Über-
wiegend hat die Bundeswehr angemessen reagiert, ange-
fangen bei einfachen Disziplinarmaßnahmen bis hin zur
Entfernung aus dem Dienst und Einschaltung von Straf-
verfolgungsbehörden.
Gewiss wirkt dies nicht zu 100 Prozent generalprä-
ventiv; sonst kämen solche Vorgänge nicht immer wie-
der vor. Aber ich kann nicht bekunden, dass sie generell
verharmlost oder vertuscht würden. Das gilt im Übrigen
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ie haben es nicht verdient, unter Generalverdacht ge-
tellt und damit gesellschaftlich geächtet zu werden.
anz im Gegenteil: Sie sind rechtstreu und versehen ei-
en wichtigen Dienst für die Bundeswehr und die Solda-
en.
Aus aktuellem Anlass darf ich aber auch Folgendes
emerken: Die Bundeswehr ist nicht irgendein öffentli-
her Dienstleister. Sie hat auch mit Gewalt bzw. mit
nwendung von Gewalt und Abwendung derselben,
uch durch Gewalt, zu tun. Es ist staatlich legitimierte
ewalt, die Gewalt von dritter Seite auch mithilfe der
undeswehr und der Soldaten unterbinden soll.
Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung
aben durch sehr konkrete Entscheidungen – insgesamt
ind es über 40 – die Rahmenbedingungen dafür ge-
chaffen, dass die Bundeswehr und die Soldaten in sol-
hen Fällen im Ausland eingesetzt werden können. Mitt-
erweile haben über 100 000 Soldaten an solchen
insätzen teilgenommen. Die Soldaten darauf richtig
orzubereiten ist selbstverständliche Pflicht des Dienst-
errn. Das geschieht auf vielfältige Weise, auch in der
orm, dass Soldaten auf Gefangennahme und Verhöre
ingestellt werden. Das kann und darf nicht in einer
eise begrenzt sein, dass man nur über den Ernstfall re-
et. Nein, der Soldat muss auf den Eventualfall vorberei-
et sein, und zwar auch mit vielen sehr konkreten Ele-
enten der Gefangenschaft. Das geschieht in einem
enau festgelegten Rahmen mit Sicherungen bis hin zu
egleitender ärztlicher und psychologischer Hilfe.
Wenn denn Bundesregierung und Bundestag weiter
ehende Entscheidungen treffen, beispielsweise ein so
enanntes robustes Mandat beschließen, dann muss die
undeswehr ihre Soldaten darauf vorbereiten, dass sie
em robusten Mandat auch gerecht werden können.
enn Bundesregierung und Bundestag – was bisher
ott sei Dank nicht geschehen ist – die Beteiligung an
ampfeinsätzen beispielsweise im Rahmen eines so be-
eichneten asymmetrischen Kriegs beschließen, dann
uss klar sein, worum es gehen kann: um Zerstören,
erwunden, Verwundetwerden, ja, auch um Sterben und
öten. Darauf müssen die Soldaten ebenfalls vorbereitet
ein. Das ist dann nicht die Stunde der Rambos und der
rutalos, sondern die Stunde der Bewährung für die
ragfähigkeit der Inneren Führung. Wer dabei seine in-
ividuellen Quälgelüste auslebt, ist in der Bundeswehr
ehl am Platz.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13809
)
)
Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner
Aus aktuellem Anlass bemerke ich auch dies: In der
allgemeinen Grundausbildung für Wehrpflichtige, frei-
willig länger dienende Zeitsoldaten und Bewerber für
die Ausbildung zu Berufssoldaten ist der Ausbildungs-
teil „Gefangennahme und Verhör“ nicht vorgesehen;
er ist untersagt. So hat es das Heeresführungskommando
im Februar 2004 bestätigt; so hat es der Führungsstab
der Streitkräfte verbindlich festgelegt. Wer dagegen
verstößt, macht sich eines Vergehens schuldig. Wer in-
nerhalb eines solchen Ausbildungsvorhabens darüber hi-
nausgehende Gewalthandlungen vornimmt, wird zusätz-
lich zur Verantwortung gezogen. Die Einhaltung dieser
Regeln muss die Dienstaufsicht sicherstellen. Sie steht
nicht nur auf dem Papier, sondern ist konkret gefordert,
nicht zuletzt und ganz besonders beim Schutz der Wehr-
pflichtigen.
Der Staat verlangt den Wehrpflichtigen eine tief grei-
fende Pflicht ohnegleichen – gegebenenfalls bis zum
Einsatz von Leib und Leben – ab. Deshalb besteht staat-
licherseits auch die selbstverständliche Pflicht und
Schuldigkeit, für einen umfassenden Schutz Sorge zu
tragen. Wenn es denn bei der Dienstaufsicht hapert, dann
muss das in Ordnung gebracht werden, und zwar umge-
hend.
Aus aktuellem Anlass bemerke ich zusätzlich: Es ist
zutreffend, dass das Echo betroffener Soldaten auf
Coesfeld unterschiedlich ausgefallen ist. War es für die
einen „cool“ oder ein „Highlight“, wurde es von anderen
erlitten, von wieder anderen als zum militärischen Be-
trieb gehörend akzeptiert und von weiteren Soldaten un-
ter gruppendynamischen Zwängen hingenommen; so
wird jedenfalls berichtet. Das wird genau ermittelt wer-
den müssen, und zwar von Staatsanwaltschaften genauso
wie von der Bundeswehr selbst. Ich selbst kann mittei-
len, dass Eingaben Betroffener zu diesem Thema eher
karg sind. Die Zurückhaltung von Wehrpflichtigen bei
Eingaben ist im Übrigen auffällig. Sie machen nur unter-
proportional davon Gebrauch. In Zahlen heißt das für
2004: Knapp 19 Prozent beträgt der Anteil der Grund-
wehrdienstleistenden an der durchschnittlichen Truppen-
stärke. Ihr Anteil am Eingabeaufkommen liegt hingegen
bei knapp 7 Prozent, und dies bei proportional ständig
steigenden Zahlen der Eingaben insgesamt.
Außerdem bemerke ich aus aktuellem Anlass: Die be-
schuldigten Soldaten haben – wie auch andere – einen
Anspruch auf ein faires Verfahren. Mehrere Soldaten ha-
ben mich auch insoweit um Unterstützung gebeten. Dem
komme ich selbstverständlich nach; auch das gehört zu
meinen gesetzlichen Aufgaben. Vorverurteilungen hel-
fen der Sache nicht, wohl aber zügige Verfahren nach
den Maßstäben des Rechts. Auch darauf werde ich ein
Auge haben.
Abweichend vom Vorherigen, aber auch aus aktuel-
lem Anlass darf ich bemerken: Ausländerpolitik be-
rührt ebenfalls die Bundeswehr. Nicht nur deutschstäm-
mige Frauen und Männer leisten soldatischen Dienst in
der Bundeswehr. Es heißt, dass die Bundeswehr mittler-
weile circa 80 unterschiedliche Ethnien umfasst. Gerade
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Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich muss
arauf aufmerksam machen dürfen, dass die Bundes-
ehr und die Soldaten nach 15 Jahren stetiger tief grei-
ender Veränderungen, die noch mindestens weitere fünf
ahre währen sollen, Zeit zum Atemholen brauchen. Es
ar und ist eine riesige Kraftanstrengung, die Bundes-
ehr zur Einsatzarmee umzubauen, den Umfang der
undeswehr von 520 000 Soldaten im Jahr 1990 auf
emnächst 250 000 schrittweise zu reduzieren, die An-
ahl der Standorte nach und nach auf 405 zu verkleinern,
ie Voraussetzungen für den uneingeschränkten Zugang
ür Frauen in die Bundeswehr zu schaffen usw. usw.
Zusätzliche grundlegende Veränderungen werden zu-
ehmend als Bedrohung wahrgenommen. Der diesbe-
ügliche Leitbegriff Transformation wird nicht als Ver-
eißung verstanden. Dieser Begriff kann vielmehr zum
nwort in der Bundeswehr werden, wie zuvor die Be-
riffe „Kopfpauschale“ oder „Hartz IV“ auf anderen Po-
itikfeldern. Bei allem Verständnis gerade der Soldaten
ür Veränderungen: Innehalten braucht nicht immer ein
ehler zu sein. Anders ausgedrückt, man darf das stolze
elbstverständnis der Bundeswehr, wonach es keine Pro-
leme, sondern nur Herausforderungen gibt, nicht über-
trapazieren.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bun-
eswehr, so wird vonseiten der politischen und militäri-
chen Führung mehr oder minder uneingeschränkt be-
ont, sei auch zu weiteren Einsätzen in der Lage, ohne
ass die bisherigen Engagements reduziert werden
üssten. Das hört sich in der Truppe gelegentlich anders
n. Immer wieder und verstärkt weisen Soldaten darauf
in, dass die Möglichkeiten der Spezialisten, namentlich
er Fernmelder, erschöpft seien, dass sachgerechte Aus-
ildung im Inland Not leide, weil gutes Material im Ein-
atz benötigt werde, und dass viele Ausbilder ebenfalls
egen Einsatzverwendung ersetzt werden müssten.
Im Interesse der Soldaten ist zu hoffen, dass die unter-
chiedlichen Wahrnehmungen derselben Sache durch die
ruppe einerseits und die militärische und politische
ührung andererseits nicht „Weichspülprozessen“ zuzu-
chreiben sind, die umso mehr wirken, je weiter die Rea-
ität entfernt ist. Es wäre unverantwortlich, sich für Ein-
ätze zu entscheiden, wenn die Fähigkeiten dafür nur
it sprachlichen Kunstgriffen festgestellt werden kön-
en.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, Perso-
alangelegenheiten machen seit Jahren einen wichtigen
nteil an den Eingaben aus. Dabei geht es in jüngster
eit namentlich um sich mehrende finanzielle Einbu-
en bei ständig zunehmenden Dienstbelastungen. Le-
ens- und dienstältere Offiziere mit Portepee sind mit ih-
er persönlichen Beförderungssituation unzufrieden.
13810 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner
Beim Blick in den Spiegel stellen sie sich selbst die
Frage – auch ihre Angehörigen stellen ihnen diese Fra-
ge –: Was hast du eigentlich verbrochen, dass die Solda-
ten, die du ausgebildet hast, in derselben Laufbahn an dir
vorbeigezogen sind?
Gewiss, das Attraktivitätsprogramm hat gegriffen.
Dabei sind vielfach diejenigen übersehen worden, die
mit ihrer militärischen Erfahrung und ihren unverzicht-
baren Qualitäten in der Menschenführung das Rückgrat
der Armee ausmachen: die gestandenen Ober- und
Hauptfeldwebel. Immer wieder sind auch Klagen über
organisatorische und inhaltliche Mängel bei den Maß-
nahmen der zivilen Aus- und Weiterbildung zu verneh-
men. Immer wieder wird die Undurchlässigkeit von
Laufbahnen beklagt.
Die Truppe wünscht sich erweiterte Möglichkeiten
der Personalgewinnung und der Stellenbesetzungshoheit
„aus sich heraus“. Die Zentren für Nachwuchsgewin-
nung werden teilweise herb kritisiert. Ich habe vier von
fünf dieser Einrichtungen besucht und mich davon über-
zeugen können, dass dort gute Arbeit geleistet wird.
Dennoch: Die Truppe muss sich darauf verlassen kön-
nen, dass im Hinblick auf den Alltag in der Bundeswehr
weder Assoziationen mit „Marlboro-Romantik“ noch
solche mit Aufenthalten im „Streichelzoo“ geweckt wer-
den dürfen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, Schlussfol-
gerungen aus den von mir mit meinem Jahresbericht
2003 vorgelegten Befunden zu ziehen ist Sache des
Auftraggebers, nämlich des Parlaments. Für den Fall
allerdings, dass Sie den Beauftragten nach seiner Ein-
schätzung fragen, gestatten Sie mir noch folgende Be-
merkungen:
Die von mir festgestellten Mängel werden von der
politischen Führung der Bundeswehr weitestgehend be-
stätigt. Die Monita werden geteilt, Abhilfe wird jedoch
nicht überall oder nur in Ansätzen geleistet. Bei dieser
Reaktion darf es nicht bleiben. Die Fragen aus der
Truppe danach, wann denn nun endlich die allenthalben
bekannten Mängel, etwa bei der Infrastruktur, beim Ma-
terial, beim Beförderungssystem für die älteren Feldwe-
bel, abgestellt werden, werden drängender.
Einen Dissens in der Bewertung sehe ich beim Thema
Auslandseinsatz/Material. Ich habe kritisiert, dass Solda-
ten ohne absolvierte Ausbildung an ihren Spezialfahr-
zeugen – das meint: sondergeschützte Kfz von Personen-
schutzkommandos – in den Einsatz geschickt werden.
Das Ministerium hält dies bei der Feldjägertruppe und
dem Wolf für hinnehmbar. Ich bleibe dabei: Vorberei-
tende Einsatzausbildung muss im Inland stattfinden und
darf nicht erst im Einsatzland beginnen.
Ein Wort zu den aktuellen Eingabenzahlen. Stand
von gestern: 5 890 Eingaben. Das sind zehn mehr als im
selben Zeitraum des Vorjahres. Damit wird bis zum Jah-
resende ein ähnlich hohes Niveau wie im Vorjahr er-
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– Das sage ich auch im Hinblick auf meinen Fraktions-
und Parteivorsitzenden. – In diesem Bericht sind
18 Fälle aufgeführt, die in den letzten Wochen gemeldet
wurden und im weitesten Sinne mit den Vorgängen in
Coesfeld vergleichbar sind.
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13812 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
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Bundesminister Dr. Peter Struck
auch nicht während der vorbereitenden Ausbildung für
einen Auslandseinsatz am VN-Ausbildungszentrum in
Hammelburg oder bei den Gefechtsübungszentren. Um
bei solchen praktischen Ausbildungsabschnitten eine
physische und psychische Überforderung zu vermeiden,
sind stets auch ein Psychologe sowie Sanitäts- und Si-
cherheitspersonal zwingend anwesend.
Misshandlungen haben auch nichts mit einer einsatz-
orientierten, realitätsnahen Ausbildung zu tun. Reali-
tätsnähe findet dort ihre Grenzen, wo Körper und Seele
vorsätzlich Schaden zugefügt wird.
Da gibt es eine scharfe Grenze zwischen militärischer
Ausbildung, die körperlich wie seelisch sehr anstren-
gend sein darf und zur bestmöglichen Vorbereitung auf
die Einsätze sogar sein muss, und dem Zufügen von
Schmerzen als Selbstzweck.
All dessen ungeachtet bin ich der Meinung, dass die
Innere Führung nicht das Geringste an Bedeutung ver-
loren hat. Ob sie möglicherweise in Teilbereichen neu
belebt werden muss, wird zu prüfen sein. Klar ist: Es
darf nicht geduldet werden, dass sich in den Streitkräften
aus der Einsatzrealität heraus ein Selbstverständnis bil-
det, das einseitig einem „Kämpfertypus“ huldigt.
Im Allgemeinen besteht dieses Selbstverständnis nicht.
Die Soldatinnen und Soldaten verstehen sich nach wie
vor als Staatsbürger in Uniform. Ich weiß das aus eige-
ner Anschauung. Das Parlament und die Öffentlichkeit,
die vor allem wegen der Wehrpflicht hoch sensibilisiert
ist, sorgen hier für ein Höchstmaß an Kontrolle.
Es steht völlig außer Zweifel – Herr Penner hat dan-
kenswerterweise darauf hingewiesen –, dass die Bundes-
wehr in ihrer Gesamtheit über jeden pauschalen Ver-
dacht erhaben ist.
Bei aller berechtigten Empörung will ich an dieser Stelle
an die vielen Tausend Ausbilder und Vorgesetzten erin-
nern, die ihrem Ausbildungsauftrag mit großem Engage-
ment, vorschriftengerecht und sehr erfolgreich nach-
kommen.
Diese Soldatinnen und Soldaten haben es verdient, dass
zwischen ihnen und den wenigen Schuldigen klar unter-
schieden wird.
Abschließend noch ein persönliches Wort an den
Wehrbeauftragten: Dieser Bericht, Herr Dr. Penner, ist
Ihr vierter und zugleich letzter Bericht. Ich möchte mich
persönlich bei Ihnen für Ihre überaus wertvolle Arbeit
bedanken. Sie haben mit Ihrer partnerschaftlichen Zu-
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mmer wenn Sie sich zu Wort gemeldet haben, ist über-
eutlich geworden, dass Ihnen das Wohl der Bundes-
ehr und aller ihrer Angehörigen persönlich besonders
m Herzen gelegen hat. Für die „Zeit danach“, Herr Kol-
ge Penner, darf ich Ihnen und Ihrer Familie schon jetzt
lles Gute, Glück und Gesundheit wünschen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Schmidt von
er CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
nd Kollegen! Ich schließe mich gerne dem Dank an den
ehrbeauftragten, Dr. Penner, an, der heute einen Be-
icht für das Jahr 2003 vorgelegt hat. Er wird uns auch
ür das Jahr 2004 noch einen Bericht vorlegen, den wir
ann parlamentarisch zu behandeln haben werden. Ich
eine, er ist in einem Punkt seiner Verpflichtung beson-
ers gerecht geworden. Er ist Hilfsorgan des Parlaments,
es Bundestages, und er muss den Begriff der Parla-
entsarmee in die Realität umsetzen. Das hat er getan.
r tut das unbequem, mit Worten und Hinweisen. Wenn
an seine Berichte der letzten Jahre, besonders den von
003, liest, stellt man fest, dass bei der Bundeswehr vie-
es im Argen liegt. Wir bedanken uns bei dem Wehrbe-
uftragten, dass er dies auch so ausspricht.
Ein Hilfsorgan des Parlamentes wie der Wehrbeauf-
ragte muss gute Arbeitsbedingungen vorfinden. Dafür
st noch manches zu tun. Der Wehrbeauftragte hat einen
nspruch darauf, dass die Mitarbeiter, die ihm zur Ver-
ügung stehen, effektiv arbeiten können.
aher geht ein Auftrag auch an uns, an das Präsidium,
n den Präsidenten dieses Hauses, hier tätig zu werden.
ch möchte darum bitten, dass darüber zügiger entschie-
en wird, als es bisher zu erkennen war.
ür uns ist dabei allein die Qualifikation und nichts an-
eres entscheidend. Gerade für den politisch so sensi-
len Bereich des Wehrbeauftragten, der über die Einhal-
ung von Rahmenbedingungen zu berichten hat, spielt
as eine große Rolle.
Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist natürlich
in Mängelbericht. Dass er in seiner Rede auf die aktuel-
en Vorfälle eingegangen ist, begrüße ich besonders. Wir
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13813
)
)
Christian Schmidt
müssen aber einmal grundsätzlich darüber reden, dass
die Vorstellung, man könne die Bundeswehr mit vielen
Aufgaben belegen, die sie irgendwie schon bewältigen
werde, angesichts des Ausbildungsstandes nicht realis-
tisch ist. Das viel beschworene Ende der Fahnenstange
ist erreicht.
An einem Tag, an dem die ersten Flüge zu einem
neuen Einsatz in Afrika stattfinden, muss man sagen:
Die vom Wehrbeauftragten angesprochene Diskrepanz
zwischen den Fähigkeiten der Bundeswehr und ihren
Aufgaben droht zu einem strukturellen und substanziel-
len Problem für unsere Truppe zu werden. Die Regie-
rung darf der Truppe nicht Aufträge erteilen, ohne ihr
gleichzeitig das Geld und die Mittel zu geben, die sie für
deren Erledigung braucht.
Gemessen an der Stärke der Bundeswehr sind die
über 6 000 Eingaben in der Tat ein Alarmsignal. Man
kann auch sagen: Noch nie hatten so wenige Soldaten so
viele Sorgen; denn die Bundeswehr hat den niedrigsten
Personalbestand seit 1961 erreicht. Eine der Ursachen
für die hohe Zahl an Eingaben liegt aber gerade in der
verminderten Truppenstärke begründet. Denn noch nie
hatten so wenige Soldaten so viele Aufträge zu bewälti-
gen. Gerade deshalb möchte ich unseren Soldatinnen
und Soldaten und den zivilen Mitarbeitern für die vor-
bildliche Pflichterfüllung unter beständig schlechter
werdenden Rahmenbedingungen ganz besonders dan-
ken.
Der Alltag in der Bundeswehr ist entgegen rot-grüner
Lesart von tiefer Verunsicherung der Soldaten und ihrer
Familienangehörigen geprägt. Das schöne Wort Trans-
formation vermag unseren Soldaten nicht das Gefühl zu
vermitteln, sie gingen einer gesicherten Zukunft entge-
gen. Im Gegenteil: Unsere Soldaten haben das Gefühl,
Manövriermasse und Lückenbüßer für finanzielle Eng-
pässe zu sein.
Die Mehrzahl der Soldatinnen und Soldaten fühlt sich
durch den kurz- und mittelfristigen Aktionismus dieser
Bundesregierung und die sich gegenseitig überholenden
Reformen tief verunsichert. Ich bedanke mich beim
Wehrbeauftragten, dass er auf diese Probleme deutlich
hingewiesen und von der Notwendigkeit einer Atem-
pause gesprochen hat.
Berechenbarkeit und Führungsverantwortung aufsei-
ten der politischen Führung der Bundeswehr braucht
man, sucht man aber vergebens. Genau aus diesem
Klima heraus ergeben sich die handfesten Gründe, die zu
den vielen Eingaben an den Wehrbeauftragten führen.
Ich sage klar: Schikanen und Misshandlungen bei der
Ausbildung sind nicht hinnehmbar. Man darf jetzt aber
nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Einsatznahe
Ausbildung in der Bundeswehr bleibt notwendig. Pau-
schale Diskriminierungen der Ausbildung in der Bun-
deswehr sind fehl am Platz. Es ist nicht schlecht, wenn
in diesem Punkt ein Konsens in diesem Haus besteht.
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s wundert einen schon, wenn für solche Fragen sinnlos
eld in einer Größenordnung von Hunderttausenden von
uro verschleudert wird, statt dass man sich darum küm-
ert, dass die innere Führung und die Ausbildung bei
er Bundeswehr verbessert werden.
Wenn es keine repräsentative Studie ist, wieso erstelle
ch dann überhaupt eine Studie?
Sie, Herr Minister,
ragen die politische Verantwortung. In dem gerade dar-
estellten Fall betrifft es die Ministerin eines der anderen
essorts. – Aber bei dieser Gesamtproblematik fehlte es
chon an Dienstaufsicht und die beginnt bekanntlich
eim Minister.
13814 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Christian Schmidt
Es wurde gesagt, die Dienstaufsicht müsse durchgesetzt
werden. Da bin ich doch erstaunt. Die Dienstaufsicht
durchzusetzen ist eine der Grundlagen der Struktur eines
so großen Organs, wie es die Bundeswehr ist.
Auffällig ist, dass seit Februar 2004 mindestens fünf
verschiedene Stellen an nachgeordnete Dienststellen im
Heer Weisungen gegeben haben: Heeresamt, Heeresfüh-
rungskommando, Generalinspekteur, FüS, Staatssekre-
tär, Minister etc. Ich habe den Eindruck, dass hier die
Rechte nicht so genau weiß, was die Linke macht, bzw.
dass wir eine Straffung der Ausbildungsorganisation und
auch der politischen Vorgaben brauchen. Nicht der Ober-
feldwebel oder der Feldwebel, der einmal danebengreift,
ist im Fokus unseres Interesses bei der Frage, welche
Ausbildungsstrukturen die Bundeswehr fähig ist anzu-
bieten. Es scheint, viele Stäbe arbeiten an dieser Frage,
kommen aber zu keiner rechten Entscheidung. Da fällt
mir ein, was einmal Rainer Maria Rilke gedichtet hat:
„Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe“ – und hinter Tau-
send Stäben keinen Verantwortlichen, füge ich hinzu.
Eines wird in dem Bericht des Wehrbeauftragten
überdeutlich: die immer größer werdende Kluft zwi-
schen der Einschätzung der inneren Lage der Bundes-
wehr auf der Ebene der politischen Leitung und militäri-
schen Führung einerseits und vor Ort in unseren
Kasernen andererseits. Hier klafft so viel auseinander,
dass wir uns bei konkreten Vorfällen überlegen müssen,
wie wir die Funktion des Wehrbeauftragten als Früh-
warnsystem des Parlaments stärken können. Ich denke,
allein die katastrophal danebengegangene Übung in
Stuttgart, von der über ein Jahr lang niemand – auch der
Wehrbeauftragte nicht, weil ihm keine entsprechenden
Beschwerden vorlagen – informiert worden war, zeigt,
dass wir eine Informationspflicht der Bundesregierung
gegenüber dem Parlament postulieren müssen. Wir müs-
sen uns im Hinblick auf das Gesetz über den Wehrbeauf-
tragten fragen, welche Mechanismen wir dafür finden
können. Es kann nicht sein, dass man von solchen hane-
büchenen Fällen wie in Stuttgart, wo immerhin sieben
der Beteiligten – darunter waren auch Wehrpflichtige –
zu Schaden gekommen sind, nur en passant erfährt.
Die Motivation der Soldaten ist auf einem Nullpunkt
angekommen. Wir müssen deswegen die Truppe bei den
Reformen mitnehmen. Oft lohnt ein Blick zurück. Ich
habe gehört, es bestehe kein Generalverdacht. Das ist
richtig; das haben wir immer gesagt. Die heutige Regie-
rungskoalition hat sich zwischen 1996 und 1998 aller-
dings ganz anders verhalten. Im Untersuchungsaus-
schuss wurde über angeblichen Rechtsradikalismus in
der Bundeswehr diskutiert und die Bundeswehr insge-
samt infrage gestellt. Einige Mängel und Defizite wur-
den moniert: Es gäbe eine Verschlechterung des Be-
triebsklimas. Es gäbe zu viele Vorkommnisse im Bereich
der Menschenführung. Es fehle an wirksamer und füh-
render Dienstaufsicht. Die Grundsätze der Inneren Füh-
rung würden nicht beachtet. – Ich frage heute: Wie kann
es sein, dass Sie alles besser und anders machen wollten,
wir heute aber feststellen müssen, dass sich die Defizite
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enn man allerdings keine korrekte Aufgabenbeschrei-
ung für Wehrpflichtige erstellt, weil man etwa die
rage des Heimatschutzes negiert, dann braucht man
ich nicht zu wundern, wenn einige bei der Grundausbil-
ung auf dumme Gedanken kommen.
Mir passt es nicht, dass sich unter den Kritikern zum
ehlverhalten in der Bundeswehr auch solche befinden,
ie sich klammheimlich darüber freuen, dass sie unsere
oldaten pauschal verunglimpfen können. Beispielhaft
öchte ich Herrn Wiglaf Droste, einen besonders be-
nadeten Journalisten, nennen, der für eine nicht stuben-
eine Vorlesung an der Universität der Bundeswehr laut
Spiegel“ 856 Euro kassiert hat. Ich darf Ihnen ein Zitat
on Herrn Droste vortragen – Herr Präsident, ich betone,
ass es sich um ein Zitat handelt –:
Mein Mitleid mit deutschen Soldaten, die, wenn
schon nicht im Leben, so doch wenigstens als Lei-
che zu etwas nütze sein können, hält sich stark in
Grenzen: Sie haben sich freiwillig gemeldet – weil
sie scharf darauf sind, ihr trainiertes Totmacherwis-
sen im Ernstfall auszuprobieren … Soldaten sind
nicht nur Deutschländer-Würstchen, sondern eben
auch: Zinksargfüllmasse.
a hört für mich jede Toleranz auf. Es ist schwer erträg-
ich, dass dieser Mann dafür auch noch Geld von der
undeswehr kassiert.
Bei dem Festakt „40 Jahre Bundeswehr – 5 Jahre Ar-
ee der Einheit“ auf der Hofgartenwiese in Bonn hatten
ir die Parole „Soldaten sind Mörder“ im Ohr. Wir ha-
en damals den Vorstoß unternommen, rechtlich klarzu-
tellen, dass so etwas eine Beleidigung der Soldaten der
undeswehr ist. Ich vermisse, dass wir uns nicht nur in
inzelfällen, sondern als Gesellschaft vor die Soldaten,
ie wir als Dienstleister im Sinne unserer Sicherheit ver-
tehen, stellen und die Verantwortung miteinander tra-
en. Hier muss vieles nachgearbeitet werden. Die Bun-
esregierung hat viel zu tun.
Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei
om Bündnis 90/Die Grünen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13815
)
)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter, lieber Herr Penner! Das Kontrollorgan
Wehrbeauftragter ist weltweit einmalig. Von Soldaten
wird es intensiv in Anspruch genommen. Mit über
6 000 Eingaben im vorigen Jahr wurde die zweithöchste
Anzahl an Eingaben in Relation zum Umfang der Bun-
deswehr erreicht. Offenbar ist die Bundeswehr keine Ar-
mee von Duckmäusern. 30 Prozent dieser Eingaben, also
ungefähr 1800, bezogen sich auf Fragen der Menschen-
führung und des Wehrrechts. Interessant ist, dass sich
Grundwehrdienstleistende unterproportional oft an den
Wehrbeauftragten wandten.
Das Berichtsjahr 2003 war von dem ersten gezielten
Terrorangriff auf Bundeswehrsoldaten in Kabul, vom
Neustart der Bundeswehrreform – bekannt unter dem
Begriff „Transformation der Bundeswehr“ – und vor al-
lem vom Irakkrieg geprägt. Es ist ein ausgesprochen gu-
tes Zeichen – das wird vom Wehrbeauftragten auch so
bewertet –, dass die Rechtmäßigkeit von Einsätzen unter
Soldaten in diesem Jahr ein besonderes Gesprächsthema
war. Ich muss hierzu anmerken, dass eine Bundesregie-
rung, die die Bundeswehr in den Irakkrieg geschickt
hätte, dem Staatsbürger in Uniform das Rückgrat gebro-
chen hätte.
Die Übungsexzesse in der Ausbildungskompanie in
Coesfeld und die anderen bekannt gewordenen Fälle wi-
dersprechen dem Rechtsverständnis der Bundeswehr,
der Inneren Führung, dem geltenden Recht und sind
auch ein Schlag ins Gesicht der Zehntausenden von Bun-
deswehrsoldaten, die ihren Dienst ausgezeichnet wahr-
nehmen.
Im Fall dieser Ausbildungskompanie kamen verschie-
dene Momente zusammen: mangelhaftes Unterschei-
dungsvermögen zwischen so genannter realitätsnaher
Ausbildung und der Grenze zur Verletzung der Men-
schenwürde, mangelnde Dienstaufsicht und schließlich
Gruppendruck. War das, was in dieser Ausbildungskom-
panie viermal geschah, die Spitze eines Eisbergs und die
brutalisierende Konsequenz von Auslandseinsätzen, wie
manche in den Medien sagen? Ich meine: Nein. Die an-
deren inzwischen bekannt gewordenen, gemeldeten
Fälle zeigen den Ausnahmecharakter der Vorfälle in die-
ser Ausbildungskompanie bezüglich ihres Ausmaßes, ih-
rer Intensität und der Art des Umgangs mit ihnen, des
langen Beschweigens.
Die Qualität der Ausbildung insgesamt ist am Ein-
satz der Bundeswehr abzulesen. Dazu stellt der Wehrbe-
auftragte fest: „In allen Einsatzgebieten wird der Dienst
der Soldatinnen und Soldaten hoch geschätzt.“ Das ist
ausdrücklich keine Höflichkeitsfloskel, sondern eine all-
gemeine Erfahrung, auch die Erfahrung derjenigen Kol-
leginnen und Kollegen in diesem Haus, die diese Ein-
satzgebiete immer wieder besuchen.
Die aktuell diskutierten Fälle lenken den Blick auf
Probleme, die im Bericht des Wehrbeauftragten klar
benannt werden. Erfolgreiche Ausbildung setzt erforder-
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Umso mehr danke ich Ihnen, lieber Herr Dr. Penner, und
Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Namen mei-
ner Fraktion für die hervorragend geleistete Arbeit.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Helga Daub von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Dr. Penner! Kollegen und Kollegin-
nen! Jährlich wird der Bericht des Wehrbeauftragten de-
battiert. Dennoch ist es dieses Mal nicht wie sonst, aber
darauf komme ich noch.
Der Jahresbericht 2003 zeigt Handlungsbedarf für die
Innere Führung, aber in hohem Maße auch für die Politik
auf. Eindeutig ist ein Motivationsrückgang bei den Sol-
datinnen und Soldaten zu beklagen. Die Bereitschaft,
Reformen mitzutragen, sinkt weiter, und das aus mehre-
ren Gründen: Spezialisten werden zu häufig in Einsätze
geschickt. Die Beförderungspraxis wird beanstandet.
Wir haben noch immer keine Gleichsetzung der Besol-
dung in Ost und West, obwohl diese Forderung von uns
immer wieder erhoben wird. Die Unsicherheit, wie es
mit der Bundeswehr weitergehen wird, darf auch nicht
unterschätzt werden. – Die schwindende Zahl von Be-
rufssoldat-Bewerbern sollte von uns als Alarmsignal be-
griffen werden. Wir dürfen es nicht auf die leichte Schul-
ter nehmen, wenn gut ausgebildete Männer und Frauen
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Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold von der
PD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
ir beraten heute zum letzten Mal über einen Jahresbe-
icht, der in Verantwortung des Wehrbeauftragten
r. Willfried Penner vorgelegt wurde. Die Zahl der Ein-
aben ist sicherlich kein Maßstab für eine Bewertung,
ber über 6 000 Beschwernisse zeigen doch eines: Die
oldaten vertrauen dem Wehrbeauftragten und seinen
itarbeiterinnen und Mitarbeitern. Für die geleistete Ar-
eit bedanke ich mich an dieser Stelle recht herzlich bei
errn Dr. Penner und all seinen Kolleginnen und Kolle-
en.
Selbstverständlich – Herr Kollege Schmidt hat das
roblem angesprochen – braucht der Wehrbeauftragte
uch das richtige Personal. Natürlich wollen wir alle,
ass offene Stellen zügig besetzt werden. Ich muss aber
och einen Satz hinzufügen: Die Auswahl des Personals
iegt nicht in der Verantwortung und ist nicht Sache der
arlamentarier. Wir tun gut daran, immer wieder zu be-
ücksichtigen, dass jede öffentliche Erörterung den Be-
eiligten mehr schadet als Nutzen bringt. Entsprechend
itte ich dies auch zu behandeln.
Wie in den vergangenen Jahren umfasst der Jahresbe-
icht auch Misshandlungen von Untergebenen. Zur
elation: Eine der 60 Seiten des Jahresberichtes befasst
ich mit Misshandlungen in der Truppe. Die Vorfälle von
oesfeld haben dieser Passage in der öffentlichen wie
uch in der heutigen Debatte allerdings ein besonders
tarkes Gewicht gegeben.
Eines kann ich nicht verstehen: Hier wird der Vertei-
igungsminister kritisiert, obwohl er dazu aufgerufen
at, darüber hinausgehende Vorfälle zu melden. Der Ver-
eidigungsminister hat uns Verteidigungspolitikern einen
wischenbericht über 18 Fälle vorgelegt. Wir werden
aufend unterrichtet.
ie Bundeswehr selbst arbeitet dies in einem sehr trans-
arenten, offenen Verfahren ab, das in anderen Streit-
ächten beileibe nicht selbstverständlich ist. Wir wer-
en gut unterrichtet. Dieses offensive Vorgehen des
inisters begrüßen wir ausdrücklich.
13818 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Rainer Arnold
Es gibt nämlich überhaupt nichts zu vertuschen. Vorfälle
werden strafrechtlich aufgearbeitet und disziplinarrecht-
lich geahndet.
Das ist aber nur die eine, die formale Seite. Wir soll-
ten auch die andere Seite betrachten. Selbstverständlich
gibt es eine politische Diskussion und eine politische Be-
wertung. Eines möchte ich vorausschicken: Es ist klar
geworden, dass Coesfeld nicht überall ist. Keiner der an-
deren genannten Fälle ist hinsichtlich der Dimension mit
Coesfeld vergleichbar. Dort ging es nicht nur um unwür-
dige Behandlung, sondern um körperliche, aber auch
seelische Misshandlungen. Trotzdem hat dies nichts mit
Folter zu tun. In dieser Hinsicht sollte man in der Be-
trachtung sicherlich Acht geben.
Das macht Coesfeld natürlich nicht entschuldbar.
Wenn Ausbilder triumphierend über ihre Untergebenen
vor der Kamera posieren, dann ist dies selbstverständlich
ein ziemlich schlimmer Vorfall, der nicht hinnehmbar
ist. Deshalb ist es richtig, dass der Minister die Verfeh-
lungen mit aller Konsequenz ahndet.
Eines sollte uns beschäftigen: In Coesfeld gibt es sehr
viele Beteiligte – Opfer, aber auch Täter. Wenn sich bei
über hundert Beteiligten niemand bei der Instanz des
Wehrbeauftragten meldet, so ist dies für mich durchaus
ein Grund zur Nachdenklichkeit. Wir müssen erfor-
schen, warum dies so ist. Gruppendynamisches Verhal-
ten mag eine Rolle spielen; möglicherweise will in einer
solchen Situation keiner als Weichling gelten. Mögli-
cherweise wissen Rekruten auch nicht, was ihnen im
Sinne von harter Ausbildung, die sie an die Grenze ihrer
Leistungsfähigkeit führt, zugemutet werden darf und zu-
gemutet werden muss. Vielleicht ist es auch ein Stück
weit ein Reflex auf gesellschaftliche Veränderungen. Ich
frage mich durchaus, inwieweit junge Leute noch bereit
sind, ihre Rechte in unserer Gesellschaft formal richtig
einzufordern. All dies sollten wir miteinander sehr sorg-
sam untersuchen; darüber sind wir uns auch einig.
Anders als in den vergangenen Jahren ist die Bundes-
wehr heute weltweit im Einsatz und es ist klar: Die Aus-
bildung muss dies widerspiegeln. Es gibt eine verän-
derte, eine härtere Einsatzrealität. Geiselnahmen und
das Üben dieser Situation, um den psychischen Stress
besser aushalten zu können, haben allerdings nicht die
Dimension, wie sie im Augenblick öffentlich wahrge-
nommen wird. Die Gefahr einer Geiselnahme ist nicht
das größte, sondern ein sehr kleines Risiko im Einsatz.
In der Ausbildung hat sie deshalb auch nur einen kleinen
Stellenwert; sie wird nur einige Stunden lang behandelt.
Ich glaube, das müssen wir im Bild wieder zurechtrü-
cken. Das ist nicht der Schwerpunkt.
Im Rahmen der Ausbildung bezüglich des Verhaltens
bei einer Geiselnahme ist es auch in anderen Truppentei-
len zu schlechtem Führungsverhalten und fachlichen
Fehlern gekommen. Individuelles Fehlverhalten sollte
sicherlich nicht vorkommen. Ich glaube, der entschei-
dende Punkt ist: Wir müssen schauen und die militäri-
sche Führung muss mit den Kommandeuren und den
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)
m vorliegenden Bericht sind Misshandlungsfälle enthal-
n, die aber auch nicht nur andeutungsweise mit denen
Coesfeld zu vergleichen sind.
Die aktuellen Vorfälle, die der Wehrbeauftragte
wangsläufig noch nicht in seinen Jahresbericht aufneh-
en konnte, sind jedoch nicht isoliert zu betrachten; sie
tehen vielmehr in einem größeren Zusammenhang. Das
undesministerium der Verteidigung bewertet in der
orliegenden Stellungnahme zum Jahresbericht die in-
ere Lage der Bundeswehr für das Jahr 2003 als „noch
tabil“. Diese Formulierung muss man sich auf der
unge zergehen lassen: „noch stabil“. Bedeutet dies,
ass das Ministerium bei der Abfassung seiner Antwort
chon Unheil ahnte, dass es am Erfolg der Inneren Füh-
ung bereits zweifelte und die Situation nur noch in
onntagsansprachen schönredete? Die Misshandlungen
eigen deutlich: Die innere Lage der Bundeswehr ist
004 leider nicht mehr stabil, wobei Coesfeld nur als Sy-
onym gelten kann.
Herr Minister, im Frühjahr haben Sie und die gesamte
olitische Führung Ihres Hauses immer wieder gesagt:
ie Ausbildung aller Soldaten muss auf die Einsatzer-
ordernisse ausgerichtet werden. Auf der Wehrpflichtta-
ung des Beirats für Innere Führung im Mai dieses Jah-
es wurde dies ausdrücklich auch für die allgemeine
rundausbildung festgestellt. Ich darf aus der Ausgabe
on „aktuell – Zeitung für die Bundeswehr“ vom 1. Juni
itieren:
Den Wehrdienst attraktiver zu machen, ihn sinnvoll
zu gestalten und den neuen Herausforderungen an
Streitkräfte in der Transformation anzupassen, das
war Schwerpunkt des Beitrages des Generalinspek-
teurs …
ann folgte ein Satz, den wohl so mancher Ausbilder
alsch verstanden hat:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13821
)
)
Anita Schäfer
Einsatzrealität und Einsatzerfahrung sollen alsbald
die Ausbildung aller Mannschaftsdienstgrade be-
stimmen.
Für mich stellt sich nun die Frage, was die Truppe gele-
sen hat: die Bundeswehrzeitung „aktuell“ oder den Be-
fehl, mit dem Geiselnahmen untersagt wurden?
Ich muss daran erinnern, dass die Grundausbildung
nach neuen Befehlen erst im Oktober aufgenommen
wurde. Einen Sommer lang blieb die Truppe im Unge-
wissen. Sie schwebte zwischen politischen Äußerungen
und fehlenden neuen Ausbildungsanweisungen. Dazu
kamen noch all die Probleme, die wir in den Berichten
des Wehrbeauftragten nachlesen können: zu wenig Per-
sonal, fehlendes Material und zu viele Aufträge. Bei ei-
ner solchen Mangelwirtschaft leiden Ausbildung und po-
litische Bildung. Lesen Sie doch einmal Kapitel 3.12 des
Berichts!
Hier liegt das Problem, das durch die Einsätze erst
richtig ernst wird. Nicht von ungefähr hat daher der Ver-
teidigungsausschuss den Unterausschuss „Weiterent-
wicklung der Inneren Führung“ eingesetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die politische Füh-
rung der Bundeswehr steht an dieser Stelle in der Ver-
antwortung. Die bekannt gewordenen Misshandlungen
sind meiner Meinung nach dramatische Einzelfälle. Das
Umfeld dafür hat jedoch die politische Führung zu ver-
antworten. Die mangelnde Bereitschaft vieler Soldatin-
nen und Soldaten, Schikanen, Demütigungen und Miss-
handlungen an den Wehrbeauftragten zu melden, muss
uns besonders zu denken geben.
Zum einen ist der Begriff „Innere Führung“ für viele
schwammig geworden und muss daher weiterentwickelt
werden. Zum anderen scheint die Wahrnehmung des
Amtes und der Aufgaben des Wehrbeauftragten unschär-
fer zu werden. Es ist schlimm, wenn in manchen Medien
immer häufiger vom „Wehrbeauftragten der Bundes-
regierung“ gesprochen wird. Dagegen sollte sich der
Wehrbeauftragte selbst wenden. Dagegen müssen wir
uns aber auch als Bundestag wehren. Innerparteiliche
Streitigkeiten schwächen nämlich die parlamentarische
Kontrolle.
An dieser Stelle muss ich Sie auffordern, Herr
Thierse: Werden Sie Ihrer Verantwortung als Bundes-
tagspräsident gegenüber den Soldatinnen und Soldaten
unserer Parlamentsarmee gerecht! Auch wir als Parla-
ment haben es in der Hand, einen größeren Beitrag zur
Inneren Führung zu leisten, indem wir den unmittelbaren
Kontakt zu den Soldatinnen und Soldaten suchen.
Frau Schäfer!
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Das heißt
aber auch: Der Wehrbeauftragte sollte häufiger und un-
angekündigt die Truppe besuchen und sich nicht von
Mitarbeitern vertreten lassen. Sein Personal muss eine
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)
er Bundesminister der Verteidigung hat daher alle Be-
roffenen zu Recht aufgefordert, dem Wehrbeauftragten
älle von Misshandlung mitzuteilen. Diese Fälle müssen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13823
)
)
Ulrike Merten
aufgeklärt werden und der Deutsche Bundestag muss
darüber unterrichtet werden.
Erst wenn alle Fälle auf dem Tisch liegen – nach dem
zu urteilen, was bis jetzt gemeldet worden ist, scheint es
sich ja nicht um ein Massenphänomen zu handeln –,
kann man zu einem abgewogenen Urteil kommen, das
dann die entsprechenden Maßnahmen nach sich ziehen
muss. Man kann allerdings schon jetzt sagen, dass der
Generalverdacht, den einige in Bezug auf die Bundes-
wehr geäußert haben, absolut nicht angebracht ist. Viel-
mehr haben wir es hier – Gott sei Dank – immer noch
mit einem Phänomen einzelner Verfehlungen zu tun.
An dieser Stelle müssen wir eher fragen: Wie konnte
es zu dem Fehlverhalten von Ausbildern kommen? Wie
konnte es dazu kommen, dass diejenigen, die von diesem
Fehlverhalten betroffen waren, sich nicht eher gemeldet
haben? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt. Krachende
Allwissenheit und die Einstellung „Wir haben es ja
schon immer gesagt“ sind überhaupt nicht angebracht.
Damit verbindet sich die Frage nach der Dienstauf-
sicht – darüber haben wir heute schon gesprochen –:
Wie kann und muss sie funktionieren? Zu fragen ist auch
nach der Erlasslage. Die Erlasslage ist eindeutig; darüber
wird gar nicht gestritten. Für mich stellt sich die Frage:
Ist die Erlasslage bei aller Eindeutigkeit für alle – auch
für diejenigen, die gut daran täten, sie zu kennen – wirk-
lich nachvollziehbar und wird sie ihnen in der gebühren-
den Gründlichkeit nahe gebracht? Ich muss erwarten,
dass nicht nur der Bataillonskommandeur und der Kom-
paniechef, sondern wirklich alle, die mit Ausbildung be-
fasst sind, über den Kern der Erlasslage in diesen Punk-
ten nicht nur informiert sind, sondern sie auch präsent
haben.
Die andere Frage ist: Wie kann man Ausbildung ge-
stalten, auch Ausbildung, die auf Auslandseinsätze aus-
gerichtet ist, um für den Ernstfall, aber nicht den Ernst-
fall zu proben? In den Zusammenhang gehört natürlich
auch die Frage: Welche Ausbilder brauchen wir eigent-
lich und wie müssen wir die Ausbilder vorbereiten, da-
mit sie ihrer schwierigen Aufgabe gerecht werden kön-
nen?
Ich will in diesem Zusammenhang auch noch ein
Wort zur Wehrpflicht sagen. Die Vorfälle von Coesfeld
bringen die einen zu dem Schluss: Die Wehrpflichtarmee
ist die einzig mögliche Wehrform, um sicherzustellen,
dass solche Vorfälle zumindest bekannt und transparent
werden. Nur sie gewährleistet die notwendige Sensibili-
tät in der Gesellschaft. Die anderen sagen: Die Wehr-
pflichtarmee ist obsolet. Diese Vorfälle haben gezeigt,
dass das nicht die Wehrform der Zukunft sein kann. Bei-
des, glaube ich, ist in dieser Pauschalität falsch.
Die Fragen, die sich damit verbinden, sind sehr viel
komplexer. Es geht eben nicht nur um Nachwuchsge-
winnung, sondern es geht auch um Auftrag, um Finan-
zen und natürlich auch um Fragen der Wehrgerechtig-
keit. Deswegen muss man sehr genau hinschauen, um
diese Frage dann abschließend beantworten zu können.
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Ich will trotzdem mit aller Eindeutigkeit sagen, dass
ie Wehrpflicht durch den Zugriff auf Rekruten aus Be-
ölkerungskreisen, die der Bundeswehr sonst nicht zur
erfügung stünden, weitgehend sozial repräsentative
nd aufgeschlossene Streitkräfte sicherstellt. Dadurch
ann – ich halte das nicht für widerlegt – das Leistungs-
nd Bildungspotenzial der Bevölkerung für die Streit-
räfte umfassend genutzt werden.
Die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft
und damit bürgernahe Streitkräfte – ist zu einem Quali-
ätsmerkmal geworden. Dies ist ein wichtiger gesell-
chaftspolitischer Erfolg für unser Land, auf den wir zu
echt stolz sein sollten und den wir nicht leichtfertig
ufs Spiel setzen sollten.
In den vergangenen Wochen ist im Zusammenhang
it den Vorfällen in Coesfeld viel über Innere Führung
eredet worden. Der Soldat/die Soldatin soll den Sinn
nd die Notwendigkeit des Dienstes erkennen. Dies ist
in Baustein der Inneren Führung. Prägendes Merkmal
leibt der Staatsbürger in Uniform. Der Staatsbürger in
niform ist eine freie Persönlichkeit, verantwortungsbe-
usster Staatsbürger und einsatzbereiter Soldat.
Gerade für Auslandseinsätze hat die Innere Führung
ine große Bedeutung. Dies wird jetzt im Unteraus-
chuss sehr detailliert und wirklich auch in die Tiefe
ehend nachbearbeitet, damit dem Parlament im nächs-
en Jahr Vorschläge dazu gemacht werden können. Allen
ehauptungen zum Trotz ist man im BMVg natürlich
uch längst dabei, auf die Herausforderung „Auslands-
insätze und Innere Führung“ zu reagieren.
Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen, dass sich
ie Bundeswehr seit der Zeitenwende 1989/1990 natür-
ich erheblich verändert hat. So weist der Wehrbeauf-
ragte zu Recht auf die Probleme im gegenwärtigen
ransformationsprozess der Bundeswehr hin. Frau
ollegin Schäfer, wenn wir schon über Reformen der
undesregierung reden,
ann will ich an dieser Stelle Folgendes sagen – Kollege
rnold hat sich dazu schon ausführlich geäußert –:
enn ein schwieriger Reformprozess, in dem Fall
ransformationsprozess, von allen Beteiligten so getra-
en würde wie von der Bundeswehr, müssten wir uns
ber das Reformklima und die Reformfähigkeit dieses
andes keine Sorgen machen.
Frau Kollegin Merten, kommen Sie bitte zum
chluss.
13824 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Ich will im Zusammenhang mit dem hier behandelten
Thema noch eines sagen: Der Bericht des Wehrbeauf-
tragten ist natürlich ein Mängelbericht und kein vollstän-
diger Bericht über den Zustand und das innere Gefüge
der Bundeswehr. Entscheidend ist, dass die Themen so
lange auf der Tagesordnung bleiben, bis sie abgearbeitet
sind, und nicht nur so lange, wie die Medien ihr Inte-
resse und ihren Fokus auf ein Thema richten, weil sie
glauben, daraus Honig saugen zu können.
Garant dafür, dass das so bleibt, also dass die Themen
so lange auf der Tagesordnung bleiben, bis sie abgear-
beitet sind, ist der jährliche Bericht des Wehrbeauftrag-
ten und seiner Mitarbeiter. Dafür will ich noch einmal
herzlich Danke sagen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lamers, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Im 45. Jahresbericht eines
Wehrbeauftragten, der heute als Ihr vierter und letzter
Bericht im Plenum beraten wird, Herr Wehrbeauftragter,
haben Sie dankenswerterweise auch auf die Arbeit des
Unterausschusses „Weiterentwicklung der Inneren Füh-
rung“ Bezug genommen. Zunächst möchte ich Ihnen als
Vorsitzender dieses Unterausschusses und ganz persön-
lich für die als Wehrbeauftragter geleistete Arbeit für un-
seren Staat und unsere Bundeswehr danken.
Im Unterausschuss haben Sie uns im Dezember 2003
Rede und Antwort gestanden und wertvolle Hinweise
zum inneren Zustand der Bundeswehr gegeben. Wenn
es um den inneren Zustand der Bundeswehr geht, dann
gibt es so etwas wie einen Fiebermesser: Das sind Sie,
Herr Wehrbeauftragter. In den letzten Jahren haben Sie
immer wieder einen Anstieg der Beschwerden und Ein-
gaben von Soldaten an Ihre Behörde gemeldet. Wenn die
Fieberkurve steigt, dann müssen sich die zuständigen
Gremien damit auseinander setzen. Das Parlament tut es
heute hier im Plenum und jede Woche im Verteidigungs-
ausschuss des Deutschen Bundestages. So muss es sein.
Nach Kempten und Coesfeld ist das umso dringlicher.
Wir alle spüren, das Land ist im Umbruch. Wir alle
spüren, die Bundeswehr befindet sich im Umbruch. Da
erwachsen große Unsicherheiten für unsere Soldaten: ei-
nerseits aus den Auslandseinsätzen und manchen Be-
gleitumständen mit all ihren Auswirkungen auf die Fa-
milien, andererseits sicher auch aus der unübersichtlich
gewordenen Situation durch die Strukturreformen der
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Er sagt weiter:
Das Soldatische darf nicht untergehen, der Mensch
muß in der Mitte sein, Führung muß wirklich Füh-
rung bleiben – dann wird Innere Führung das ange-
strebte Ziel erreichen.
Meine Damen und Herren, ich frage Sie: War das,
as wir in Coesfeld, in Kempten und an anderen Orten
rlebt haben, der von Kielmannsegg eingeforderte Ak-
ord von Mensch, Soldat und Führung? Gewiss nicht.
ichtig ist: Mit den Auslandseinsätzen haben sich die
nforderungen an unsere Soldaten grundlegend verän-
ert. Die Ausbildung muss auf diese Veränderungen re-
gieren. Sie muss zweifellos Soldaten darauf vorberei-
en, dass im Einsatz auch der Worst Case, der
chlimmste aller denkbaren Fälle, eintreten kann. Aber
ier geht es doch um die sach- und fachgerechte Vorbe-
eitung von Soldaten vor einem konkreten Einsatz.
oesfeld ist nicht Hammelburg. Was in Hammelburg er-
aubt ist, ist in Coesfeld in einer Nacht-und-Nebel-Ak-
ion mit Rekruten noch lange nicht zulässig. Darum geht
s doch.
Innere Führung ist gewiss keine Bibel, kein Kodex
it unveränderlichen Inhalten. Aber es gibt eben unver-
ichtbare Teile der Inneren Führung, die nicht aufgege-
en werden dürfen, so genannte Konstanten. Es geht um
en Soldaten als Staatsbürger in Uniform, dessen
taatsbürgerliche Rechte so wenig wie möglich einge-
chränkt werden sollen. Es geht um die Bindung des
rinzips von Befehl und Gehorsam an Recht und Gesetz.
s geht um die zwingende Beachtung der Menschen-
ürde im Dienst. Es geht um das grundsätzliche Verbot
on strafrechtlich bewehrten Handlungen im Bundes-
ehralltag. Innere Führung, so sagt General Ulrich de
aizière, ist ein dynamisches Konzept, immer in Ent-
icklung; sie muss aktuell sein. Letztlich geht es um den
olitisch gebildeten und sensibilisierten Soldaten, der im
eichen der Inneren Führung die Möglichkeiten und
renzen seines Handelns erkennt.
Innere Führung – das ist nicht nur, aber auch Men-
chenführung. Zweimal, Herr Wehrbeauftragter, spre-
hen Sie von Führungsverantwortung. Recht haben Sie;
enau darum geht es: um Führungsverantwortung. Wo
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13825
)
)
Dr. Karl A. Lamers
war diese Führungsverantwortung in Coesfeld, in Kemp-
ten und anderswo? Jeder Ausbilder kennt – oder sollte
kennen – seine Ausbildungsvorschriften, seine Handrei-
chungen, seine Dienstpläne. Die Dienstaufsicht der Vor-
gesetzten – bis ganz nach oben in die militärische Füh-
rung hinein – muss sicherstellen, dass die Vorschriften
eingehalten werden und dass die Menschenführung und
die angewandten Methoden und Mittel in Ordnung sind.
Darum geht es, meine Damen und Herren.
Herr Wehrbeauftragter, wir sind uns einig: So sollte es
sein. Hätte da nicht die Alarmglocke schrillen müssen
bei diesen so genannten Ausbildungseinlagen? Mit dem
Grundgedanken des Staatsbürgers in Uniform, der Bin-
dung des Befehls an Recht und Gesetz und der men-
schenwürdigen Behandlung von Untergebenen, mit all
den Themen, mit denen Sie sich tagtäglich befassen, sind
diese jedenfalls nicht in Einklang zu bringen.
Auch bei den Untergebenen hätte die Einsicht wach-
sen müssen, dass sie diese Befehle nicht ausführen
mussten, ja nicht durften. Vereinzelt hört man, da seien
einige „über das Ziel hinausgeschossen“. Die Tatsache,
dass von der Heeresführung seit Februar 2004 fünf ver-
schiedene Weisungen bezüglich der Ausbildung ergin-
gen, lässt aufhorchen. Hier wurde nachgesteuert, um
Auswüchse zu begrenzen.
Ich meine, wir müssen über die Ausbildung der Aus-
bilder neu nachdenken, insbesondere über die Führungs-
verantwortung. Aber bei allem, was wir heute bespre-
chen, müssen wir wissen, dass von der ganz
überwältigenden Mehrheit unserer Soldatinnen und Sol-
daten, von Ausbildern und Auszubildenden schon heute
das Prinzip Innere Führung gelebt und verwirklicht wird.
Wir reden heute über die, die den Geist dieses Prinzips
immer noch nicht verstanden haben oder nicht verstehen
wollen. Das können wir nicht hinnehmen. Wir wollen,
dass die Bundeswehr insgesamt klar Schiff macht.
Meine Damen und Herren, die Ereignisse von Coes-
feld, Kempten und anderswo führen in manchen Köpfen
zu erstaunlichen Schlussfolgerungen: Die Wehrpflicht
sei überholt; es müsse eine Berufsarmee eingeführt wer-
den. Genau das Gegenteil ist der Fall.
Eine Wehrpflichtarmee steht viel stärker im Blickpunkt
der gesamten Öffentlichkeit, der Medien, des Parlaments
und vieler Familien in unserem Land als eine Berufsar-
mee.
Ich kann auch nicht erkennen, dass in den Fällen, über
die wir in den letzten Wochen diskutiert haben, Wehr-
pflichtige die Verantwortung trugen. Ich bin vielmehr
überzeugt: Weil die Bundeswehr durch die allgemeine
Wehrpflicht in der Gesellschaft verankert ist, sprechen
wir heute und seit Wochen leidenschaftlich über die „be-
sonderen Vorkommnisse“.
Zu den Konsequenzen, meine Damen und Herren. Es
besteht Handlungsbedarf, der uns alle verpflichtet: Par-
lament, Regierung und Bundeswehr. Wir sind aufgefor-
dert, das Rechtsempfinden unserer Soldaten zu stärken
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gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Neuordnung der Reserve der Streitkräfte und
zur Rechtsbereinigung des Wehrpflichtgeset-
– Drucksache 15/4485 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Siebzehnten Gesetzes
zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
– Drucksache 15/4492 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes
– Drucksache 15/4108 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Öffnung des Bun-
desrechts für die Zusammenführung von
Gerichten der Verwaltungs-, Sozial- und Fi-
– Drucksache 15/4109 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
13826 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 5. April 2004 zwischen der Bundes-
republik Deutschland, der Republik Polen und
der Tschechischen Republik über den Bau ei-
ner Straßenverbindung in der Euroregion
Neiße, im Raum zwischen den Städten Zittau
in der Bundesrepublik Deutschland, Reiche-
nau in der Republik Polen und
Hrádek nad Nisou/Grottau in der Tschechi-
schen Republik
– Drucksache 15/4467 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Nationales Sicherheitsforschungsprogramm vor-
legen
– Drucksache 15/3810 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut
Königshaus, Markus Löning, Horst Friedrich
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Anhalter Bahn in die Dringlichkeitsliste für
die Lärmsanierung an bestehenden Schienen-
wegen aufnehmen
– Drucksache 15/4262 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
FDP
Deutsch-russischen Jugendaustausch auswei-
ten und stärken
– Drucksache 15/4530 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4492 – das
ist Tagesordnungspunkt 25 b – soll an den Innenaus-
schuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan-
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der SPD sowie der Abgeordneten Grietje
Bettin, Hans-Josef Fell, Anna Lührmann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
zu der Abgabe einer Erklärung durch die
Bundesregierung zu den Ergebnissen der
Europäischen Bildungsministerkonferenz am
18./19. September 2003 in Berlin
– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-
und der Fraktion der FDP
zu der Abgabe einer Erklärung durch die
Bundesregierung zu den Ergebnissen der
Europäischen Bildungsministerkonferenz am
18./19. September 2003 in Berlin
– Drucksachen 15/1787, 15/1579, 15/1582,
15/4490 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Berg
Marion Seib
Grietje Bettin
Cornelia Pieper
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
chlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
ion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1787 mit dem Ti-
el „Für mehr Wettbewerb und Flexibilisierung im
ochschulbereich – der Bologna-Prozess als Chance für
en Wissenschaftsstandort Deutschland“. Wer stimmt
ür diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent-
altungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
en von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Ge-
enstimmen der CDU/CSU angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
er Ausschuss, den Entschließungsantrag der Fraktionen
er SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13827
)
)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
sache 15/1579 zu der Regierungserklärung zu den Er-
gebnissen der Europäischen Bildungsministerkonferenz
in Berlin anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung der
FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
ner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1582 zu der ge-
nannten Regierungserklärung abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU
und der FDP angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses. Das sind die Tagesordnungspunkte
26 b bis 26 f.
Tagesordnungspunkt 26 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 168 zu Petitionen
– Drucksache 15/4422 –
Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Sammelübersicht 168 ist mit den Stimmen des gan-
zen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 169 zu Petitionen
– Drucksache 15/4423 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 169 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 170 zu Petitionen
– Drucksache 15/4424 –
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 170 ist ebenfalls mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 171 zu Petitionen
– Drucksache 15/4425 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 171 ist mit den Stim-
men der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU
und der FDP angenommen.
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Die Wirtschaft hat zweitens zugesagt, in diesen drei
Jahren jährlich, beginnend mit dem Jahr 2004, zusätzlich
25 000 Einstiegsqualifikationen einzurichten.
Die Realität: Von den Industrie- und Handelskam-
mern wurden bis Ende November 24 000 Plätze und von
den Handwerkskammern bis Ende Oktober 5 500 Plätze
für Einstiegsqualifikationen angeworben. Das macht bis
zu diesem Zeitpunkt – wir sind noch nicht am Ende des
Jahres angekommen – 29 500 Plätze. Das sind wiederum
mehr als zugesagt.
– Ende November waren rund 6 000 dieser Plätze be-
setzt.
Drittens. Die Bundesagentur hat zugesagt, für die
Einstiegsqualifikationen einen Zuschuss zu zahlen. Tat-
sächlich zahlt die Bundesagentur eine Pratikumsvergü-
tung in Höhe von 192 Euro monatlich pro Jugendlichen
und einen Sozialversicherungsbeitrag in Höhe von
102 Euro. Auch dieses Versprechen wird eingehalten.
Das wird durch ein auf drei Jahre angelegtes Bundespro-
gramm mit einem Volumen von insgesamt 270 Millio-
nen Euro finanziert.
Vierte Zusage. Die Bundesregierung hat zugesagt, die
Zahl der Ausbildungsplätze in der Bundesverwaltung im
Jahr 2004 um rund 20 Prozent zu erhöhen. Darüber hi-
naus wollte sie ihren Einfluss geltend machen, damit
auch die selbstständigen Einrichtungen des Bundes ihre
Ausbildungsleistung noch einmal deutlich erhöhen.
Die Realisierung sieht folgendermaßen aus: Die un-
mittelbare Bundesverwaltung, also die Bundesregie-
rung, hat die Anzahl der Ausbildungsplätze um 34 Pro-
zent, also um genau 2 639 Ausbildungsplätze, erhöht und
die mittelbare Bundesverwaltung um 1 285 Plätze. Die
Steigerung lag also statt bei den versprochenen 20 Pro-
zent bei 34 Prozent.
Die fünfte Zusage im Vertrag war, dass wir das Bund/
Länder-Ausbildungsprogramm Ost mit 14 000 Plätzen
im Jahr 2004 fortführen. Diese Zusage ist durch eine
Vereinbarung zwischen dem Bund und den ostdeutschen
Ländern bereits am 15. Juli, also rund einen Monat nach
Abschluss des Paktes, realisiert worden.
Die sechste Zusage war, dass die Bundesagentur aus-
bildungsfördernde Maßnahmen für Arbeit mindestens
im gleichen Umfang wie im Jahr 2003 fortsetzen wird.
Das gilt insbesondere für die berufsvorbereitenden Maß-
nahmen.
Umsetzung: Ende November hatten wir 237 000 Teil-
nehmer. Das sind 29 000 weniger als 2003. Nach den
Planungen der Agentur wird die Teilnehmerzahl bis
Ende Dezember aber um insgesamt 15 300 – das sind
6,1 Prozent – über der Teilnehmerzahl des Vorjahres lie-
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Es kann für die Jugendlichen nicht sinnvoll sein, dass
beispielsweise durch die Maßnahmen der Bundesagentur
für Arbeit das, was eigentlich die Schule leisten sollte,
nachgeholt wird. Ob man das als Nachsitzen oder Nach-
bessern bezeichnet – es ist für die Jugendlichen nicht
sinnvoll. Zumeist ist es auch schwierig, durch diese
Maßnahmen einen konkreten Erfolg zu erzielen; denn es
ist nun einmal nicht die Aufgabe der Bundesagentur für
Arbeit, Schulunterricht zu geben.
Die Bundesagentur kann und muss Jugendliche, die
eine Ausbildung machen, parallel dazu unterstützen, vor
allen Dingen bei der Vermittlung von Arbeitsplätzen. Sie
kann aber nicht das nacharbeiten, was die Schule leisten
sollte. Das ist weder für die Jugendlichen noch für die
Beitragszahler noch für die Steuerzahler gut; denn diese
Maßnahmen sind in administrativer und finanzieller
Hinsicht unglaublich aufwendig und nicht erfolgreich
genug.
Darüber wird zurzeit in der Bundesstaatskommission
und ihren Gremien diskutiert. Dazu will ich eines deut-
lich sagen: Trotz aller Zuständigkeitsfragen müssen wir
in Deutschland die Situation beseitigen, dass das, was
die Schulen leisten sollten, von der Bundesagentur ge-
leistet wird. Wir müssen die Jugendlichen bereits in den
Schulen auf das Wirtschafts-, das Arbeits- und das Be-
rufsleben vorbereiten. Daran müssen Eltern, Lehrerinnen
und Lehrer und diejenigen, die in den Ländern für die
Schulen verantwortlich sind, mitwirken.
Wir müssen die Jugendlichen auf das vorbereiten,
was im Anschluss an ihre Schulzeit auf sie zukommt;
denn im Durchschnitt gehen 10 Prozent der Jugendli-
chen in Deutschland ohne jeden Schulabschluss ins Be-
rufsleben. Viele von ihnen sind nicht ausreichend auf
eine Ausbildung oder das Arbeits- und Berufsleben vor-
bereitet. Wir müssen dieses Manko beseitigen. Dazu
müssen wir die so genannte Schnittstelle zwischen
Schule und Betrieb verbessern. Das ist der Vorsatz, den
wir unter den Verantwortlichen für diesen Pakt gefasst
haben.
Wir müssen bereits ab etwa dem siebten Schuljahr da-
mit beginnen – auch das ist immer noch eine Hilfsmaß-
nahme –, die Jugendlichen auf das, was im Wirtschafts-
und Berufsleben auf sie zukommt, vorzubereiten. Wenn
sie darauf nicht vorbereitet werden, spricht vieles dafür,
dass zahlreiche Jugendliche den Umstieg von der Schule
in den Betrieb nicht schaffen. Das können und wollen
wir nicht länger zulassen. Vonseiten der Wirtschaft, ins-
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Das Wort hat der Kollege Werner Lensing, CDU/
SU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
egen! Herr Minister Clement, die Ausbildungsvereinba-
ung, gegen den Missmut einiger rot-grüner Ideologen
rtrotzt, hat sich in der Tat zu einem Erfolg entwickelt.
rstmalig seit 1999 wurde, was die Anzahl der abge-
chlossenen Ausbildungsverträge betrifft, wieder ein Zu-
achs erzielt.
azu sage auch ich: Das ist wunderbar. Glückwunsch!
einen Glückwunsch richte ich vor allem an Sie, Herr
lement. Wir sind froh, dass Sie seinerzeit viele
nregungen der CDU/CSU übernommen haben. Diese
nerkennung gebührt Ihrer Person, Bildungsministerin
ulmahn allerdings in keiner Weise.
Der Zuwachs an betrieblichen Ausbildungsplätzen
m 4,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahreswert ist
benfalls erfreulich. Die Jugendlichen werden es Ihnen,
o hoffe ich, zu Recht danken. Allerdings hat das lange
ordern nach einer Ausbildungszwangsabgabe
ostbare Zeit gekostet, Zeit, die die rot-grüne Regierung
esser darauf verwendet hätte, schneller einen Entwurf
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13831
)
)
Werner Lensing
zur Novellierung des Berufsbildungsgesetzes vorzule-
gen,
so wie es die Union mit ihrem konkreten und guten Ge-
setzentwurf vorgemacht hat.
Zur objektiven Beurteilung der Anerkennung gehören
allerdings auch kritische Anmerkungen: Genauso wenig,
wie der Staat die Erfüllung des Paktes von den unter-
zeichnenden Verbänden einfordern kann, können die
Verbände die Arbeitgeber zur Erfüllung im Einzelfall
zwingen. Das gilt natürlich systemimmanent immer
noch. Die Auseinandersetzung um die Ausbildungs-
platzabgabe war seinerzeit ein Klamaukstück mit billi-
gen Drohungen, absurden Scheingefechten und so man-
chem total frustrierten Sozialdemokraten.
Unternehmen können nur so viele Lehrstellen anbieten,
wie es die ökonomische Lage erlaubt
und Jugendliche können nicht in bestimmte Berufsbilder
gezwungen werden.
Für die SPD bleibt der wachsweiche Kompromiss ein
Ausweg aus einer Sackgasse, in die sich seinerzeit die
Partei hineinmanövriert hatte, vor allen Dingen die Frak-
tion. Allen Experten war damals natürlich schnell klar,
dass jede Behörde mit der zusätzlichen Bürokratie, die
mit Verwaltung und Kontrolle einer erzwungenen
Abgabe verbunden gewesen wäre, überfordert worden
wäre. Deshalb hatten am Ende selbst frühere Befürwor-
ter Angst, das Gesetz über die Abgabe könnte wirklich
in Kraft treten. Was lehrt uns dies? Die Situation, in der
wir uns heute befinden, ist uns allen hier bewusst: Neue
Konzepte entstehen immer nur durch Freiheit, niemals
durch Zwang.
Was die berufliche Bildung betrifft, so denke ich,
wäre auch – wir fordern das – die regelmäßige Vorlage
einer Vergleichsstudie unter den Auszubildenden anzu-
streben. Herr Minister Clement, Sie haben vorhin be-
klagt, wie es in vielen Fällen mit der Ausbildungsfähig-
keit aussieht, und gesagt, welche Sorgen wir uns machen
müssen. Sie haben das mit Zahlen belegt, die wir leider
zu bestätigen haben. Die Zahlen beschreiben tatsächlich,
wie Sie sie objektiv dargestellt haben, die Schattenseiten
der heutigen Situation. Deswegen müssen wir gerade
hier mit unseren pädagogischen Maßnahmen einsetzen.
Ich finde es ist fatal – ich wäre Ihnen dankbar,
Herr Clement, wenn Sie Einfluss auf Ihre Kollegin, Frau
Bundesministerin Bulmahn, nehmen könnten –, wenn
man gerade in einer solch schwierigen Bildungssituation
diejenige Schulform in Misskredit bringen will – um sie
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ir müssen die Hauptschule in stärkerem Umfang als
isher befähigen, die notwendigen Grundkenntnisse zu
ermitteln. Mit einer Gesamtschule allein schaffen wir
as nicht. Im Gegenteil: Wie die PISA-Ergebnisse zei-
en, ist gerade das Ergebnis in den integrierten Gesamt-
chulen traurig.
Herr Minister Clement, ich hätte mir schon ge-
ünscht, dass Sie sich seinerzeit als Ministerpräsident
eines Landes stärker dafür eingesetzt hätten, die Viel-
alt des gegliederten Schulwesens zu fördern, um die
erschiedenen Begabungen, die man nicht ideologisch
inebnen kann, zu unterstützen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich respektiere das und erlaube mir einen letzten Satz:
eine Argumente stützen sich im Wesentlichen auf
usführungen der bisherigen Kultusministerin von
ordrhein-Westfalen, Frau Gabriele Behler, und ihrer
achfolgerin, Frau Ute Schäfer.
Danke.
Das Wort hat die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/
ie Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
egen! Keine Frage, der Ausbildungspakt hat Bewegung
n die duale Berufsausbildung gebracht. Allerdings kann
ch die Erfolge bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur mit
albem Herzen feiern.
Immerhin steht in absoluten Zahlen ein Plus an Aus-
ildungsplätzen im Saldo. Die Wirtschaft hat sich ange-
trengt, die Zahlen vom letzten Jahr zu übertreffen; dies
egrüße ich ausdrücklich. Ich erkenne auch an, dass die
ktuellen Bemühungen von Politik und Wirtschaft die
edeutung und den Wert der dualen Ausbildung wie
eine andere Maßnahme der letzten Jahrzehnte in die-
em Bereich ins öffentliche Bewusstsein gebracht haben.
13832 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Grietje Bettin
Sieben von zehn jungen Leuten in Deutschland
durchlaufen unser Berufsbildungssystem. Trotz dieser
hohen Zahl ist ihre Lobby schwächer und viel weniger
laut als manche andere Interessengruppe. Hier hat das
gemeinsame Handeln von Bundesregierung und Wirt-
schaft doch einiges bewegen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ebenso klar sage ich
aber Folgendes: Die Zahlen vom letzten Jahr waren so
schlecht, dass wir nicht mehr nur mit einer Ausbildungs-
platzumlage gedroht haben, sondern einen Gesetzent-
wurf für eine Umlage erarbeitet haben, der fix und fertig
in der Schublade liegt.
Letztendlich hat wohl nur diese Tatsache die Wirtschaft
dazu bewegt, mit uns diesen Pakt auf halb freiwilliger
Basis zu schließen.
Vor diesem Hintergrund sind die Zahlen des Paktes
auch durchaus kritisch zu hinterfragen. So ist zum Bei-
spiel die Zahl der nicht vermittelten Bewerberinnen und
Bewerber trotzdem angestiegen. 30 000 neue Ausbil-
dungsplätze pro Jahr und zusätzliche Praktikumsplätze
waren vereinbart. Von dieser Zielmarke sind wir nach
unserer Zahlendefinition derzeit noch entfernt, obwohl
der Staat massiv nachhilft. Mit dem so genannten Ein-
stiegsqualifikationsjahr sollen die Betriebe wichtige
Qualifizierungsschritte übernehmen; aber der Staat
finanziert den Lebensunterhalt der Auszubildenden. Das
ist noch nicht ganz das, was wir uns unter „Die Wirt-
schaft übernimmt ihre Verantwortung für die duale Aus-
bildung“ vorstellen.
Auch die Zahl derjenigen, die sich in berufsvorbereiten-
den Maßnahmen der Bundesagentur befinden, ist deut-
lich gestiegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer wieder hört
man, viel zu viele junge Menschen seien gar nicht aus-
bildungsfähig, wenn sie von der Schule kommen.
Dieses Argument kann ich aus mindestens zwei Gründen
nicht gelten lassen:
Erstens übersteigt immer noch die Anzahl der nach-
fragenden Jugendlichen die Anzahl der angebotenen
Ausbildungsplätze. Es wird wohl niemand behaupten
wollen, es würden erst gar keine Ausbildungsplätze an-
geboten, weil die Jugendlichen nicht ausbildungsfähig
seien. Das wäre nach meiner Einschätzung wirklich ab-
surd.
Zweitens muss die Wirtschaft als Ganze ein entschie-
denes Interesse daran haben, die Bewerbungsreserven
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s wird wieder einmal nach dem Staat gerufen, der kräf-
ig Steuergelder in den Pakt hineinpumpt, damit sich
berhaupt etwas bewegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wiederhole es:
er Pakt hat Bewegung in die Diskussion um das duale
ystem gebracht. Diese Diskussion wirkt sich auch auf
ie anstehende Reform des BBiG positiv aus, die wir, so
ie es aussieht, zügig und gut voranbringen können,
amit sie im nächsten Ausbildungsjahr in Kraft treten
ann. Wenn wir darin die Flexibilität für Auszubildende
nd Betriebe groß schreiben, ohne von voll gültigen
erufsbildern abzurücken, können wir hier in diesem
aus auch damit zur Verbesserung der Lage beitragen.
Abschließend: Die gemeinsamen Anstrengungen von
und und Ländern, von Wirtschafts- und Bildungsminis-
erseite beim Pakt und bei der BBiG-Reform sind sicher-
ich positiv zu bewerten. Trotz alledem ist die Kuh noch
icht vom Eis. Der Pakt muss seine Wirksamkeit in den
ächsten Jahren erst noch beweisen. Wir müssen den
ungen Menschen im Land zeigen, dass wir sie brauchen,
ass wir wichtige Aufgaben für sie haben und dass wir
hnen auch zutrauen, unser Land voranzubringen.
Danke schön.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13833
)
)
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Ausbildungspakt kann die in einem Betrieb
vorhandene Bereitschaft zur Ausbildung zwar steigern,
aber er kann die betriebliche Situation nicht verbessern.
Deswegen besteht das entscheidende Kriterium, auf das
wir Einfluss nehmen müssen, in den Rahmenbedingun-
gen, unter denen die Wirtschaft in diesem Land heute
überhaupt handelt. Für Arbeits- wie für Ausbildungs-
plätze gilt gleichermaßen: Sie werden nur geschaffen,
wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Ich bin meiner grünen Kollegin Grietje Bettin sehr
dankbar, dass sie noch einmal auf den vorliegenden ferti-
gen Gesetzentwurf zur Ausbildungsplatzumlage hinge-
wiesen hat.
Ich freue mich, dass gerade Grietje Bettin dies gesagt
hat, denn es erinnert mich noch einmal an die Äußerung
der grünen Fraktionsvorsitzenden Krista Sager, man
müsse der Wirtschaft mal die Folterwerkzeuge zeigen.
Folterwerkzeuge führen nicht zur Ausbildungsbereit-
schaft, sondern höchstens dazu, dass man sich da, wo
eine Ausbildungsplatzumlage besteht, aus der Ausbil-
dung freikauft und dieser Verpflichtung nicht mehr nach-
kommt. Dies lässt sich auch belegen.
– Selbstverständlich haben Sie Recht, Herr Kollege.
Diese ganze Bundesregierung ist ein Folterwerkzeug.
Aber hier geht es um die Zukunftschancen kommender
Generationen.
In Deutschland lagen die Ausbildungsquote im letz-
ten Jahr bei 6,4 Prozent und die Arbeitslosenquote bei
den Jugendlichen bei 11,5 Prozent; es gab keine Ausbil-
dungsplatzabgabe. In Dänemark, wo Ausbildungsplatz-
abgaben zu zahlen sind, lagen die Ausbildungsquote bei
3 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit bei 10,6 Pro-
zent. In Frankreich betrugen die Ausbildungsquote
1,2 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit 20,1 Prozent;
auch dort sind Ausbildungsplatzabgaben zu zahlen.
An diesen Zahlen erkennen Sie Folgendes: Auch
wenn eine Ausbildungsplatzabgabe oder – wie Sie sie
gerne nennen – Ausbildungsplatzumlage erhoben wird,
führt dies noch lange nicht dazu, dass tatsächlich mehr
ausgebildet wird, sondern eher dazu, dass gezahlt wird
und man sich damit von der Verpflichtung befreit.
Eine Ihrer ehemaligen Kolleginnen, Herr Tauss als
Lautsprecher der SPD-Fraktion in diesem Themenbe-
reich,
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ie jetzt hauptamtliche Funktionärin bei der IG Metall
st, hat wiederholt gesagt: Wer nicht ausbildet, wird um-
elegt. Andersherum wird ein Schuh daraus: Wer umge-
egt worden ist, kann nicht mehr ausbilden. Das ist das
roblem.
Wollen wir noch einen Moment bei den Kollegen der
G Metall bleiben. Die IG Metall hatte im letzten Jahr
ine Ausbildungsquote von 0,9 Prozent, der DGB von
ur 0,3 Prozent und Verdi von 0,4 Prozent. Wenn man
ersucht, den Anspruch mit der Wirklichkeit zu verglei-
hen, so stellt man fest: Viel heiße Luft, viel intellektuel-
es Gerede, aber im Endeffekt werden die eigenen Haus-
ufgaben nicht gemacht.
Ich will einmal verdeutlichen, was die Ausbildungs-
latzumlage brächte, wenn Sie von den Grünen dieses
olterwerkzeug wieder einmal herausholten. Als wir
ber das entsprechende Gesetz berieten, rief mich am
ag vor der Verabschiedung durch Rot-Grün ein mittel-
tändisches Zeitarbeitsunternehmen an. Sie beschäfti-
en 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – natürlich
lles Fachkräfte –, die alle bis auf zehn Beschäftigte in
er internen Verwaltung verliehen werden; Auszubil-
ende darf man gar nicht verleihen. Auf diese Mitarbei-
er in der Verwaltung kommen zwei Ausbildungsplätze.
ieses Unternehmen liegt also deutlich über der Quote,
ie Sie anrechnen. In dem anderen Bereich dürfen sie
ar nicht ausbilden.
Diese Umlage, die Sie als Folterwerkzeug für die
eutsche Wirtschaft in der Schublade liegen haben,
ürde dazu führen, dass dieses Unternehmen bei zehn
tammkräften entweder 40 neue Auszubildende einstel-
en müsste oder 240 000 Euro Ausbildungsplatzumlage
u zahlen hätte. Es werden für die Quote nämlich alle
00 Mitarbeiter zugrunde gelegt. Das ist die Politik, mit
er Rot-Grün Ausbildungsplätze schaffen will. Vielen
ank!
Stattdessen müssen die Betriebe wieder die Chance
ekommen, Auszubildende einzustellen. Bei 40 000 Be-
riebsinsolvenzen im Jahr gibt es nun einmal Menschen,
ie zuerst an das Überleben des Unternehmens und nicht
n erster Linie an die Ausbildung denken. Erst später
inmal, irgendwann, wenn die wirtschaftlichen Rahmen-
edingungen so sind, dass man für sein Unternehmen
uch Zukunftschancen sieht, stellt man wieder jemanden
in.
Wir müssen natürlich die Frage beantworten, wie die
erufsbildung insgesamt gestaltet wird. Herr Clement
at es völlig richtig gesagt: 10 Prozent der Schülerinnen
nd Schüler kommen ohne Abschluss aus der Schule
nd haben kaum eine Chance, in den Arbeitsmarkt zu
ommen. Noch nicht einmal 10 Prozent aller Ausbil-
ungsberufe in Deutschland sind theoriegemindert.
13834 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Dirk Niebel
Warum sollen wir in einem modualen System nicht mehr
Menschen die Chance geben, aufgrund ihrer praktischen
Fähigkeiten in das Erwerbsleben einzutreten, sodass sie
nicht von vornherein als ungelernt ausgegrenzt werden
und dauerhaft auf der Straße bleiben, was natürlich zu-
lasten aller Steuer- und Beitragszahler ginge?
Wir müssen auch die Frage beantworten, warum die
Ausbildungsvergütungen überproportional stärker als
die Lohnentwicklung gestiegen sind. Kann es nicht viel-
leicht sein, dass der Kostenfaktor für viele Betriebe auch
in der Phase wichtig ist, wenn während der Ausbildung
noch kein entsprechender Wert erwirtschaftet werden
kann, sodass sie sich fragen müssen, ob sie es sich leis-
ten können, jemanden einzustellen oder nicht? Ich kenne
genügend junge Menschen, die lieber einen Arbeits-
oder Ausbildungsplatz mit einer geringeren Vergütung
hätten, als dass sie bei hohen Ausbildungsvergütungen
auf der Straße stehen.
Man sollte vielleicht einmal darüber nachdenken, ob
man entsprechend der Produktivität und der wirtschaftli-
chen Situation der Betriebe neue Wege geht.
Insgesamt ist es gut, dass die Wirtschaft mehr Ausbil-
dungsplätze zur Verfügung gestellt hat. Dadurch soll
auch das duale Bildungssystem gesichert werden, das
wir durch Rot-Grün gefährdet sehen, weil wesentlich
mehr Aufgaben auf den Staat verlagert werden. Es reicht
aber noch nicht aus, um die Probleme der jüngeren Men-
schen auf dem Arbeitsmarkt zu lösen. Wolfgang
Clement hat zu Recht gesagt, dass das der große Punkt
ist, an dem wir ansetzen müssen.
Ich hoffe sehr, dass der Bundesagentur der verspro-
chene Betreuungsschlüssel von einem Mitarbeiter pro
75 arbeitssuchende Jugendliche möglichst schnell zuge-
wiesen wird und dass sie dann auch die Zeit hat, sich um
diese Menschen zu kümmern.
Herr Kollege Niebel, Ihre Redezeit.
Frau Präsidentin, ich bin beim letzten Satz. – Hier ist
es nämlich besonders wichtig, sie individuell an die
Hand zu nehmen, zum Vorstellungsgespräch zu beglei-
ten und nachgehend zu betreuen, damit sie nicht gleich
wieder arbeitslos werden. Dafür brauchen wir die Kapa-
zitäten. Meiner Meinung nach ist die BA dafür nicht ge-
eignet.
Herr Kollege Niebel, in der Aktuellen Stunde beträgt
Ihre Redezeit nur fünf Minuten.
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vielleicht kön-
en wir uns jetzt wieder dem Problem zuwenden. Die
DP will den Jugendlichen die Ausbildungsvergütungen
egnehmen. Das war die wesentliche Botschaft.
arüber können wir nachher noch ein wenig reden.
Der Wirtschaftsminister hat Recht: Trotz vieler Un-
enrufe haben wir heute ein erfreuliches Ergebnis zu
ermelden. In den Dank für das Zustandekommen
chließe ich Wolfgang Clement und die Bundesministe-
in für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, aus-
rücklich mit ein.
ie Regierung hat hier vieles getan. Die Ministerpräsi-
entin und die Ministerpräsidenten waren unterwegs und
aben für aussichtsreiche Ausbildungsplätze gekämpft.
llen Beteiligten ist hier Dank zu sagen. Dies gilt im
brigen auch für die Seite der Wirtschaft, auf die ich
leich noch zu sprechen komme.
Innerhalb von sechs Monaten haben wir es mit dem
akt geschafft, einen negativen Trend zu brechen. Lieber
ollege Lensing, weil Ihr Erinnerungsvermögen hier ge-
ing ist, sage ich Ihnen, dass dieser Trend 1991 begon-
en hat. 1991 gab es für 100 Bewerber noch 120 ange-
otene Ausbildungsplätze. 1996 gab es nur 96 Stellen.
000 und 2001 haben wir diesen negativen Trend nach
nten durch den massiven Einsatz öffentlicher Mittel
toppen können. Dieser durch öffentliche Mittel herbei-
eführte Stopp war in den Jahren 2002 und 2003 nicht
ehr möglich.
Lieber Herr Kollege Niebel, wie falsch Ihre Behaup-
ungen sind, zeigt die Tatsache, dass in dieser Zeit die
ahl der Ausbildungsplätze auch in Betrieben mit glän-
enden Geschäftsergebnissen massiv zurückgefahren
orden ist.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13835
)
)
Jörg Tauss
In der Region, aus der ich komme, Bruchsal, hat die
Firma Siemens, die weiß Gott nicht zu den Armen ge-
hört, ihre Lehrwerkstatt geschlossen.
Sie sagen, das hat mit Rahmenbedingungen zu tun.
Schauen Sie sich einfach die Bilanzen in diesem Bereich
an und Sie werden erkennen, dass das nicht wahr ist.
Auch Ihre Behauptung, die Umlage habe zur Ver-
schärfung der Lage beigetragen, ist nicht wahr. Das Ge-
genteil ist richtig. Seit einem halben Jahr gibt es eine
Trendwende. Wir können feststellen, dass diese Trend-
wende in dem Moment eingesetzt hat, in dem in diesem
Lande eine ernsthafte Diskussion darüber geführt wor-
den ist, ob eine Umlage eingeführt wird, um die Wirt-
schaft an ihre Verantwortung für die jungen Menschen
zu erinnern, oder nicht.
Die Betriebe, die sich dieser Aufgabe entziehen, sollten
ein Stück weit an den Ausgaben derer beteiligt werden,
die, wie es sich gehört, seit Jahren die Kosten für die Be-
rufsausbildung tragen. Das war die Umlagedebatte.
Aus diesem Grunde freue ich mich in der Tat, dass das
Gesetz, das wir verabschiedet haben, Erfolg hat. In § 1
dieses Gesetzes steht deutlich: Dieses Gesetz tritt nicht
in Kraft, wenn mit der Wirtschaft ein freiwilliger Pakt
zustande kommt. Für den Erfolg des Paktes sollen die
Leistungen des Wirtschaftsministers ausdrücklich ge-
würdigt werden.
Ich sage ganz deutlich: Ich freue mich sehr über das,
was die Wirtschaft zustande gebracht hat, insbesondere
die Bemühungen der Kammern. Ich rede hier von den
Industrie- und Handelskammern und den Handwerks-
kammern. Ich rede nicht von den Kammern der freien
Berufe. In diesem Bereich ist unverändert eine negative
Entwicklung festzustellen. Wenn sich diese Kammern
auch nur vergleichsweise so angestrengt hätten wie die
Industrie- und Handelskammern und die Handwerks-
kammern, hätten wir auch hier ein besseres Ergebnis.
Dass es allerdings erst im Jahr 2004 möglich war, dass
sich die Kammern aus Handwerk und Industrie über-
haupt zusammengesetzt haben – dies wissen wir von den
Kammern selbst –, ist ein zusätzlicher Beweis dafür,
dass es eines gewissen Drucks staatlicherseits bedurft
hatte, um hier weiterzukommen.
Sie haben hier wieder einmal die Mär von sinkenden
Ausbildungszahlen in irgendwelchen Organisationen er-
zählt. Ich nehme an, die FDP würde eine junge Frau, die
bei der IG Metall ausgebildet worden ist, sofort als Se-
kretärin einstellen. Das kann ich mir bei Herrn
Westerwelle lebhaft vorstellen. Ich kann Ihnen nur sa-
gen: Die SPD-Bundestagsfraktion bildet 22 junge Men-
schen aus. Frau Kressl und ich – darüber freue ich mich
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ch würde die Leistungen der Arbeitgeber nicht würdi-
en. Ich würdige sie in allen Fällen. Aber was ich mir
on der BDA wünsche – da haben Sie als Hauptge-
chäftsführer Einfluss –, sind zusätzliche Tarifverträge.
ich hat es im abgelaufenen Jahr sehr enttäuscht, dass
s keinen einzigen neuen Tarifvertrag gegeben hat. Die
arifverträge in der Chemie- und Bauindustrie gelten un-
erändert. Herr Göhner, es ist die Aufgabe der Arbeitge-
erverbände, sich mit den Gewerkschaften zusammen-
usetzen, um auf dem Weg, den wir hier beschritten
aben und der den jungen Menschen weiterhilft, über ta-
ifvertragliche Vereinbarungen voranzukommen. Diese
itte möchte ich an Sie in diesem Zusammenhang rich-
en.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/
SU-Fraktion.
13836 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich als Aller-
erstes meinen Dank an die Vielzahl von Unternehmen
und Betrieben aussprechen, die mit großen Anstrengun-
gen dafür gesorgt haben, dass die Situation am Ausbil-
dungsmarkt deutlich verbessert worden ist.
Damit haben sie klar zum Ausdruck gebracht, dass sie
ihrer Verantwortung gegenüber den jungen Menschen in
unserem Land nachkommen wollen und ihre Aufgabe,
jedem ausbildungswilligen und ausbildungsfähigen Ju-
gendlichen eine Lehrstelle anzubieten, sehr ernst neh-
men.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie werfen
den Oppositionsparteien regelmäßig vor, wir würden das
Land schlechtreden, wenn wir auf die Missstände Ihrer
Politik hinweisen. Aber wir respektieren und anerkennen
die Leistungen der Wirtschaft in diesem Land, die es
trotz der verheerenden Rahmenbedingungen mit nahezu
40 000 Unternehmenspleiten auch dieses Jahr geschafft
haben, dass die Zahl der Ausbildungsverträge zum ers-
ten Mal seit fünf Jahren wieder steigt. 573 000 Ausbil-
dungsverträge sind bis Ende September geschlossen
worden, also 3 Prozent mehr als im vergangenen Jahr.
Angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage in
Deutschland ist das meines Erachtens eine beachtliche
Leistung.
In der Nachvermittlungsphase ist die rechnerische
Lehrstellenlücke halbiert worden. Das heißt, die Nach-
vermittlung ist in diesem Jahr schon doppelt so erfolg-
reich wie die im letzten Jahr. Das ist das Ergebnis der
freiwilligen Kraftanstrengung Tausender von Betrieben,
die ihrer Verantwortung nachkommen, und zwar ohne
staatliche Zwangsregulierung durch Ihre Ausbildungs-
platzabgabe.
Die Einzigen, die heute den Ausbildungspakt als ge-
scheitert ansehen, sind die Gewerkschaften.
Ich zitiere aus einer Pressemeldung der IG Metall vom
3. Dezember dieses Jahres. Darin steht wörtlich:
Die IG Metall geht nicht mehr von einer Trend-
wende für das Ausbildungsjahr 2004 aus. … die
Nachvermittlungsaktionen der Bundesagentur für
Arbeit zeigten kaum Wirkung. „Der Ausbildungs-
pakt hat sich als Mogelpackung entpuppt.
Es ist Zeit, dass die Verantwortlichen sich dieser
Wahrheit stellen“, …
Meine Damen und Herren, Sie philosophieren so
gerne über das Schlechtreden unseres Landes. Nehmen
Sie hier Ihre Verantwortung wahr und erklären Sie den
Gewerkschaften, wie unverantwortlich es ist, wenn es
um die Existenz junger Menschen geht, unser Land und
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ie lediglich zu mehr Bürokratie und zu weniger Ausbil-
ungsplätzen geführt hätte. Herr Minister, ich appelliere
n Sie: Verunsichern Sie die Wirtschaft nicht weiter!
orgen Sie dafür, dass Arbeitsplätze und Ausbildungs-
lätze weiter in Deutschland entstehen! Werfen Sie das
esetz zur Ausbildungsplatzabgabe in den Müll! Da ge-
ört es hin.
Danke schön.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13837
)
)
Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dobrindt, Sie sind, wie mir scheint, bei der Aus-
wahl Ihrer Bündnispartner, wenn es darum geht, das
Land schlechtzureden, nicht sonderlich wählerisch.
Auch die IG Metall kann sich irren.
Tatsache ist: Mit dem Ausbildungspakt hat der Lehr-
stellenmarkt einen ganz neuen Schub bekommen. Ich
möchte an vorderster Stelle den Handwerksmeistern und
den Handwerkskammern danken, die durch ihren großen
persönlichen Einsatz, durch Klinkenputzen ungeheuer
viel getan haben, um zusätzliche Ausbildungsplätze für
Jugendliche zu suchen. Es ist deutlich geworden, dass je-
der Einzelne und jede Einzelne dazu beitragen kann,
dass es auch unter wirtschaftlich schwierigen Bedingun-
gen – die wollen wir nicht leugnen – möglich ist, Be-
triebe für die Berufsausbildung zu gewinnen.
Besonders interessant finde ich, dass Kleinbetriebe
überdurchschnittlich viele benachteiligte Jugendliche
ausbilden. Wirtschaftsminister Clement hat das Problem
angesprochen, dass ein großer Teil eines jeden Jahrgangs
durch vielfache Fehlleistungen der Schule, des Umfelds
und der Familie erhebliche Schwierigkeiten am Ausbil-
dungsmarkt hat. Erst kürzlich hat eine Studie des Deut-
schen Jugendinstitutes unterstrichen und nachgewiesen,
dass benachteiligte Jugendliche die Ausbildung gerade
in kleinen Betrieben besonders erfolgreich absolvieren.
Denn das Näheverhältnis zum Ausbilder ist der entschei-
dende Faktor, der diesen jungen Menschen, die leider
von vielen Großunternehmen als ausbildungsunfähig ab-
gestempelt werden, eine Chance bietet.
Während wir auf der einen Seite Kleinbetriebe und
Handwerksunternehmen loben können und müssen,
müssen wir auf der anderen Seite Großunternehmen, die
nicht selber ausbilden, obwohl sie profitabel wirtschaf-
ten, kritisieren. Herr Tauss hat zutreffend festgestellt,
Herr Niebel, dass es eine Reihe sehr profitabler Großun-
ternehmen gibt, die leider nicht ausbilden. Das ist das
Problem.
Problematisch ist auch, dass das für alle anderen ge-
samtgesellschaftlichen Aufgaben geltende Prinzip, dass
diese vorrangig von denjenigen mit den stärksten Schul-
tern getragen werden müssen, für die gesamtwirtschaftli-
che Aufgabe Ausbildung nicht gilt. Dieses Problem
muss auch benannt werden. Angesichts der Tatsache,
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Zum Vergleich – ich will schließlich fair sein – ziehe
ch noch ein Beispiel aus einer Branche heran, der es
esser geht, nämlich der Chemieindustrie. Der Tariflohn
ines Chemikanten im vierten Ausbildungsjahr beträgt
n Westdeutschland 800 Euro. Ein Auszubildender im
ierten Ausbildungsjahr ist in der Regel 20 Jahre alt.
us meiner Sicht sind 800 Euro für ihn eine angemes-
ene Entlohnung in einem technisierten Beruf. Diese
ntlohnung wird zwischen den Tarifpartnern vereinbart.
enn Sie sie antasten wollen, dann teilen Sie das den
enschen auch mit! Ich werde das jedenfalls tun und
en Menschen vor Ort sagen, was Sie im Deutschen
undestag als Patentrezept empfehlen.
Ich kann meine Kritik nicht pauschal auf die Großun-
ernehmen beziehen. Ein Blick auf die Situation von
enschen mit Behinderungen macht deutlich, dass es
uch Großunternehmen gibt, die zeigen, dass es anders
eht. Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, will ich
ohne Schleichwerbung betreiben zu wollen – ein her-
orragendes Beispiel anführen, nämlich den Metro-Kon-
ern, der sich in vorbildlicher Weise der Instrumente der
undesregierung bedient, wenn es um die Förderung
nd Ausbildung von schwerbehinderten Jugendlichen
eht
Sie können sich ruhig darüber lustig machen –, und
ehr erfolgreich zeigt, dass man gleichzeitig Geld ver-
ienen und junge Menschen mit Benachteiligungen in
usbildung bringen kann.
Denn eines ist richtig: Wenn 10 bis 15 Prozent eines
ahrgangs Schwierigkeiten am Ausbildungsmarkt haben,
eil sie über keine oder nur eine sehr schlechte Schulbil-
ung verfügen, und wenn 40 000 bis 50 000 der Abgän-
er aus berufsvorbereitenden Maßnahmen trotz aller An-
trengungen und Qualitäten leider nicht weitervermittelt
erden können – diese Zahl akkumuliert sich innerhalb
on zehn Jahren auf eine halbe Million Menschen –,
ann heißt das, dass wir ein Riesenproblem haben und
ine entsprechende Initiative brauchen.
Die Ausbildungsplatzumlage hat uns auf die Sprünge
eholfen, den Ausbildungspakt in Gang zu bringen. Ich
laube, das war eine Initialzündung, von der wir noch
13838 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Markus Kurth
einige Jahre profitieren werden. Wir jedenfalls werden
daran arbeiten.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Uwe Schummer, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Bundesminister Clement, Sie waren gegen die Abgabe
und für den Pakt. Es ist gut, dass Sie heute anwesend
sind. Frau Bulmahn war für die Abgabe und zunächst
gegen den Pakt. Es ist bezeichnend, dass sie heute nicht
anwesend ist.
Die Beschäftigungskrise, die Schröder mit initiiert
hat, liegt nach wie vor wie Blei auf dem Ausbildungs-
pakt. Ohne statistische Tricks müsste Rot-Grün heute die
höchste Arbeitslosigkeit vorweisen, die seit der deut-
schen Wiedervereinigung in einem November gemessen
wurde. Zum zehnten Mal in Folge steigen die saisonbe-
reinigten Arbeitslosenzahlen. Seit Juni 2001 sind über
1,2 Millionen Jobs in Deutschland abgebaut worden.
Fast 80 000 Betriebe sind vom Markt verschwunden.
Hier zeigt sich die wahre Bedeutung der von Herrn
Schröder neu entdeckten Politik der ruhigen Hand, die
ich wie folgt skizzieren möchte: Es ist besser, nichts zu
tun, als mit viel Mühe nichts zu schaffen.
Erst auf Umwegen haben Sie zum Ausbildungspakt
gefunden. Es ist gut, dass er ansatzweise wirkt, dass sich
die rechnerische Ausbildungsplatzlücke seit September
dieses Jahres auf 17 500 halbiert hat und dass im neuen
Ausbildungsjahr 520 000 betriebliche Ausbildungs-
plätze geschaffen wurden. Das sind 22 556 mehr als im
Vorjahr, ein Plus von 4,5 Prozent. Ein Dank allen Unter-
nehmern, Ausbildern, Kammervertretern sowie Be-
triebs- und Personalräten, dass dies mit ihrem Einsatz
möglich war!
Wir haben zwar 23 000 Praktikumsplätze für Minder-
qualifizierte,
aber bundesweit nur 3 800 abgeschlossene Verträge.
– Vollkommen richtig, „wir haben“. Herr Tauss, der
liebe Gott hat Ihnen zwei Ohren und einen Mund gege-
ben und will Ihnen damit sagen: Zweimal hinhören und
einmal dazwischenrufen!
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Wenn Sie sehen wollen, welche Früchte Ihre Mentali-
ät trägt, dann sollten Sie beispielsweise die Berufs-
chule in Nürtingen besuchen, an der Jungsozialisten,
ozialdemokraten und Gewerkschafter auf Flugblättern
nd Käppis den Ausbildungsmarkt als „Sklavenmarkt“
ezeichnen und an der Ausbildungsbetriebe als „Skla-
enhalter“ diffamiert werden. Das ist sicherlich alles an-
ere als förderlich für die Ausbildungsmotivation. Ich
abe Ihnen eines der Käppis zur Ansicht mitgebracht,
ie von Ihren Parteikollegen derzeit an den Berufsschu-
en verteilt werden. Mit der Bezeichnung „Sklavenhal-
er“ werden alle Ausbildungsbetriebe in Deutschland
iffamiert.
Die Schattenseite des Ausbildungspaktes ist die Bun-
esregierung, die sich verpflichtet hat, die Finanzierung
er Ausbildungshilfen auf dem Niveau des Vorjahres zu
elassen. Die Arbeitsämter meldeten Ende November
ieses Jahres – im Gegensatz zu den Zahlen, die der Mi-
ister vorgetragen hat – bei den ausbildungsbegleitenden
aßnahmen ein Minus von 12,3 Prozent und bei den au-
erbetrieblichen Plätzen ein Minus von 4 Prozent. Sie
aben außerdem 80 000 Arbeitslose, die sich in Trai-
ingsmaßnahmen befinden, durch einen Federstrich aus
er Statistik entfernt.
Das Erreichen des Paktzieles, allen Jugendlichen ei-
en Ausbildungsplatz oder zumindest eine Qualifizie-
ung anzubieten, ist auch in diesem Jahr – zum sechsten
al in Folge – gefährdet. Der Pakt bedarf der Ergän-
ung, und zwar – sie ist längst überfällig – durch eine
odernisierung der Berufsausbildung und insbesondere
es Berufsausbildungsgesetzes.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13839
)
)
Uwe Schummer
Ein Beispiel: Es gibt 1,3 Millionen Schulabgänger bis
29 Jahre ohne eine berufliche Ausbildung – hierüber
führen wir zwar bislang gute Gespräche; diese mussten
aber vertagt werden, weil sich zuvor das Klima verbes-
sern soll – und 55 000 Auszubildende, die derzeit in ei-
ner zweijährigen Berufsausbildung oder in einer gestuf-
ten Ausbildung sind. Von den 360 Berufsbildern sind
aber nur 8 Prozent stufenweise organisiert. Gelänge es
uns, den Anteil der Stufenausbildung auf 30 oder 40 Pro-
zent aller Berufsbilder durch eine Novellierung des Be-
rufsausbildungsgesetzes zu erhöhen, hätten zusätzlich
50 000 Schulabgänger eine berufliche Perspektive und
wären nicht mehr in einer Warteschleife oder auf der
Straße.
Unsere Vorschläge zur Novellierung des Berufsausbil-
dungsgesetzes liegen Ihnen vor.
Ich wünsche Ihnen allen – es ist meine letzte Rede in
diesem Jahr – ein gesegnetes Weihnachtsfest und der
Bundesregierung im neuen Jahr die Einsicht: Es ist bes-
ser, mit der Opposition etwas zu machen, als mit ruhiger
Hand die Dinge weiter treiben zu lassen.
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Wend, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Be-
ginn möchte ich gerne versuchen, deutlich zu machen,
worüber wir heute streiten. Leider ist es so, dass einige
Zehntausend Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren bis
jetzt noch immer keinen Ausbildungsplatz gefunden ha-
ben. Was bedeutet das für die Jugendlichen? Ihnen wird
signalisiert, dass ihr Wissen, ihre Talente und ihre Fähig-
keiten in unserer Gesellschaft nicht gefordert sind. Es
gibt für junge Menschen nichts Schlimmeres, als in die-
ser Lebensphase ein solches Signal zu bekommen.
Deswegen ist es unser aller Aufgabe, alles zu tun, um
diesen Missstand zu beseitigen.
Jenseits aller inhaltlichen Differenzen bitte ich Sie,
folgende Punkte zur Kenntnis zu nehmen:
Erstens. Lassen Sie uns – das sage ich gerade an mei-
nen Vorredner gerichtet – ideologisch abrüsten! In Be-
zug auf die möglichen Ursachen dieses Problems, die
hier von links bis rechts in diesem Haus benannt wurden,
hat jeder ein Stück weit Recht. Man hat erst dann Un-
recht, wenn man meint, dass der von einem selbst ge-
nannte Punkt die einzige Ursache dieser Problematik ist.
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as heißt aber doch nicht, dass das die einzige Ursache
afür ist, warum es in unserem Land zu wenige Ausbil-
ungsplätze gibt. Man muss nach weiteren Ursachen su-
hen.
Zweitens. Die Union hat auf die fehlende Ausbil-
ungsfähigkeit vieler Jugendlicher hingewiesen. Diese
ehauptung ist zutreffend. Die Fertigkeiten im Hinblick
uf Rechtschreibung, Rechnen und Sonstiges mancher
ugendlicher sind schlichtweg nicht akzeptabel.
as Ganze wird dann problematisch, wenn der Eindruck
ntsteht, das sei der einzige Grund dafür, warum es zu
enige Ausbildungsplätze gebe.
as ist nicht der Fall. Dieser Grund ist einer von mehre-
en Gründen dieses Problems.
Drittens. Herr Niebel hat ausnahmsweise einmal
echt, wenn er sagt, dass die wirtschaftlichen Rahmen-
edingungen von Bedeutung sind. Wer leugnet denn,
ass sich ein mittelständisches oder ein kleines Unter-
ehmen, das sich fragen muss, wie es in den nächsten
onaten über die Runden kommt, zwangsläufig weniger
edanken über die Schaffung von Ausbildungsplätzen
acht? Das ist wahr. Aber auch das kann eben nicht der
inzige Grund für das Fehlen von Ausbildungsplätzen
ein. Wenn das der einzige Grund wäre, dann wäre es
erwunderlich, dass auch diejenigen Unternehmen, die
länzend verdienen, Ausbildungsplätze abbauen.
Damit will ich Folgendes sagen: Jeder von uns sollte
as, was er für die Ursache der Jugendarbeitslosigkeit
ält, nicht für die einzige Ursache halten; vielmehr sollte
an sämtliche Ursachen sehen. Inzwischen liegen die
rsachen dieser Probleme ja fast auf der Hand. Wenn
ns das gelingt, dann kommen wir weiter. Wir erkennen
ann, dass wir einen Pakt, eine noch bessere Bildungs-
olitik und verbesserte wirtschaftliche Rahmenbedin-
ungen brauchen. Wir dürfen das eine nicht gegen das
ndere ausspielen.
Bei einigen Ihrer Reden hat mich auch gestört, dass
mmer „Man müsste doch einmal …“ und „Die anderen
un doch nichts; Verdi, DGB, IG Metall bilden nicht aus;
an müsste doch dieses und jenes tun“ durchklang. Ich
rage Sie: Was tun Sie eigentlich persönlich, um die Si-
uation zu verändern? Sie können einiges tun!
Ich persönlich mache glänzende Erfahrungen damit,
ass ich seit Oktober 2004 eine 16-Jährige im Rahmen
13840 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Dr. Rainer Wend
des EQJ-Programmes im Wahlkreisbüro beschäftige. Es
handelt sich dabei um eine Hauptschülerin, die über
60 Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz verschickt
hat, ohne einen Ausbildungsplatz in diesem Land zu fin-
den. Ich glaube, wenn wir neben der Wirtschaft Ausbil-
dungs- oder Qualifizierungsmöglichkeiten zur Verfü-
gung stellen würden, dann wäre das eine Hilfe. Der
überwiegende Teil der Landesgruppen unserer Fraktion
macht das. Ich wiederhole: Nicht, man müsste sich fra-
gen, sondern wir alle können und müssen uns fragen,
was unsere Beiträge dazu sind, dass wir vorankommen.
Ein zweites Beispiel bezieht sich auf meinen Wahl-
kreis Bielefeld. Dort wurde der Verein „Wir werden aus-
bildungsfähig“ gegründet. Vorsitzender ist übrigens ein
FDP-Ratsherr, ein ehemaliger Geschäftsführer eines Un-
ternehmens, der die Zeit, die er nun hat, hervorragend
verwendet. Der Verein hat Paten angeworben. Das sind
Betriebsräte, ehemalige Unternehmer, pensionierte Rich-
ter. Diese ehrenamtlichen Paten begleiten junge Auszu-
bildende und Praktikanten, die Schwierigkeiten haben,
mit der Situation klarzukommen, die – um es deutlich zu
sagen – Schwierigkeiten haben, morgens pünktlich auf-
zustehen, oder die Schwierigkeiten in der Schule haben.
Dieser Verein begleitet also mit ehrenamtlichen Paten
diese jungen Menschen, um sie an die Ausbildungs-
fähigkeit heranzuführen und ihnen eine Chance für das
Leben zu geben.
Was ich – abschließend – damit meine: Wenn wir ideo-
logisch abrüsten, nicht mit dem Finger auf andere zei-
gen, sondern die Sache gemeinsam anpacken und opti-
mistisch in die Zukunft schauen, dann werden wir dieses
Problem wie übrigens auch viele andere Probleme in un-
serem Land lösen.
Nächster Redner ist der Kollege Bernward Müller,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidenten! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich ein bisschen
darüber gewundert, dass die SPD für heute eine Aktuelle
Stunde zu diesem Thema eingefordert hat. Sie wissen,
dass die Union andere Vorstellungen dazu hatte. Wir
wollten uns mit Ihnen über die prekäre Situation der
Rentenkassen unterhalten. Nach Ihren Redebeiträgen
und etwas Nachdenken ist mir klar geworden: Sie brau-
chen für Ihren Weihnachtsfrieden noch ein paar Zahlen,
die optimistisch stimmen. Die sind von meinen Vorred-
nern aus der SPD auch geliefert worden.
Sicher, das Thema ist wichtig.
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arüber, wie es mit der Aktualität aussieht, ließe sich
treiten.
Wenn wir dieser Aktuellen Stunde gerecht werden
ollen, dürfen wir uns nicht nur auf die Zahlen bezie-
en, die durchaus einen Erfolg zeigen, sondern wir müs-
en uns die Frage stellen: Wie ändern wir die Situation
ukünftig? Ich habe in der Debatte den Eindruck gewon-
en, als sei dieser Pakt, dieser Vertrag zwischen Wirt-
chaft und Politik, ein Dauerbrenner, als gäbe es gar
eine Lösungen für die Zukunft. Wir müssen aber doch
twas dafür tun – das ist entscheidend für die Politik –,
ass wir solche Pakte nicht mehr brauchen.
azu ist mir in der Debatte so viel noch nicht zu Ohren
ekommen, jedenfalls nicht von denen, die heute die
erantwortung tragen.
Es ist richtig – darin stimme ich Ihnen voll und ganz
u –: Eine Ausbildung ist besser als gar keine Ausbil-
ung. Aber es ist noch nichts zu den Fragen gesagt wor-
en: Wie ist es eigentlich mit dem Ausbildungsverlauf?
ie ist es mit der Motivation der Auszubildenden?
enn heute jemand eine Ausbildung in einem Betrieb
ermittelt bekommt, aber für den Betreffenden von
ornherein klar ist, dass eine Übernahme nach Ab-
chluss der Ausbildung nicht möglich ist, auch die
hance auf eine Beschäftigung nach der Ausbildung in
einer Region, ja vielleicht sogar in ganz Deutschland
icht besteht, dann ist doch zu fragen: Was ist angesichts
essen für eine Motivation zu erwarten?
Da müssen wir ansetzen. Wir müssen in der Politik
afür Sorge tragen, dass die Nachfrage nach Auszubil-
enden und die Nachfrage nach Arbeitskräften steigen.
as ist die Forderung, die Sie in Ihrer Wirtschaftspolitik
msetzen müssen. Daran fehlt es, seit Sie die Verantwor-
ung tragen. Das ist das wahre Dilemma.
Meinen Beitrag zur Lösung werde ich zum Schluss
ennen, wenn ich es nicht vergesse und noch die Zeit
azu habe.
Sie haben in Ihren Reden immer darauf hingewiesen,
ass gerade die mittelständischen Unternehmen die Trä-
er der Ausbildung sind. Zugleich haben Sie hier Ihre
usenfreunde, nämlich die großen Unternehmen, gegei-
elt. Das sind doch die, die nicht ausbilden und die Ar-
eitsplätze ins Ausland verlagern.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13841
)
)
Bernward Müller
Das haben Sie doch vorhin in Ihren Beiträgen gesagt.
Wenn Sie das ernst meinen, sollten Sie durch Ihre Politik
doch auch die unterstützen, die die Hauptlast der Ausbil-
dung in Deutschland tragen. Genau das vermisse ich
aber bei Ihrer Wirtschaftspolitik.
Sie geißeln den Mittelstand, erwarten aber, dass der Mit-
telstand Ihnen entgegenkommt und mehr ausbildet. Das
geht für mich nicht zusammen.
Die Doppelzüngigkeit, Herr Tauss, ist in den Reden
von Ihrer Seite doch deutlich geworden. Sie loben Ihre
Politik, Sie loben Ihre Regierung, aber beim Lob für die
Wirtschaft ist Ihnen doch schon die Spucke im Hals hän-
gen geblieben. Dieses haben Sie doch gar nicht mehr
über Ihre Lippen bringen können. Das ist doch das
wahre Problem.
Nun mein Tipp: Weihnachten ist die Zeit der guten
Wünsche.
Insgesamt sollte man sich etwas mehr Zeit nehmen. Ich
empfehle Ihnen: Lesen Sie unsere Anträge zur Entwick-
lung der Wirtschaft in Deutschland, die wir bereits vor-
gelegt haben. Ziehen Sie die richtigen Schlüsse. Ich
wünsche Ihnen ganz einfach, dass Sie dadurch die Ein-
sicht gewinnen, um die Dinge zu ändern, die Sie noch
ändern können.
Das Wort hat der Kollege Ernst Dieter Rossmann,
SPD-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Ich möchte die fünf Minuten, die einem in der
Aktuellen Stunde bleiben, dafür nutzen, das Augenmerk
des Hauses auf eine besondere Gruppe von Jugendlichen
zu richten, nämlich auf Jugendliche ausländischer Her-
kunft oder zugewanderte Jugendliche.
Die Versorgung mit Ausbildungsplätzen ist ja insge-
samt schlecht, aber in Bezug auf ausländische Jugendli-
che ist sie besonders schlecht. Jugendliche mit ausländi-
schem Pass machen zwar 10 Prozent der Jugendlichen
aus, besetzen aber nur 6 Prozent der Ausbildungsplätze.
Man kann es anders sagen: Die Ausbildungsquote junger
Menschen deutscher Herkunft liegt durchschnittlich bei
60 Prozent, zurzeit bei etwas über 50 Prozent, die Aus-
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eshalb halten wir es für richtig und erkennen es an,
ass beim Pakt für Ausbildung auch diese Frage aufge-
riffen wurde. Wir sind in dieser Frage auch noch einmal
adurch sensibilisiert worden, dass unser Wirtschaftsmi-
ister berichtet hat, dass die Zahl der Jugendlichen mit
igrationshintergrund bzw. ausländischer Herkunft
och zunehmen wird. Er hat Zahlen aus Nordrhein-
estfalen genannt, die deutlich machen, welch große
erantwortung wir hier tragen.
Ausgehend von dieser Analyse möchte ich drei
unkte ableiten:
Der erste Punkt ist, dass wir nicht erwarten dürfen,
ass ausländische Jugendliche bzw. solche mit Migra-
ionshintergrund vor allem in Betrieben ausgebildet wer-
en, die von ausländischen Unternehmern geführt wer-
en. Nichtsdestotrotz müssen wir uns darum bemühen,
ass die zunehmende Zahl ausländischer Unternehmer
afür gewonnen wird, sich in ihren Betrieben stärker für
usbildung zu engagieren. Dieses ist Bestandteil des
usbildungspaktes. Die Reserven, die hier vorhanden
ind, werden an folgendem Vergleich deutlich: Insge-
amt ist nur die Hälfte der Betriebe, die theoretisch aus-
ilden könnten, bereit, auch auszubilden. Bei Betrieben
edoch, die von ausländischen Unternehmern geführt
erden, liegt diese Quote deutlich niedriger. Hierfür gibt
s Gründe: die Vertrautheit mit dem dualen Berufsbil-
ungssystem in Deutschland, die Struktur in diesen Be-
rieben usw. Das darf uns aber nicht ruhen lassen. Des-
alb ist ein Beitrag, den wir gemeinsam leisten können,
ie Potenziale in diesen Betrieben zu mobilisieren, so-
ass in ihnen deutlich mehr ausgebildet wird. 50 000 von
nsgesamt 280 000 solcher Betriebe könnten aktiver
erden. Es ist gut, dass das im Ausbildungspakt vorge-
ehen ist. Es ist gut, dass die Regierung das mit dem Pro-
ekt KAUSA macht. Es ist auch gut, wenn wir alle in un-
eren Bereichen dafür antichambrieren, werben, Mut
achen und motivieren.
Der zweite Punkt: Kollege Niebel hatte angespro-
hen, dass sich durch die Betreuungsrelation von eins zu
5, die sich durch die Hartz-Reformen in den Arbeits-
genturen für Jugendliche ergeben wird, die große
hance besteht, zu einer ganz anderen Qualität des Be-
reuungsverhältnisses zu kommen. Das betrifft dann
13842 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Dr. Ernst Dieter Rossmann
tatsächlich auch sehr viele Jugendliche ausländischer
Herkunft, die keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz ha-
ben.
Ich möchte zu bedenken geben, ob es uns eigentlich
ruhen lassen kann, dass wir – so vermute ich nach mei-
nen Recherchen jedenfalls – mehr junge Polizisten aus-
ländischer Herkunft – aus guten Gründen – als qualifi-
zierte Menschen bei der BA oder bei den Kommunen
haben, die die jungen Leute mit ansprechen könnten.
Mein direkter Wunsch an die Regierung, auch zu diesem
Zeitpunkt, ist, einmal bei der Agentur nachzufragen, ob
man angesichts des Kooperationskorridors, der sich auf-
tut, nicht mehr Menschen gewinnen könnte, die speziell
diese Jugendlichen nicht unbedingt auf Türkisch anspre-
chen, aber mitnehmen, animieren können, dicht an ihnen
dranbleiben können, sogar bis in ihr familiäres Milieu
hinein. Es wäre gut, wenn wir das nicht nur in Bezug auf
junge Polizisten, sondern auch in Bezug auf junge Men-
schen, die in Arbeit gebracht werden sollen, in Erwä-
gung ziehen würden und die BA sich entsprechend orga-
nisierte.
Ich will einen anderen Gedanken dazu vortragen. Es
ist gut, dass es 1 500 ehrenamtliche Ausbildungsplatzak-
quisiteure gegeben hat. Meine Gespräche mit den Indus-
trie- und Handelskammern haben allerdings eher erge-
ben, dass durch sie nicht so viel bewegt wird, sondern
eher durch die Hauptamtlichen. Wie wäre es, wenn wir
in Deutschland 5 000 ehrenamtliche Ausbildungsbeglei-
ter für Jugendliche ausländischer Herkunft oder auch für
solche Personen, deren Migration möglicherweise etwas
länger zurückliegt, gewinnen könnten? Ich glaube, da
liegen ganz große Chancen.
Der Kollege Wend hat das Thema angesprochen, was
Sie und was wir selbst machen. Ich habe eine Ausbil-
dungspatenschaft für einen ausländischen Jugendlichen
in einem ausländischen Betrieb übernommen, der erst-
mals ausbildet; das war eine besondere Kombination.
Ich muss sagen, dass es kein leichter Zugang war. Ich
habe immens viel gelernt. Wenn wir das alle täten, wäre
das ein Integrationszeichen, das unserem Haus gut anste-
hen würde.
Der dritte Punkt bezieht sich auf den größeren Rah-
men. So friedlich, wie es bisher war, muss ich doch an
dieser Stelle eine Anmerkung zum Kollegen Lensing
machen, damit wir die Situation in anderen Ländern
möglichst ideologiefrei auf uns wirken lassen können.
Schweden und Deutschland haben, wie man bei einem
Vergleich feststellen kann, einen ziemlich gleichen Zu-
wanderungsanteil. Aber die Schweden haben einen ganz
anderen Integrationsanteil, auch was junge Menschen in
Ausbildung angeht. Wir holen das – mit dem Zuwande-
rungsgesetz und der Sprachenverpflichtung – erst nach
und nach auf. Im Bereich Bildung haben wir unseren
Rückstand noch nicht aufgeholt.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
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Das Wort hat die Kollegin Veronika Bellmann, CDU/
SU-Fraktion.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr ver-
hrte Frau Präsidentin! Herr Tauss, dass Sie des Öfteren
nqualifizierte Bemerkungen machen,
ind wir ja schon gewöhnt. Aber dass Sie sich jetzt auch
och mit fremden Federn schmücken, das ist mir neu.
ie Ausbildungsinitiative in Bezug auf die Büros der
undestagsabgeordneten kommt aus den Reihen der
DU/CSU, nämlich von unserem Kollegen Herrn von
tetten. Das wollte ich nur zur Klarstellung sagen.
Es gibt einen guten Spruch, Herr Tauss; er trifft zwar
icht ganz auf Sie zu, aber man kann ihn durchaus um-
ünzen: Hätten Sie geschwiegen, wären Sie wenigstens
in ehrlicher Gewerkschafter geblieben!
Nun zum Ausbildungspakt. Der Ausbildungspakt ist
ott sei Dank nicht gescheitert. Gescheitert ist wieder
inmal die rot-grüne Wirtschaftspolitik, weil Sie viel lie-
er die Ausbildungsplatzumlage installiert hätten. Was
iese Bundesregierung zu bieten hat, sind zusätzliche
bgaben, ein bürokratisches Monstrum und immense
osten, die sie der Allgemeinheit aufhalst. Jeder weiß,
ass Wirtschaftspolitik zu einem großen Teil Psycholo-
ie ist. Wer sein Ziel mit Drohungen zu erreichen glaubt,
ird allenfalls kurzfristig Erfolg erzielen. Mittelfristig
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13843
)
)
Veronika Bellmann
aber braucht die Wirtschaft Verlässlichkeit, Vertrauen
und Kontinuität. Dann investieren auch die Unterneh-
men wieder in die Zukunft und in den Fachkräftenach-
wuchs.
Worin liegen nun die Probleme im Ausbildungs-
markt? Wir haben sie hier schon öfter aufgezählt: die
schwierige wirtschaftliche Lage, der nachhaltige Be-
schäftigungsabbau, die ungebremste Entwicklung bei
den Firmenpleiten, hohe Ausbildungskosten, aber auch
mangelnde Ausbildungsreife. All das liegt mittelbar in
der Verantwortung der Bundesregierung.
Der Ausbildungspakt lindert diese Schmerzen, aber er
beseitigt sie nicht. Probleme müssen durch wirtschafts-,
sozial- und schulpolitische Reformen gelöst werden.
Die CDU/CSU hat umfangreiche Initiativen vorge-
legt. Was setzt Rot-Grün dagegen? Das Damokles-
schwert der Ausbildungsabgabe – sie wurde von Ihnen
heute öfter erwähnt – schwebt immer noch über uns. Al-
lein die Ankündigung einer Ausbildungsabgabe hat seit
dem letzten Sommer die Ausbildungsbereitschaft ge-
dämpft. Schauen wir uns einmal beispielsweise die hoch
innovativen Unternehmen an. Diese Unternehmen haben
eins und eins zusammengezählt und sind zu dem Ergeb-
nis gekommen, dass eine Ausbildung mehr kostet als
eine Ausbildungsabgabe. Außerdem können sie den
Fachkräftemangel zur Not dadurch beheben, dass sie
Fachkräfte mit einer Greencard einstellen. Diese Unter-
nehmen müssen also nicht unbedingt ausbilden. So
schafft man keine Zukunftsperspektiven.
Die Zukunft der Landeskinder sieht eher trübe aus.
Nehmen wir einmal nur die Kompetenzchecks. Sie sind
eigentlich ein gutes Instrument, um die Ausbildungsfä-
higkeit der jungen Leute zu bewerten. Das Ergebnis ist,
dass nur 40 Prozent der Jugendlichen ausbildungsfähig
sind. Angesichts der Tatsache, dass der Rest aus der Sta-
tistik herausfällt, muss ich dem Bildungsexperten des
DGB, Volker Scharlowsky, leider zustimmen, der davon
spricht, dass die Kompetenzchecks nur ein Selektions-
mittel sind, um Jugendliche aus der Statistik zu strei-
chen.
Gleiches gilt für die Nachvermittlung. Kommen Ju-
gendliche trotz Nachfrage einer entsprechenden Einla-
dung nicht nach, dürfen ihre Namen aus der Statistik ge-
strichen werden. Aber damit ist den Jugendlichen nicht
geholfen. Das Ergebnis ist nur, dass sie in keiner Statis-
tik mehr auftauchen.
Ein weiteres Problem ist die Warteschleife. Dieses
Problem hat der Bundesminister dankenswerterweise an-
gesprochen. Wir schieben eine Bugwelle von ungefähr
200 000 nicht ausbildungsfähigen bzw. nicht vermittel-
baren Jugendlichen vor uns her.
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Ich wiederhole: Wenn die Lehrstellenlücke nicht zu
chließen ist, dann liegt das nicht an der fehlenden Moti-
ation der Unternehmen oder an dem Ausbildungspakt.
s ist geradezu eine Verhöhnung der Leistungen insbe-
ondere von kleinen und mittelständischen Unternehmen
nd von Handwerksbetrieben, wenn man sie mit Dro-
ungen unter Druck setzt. Sie von Rot-Grün haben Ihren
irtschaftspolitischen Laden nicht im Griff. Ich fordere
ie auf: Machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben!
Der Kanzler hätte kürzlich in China nicht nur deut-
che Markenautos präsentieren sollen. Er hätte sich auch
inmal mit chinesischen Weisheiten beschäftigen sollen.
ine davon lautet: Bevor du dich auf den Weg machst,
ie Welt zu verändern, gehe erst dreimal durch dein eige-
es Haus.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Werner Bertl von
er SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Diese
iskussion – das ist typisch für Deutschland – bewegt
ich zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode be-
rübt. Die Opposition staunt, dass – entgegen ihren Pro-
nosen – der Ausbildungspakt funktioniert.
13844 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Hans-Werner Bertl
Zumindest Herr Lensing lobt den Minister. Die Wirt-
schaft und die Regierung feiern – vielleicht etwas zu
früh – und die Gewerkschaften sagen ein Scheitern vo-
raus.
Ich möchte einmal an die Tatsachen erinnern. Wir ha-
ben am 7. Mai im Bundestag über die Umlagefinanzie-
rung und über die Chancen für einen konzertierten Aus-
bildungspakt diskutiert.
Wir haben dann etwas für mich Einmaliges in dieser
Republik erfahren. Dabei müssen wir uns verdeutlichen:
Es geht hier um die Lebenschancen junger Menschen.
Nach dieser Diskussion haben sich am 16. Juni dieses
Jahres im Rahmen einer Sondervollversammlung des
Deutschen Industrie- und Handelskammertages die Prä-
sidenten mit dem Wirtschaftsminister zusammengefun-
den und Unterschriften unter diesen Ausbildungspakt
geleistet.
Wir haben dann am 17. Juni im Bundestag über den
Wert von Selbstverpflichtungen der deutschen Wirt-
schaft diskutiert. Wir haben darüber sehr kritisch disku-
tiert. Ich will Ihnen sagen, warum dieses Umlagegesetz
für uns keine Drohung war. Ich habe es damals sinnge-
mäß als eine Notwehrmaßnahme zugunsten der Lebens-
chancen junger Menschen bezeichnet.
– Ich glaube nicht, dass das damals falsch war. Wir ha-
ben immer gesagt: Wir wollen keine Drohung, sondern
Kooperation.
Wir haben in den letzten 20 Jahren in Deutschland
mit einer Tatsache leben müssen: Die Ausbildung wurde
im Dezember 1980 auf ausdrücklichen Wunsch der deut-
schen Wirtschaft vom Bundesverfassungsgericht mit Ur-
teilsspruch in die Verantwortung der deutschen Wirt-
schaft übertragen. Dieser Urteilsspruch hat nie einen
Bezug zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gehabt.
Das heißt, wir müssen uns als Parlament und auch als
Gesellschaft darüber im Klaren sein: Wenn wir das
Schicksal junger Menschen in ihrer betrieblichen Aus-
bildung in die Verantwortung der Wirtschaft legen, wenn
wir das duale System wollen, dann müssen wir die von-
seiten der Wirtschaft eingegangene Verpflichtung auch
einfordern. Dabei können nicht Ausbildungsvergütungen
die entscheidende Rolle spielen
und da kann nicht die derzeitige, möglicherweise zu-
künftige oder vergangene wirtschaftliche Situation ent-
scheidend sein. Hier ist vielmehr eine Verpflichtung
wahrzunehmen. Ich glaube, das ist das Entscheidende.
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ie Wirklichkeit ist doch: Wir können noch nicht zufrie-
en sein. Es gibt in Deutschland eine deutliche Zunahme
er Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze. In der
irtschaft ist ein Plus von 6,7 Prozent und im Handwerk
in Plus von 3 Prozent zu verzeichnen.
Dabei zeigt sich – dies müsste Sie nachdenklich ma-
hen – eine Entwicklung gegen den bisherigen Trend.
ir hatten bisher immer nur dann einen Anstieg der
ahl der Ausbildungsplätze im Bereich der Wirtschaft,
es Handwerks und des Handels, wenn zu erwarten war,
ass die Wirtschaft spürbar wächst. Wir haben das im-
er kritisiert und haben gesagt: Das kann nicht das Kri-
erium sein. Jetzt gibt es zum ersten Mal – auch unter
en derzeitigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen –
usätzliche betriebliche Ausbildungsplätze. Das zeigt
eutlich, dass auch die Wirtschaft begriffen hat: Bis zum
ahr 2007 wird es noch einen dramatischen Anstieg der
ahl der jungen Menschen geben, die die Schulen ver-
assen. Dann wird es knapp.
Wir alle sollten uns vor Augen führen, wie lange eine
usbildung dauert – drei bis dreieinhalb Jahre – und wie
iele Jahre Berufserfahrung junge Menschen sammeln
üssen, um in dem System einer komplexen und kom-
lizierten Wirtschaftswelt als Arbeitnehmer zur Verfü-
ung zu stehen. Nicht nur bei uns, sondern auch im Be-
eich der Wirtschaft müssten die Alarmglocken
chrillen; denn man sollte deutlich sehen, wie schnell der
achkräftemangel kommen wird. Das heißt, ab dem Jahr
007 werden wir hier im Deutschen Bundestag mögli-
herweise ganz andere Diskussionen führen, Diskussio-
en, die ich übrigens schon in den 70er-Jahren erlebt
abe. Da hat dann der Staat die Ausbildung von Fachar-
eitern, die die Wirtschaft dringend gebraucht hat, damit
berhaupt noch Wachstum möglich war, übernehmen
nd finanzieren müssen.
Mein Dank geht an diejenigen, die sich am 16. Juni
ieses Jahres hier in Berlin getroffen und diesen Ausbil-
ungspakt unterzeichnet haben;
enn er zeigt tatsächlich Wirkung. Dieser Dank ist in
ichtung Politik und in Richtung Wirtschaft und Hand-
erk angebracht. Da ist eine grandiose Leistung erbracht
orden.
Mein Appell ist, deutlich zu machen und festzustel-
en: Dies reicht zurzeit nicht aus. Wir brauchen mehr
usbildungsstellen. Wir brauchen übrigens keine Dis-
ussion darüber, ob die jungen Menschen Schuld an ih-
em möglichen Versagen haben. Ausbildung beinhaltet
mmer auch einen pädagogischen Auftrag an diejenigen,
ie ausbilden. Das heißt, hier ist auch eine pädagogische
eistung zu erbringen. Das relativiert die Diskussion
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13845
)
)
Hans-Werner Bertl
über die Frage, wer ausbildungsfähig ist oder nicht, et-
was. Ich glaube, wir sollten mit dieser These nicht leicht-
fertig umgehen und nicht vorschnell einen großen Teil
der jungen Menschen als nicht mehr ausbildungsfähig
deklarieren.
Ich halte das für eine ganz wichtige Sache.
Mein Appell ist also: Wir können mit dem bisherigen
Ergebnis des Ausbildungspaktes nicht zufrieden sein.
Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Ich bitte alle, wei-
terzumachen und mehr Ausbildungsstellen für diejeni-
gen zur Verfügung zu stellen, die wir wenige Jahre spä-
ter in die Solidarität für die Generationen in unserem
Land holen müssen.
Danke schön.
Ich erteile das Wort der Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
Monaten haben sich SPD und Grüne für einen freiwilli-
gen Ausbildungspakt entschieden und dafür auf eine ver-
bindliche Ausbildungsumlage verzichtet. Die PDS im
Bundestag hielt das für falsch. Ich werde auch heute
Wasser in den Freudenwein gießen müssen.
Dabei spreche ich der Regierung und den Unterneh-
merverbänden gar nicht ab, dass sie sich bemüht haben.
Ich selbst habe mich in Berlin auf Ausbildungsmessen,
auf der Nachvermittlungsbörse und ähnlichen Veranstal-
tungen informiert und gesehen, wie versucht wurde, die
Lehrstellenmisere zu mildern. Aber die Misere ist nicht
gelöst. Die Schere zwischen Jugendlichen, die einen
Ausbildungsplatz suchen, und Ausbildungsplätzen klafft
nach wie vor weit auseinander. Noch schlimmer ist: Das
betrifft viele Jugendliche, denen der Start ins Berufsle-
ben schon über mehrere Jahre verbaut bleibt.
Sie kennen die Meinung der PDS. Wir streiten seit
langem für eine Ausbildungsumlage.
Wir wollen dadurch die Betriebe entlasten, die ausbil-
den, obwohl es ihnen schwer fällt, und jene Konzerne
zur Kasse bitten, die nicht ausbilden, obwohl sie es sehr
wohl könnten. Denn es ist seit Jahren Brauch, dass Groß-
konzerne immer weniger ausbilden und dass die betrieb-
liche Ausbildung vor allem von kleinen Unternehmen
gemeistert wird. Diese ungerechte Schieflage hat Ihr
Ausbildungspakt nicht beseitigt. Sie begünstigen wieder
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Aber auch die nackten Zahlen sprechen nicht für den
usbildungspakt. IG-Metall-Chef Peters hat es so be-
chrieben: Die Unternehmen hätten zwar formal ihre Zu-
age eingehalten, aber die Entwicklung laufe ihnen da-
on. Die Zahl der Bewerber übersteigt erneut die Zahl
usätzlicher Ausbildungsverträge. Der DGB in Berlin-
randenburg hat noch schärfer nachgerechnet. Demnach
ank das Ausbildungsangebot über alle Kammern hin-
eg. Der DGB spricht vom schlechtesten Vermittlungs-
ahr seit 1992.
Das lässt sich mit weiteren Zahlen und Vergleichen
elegen. Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung
nd Jugendberufshilfe hat zum Stichtag 30. September
das war der von Rot-Grün selbst gewählte Stichtag –
erechnet. Das Ergebnis: Im Vergleich zu 1999 war das
ehrstellenangebot in allen Bundesländern rückläufig.
n den neuen Bundesländern werden in diesem Jahr so-
ar fast 17 Prozent weniger Ausbildungsverträge ge-
chlossen als vor fünf Jahren.
Das nennt der Bundeswirtschaftsminister eine Er-
olgsstory. Er will den Pakt nun erst einmal drei Jahre
irken lassen. Die PDS hat andere Maßstäbe. Das mag
uch daran liegen, dass wir häufiger mit Jugendlichen zu
un haben, die sich abgehängt fühlen und daher mit der
rfolgspropaganda zum Ausbildungspakt nichts anfan-
en können. Wenn Rot-Grün wirklich eine Bildungsof-
ensive will, dann sollten sie nicht länger den Paktweg
eschreiten. Er ist aus unserer Sicht eine Sackgasse.
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentari-
che Staatssekretär Ulrich Kasparick das Wort.
U
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren!
usbildungsplätze für junge Leute zu schaffen gehört zu
en wichtigsten Aufgaben, die Politik und Gesellschaft
iteinander haben. Man hat dafür unterschiedliche In-
trumente. Eines der wichtigsten neuen Instrumente, die
ir miteinander versuchen, ist ein Bündnis zwischen al-
en gesellschaftlichen Kräften. Denn es kann nicht nur
ufgabe der Politik sein, sich um Ausbildungsplätze zu
ümmern. Wir merken, dass die Wirtschaft alleine es of-
ensichtlich nicht schafft. Wir müssen uns zusammentun.
as ist der Ansatz des Ausbildungspaktes.
Sie wissen: Der Ausbildungspakt ist auf drei Jahre an-
elegt. Heute ist Gelegenheit, eine Zwischenbilanz für
as erste halbe Jahr zu ziehen. Wir sehen, dass das In-
trument greift. Das ist gut für die jungen Leute. Das ist
in wichtiger Impuls für die gesamte Gesellschaft.
13846 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
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Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick
Allmählich spricht sich herum, dass wir in Deutschland
Reformbedarf haben und dass man das Lösen der Aufga-
ben nicht nur den jeweils anderen zuweisen kann, son-
dern dass man es gemeinsam tun muss. Wirtschaft, Ver-
bände, Kammern und Politik müssen das gemeinsam
anpacken. Der Ausbildungspakt ist in meinen Augen
übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass sich Koopera-
tionen zwischen Bund, Ländern und Wirtschaft lohnen.
Ich bin mir nicht sicher, dass es schon auf allen Feldern
der beruflichen Bildung gelungen ist, den Kooperations-
gedanken in dem Maße aufzugreifen, wie er in diesem
Pakt deutlich geworden ist.
Bundesminister Clement hat die Zahlen genannt. In
diesem Zusammenhang ist Frau Ministerin Bulmahn von
zwei Abgeordneten angesprochen worden. Herr
Schummer hat beklagt, dass sie heute nicht anwesend ist.
Deswegen sage ich zu Ihrer Information: Zurzeit findet
im Bundeskanzleramt eine Konferenz mit den Minister-
präsidenten der Länder statt. Dabei geht es um die Frage,
wie die Aufgaben zwischen Bund und Ländern neu ver-
teilt werden. Dabei spielt das Thema Bildung eine ganz
zentrale Rolle. Deswegen ist Frau Bundesministerin
Bulmahn an diesem Gespräch beteiligt.
Herr Werner Lensing hat gesagt, dass sich zwar das
Bundeswirtschaftsministerium, was den Pakt betrifft,
engagiert habe. Aber er hat bemängelt, dass das, was
vonseiten des Bundesforschungsministeriums geleistet
wurde, unzureichend sei. Deswegen erlaube ich mir, Ih-
nen ein paar Zahlen vorzutragen. Wir haben in der Zu-
ständigkeit des Bundesbildungsministeriums die Mittel
für das STARegio-Programm von 25 Millionen Euro auf
37 Millionen Euro erhöht.
Worum geht es bei STARegio? Es geht darum, regio-
nale Ausbildungsbündnisse zu stärken. Wir kommen
nämlich mit den betrieblichen und überbetrieblichen
Ausbildungsplätzen nur voran, wenn wir mit den Akteu-
ren vor Ort kooperieren. Wir müssen auf diesem Feld
besser werden. Dafür hat der Bund ein Extraprogramm,
das sehr erfolgreich läuft, aufgelegt. Wer sich mit den
Akteuren zusammensetzt – kürzlich haben wir dazu eine
bundesweite Konferenz in Berlin durchgeführt –, der
kann sich kundig machen, dass dies ein sehr hilfreicher
Ansatz ist, der aus dem Haushalt des BMBF finanziert
wird.
Im Haushalt des BMBF haben wir die Mittel für das
Ausbildungsplatzprogramm Ost nochmals auf insgesamt
95 Millionen Euro erhöht, um 14 000 Ausbildungsplätze
zur Verfügung zu stellen.
Wer sich ein wenig in Ostdeutschland auskennt – ich
weiß, dass das beim Kollegen Lensing, der Ostdeutsch-
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aher wundert es mich sehr, wieso ein so „reiches“ Bun-
esland wie Sachsen-Anhalt vom Bundesprogramm
Schule – Wirtschaft/Arbeitsleben“ nach wie vor keinen
ebrauch macht.
avon bin ich sehr überrascht. Offensichtlich muss man
ufgrund der dortigen wirtschaftlichen Situation eine
olche Bundeshilfe nicht in Anspruch nehmen.
Wir brauchen neue Förderstrukturen, unterschiedliche
instiegswege und eine stufenweise Qualifizierung. Wir
üssen den vielen hunderttausend Jugendlichen, die im
isherigen Bildungssystem durch das Raster fallen, eine
hance geben. Damit wollen wir auf dem nächsten Tref-
en zum Ausbildungspakt am 15. Februar 2005 begin-
en. Dann wird auch die Vermittlungsrunde für das
ächste Ausbildungsjahr beginnen. Minister Clement hat
as angekündigt. Wir wollen noch früher als in diesem
ahr starten. Wir müssen in unserem System noch mehr
nstrengungen unternehmen, weil wir mit den Ergebnis-
en, die uns vorgelegt wurden, noch nicht zufrieden sind.
n diesem Zusammenhang hat Herr Schummer, wenn ich
einen Beitrag richtig verfolgt habe, am Ende seiner
ede ein deutliches Gesprächsangebot gemacht. Dafür
ind wir ausgesprochen dankbar, weil nicht zuletzt der
akt selbst zeigt: Kooperationen lohnen sich.
Ich danke Ihnen.
Letzter Redner dieser Aktuellen Stunde ist der Kol-
ege Willi Brase, SPD-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13847
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man hört in diesen
Debatten immer wieder die gleichen Vorwürfe, was die
Bundesregierung angeblich oder tatsächlich falsch ge-
macht hat, unter anderem, wir würden die Rahmenbedin-
gungen nicht richtig setzen. Ich kann darauf eigentlich
nur mit zwei Zahlen antworten: 15 Prozent Eingangs-
steuersatz, 42 Prozent Spitzensteuersatz. Sie haben jah-
relang davon geträumt und das bis heute nicht erreicht.
Wir haben immer wieder über die Ausbildungsvergü-
tungen diskutiert. Wenn wir uns diese in den jeweiligen
Berufsbildungsberichten genau anschauen, müssen wir,
glaube ich, zugeben, dass sich manches relativiert: In
den alten Ländern haben 58 Prozent der Auszubildenden
Vergütungen zwischen 500 und 700 Euro im Monat. We-
niger als 500 Euro erhielten 15 Prozent der Auszubilden-
den; Vergütungen von 400 Euro und darunter waren da-
bei eher die Ausnahme. In den neuen Ländern hatten
6 Prozent der Auszubildenden mehr als 700 Euro, 46 Pro-
zent hatten Vergütungen zwischen 300 und 500 Euro;
um nur einige Zahlen zu nennen.
Wir erleben in der Debatte nicht zum ersten Mal, dass
gesagt wird: „Wir müssen die Ausbildungsvergütungen
kürzen.“ Gleichzeitig sagt die FDP: „Lasst uns jeden
Ausbildungsplatz mit bis zu 400 Euro staatlicher Knete
unterstützen.“
Wie das zusammenpassen soll, ist mir nicht erklärlich.
Ich halte es für falsch. Die jungen Leute, die sich in der
Ausbildung befinden, sind heute im Durchschnitt über
19 Jahre alt und wohnen teilweise allein. Wie können
wir da sagen: „Wir kürzen die Ausbildungsvergütung
und geben den Unternehmen für Ausbildungsplätze zu-
sätzlich Geld“?
Das ist der absolut falsche Weg. Den werden wir nicht
mitgehen.
Es ist ja für einige Mode geworden, Gewerkschaften
und gewerkschaftliche Funktionsträger zu kritisieren.
Deswegen will ich heute ausdrücklich sagen, dass wir
das derzeitige Angebot an Ausbildungsplätzen nur des-
halb haben – das weiß ich aus meiner Praxis im örtlichen
Berufsbildungsausschuss –, weil Betriebsräte, Vertrau-
ensleute und Personalräte gemeinsam mit uns in ihren
Unternehmen vor Ort ganz konkret dafür sorgen, dass
zusätzliche und mehr Ausbildungsplätze geschaffen
werden.
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Das machen wir selber auch, Herr Niebel; beruhigen
ie sich!
Ich will etwas zur Ausbildungsbereitschaft der Unter-
ehmen sagen und beziehe mich dabei auf den Berufs-
ildungsbericht. In den alten Bundesländern bilden
2,7 Prozent aller Unternehmen mit einem bis neun
eschäftigten aus, in den neuen Bundesländern sind es
7,4 Prozent. Von den Unternehmen mit zehn bis 49 Be-
chäftigten sind es 50,1 Prozent bzw. 50,2 Prozent. Der
nteil bei Unternehmen mit 50 bis 499 Beschäftigten
iegt bei 74 Prozent bzw. 70,4 Prozent. Von den Unter-
ehmen mit über 500 Beschäftigten sind es 91,6 Prozent
zw. 92,6 Prozent. Das heißt, wir haben hier noch jede
enge Reserven.
enn man sich anschaut, wie viele Betriebe wir haben,
ie ausbildungsfähig sind, aber nicht ausbilden, dann
uss man doch den Ansatz der Kooperation, den Uli
asparick hier dargestellt hat, als richtig erkennen. Hier
üssen und hier wollen und hier werden wir mehr tun,
m die Betriebe, die ausbilden könnten, tatsächlich zur
usbildung heranzuziehen.
Die Bundesregierung hat dieses durch das STARegio-
rogramm unterstützt. Wir Koalitionsfraktionen haben
ie Mittel für dieses Programm noch einmal erhöht, weil
ir dauerhafte Strukturen wollen, weil wir auch kleine
nternehmen dazu bringen wollen, auszubilden. Dafür
st dieses Programm eines der erfolgreichsten, das in die-
er Republik je umgesetzt wurde.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
ollegen, ich stimme all denjenigen zu, die sagen: „Wir
üssen zukünftig noch mehr machen.“ Ich glaube, wir
erden gar nicht umhinkommen, dieses miteinander zu
iskutieren und auf den Weg zu bringen. In wenigen Ta-
en werden alle Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren
inen Anspruch auf eine Beschäftigung, eine Arbeitsge-
egenheit oder einen Ausbildungsplatz haben. Der Wirt-
chaftsminister hat von knapp 500 000 arbeitslosen Ju-
endlichen unter 25 Jahren gesprochen. Hier stellt sich
ine gewaltige Aufgabe, die wir nicht allein durch öf-
entlich finanzierte Aktivitäten erfolgreich werden be-
ältigen können. Ebenso brauchen wir mehr ausbil-
ungswillige Betriebe. Deshalb werden wir auch im
ächsten und übernächsten Jahr das STARegio-Pro-
ramm und andere Maßnahmen fortsetzen. Nur so wird
ür die jungen Leute ein ausreichendes Angebot an be-
rieblichen Ausbildungsplätzen gewährleistet werden
önnen.
13848 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Willi Brase
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich hätte
zum Schluss gern den Sachverständigenrat zitiert, der in
seinem Gutachten, das uns seit wenigen Wochen vor-
liegt, eindeutig darauf hingewiesen hat – –
Herr Kollege, Sie hätten ihn gern zitiert.
Ich hätte gern, Frau Präsidentin, ja.
Die Zeit lässt es nicht mehr zu.
Ich komme zum Schluss. Der Sachverständigenrat hat
Recht: Es rächt sich für die Unternehmen, wenn sie nicht
rechtzeitig ausbilden. Deshalb werden wir in wenigen
Jahren in diesem Hause anders diskutieren. Wir Sozial-
demokraten werden unseren Kurs fortsetzen.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a) bis 5 d) sowie
Zusatzpunkt 6 auf:
5 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Jörg Tauss, Rainer Arnold, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Grietje
Bettin, Volker Beck , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Aufbruch in den Nanokosmos – Chancen
nutzen, Risiken abschätzen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Axel E.
Fischer , Katherina Reiche,
Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Nanotechnologische Forschung und Anwen-
dungen in Deutschland stärken
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
der FDP
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Perspektiven schaffen für das Jahr der
Technik 2004
– zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Jahr der Technik zur Stärkung der For-
schungslandschaft und des Innovationskli-
mas in Deutschland nutzen
– Drucksachen 15/2161, 15/2594, 15/3692 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Katherina Reiche
Hans-Josef Fell
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Helmut Heiderich, Dr. Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Weiterentwicklung einer Biotechnologiestra-
tegie für den Forschungs- und Wirtschafts-
standort Deutschland
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Helmut Heiderich, Thomas Rachel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Biotechnologie als Schlüsseltechnologie stär-
ken
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13849
)
)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Mitteilung der Kommission an das Europäi-
sche Parlament, den Rat und den Europäi-
schen Wirtschafts- und Sozialausschuss:
Biowissenschaften und Biotechnologie – eine
Strategie für Europa – Fortschrittsbericht
und künftige Ausrichtung
KOM 96 endg.; Ratsdok. 7473/03
– Drucksachen 15/423, 15/2160, 15/858 Nr. 2.9,
15/3893 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
René Röspel
Katherina Reiche
Hans-Josef Fell
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut
Heiderich, Peter H. Carstensen ,
Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Grundlegende Überarbeitung des Gesetzes zur
Neuordnung des Gentechnikrechts
– Drucksache 15/4143 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Scheer, Rolf Hempelmann, Dr. Axel
Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell,
Michaele Hustedt, Volker Beck , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Nationales Energieforschungsprogramm vor-
legen
– Drucksache 15/4514 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Ulla Burchardt, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! „Wissenschaft live“ kommt an: Weit mehr als
1 Million Menschen haben an dem überaus gelungenen
Jahr der Technik 2004 teilgenommen; sie haben sich fas-
zinieren lassen und selber experimentiert. Dies zeigt
zweierlei: Erstens ist der Weg der Bundesregierung, des
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ie vorliegenden Anträge der Opposition sind nicht auf
er Höhe der Zeit und werden den Notwendigkeiten ei-
er umfassenden, auf Innovationen ausgerichteten For-
chungs- und Technologiepolitik nicht gerecht.
Im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren
er Opposition, ist Forschungspolitik für uns nicht das
ynonym für Wirtschaftsförderung und Subventionen.
nser Ansatz heißt: Technik- und Innovationsförderung
us Steuermitteln muss Nutzen für den Einzelnen wie für
ie Gesellschaft als Ganze stiften. Technischer Fort-
chritt muss den Menschen dienen und zu mehr Lebens-
ualität, besseren Arbeitsbedingungen und einer intakten
mwelt beitragen. Solche Innovationen sind die Basis
ür mehr Wachstum und Beschäftigung.
Deswegen macht es Sinn, sich frühzeitig mit den
hancen, den Anwendungspotenzialen und den uner-
ünschten Nebenfolgen von Technikentwicklung zu be-
assen. Ein Beispiel dafür ist der vorliegende Bericht des
üros für Technikfolgenabschätzung, der eine umfas-
ende Bestandsaufnahme dessen enthält, was Nanotech-
ologie ist, kann und – im Guten wie im Schlechten –
öglich machen könnte. Der Forschungsausschuss hat
iesen Bericht in Auftrag gegeben, der uns wichtige
mpfehlungen für eine Strategie der Förderung der Na-
otechnologie gibt. In unserem Antrag haben wir im Ge-
ensatz zur Opposition diese Empfehlungen aufgegrif-
en.
Alle Experten sind sich einig: Die Nanotechnologie
ird die nächste technische Revolution bringen. Ihr Po-
enzial für Wachstum und Beschäftigung ist immens. Die
anotechnologie birgt ein riesiges Innovationspotenzial
ür mehr Lebensqualität. So scheint die ökologische Ef-
izienzrevolution zum Greifen nah: durch radikale Ver-
esserungen bei der Katalysatorenentwicklung, bei der
rennstoffzellentechnologie oder bei der Solartechnik.
hnlich faszinierende Möglichkeiten tun sich im Hin-
lick auf die Gesundheitsfürsorge auf, zum Beispiel bei
er Bekämpfung von Krebs.
Genau, ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir das Stich-
ort „etwas tun“ zugerufen haben. Rot-Grün redet nicht
ur über Chancen der Nanotechnologie.
13850 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Ulla Burchardt
Vielmehr fördern wir sie massiv und sind deshalb auch
international an der Spitze.
Seit 1998 haben wir die Mittel für die Projektförderung
mehr als vervierfacht. Die öffentliche Förderung in
Deutschland ist mit 300 Millionen Euro fast so hoch wie
in allen anderen EU-Staaten zusammen. Gemessen am
Bruttoinlandsprodukt – ich habe schon einmal etwas zu
den seriösen Vergleichsmaßstäben gesagt – ist sie in
Deutschland sogar höher als in den USA. – So viel zur
Antwort auf Ihre Frage, was wir an dieser Stelle tun.
Damit haben wir 1998 begonnen. Mit dem neuen
Rahmenkonzept des Forschungsministeriums, das wir in
der ersten Debatte zu diesem Thema ausführlicher erläu-
tert haben, werden, basierend auf der exzellenten Grund-
lagenforschung, innovative Anwendungen in aller Breite
gefördert und damit die Potenziale für neue Lösungen
sowie für mehr Wachstum und Beschäftigung erschlos-
sen. Das ist der richtige Weg.
Darüber hinaus – nun komme ich auf unseren Antrag
zu sprechen – gibt es einige Punkte, die wir im Hinblick
auf die Weiterentwicklung einer Förderkonzeption für
wesentlich halten, die mehr Bereiche als nur das BMBF
und den Bund betreffen; ich kann jetzt aufgrund der Zeit
nur drei stichwortartig herausgreifen. Erster Punkt: Bil-
dung. Die Innovationspotenziale der Nanotechnologie
können nur dann realisiert werden, wenn es genügend
gut ausgebildete Menschen gibt, die dieses neue Wissen
auch anwenden können. Deswegen ist eine gemeinsame
Nanostrategie, eine gemeinsame Nanobildungsinitiative
von Bund und Ländern absolut notwendig. Daran zeigt
sich, wie wichtig es für den Standort ist, dass es in Bezug
auf Bildung auch weiterhin eine gemeinsame Planung
von Bund und Ländern gibt. Wir laden Sie herzlich
ein: Kämpfen Sie in den letzten Stunden, bevor in der
Föderalismuskommission Entscheidungen fallen, zu-
sammen mit uns darum, dass diese gemeinsame Bil-
dungsplanung von Bund und Ländern auch weiterhin
möglich ist.
Zweiter Punkt: Begleitforschung. Wie jeder techni-
sche Fortschritt ist auch der nanotechnologische Fort-
schritt janusköpfig. So weiß zum Beispiel heute noch
niemand ganz genau, wie freigesetzte Nanopartikel auf
Mensch und Umwelt wirken. Nach Expertenmeinung
mehren sich die Anzeichen für ähnlich gesundheits-
schädigende Wirkungen wie bei Asbestfasern. Wer die
traurige Geschichte der Auswirkungen von Asbest noch
in Erinnerung hat, weiß, dass uns gerade dies ein war-
nendes Beispiel sein sollte. Tausendfaches Leid wäre zu
vermeiden gewesen, hätte man damals die Warnungen
aus der Wissenschaft frühzeitig ernst genommen. Des-
wegen haben wir darauf gedrungen, dass 5 Prozent der
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Dritter Punkt: Überprüfung des Rechtsrahmens. In
nlehnung an die Empfehlungen der Wissenschaftler
alten wir diese Überprüfung für notwendig, um etwaige
indernisse für menschen- und gesellschaftsverträgliche
nnovationen durch und mit Nanotechnologie aus dem
eg zu räumen. Dazu erwarten wir im Herbst 2005 ei-
en Bericht der Bundesregierung. Auf dessen Basis wer-
en wir etwaigen Handlungsbedarf hier im Hause seriös
eraten können.
Zum Schluss kann man eines feststellen: Mit ideolo-
ischer Sturheit, mit dem Schlechtreden von Leistungen,
ie am Standort erbracht werden, und mit dem Be-
chimpfen von Bürgern als Technikfeinden
ann man tatsächlich kein innovationsfreundliches
lima schaffen. Dies schafft man nur mit einer Haltung,
ie Technikfaszination mit Verantwortung paart, und in-
em man den Dialog mit den Bürgern sucht. Das ist das
arkenzeichen rot-grüner Forschungs- und Innovations-
olitik. Wie man am Jahr der Technik und der Resonanz
arauf gesehen hat, kommt diese Politik bei den Men-
chen an.
Das Wort hat die Kollegin Katherina Reiche, CDU/
SU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
egen! Das Jahr 2004 wurde von Frau Bulmahn zum Jahr
er Technik und vom Bundeskanzler gar zum Jahr der
nnovation hochstilisiert. Es geht zu Ende und niemand
at etwas gemerkt.
Für die Bundesministerin war es ein kompletter Er-
olg: Immerhin gab es 1 111 Veranstaltungen. 3 Millio-
en Euro wurden für PR ausgegeben. Der „Nano-Truck“
ollte durchs Land.
Der Kanzler freut sich ebenfalls. Er hat sich wieder
inmal mit seinen „Partnern für Innovation“ getroffen –
st ja auch schön, so kurz vor Weihnachten. Er hat sich
erichten lassen, welche „Horizontpapiere“ und „Pio-
ieraktivitäten“ sich die 13 Impulskreise und noch weit
ehr Working-Groups ausgedacht haben. Da kam dann
ie Idee vom digitalen Krankenhaus oder ganz praktisch
ollten zunächst 200 Schulen energieeffizient ausgestat-
et werden; außerdem gibt es einen neuen Radiosender.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13851
)
)
Katherina Reiche
Abgesehen davon, dass Sie als Bundesregierung den
forschenden Mittelstand erst auf Druck hin eingebunden
haben, haben Sie tatsächlich Heerscharen von Menschen
beschäftigt. Nach all dem Rummel machte sich dann Er-
nüchterung breit. Selbst der Cheforganisator der Kanz-
lerinitiative, der Fraunhofer-Chef Bullinger, beklagt,
dass bislang nichts geschehen sei. Es gab und gibt kein
klares Regierungsprogramm und es gibt keine Strategie
zum Lissabon-Prozess. Im Gegenteil: Es begann mit der
Mautpleite, auf EU-Ebene lassen Sie die chemische In-
dustrie hängen und die Grüne Gentechnik hungern Sie
aus.
Bei uns wird kein technisches Großprojekt mehr ge-
baut, wenn man einmal vom Forschungsreaktor Mün-
chen II in Bayern absieht. In Frankreich dagegen wird
mit viel Pomp und Stolz die Brücke über den Tarn als
das Vorzeigeobjekt französischer Ingenieurskunst gefei-
ert. Dort ist Technik eben auch Teil der Kultur.
Frau Burchardt, mehr Geld für Forschung gibt es eben
nicht; denn die mageren Steigerungen unterliegen schon
jetzt wieder so vielen Sparauflagen, Minderausgaben
und dauerhaften Sperrungen, dass der Haushalt 2005 im
Endeffekt auch wieder ein Minus zeigen wird.
Kurz vor Weihnachten gab es eine schöne Besche-
rung. In dem Bericht zur technologischen Leistungsfä-
higkeit, den Sie quasi unter Ausschluss der Öffentlich-
keit präsentiert haben, wurde es auf den Punkt gebracht
– ich zitiere –:
Die Aufholjagd auf dem Gebiet der Spitzentechnik
in Deutschland ist zum Erliegen gekommen.
Das ist nicht unsere Analyse, sondern die der Experten.
Die Bundesregierung sagt sich, dass so etwas nicht noch
einmal passieren darf. Statt aber die Ärmel hochzukrem-
peln, sich an die Arbeit zu machen und Innovations-
hemmnisse wegzuräumen, will die Bundesregierung die
Berichterstattung zur technologischen Leistungsfähig-
keit einfach einstellen. Wie ist die Situation im Land?
Zum Ersten haben wir seit Ende der 90er-Jahre mehr als
2 Millionen Industriearbeitsplätze verloren, was deshalb
so verheerend ist, weil die gesamte innovative und tech-
nologische Entwicklung natürlich an die Industriepro-
duktion gebunden ist. Zum Zweiten forcieren Sie den
Ausstieg aus Zukunftstechnologien. Die Pflanzen der
Zukunft sollen überall, nur nicht in Deutschland wach-
sen. Ich kann an dieser Stelle Jens Katzek zitieren, den
Geschäftsführer von „Bio Mitteldeutschland“, der sagt:
Widersinnig ist, dass die Bundesregierung die
Pflanzenbiotechnologie seit 1998 mit über 100 Mil-
lionen Euro allein aus Projektmitteln unterstützt
hat, Geld, das jetzt teilweise wirkungslos verpufft,
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nsere Antwort lautet: viermal K – Köpfe, Konzepte,
apital und Klima.
Fangen wir mit den Köpfen an. Der Wettbewerb der
ukunft ist auch ein Wettbewerb um Köpfe. Die PISA-
rgebnisse werden wieder einmal durchgestochen. Der
arteifreund von Frau Bulmahn auf OECD-Ebene,
ndreas Schleicher, propagiert die Einheitsschule quasi
eflexartig.
rau Bulmahn sekundiert als sein braves Echo hierzu-
ande.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wa-
um das nicht funktioniert, können Sie auch bei Ihrer
arteifreundin nachlesen.
rau Behler schrieb in der „FAZ“ vom 9. Dezem-
er 2004 nämlich:
Daß die deutsche Gesamtschule mit ihren Leis-
tungsergebnissen und ihrem gescheiterten Versuch,
den Zusammenhang von sozialer Herkunft und
Kompetenz zu verringern, nicht gerade ein attrakti-
ves Gegenmodell zum gegliederten Schulsystem
ist, wird verschwiegen, eine Analyse ihrer Schwä-
chen geradezu verweigert.
Unter K wie Köpfe fallen auch die Studenten, Natur-
issenschaftler und Nachwuchswissenschaftler. Unsere
ochschulen müssen die besten Köpfe halten und die
liten weltweit gewinnen. Mit dieser Bundesregierung
ann man aber nicht einmal rational über Studienbei-
räge diskutieren. Offensichtlich braucht diese Bundesre-
ierung immer ein vernichtendes Urteil des Bundesver-
assungsgerichts, bevor die Dinge anders werden.
13852 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Katherina Reiche
Wir finden, das humboldtsche Ideal „Forschung aus
Lehre“ ist so aktuell wie eh und je. Also muss die For-
schung zurück an die Hochschulen. Unser Vorschlag, an
den Hochschulen in den neuen Bundesländern Innova-
tionsgruppen einzurichten, liegt auf dem Tisch. Sie müs-
sen nur noch handeln.
Die Bedingungen in Deutschland für junge Forscher
sind wenig attraktiv. Unter anderem hat das noch einmal
Michael Pragnell festgestellt, der Vorstandsvorsitzende
von Syngenta: „Jeder Wissenschaftler wird doch in Eu-
ropa depressiv, wenn er sich in unerwünschter Umge-
bung fühlt oder ihm ständig Steine in den Weg gelegt
werden.“
Genau das passiert hier in Deutschland.
Wir brauchen Konzepte. Vorsprung durch Innovation
muss erarbeitet werden. Dazu braucht man einen Plan
und ein Ziel. Sie haben nichts von beidem. Stattdessen
wird die Eigenheimzulage als Vergangenheitssubvention
bezeichnet.
Wieso aber Familien mit Kindern die Vergangenheit und
Steinkohle die Zukunft darstellen soll, kann in diesem
Haus keiner erklären.
Bei der strategischen Forschungsförderung braucht
man mehr als nur ein neues Wording. Das, wo heute Na-
notechnologie draufsteht, hieß vor zwei bis drei Jahren
noch Chiptechnologie oder Mikrosystemtechnik. Bei der
Energieforschung wird Frau Bulmahn zwischen Herrn
Trittin und Herrn Clement völlig zerrieben. Da hat sie
gar nichts zu sagen.
Aber ich sage Ihnen: Ohne Kerntechnik wird es in
Deutschland nicht gehen. Es dauert zehn Jahre, bis wir
das eingeholt haben, was wir jetzt im Bereich der Kern-
forschung verpassen. Finnland baut mit deutscher Ex-
pertise neue Reaktoren und Deutschland steht am Gar-
tenzaun.
Ich komme zum Thema Kapital.
Ob der Mittelstand oder Start-ups innovieren können,
hängt von den Möglichkeiten der Finanzierung ab. Diese
sind in Deutschland schlecht – siehe Beteiligungskapital.
Ein Dachfonds für Risikokapital ist seit Anfang des Jah-
res angekündigt. Bisher ist kein einziger Euro geflossen.
Im Haushalt des BMWA findet sich doch tatsächlich ein
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avon ist nichts zu sehen; denn er überlässt jedes Inno-
ationsfeld, ob Grüne Gentechnik, Chemie oder Energie,
er Ökopartei als Spielwiese.
Ist Ihnen eigentlich die energieeffiziente Schule oder
in Radiosender am Ende dieses Jahres der Technik
icht selbst peinlich?
ie Aufgabe von Frau Bulmahn wäre es, dort dagegen-
uhalten, wo es gegenüber neuen Technologien Skepsis
ibt. Sie müsste die Forschungsbegeisterung ins Land
ragen. Aber dafür müsste sie von ihrer Sache überzeugt
ein. Ich habe meine Zweifel, ob sie das ist.
Das Jahr der Technik endet ohne Perspektive. Aber
gottlob – es ist schon wieder Neues geplant; denn im
ächsten Jahr werden wir das Einstein-Jahr begehen. Mit
igantischen 10 Millionen Euro werden teure PR-Schlach-
en gestartet. Man wird zum Beispiel Einstein-Sprüche
uf öffentlichen Gebäuden anbringen. Es gibt Konzerte
nd Lesungen. Albert Einstein wird quasi zur Popikone.
er Rummel geht also weiter, aber die Probleme lösen
ie nicht.
Ich möchte Ihnen ein Zitat von Albert Einstein mit
uf den Weg geben. Es heißt:
Persönlichkeiten werden nicht durch schöne Reden
geformt, sondern durch Arbeit und eigene Leistung.
as erwarten wir von der Bundesregierung.
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Josef Fell,
ündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
nd Kollegen! Innovationspolitik hat für uns eine große
edeutung. Sie ist die Grundlage für eine nachhaltige
irtschaftspolitik, die eine materialeffiziente und schad-
toffarme Wirtschaft und viele neue Arbeitsplätze
leichzeitig hervorbringen kann.
Frau Reiche, ich will Ihnen einmal Fakten nennen, die
eigen, wie falsch Ihre Analyse war.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13853
)
)
Hans-Josef Fell
Im Haushalt des Bildungs- und Forschungsministeriums
haben wir im Vergleich zum Vorjahr einen Mittelauf-
wuchs von über 200 Millionen Euro erreicht. Das ist der
höchste Etat für Bildung und Forschung, den Deutsch-
land in einem Bundeshaushalt je gesehen hat. Wie kön-
nen Sie dann davon sprechen, dass diese Mittel zurück-
gefahren würden?
Auch die Rahmenbedingungen für Forschung und
Entwicklung haben wir gestärkt. Ich nenne nur die Ver-
besserungen der steuerlichen Rahmenbedingungen für
den Carried Interest, den Dachfonds für Venture Capital
und den ERP-Startfonds. Übrigens könnte bald auch der
Hightech-Gründerfonds hinzukommen, wenn Sie Ihre
Blockade zur Abschaffung der Eigenheimzulage endlich
aufgeben würden; denn genau diese Mittel sind daran
gebunden.
Neben den finanziellen haben wir auch die strukturel-
len Rahmenbedingungen deutlich verbessert. Der Pakt
für Forschung und Innovation gibt den institutionell ge-
förderten Großforschungseinrichtungen Planungssicher-
heit für die nächsten Jahre.
Nachdem wir das Hochschulrahmengesetz novelliert
haben, steht nun ein weiterer Schritt an: die Arbeitsbe-
dingungen der Angestellten in der Wissenschaft zu ver-
bessern. Sie reden davon. Wir stehen dazu. Deswegen
steht der Wissenschaftstarif morgen hier auf unserem
Programm. Das ist ein wichtiger Bereich, unter anderem
auch deswegen, um die öffentliche und die private For-
schung besser zu vernetzen. Wir, die Bundestagsfraktion
und die Partei der Grünen, werden alles dazu beitragen,
um zusammen mit unserem Koalitionspartner endlich zu
einem wissenschaftsspezifischen Tarifvertrag für die
Hochschulen und die Forschungseinrichtungen zu kom-
men.
Zu den Rahmenbedingungen gehört für uns aber auch
die gesellschaftliche Akzeptanz durch soziale und demo-
kratische Reflexion von Forschung und Entwicklung.
Zum Vorwurf, wir seien forschungsfeindlich, möchte ich
Folgendes sagen: Wer beim Gentechnikgesetz am Verur-
sacherprinzip festhält, ist nicht forschungsfeindlich,
sondern handelt verantwortungsvoll.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion: Warum beharren Sie ausdrücklich auf der Agrogen-
technik, die weiterhin von 80 Prozent der Menschen ab-
gelehnt wird?
Warum unterstützen Sie nicht politisch das, was gesell-
schaftlich akzeptiert wird?
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ur Weißen Biotechnologie, zu Biokraftstoffen oder
uch zu Farben und Lacken, die aus der Natur gewonnen
erden, gibt es viel Zustimmung in der Bevölkerung.
ber durch Ihr stures Beharren auf einem einzigen, win-
igen Forschungsbereich, der gesellschaftlich nicht ak-
eptiert wird, übersehen Sie die vielen Chancen, die in
er Biotechnologie stecken.
amit behindern Sie den Ausbau der Biotechnologie in
eutschland. Sie sind die wahren Blockierer in diesem
orschungsbereich.
Auch in der Nanotechnologie werden wir die Chan-
en nutzen. Die Forscherinnen und Forscher sagen uns
anz klar, dass es Chancen, aber auch Risiken gibt. Der
ericht des Büros für Technikfolgenabschätzung hat uns
ufgezeigt, wie wir damit umgehen können. Wenn Sie,
iebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, in
hrem Antrag die Risiken völlig ignorieren, dann schadet
as doch nur der Akzeptanz der gesamten Technologie
n der Bevölkerung. Es gibt Ängste in der Bevölkerung.
it denen müssen wir verantwortlich umgehen. Sie
üssen doch endlich akzeptieren und zur Kenntnis neh-
en, dass mehr Bürgerinnen und Bürger das Buch „Die
eute“ von Michael Crichton als den Bericht des Büros
ür Technikfolgenabschätzung gelesen haben und des-
alb die Details nicht so abwägen können, wie wir das
un. Wir sehen die Chancen, machen aber auch eine ver-
ntwortungsvolle Risikoabschätzung. Herr Fischer, wir
aben oft darüber diskutiert, dass wir diese Risikoab-
chätzung in unseren Programmen haben. Die Nanotech-
ologie wird eine Schlüsseltechnologie für eine schad-
tofffreie solare Energie- und Stoffwirtschaft sein. Diese
hancen rücken wir in den Mittelpunkt.
Damit bin ich bei der Energieforschung. Sie wissen
enau, wohin die Mittel in den vergangenen Jahren ge-
lossen sind. 50 Jahre lang sind OECD-weit 80 Prozent
er Energieforschungsmittel in die Erforschung der
ernenergie geflossen. Das Ergebnis ist: 3 oder 5 Pro-
ent, je nach Berechnungsbasis, des Weltenergiebedarfs
erden durch Kernenergie gedeckt. Es gibt keinen grö-
eren Misserfolg für aufgewandte Forschungsmittel als
en in diesem Bereich. Die Mittel sind völlig deplatziert.
Sie halten weiterhin daran fest. Sie nennen einen fin-
ischen Atomreaktor als Beispiel für eine sinnvolle
nergietechnologie. Sie sollten zur Kenntnis nehmen,
ass dieses Projekt nur möglich wird, wenn es massive
ubventionen gibt. So hat zum Beispiel die Bayerische
andesbank eine nicht notifizierte Beihilfe für den finni-
chen Reaktor gegeben. Für den Kredit in Höhe von
Milliarden Euro werden nur 2,6 Prozent Zinsen ver-
angt.
13854 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Hans-Josef Fell
Das ist unglaublich. Und dann ist er noch nicht einmal
bei der Europäischen Union notifiziert. Nur mit solchen
Aktionen wird Ihre angeblich billige Atomtechnologie in
Finnland möglich. Dies lehnen wir ab.
Nehmen wir die Kernfusion. Wir wissen, dass wir
jahrzehntelang nicht einen einzigen Beitrag dazu sehen
konnten und das auch in den nächsten 50 Jahren nicht
der Fall sein wird. Kein Forscher sagt, dass in den nächs-
ten 50 Jahren auch nur eine Kilowattstunde Strom durch
Kernfusion erzeugt werden könnte. Warum also das
Geld in großem Maße aus dem Fenster werfen? Wir wol-
len, dass das Geld in Forschungsprojekte investiert wird,
die schon in wenigen Jahren Klimaschäden vermeiden
helfen und Energieversorgungssicherheit bringen.
Wir wollen, dass sich damit auch unsere Unterneh-
men im globalen Wettbewerb durchsetzen können. Da-
her werden wir heute den Antrag, ein nationales Ener-
gieforschungsprogramm vorzulegen, verabschieden. Wir
setzen auf die Priorität erneuerbarer Energien und auf
Energieeinsparung. Damit schaffen wir eine verantwor-
tungsvolle Energiepolitik für die Zukunft.
Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Burchardt hat eben festgestellt, es liege viel Papier auf
dem Tisch, das zum Teil veraltet sei. Ich möchte in die-
sem Zusammenhang die Zuhörer davon in Kenntnis set-
zen, dass wir seit einem Jahr auf Ihre Anträge warten.
Was die Kernfusion angeht, dauerte es sogar noch län-
ger, bis Sie sich zu einer Entscheidung durchringen
konnten, lieber Herr Fell. Ich wäre froh gewesen, wenn
Sie früher mit uns darüber diskutiert hätten.
Dann hätten wir vielleicht deutlich schneller Bewegung
in dieses Land gebracht.
Lassen Sie mich etwas zur Bilanz des so genannten
Jahres der Innovation anmerken. Ich kann Ihnen gratu-
lieren: In rein sprachlicher Hinsicht haben Sie einen Er-
folg erzielt. Das Wort Innovation scheint wieder in die
Köpfe der Deutschen zurückgekehrt zu sein.
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Aber bezüglich der Gebiete, auf die es wirklich an-
ommt, Herr Tauss, die aber Herr Fell eben als marginal
ezeichnete – nämlich große Teile der Lebenswissen-
chaft, die Grüne Gentechnik und vor allen Dingen auch
ie Energieforschung –, liegt kein Jahr der Innovation
inter uns, sondern ein Jahr der Isolation und der Irrita-
on.
Innovativ war der mediale Einsatz des Kanzlers und
es Wirtschaftsministers für die Anwendung der Bio-
nd Gentechnik. Aber bewegt hat sich dank Ihrer beiden
raktionen in dieser Hinsicht wenig. Im Gegenteil: Sie
aben das Gentechnikgesetz durchgepaukt, das die
rüne Gentechnik in Deutschland in Zukunft verhindern
ird. Sie haben eine Biopatentrichtlinie beschlossen, die
en Stoffschutz aushöhlt und die Patentierung ein-
chränkt. Sie schaden unseren Unternehmen im Wettbe-
erb und Sie haben – trotz lauter Forderungen aus der
issenschaft, die auch in Deutschland auf diesem For-
chungsgebiet ein internationales Niveau erreichen wol-
en – erneut das Stammzellgesetz betoniert.
Heute legen Sie obendrein einen Antrag vor, zu dem
ch nur feststellen kann: Jetzt soll auch noch die Ener-
ieforschung in das ideologische Joch Ihrer rot-grünen
orstellungen gepresst werden, lieber Herr Fell.
Ihre Hätschelkinder, die erneuerbaren Energien, wer-
en bevorzugt und die Mittel für die Fusionsforschung
rastisch gekürzt. Ich frage mich – insofern wäre es inte-
essant gewesen, wenn die Ministerin heute anwesend
äre, Herr Kasparick –, was eine Forschungsministerin,
ie zurzeit auf EU-Ebene für den Forschungsreaktor
TER kämpft, dazu sagt. Wie reagiert eine Ministerin,
ie auf EU-Ebene so tut, als ob alles in trockenen Tü-
hern wäre, darauf, dass in Deutschland die nationalen
ittel gekürzt werden?
ffensichtlich fesseln die Regierungsfraktionen ihrer zu-
tändigen Ministerin auch auf diesem Gebiet die Hände.
as ist ein Schlag in das Gesicht von Frau Bulmahn.
ie Sie sich vorstellen können, bedauert die FDP das
utiefst.
Wie sieht es mit den Rahmenbedingungen aus? Frau
eiche hat eben schon das Venture Capital angespro-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13855
)
)
Ulrike Flach
chen. Wir haben die Bundesregierung in einer Kleinen
Anfrage gefragt, was aus dem Masterplan geworden ist.
Was haben Sie erreicht?
Aus der Antwort geht hervor, dass sich hinsichtlich des
großen Themas Kapital, Risikokapital, Venture Capital
und Seed Capital nichts bewegt hat, zum Teil mit Hin-
weis darauf, dass die Börse leider nicht so innovativ sei,
wie es sich die Bundesregierung vorstellt. Der Master-
plan ist also offensichtlich im Jahr der Innovation ver-
pufft.
Das bedaure ich gerade für die FDP besonders; denn
das ist doch der Grund, warum es in diesem Lande mit
jungen und innovativen Unternehmen nicht vorangeht.
Sie haben kein Kapital und die Produkte bleiben sozusa-
gen im Flaschenhals stecken.
Frau Bulmahn forscht zwar munter vor sich hin – wo-
bei wir sie ausdrücklich unterstützen, Herr Kasparick –,
aber was kommt schließlich dabei heraus? In diesem
Jahr sind letztlich genauso wenig neue Produkte auf den
Markt gekommen wie in den Vorjahren. Das heißt, das
eigentliche Grundproblem, dass neue Unternehmen in
Deutschland nicht Fuß fassen können, haben Sie auch im
Jahr 2004 nicht lösen können.
Das Jahr der Innovation hat aus unserer Sicht für die
Bio-, die Nano- und die Energieforschung zwar viel
Rhetorik, aber kein schlüssiges, ressortübergreifendes
Konzept gebracht. Wir sind weiter in einem Geflecht aus
Ideologie, Technikskepsis und Koalitionsblockade ge-
fangen.
Frau Kollegin Flach, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Fell?
Immer.
– Das wird Ihnen nicht gelingen.
Herr Fell, bitte.
Frau Kollegin Flach, Sie haben behauptet, die Bun-
desregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen
hätten keine neuen Erfolge im Bereich des Venture Capi-
tals vorzuweisen. Ist Ihnen bekannt, dass erst letzte und
vorletzte Woche über den Dachfonds, den wir gemein-
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egleitet von einer riesengroßen Wolke aus Rhetorik, die
ir uns zwölf Monate lang angehört haben.
enn Sie zehn, zwölf Projekte vorzuweisen hätten, dann
ätte ich beschämt meine Sachen gepackt und wäre an
en Rhein zurückgekehrt. Aber angesichts von zwei Pro-
ekten sollten Sie nicht versuchen, uns weiszumachen,
ass der Masterplan gezogen hat.
In den uns vorliegenden Anträgen wird die Situation
n unserem Land genauso dargestellt, wie sie tatsächlich
st.
urch den Konflikt zwischen Bundesregierung und Ko-
litionsfraktionen gibt es leider eine Blockade, weswe-
en wir nicht vorangekommen sind. Das Land hat diese
age, in der es sich zurzeit befindet, wirklich nicht ver-
ient. Lieber Herr Tauss, ich würde mich sehr freuen,
enn wir die jetzige Situation endlich hinter uns lassen
önnten, und zwar mit Ihrer Hilfe, nicht gegen die Bun-
esregierung, gegen Ihren Kanzler und Ihren Wirt-
chaftsminister, sondern zum Beispiel zusammen mit
ns.
ringen Sie doch zusammen mit uns die Grüne Gentech-
ik, die Stammzellforschung und die Förderung kleiner
nd mittelständischer Unternehmen voran, wie wir es Ih-
en seit Jahren vorschlagen! Ich glaube, Sie wären in
iesem Fall besser bedient als mit dem, was wir zurzeit
aben.
Für die Bundesregierung erhält nun das Wort der Par-
amentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick.
13856 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Ul
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zuerst die Pressemitteilung, die mich gerade aus dem
Ministerbüro erreicht hat und die mit „Innovationsfähig-
keit Deutschlands steht auf dem Spiel“ überschrieben ist:
Der Bund hatte einen Pakt für Forschung und einen
Wettbewerb um mehr Exzellenz angeboten, weil
Deutschland im internationalen Wettbewerb – das ist
zwingend notwendig – deutlich besser werden muss.
Schon für das kommende Jahr hatten wir ein Volumen
von 150 Millionen Euro eingeplant. Bis 2011 sollten zu-
sätzlich 1,9 Milliarden Euro bereitgestellt werden.
– Herr Rachel, wenn Sie aufhörten, nebenbei zu lesen,
könnten Sie noch etwas lernen. –
Ihre Länder haben aber die Entscheidung erneut ver-
tagt, und zwar mit dem zarten Hinweis, man müsse in
der Föderalismuskommission über Zuständigkeiten spre-
chen.
Wenn Sie uns angesichts eines Mittelaufwuchses bei
Bildung und Forschung um über 30 Prozent darüber be-
lehren wollen, wer etwas für Innovationen in diesem
Lande tut, dann kann ich Ihnen nur empfehlen: Kommen
Sie ganz langsam auf den Teppich und den Boden der
Realität zurück! Wir wollen ja mehr für Bildung und
Forschung tun. Aber Ihre Länder blockieren. Das ist der
Punkt.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Koppelin?
Ul
Jederzeit.
Herr Koppelin, bitte.
He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Können Sie bestätigen, dass die Haushälter der Koalition
Ihren Etat mit einer globalen Minderausgabe von
145 Millionen Euro belegt haben und dass Sie aufgrund
einer allgemeinen globalen Minderausgabe, die alle
Haushalte betrifft, zusätzlich 168 Millionen Euro aus Ih-
rem Etat aufbringen müssen? Das ergibt nach meiner
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Es geht darum, dass wir von alten Subventionstatbe-
tänden Abschied nehmen.
Wir wollen durch die Abschaffung der Eigenheim-
ulage zusätzlich 10 Milliarden Euro ins System inves-
ieren. Das wissen Sie doch.
as ist die Antwort auf Ihre Frage.
Ich möchte ganz gern noch etwas zu den vorhin vor-
etragenen Zahlen zur Qualität des Standorts Deutsch-
and sagen. Stichwort Nanoelektronik: Auf diesem Ge-
iet ist Deutschland Nummer eins in Europa. Allein im
aum Dresden gibt es in diesem Bereich 20 000 Be-
chäftigte. Was Patentanmeldungen auf dem Gebiet der
anotechnologie angeht, sind wir im weltweiten Ran-
ing hinter den Vereinigten Staaten auf Platz zwei. In der
iotechnologie sind wir mit 350 Firmen in Europa an
er Spitze.
s ist eben nicht so, wie vorhin dargestellt worden ist.
ir haben die Zahl der Beschäftigten seit 1997 von
000 auf 13 000 erhöht und damit mehr als verdreifacht.
ir orientieren uns insbesondere an denjenigen Techno-
ogiefeldern, die Arbeitsplätze schaffen.
Aber nicht jede Entwicklung – Entscheidungen über
trittige Fragen trifft im Parlament die Mehrheit – bedeu-
et Fortschritt. Deswegen braucht man einen gesell-
chaftspolitischen Diskurs, also das Gespräch mitei-
ander.
Ich sehe, dass das in Ihren Reihen Heiterkeit auslöst.
ns ist diese Sache sehr ernst.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13857
)
)
Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick
Wir brauchen das Gespräch mit dem Bürger über die
Frage, welche technologische Entwicklung wir in ei-
nem gesellschaftlichen Konsens miteinander als Ziel
festlegen wollen.
Beispielsweise im Bereich der Nanotechnologie gibt
es sehr viele offene Fragen. Frau Kollegin Burchardt hat
ein paar davon angesprochen. Wir haben deswegen ge-
sagt: Wir wollen die Forschung vorantreiben. Aber es
muss Begleitforschung geben, damit wir zu einem verant-
wortbaren Interessenausgleich zwischen den verschiede-
nen Positionen kommen.
Ich sehe, dass der Kollege Tauss eine Zwischenfrage
stellen möchte.
Herr Staatssekretär, wenn Sie diese Zwischenfrage
genehmigen, dann kann der Kollege Tauss sie auch stel-
len.
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Ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Lieber Kollege Kasparick, Sie sind gerade dabei, die
wichtigen Punkte Revue passieren zu lassen. Darf ich
Sie bitten, einen Satz zum Thema Fusionsforschung zu
sagen.
Hier ist versucht worden, einen Dissens zwischen den
Fraktionen der Regierungskoalition und Ihrem Haus zu
konstruieren. Können Sie mir bestätigen, dass das, was
Bundesministerin Bulmahn – auch in dem Bemühen, die
Beiträge für dieses Projekt zu deckeln – in Europa tut,
in vollem Einklang mit dem steht, was diese Fraktionen
in den letzten Jahren immer gesagt haben?
Können Sie mir darüber hinaus bestätigen, dass die
Absenkung der Mittel, von der geredet worden ist, in
dieser Form nicht stattfinden wird, sondern dass es eine
kontinuierliche Fortschreibung geben wird? Vieles von
dem, was die Fusionstechnologie angeht, ist in Wahrheit
Grundlagenforschung in anderen Bereichen. Ich denke
da beispielsweise an die Materialforschung.
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eutschland hat sich dafür immer eingesetzt. EURA-
OM darf maximal 40 Prozent der Baukosten finanzie-
en. Das ist angesichts der Situation auf dem europäi-
chen Finanzmarkt eine sehr vernünftige Position. Wir
üssen dafür sorgen, dass wir diese Kosten weiterhin im
riff haben.
Wie Sie wissen, haben Forschungsprojekte von dieser
imension eine unangenehme Eigenschaft: Die veran-
chlagten Mittel reichen meist nicht aus. Deswegen sieht
ie nationale Position – sie ist zwischen den beteiligten
äusern abgestimmt – vor, zu einer Kostenbegrenzung
u kommen.
Dem, was Sie im Anschluss an Ihre Frage gesagt ha-
en, stimme ich im Übrigen durchaus zu: Das Fusions-
xperiment hat eine ganze Fülle von Implikationen.
azu gehören unter anderem die Materialwissenschaf-
en. Dazu gehört die Stärkung der Grundlagenforschung,
ie wir in Europa insgesamt voranbringen wollen. Von
em angesprochenen Dissens zwischen verschiedenen
essorts kann gerade in dieser Frage keine Rede sein.
Ich möchte noch etwas zu dem Thema Innovations-
reiber sagen, und zwar im Rahmen dessen, was wir dem
arlament unter der Überschrift Innovationsstrategie
ehrfach vorgetragen haben. Wir konzentrieren uns ins-
esondere auf Informations- und Kommunikationstech-
ologien, auf die Biotechnologien und auf die Nano-
echnologien. Wenn Sie sich die Umsatzzahlen in der
iotechnologie anschauen, stellen Sie fest: Wir sind
997 mit 300 Millionen Euro im Jahr gestartet und lie-
en mittlerweile bei weit über 1 Milliarde Euro; auch
ier eine Verdreifachung.
Die rote Biotechnologie ist in der Gesellschaft durch-
ängig akzeptiert. Die weiße Biotechnologie ist in der
esellschaft weitgehend akzeptiert. Die Pharmaindustrie
nd die chemische Industrie in Deutschland wissen ein
ied davon zu singen. Ich komme aus dem Chemiedrei-
ck. Da profitieren die Unternehmen sehr von dem, was
ir „weiße Biotechnologie“ nennen.
Zu den grünen Technologien gibt es in der Gesell-
chaft verschiedene Grundpositionen; das wissen auch
lle. Diese Positionen muss man in einem Dialogprozess
ushandeln. Es ist Aufgabe der Politik, für einen
13858 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick
Ausgleich von Interessen zu sorgen. Ich bin der festen
Überzeugung, dass das, was wir in den vergangenen Mo-
naten gesetzgeberisch getan haben, genau diesem Inte-
ressenausgleich dient.
Wir polarisieren nicht, sondern führen die verschiedenen
Interessen so zueinander, dass man Forschung betreiben
kann. Im Übrigen: Auch Stammzellforschung wird in
Deutschland betrieben.
Ich weiß nicht, ob Sie das wussten. Stammzellforschung
wird in Deutschland betrieben – entgegen den Behaup-
tungen, die man immer hört, dass es diese Forschung in
Deutschland nicht gäbe.
Sie wird betrieben, aber – das ist der entscheidende
Punkt – sie wird in einer verantwortlichen Art und Weise
betrieben.
In der Nanotechnologie sind wir weltweit ganz vorn.
Wir wollen diese Poleposition – um einmal im Jargon
des Sportes zu reden – ausbauen. Wir wollen die guten
Startbedingungen nutzen. Wir sind in der Welt ganz vorn
und wir wollen ganz vorn bleiben, aber wir wollen dabei
verantwortlich handeln.
Insbesondere erhoffen wir uns von den Nanotechno-
logien Effizienzgewinne. Ich will nur einen Bereich an-
sprechen. Neue Materialien haben völlig neue Eigen-
schaften, was das physikalische Verhalten angeht. Wir
brauchen eine Effizienzrevolution im Mix der Technolo-
gien von der Produktion bis zum Verbrauch von Ener-
gien. Insbesondere in dem Bereich erhoffen wir uns sehr
große Zuwächse. Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir
im Bündnis mit der Wissenschaft in diesem Land in dem
wichtigen Feld von Nano- und Biotechnologien weiter
vorankommen, wenn Sie mit Ihrer Blockade aufhören.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun der Kollege Heiderich für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen!
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Jahr der Technik. Jahr der Innovation. Jahr der Elite.
n beeindruckenden Begriffen herrscht bei Ihnen kein
angel.
Herr Kollege Heiderich, möchten Sie gleich zu Be-
inn eine Zwischenfrage zulassen?
Wenn ich noch einen Satz sagen darf! – Doch schaut
an hinter diese schöngefärbten Kulissen, dann erkennt
an: Die Realitäten im Land sehen ganz anders aus.
Dazu, denke ich, wird Herr Tauss gern fragen wollen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich finde es in der Tat sehr familienfreundlich, wenn
rau Reiche die Aufführung eines Krippenspiels verfol-
en kann. Aber halten Sie vor diesem Hintergrund die
ttacken für gerechtfertigt, die Sie gegen die Bundesmi-
isterin für Bildung und Forschung geritten haben? Sie
erhandelt heute in einer zentralen Frage von Bildung
nd Forschung in Deutschland. Es geht darum, was wir
ünftig noch an Innovationen finanzieren können. Wenn
ie dies attackieren, die Aufführung eines Krippenspiels
ber als selbstverständliche Entschuldigung hinnehmen,
ann werden hier von Ihrer Seite bei den Attacken auf
rau Bulmahn wirklich die Verhältnisse auf den Kopf
estellt.
Verehrter Kollege Tauss, ich weiß nicht, ob Sie Fami-
ienvater sind; so weit kenne ich Ihre persönlichen Ver-
ältnisse nicht.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13859
)
)
Helmut Heiderich
Es ist schon ein ziemlich erheblicher Vorwurf, finde ich,
den man hier erhebt. Es geht doch darum, dass sich eine
Mutter eine Aufführung anschauen kann, an der ihr Kind
mitwirkt. Wenn Sie da Vorwürfe erheben – –
– Hören Sie mir doch einfach einmal zu!
– Ich beantworte gerade die Frage in der Art und Weise,
dass ich eine solche Unterstellung, wie sie von Ihrer
Seite erhoben wurde, einfach nur als schäbig betrachte.
So etwas sagt man nicht gegenüber anderen.
Sie sollten hier nicht nur über Familien und ihre Zukunft
reden, sondern Kompetenz in dieser Frage auch den Kol-
leginnen und Kollegen in diesem Hause attestieren, die
Kinder haben, statt sie zu attackieren.
Wenn Ihre Ministerin heute hier nicht anwesend sein
kann, weil sie, wie Sie behaupten, erfolgreiche Verhand-
lungen führt, dann hoffe ich im Interesse unseres Lan-
des, dass dabei auch wirklich etwas Positives heraus-
kommt.
Damit ist dieser Punkt geklärt. Ich denke aber, man darf
doch wohl nach wie vor noch anmerken, wenn die zu-
ständige Ministerin bei einer so wichtigen Debatte mit
entscheidenden Punkten wie heute nicht anwesend ist.
Das muss man, wie ich glaube, hier doch erwähnen dür-
fen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es wäre ganz
schön, wenn wir nach diesem wechselseitigen Scharmüt-
zel nun zur Sache zurückkehren könnten.
Das will ich gerne tun, Herr Präsident. – In dem einen
Jahr kürzt die Bundesregierung – es wäre schön, wenn
auch Sie zuhörten, Herr Tauss – die Mittel für die deut-
schen Forschungseinrichtungen.
Nachdem sich diese dann zu Recht über diese Kürzun-
gen beschweren, kürzt die Bundesregierung in dem an-
deren Jahr die Mittel der Projektförderung. Dabei sind
doch gerade Projekte ein Arbeitsfeld für junge Forscher,
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ie schwarze Linie, die an der x-Achse entlangdümpelt
das kann Herr Tauss, der diese Grafik gerade näher in
ugenschein nimmt, bestätigen –, steht für die Entwick-
ung der Forschungsförderung in der Bundesrepublik
eutschland. Es ist deutlich erkennbar, dass die For-
chungsförderung in der Bundesrepublik Deutschland
eit Jahren vor sich hindümpelt.
amit Sie nicht meinen, ich würde mich hier auf ir-
endeine unbekannte Quelle berufen, will ich Ihnen
uch die Quelle nennen. Es handelt sich um den Bericht
es BMBF zu Technologie und Qualifikation in
eutschland und zur technologischen Leistungsfähigkeit
eutschlands.
eine sehr verehrten Damen und Herren von den Koali-
ionsfraktionen, das von Ihnen geführte Ministerium
elbst stellt fest, Deutschland dümpelt bei der For-
chungsförderung vor sich hin. Das ist das Ergebnis Ih-
er Politik.
Durch das ständige Erzeugen von Unruhe wird Ihre
olitik auch nicht besser. Durch solch ein Verhalten er-
eugen Sie auch kein gutes Bild von Ihrer Fraktion.
Während in anderen Ländern die Etats für For-
chungsförderung um 20 bis 40 Prozent angehoben wur-
en, ist die Entwicklung in Deutschland gegenteilig ver-
a
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Zahl der Start-ups hat sich in den letz-
en Jahren verringert, nicht erhöht. Sie haben auch den
msatz in diesem Bereich angesprochen: Er beträgt bei
ns 1 Milliarde, in der Schweiz macht er 2 Milliarden
us, in Großbritannien sogar 4 Milliarden. Daran können
ie sehen, welcher Abstand zwischen uns und anderen
esteht.
eswegen haben wir ja auch während der Haushalts-
eratungen beantragt, die Ansätze im Bereich der
iotechnologie um 40 Millionen zu erhöhen. Eine
rhöhung haben Sie abgelehnt, und zwar gerade für die
13860 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Helmut Heiderich
Bereiche, auf die Sie eben eingegangen sind, nämlich für
die Nano- und Biotechnologie, für die Proteomik, die
Nutrigenomik und ähnliche Felder.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Ihre
Politik hat negative Auswirkungen auf die Zukunftsfä-
higkeit unseres Landes. Das können Sie auch in dem
schon erwähnten Bericht nachlesen. Hier steht – ich zi-
tiere das BMBF –:
Nachdenklich sollte stimmen, dass deutsche FuE-
Standorte im internationalen … Wettbewerb nicht
immer die besten Karten hatten.
Dies gilt nicht in der Breite, sondern eher für die
(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Peinlich ist
das!)
Das verbreiten Sie selber in Ihrem Bericht, uns aber sa-
gen Sie, Sie hätten genug für die Innovationsförderung
in Deutschland getan.
Hier muss tatsächlich mehr kommen. Sie müssen end-
lich auch zu einer Linie finden. Doch Sie streiten seit
Jahren in diesem Parlament und zwischen Ihren Fraktio-
nen herum, statt auf der Basis eines geschlossenen Kon-
zeptes Deutschland nach vorne zu bringen.
Hierzu will ich Ihnen noch ein Zitat bringen. Vor ge-
rade sechs Wochen war es Ihr Bundeskanzler, der hier in
Berlin bei dem Kongress von Acatech Folgendes gesagt
hat:
Wenn ich mir die politische Situation anschaue,
dann stelle ich fest, dass es im deutschen Parlament
eine Zurückhaltung bezüglich aller Fragen der Gen-
technologie und deren Entwicklung gibt
und dass sie
– damit meint er die Zurückhaltung; nun passen Sie ge-
nau auf! –
von einem Bündnis von Menschen kommt, die auf
der einen Seite aus der Umweltbewegung kommen,
auf der anderen Seite eine gewisse Skepsis gegen-
über technologischem Fortschritt haben – auch in
meiner Partei …
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das sagt Ihr
Bundeskanzler! Kommen Sie dem doch einmal nach; tun
Sie das, was der Bundeskanzler von Ihnen verlangt!
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r sagt:
Da die Biotechnologie als Forschungsbereich letzt-
lich nicht teilbar ist, wird dies gravierende Rück-
wirkungen auf die Biotechnologie in unserem Land
insgesamt haben. Ich habe für dieses Gesetz kein
Verständnis …
a kann ich nur sagen: Ich auch nicht!
Wie es besser geht und wie man es richtig machen
üsste, zeigen wir Ihnen hier doch seit Jahren. Mit den
eute vorliegenden Anträgen zeigen wir Ihnen wieder,
ohin die Reise gehen müsste. Wir haben als Erste dem
arlament eine umfassende Biotechnologiestrategie
orgelegt, die dem Konzept von Lissabon aus dem
ahre 2002 folgt; das können Sie nachlesen.
ir haben als Erste einen konkreten Lösungsvorschlag
ur Biopatentierung hier vorgelegt. Jetzt, zwei Jahre
päter, sind Sie unserem Lösungsvorschlag gefolgt –
um Glück für dieses Land. Wir haben als Erste schon
001 die Kennzeichnung von gentechnisch verbesser-
en Lebensmitteln mit einem Grenzwert von 1 Prozent
ier gefordert, um damit das Vertrauen der Bürger, über
as vorhin gesprochen worden ist, zu erreichen. Aber
hre Ministerin Künast tut ständig das Gegenteil. Sie
ysterisiert die Öffentlichkeit mit der Behauptung, es
ürden ständig irgendwo Gefahren lauern, die aber alle
issenschaftler nicht erkennen könnten.
Wir haben damals als Wegweisung – ich erinnere an
ie zweite Änderung des Gentechnikgesetzes, die „In-
ouse-Richtlinie“ – Vorschläge eingebracht, die Sie hier
bgelehnt haben, die Sie aber jetzt plötzlich in den neuen
ntwurf des Gentechnikgesetzes als Ihre Erkenntnis hi-
einbringen, wofür Sie sich dann auch noch belobigen.
ir freuen uns ja, dass Sie endlich unseren Vorschlägen
olgen, aber wenn Sie ihnen früher gefolgt wären, wäre
eutschland längst ein ganzes Stück weiter. Deswegen
st es Zeit, dass Sie die Vorschläge, die wir hier einbrin-
en, und die Strategie, die wir für die Bio- und Gentech-
ik in Deutschland verfolgen, in das Regierungskonzept
ufnehmen, damit Deutschland technologisch voran-
ommt.
Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13861
)
)
Herr Kollege Heiderich, Ihnen ist hoffentlich be-
wusst, wie knapp Sie dem Risiko ausgewichen sind, dass
der Kollege Tauss eine seiner berühmten Zwischenfra-
gen gleich vom Rednerpult des Deutschen Bundestages
aus stellt.
Ich möchte das ungerne als Präjudizierung einer künfti-
gen Verdrängung der Reden durch die Zwischenfragen
bewertet wissen und hoffe, dass wir in der Geschäftsord-
nung ohne einen Bannkreis von 3 Kilometern um das
Rednerpult auskommen können.
Nun hat der Kollege Loske für Bündnis 90/Die Grü-
nen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
sind ja jetzt einige lustige Dinge hier gesagt worden.
Dass die Kollegin Reiche gegangen ist, weil sie dem
Krippenspiel beiwohnen will, wirft ihr natürlich nie-
mand vor. Aber der Hochmut, mit dem sie hier be-
stimmte Dinge vorgetragen hat,
zum Beispiel die Behauptung, Experimente wie energie-
effiziente Schulen seien eine peinliche Angelegenheit
und Kinkerlitzchen, passt einfach nicht. Der Ton macht
die Musik!
Denn natürlich – das wissen doch auch Sie – ist es eine
elementare Lebenserfahrung, wenn Kinder möglichst
früh lernen, was erneuerbare Energien sind, was Ener-
gieeinsparung bedeutet, was es mit dem CO2-Problemund mit der Klimaveränderung auf sich hat. Das ist doch
vernünftig. So etwas als lächerliche Kinkerlitzchen zu
denunzieren finde ich ziemlich dreist und ganz unange-
messen.
Zweitens zu der Lesestunde – Gott sei Dank waren es
nur Minuten – von Herrn Heiderich. Sie haben ja offen-
bar gar keine eigene Meinung, sondern lesen hier nur
Ansichten von anderen Leuten vor.
Zwei Punkte dazu.
Erstens. Wenn eine Regierung, wie in dem BMBF-
Bericht geschehen, auf Probleme in bestimmten Berei-
chen hinweist, dann gehört das zu einer realistischen und
notwendigen Problemanalyse. Denn Dinge, die man ver-
bessern will, muss man erst einmal beim Namen nennen.
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s wäre Realitätsverweigerung, wenn man die Probleme
ur schönreden würde.
Zweitens. Zu dem, was ich aus Ihrem Munde gehört
abe, Herr Heiderich, kann ich nur sagen: Ihre Partei hat
n puncto Biotechnologie zwei Meinungen. In Wahrheit
ind Sie doch zwei Parteien! Sie sind doch gar nicht eine
artei!
hre Kollegen, die beim Stammzellgesetz die restriktivs-
en Positionen eingenommen haben, sind nicht anwe-
end. Sie tun aber so, als sei die Regierungskoalition das
aupthindernis im Bereich der Biotechnologie. Das
asst hinten und vorne nicht.
Frau Flach, Sie haben gesagt, unser Gesetz zur Bio-
atentierung sei falsch, weil es den Stoffschutz be-
chränke. Andererseits haben Sie, Herr Kollege
eiderich, die Chuzpe, dazu zu klatschen, obwohl die
nion in der letzten Sitzungswoche mit uns gestimmt
at. Dazu kann ich nur sagen: Das ist galoppierende
chizophrenie. Das passt absolut nicht zusammen.
Frau Flach, ich möchte Ihnen einmal sagen, warum
ir den Stoffschutz bei Biopatenten eingeschränkt ha-
en. Gene sind mehr als nur Stoffe; sie sind auch Infor-
ationsträger. Wir wollen keine Biomonopole, die letz-
en Endes forschungsfeindlich wirken. Deshalb haben
ir entsprechende Regelungen in das Gesetz aufgenom-
en.
Ich komme jetzt zu dem Thema, über das ich eigent-
ich sprechen wollte, nämlich zur Biotechnologie. Ich
laube, dass wir nicht den Fehler machen dürfen, sie auf
ie Gentechnik zu beschränken. Biotechnologie ist mehr.
ie ist mehrere Tausend Jahre alt. Ich will gar nicht auf
ie Hefe im Bier und im Brot oder auf die Bakterienkul-
uren im Joghurt eingehen. Ich will aber auf bestimmte
ereiche zu sprechen kommen, die von der Regierung
in Zukunft könnte dies noch verstärkt werden – geför-
ert werden.
Ein wichtiges Thema ist die Bionik. Da geht es um
ie Frage, was wir von der Natur lernen können. Es gibt
in entsprechendes Kompetenznetzwerk, das unterstützt
ird. Das ist gut so.
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Biokatalyse, die
ie, Herr Staatssekretär, als Weiße Biotechnologie – es
13862 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Dr. Reinhard Loske
geht ja, wie gesagt, nicht nur um Gentechnik – bezeich-
net haben. Ich glaube, darin liegt ein sehr großes Poten-
zial. Wenn man es mithilfe von Enzymen schafft, bei der
Produktion energieintensive chemische Prozesse durch
biologische Prozesse, also sozusagen durch eine sanfte
Biotechnologie, zu ersetzen, können wir enorm viele
Ressourcen wie auch Energie und Wasser einsparen. Das
ist genau die Form von Biotechnologie, die wir brau-
chen, um die Probleme der Menschheit zu lösen. Diese
Technologie sollten wir auf der ganzen Linie fördern.
– Ja, nicht ausschließlich. Da stimme ich Ihnen zu.
Von mehreren Kollegen wurde schon die Akzeptanz
angesprochen. Die Akzeptanz von geschlossenen Syste-
men – Stichwort: contained use – ist höher, weil die
Menschen zum einen unmittelbar den Nutzen erkennen
können und weil sie zum anderen relativ – nicht ab-
solut – sicher sein können, dass gefährliche Stoffe nicht
nach außen dringen. Wir haben nämlich Gott sei Dank
relativ hohe Standards in Deutschland. Wenn man den
Menschen plausibel erklären kann, welchen Beitrag zur
Problemlösung diese Technologie liefert, dann ist die
Akzeptanz hoch. Bei der Weißen Biotechnologie ist das
der Fall.
Bei der Grünen Gentechnik ist die Akzeptanz nicht so
hoch. Die entsprechenden Zahlen wurden schon ge-
nannt: 70 bis 80 Prozent der Menschen sind skeptisch.
Auch Sie, Frau Flach, kommen deshalb nicht umhin,
eine Balance zwischen dem Innovationspotenzial auf der
einen Seite und der Einstellung und den berechtigten
Sorgen der Bevölkerung auf der anderen Seite zu finden.
Die Kombination kann nur heißen: Chancen nutzen
und Risiken begrenzen. Das ist genau unser Weg. Es
wäre gut, wenn Sie uns da folgen würden.
Danke.
Das Wort hat nun der Kollege Hellmut Königshaus,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
die Debatte verfolgt, dann kann man gut verstehen, dass
die Kollegin Reiche der weiteren Erörterung ein Krip-
penspiel vorgezogen hat.
– Es ist etwas völlig anderes, wenn die Ministerin, die
dem Parlament verantwortlich ist, nicht anwesend ist.
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Regen Sie sich nicht so auf, sondern stellen Sie eine
wischenfrage! Dann habe ich mehr Zeit, auf dieses
hema einzugehen.
Die Arbeitsteilung, die in dieser Bundesregierung
errscht – sie erkennt man auch, wenn man sich die Er-
ebnisse des Jahres der Technik, das so großartig ange-
ündigt wurde, betrachtet –, ist doch die: Der Bundes-
anzler, gelegentlich auch Frau Bulmahn und Herr
lement, machen wohlfeile Ankündigungen. Anschlie-
end kommen Herr Trittin und Frau Künast und wischen
lle Vorschläge vom Tisch und blockieren. Das ist die
rbeitsteilung.
enau deshalb kommt auch die Weiterentwicklung un-
eres Standorts und unserer Wirtschaft nicht voran.
Kollege Loske hat hier gerade eben wieder ein Bei-
piel dafür geliefert, wo bei uns das eigentliche Problem
iegt: Überall werden immer nur Risiken beschrieben
das wird dann auch noch als verantwortungsvolles He-
angehen betrachtet – und nirgendwo werden Chancen
etrachtet.
iese technikfeindliche Grundstimmung überträgt
ich leider Gottes auf die Jugend und auf die Heran-
achsenden.
eshalb haben wir einen so geringen Anteil an Studie-
enden im Bereich der Naturwissenschaften und im Be-
eich der Ingenieurwissenschaften.
Ich lebe hier. – In Finnland würde ich sehen, dass der
nteil doppelt so hoch ist wie bei uns. Das ist eben der
nterschied: Dort wird dieser Bereich gefördert und
icht immer nur Risikobetrachtung und Nabelschau be-
rieben.
Gerade weil wir diesen Unterschied sehen, möchten
ir Sie wirklich dringend auffordern, doch einmal zu
en eigentlichen Themen zurückzukehren: Wo liegen ei-
entlich für unseren Standort jetzt die Chancen? Wo
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13863
)
Hellmut Königshaus
müssen wir weiter ansetzen? Die Themenfelder sind hier
ja eben beschrieben worden. Ich habe von Ihnen nichts
dazu gehört, was Sie sich an weiteren Förderungsmög-
lichkeiten vorstellen.
– Wenn das nur so wäre! Die Biotechnologie fördern Sie
ja nicht unbedingt; jedenfalls haben Sie bisher nicht den
Eindruck erweckt.
Das Einzige, was Sie im Bereich der Energiefor-
schung tun, ist, die Leute mit Ihren Windenergiepro-
grammen und Ähnlichem zu veranlassen, den Nachbarn
in die Tasche zu fassen und sich über die Stromrechnung
die Subventionen abzuholen, und dann zu behaupten,
das sei nicht gefördert worden.
Deshalb haben wir in Deutschland eine ganz andere
Grundstimmung und deshalb müssen wir uns wieder
darauf besinnen, wie wir vorankommen, und dürfen
nicht nur stehen bleiben. Wir stellen fest, dass Sie Ihre
ideologischen Vorbehalte verteidigen wie die Dänen die
Düppeler Schanzen. Hier geht es aber nicht um Schan-
zen, hier geht es um Chancen für unseren Standort. Des-
halb fordere ich Sie auf, wirklich wieder konstruktiv mit
uns zusammenzuarbeiten.
Danke schön.
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Carola Reimann,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich würde gerne zur Sache zurückkommen.
Wir haben zwei Anträge zur Bio- und Nanotechnologie
vorgelegt. Wir sind uns eigentlich einig, dass es sich bei
beiden Technologien um echte Schlüsseltechnologien
handelt, die gefördert werden sollen.
Die Rede von Herrn Heiderich hat bei mir den Ein-
druck erweckt, Biotechnologie fände in Deutschland gar
nicht mehr statt. Deswegen will ich die Zahlen kurz in
Erinnerung rufen: 1998 haben wir die Biotechnologie
mit 119 Millionen Euro gefördert, 2003 mit 143 Millio-
nen Euro. Wenn das keine Steigerung ist! 2003 war auch
der Zeitpunkt, zu dem Sie Ihren Antrag gestellt haben,
der ja – lassen Sie mich das sagen – ein müder Aufguss
eines alten Antrages aus der 14. Legislaturperiode ist.
Dieser Antrag ist jetzt als Aufguss des Aufgusses noch
einmal gestellt worden und liegt kürzer, aber auch nicht
gehaltvoller vor, wie das mit Aufgüssen nun einmal so
ist.
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eit 2001 fördert das BMBF die Genomforschung im
ationalen Genomforschungsnetz, das Ihnen viel-
eicht besser unter der Abkürzung NGFN bekannt ist,
it 180 Millionen Euro. Aus diesem Netz sind
0 Patente, 1 500 Publikationen und – ich erwähne das,
eil hierzu ein Vorwurf gemacht wurde – 90 Produkte
rwachsen, die in Zusammenarbeit mit der Industrie ent-
ickelt wurden.
rst letzte Woche ist die zweite Runde vorgestellt wor-
en; dafür werden 135 Millionen Euro zur Verfügung
estellt. Diese Projekte werden sich auf krankheits-
ezogene Genomnetze und systematisch-methodische
lattformen fokussieren, damit es eine entsprechende
onzentrierung gibt. Auch daran sind wieder über
00 Arbeitsgruppen an Universitäten, Max-Planck-Insti-
uten, Helmholtz-Zentren, Leibniz-Zentren und auch
iotechnologieunternehmen beteiligt. Ich bin sicher,
ass auch das wieder ein großer Erfolg wird.
Mit dem Nationalen Genomforschungsnetz konnte
ich Deutschland den Spitzenplatz in Europa sichern und
ich auch weltweit wieder an die Spitze setzen: auf
latz 2 hinter den Vereinigten Staaten.
Einer, der ganz unverdächtig ist, der Vorsitzende des
GFN-Lenkungsgremiums, Andreas Barner, der zu-
leich den Bereich „Forschung und Entwicklung“ bei
oehringer Ingelheim betreut und Vorsitzender eines
roßen Arzneimittelverbandes ist, hat der „Welt“ ein In-
erview gegeben und darin gesagt, dass es mit dem
GFN gelungen sei, Deutschland in den Spitzenbereich
er internationalen Genomforschung zurückzuführen.
ür Biowissenschaftler sei es wieder attraktiv geworden,
ier zu arbeiten und zu forschen. – Das zum Wettbewerb
er Köpfe und zum Standort Deutschland.
Auch auf den Bereich der Nanotechnologie möchte
ch kurz eingehen.
Darf die Kollegin Flach Ihnen zwischendurch eine
rage stellen?
)
13864 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Ja.
Bitte schön.
Frau Reimann, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze
und dass wir an vielen Stellen gemeinsamer Meinung
sind. Ich habe kein Wort zum Nationalen Genomfor-
schungsnetz gesagt. Sie wissen, dass die FDP es immer
unterstützt hat. Meine Aussage war: In Deutschland ist
die Lücke zwischen der Forschung und den Produk-
ten, die zu Arbeitsplätzen führen, nach wie vor nicht ge-
schlossen.
Sicherlich waren auch Sie letzte oder vorletzte Woche
bei der Biotechkonferenz der Bundesregierung. Dort
wird immer wieder die Frage gestellt: Wie lösen wir die-
ses Problem?
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie am Ende des Jah-
res der Innovation eine schlüssige Antwort darauf geben
könnten.
Frau Kollegin, ich wollte gerade mit der Nanotechno-
logie fortfahren. Ich nehme dieses Beispiel auf. Die För-
derung ist massiv hochgefahren worden. Deutschland
war eines der ersten Länder, die Nanotechnologie geför-
dert haben. 1998 standen dafür 27,6 Millionen Euro zur
Verfügung. Jetzt sind es 123 Millionen Euro.
Die Förderung ist an so genannten Leitinnovationen
ausgerichtet, um den Technologietransfer in die kleinen
Unternehmen zu stärken. Gerade im Bereich Nano sind
es vor allen Dingen kleine und mittelständische Unter-
nehmen, die mit den Kompetenznetzen zusammenarbei-
ten und so zu Anwendungen kommen.
– Ich habe die Zahlen zu den einzelnen Kompetenzzen-
tren nicht hier. Ich kann aber zu dem Kompetenzzen-
trum, das bei mir vor Ort ansässig ist, sagen, dass mit
ihm 30, 40 kleine oder mittelständische Unternehmen
kooperieren. Sie bringen Dinge zur Anwendung, die in
den Kompetenznetzen gefunden werden. Das ist, glaube
ich, ein sehr wichtiger Weg.
Gucken Sie sich den ganzen Bereich Nanofab an!
Die Firmen, die sich um Dresden herum ansiedeln, nut-
zen genau das für die Chipherstellung, was im Nano-
technologiebereich entwickelt wird. Das sind sehr hoff-
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Es geht nicht immer nur um Geld; auch das muss ich
n dieser Stelle sagen. Hier ist vorhin schon angeklun-
en: Es muss auch um den Dialog mit der Bevölke-
ung, mit den Bürgerinnen und Bürgern gehen;
enn nur mit einem reflektierten Dialog über Chancen,
utzen und Risiken kann man Verständnis und Akzep-
anz gewinnen und damit den wirtschaftlichen Erfolg
euer Technologien gewährleisten.
Die Akzeptanzprobleme, die wir jetzt im Bereich der
rünen Gentechnologie beklagen, sind meiner Ansicht
ach zum Teil darauf zurückzuführen, dass dieser Dialog
n der Anfangszeit gar nicht geführt wurde. Schon gar
icht wurde über die Risiken gesprochen. Jetzt ist das
isstrauen sehr groß. Ein eventueller Nutzen wird wahr-
cheinlich kaum erkannt werden oder durch das Miss-
rauen einfach überkompensiert werden, was ich im Üb-
igen durchaus verständlich finde.
Ich will ein erfolgreiches Beispiel nennen. Letzte Wo-
he war zufällig der Nanotruck in meinem Wahlkreis in
raunschweig. Er ist ein sehr gutes Beispiel für einen
ialog mit der Bevölkerung, er ist ein niederschwelliges
ngebot für Bürgerinnen und Bürger. Es waren wirklich
lle da: Schulklassen, Einzelpersonen, Jüngere, Ältere.
er Nanotruck will über Grundlagen und Anwendungs-
ebiete, über Zukunftspotenziale und auch über Risiken
nformieren. Dieser Dialog mit der Öffentlichkeit wird
eführt und sehr gefördert.
Ich habe ein Exponat aus dem Nanotruck mitge-
racht. Sie sehen, dass darin eine schwarze Flüssigkeit
nthalten ist.
Herr Tauss, sehen Sie sich das freundlicherweise von
hrem Platz aus an.
In dieser Flüssigkeit sind Nanoeisenpartikel gelöst,
ie dieser Flüssigkeit nicht nur ihre schwarze Farbe ge-
en, sondern ihr auch magnetische Eigenschaften verlei-
en. Wenn Sie sie – viele erinnern sich vielleicht an Ma-
netversuche mit Eisenspänen – mit einem Magneten
ochziehen, dann können Sie eine Igelstruktur erkennen,
ie sehr schön nach dem Magnetfeld ausgerichtet ist.
as ist ein schönes Spielzeug, Herr Präsident. – Bitte
ehr.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13865
)
)
Dr. Carola Reimann
Dieses Spielzeug ist allerdings kein parlamentari-
sches Spielzeug, sondern wird für eine sehr reale An-
wendung genutzt. Diese Flüssigkeiten werden benutzt,
um – Frau Burchardt hat es schon erwähnt – Tumore zu
bekämpfen; Tumore werden mit einem solchen Fluid be-
handelt. Dafür wird am Kopf des Patienten ein Wechsel-
feld angebracht. Die Nanopartikel bewegen sich und
durch diese Bewegung entsteht Wärme. Diese Hyper-
thermie – so nennt man das – schädigt und zerstört den
Tumor sehr selektiv. Die ersten Versuche, die dazu in der
Charité durchgeführt wurden, sind sehr hoffnungsvoll
und erfreulich verlaufen. An diesem Beispiel wird deut-
lich, in welchen Bereichen Nanotechnologie sehr gut an-
gewandt werden kann.
Die Entwicklung und Anwendung von Ferrofluiden wird
von der DFG als einer der Schwerpunktbereiche geför-
dert. Dies ist quasi ein Abfallprodukt eines BMBF-Pro-
gramms.
Ich denke, es ist klar geworden, dass es sehr faszinie-
rende Potenziale der Nano- und Biotechnologie gibt. Die
Bundesregierung hat das erkannt und diese Bereiche seit
Jahren intensiv gefördert. Hoffentlich macht sie so wei-
ter.
Danke.
Frau Kollegin Reimann, mit dem Hinweis auf das Ab-
fallprodukt des BMBF haben Sie sicherlich nicht das
Präsidium, sondern Ihr Demonstrationsobjekt gemeint.
Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie es mitgenommen und so-
fort dem Kollegen Tauss ausgehändigt haben; denn ich
kann mir nicht vorstellen, dass er bis zum Ende der Ple-
narsitzung abgewartet hätte, um es persönlich in Augen-
schein zu nehmen.
Nun hat der Kollege Axel Fischer für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Axel E. Fischer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattie-
ren heute über die Bilanz des Jahres der Technik 2004.
Wenn man sich diese Bilanz, die wir aktuell zu beklagen
haben, anschaut, muss man folgende Stichworte nennen:
steigende Arbeitslosigkeit, immer mehr Unternehmens-
verlagerungen ins Ausland und das Sterben des Mittel-
standes in Deutschland. Im Forschungsbereich – das ha-
ben wir im Forschungsausschuss immer wieder
debattiert – ist die Situation ähnlich: Immer mehr junge
Forscher versuchen ihr Glück nicht in Deutschland, son-
dern im Ausland.
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enn man das genau betrachtet, muss man ganz klar sa-
en: Es wäre wichtig, dass wir uns mehr um die For-
chung kümmern und dass sich die Bundesforschungs-
inisterin mehr um das kümmert, weswegen sie im Amt
st. Sie sollte nicht versuchen, den Ländern ihre Bil-
ungskompetenz zu entziehen, sondern Forschungspoli-
ik betreiben und in diesem Bereich neue Ansätze entwi-
keln.
Vor einiger Zeit hat die Bundesforschungsministerin
ine deutsche Zukunftsinitiative für Nanotechnologie
uf den Weg gebracht. Ich muss sagen: Herzlichen Glück-
unsch! Das ist immerhin ein Lichtblick. Für unsere
raktion ist der Ansatz zwar immer noch zu planwirt-
chaftlich, aber immerhin. Eigentlich habe ich erwartet,
ass vonseiten der rot-grünen Regierungskoalition An-
räge eingebracht werden, um die Forschungsministerin
n diesem Bereich zu unterstützen und anzutreiben.
och: weit gefehlt. Im vorliegenden Antrag von Rot-
rün – Frau Burchardt hat vorhin schon über ihn gespro-
hen – wird deutlich mehr über die Risiken als über die
hancen der Nanotechnologie diskutiert.
Ich habe mir den Spaß gemacht, durchzuzählen, wie
äufig die Wörter „Risiko“ und „Chance“ in Ihrem An-
rag stehen. Das mag zwar nicht direkt etwas mit der
ualität Ihres Antrags zu tun haben, aber es fällt auf,
ass das Wort „Risiko“ 40 Prozent häufiger verwendet
ird als das Wort „Chance“.
as zeigt, wes Geistes Kind die Autoren Ihres Antrags
ind.
In Ihrem Antrag – das ist besonders interessant – mo-
ieren Sie das fehlende Wissen über die Gefahren der
anotechnologie. Ich glaube, wir brauchen mehr Wissen
ber die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen
otenziale der Nanotechnik, die wir durch Forschung
nd Anwendung dieser Technik nutzbar machen können,
m den Wohlstand für unser Volk zu mehren und dafür
u sorgen, dass wir wieder Wirtschaftswachstum in
eutschland bekommen, dass es uns in unserem Land
ieder gut geht, dass wir mehr Arbeitsplätze haben und
nternehmen hier in Deutschland wieder eine Chance
aben. Dann müssen die Menschen nicht mehr die große
13866 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Axel E. Fischer
Sorge haben, immer weniger Geld im eigenen Geldbeu-
tel zu behalten.
Wenn man den Wohlstand mehren will, muss man
Chancen ergreifen. Ich will zitieren, was unsere Frak-
tionsvorsitzende Angela Merkel hier am 8. September
gesagt hat:
Sie müssen Chancen eröffnen und nicht Risiken be-
trachten. Aber Rot-Grün betrachtet an viel zu vielen
Stellen zuerst das Risiko und vergeudet damit
Chancen. Genau das ist der Unterschied zwischen
uns und Ihnen.
Wenn man dieses Zitat von Angela Merkel liest, könnte
man meinen, sie ist aufgrund Ihres Antrages zur Nano-
technik zu diesem Urteil gekommen. Aber wenn man es
genau betrachtet, ist das bei Ihnen nichts Besonderes, es
hat ja schon System.
Ich erinnere an die Debatte über den Transrapid,
über den wir uns in diesem Haus viele Jahre gestritten
haben. Der Kollege Dirk Fischer hat mehrfach darauf
hingewiesen – andere Kollegen auch –, dass wir den
Transrapid in Deutschland brauchen.
Was ist das Ergebnis Ihrer Verhinderungspolitik? Der
Transrapid fährt in China, die deutsche Technik ist in
China
und unser Bundeskanzler sitzt vorn im Führerhaus und
lächelt in die Kameras. Dieses Fahrzeug könnte bei uns
fahren, wir könnten diese Technik hier weiterentwickeln.
Ein weiteres Beispiel ist die Gentechnik – Kollege
Heiderich hat es schon ausführlich dargelegt –: Auch
hier diskutieren Sie deutlich mehr über die Risiken; vor
allem die Grünen sind hier die Bremser. Wir müssen
wieder zu einer Diskussion über die Chancen kommen,
um unser Land voranzubringen. Darum geht es hier!
Jetzt haben Sie einen Antrag zur Energieforschung
eingebracht. Ich muss sagen, es wundert mich schon,
dass der Wirtschaftsminister und die Bildungsministerin
gegen diesen Antrag nicht Sturm laufen.
Dieser Antrag hat doch überhaupt nichts mit For-
schungspolitik zu tun. Das ist ein Subventionsantrag, mit
dem regenerative Energien gefördert werden sollen, mit
dem sie den Menschen über die EEG-Einspeisevergü-
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ie beachten nicht, dass dauernd etwas verdunstet, dass
s immer weniger wird. Wir von der Regierungskoali-
on machen uns Gedanken, wie wir dieses Glas wieder
üllen können, damit wir wieder mehr haben.
Jawohl, wir von der Regierungskoalition – ab 2006,
enn wir die Verantwortung wieder übernehmen wer-
en!
Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Antrag zur Nano-
echnologie eingebracht. In diesem Antrag haben wir
ie Punkte aufgeführt, die wichtig sind, um die Nano-
chnik in Deutschland voranzubringen:
ir müssen die zentralistische Feinsteuerung unterbin-
en. Wir brauchen dringend eine Entbürokratisierung.
ir brauchen eine Stärkung des Mittelstands
nd wir müssen von der Grundlagenforschung zur An-
endung kommen. Dieser Weg muss erleichtert werden.
eutschland muss in der Nanotechnologie möglichst
ald auf breiter Front den Sprung von der Forschung
die Anwendung schaffen.
Frau Merkel hat hier am 8. September auch gesagt:
Innovationen haben einen ganz besonderen Charak-
ter. Sie kommen nicht, wenn man einfach nur ihren
Namen laut ruft. Innovationen brauchen ein be-
stimmtes Klima. Dieses Klima hat nicht etwas mit
politischer Vorbestimmung, sondern mit Freiheit zu
tun.
Katherina Reiche hat am 10. September gesagt:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13867
)
)
Axel E. Fischer
Bildung und Wissenschaft brauchen Freiheit. Aber
Ihnen erscheint der Wert der Freiheit suspekt. Sie
wollen reglementieren. Sie wollen kontrollieren.
Man kann es auf den Punkt bringen: Sie finanzieren
Forschung für Bedenkenträger, die Innovationen brem-
sen und den Wohlstand verringern. Stattdessen wollen
wir – hierin beziehe ich die FDP-Fraktion ein – For-
schungsmittel für Leistungsträger, die Innovationen vo-
ranbringen und den Wohlstand mehren. So einfach ist es!
Nächste Rednerin ist die Kollegin Drobinski-Weiß für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gegenstand der
heutigen Debatte ist unter anderem ein Antrag, mit dem
die CDU/CSU eine „grundlegende Überarbeitung des
Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts“ for-
dert. Es handelt sich, um es kurz zu sagen, um einen An-
trag, der weniger durch Argumentation und mehr durch
Polemik gekennzeichnet ist.
Uns wird wieder einmal eine „Blockadehaltung ge-
genüber der Gentechnik“ vorgeworfen, nicht zu verges-
sen die Behinderung der Forschung – das haben wir auch
eben wieder gehört – und die Schwächung des Standor-
tes Deutschland.
Ich zitiere:
… Schröder und Künast haben dieser Richtlinie
– gemeint ist die EU-Freisetzungsrichtlinie –
zugestimmt und damit erstmals die Voraussetzung
geschaffen, dass in Europa, in Deutschland,
… künftig gentechnisch veränderte Organismen
ausgebracht werden können.
Wissen Sie, wer das gesagt hat? Stefan Mörsdorf, Minis-
ter des CDU-regierten Saarlands, am 24. November
2004 in einer Landtagsdebatte, in der es unter anderem
um GVO-Verunreinigungen im Raps auf saarländi-
schen Äckern ging.
In solchen Fällen – nämlich dann, wenn etwas schief ge-
gangen ist – wird die Verantwortung gern auf den Bund
geschoben.
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Sie behaupten, die Forschung werde insbesondere
urch die unangemessene Haftungsregelung behindert.
en Beweis für diese Behauptung aber ist man uns bis-
er schuldig geblieben. Vielmehr haben wir aus For-
chungskreisen auch Unterstützung für das Gesetz erfah-
en, zum Beispiel von der Vereinigung Deutscher
issenschaftler. Möglicherweise ist sie bei dem von
errn Heiderich genannten „Sturmlauf“ verloren gegan-
en. Laut VDW behindert die Haftungsregelung eine
orgfältig geplante Forschung nicht; vielmehr stehe „ein
ündel von Sicherheitsvorkehrungen zur Verfügung,
eren kluge und konsequente Nutzung durch die neue
aftungsregelung ganz im Sinne des Gesetzes beför-
ert“ werde. Auskreuzungsbeschränkungen sind im
brigen schon in der jetzigen Genehmigungspraxis die
egel, ohne dass dadurch Freisetzungen unmöglich
ären.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, man
ann einen Standort auch schlechtreden, wie wir es
eute wieder vielfach gehört haben.
ie Behauptung, aufgrund einer viel zu restriktiven Ge-
etzgebung in Deutschland werde hier nicht mehr
eforscht und es würden Arbeitsplätze ins Ausland ver-
agert werden, vermittelt den Eindruck, einzig in
eutschland sei die Bevölkerung kritisch eingestellt.
as trifft nicht zu. Nicht nur innerhalb der EU, sondern
n zunehmendem Maße auch in Nicht-EU-Ländern gibt
s Vorbehalte.
Deutschland hat keine Standortnachteile; allerdings
at die Agrogentechnik ein Akzeptanzproblem bei den
erbrauchern. Eine strikt auf Vorsorge, Gesundheits-
nd Umweltschutz sowie Sicherheit und Transparenz
usgerichtete Gesetzgebung wie in Deutschland bietet
ür die Branche dagegen die Chance, Vertrauen zu ge-
innen und damit auch den Markt zu erschließen.
Die Mehrheit der Verbraucher und auch der Land-
irte will keine Gentechnik im Lebensmittelbereich.
as zeigen die Umfragen – dies wissen Sie selbst –,
as zeigt aber beispielsweise auch die wachsende Zahl
entechnikfreier Regionen, die mittlerweile bei weit
ber 50 liegt.
Zu Ihren Forderungen gehe ich im Folgenden nur
och auf zwei Punkte ein:
13868 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Elvira Drobinski-Weiß
Erstens. Sie stimmen mir sicherlich zu, dass gerade
bei Freisetzungsversuchen die Vermeidung von Aus-
kreuzungen oberste Priorität haben muss.
Die Gentechnik birgt zweifelsfrei gewisse Risiken
in sich.
Bevor Sie mir jetzt Ideologie vorwerfen, meine Damen
und Herren von der Opposition: Auch dies ist ein Zitat
von Umweltminister Mörsdorf, Mitglied der CDU-
Regierung im Saarland.
Erzeugnisse aus Freisetzungsversuchen dürfen nicht
in Verkehr gebracht werden, wenn keine entsprechende
Inverkehrbringensgenehmigung vorliegt. Es wäre ein
Widerspruch, wenn einerseits die Erzeugnisse, die auf
der Freisetzungsfläche selbst erzeugt wurden, nicht in
Verkehr gebracht werden dürfen, andererseits aber Aus-
kreuzungsprodukte aus Freisetzungsversuchen ohne eine
solche Genehmigung vermarktet werden könnten. Übri-
gens hat die EU-Kommission diese Position nach sorg-
fältiger Prüfung bestätigt.
Zweitens zur Haftungsregelung: Sie fordern eine ver-
schuldensabhängige Haftung. Die Haftungsregelung
im Gentechnikneuordnungsgesetz, § 36 a, basiert auf
dem Nachbarschaftsrecht und dort gibt es kein Verschul-
den. Die Geschädigten haben einen Anspruch auf Scha-
denersatz, auch wenn der Verursacher keinen Verstoß
begangen hat. Ein Fonds, der die allgemeinen zivilrecht-
lichen Abwehr- und Ausgleichsregeln nicht lediglich
ergänzt, sondern bei Einhaltung der guten fachlichen
Praxis eine Inanspruchnahme des GVO anbauenden
Landwirts ausschließt, wäre eine Abkehr vom Nachbar-
schaftsrecht.
Grundsätzlich schließt das Gesetz zur Neuordnung
des Gentechnikrechts nicht aus, dass auf freiwilliger
Basis zwischen den Wirtschaftspartnern ein Haftungs-
fonds für den Ausgleich von Beeinträchtigungen einge-
richtet wird. So etwas ist aber nur als Ergänzung zur
gesetzlich vorgesehenen Haftungsregelung anzusehen,
nicht als Alternative.
Sehr geehrte Damen und Herren von der CDU/CSU,
Ihren Antrag lehnen wir ab. Wenn es Ihnen wirklich um
eine zügige Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie
und um die Schaffung von verlässlichen Rahmenbedin-
gungen für den GVO-Anbau in Deutschland geht, dann
unterstützen Sie uns bei der weiteren Konkretisierung
und Umsetzung des vorliegenden Gesetzes.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Marion Seib, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Man möchte sagen: Hurra, wir leben noch!
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Diesem Anspruch ist die Bundesregierung im Jahr der
echnik und Innovationen nicht gerecht geworden.
ortschöpfungen wie „Brain Up“, „Germany powered
y innovation“ oder „Mind the Gap“ haben die Bürger
her verwirrt als aufgeklärt. Auch die harten Fakten
prechen nicht für einen Erfolg. Anspruch und Wirklich-
eit klaffen weit auseinander.
Bei Gerhard Schröder hieß es zum Beispiel in der
usgabe des „Handelsblattes“ vom 30. Dezember 2003,
lso von vor knapp einem Jahr:
Auch die zunehmende Mobilität in unserer Gesell-
schaft ist ein Zukunftsmarkt … Solche Zukunfts-
märkte können sich in Deutschland umso stärker
herausbilden, je produktiver unsere … international
anerkannte und qualitativ hochwertige Spitzenfor-
schung wird.
atsache ist: In dem so genannten Jahr der Innovation
at die Bundesregierung die Mittel für Verkehrs- und
obilitätsforschung nicht erhöht, sondern um
0 Prozent gekürzt.
benso verhält es sich beim Mittelstand. Bei allen Ge-
egenheiten preist die Bundesregierung den Mittelstand,
eine Leistungsfähigkeit und seine Innovationskraft.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13869
)
)
Marion Seib
Hier handelt es sich aber um bloße Lippenbekenntnisse.
Tatkräftige Hilfe kann der Mittelstand von der Bundes-
regierung leider nicht erwarten.
Symptomatisch hierfür steht zum Beispiel die Web-
seite der Bundesregierung zum Jahr der Technik. Gibt
man als Suchbegriff das Wort „Mittelstand“ ein, so er-
hält man die Information, dass es keine entsprechenden
Einträge gibt.
Ich glaube kaum, dass der Mittelstand nichts zum Jahr
der Technik zu sagen hat.
Mit großem Tamtam wurde Anfang des Jahres der
High-Tech-Masterplan Mittelstand aus der Taufe ge-
hoben. Wie wir jedoch bereits in der Debatte Anfang des
Jahres festgestellt haben, wurde hier alter Wein in neue
Schläuche umgefüllt, damit auch dem Mittelstand im
Jahr der Innovation Blendwerk vor die Augen geführt
werden konnte.
Die Realität sieht leider etwas anders aus: Wir verzeich-
nen steigende Insolvenzzahlen. Allein in diesem Jahr
werden circa 40 000 Betriebe in die Pleite rutschen bzw.,
wie der Herr Wirtschaftsminister Clement das heute
Nachmittag hier so schön formuliert hat, „vom Markt
gehen“. Die fehlenden Eigenkapitalausstattungen und
die überbordende Bürokratie schaffen den Rest. Ange-
sichts dieser Probleme verliert der Mittelstand allmäh-
lich die Kraft, neue innovative Produkte zu entwickeln
und auf den Markt zu bringen. Frau Kollegin Flach, das
ist auch im Ausschuss unser zentrales Problem.
Einen schweren Rückschlag für die Forschung im
Mittelstand stellt daher die schleppende Mittelvergabe
an die Arbeitsgemeinschaft für industrielle For-
schung dar. Normalerweise ist die AiF eine der Haupt-
stützen für die Forschung im Mittelstand. In den vergan-
genen zwei Jahren konnten von den jeweils in Aussicht
gestellten Mitteln in Höhe von 97 Millionen Euro jedoch
nur gut 90 Millionen Euro abgerufen werden. Diese Art
der Mittelvergabe führte dazu, dass die AiF 2004 – es
geht also um das Jahr der Innovation – die Finanzierung
neuer Vorhaben in großem Umfang zurückfahren
musste. Wenn man bedenkt, dass für ein innovatives
Produkt durchschnittlich 170 Ideen formuliert und über-
prüft werden müssen, dann können Sie sich vorstellen,
was das für den Innovationsstandort Deutschland bedeu-
tet.
Wegweisende Forschungsvorhaben werden be- oder
sogar verhindert, weil die betroffenen Firmen den feh-
lenden Finanzierungsanteil für Forschung und Entwick-
lung nicht überbrücken können. Davon sind Projekte aus
vielen Fachbereichen betroffen. Ich nenne zum Beispiel
den Maschinenbau. Dort kann ein allgemein gültiges
thermodynamisches Zylindermodul für alle bekannten
Brennverfahren nicht entwickelt werden. In der Lebens-
mitteltechnologie warten wir auf Energie sparende und
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, das nächste
ahr bietet Chancen. Eine wegweisende Physikerpersön-
ichkeit des vergangenen Jahrhunderts wird nämlich im
ittelpunkt stehen: Albert Einstein. Wir dürfen gespannt
ein, was sich die Bundesregierung dazu einfallen lässt.
ielleicht überrascht sie uns ja mit einer „allgemeinen
elativitätsoffensive“ im Hinblick auf ihr eigenes Han-
eln.
Vielen Dank und viel Vergnügen noch.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
ollege Hermann Scheer für die SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Ich möchte mich auf den
ntrag der Koalitionsfraktionen konzentrieren, in dem
s um die Energieforschung geht. Da aber meine Vorred-
erin von dem Einstein-Jahr gesprochen hat, möchte ich
it einem Einstein-Zitat beginnen: Die Methoden, die
ie Probleme hervorgerufen haben, sind ungeeignet, die
robleme zu lösen.
Das gilt in einem ganz starken Maße für die Ener-
ieforschung. Wir müssen uns einmal vor Augen füh-
en, welche Schwerpunkte der Energieforschung in den
ergangenen Jahrzehnten gesetzt und mit einem un-
laublichen Aufwand verfolgt worden sind, nicht nur in
eutschland, sondern in ganz Europa, in allen führenden
ndustrieländern von Ost bis West, von den USA bis zur
13870 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Dr. Hermann Scheer
Sowjetunion. Über viele Jahrzehnte hat man sich dabei
fast ausschließlich auf die Atomforschung konzentriert.
Es ist überfällig, einmal eine Forschungskostenfolgenbe-
wertung vorzunehmen.
Eine solche Forschungskostenfolgenbewertung kann
nicht mehr ignorieren, dass in der Summe – wenn man in
dem ganzen Spektrum derjenigen, die das versucht ha-
ben, alles zusammennimmt – über 1 Billion Dollar für
die Atomforschung einschließlich der Fusionsforschung
ausgegeben worden sind. Demgegenüber hat eine gera-
dezu atemberaubende Vernachlässigung der erneuerba-
ren Energien stattgefunden.
Wenn nun in diesem Antrag endlich die Konsequenz
daraus gezogen wird, dann ist das absolut überfällig und
eine Umsetzung dessen, was der Bundestag bereits im
Jahr 1990 beschlossen hat.
Wir waren in dieser Frage schon einmal erheblich weiter.
Ich kann mich noch gut erinnern, im Jahr 1989 einen
SPD-Antrag lanciert zu haben, der dann in ein Allpartei-
engespräch mündete und im Jahr 1990 zu einer einstim-
mig verabschiedeten Entschließung des Deutschen Bun-
destages führte, in der in der Energieforschung für die
erneuerbaren Energien eine absolute Priorität eingefor-
dert worden ist. Leider ist diese Entschließung nie umge-
setzt worden.
Herr Kollege Scheer, darf Ihnen Frau Kollegin Flach
eine Zwischenfrage stellen?
Ja, bitte schön. Das können Sie gerne tun.
Herr Scheer, ich möchte Sie fragen, ob Sie sich daran
erinnern, dass Sie 1990 zwar einen einstimmig verab-
schiedeten Entschließungsantrag des Parlamentes er-
reicht haben, aber der Antrag der SPD damals von den
anderen in keiner Weise unterstützt wurde?
Das kann ich so nicht ganz bestätigen.
– Es war ein Entwurf der SPD-Fraktion. Danach hat ein
Allparteiengespräch stattgefunden. Von der CDU/CSU
waren der Kollege Engelsberger und der Kollege Maaß,
von der FDP der Kollege Laermann, von den Grünen
Wolfgang Daniels und von der SPD war ich dabei.
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Diese absolut makabere Prioritätensetzung muss kor-
igiert werden. Es ist nicht nur so, dass unglaubliche
ummen für wenig Effekt ausgegeben worden sind. Zur
orschung gehört selbstverständlich auch – Stichwort
echnikpessimismus – die Risikoabschätzung. Wenn
ie in der Forschung vernachlässigt wird, dann rennt
an – Beispiele dafür gibt es in zahllosen Fällen – in
isikosituationen hinein, die am Schluss niemand mehr
erantworten kann und höchstens wieder neue For-
chungsaufgaben zur Verminderung der Risiken nach
ich ziehen. Es sind Institutionen gebildet worden – es
ibt die Euratom; in allen Ländern haben sich Großfor-
chungszentren gebildet –, die ein Eigenleben entwickelt
aben. Natürlich kann man dort nicht ohne weiteres auf
rneuerbare Energieträger umschalten – schließlich hat
an ganz anderes gelernt –, auch wenn es mittlerweile
um Weltbewusstsein gehört, dass diese wesentlich zu-
unftsträchtiger sind.
Ich erinnere an Max Planck, den zweiten ganz großen
hysiker neben Albert Einstein, der in den 20er-Jahren
n seiner Autobiografie geschrieben hat – ungefähr wört-
ich –: Eine neue Erkenntnis pflegt sich nicht dadurch
urchzusetzen, dass die Vertreter der alten Erkenntnisse
ich als belehrt erklären und dazulernen, sondern in der
egel nur dadurch, dass die Vertreter der alten Erkennt-
isse allmählich aussterben.
ieses allmähliche Aussterben dauert seine Zeit. Aber
arauf können wir leider nicht warten. Wir müssen, was
ie Umschichtung der Forschungsmittel und die Än-
erung der Prioritäten betrifft, nachhelfen, und zwar
räftig. Mit unserem Antrag machen wir einen großen
chritt. Wir sind zuversichtlich, dass die Umsetzung
urch das zuständige Ministerium erfolgen wird.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
chusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
bschätzung auf Drucksache 15/3754 und zum Bericht
emäß § 56 a der Geschäftsordnung auf Druck-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13871
)
)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
sache 15/2713 zum TA-Projekt Nanotechnologie. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung in Kenntnis des genannten Berichts die An-
nahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/3051 mit
dem Titel „Aufbruch in den Nanokosmos – Chancen
nutzen, Risiken abschätzen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich der Stimme? – Damit ist die Beschlussempfeh-
lung mit der Mehrheit der Koalition angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des
genannten Berichts die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2650 mit dem Ti-
tel „Nanotechnologische Forschung und Anwendungen
in Deutschland stärken“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen gibt es offenkundig nicht. Auch diese Beschluss-
empfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des
genannten Berichts die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 15/3074 mit dem Titel
„Forschung und Entwicklung in der Nanotechnologie
voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der
Stimme? – Wiederum mit gleicher Mehrheit angenom-
men.
Tagesordnungspunkt 5 b: Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung auf Druck-
sache 15/3692. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 sei-
ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2161 mit
dem Titel „Perspektiven schaffen für das Jahr der Tech-
nik 2004“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? –
Die Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenom-
men.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der FDP auf Drucksache 15/2594 mit dem
Titel „Jahr der Technik zur Stärkung der Forschungsland-
schaft und des Innovationsklimas in Deutschland nut-
zen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthält sich jemand der Stimme? –
Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenom-
men.
Tagesordnungspunkt 5 c: Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung auf Druck-
sache 15/3893 und zur Unterrichtung durch die Bundes-
regierung über die Mitteilung der Kommission mit dem
Titel „Eine Strategie für Europa – Fortschrittsbericht und
künftige Ausrichtung“. Unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis der ge-
nannten Unterrichtung die Ablehnung des Antrags der
CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 15/423 mit dem Ti-
tel „Weiterentwicklung einer Biotechnologiestrategie für
den Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland“.
Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
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Ich will auch darauf verweisen, dass wir uns als poli-
tisch Verantwortliche lächerlich machen,
wenn wir schnellere Entscheidungen über Asyl-
anträge fordern – wenn wir etwa von den Gerichten ver-
langen, Asylgerichtsverfahren beschleunigt durchzufüh-
ren –,
aber dann, wenn rechtskräftig und eindeutig festgestellt
wird, dass ein abgelehnter Asylbewerber unser Land zu
verlassen hat, die Hände in den Schoß legen müssen,
weil wir die Ausreisepflicht nicht durchsetzen können.
Wir müssen aufpassen, dass sich der Rechtsstaat nicht
lächerlich macht.
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Wenn verstärkt darauf hingewiesen wird, dass in die-
em Zusammenhang die Länder eine Rolle spielen, dann
ill ich auch darauf hinweisen, liebe Kollegin Sonntag-
olgast, dass nahezu alle Vorschläge, die wir mit unse-
em Antrag unterbreiten, auf Beratungen der Arbeits-
ruppe „Rückführung“ des Bundes und der Länder zu-
ückzuführen sind. Das alles sind Vorschläge, die eben
icht nur von CDU/CSU-geführten Ländern gemacht
urden, sondern die auch und gerade von Ländern stam-
en, die von der SPD und den Grünen regiert werden.
ir haben dies übernommen, weil wir der Auffassung
ind, dass es weniger um Parteipolitik geht als vielmehr
arum, Schwierigkeiten zu lösen.
Da Sie jetzt verstärkt auf die Bundesländer hingewie-
en haben, will ich Ihnen entgegenhalten, dass es sich
icht nur um ein Problem der Bundesländer handelt; es
eht sehr wohl auch darum, dass der Bund hilft, dass es
u einer Rückführungspolitik kommt.
Das größte Problem ist – so sagen uns die Bundeslän-
er – die mangelnde Kooperationsbereitschaft ausländi-
cher diplomatischer Vertretungen bei der Beschaffung
on Passersatzpapieren. Das ist keine Geste des guten
illens, sondern sie sind völkerrechtlich dazu verpflich-
t. Wir wissen aus den Beratungen der AG „Rückfüh-
ung“, welche Probleme es gibt: Äthiopien stellt überzo-
ene formalistische Forderungen. Ghana: Botschaft ist
nkooperativ, verhält sich willkürlich. Kamerun: unlös-
are Fälle, weil unerfüllbare Anforderungen gestellt
erden. Syrien wird eine unkooperative Haltung seiner
otschaft vorgeworfen, genauso wie Indien. Der Sene-
al lehnt Rücknahmeabkommen definitiv ab.
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Angesichts des-
en sind die Bundesländer alleine aufgeschmissen. Hier
uss der Bund helfen. Ich sage Ihnen mit Hinweis auf
ie fortwährenden Begehren der Landesinnenministerien
benfalls: Ich verstehe nicht, warum das Auswärtige
mt nicht verstärkt mit Botschaftereinbestellungen ar-
eitet und deutlich macht, dass es hier um die Erfüllung
on Völkerrecht geht, wenn Staatsangehörige von den
ben genannten Ländern zurückgenommen werden müs-
en.
In dieser Frage haben wir durchaus Gemeinsamkeiten
it dem Bundesinnenministerium. Wir wissen, dass das
undesinnenministerium zum Beispiel beim BMZ im
alle Äthiopiens immer wieder vorstellig geworden ist,
m Druck zu machen, damit sich das Verhalten dieses
andes verändert. Insofern will ich sagen: Wir müssen
uch die wirtschaftliche Zusammenarbeit auf den
rüfstand stellen, wenn Völkerrecht so nachhaltig miss-
chtet wird, wie das hier der Fall ist. Wir müssen aber
leichzeitig die Hilfe für diejenigen Länder verstärken,
ie sich in besonderer Weise um die Wiedereingliede-
ung ihrer Staatsbürger bemühen und sogar bereit sind,
rittstaatsangehörige – zumindest auf Zeit – auf ihrem
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13873
)
)
Reinhard Grindel
Territorium zu versorgen. Auch solche Beispiele gibt es.
Diese Länder müssen unterstützt werden.
Herr Kollege Veit, ich möchte an dieser Stelle darauf
hinweisen, dass uns der Bundesinnenminister im Kampf
gegen menschenverachtende Schleusungen, vor allem
von Schwarzafrikanern, die Einrichtung von Anlaufstel-
len in Nordafrika vorgeschlagen hat. Es gibt viele
rechtliche und praktische Probleme im Zusammenhang
mit der Einrichtung solcher Anlaufstellen. Wir haben
darüber mit dem Bundesinnenminister im Innenaus-
schuss ausführlich diskutiert. Er hat uns immer wieder
gefragt: Wo sind denn eure Alternativen? Darauf kann
ich nur antworten: Wir weisen in unserem vorliegenden
Antrag auf Alternativen hin. Die Alternative heißt: kon-
sequente Rückführungspolitik!
Es gibt Beispiele, wie das funktioniert. In den Jahren
1992 und 1993 gab es eine erhebliche Zuwanderung von
Asylbewerbern aus Rumänien und Bulgarien nach
Deutschland. Damals sind pro Jahr 102 000 aus Rumä-
nien und 28 000 aus Bulgarien gekommen. Wir haben
dann mit Rumänien ein Rücknahmeabkommen ge-
schlossen, was dazu geführt hat, dass binnen weniger
Tage Asylbewerber, die zum Beispiel an der Grenze zu
Polen aufgegriffen wurden, sofort in ihr Heimatland zu-
rückgeführt worden sind. Davon haben sie vor Ort be-
richtet: Es mache keinen Sinn, Schleusern Tausende von
Dollar zu zahlen, wenn man trotzdem nach wenigen Ta-
gen oder Wochen wieder dorthin zurückgeführt wird,
von wo aus man sich mithilfe der Schleuser auf den Weg
gemacht hat. Genau dieses Signal müssen wir deutlich
setzen. Nur wenn sich in den Herkunftsländern der Asyl-
bewerber herumspricht, dass es nichts bringt, Tausende
von Dollar an Schleuser zu zahlen, weil man trotzdem
schnell wieder in der Heimat zurück ist, kann man den
Sumpf der Schleusung austrocknen.
Das setzt eine konsequente Rückführung voraus. Auch
das ist eine Antwort auf die vielen Entwicklungen, die es
leider in den letzten Wochen und Monaten in der Mittel-
meerregion gibt.
Das Ganze ist aber nicht nur ein Problem einiger
schwarzafrikanischer oder arabischer Länder. Wir haben
auch erhebliche Probleme bei der Rückführung von
Asylbewerbern und illegal Zugewanderten aus Russ-
land. Russland stellt hohe Anforderungen, was die Be-
reitschaft der freiwilligen Rückkehr angeht. Unzweifel-
hafte Beweise der Staatsangehörigkeit werden verlangt,
was zum Beispiel in Tschetschenenfällen schwierig ist.
Die drittgrößte Gruppe der Asylbewerber, die in diesem
Jahr zu uns gekommen sind, kommt aus Russland. Es
sind immerhin über 2 500 Personen. Die Bundesregie-
rung tut aber nichts, um die russische Seite zu einer
Rücknahme ihrer Staatsangehörigen zu bewegen. Es ist
sicherlich ein riesengroßes Problem, dass man Leisetre-
terei gegenüber Herrn Putin betreibt, wenn es um die
Wahrung von Demokratie und Menschenrechten wie in
der Ukraine geht. Es ist aber skandalös, dass sich die
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lieber Josef Winkler, du weißt aus der Praxis ganz ge-
au, wieso –,
ie von abzuschiebenden Personen geradezu als Einla-
ung verstanden werden, irgendwelche Krankheitsbilder
u simulieren. Wie wir wissen, gibt es auf den Flughäfen
rzte, die sich über den Gesundheitszustand der Abzu-
chiebenden informieren. Es bedarf dieser besonderen
escheinigungen nicht. Sie führen nur zu erheblichen
roblemen bei der Rückführung abgelehnter Asylbewer-
er und Illegaler.
Wir sollten grundsätzlich darauf verzichten, Abschie-
emaßnahmen anzukündigen, weil das in aller Regel als
ignal verstanden wird, entweder abzutauchen, einzelne
amilienmitglieder an geheime Orte zu bringen oder
lötzliche Erkrankungen vorzutäuschen.
Wir müssen – übrigens ist auch das ein Vorschlag, der
icht nur aus unionsgeführten, sondern auch aus SPD-
eführten Ländern kommt – im Falle einer Verweige-
ung von Mitwirkungspflichten Kürzungen von Sozial-
eistungen vorsehen, wenn es um die Rückführung in
en Heimatstaat geht.
13874 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Reinhard Grindel
Wir haben einen ganzen Katalog von Maßnahmen
vorgelegt, der den Forderungen der Praxis entspricht.
Wenn wir die Mittel, die wir für Ausländer, die kein
Recht haben, in unserem Land zu leben, für diejenigen,
die auf Dauer bei uns bleiben sollen, als Integrations-
maßnahme einsetzen,
dann würden wir, lieber Kollege Schmidt, eine ganze
Menge für ein besseres Zusammenleben von Deutschen
und Ausländern in unserem Land tun.
Mit der Beseitigung von Abschiebehindernissen sor-
gen wir für sozialen Frieden. Wir bekämpfen das Schleu-
sertum und wir zeigen, dass der Rechtsstaat wehrhaft ist,
gerade gegenüber denjenigen, die ihn missbrauchen wol-
len.
– Das ist kein Populismus, Herr Kollege Schmidt. – Das
erwarten diejenigen Leute von uns, die daran verzwei-
feln, dass es viele Probleme mit Ausländern gibt.
Diese Probleme kann man zwar nicht mit dem Straf-
recht, aber vielleicht mit dem Ausländerrecht bekämp-
fen. Im Augenblick haben wir zu wenige Möglichkeiten,
uns von denjenigen, die kein Recht haben, auf Dauer bei
uns zu leben, zu trennen. Gerade Sie, Herr Schmidt, soll-
ten aufgrund Ihrer Erfahrung im Wahlkreis wissen, dass
hier Handlungsbedarf besteht.
Was zu tun ist, kann man in unserem Antrag sehr nach-
vollziehbar nachlesen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Rüdiger Veit, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieser Antrag der CDU/CSU ist, wenn man es ganz
freundlich formuliert, ähnlich wie Ihr Redebeitrag, Herr
Kollege Grindel, bestenfalls überflüssig.
Er ist zum Beispiel deswegen überflüssig, weil das, was
Sie fordern, längst im Gesetz steht. Übrigens, was das
Zuwanderungsrecht angeht, waren Sie höchstselbst am
Zustandekommen dieses Gesetzes bis zuletzt beteiligt.
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in Juraprofessor gesagt hat: Gesetzeskenntnis erleich-
ert die Rechtsfindung ungeheuer.
Außerdem halte ich diesen Antrag für überflüssig,
eil ganz viele Menschen – nicht nur diejenigen, die
ier sitzen – wissen, dass das, was Sie verlangen, längst
ängige Praxis ist. Es wird von der Bundesregierung,
ie auch auf europäischer Ebene, praktiziert. Ich werde
hnen das an ein paar Beispielen auch noch zeigen.
Der Antrag ist im Übrigen auch deswegen überflüs-
ig, weil wir der völlig falsche Adressat sind. Wie eben
chon einmal in einem Zwischenruf deutlich wurde: Die
urchführung von Abschiebungen ist Länderangele-
enheit. Wenn Sie Verzögerungen und Versäumnisse da-
ei beklagen, dann wenden Sie sich an die Bundeslän-
er! Die Länder sind übrigens auch dafür verantwortlich,
ass die Gerichte, deren Verfahren bedauerlicherweise
anchmal sehr lange dauern, personell vielleicht nicht
usreichend ausgestattet sind.
Schließlich ist der Antrag deswegen überflüssig, weil
r eine Reihe regelrechter Absurditäten enthält; ich
omme auch darauf noch zu sprechen.
Ich habe eben schon gesagt: Das Beste, was man in
ezug auf diesen Antrag sagen kann, ist: Er ist überflüs-
ig. Wenn man es richtig nimmt, handelt es sich hierbei
auch Ihr Beitrag ging in diese Richtung – um eine po-
ulistische Stimmungsmache gegen Ausländer, undiffe-
enziert, mit den üblichen Unterstellungen, die wir von
hrer Seite schon kennen.
eswegen ist das, was Sie hier betreiben, eigentlich so-
ar verwerflich. Herr Kollege, ich werde gleich versu-
hen, Ihnen das vor Augen zu führen.
Das beginnt schon mit der Analyse der Ausgangssitua-
ion in Ihrem Antrag. Der erste Satz lautet:
In der Bundesrepublik Deutschland lebten Ende des
Jahres 2003 453 000 ausreisepflichtige Personen.
as ist falsch. Es kann sein, dass es eine statistische
ennzahl dieser Größenordnung gibt, aber diese Zahl
mfasst Zehntausende, vielleicht Hunderttausende, die
ängst nicht mehr in Deutschland sind. Oder glauben Sie
in dem Fall müsste ich als ehemaliger Praktiker Sie
ielleicht doch ein bisschen aufklären –, dass jeder Aus-
änder, der ausreisepflichtig ist und dieses Land verlässt,
orher zum Mitarbeiter seiner Ausländerbehörde geht
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13875
)
)
Rüdiger Veit
und sagt: „Schönen Dank für die gute Betreuung; ich
habe mich entschlossen, jetzt auszureisen“? Das heißt,
wir haben es hier mit einer ganz großen Anzahl von Fäl-
len zu tun, in denen die Menschen längst nicht mehr hier
sind.
In dieser Zahl sind aber auch sehr viele Menschen,
vorzugsweise Familien mit vielen Kindern, enthalten,
die schon seit fünf, zehn oder sogar 20 Jahren in
Deutschland leben und für die ich glaube sagen zu dür-
fen: Es wäre gut, wenn sie auch weiter hier bei uns leben
könnten.
Deswegen kommen wir spätestens morgen bei der er-
neuten Debatte um die Verbesserungen und Veränderun-
gen des Zuwanderungsrechts auf die Frage der Bleibe-
rechtsregelung zurück.
Ich bin froh darüber, dass sich in diesem Haus die Un-
terstützung für eine angemessene Bleiberechts- und Alt-
fallregelung verbreitert. Ich war leider in dem Augen-
blick nicht da, in dem der Kollege Dr. Stadler in der
vorletzten Woche in der Integrationsdebatte hierauf hin-
gewiesen hat. Wie gesagt, wir werden das morgen noch
eingehender erörtern. Bei Ihnen geht das alles durch-
einander.
Sie schreiben in dem Antrag weiter:
Davon besaßen nur 227 000 aus verschiedenen
rechtlichen und tatsächlichen Gründen eine Dul-
dung. Trotz deutlich zurückgehender Asylbewer-
berzahlen reduziert sich die Zahl der ausreisepflich-
tigen Ausländer nicht.
Auch das ist falsch. – Jetzt kommt es:
Die Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer
wird vor allem dadurch erschwert, dass die Betref-
fenden
– die Betreffenden! –
in aller Regel keine oder falsche Angaben über ihre
Identität machen und sämtliche Pässe oder sonsti-
gen Ausweispapiere vernichten …
Was soll diese Aussage? Diese Aussage, so wie sie
von Ihnen hier niedergelegt worden ist – das war auch
der Schwerpunkt Ihrer Ausführungen –, bedeutet: Alle
Ausreisepflichtigen, die noch nicht ausgereist sind, kön-
nen deswegen nicht abgeschoben werden, weil sie ihre
Pässe weggeworfen haben. – Wenn Sie dazu noch ein-
mal die Statistik bemühen, dann werden Sie feststellen,
dass lediglich 12 000 eine Duldung erhalten haben, weil
sie keinen Pass haben oder weil ihre Identität ungeklärt
ist. Deswegen sind Ihre Ausführungen völlig daneben.
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s ist also kein massenhaftes Phänomen.
Kollege Veit, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
ollegen Grindel?
Wenn ich jetzt „Gern!“ sagen würde, wäre das über-
rieben; aber bitte.
Darauf kommt es auch nicht an. Sie müssen nur Ja
der Nein sagen.
Ich will auf die anderen Punkte, die zwischendurch
och angesprochen worden sind, nicht eingehen. Ich
abe mich zu dem Zeitpunkt gemeldet, zu dem Sie auf
ie Debatte morgen über Ihren neuerlichen Gesetzent-
urf zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes hingewiesen
aben. Weil Sie uns vorgeworfen haben, wir würden al-
es miteinander vermengen, will ich Ihnen Folgendes sa-
en: Sie haben darauf hingewiesen, dass das für Sie ein
nhaltspunkt für eine Bleiberechts- und Altfallregelung
st, und damit selbst das Stichwort genannt. Deshalb
ürde ich gerne von Ihnen wissen, ob Ihr Gesetzent-
urf, über den wir morgen beraten, so zu verstehen ist,
ass er einen Beitrag zu dem Ziel darstellt, eine Altfall-
nd Bleiberechtsregelung zu erreichen.
Herr Kollege Grindel, da Sie auch das nicht verstan-
en haben – –
Nein, das habe ich so nicht gesagt.
ielmehr habe ich gesagt: Anlass für eine Bleiberechts-
egelung ist das Schicksal derjenigen vollziehbar ausrei-
epflichtigen Menschen, die sich zum Teil seit Jahrzehn-
en hier aufhalten, deren Kinder zum Teil hier geboren
13876 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Rüdiger Veit
und jedenfalls zum großen Teil hier ausgebildet worden
sind.
Gerade diese erfassen wir mit dem Zuwanderungsrecht
nicht. Ihnen können wir deshalb keine Perspektive bie-
ten.
Sehen Sie, Sie bringen das immer durcheinander, zu-
letzt in der „Frankfurter Allgemeinen“ vom 15. Dezem-
ber. Sie können nicht unterscheiden zwischen Illegalen,
Menschen mit Duldung, Ausreisepflichtigen im Übrigen
und solchen, die eine Aufenthalts- oder Niederlassungs-
erlaubnis nach neuem Recht bekommen. Das geht bei
Ihnen alles munter durcheinander.
Deswegen erkläre ich es Ihnen jetzt noch einmal in aller
Ruhe und ganz freundlich: Es geht um die vollziehbar
ausreisepflichtigen vormaligen Asylbewerber, die weder
eine Duldung haben noch mit einer Aufenthaltserlaubnis
nach neuem Recht rechnen können. Einige von uns sind
der Auffassung, dass es aus humanitären Gründen, aber
auch für das Land, das bekanntlich über Geburtenman-
gel klagt, sinnvoll wäre, wenn die betroffenen, bereits in
diesem Land ausgebildeten jungen Menschen hier blei-
ben könnten, anstatt in die Herkunftsländer ihrer Eltern
zurückkehren zu müssen, zu denen sie überhaupt keine
Beziehungen haben. Genau um diese Personengruppe
geht es. Das hat mit den anderen Sachverhalten, die Sie
genannt haben, nichts zu tun.
Nun geht es ja mit den Unterstellungen in Ihrem An-
trag munter weiter.
Bevor Sie zu Ihren Forderungen im Einzelnen kommen,
schreiben Sie auf Seite 2:
Ferner ist es nicht zu bestreiten, dass die Kriminali-
tätsrate unter ausreisepflichtigen Ausländern deut-
lich höher ist als unter der sonstigen ausländischen
Wohnbevölkerung.
Woher wissen Sie das eigentlich? Es gibt überhaupt
keine Statistik darüber.
– Nein, gibt es nicht.
Ich wiederhole meinen Vorwurf: Sie gehen außeror-
dentlich undifferenziert vor, arbeiten auch hier mit pau-
schalen Unterstellungen und sind nicht in der Lage, die
Problembereiche Illegale und Ausreisepflichtige ohne
jeden Titel auseinander zu halten. Ebenso wenig wollen
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enn nur ein ganz kleiner Teil der Betroffenen hat nach
55 Abs. 2 des derzeit geltenden Ausländergesetzes
ine Duldung deswegen bekommen, weil sie keinen Pass
aben oder weil ihre Identität unklar ist.
on daher gesehen geht Ihr Antrag schon im Ansatz von
öllig falschen Voraussetzungen aus.
Ich habe nicht die Zeit und möglicherweise auch nur
edingt die Neigung,
uf all Ihre Punkte und Forderungen einzugehen und hier
ür die, wie ich glaube, notwendige Aufklärung zu sor-
en. Dennoch gehe ich zunächst auf ein paar Punkte ein,
ie die EU-Ebene betreffen:
Das Problem in Bezug auf Russland, das Sie eben be-
annt haben, wird auf europäischer Ebene in derselben
orm wie andere Rückübernahmefragen bearbeitet. Hier
iegt das Mandat in erster Linie – in diesem Punkt ist Ihr
ntrag deswegen weitgehend überflüssig – bei der EU.
ie Bundesregierung wirkt dabei entsprechend mit.
Auch den Beleg dafür, warum ich von Absurditäten
esprochen habe, will ich nicht schuldig bleiben. Ihre
orderung, doch diejenigen Drittstaaten zu belohnen, die
reundlicherweise auch Staatsangehörige aus Nachbar-
taaten aufnehmen, würde ich gerne in den Bereich des
bsurden einordnen.
unächst einmal eine Klarstellung: Gerade einmal ein
ünftel von den vielen Millionen Flüchtlingen auf dieser
elt befindet sich auf europäischem Boden. Der Rest
ält sich überwiegend in Afrika und Asien auf. Wie stel-
en Sie sich das nun vor? Wollen Sie sozusagen mit einer
rt Kopfgeld oder einer sonstigen Pauschale pro über-
ommenen Drittstaatsangehörigen Dritte-Welt-Länder
afür belohnen, dass sie Menschen, die hier bei uns
chutz suchen, aufnehmen? Ich jedenfalls halte das für
bsurd.
Genauso interessant ist, dass Sie im Rahmen der Fö-
eralismusdebatte und auch sonst mehr Kompetenzen
ür die Länder fordern, in Ihrem Antrag aber geschrieben
aben, ausgerechnet der Bund müsse sich stärker um die
rage der Passbeschaffung bemühen.
Bemerkenswert ist auch Ihre Forderung nach einer
entralen Passabgleichstelle. Dazu kann ich nur sagen:
ir haben ja gerade bei dem ersten Versuch, das Zuwan-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13877
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Rüdiger Veit
derungsgesetz anzupassen, eine Fundpapierdatenbank
gesetzlich verankert.
– Wir haben, lieber Herr Grindel, nachdem Ihre Seite im
Rahmen des Vermittlungsverfahrens nicht in der Lage
war, sich auf vernünftige Kompromisse einzulassen, die-
sen Teil deswegen aus unserem morgen einzubringenden
Gesetzentwurf herausgelassen, weil zumindest dieser
Teil die Mitwirkung des Bundesrates hervorrufen
würde – möglicherweise auch andere Dinge, aber da-
rüber werden wir noch reden. Sie können sich also nicht
darüber beschweren, dass die Fundpapierdatenbank un-
ter Umständen nicht kommt.
Sie fordern des Weiteren biometrische Merkmale.
Auch dieser Punkt ist in unseren Gesetzen schon enthal-
ten; hier gilt der Spruch zur Rechtsfindung von vorhin.
Im Terrorismusbekämpfungsgesetz von 2002 haben wir
die Voraussetzungen dafür geschaffen. Ihre Umsetzung
wird auf europäischer Ebene durch das Visumsinforma-
tionssystem vorbereitet bzw. erfolgt bereits jetzt.
Ein bisschen eigenartig, vielleicht sogar zynisch
– womöglich sogar menschenverachtend – mutet Ihre
Forderung Nummer zwölf an, keine Überprüfung der
Flugreisetauglichkeit mehr durchzuführen und keine
Bescheinigung mehr zu verlangen. Vor dem Hintergrund
der Praxis, wie ich sie kenne, sage ich Ihnen, dass solche
Untersuchungen nur dann erfolgen und sich daraus erge-
bende Bescheinigungen nur dann ausgestellt werden
– aber dann auch notwendigerweise –, wenn aus gesund-
heitlichen Gründen eine Veranlassung dazu besteht. Ich
wüsste nicht, wie man es zum Beispiel mit dem christ-
lichen Menschenbild vereinbaren könnte, zu sagen:
Mich kümmert nicht, ob jemand reisefähig ist, Hauptsa-
che, ich führe ihn – in welcher Form auch immer, mögli-
cherweise geknebelt – zurück.
In die Kategorie der nur beschränkt – da bin ich noch
höflich – vorhandenen Gesetzeskenntnis gehört es
sicherlich, wenn Sie unter anderem verlangen, dass
Asylfolgeanträge nicht die Durchführung einer Abschie-
bung verhindern können sollen. Sie sollten wissen, Herr
Kollege – jedenfalls ist diese Einschätzung bei Gesetzes-
kenntnis durchaus gewinnbar –, dass ein Asylfolge-
antrag nicht per se und schlechthin jede Abschiebungs-
maßnahme verhindert, sondern nur insoweit, als
tatsächlich relevante Nachfluchtgründe vorgetragen wer-
den, die einer intensiven Überprüfung unterzogen wer-
den müssen. Nur dann – und dann zu Recht – kann eine
Abschiebung nicht vollzogen werden.
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it vielen Nebengesetzen von dem sicher auch von Ih-
en geschätzten Mitarbeiter im Innenministerium Herrn
r. Maaßen. Das Exemplar kostet zwar 34,80 Euro, –
Ich glaube, das ist jetzt ein bisschen zu viel für einen
etzten Satz!
– was viel ist für einen Gesetzestext; aber Sie sind si-
herlich in der Lage, sich diesen zu Weihnachten schen-
en zu lassen.
ch würde Ihnen das jedenfalls herzlich wünschen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Max Stadler.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
erren! Es gibt auch eine kommentierte Textausgabe
on dem Mitarbeiter in Baden-Württemberg, Herrn
torr, der am Zuwanderungsgesetz mitgearbeitet hat.
uch diese erweitert die Rechtskenntnisse.
13878 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
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Dr. Max Stadler
Lieber Herr Kollege Grindel, angesichts des etwas
aufgeregten Tons, den Sie aufgrund Ihres Temperaments
in solche Debatten bringen,
fällt es mir ein wenig schwer, zu sagen – aber ich sage es
doch –: Ihr Antrag hat in der Tat einen richtigen Grund-
gedanken, eine Grundposition, die auch die FDP-Bun-
destagsfraktion immer vertreten hat. Wir haben einer-
seits immer gesagt, wir halten am Asylgrundrecht und an
den humanitären Verpflichtungen der Bundesrepublik
Deutschland gegenüber Flüchtlingen, zum Beispiel auf-
grund der Genfer Flüchtlingskonvention, fest. Anderer-
seits sind wir aber auch dafür, dass bei denjenigen Perso-
nen, die in Deutschland kein Bleiberecht haben und
keine Duldung erfahren, konsequent die Abschiebungs-
regeln angewandt werden. Ich glaube, das ist völlig
selbstverständlich.
Sie listen nun in Ihrem Antrag etliche praktische Pro-
bleme auf. In der Kürze der Zeit, die mir nur zur Ver-
fügung steht, kann ich darauf beim besten Willen nicht
eingehen. Die Bundesregierung wird im Ausschuss Ge-
legenheit haben, darzulegen, inwieweit diese Probleme
noch existieren. Ich glaube aber, dass manche Probleme
schon gelöst sind.
Wo es Lücken gibt, müssen diese geschlossen wer-
den. Wir sind beispielsweise der Meinung, dass es nicht
geduldet werden kann, dass Ausweispapiere bewusst
vernichtet werden, um eine Rückführung zu verhindern.
Wir sind durchaus bereit, für diese Papiere eine Fund-
datei, die schon einmal beschlossen wurde, einzurichten.
Mit anderen Vorschlägen schießen Sie allerdings über
das Ziel hinaus. Aber dazu kann ich, wie gesagt, erst im
Ausschuss im Detail Stellung nehmen.
Ich möchte einen Grundgedanken Ihres Antrages auf-
greifen. Sie sagen sinngemäß, dass durch das Zuwande-
rungsgesetz die Aufenthaltssituation von Menschen, die
verfolgt bzw. deren Menschenrechte verletzt wurden,
verbessert worden sei. Daher müsse man auf der anderen
Seite konsequent abschieben. Wir sind ebenfalls dieser
Meinung. Aber wir betonen besonders den ersten Aspekt
Ihres Gedankens. Die FDP möchte, dass das bewährte
System des Flüchtlingsschutzes in Deutschland aufrecht-
erhalten wird.
Der Vorschlag des Bundesinnenministers vom Som-
mer, Aufnahmestellen in Afrika einzurichten, hat zu Ir-
ritationen in der Öffentlichkeit geführt. Es lag nahe, aus
dieser Idee zu schließen, dass die Europäische Union
den Flüchtlingsschutz sozusagen in Drittstaaten ausla-
gert. Ein wenig kommt dieser Gedanke auch in Ihrem
Antrag zum Vorschein. Dazu sage ich Ihnen: Das ist
nicht die Position der FDP.
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ir werden sehr sorgfältig darauf achten, dass es bei
ieser Aussage bleibt.
Ein letzter Punkt. Für jeden Grundsatz, also auch für
en Grundsatz, die Abschiebungsregeln konsequent an-
uwenden, existieren natürlich Ausnahmen. Ausnah-
en in Härtefällen muss es aus humanitären Gründen
eben. In der Praxis würde es kaum jemand verstehen,
enn Menschen, die schon jahrelang hier leben, die sehr
ut integriert sind und deren Kinder hier geboren sind,
bgeschoben würden.
Die heutige Debatte nehmen wir zum Anlass, an die-
nigen, die in den durch das Zuwanderungsgesetz neu
eschaffenen Härtefallkommissionen tätig sein werden,
u appellieren, für diese Fälle pragmatische Lösungen zu
inden, wozu wir als Gesetzgeber leider nicht in der
age gewesen sind.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Josef Winkler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dem
ntrag der CDU/CSU, über den wir heute sprechen,
ird zwar vordergründig behauptet, man wolle sich mit
er Beseitigung von Abschiebungshindernissen befas-
en. In Wirklichkeit zielt er jedoch darauf ab, eine rigo-
ose, zum Teil sogar menschenverachtende Abschiebe-
olitik durchzusetzen. Der Kollege Veit hat dazu schon
iele Punkte aufgezählt. Ich sage es deutlich: Diese Ab-
chiebepolitik wäre nicht nur rigoros, sondern zum Teil
uch menschenverachtend. Ich komme noch auf die Ein-
elheiten zu sprechen.
Wie soll ich Ihren Antrag sonst werten, wenn zum
eispiel die Einlegung zulässiger Rechtsmittel oder die
eltendmachung von psychischen Erkrankungen gene-
ell unter Missbrauchsverdacht gestellt werden? Die
usreisepflicht ist zwar konsequent und zügig durchzu-
etzen, aber unter Wahrung eines rechtlich und humani-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13879
)
)
Josef Philip Winkler
tär einwandfreien Vollzugs. Missbrauchsfälle, die es
durchaus gibt – das will niemand bestreiten –,
können niemals eine Abschiebepolitik um jeden Preis
rechtfertigen. Eine solche Politik ist mit Rot-Grün nicht
zu machen.
Als Reaktion auf den tragischen Tod des sudanesi-
schen Staatsangehörigen Aamir Ageeb, der im Mai 1999
bei einer Abschiebeaktion des Bundesgrenzschutzes zu
Tode kam – inzwischen sind deswegen mehrere Beamte
verurteilt worden –, hatte das Bundesinnenministerium
die so genannten „Bestimmungen über die Rückfüh-
rung ausländischer Staatsangehöriger auf dem Luft-
weg“ erlassen. Diese sehen Folgendes vor:
Die Zwangsmaßnahmen müssen angemessen sein
und dürfen nicht über die Grenzen des Vertretbaren
hinausgehen. Die Würde und körperliche Un-
versehrtheit der rückzuführenden Person müssen
gewahrt werden. Im Zweifelsfall ist die Rück-
führung, einschließlich der Anwendung rechtmäßi-
ger Zwangsmaßnahmen, … nach dem Grundsatz
„keine Rückführung um jeden Preis“ abzubrechen.
Diese Regelung ist sehr richtig, Herr Kollege Grindel.
– Sie stellen einen Antrag, in dem wesentliche Punkte
dieses Erlasses angegriffen werden.
– Wenn das nicht für diesen Satz gilt, dann gilt das für
andere Sätze.
– Herr Grindel, jetzt hören Sie doch einmal zu! Ich habe
doch auch Ihnen zugehört. Es tut weh, ich weiß; aber das
müssen Sie schon aushalten.
Auch vor dem europäischen Hintergrund ist der vor-
liegende Antrag populistisch. Die EU-Kommission hat
angekündigt, dass sie Anfang 2005 einen Richtlinienent-
wurf über Mindeststandards bei Abschiebungen vorle-
gen wird. Das Europäische Parlament hat sich damit be-
fasst und hat sich entschieden gegen die Initiative für
Sammelabschiebungen ausgesprochen.
Die Parlamentarische Versammlung des Europa-
rates hatte bereits im Jahr 2002 eine umfängliche Emp-
fehlung zu Abschiebungen formuliert. Hierin werden ei-
nige Schwerpunkte angeregt, die nach unserer Meinung
durchaus zu unterstützen sind und die ich Ihnen deshalb
einmal vortragen möchte. Folgende Punkte werden an-
geregt:
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ch bedauere zutiefst, dass Sie diesen Weg erneut ein-
chlagen.
ie versuchen zum wiederholten Male, Ihre restriktiven
orschläge, eine Beugehaft zur Durchsetzung von Mit-
irkungspflichten einzuführen, anzubringen. Diese Vor-
chläge waren schon im Vermittlungsverfahren nicht
ehrheitsfähig. Daran hat sich auch jetzt nichts geän-
ert; das wird so bleiben.
Herzlichen Dank.
13880 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
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Josef Philip Winkler
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3804 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Wahlen in den palästinensischen Gebieten
– Drucksache 15/4515 –
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-
sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Dagmar Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu Beginn möchte ich unserer Arbeitsgruppe Außenpo-
litik danken, dass sie in der heutigen Debatte eine Ent-
wicklungspolitikerin zu Wort kommen lässt; denn für
uns sind Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik
keine abgeschlossenen Bereiche, sondern nur unter-
schiedliche Seiten ein und derselben Medaille.
Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwick-
lung in der Region könnte wieder eine neue Hoffnungs-
perspektive erhalten. Durch die Präsidentenwahlen in
den palästinensischen Autonomiegebieten am 9. Januar
könnte ein Wendepunkt im Nahen Osten gesetzt werden.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
möchte Ihnen dafür danken, dass es in dieser Frage der
Nahostpolitik zu einem gemeinsamen Antrag gekommen
ist.
Die Entscheidung der palästinensischen Führung, gemäß
ihrem Grundgesetz die Wahl ihres Präsidenten durchzu-
führen, wird sicher ebenfalls über die Fraktionsgrenzen
hinweg unsere gemeinsame Anerkennung finden.
Entgegen manchen Befürchtungen ist es den Verant-
wortlichen bisher gelungen, ohne Blutvergießen und
ohne offene Machtkämpfe von der Ära Arafat zu einer
Übergangsregierung zu kommen. Selbst die extremisti-
schen palästinensischen Kräfte haben sich bereit erklärt,
den Wahlgang nicht zu stören und auf Anschläge inner-
halb Israels zu verzichten. Das alles sind Signale, die uns
Anlass zur Hoffnung geben, dass der Wahlgang im Ja-
nuar frei und fair ablaufen kann.
Israel hat angekündigt, dass es die Wahlen nicht be-
hindern, die notwendige Bewegungsfreiheit der palästi-
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Neben der finanziellen Unterstützung der Wahlen
urch die EU und die USA ist auch die Entsendung von
ahlbeobachtern durch die Europäische Union ge-
lant. Wie schon 1996 sollen unabhängige Berichte von
reien und fairen Wahlen die nötige Legitimierung schaf-
en. 1996 war ich zur Wahlbeobachtung im Süden des
azastreifens. Ich wünschte mir für die kommenden
ahlen dieselbe Würde und Ernsthaftigkeit wie vor
eun Jahren.
Freie und faire Wahlen am 9. Januar sind der Testlauf
ür alle weiteren Urnengänge. Die Parlaments- und
ommunalwahlen sind lange überfällig. Eine neue, de-
okratisch legitimierte palästinensische Führung kann
ur Wiederbelebung des Friedensprozesses und der
oadmap sowie zu einer Beendigung von Terror und
ewalt in der Region beitragen. Sie ist auch die Voraus-
etzung für eine dringend erforderliche Reform des
olitischen Systems der Autonomieverwaltung auf der
rundlage dessen, was das derzeitige Parlament bereits
999 artikuliert hat. Es ging um Aspekte wie Gewalten-
ilung, Transparenz, Bekämpfung von Korruption und
ie Kontrolle über die Sicherheitskräfte. So kann es ge-
ngen, im gesamten palästinensischen Autonomiegebiet
as staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen und
ie Grundlage für eine effektive Bekämpfung des Terro-
ismus zu schaffen.
In diesem Zusammenhang begrüßen wir ausdrücklich
en Aufruf zum Gewaltverzicht von PLO-Chef und
räsidentschaftskandidat Mahmud Abbas. Sollte sich
iese Haltung in der palästinensischen Führung durch-
etzen, dann wäre ein enormes Hindernis für eine Wie-
eraufnahme von politischen Gesprächen und vertrau-
nsbildenden Maßnahmen weltweit aus dem Weg
eräumt.
Begibt sich nicht jedwede Regierung in die Geiselhaft
xtremistischer Kräfte, wenn sie ein völliges Ende terro-
istischer Aktionen zur unabdingbaren Vorbedingung
on Verhandlungen macht? Liefert man sich nicht be-
usst oder unbewusst den extremistischen Kräften aus,
ie dann bestimmen, was am Verhandlungstisch möglich
t und was nicht? Ich hoffe dennoch sehr, dass sich die
eu gewählte palästinensische Führung zum bedin-
ungslosen Gewaltverzicht durchringt und diesen auch
onsequent durchsetzt. Denn eines ist klar: Nur ein Ende
er Gewalt gegen unschuldige Zivilisten lässt in der israe-
schen Gesellschaft die Bereitschaft entstehen, Vorur-
ile ab- und Vertrauen aufzubauen, lässt in der Weltge-
einschaft die Sympathie für das palästinensische Volk
ieder wachsen.
Ich hoffe aber auch, dass Israel derartige Bemühun-
en honorieren wird. Zwei Tage vor der Ermordung von
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13881
)
)
Dagmar Schmidt
Yitzhak Rabin durfte ich ihn persönlich kennen lernen.
Er hatte seine Verhandlungsstrategie einmal so beschrie-
ben: Wir verhandeln, als gäbe es keinen Terror, und wir
bekämpfen den Terror, als würden wir nicht verhandeln.
Mit solch einer klugen Doppelstrategie kann es gelingen,
aus dem Teufelskreis der Gewalt auszubrechen.
Uns muss dabei immer bewusst sein, dass die Aus-
gangsbedingungen heute ungleich schwieriger sind als
zu Beginn des Osloprozesses. Hier ist die Unterstützung
der internationalen Gemeinschaft gefordert. Das Nahost-
quartett muss seine Bemühungen auf allen Ebenen inten-
sivieren, die Roadmap und damit den Friedensprozess
wieder zu beleben.
Der Europäische Rat hat im März Bedingungen für
die Unterstützung des Entkoppelungsplanes von Minis-
terpräsident Scharon formuliert, die auch heute noch
Gültigkeit haben. Es muss gelingen, den Entkoppelungs-
plan als Teilschritt in den Verhandlungsprozess zu einer
Zweistaatenlösung einzubinden, an dessen Ende ein sou-
veräner, demokratischer und lebensfähiger Staat Paläs-
tina steht,
ein Palästina in Frieden und Sicherheit, an der Seite Is-
raels und in international anerkannten Grenzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Verhandlungs-
prozess muss auf beiden Seiten von einer spürbaren Ver-
besserung der aktuellen Lebensbedingungen begleitet
werden. Für Israel bedeutet das in erster Linie mehr Si-
cherheit. Wenn die Menschen nicht mehr Tag für Tag um
das Leben ihrer Kinder und Angehörigen bangen müssen
und wenn darüber hinaus die Wirtschaft, vor allem die
Tourismuswirtschaft, wieder wachsen kann, dann wird
auch die Verhandlungsbereitschaft wachsen. Für das pa-
lästinensische Volk kommt es neben der Verbesserung
der wirtschaftlichen Lebensbedingungen vor allem da-
rauf an, endlich selbstbestimmt und unabhängig in ei-
nem eigenen Staat zu leben. Die derzeitige Situation der
Hoffnungslosigkeit bietet einen idealen Nährboden für
Gewalt.
Hier muss die Entwicklungspolitik ansetzen. Das
wird auch getan. Bereits heute wird durch die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit trotz der schwierigen
Rahmenbedingungen unverzichtbare Aufbauarbeit ge-
leistet. In diesem Kontext möchte ich insbesondere die
Arbeit der politischen Stiftungen hervorheben, die mit
ihren Programmen die zivilgesellschaftlichen Kräfte in
Palästina stärken. Das Aufgreifen von Gesprächsfäden
und das Knüpfen von Kontakten und Netzwerken ist
zwar manchmal mühselig und sicherlich nicht frei von
Rückschlägen, letztendlich aber der Erfolg verspre-
chende Weg zu Dialog und Verständigung schlechthin.
Die Ergebnisse dieser Arbeit sind nur schwer messbar,
aber sie rechnen sich als Investition in die Zukunft.
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Dazu müssen die Palästinenser eine Menge tun. Die
isshelligkeiten, die dort entstanden sind, sind vielleicht
uch von der Besatzungsstruktur verursacht. Entschei-
end ist aber, dass die Palästinenser ihre Chance nicht
enutzt haben, die Behörden ordentlich auszurichten und
orruptionsfreie Strukturen bei den Sicherheitsdiensten,
er Justiz, dem Finanzwesen und anderen Institutionen
inzubekommen. Dies sind im Übrigen überhaupt keine
atschläge von außen: Schon vor drei Jahren hat der pa-
ästinensische Rechnungshof all diese Forderungen er-
oben und die Misswirtschaft in den palästinensischen
ebieten beklagt.
Weil ich ein bisschen hoffnungsvoller als Kollegin
chmidt bin, schließe ich mit einem Zitat des israeli-
chen Außenministers Silvan Shalom. Am Rande der
onferenz am 30. November dieses Jahres, auf der die
ußenminister der Europäischen Union mit den Außen-
inistern der Mittelmeeranrainerstaaten die Mittelmeer-
artnerschaft erörterten, sprach Minister Shalom mit
em Vertreter der Autonomiebehörde, Nabil Schaath.
ach diesem Gespräch sagte der israelische Außenmi-
ister: Wir sind übereingekommen, dass es jetzt ein
enster der Möglichkeiten gibt, das zu einer Tür der
öglichkeiten werden könnte. – Mit Unterstützung des
uartetts könnten wir dazu beitragen, dass man tatsäch-
ich durch diese Tür gehen wird.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ach dem Tod von Präsident Jassir Arafat ist im Nahost-
rozess eine neue Dynamik in Gang gekommen. Man
uss gar nicht die These teilen, dass Arafat das
aupthindernis im Verständigungsprozess gewesen sei,
m registrieren zu können, dass sich, wie es Kollege
örster auch gerade dargestellt hat, ein neues Fenster
ffnet. Wir sollten daher unseren Beitrag dazu leisten,
ass der Friedensprozess, der sich zwischenzeitlich in
inen handfesten Nahostkonflikt verwandelt hatte, wie-
er belebt wird und zu dem führt, was in der Roadmap
orgezeichnet ist.
ie strittigen Punkte, die die beiden Seiten zu behandeln
aben und die auch in Camp David strittig geblieben wa-
en – Grenzen, Territorien, Siedlungen, Jerusalem und
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13883
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Dr. Ludger Volmer
Flüchtlinge auf der einen Seite, die Intifada mit ihren
grauenhaften Selbstmordanschlägen auf der anderen
Seite –, sind nicht dadurch erledigt, dass Arafat verstor-
ben ist.
Nach dem Tod von Arafat waren wir uns zunächst
nicht schlüssig, ob die palästinensische Bevölkerung die
Kraft und die Mittel haben wird, eine neue, demokra-
tisch legitimierte, effiziente und handlungsfähige Füh-
rung hervorzubringen. Heute sehen wir, dass die Dinge
auf bestem Wege sind: Die Wahlen werden abgehalten
werden und sie werden demokratisch sein. Wir können
dem palästinensischen Volk heute schon dazu gratulie-
ren, dass es sehr schnell aus dem Trauma des Todes
Arafats aufgewacht ist und sich auf einen Weg gemacht
hat, der hoffentlich in Richtung Frieden führt.
Es gibt einige ermutigende Anzeichen, was die Stim-
mung in der palästinensischen Bevölkerung angeht.
Am 9. Dezember hat das israelische Radio gemeldet,
dass sich zum ersten Mal seit Beginn der Intifada eine
deutliche Mehrheit der Palästinenser gegen Selbstmord-
attentate ausgesprochen hat. Es sind zwar immer noch zu
wenige; aber es ist ein ermutigender Fortschritt. Heute
meldet die palästinensische Zeitung „al-Kuds“, dass
69 Prozent der befragten Palästinenser für eine Rück-
kehr an den Verhandlungstisch sind. Allerdings halten
72 Prozent die amerikanischen Anstrengungen für noch
nicht ausreichend.
Für besonders ermutigend halte ich die Äußerung von
Mahmud Abbas, der einer der aussichtsreichsten Kan-
didaten für die Präsidentschaftswahl ist. Er hat wörtlich
gesagt:
Der Gebrauch der Waffen in der momentanen Inti-
fada ist schädlich und muss beendet werden.
Diesen Satz können wir nur unterstreichen; wir haben
ihn von Mahmud Abbas allerdings schon des Öfteren ge-
hört.
Entscheidend ist folgende Qualität: Über Arafat
wurde immer gesagt, er predige in Englisch, gerichtet an
die westliche Welt, den Frieden, sage aber in Arabisch,
gerichtet an die arabische Welt, etwas anderes. Ich kann
nicht beurteilen, ob diese Kritik zutrifft. Aber wir kön-
nen eines registrieren: Mahmud Abbas hat diese Äuße-
rung in Arabisch getan und sie an die arabische Welt ge-
richtet. Er hat den Waffenstillstand und die Beendigung
der Gewalttaten ausdrücklich auch von Dschihad und
von Hamas eingefordert. Eine solche Linie in der neuen
palästinensischen Führung kann man nur unterstützen.
Dazu findet sich heute in der israelischen Zeitung
„Haaretz“ eine sehr ausführliche Würdigung. Allerdings
endet sie mit der Forderung, dass nun die israelische
Seite auch entsprechend antworten sollte, damit, wie
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Im Moment haben die Palästinenser die Bringschuld.
ie haben auch die Chance, sich als etwas anderes darzu-
tellen als das, als was sie in der israelischen Gesell-
chaft oft gesehen werden.
Wir sehen aber auch, dass auf israelischer Seite die
hance zu einem Neubeginn besteht. Die bisherige Re-
ierung ist gescheitert, nicht nur an der Frage des Rück-
ugs aus dem Gazastreifen, sondern auch an ökonomi-
chen und finanzpolitischen Fragen. Die neue Koalition
äte gut daran – sie wird das hoffentlich auch tun –, diese
eiden Punkte im Zusammenhang zu sehen. Die Tatsa-
he, dass Israel in so starke ökonomische Probleme gera-
n ist, hat auch mit der de facto bestehenden Kriegssitua-
ion zu tun. Deshalb sollte der Abzug aus Gaza nicht nur
mgesetzt, sondern auch als der erste Schritt zu einer
mfassenden Lösung begriffen werden, der dann auch
ntsprechende Schritte in der Westbank einschließen
üsste.
Ich kann mir vorstellen, dass ein solcher Friedenspro-
ess, der von den Europäern und den anderen Mitglie-
ern des Quartetts nicht nur politisch, sondern auch öko-
omisch unterstützt wird, dazu beitragen kann, dass
icht nur Frieden Einzug hält, sondern auch die Ent-
icklungsprobleme Palästinas ebenso wie die ökonomi-
chen Probleme Israels bewältigt werden. Das jedenfalls
äre unser Wunsch. Wir hoffen, dass das neue Jahr
hancen dafür eröffnet, auf die zu hoffen wir vor einem
alben Jahr vielleicht noch gar nicht gewagt hätten.
Danke.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Stinner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ie anstehenden Wahlen sind dringend notwendig für
ie politische Perspektive im Nahen Osten. Darüber sind
ir uns alle einig. Ich bin froh, dass wir uns auch alle da-
in einig sind, dazu einen gemeinsamen Beitrag leisten
u wollen.
Die Palästinenser sind mit dieser Wahl durchaus Vor-
eiter in der arabischen Welt. Bisher ist Israel das einzige
13884 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Dr. Rainer Stinner
Land dort, in dem durch demokratische Wahlen Verän-
derungsprozesse herbeigeführt werden. Wo sonst in der
arabischen Welt ist das der Fall? Die Palästinenser haben
die Chance, der arabischen Welt zu zeigen, dass durch
demokratische Prozesse Veränderungsprozesse ausgelöst
werden können.
Wir glauben gemeinsam daran, dass Demokratien
Frieden lieben und Demokraten friedlich zusammenle-
ben wollen und können. Von daher unterstützen wir von
ganzem Herzen diesen Demokratieprozess in Palästina.
Für diesen Veränderungsprozess hin zu einer Verstän-
digung bedarf es aber zweier Bedingungen.
Erstens. Die Zivilgesellschaften auf beiden Seiten
müssen einbezogen werden. Wir wissen, dass es auf pa-
lästinensischer Seite eine lebendige Zivilgesellschaft
gibt, die durch die Intifada verdeckt wurde und jetzt die
Chance hat, sich wieder bemerkbar zu machen, um das
wieder aufzunehmen, was durch die Kriegswirren ver-
deckt wurde. Aus diesem Grunde haben wir als FDP die
Genfer Initiative so enthusiastisch unterstützt: Sie ent-
hielt den Ansatz, Zivilgesellschaften einzubeziehen.
Zweitens. Noch wichtiger ist es, dass wir die Staaten
der Region mehr als bisher in diesen Prozess der Frie-
denssuche und Friedensbildung einbeziehen. Wir glau-
ben, dass ohne eine Reform der arabischen Welt, ohne
Reformprozesse und ohne Demokratisierung ein Frieden
im Nahen Osten nur sehr schwer erreichbar ist und auf
Dauer nicht gesichert werden kann. Wir müssen heute
feststellen: Leider hat die arabische Welt in diesem Pro-
zess bisher eine wenig rühmliche Rolle gespielt. Ägyp-
ten und Jordanien möchte ich ausnehmen, die zeitweilig
sehr aktiv und vorwärts gerichtet waren. Insgesamt
müssen wir aber leider festhalten, dass der Konflikt
zwischen Israel und Palästina in der arabischen Welt
instrumentalisiert worden ist, um von eigenen Schwä-
chen abzulenken. Ich bedaure sehr, dass das bis zum
heutigen Tage offensichtlich Gültigkeit hat.
In der in dieser Woche erstellten Abschlusserklärung
von Rabat steht der Satz, dass die Einleitung von Refor-
men in der arabischen Welt mit der Lösung des Nahost-
konflikts verbunden ist. Diesen Vorwand dürfen wir auf
Dauer nicht zulassen. Wir müssen den Druck auf die ara-
bische Welt erhöhen und die Region stärker in die
Verantwortung nehmen. Vorausschauend, wie wir als
Liberale nun einmal sind, haben wir im Mai dieses Jah-
res den Vorschlag eines Helsinki-Prozesses eingebracht.
Wir fühlen uns durch die Überlegungen, die jetzt ange-
stellt werden, durchaus in unserer Meinung unterstützt,
dass die Region, die Zivilgesellschaften und die Politik
in den Prozess zur Lösung dieses Konflikts einzubezie-
hen sind.
Die Wahlen sind ein erster Schritt. Sie können in der Re-
gion eine Dynamik auslösen, von deren Umfang wir
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
nd Herren! Am 20. Januar 1996 wurde in den paläs-
inensischen Autonomiegebieten zum ersten Mal ge-
ählt. Dabei ging es um die Wahl des Präsidenten und
m die Wahl des palästinensischen Legislativrates.
Frau Kollegin Schmidt, Sie erwähnten bereits die da-
alige EU-Wahlbeobachtermission, an der seinerzeit
uch ich sowie weitere Kollegen aus den übrigen Frak-
ionen teilnahmen. Gemeinsam mit anderen Wahlbe-
bachtern besuchte ich Wahllokale in Nablus. Wir sahen
ange Schlangen von Männern und Frauen, in deren
esichtern Freude, Stolz und Hoffnung auf eine bessere
ukunft zu lesen waren. Frau Kollegin Schmidt, ich bin
ir sicher, dass Sie von Ihrem Besuch im Gazastreifen
hnliches berichten könnten.
Wenn ich in den folgenden Jahren Berichte über ge-
alttätige Auseinandersetzungen gerade in Nablus sah,
usste ich oft an diese Gesichter denken. Bei weiteren
esuchen in der Region musste ich feststellen, dass die
offnung in den Gesichtern gewichen und an ihre Stelle
nttäuschung und Wut auf allen Seiten getreten war:
nttäuschung und Wut auf israelischer Seite, wenn wie-
er einmal ein verbrecherischer Selbstmordanschlag un-
chuldigen Menschen, darunter oft Kindern, den Tod
rachte; Enttäuschung und Wut auf palästinensischer
eite über die anhaltende Besatzung, die fortgesetzte
iedlungstätigkeit, demütigende Kollektivstrafen und
ilitäraktionen, denen ebenfalls nicht selten Kinder zum
pfer fielen.
Zur Dramatik der Entwicklung der letzten Jahre
ehört es, dass sich mit dem Ende der Herrschaft eines
annes, der einst den Friedensnobelpreis bekam, aber
och nie überzeugend mit dem Terror brach, nun auf
llen Seiten Hoffnung verbindet. Jetzt sind die Hoffnun-
en der Menschen in den palästinensischen Autonomie-
ebieten und in Israel, aber auch von vielen engagierten
enschen in unserem Land auf die Wahlen am 9. Januar
005 gerichtet.
Auch unser gemeinsamer Antrag drückt diese Hoff-
ung aus; Hoffnung darauf, dass die Präsidentschafts-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13885
)
)
Hermann Gröhe
wahlen, denen hoffentlich bald Parlamentswahlen fol-
gen mögen, einen Neuanfang darstellen und
palästinensische Institutionenbildung ermöglichen,
damit Korruption, Willkürherrschaft und Menschen-
rechtsverletzungen ein Ende finden; Hoffnung darauf,
dass Israel seine Zusagen, den Wahlprozess konstruktiv
zu unterstützen, wahr macht. Dazu zählt, dass die in Ost-
jerusalem lebenden Palästinenser an den Wahlen teilneh-
men können.
Der Präsidentschaftskandidat der Fatah-Bewegung,
Mahmud Abbas, hat schon jetzt klar die Gewalttätigkei-
ten und den Terror der andauernden zweiten Intifada als
schweren Fehler bezeichnet. Sie, Herr Kollege Volmer,
haben auf die Bedeutung hingewiesen, dass dies in ara-
bischer Sprache geschah und in besonderer Weise an die
eigene arabische Öffentlichkeit gerichtet war. Er hat zu-
gleich von den Behörden und Medien ein Ende der anti-
israelischen Hasspropaganda, wie wir sie in vielen Me-
dien, aber auch in Schulbüchern beobachten mussten,
verlangt.
Umgekehrt beweist Ministerpräsident Scharon mit
der Entscheidung für den Abzug Israels aus dem
Gazastreifen großen Mut, sieht er sich doch im eigenen
Land Hass, ja sogar Todesdrohungen ausgesetzt. Die
mögliche Bildung einer neuen Regierung in Israel unter
Einschluss der Arbeitspartei verstärkt zudem die Hoff-
nung darauf, dass der Abzug aus dem Gazastreifen nur
ein erster Schritt ist, der auf der Westbank seine Fortset-
zung finden und in eine umfassende Wiederbelebung der
Roadmap einmünden muss. Der 9. Januar 2005 kann mit
unserer tatkräftigen Unterstützung ein Tag der Hoffnung
werden. Diese Hoffnung darf nicht erneut enttäuscht
werden.
Gestatten Sie mir, dass ich wenige Tage vor dem
Weihnachtsfest gerade auch an die Menschen in Bethle-
hem denke. Israel hat im Norden von Bethlehem mit
dem Bau einer neun Meter hohen Betonmauer begon-
nen, die den nördlichen Teil der Stadt von den umliegen-
den Feldern trennt. Dies droht den Charakter der Stadt
grundsätzlich zu verändern. So wächst der Druck auf die
kleine noch verbliebene Schar der Christen an dieser
Wiege der Christenheit. Dass an die Stelle der Angst vor
dem Terror und dem Bau hoher Mauern die Hoffnung
auf einen Frieden auf Erden tritt, ist ein Wunsch, der
auch unser gemeinsames Handeln bestimmen sollte.
Vielen Dank.
Danke schön. – Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grü-
nen und FDP auf Drucksache 15/4515 mit dem Titel
„Wahlen in den palästinensischen Gebieten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Stimmt jemand dagegen? –
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n Sachen Umsetzung des integrierten Finanzmarktes in
en einzelnen Mitgliedstaaten haben wir also noch ein
rdentliches Stück Weges vor uns.
Der Abschluss der europäischen Regulierungsarbei-
en ist für CDU und CSU der richtige Zeitpunkt, um eine
13886 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Georg Fahrenschon
politische Zwischenbilanz zu ziehen; denn für den Fi-
nanzstandort Deutschland ist ein integrierter Finanz-
markt von enormer Bedeutung.
Deutschland – man kann es nicht oft genug wieder-
holen – ist mit 83 Millionen Einwohnern und einem
Bruttoinlandsprodukt in Höhe von 2 110 Milliarden
Euro die größte Volkswirtschaft Europas. Ein attraktiver
und dynamischer Finanzstandort ist alleine durch den
Effekt der Größe von höchster gesamtwirtschaftlicher
Relevanz für die Bundesrepublik Deutschland. Daneben
beeinflussen die Stärke und die Stabilität des Finanz-
markts den kompletten Wirtschaftskreislauf. Der Finanz-
markt mobilisiert Sparkapital und holt internationales
Anlagekapital ins Land. Er führt dieses Kapital produk-
tiver Verwendung zu, er stimuliert Investitionen und
Wachstum, er verbessert den Wettbewerb, er sorgt für
mehr Liquidität auf den Märkten und er stellt darüber
hinaus auch eine breite Finanzierung für den so wichti-
gen Mittelstand in Deutschland sicher.
Offensichtlich ist es, dass Wachstum und wirtschaft-
liche Entwicklung unserer Volkswirtschaft maßgeblich
von der Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes ab-
hängen. Des Weiteren stellt die Finanzbranche in
Deutschland in ihrer Gesamtheit einen zentralen Wirt-
schaftszweig dar und braucht keine Vergleiche zu
scheuen. Im Jahre 2003 waren in Deutschland insgesamt
1,26 Millionen Menschen im Finanzsektor, also bei Ban-
ken und Versicherungen, beschäftigt. Im Vergleich dazu
waren in der für Deutschland so wichtigen Automobil-
industrie „nur“ knapp 1 Million Menschen beschäftigt.
In Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt verhält es sich
ähnlich.
Allerdings steht gerade der Finanzplatz Deutschland
in einem immer schwieriger werdenden internationalen
Wettbewerb, insbesondere mit anderen europäischen
Finanzstandorten. Mit der Einführung des Euros – das ist
quasi ein Nachteil der gemeinsamen Währung – ist der
zentrale Standortvorteil einer eigenen starken Währung
innerhalb Deutschlands weggefallen. Vor dem Hinter-
grund ist die gemeinsame Regulierung umso wichtiger
geworden. Wir müssen erkennen, dass es für uns von
zentraler Bedeutung ist, unsere Vorteile im einheitlichen
Binnenmarkt auszuspielen. Denn gerade auf dem
Finanzplatz geht es um hoch qualifizierte Arbeitsplätze,
um Wirtschaftskraft in Deutschland und damit indirekt
auch um gesunde Staatsfinanzen.
Vor diesem Hintergrund hat die CDU/CSU-Fraktion
einen Antrag mit der Überschrift „Europäische Finanz-
märkte – Integration durch Wettbewerb und Vielfalt
voranbringen“ vorgelegt. Wir wollen auf der Basis die-
ser Initiative frühzeitig im Einzelnen über die weiteren
Schritte der europäischen Finanzmarktintegration reden;
denn wir sind der festen Überzeugung, dass wir im Inte-
resse des Finanzstandortes Deutschland handeln, wenn
wir den Deutschen Bundestag einerseits und die Bundes-
regierung andererseits in Gleichklang bringen, damit wir
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Damit werden wir uns auseinander setzen müssen.
Diese und andere Vor- und Nachteile der Finanzmarkt-
integration nimmt unser Antrag auf. Wir stellen uns vor,
dass die Debatte eine Art Leitfaden und Richtschnur für
die Bundesregierung sein kann, um die künftige Ent-
wicklung des europäischen Finanzbinnenmarktes aus
deutscher Sicht nachhaltig und für Deutschland positiv
zu gestalten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Florian Pronold.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor über einem Jahr haben wir uns schon ein-
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abei ging es um die europäische Wertpapierdienstleis-
ungsrichtlinie. Damals fand die Debatte sinnigerweise
m Anschluss an die Diskussion über den Waldschadens-
ericht statt. Ich musste Ihnen zum Vorwurf machen,
ass Sie – weil Ihr Antrag damals der Zeit hinterher-
inkte – völlig umsonst einen Baum geopfert haben, mit
em das Papier für diesen Antrag hergestellt wurde.
Als letzte Woche der aktuelle Waldschadensbericht
orgestellt wurde, haben wir erfahren, dass sich die
ituation leider weiter verschlechtert hat. Daran haben
ie mitgewirkt,
ndem Sie heute erneut einen Antrag vorlegen, der in
eiten Teilen hinter der Realität zurückbleibt.
er von Ihnen vorgelegte Antrag entspricht nicht mehr
anz dem Debattenstand und dem realen Fortentwick-
ungsstand in der Europäischen Union. Er ist in vielen
unkten bereits veraltet. Deswegen macht es keinen
inn, ihn in der jetzigen Fassung zu verabschieden.
Vorweg: Es ist in diesem Hause üblich, dass es in Fi-
anzmarktangelegenheiten große Übereinstimmung
ibt.
as ist auch richtig so. Wir alle wissen, dass die Integra-
on des europäischen Finanzmarktes eine wichtige Aus-
angsbedingung für die Wettbewerbsfähigkeit des Finanz-
tandortes Deutschland und eine wichtige Voraussetzung
ür mehr Wirtschaftswachstum und mehr Arbeitsplätze ist.
arum geht es uns ja gemeinsam.
Zu den einzelnen Punkten Ihres Antrags möchte ich
in paar Bemerkungen machen. Ich möchte mit Punkt 2
eginnen, der die Bewertung der Ratingagenturen be-
rifft. Das, was Ihr Antrag dazu enthält, ist zwar im Gro-
en und Ganzen richtig. Ihr Antrag ist aber nicht auf
em neuesten Stand. Wie Sie sicherlich wissen, gibt es
inen gemeinsamen Bundestagsbeschluss vom 13. März
ieses Jahres, der in Ihrem jetzt vorliegenden Antrag
berhaupt nicht berücksichtigt worden ist. Der Antrag,
er vom Bundestag einstimmig verabschiedet worden
st, ist viel umfangreicher und qualifizierter, wenn es um
ie Frage geht, wie in puncto Ratingagenturen auf euro-
äischer Ebene vorgegangen werden soll. Auch Forde-
ungen, die auf Ihr Betreiben damals in den einstimmig
om Bundestag verabschiedeten Antrag aufgenommen
orden sind, finden sich in dem nun von Ihnen vorge-
egten Antrag nicht wieder, zum Beispiel die Forderung,
en betroffenen Unternehmen ein Appellationsrecht,
ine Art Widerspruchsmöglichkeit, einzuräumen, sodass
13888 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Florian Pronold
sie, wenn sie mit dem Rating nicht einverstanden sind,
eine Gegendarstellung vorbringen können, die zumin-
dest Beachtung findet.
Zu Punkt 5, zu den Bankenstrukturen in Europa:
Auch hier ist Ihr Antrag nicht ganz auf dem aktuellen
Stand. Was den elektronischen Zahlungsverkehr in
Deutschland angeht, sind die rechtlichen Rahmenbedin-
gungen weitgehend erfüllt. Wir haben kein rechtliches
Defizit, sondern ein Umsetzungsdefizit der Kreditwirt-
schaft und der Banken. Wir haben in § 1 Abs. 5 Satz 2
des Geldwäschegesetzes in Verbindung mit § 2 Nr. 3 des
Signaturgesetzes bereits die Möglichkeit für eine elek-
tronische Unterschrift geschaffen, die ein Identifizie-
rungsmerkmal darstellt. Woran bisher die praktische
Umsetzung scheitert, ist, dass die Kreditwirtschaft es
nicht geschafft hat, so genannte Trust Centers einzurich-
ten, in denen die Unterschriften zentral hinterlegt und
abrufbar sind. Das ist also kein rechtliches Problem, des-
sen Lösung in unserer Umsetzungskompetenz liegt, son-
dern ein praktisches Problem der Banken bei der Umset-
zung.
Zu Punkt 6, zur Schaffung eines Rechtsrahmens für
einen einheitlichen Zahlungsraum im europäischen
Binnenmarkt: Der Vorschlag der Kommission ist für das
Frühjahr 2005 angekündigt. Entgegen der Darstellung in
Ihrem Antrag geht es aber nicht darum, einen einheitli-
chen Eurozahlungsraum als Ganzes zu schaffen. Viel-
mehr werden lediglich einige relevante Aspekte zu re-
geln sein. So muss zum Beispiel die Gleichbehandlung
der Anbietergruppen von Zahlungsverkehrsdienstleis-
tungen gewährleistet sein. Außerdem müssen für alle
Kunden im europäischen Binnenmarkt die gleichen Ver-
tragsbedingungen gelten. Ansonsten setzt die Kommis-
sion in ihrem Vorschlag vor allem auf die von Ihnen ge-
forderte Selbstregulation der Kreditwirtschaft und die
vorgesehenen technischen Abkommen. Damit wird wei-
testgehend dem entsprochen, was Sie anmahnen.
Zu Punkt 7, zur Geldwäsche: Auch hier ist der vor-
liegende Antrag – wir haben das bereits in dieser Woche
im Finanzausschuss behandelt – nicht mehr up to date.
Die Kritik, die Sie an der 3. Geldwäsche-Richtlinie in
Ihrem Antrag äußern – Sie behaupten, der risikoorien-
tierte Ansatz fehle –, hat sich mittlerweile erübrigt, da
die angesprochenen Defizite im Ratsvorschlag vom
22. Oktober 2004 weitestgehend beseitigt worden sind.
Im Übrigen hat sich Deutschland international verpflich-
tet, den in der Richtlinie enthaltenen Verfahren und
Grundlagen Geltung zu verschaffen. Ein bisschen über-
rascht war ich über die Bemerkung in Ihrem Antrag,
dass in puncto Geldwäsche eigentlich schon alles gesetz-
lich Notwendige geregelt sei und dass man deshalb im
Kern keine Verbesserung mehr brauche. Vielleicht hat
ein Mitglied der hessischen CDU die Passage zur Geld-
wäsche in diesem Antrag geschrieben.
Ich glaube, dass wirklich noch einiges zu tun ist, um
Geldwäsche hier zu unterbinden.
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Diesem Anspruch wird Ihr eigener Antrag leider nicht
gerecht. Die Union hinkt der Entwicklung in einigen
Punkten deutlich hinterher. Gut, dass unsere rot-grüne
Bundesregierung auf europäischer Ebene nicht so schlaf-
mützig ist wie die Opposition hier im Deutschen Bun-
destag.
Diesen Antrag kann man so nicht annehmen. Wir
werden seiner Überweisung an die Ausschüsse zustim-
men. In Anknüpfung an die Tradition ist es aber durch-
aus möglich, dass dieser Antrag nach einer gründlichen
Überarbeitung und nach einer Aktualisierung Grundlage
für einen fraktionsübergreifenden Antrag wird.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carl-Ludwig
Thiele.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir an dieser
Stelle über den Finanzplatz Deutschland – das ist ei-
gentlich das zentrale Thema – reden. Der Finanzplatz
Deutschland ist nämlich für uns alle und für unsere
Volkswirtschaft enorm wichtig. Zwischen den unter-
schiedlichen Fraktionen sollte in dieser Frage nicht zu
viel Dissens bestehen. Die Debatte sollte ruhig und sach-
lich geführt werden.
Wir haben diesbezüglich in der Vergangenheit eigent-
lich immer gut zusammengearbeitet, und zwar insbeson-
dere deshalb, weil dieser Bereich außerhalb des partei-
politischen Streits war, weil wir in diesem Bereich im
Wesentlichen gemeinsame Interessen verfolgt haben.
Über unsere gemeinsamen Interessen haben wir mit
sachverständiger Beratung ausführlich diskutiert. Das
hat zu Ergebnissen geführt, die den Finanzplatz
Deutschland gestärkt haben und vermutlich auch weiter-
hin stärken werden.
– Ich spreche den Punkt nicht grundlos an, Kollege
Dautzenberg.
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Bei diesem Antrag geht es im Grunde genommen um
wei von vier Punkten der Einheitlichen Europäischen
kte. Das ist zum einen der freie Dienstleistungsver-
ehr und das ist zum anderen der freie Kapitalverkehr.
eide Bereiche müssen freier werden. Es darf nicht nur
ie regulatorische Dichte steigen, sondern es müssen
öglicherweise auch Regulatorien abgebaut werden;
enn je mehr man reguliert – in einigen Bereichen ist es
rforderlich –, umso stärker wirkt das gegen diejenigen,
ie in den Markt wollen.
Wenn wir uns anschauen, womit sich Sachbearbeiter
n Kreditinstituten und Finanzdienstleister überall be-
chäftigen müssen, dann stellen wir fest: Das ist auch für
iesen Personenkreis nur begrenzt durchschaubar. Über-
ll sind Stäbe und einzelne Abteilungen in den Behörden
ingerichtet worden, weil eine normale Volksbank oder
ine normale Sparkasse das überhaupt nicht mehr han-
eln kann. Der Zustand sollte uns allen zu denken geben,
eil er eigentlich nicht richtig sein kann.
In einer Abwägung in den Fragen „Was können wir
erausnehmen? Wo können wir deregulieren? Wo müs-
en wir eventuell Regelungen treffen, auch im Interesse
er Verbraucher?“ einen vernünftigen Weg zu finden, ist
ie Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Ich hoffe, dass
ich auch die Europäische Union, sowohl die Kommis-
ion wie auch das Parlament, dieser Aufgabe entspre-
hend stellt.
Es geht zum einen um die Liberalisierung der Fi-
anzdienste und zum anderen um die Harmonisierung
er Banken- und Versicherungsaufsicht. Wir müssen
uch national einige Punkte abarbeiten, etwa betreffend
ie BaFin. Es ist richtig, dass wir eine Bankenaufsicht
13890 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Carl-Ludwig Thiele
haben, die Eingriffsbefugnisse hat und tätig werden
kann. Aber auch in dem Bereich müssen wir aufpassen,
dass es nicht zu einer Verselbstständigung einer Behörde
kommt und dass nicht durch die Administration eine
Überregulierung erfolgt. Da liegt die Aufgabe des Ge-
setzgebers. Eventuell müssen einzelne Maßnahmen so-
zusagen in das Parlament zurückgeholt werden und muss
auch eine Exekutive wie die BaFin mit vom Parlament
kontrolliert werden.
Ich begrüße diesen Antrag für die FDP ausdrücklich,
weil ich davon ausgehe, dass wir uns nach einer Über-
weisung dieses Antrags an den Finanzausschuss ernst-
haft mit unterschiedlichen Aspekten auseinander setzen.
Ich würde mich freuen, wenn das Finanzministerium,
das uns in der Regel über diese Fragen berichtet, diesen
Antrag zum Anlass dafür nähme, einmal strukturiert dar-
zustellen, was unter der neuen Präsidentschaft der Euro-
päischen Kommission eigentlich an Richtlinienentwür-
fen angedacht ist, damit wir uns frühzeitig darauf
einstellen können. Dass die Beamten in Brüssel in ihrem
Kämmerlein, flankiert von den nationalen Regierungen,
dazu beitragen, dass alles überreglementiert wird, kann
weder im Interesse der Bevölkerung noch im Interesse
des Parlaments sein. Insofern bin ich hoffnungsvoll, dass
wir weiterhin zusammenfinden, um auch in Zukunft ge-
meinsam für den Finanzplatz Deutschland zu streiten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Jutta Krüger-
Jacob.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir dürften uns darüber einig sein, dass die Position der
europäischen Finanzmärkte nachhaltig gesichert und ge-
stärkt werden muss. Nicht nur vor dem Hintergrund des
Lissabon-Prozesses müssen wir die internationale Wett-
bewerbsfähigkeit steigern und einen angemessenen Rah-
men für einen effizienten Finanzbinnenmarkt schaffen.
Gleichzeitig müssen wir bei aller Globalisierung und Eu-
ropäisierung der Märkte das Vertrauen in die regionalen
und lokalen Märkte sichern. Denn auch in den nächsten
Jahren wird – das haben Umfragen gezeigt – im Bereich
des Retail Banking nur eine geringe Zahl von Verbrau-
chern die Produkte ausländischer Anbieter favorisieren.
Unser Fokus ist also auf den Finanzplatz Deutschland
zu richten, auch wenn dieser – um mit den Worten der
„Börsen-Zeitung“ zu sprechen – einer „Dauerbaustelle“
gleicht, auch wenn die Materie Kapitalmarktgesetze
kompliziert ist und der Finanzmarkt nicht zu den popu-
lärsten Themen zählt.
Jedoch sollten wir uns klar machen, dass der Finanz-
platz Deutschland nicht nur ein realer oder virtueller Ort
ist, an dem sich Emittenten und Investoren treffen. Der
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nsbesondere wenn wir uns vor Augen führen, dass der
inanzmarkt innerhalb der Volkswirtschaft eine Schlüs-
elrolle spielt, da dessen Funktionsfähigkeit Wachstum
nd wirtschaftliche Entwicklung gewährleistet und för-
ert. Die Bedeutung des Finanzmarktes und seiner Pro-
ukte wird künftig unter vielerlei Aspekten zunehmen,
um Beispiel aufgrund steigender Anforderungen an
ine private Altersversorgung oder aufgrund neuer Fi-
anzierungsformen, insbesondere für mittelständische
nternehmen.
Es ist unsere Aufgabe, einerseits die Rahmenbedin-
ungen für die Finanzindustrie attraktiv zu gestalten, an-
ererseits den einzelnen Anleger und seine Interessen im
uge zu behalten. Eine Maximalharmonisierung sollten
ir dabei nicht anstreben, da diese nicht nur die Ent-
cheidungsfreiheit des Anlegers deutlich einschränken
ürde, sondern auch mit erheblichem Bürokratie- und
ostenaufwand und nicht zuletzt mit einer Verminde-
ung des Verbraucherschutzes verbunden wäre.
Vielmehr wird es eine Herausforderung für uns dar-
tellen, ohne allzu viele Regularien einen effektiven
chutz insbesondere des Privatanlegers zu gewährleis-
en und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit zu för-
ern.
inen Ausgleich zwischen wirksamem Anlegerschutz
nd günstigen Voraussetzungen für einen funktionsfähi-
en Finanzmarkt zu schaffen stößt dabei oftmals auf Wi-
erstände, wie, um nur ein Beispiel zu nennen, beim
apInHaG. Dennoch ist dessen Umsetzung mit einer
ersönlichen Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13891
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Jutta Krüger-Jacob
gegenüber dem Aktionär zur Realisierung angemessenen
Verbraucherschutzes erforderlich.
Das Vertrauen der Anleger gilt es zu stärken. Denn
dies ist Voraussetzung für die Investitionen in Unterneh-
men. Dieses Vertrauen zu gewinnen wird nur über Trans-
parenz und effektive Kontrolle gelingen, um eine
Wiederholung der Skandale der Vergangenheit zu ver-
meiden.
Diese Forderung lässt sich als roter Faden durch die
einzelnen Bereiche ziehen, sei es Corporate Governance,
die Regulierung von Ratingagenturen oder die Hedge-
fonds. Für die Ratingagenturen wurden gerade grundle-
gende Verhaltensregeln beschlossen, mit deren Hilfe der
wirtschaftlichen Bedeutung Rechnung getragen wird.
Danach sollen die Agenturen unter anderem ihre Einstu-
fungskriterien und jede Änderung des Ratings offen le-
gen.
Ob die freiwillige Verpflichtung angenommen wird
und ausreichend ist, gilt es genau zu überprüfen; denn
nur bei strikter Befolgung sind Manipulationen ausge-
schlossen. Die staatliche Kontrolle und Reglementierung
widerspricht dabei keineswegs dem Wunsch, mit so we-
nig Bürokratie wie möglich auszukommen. Vielmehr ist
sie auch im Zusammenhang mit dem Einführen innovati-
ver Produkte unumgänglich. Wollen wir den Finanzplatz
Deutschland international wettbewerbsfähig machen und
auf die sich wandelnden und vielfältigen Bedürfnisse der
Kunden eingehen, kommen wir auch künftig nicht an in-
novativen Produkten vorbei, selbst wenn diese, wie die
Hedgefonds, nicht unumstritten sind. Um dem Sicher-
heitsbedürfnis des Anlegers nachzukommen, bedarf es
dann weitreichender Regelungen, wie wir sie mit dem
Investmentmodernisierungsgesetz geschaffen haben.
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass insge-
samt bereits ein Großteil des Aktionsplanes Finanz-
dienstleistungen umgesetzt wurde. Jedoch dürfen wir an
diesem Punkt nicht aufhören, das Gesamtkonzept zur
Harmonisierung der europäischen Finanzmärkte im
deutschen Interesse, zur Stärkung des Finanzplatzes
Deutschland, weiterzuentwickeln.
Danke schön.
Danke schön. – Das Wort hat jetzt der Abgeordnete
Leo Dautzenberg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden An-
trag positioniert sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
in einem zentralen Politikbereich des europäischen Bin-
nenmarktes. Herr Kollege Pronold, wenn Sie hier die
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eshalb gilt hier der Grundsatz, dass Transparenz, Viel-
ältigkeit und fairer Wettbewerb der beste Verbraucher-
chutz sind.
Ich darf abschließen mit dem Punkt „Einfluss des
undestages auf europäische Gesetzgebung“. Wir selbst
orgen in der Zusammenarbeit mit unseren Kollegen im
uropäischen Parlament, aber auch durch die Präsenz
es Bundestages auf europäischer Ebene mit dafür, dass
ir rechtzeitig an der Gesetzgebung auf der Ebene der
uropäischen Union beteiligt werden. Wir sehen hier
emeinsame Grundlagen. Herr Pronold, wenn das, wo-
it Sie geendet haben, stimmt, dass es hier nämlich
urchaus Möglichkeiten der Zusammenarbeit gibt, dann
ind wir weiterhin auf gutem Wege.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Ulrich
rüger.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
er für die heutige Plenardebatte vorlegte Antrag der
DU/CSU-Fraktion zur europäischen Finanzmarktinte-
ration deckt – um das trotz aller gegenseitigen Wert-
chätzung in Finanzdienstleistungsfragen gleich an den
nfang zu stellen – meines Erachtens die angesprochene
roblematik nicht hinreichend ab.
Deutschland ist die größte Volkswirtschaft, der wich-
igste Absatzmarkt und einer der bedeutendsten Stand-
rte für Finanzdienstleistungen in Europa. Dieses Ge-
icht müssen wir bei unseren Partnern demgemäß
ngemessen einbringen. Dazu bedarf es eines aktuellen,
mfassenden, fundierten und gründlich ausgearbeiteten
rogramms, das die Leitlinien für die Mitwirkung
eutschlands in europäischen Institutionen absteckt.
iesem Anspruch – ich habe es schon gesagt – wird der
ntrag nicht gerecht. Ich fordere Sie, liebe Kolleginnen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13893
)
)
Dr. Hans-Ulrich Krüger
und Kollegen der CDU/CSU, daher bereits jetzt auf:
Lassen Sie uns gemeinsam in eine konstruktive und den
zuvor bezeichneten Ansprüchen genügende Diskussion
eintreten!
Die Gelegenheit hierfür ist günstig. Der EU-Aktions-
plan für Finanzdienstleistungen – die Roadmap von
1999 – ist zu mehr als 90 Prozent abgearbeitet. Nunmehr
steht – da sind sich alle europäischen Institutionen
einig – eine Phase der Konsolidierung und der Imple-
mentierung im Finanzmarktbereich bevor. Das sieht
übrigens die EU-Kommission genauso. Wir sollten da-
her die Gelegenheit nutzen, dieses für die deutsche wie
auch für die europäische Volkswirtschaft eminent wich-
tige Politikfeld von uns aus gemeinsam zu bestimmen.
Nur so erreichen wir etwas für den Standort Deutsch-
land. Die Integration des europäischen Finanzmarktes
wird nämlich nicht nur für die internationale Konkur-
renzfähigkeit des EU-Finanzmarktes als Ganzes von
großer Bedeutung sein, sondern auch für die Wettbe-
werbsfähigkeit des Standortes Deutschland, und garan-
tiert damit Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze.
Ausgehend hiervon muss unsere Arbeit in den nächs-
ten Jahren auf die zügige Umsetzung der im Rahmen des
Aktionsplanes eingestielten Maßnahmen gerichtet sein.
Dabei – ich sprach es bereits an – gibt es durchaus einige
Gemeinsamkeiten zwischen uns. Im Bereich „Clearing
und Abrechnung“ beispielsweise, der eben eine Rolle
gespielt hat, stimmen Ihre Ausführungen mit den Aus-
führungen und Ansichten der SPD im Wesentlichen
überein und unterstützen sogar derzeitige Aktivitäten in
diesem Bereich. Ihr Antrag steht damit auch in der Tra-
dition der Bundestagsentschließung vom vergangenen
Jahr zu diesem Thema. Es wäre allerdings – dies nur als
Nebenbemerkung, trotz Vorweihnachtszeit – nett gewe-
sen, wenn man im Antrag selbst kurz darauf eingegan-
gen wäre und darauf hingewiesen hätte. Das wäre auch
nur fair gewesen.
Ein neuer Antrag müsste sich intensiv und umfassend
mit diesem Thema auseinander setzen. Wichtig ist dabei
für uns, dass bestehende und funktionierende Markt-
strukturen nicht durch vorgeschobene Wettbewerbsargu-
mente in Mitleidenschaft gezogen werden und dass vor
einem Tätigwerden der Europäischen Kommission in
diesem Bereich eine umfassende – ich wiederhole: eine
umfassende – Kosten-Nutzen-Analyse erfolgt.
Unverständlich im Antrag der CDU/CSU erscheint
mir die Anmerkung zur Regulierung von Hedgefonds,
soweit auf die US-Rechtslage Bezug genommen wird.
Die deutschen Regelungen gehen nämlich bekannterma-
ßen weit über das Regime der USA hinaus. Es bestehen
engere Zulassungsprüfungen. Es wird eine ständige Auf-
sicht über das Management von Hedgefonds verlangt.
Die allgemeinen Ausführungen im Antrag zum Anle-
ger- und Verbraucherschutz mit den angeblich damit ver-
bundenen bürokratischen Belastungen können aus unse-
rer Sicht nur bedingt bejaht werden. Zwar ist es
grundsätzlich richtig, dass Verbraucherschutz, Unterneh-
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ei Finanzprodukten handelt es sich nunmehr allerdings
nbestritten um eine komplexe Materie. Hier kann auch
on dem so genannten mündigen und informierten Bür-
er nicht derselbe Wissensstand erwartet werden wie
eispielsweise bei einem normalen Warenkauf. Wir wer-
en uns daher auch künftig dafür einsetzen, dass die In-
eressen der Finanzmarktakteure in einem ausgewo-
enen Verhältnis stehen. Wir sehen Bundestag und
undesregierung hier in der Rolle eines ehrlichen Mak-
ers.
Ein weiterer wichtiger Bereich, in dem die deutsche
inanzindustrie zu den weltweiten Champions gehört, ist
ekanntermaßen die Rückversicherungsbranche mit
inem Marktanteil zwischen 25 und 30 Prozent. Es ist
aher wichtig, die unterschiedlichen Risikostrukturen
ei Versicherungen und Rückversicherungen deutlich zu
achen. Bei der Schaffung eines einheitlichen rechtli-
hen Rahmens für Rückversicherungen darf insbeson-
ere die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und auch
er europäischen Rückversicherer keinen Schaden neh-
en, indem etwa Eigenmittelvorschriften über das Maß
inaus verschärft werden.
Um auf den Antrag zurückzukommen: Unvollständig
st meines Erachtens die Bewertung des Lamfalussy-
erfahrens. Die bezüglich dieses Verfahrens aufgewor-
ene Kritik ist bekanntermaßen bereits im Jahre 2002 im
ialog zwischen Kommission und Europäischem Parla-
ent auf fruchtbaren Boden gefallen. Das Europäische
arlament hat bereits vor zwei Jahren begriffen, welche
isiken einem ungeordneten und unkontrollierten Ver-
ahren innewohnen. Das Recht, sich zu den Komitolo-
iemaßnahmen zu äußern, und die Befristung dieser
aßnahmen stellen aus heutiger Sicht – ich betone aus-
rücklich: aus heutiger Sicht – einen angemessenen
chutz dar.
Ausgeblendet ist allerdings in Ihrem Antrag all das,
as zurzeit – zumindest ich habe es so verstanden – im
usammenhang mit dem Problem der mangelnden
emokratischen Legitimation der so genannten Level-
II-Committees eine Rolle spielt: Wie können wir es
chaffen, dass Aufsichtsbehörden auf parlamentarische
rundlagen gebettet sind? Oder anders herum formu-
iert: Wie können wir erreichen, dass Aufsichtsbehörden
ur auf der Basis einer entsprechenden parlamentari-
chen Grundlage tätig werden? Das gilt insbesondere
da stimme ich Ihnen zu –, wenn man das Lamfalussy-
erfahren auch auf Banken, Versicherungen und Invest-
entfonds erstrecken will. Daran müssen wir arbeiten.
13894 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Finanzmarktthemen beschäftigen uns ferner nicht nur
im europäischen Kontext, sondern auch im Verhältnis zu
den USA. Der ins Leben gerufene Dialog zwischen der
Kommission und den US-amerikanischen Regulierungs-
behörden beispielsweise über die Anerkennung von
IAS-Bilanzierungsstandards als gleichwertig mit den
US-GAAP sowie über die Anerkennung europäischer
Aufsichtsstandards für Wirtschafts- und Abschlussprü-
fer, aber auch über Fragen des vereinfachten Delisting-
verfahrens ist ein Punkt, den wir bei der Verfolgung die-
ses Antrages besonders sorgfältig begleiten müssen.
Ziel unserer Politik ist es und muss es sein, Marktzu-
gangsregelungen auf beiden Seiten des Atlantiks abzu-
bauen. Einige dieser Punkte kommen in Ihrem Antrag
aus unserer Sicht zu kurz; einige andere werden nicht er-
wähnt. Das Aufstellen von Handelsbildschirmen ist aus
unserer Sicht kein originäres Thema im Dialog Europäi-
sche Union-USA, sondern betrifft insbesondere das bila-
terale Verhältnis zwischen Deutschland und den USA.
Dieser Punkt ist also selbstverständlich im Rahmen der
deutsch-amerikanischen Gespräche weiter zu verfolgen.
Ein weiterer Punkt fehlt uns allerdings, nämlich Aus-
sagen zum Delisting europäischer Unternehmen von
US-Börsen. Es kann nicht angehen, dass Unternehmen,
auch wenn sie nicht mehr in den USA registriert sind, so
lange einen Jahresabschluss nach US-GAAP vorlegen
müssen, wie sie über die lächerliche Zahl von 300 in den
USA ansässigen Aktionären verfügen. Auch hier muss
sich die europäische Seite bei der US-Börsenaufsicht
schlicht und ergreifend durchsetzen.
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen einige aus
unserer Sicht bestehende Defizite des aktuellen Antrages
der CDU/CSU vor Augen geführt und verbinde das mit
der abschließenden Bitte: Treten Sie mit uns in einen
ganz konstruktiven Dialog ein, damit wir diesen Prozess
gemeinsam begleiten, ein würdiges Arbeitsprogramm
zur Finanzmarktintegration entwickeln und einen klar
definierten Arbeitsauftrag für die Bundesregierung auf
EU-Ebene verabschieden können.
Herzlichen Dank.
Ich danke auch und schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4030 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Waldzustandsbericht 2004
– Ergebnisse des forstlichen Umweltmonito-
rings –
– Drucksache 15/4500 –
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Hiller-Ohm, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-
Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Cornelia Behm,
Volker Beck , Ulrike Höfken, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Wälder naturnah bewirtschaften – Waldschä-
den vermindern – Gemeinwohlfunktionen si-
chern und Holzabsatz steigern
– Drucksache 15/4516 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael
Goldmann, Daniel Bahr , weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Bessere Rahmenbedingungen für die Charta
für Holz
– Drucksache 15/4431 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Zum Waldzustandsbericht liegt ein Entschließungsan-
rag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-
prache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch
öre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
ie Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vor-
iegende Waldzustandsbericht spricht eine deutliche
prache. Unseren Wäldern geht es so schlecht wie nie
uvor. Woran liegt das? Luftschadstoffe und saure Böden
achen den Wäldern das Leben schwer. Klimaschwan-
ungen mit extremen Ozonwerten und Schädlingskalami-
ten stressen unsere Wälder. Hohe Wilddichten gefähr-
en den Aufbau naturnaher Wälder. Wir haben in den
etzten Jahren große Anstrengungen zum Schutz der
älder unternommen, zum Beispiel durch unsere Luft-
einhaltungspolitik. Schädigende Schwefelemissionen
urden wirkungsvoll verringert. Das Kioto-Protokoll
ritt endlich in Kraft.
Heute sehen wir, dass unsere Bemühungen zur Luft-
einhaltung in die richtige Richtung gehen. Sie reichen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13895
)
)
Gabriele Hiller-Ohm
aber nicht aus; denn die Fehler der Vergangenheit zeigen
immer noch ihre Wirkung, zum Beispiel in den Böden.
Hier ticken Zeitbomben. Schadstoffe haben sich über
Jahrzehnte eingelagert. Bei lang anhaltender Trocken-
heit, wie wir sie zum Beispiel im letzten Jahr erlebt ha-
ben, kommt es zu starken Schadstoffkonzentrationen.
Sie sind eine große Gefahr für die Wälder.
Die Besorgnis erregenden Ergebnisse des vorliegen-
den Waldzustandsberichtes haben selbst Experten über-
rascht; denn eigentlich hatten wir Anlass zur Hoffnung,
dass es mit den Wäldern jetzt wieder aufwärts geht. Die
Berichte der Vorjahre gaben positive Signale. Doch nun
wissen wir, dass wir von stabilen Verhältnissen ganz of-
fensichtlich noch meilenweit entfernt sind. Wir müssen
uns also weiterhin sehr anstrengen, um das Durcheinan-
der, das wir seit der Industrialisierung in der Natur ange-
richtet haben, wieder einigermaßen in Ordnung zu brin-
gen.
Was heißt das für den Wald? Es führt kein Weg daran
vorbei: Die Schadstoffe in der Luft müssen weiter runter.
Wir sind dazu bereit. Wir werden bei Klimaschutz und
Luftreinhaltungspolitik nicht locker lassen, auch dann
nicht, wenn uns der Wind ins Gesicht bläst; das wird er,
und zwar kräftig.
Denn natürlich bedeutet unsere Forderung „Runter mit
den Schadstoffen!“ einen puren Interessenskonflikt.
„Schadstoffe runter!“, das heißt im Klartext: weniger
Massentierhaltung, weniger Gülle in der Landwirtschaft
und weniger Autofahren für jeden Einzelnen von uns.
Wer will das schon? Natürlich ist es toll, sich ins Flug-
zeug oder ins Auto setzen und überallhin fahren zu kön-
nen. Niemand möchte auf sein preiswertes Steak ver-
zichten. Keiner will die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Landwirtschaft gefährden. Aber was, meine Damen und
Herren, wird mit dem Patienten Wald? Geben wir ihm
eine Zukunftschance?
Unsere Aufgabe ist es, politische Lösungen aufzuzei-
gen. Das machen wir mit unserem vorliegenden Antrag.
Wir haben einen umfangreichen Forderungskatalog zum
Schutz des Waldes erarbeitet. Er umfasst Klimaschutz,
Schadstoffminderungsstrategien, Waldumbau sowie
Stärkung des Holzabsatzes und der Gemeinwohlfunk-
tion. Ich greife sechs Forderungen aus unserem Antrag
heraus:
Erstens. Wir müssen die erneuerbaren Energien in
Deutschland weiter voranbringen; dazu gehört übrigens
auch das Holz. So tragen wir zum Klimaschutz auf na-
tionaler Ebene bei. Wir fordern die Bundesregierung auf,
auf internationaler und auf europäischer Ebene das
Kioto-Protokoll weiter voranzubringen und die Maßnah-
men zur Senkung des Treibhausgasausstoßes auszu-
bauen.
Zweitens. Die Versauerung der Waldböden durch
Ammoniakemissionen muss gestoppt werden. Wir be-
gegnen der zunehmenden Versauerung der Waldböden
mit unserem Programm zur Reduzierung von Ammoniak-
emissionen. Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang
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iesen Weg müssen wir weitergehen. Wir brauchen auch
ie Novellierung der Düngeverordnung, um Ammonia-
einträge in den Wald und den Stickstoffüberschuss zu
ermindern.
Drittens. Es ist ganz wichtig, die Ursachen der Ver-
auerung der Böden zu bekämpfen. Wir müssen aber
uch Schadensbegrenzung betreiben, denn es haben sich
eider viele Jahrzehnte lang Schadstoffe im Boden ange-
ammelt; auch mit denen müssen wir umgehen. Deshalb
ollen wir, dass die Förderung von Bodenkalkungen
m Wald mindestens auf dem derzeitigen Stand erhalten
leibt. Mehr wäre natürlich besser.
Viertens. Beim Umbau der Wälder sind wir ein gro-
es Stück vorangekommen. Wir müssen den Weg der
aturnahen Waldbewirtschaftung konsequent weiter-
ehen.
ir brauchen widerstandsfähige Mischwälder mit stand-
rtheimischen Baumarten, die langfristig schweren Stür-
en und Trockenheit besser standhalten.
Fünftens. Wir wollen, dass der Waldumbau und die
eistungen der Forstwirtschaft für den Klimaschutz und
as Gemeinwohl zukünftig noch besser honoriert wer-
en. Wenn wir die Fördertöpfe von Bund, Ländern und
er EU clever zusammenbinden, sehe ich gute Möglich-
eiten, dass wir zukünftig mehr Mittel für den Wald
ur Verfügung haben werden.
Sechstens. Wir fordern eine Stärkung des Holzab-
atzes. Den Wäldern geht es zwar verdammt schlecht,
ber sie wachsen. Wir haben deutlich mehr Holz, als wir
erbrauchen; das zeigt die jüngste Waldinventur. Holz ist
in idealer, nachwachsender Energiestoff und Baustoff.
lso nutzen wir ihn doch. Warum, meine Damen und
erren, sehe ich hier im Plenarsaal kein Holz? Soweit
as Auge reicht: nur Beton! Kann es sein, dass Sie beim
au des Regierungsviertels nicht aufgepasst haben, liebe
olleginnen und Kollegen von der Opposition?
Umweltschutz und Wirtschaft sind zu unserem Leid-
esen ganz oft Gegenspieler; das erleben wir gerade in
er Politik fast jeden Tag. Beim Holz ist das anders:
urch eine intensivere wirtschaftliche Nutzung der Wäl-
er leisten wir gleichzeitig einen Beitrag zum Klima-
chutz. Denn Holz ist in seiner Energiebilanz CO2-neu-ral. Mehr Klimaschutz wiederum hilft dem
ngeschlagenen Patienten Wald auf die Beine. Gesunde,
tabile Wälder sind gleichzeitig Voraussetzung für eine
angfristige intensive Holznutzung. So, meine Damen
nd Herren, schließt sich der Kreis. Engagement für den
ald ist somit eine Win-win-Situation, bei der es keine
erlierer gibt. Wo haben wir sonst schon eine so wun-
erbare Situation?
13896 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Gabriele Hiller-Ohm
Wir werden deshalb den Absatz von Holz aus deut-
schen Wäldern weiter voranbringen. Dazu brauchen wir
wettbewerbsfähige Holz verarbeitende Betriebe. Hier
hat sich in den letzten Jahren viel getan. So wurde mit
Unterstützung der rot-grünen Bundesregierung zum
Beispiel das hoch moderne Zellstoffwerk in Stendal auf-
gebaut. Unser Masterplan für verstärkten Holzabsatz
und -einsatz ist die Charta für Holz. Mit der Charta wol-
len wir den Absatz von Holz in den nächsten zehn Jahren
um 20 Prozent steigern. Dieses ehrgeizige Ziel können
wir erreichen, wenn wir alle an einem Strang ziehen.
Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Wir haben Ihnen also einen kompetenten und zukunfts-
weisenden Antrag unter den Weihnachtsbaum gelegt.
Auch die Opposition hat sich mit dem Thema Wald
befasst. CDU/CSU und FDP haben ebenfalls Anträge
ausgearbeitet, die ich nun würdigen werde. Zunächst
komme ich zu den Gemeinsamkeiten, die es zum Glück
auch gibt. In der Zustandsbeschreibung unserer Wälder
gibt es in allen drei Anträgen viele Übereinstimmungen,
was eigentlich keine Überraschung ist.
Wir beschließen aber nicht über den beschreibenden
Teil der Anträge, sondern über die Forderungen. Deshalb
müssen wir auch den Forderungsteil der Anträge genau
unter die Lupe nehmen. Wie sieht es hier aus, meine Da-
men und Herren? Auf der ökonomischen Seite, also bei-
spielsweise bei der Steigerung des Holzabsatzes und der
Stärkung des heimischen Holzes, finden wir Überein-
stimmungen. Die Charta für Holz finden alle gut. Einig
sind wir auch, wenn es um die Verhinderung illegaler
Importe von Urwaldholz geht. Das war es dann aber
auch schon; hier hören die Gemeinsamkeiten auf.
Wo, meine Damen und Herren von der Opposition,
sind Ihre Vorschläge zur Bekämpfung der Ursachen
des schlechten Waldzustandes?
Es wäre schön, wenn Sie mir einmal erklären könnten,
wie Sie von den hohen Emissionen in Verkehr und Land-
wirtschaft herunterkommen wollen. Wo sind Ihre Kon-
zepte? Im Antrag finde ich darüber nichts. Die von Ihnen
immer wieder nach vorne gebrachten Waldkalkungen
reichen allein überhaupt nicht aus; denn Sie bekämpfen
damit nur die Symptome, nicht aber die Ursachen. Mit
diesem Thema könnte ich noch weiter fortfahren. Da die
Lampe jedoch schon blinkt, muss ich zum Ende kom-
men.
Mit Ihren Anträgen ist es wie immer: Sie beklagen
den Zustand des Waldes. Wenn es aber darum geht, die
Ursachen der Schäden zu beseitigen, fehlen Ihnen die
Worte. Unsere Politik dagegen ist klar: Wir tun etwas
zum Klimaschutz, zur Luftreinhaltung und zur Schad-
stoffminderung.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Cajus Julius
aesar.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
en! Wenn wir die Zahlen im Waldzustandsbericht be-
rachten, die von unseren Forstexperten zusammengetra-
en wurden, dann können wir nur feststellen, dass der
eutsche Wald leidet. Noch vor wenigen Monaten trug
ie zuständige Ministerin hier vor, dass es dem Wald
esser gehe, was auf die gute Politik der Bundesregie-
ung sowie von ihr persönlich und auf die von Rot-Grün
esetzten Rahmenbedingungen zurückzuführen sei. An-
esichts dessen muss sich die Ministerin auch für das
erantworten, was jetzt an Zahlen und Daten vorliegt.
ie miserablen Zustände sind auf eine desolate Politik
er Bundesregierung zurückzuführen.
Wir wünschen uns, dass die Bundesregierung der Be-
eutung des Waldes gerecht wird, seiner Bedeutung als
rüner Lunge, als nachhaltiger Rohstofflieferant, als un-
er Erholungsgebiet, als unser Wasserfilter und -speicher
nd nicht zuletzt als Garant für Artenvielfalt und natür-
ich auch seltene Biotope.
ie sind gefordert, durch eine praxisfreundliche Forst-
irtschaft im Sinne des Umweltschutzes diese Bedeu-
ung des Waldes zu stärken.
Unser Wald ist etwas Lebendes. Deshalb können wir
s nicht verantworten, wie Sie von Rot-Grün die Wald-
esitzer mit immer neuen Verboten, Geboten, Richtli-
ien, Leitlinien, Festsetzungen und Reglementierungen
m Dschungel von Gesetzen und Verordnungen drangsa-
ieren und damit weder dem Wald und den Waldbesit-
ern noch der Entwicklung des Waldes und seiner Ge-
underhaltung einen Dienst erweisen. Nein, das ist nicht
nsere Politik. Wir als Union stehen für eine praxis-
reundliche Politik.
Für uns, für die Union, ist die Bewahrung der Schöp-
ung und damit der menschlichen Lebensgrundlage von
roßer Bedeutung. Deshalb setzen wir uns national wie
uch international dafür ein, dass wir im Sinne des Kli-
aschutzes und damit auch im Sinne unseres Waldes,
lso im Sinne einer gesunden Umwelt vorankommen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13897
)
)
Cajus Julius Caesar
Die enorme Bedeutung unserer Forstwirtschaft für
Arbeitsplätze, für das Klima, für die Umwelt und damit
für unsere gesamte Gesellschaft gilt es anzuerkennen.
Wenn man beispielsweise verspricht, die durch die Aus-
weisung von Schutzgebieten wie FFH-Gebieten entste-
henden Beeinträchtigungen der Betriebe ausgleichen zu
wollen, dann muss man diese Versprechungen auch hal-
ten. Das ist bei der jetzigen Bundesregierung in keinerlei
Weise zu erkennen.
Man kann daraus folgern: Diese Bundesregierung
kommt im wahrsten Sinne des Wortes auf keinen grünen
Zweig.
Der Zustand unserer Wälder bereitet erhebliche
Sorge. Wir haben es mit beträchtlichen Verschlechterun-
gen zu tun. Die Zahlen sagen aus, dass es sich seit 1984,
dem Beginn der Aufnahme des Waldzustandes, um den
schlechtesten Zustand handelt. Wenn wir die Zahlen im
Einzelnen betrachten, so können wir feststellen, dass
über 50 Prozent der Buchen – bei den älteren Buchen so-
gar zwei Drittel – geschädigt sind. Bei den Eichen han-
delt es sich um etwa die Hälfte des Bestandes, der Schä-
den aufweist. Dies ist natürlich darauf zurückzuführen,
dass insbesondere das Laubholz im besonderen Maße
unter einer Bodenversauerung leidet, weil es einen ba-
sischen Bodenzustand braucht, also einen höheren pH-
Wert. Es ist festzuhalten, dass sich dieser Wert in den
vergangenen Jahren um ein bis zwei Punkte verschlech-
tert hat. Ein Punkt ist einer zehnfachen Versauerung
gleichzusetzen; zwei Punkte bedeuten eine bis zu hun-
dertfache Versauerung. Hier gibt es dringenden Hand-
lungsbedarf.
Diese Übersäuerung der Böden hat gravierende Aus-
wirkungen auf die Bodenfruchtbarkeit und auf das Ver-
schwinden von Tier- und Pflanzenarten, auf die Qualität
unseres Wassers und damit auch auf unser Grundwasser.
Nährstoffe werden ausgewaschen, es findet eine Schwer-
metallanreicherung statt. Insofern besteht dringender
Handlungsbedarf, damit wir für unsere Bürger jetzt, aber
auch für unsere Kinder und für die zukünftigen Genera-
tionen sorgen. Gesunder Wald bedeutet Artenvielfalt,
bedeutet gesunde Umwelt, bedeutet aber auch gesundes,
sauberes Wasser, das wir zum Leben dringend brauchen.
Deshalb ist es wichtig, der Gesunderhaltung unserer
Wälder entsprechend ihrer Bedeutung Priorität einzuräu-
men.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie end-
lich handelt. Wir erwarten die Reduzierung von Schad-
stoffbelastungen. Sie kann zum Beispiel im Bereich des
Verkehrs im Besonderen durch den Einsatz von bioge-
nen Kraftstoffen und Schmierstoffen erfolgen.
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ies bedeutet aber auch, dass Sie sich mehr dafür einset-
en müssen – darin gebe ich Ihnen Recht –, endlich auch
m Bereich des Holzes als Rohstoff und Energielieferant
ehr zu tun, als dies bisher der Fall ist.
Insbesondere im Bereich der Klimaschutzpolitik,
rau Kollegin, haben Sie versagt. Schauen Sie sich nur
n, wie die CO2-Emissionen unter der Unionsregierungesunken sind und welche Erfolge auf diesem Gebiet zu
erzeichnen waren,
ährend sie im Verlaufe Ihrer Regierungszeit gestiegen
ind. Sie müssen doch anerkennen, dass die vorige Re-
ierung im Sinne des Klimaschutzes gehandelt hat und
n Bezug auf die entsprechende Politik Ihrer Regierung
iele Fragen offen sind. Wir wollen mit Trittin, Künast
nd Schröder in der Klimaschutzpolitik und bei der CO2-eduzierung jedenfalls keine Bruchlandung erleiden.
ir möchten, dass die Rahmenbedingungen für unseren
ald unkompliziert und damit auch abgabenreduzierend
estaltet werden. Das kann nur dadurch geschehen, dass
ie entsprechende Maßnahmen ergreifen.
Mit Recht haben Sie vorhin gesagt, dass sich die
nion für Kompensationsmaßnahmen durch Boden-
chutzkalkung einsetzt. Dies ist für uns eine richtige
nd wichtige Maßnahme. Sie verweisen darauf, dass das
is zu 90 Prozent gefördert wird. Dabei vergessen Sie,
ass der Waldbesitzer als Eigenleistung die Mehrwert-
teuer in Höhe von 16 Prozent aufzubringen hat, obwohl
s eine Maßnahme für die Gesellschaft ist; denn für den
chadstoffeintrag und die schlechten Rahmenbedingun-
en kann man die 1,3 Millionen Waldbesitzer weiß Gott
icht verantwortlich machen. Dafür müssen wir die Re-
ierung verantwortlich machen. Insbesondere hier gibt
s Handlungsbedarf.
Wenn Sie das nicht glauben, kann ich Ihnen auch die
ahlen nennen.
Wir haben 11 Millionen Hektar Wald. Experten, nicht
ie Union, haben festgestellt, dass fast zwei Drittel da-
on, nämlich 7 Millionen Hektar, gekalkt werden müs-
en.
etzt sagen Sie mir bitte einmal, wie viele Hektar pro
ahr gekalkt werden. Es sind nur 100 000 Hektar pro
ahr mit abnehmender Tendenz. Ich meine schon, dass
ie öffentliche Hand eine Vorbildfunktion insbesondere
uch auf den eigenen Bundesflächen übernehmen
üsste. Wo tun Sie hier denn etwas? Auch auf den Bun-
esflächen geht der Umfang der Kalkungsmaßnahmen
13898 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Cajus Julius Caesar
doch zurück. Ich meine, die Regierung könnte hier eini-
ges tun; denn es gibt erhebliche Defizite. Sie sagen, Sie
seien hier auf dem Marsch nach vorne. Das ist einfach
nicht richtig.
Auch bezüglich der Gemeinschaftsaufgabe „Agrar-
struktur und Küstenschutz“ haben Sie in Ihrem Antrag
ausgeführt, dass Sie mehr tun wollen.
Tatsächlich kürzen Sie die Mittel für die Gemeinschafts-
aufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ im Haus-
halt 2005 um 45 Millionen Euro. Das ist Ihre unglaub-
würdige Politik und nicht die Politik der Union.
Sie lassen den Wald im sauren Regen stehen. Deshalb
können wir hier nicht vorankommen.
Wenn man den Veröffentlichungen der Ministerin
glauben darf, dann hat sie – wohl deshalb, um von ihrer
Politik abzulenken – in den letzten Tagen das Wild dafür
verantwortlich gemacht, dass der Waldzustand so
schlecht ist. Ich habe mir immer vorgestellt, dass diese
Ministerin gegen gentechnische Veränderungen ist. Bei
der Waldzustandsaufnahme werden jedoch nicht der Bo-
den und die Flora betrachtet, sondern die Baumkronen.
Ich frage mich allen Ernstes, wie die Rehe und die Hir-
sche in die Kronen kommen sollen. Ich meine, ein Wald-
spaziergang unter fachkundiger Anleitung wäre sinnvoll,
um wichtige, fachkundige und einer Ministerin ange-
messene Äußerungen tätigen zu können. Vielleicht kann
die Kollegin Marlene Mortler dabei hilfreich sein und
Ihnen einiges Fachkundige sagen. Es ist nicht der rich-
tige Weg, pauschale Verunglimpfungen von Jägern und
Waldbesitzern vorne anzustellen. Das ist gegen die Vor-
stellungen der Union.
Es ist auch nicht richtig, wenn Sie ein Zertifizie-
rungssystem, nämlich das FSC-System, bevorzugen.
Wir als Union sehen das PEFC-System als sehr viel pra-
xisfreundlicher an. Ich darf ein Beispiel nennen: Im Rah-
men des FSC-Systems ist die Bodenbearbeitung unter-
sagt. Wir von der Union wollen einen naturnahen Wald
und eine natürliche Verjüngung. Dies kann man erzielen,
indem man die Bodenbearbeitung mit der Bodenkalkung
kombiniert. Dadurch kommt man insbesondere beim
Laubholz zur Naturverjüngung. Durch Ideologie und
eine einseitige Bevorzugung des FSC-Systems schließen
Sie dies aus. Das ist nicht in unserem Sinne. Wir als
Union wollen den naturnahen Wald durch Naturverjün-
gung.
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Ich meine auch, dass der Bund eine Vorbildfunktion
at, Holz in Ministerien, Gebäuden und Einrichtungen
u verwenden. Holz ist auch ein Energielieferant. In
anchen Nachbarländern wird zwei- bis fünfmal so viel
olz verwendet wie in Deutschland. Daran sollte man
ich orientieren. Hier gibt es viel zu tun. Wenn Sie deut-
ich machen, dass Sie Subventionen für nicht erneuer-
are Rohstoffe abbauen wollen – wie es in dem Antrag,
en Sie heute vorgelegt haben, steht –, unterstützen wir
ie. Aber wenn der Kanzler erklärt, dass die Kohlesub-
entionen um ein paar Milliarden Euro erhöht werden,
ann widerspricht das Ihrem Antrag und Ihren Aussa-
en, die schriftlich vorliegen. Wir sind aber schon daran
ewöhnt, dass der Kanzler das Gegenteil von dem er-
lärt, was Sie hier vorlegen.
Das ist keine glaubwürdige Politik. Wir fordern Sie
uf: Ergreifen Sie schnellstmöglich die notwendigen
aßnahmen zur Gesunderhaltung unserer Wälder!
iese müssen auf eine modern ausgerichtete Forstwirt-
chaft abzielen. Damit kann aus dem kleinen Pflänzchen
ber Generationen hinweg wieder ein alter, starker und
esunder Baum werden. Dafür wird sich die Union ein-
etzen. Unser Wald, unsere Forstwirtschaft und unsere
enschen brauchen eine Zukunft.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Renate
ünast.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13899
)
)
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Caesar, ich weiß zwar, dass es den schönen Satz gibt
„Man soll Gott für alles danken, vor allem für die Fran-
ken“. Wie dieser Satz aber so ausgelegt werden kann,
dass ich mit Frau Mortler durch den Wald gehen soll, ist
mir unerklärlich.
– Nein, ich habe nichts gegen Franken.
Sie werden mir nachsehen, dass ich lange bevor Sie
angefangen haben, Ihren Redebeitrag zu schreiben, mit
Förstern im Wald war. Wenn Sie auch nur einen Hauch
von Sachverstand besitzen – ich weiß, dass Sie ihn ha-
ben, aber Ihrer Rede war das nicht immer anzumerken –,
dann wissen Sie doch, dass alle Forstfachleute aus gutem
Grund den Zustand der Krone als Indikator nehmen, um
zu erklären, wie die Situation des Waldes ist. Diese Fest-
legung haben Fachleute erfunden, die uns auch die Zah-
len zugeleitet haben.
Kommen wir wieder zum Ernst der Sache. Der Wald
befindet sich in einer ganz prekären und schwierigen
Situation. Man muss sagen: Der Wald kämpft im Augen-
blick gegen einen Giganten, die globale Klimaerwär-
mung. Das bedeutet für den Wald Dürre, Überschwem-
mung und Insektenbefall. All diese Faktoren als Folge
der globalen Klimaerwärmung üben auf den Wald einen
so großen Druck aus, dass wir von einem neuen Wald-
sterben sprechen müssen. Fakt ist: Nur 28 Prozent des
gesamten Baumbestandes sind noch vollkommen frei
von sichtbaren Schäden. Besonders betroffen sind die
für uns wertvollen Laubbäume. Etwa die Hälfte der Bu-
chen und Eichen weist deutliche Blattverluste auf.
Die Gründe liegen aber nicht nur bei dem Giganten
globale Klimaerwärmung bzw. Klimawandel, sondern es
besteht das Problem der ökologischen Verletzbarkeit von
Monokulturen im Wald. Darüber hinaus haben wir das
Problem der Schadstoffbelastung durch Industrie, Ver-
kehr und Landwirtschaft. Wenn wir nicht wollen, dass in
unseren Regionen in Zukunft nur noch Krüppelkiefern
wachsen, dann reicht es eben nicht, als alleinige Lösung
Kalken, Kalken, Kalken zu propagieren. Wir können
nicht alles verkalken. Daraus könnte ich jetzt ein Wort-
spiel machen, was ich mir aber erspare. Es reicht nicht,
mit dem Kalken Symptome zu bekämpfen, sondern man
muss umfassende Maßnahmen ergreifen.
Frau Bundesministerin Künast, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Goldmann?
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Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
chutz, Ernährung und Landwirtschaft:
Das erkläre ich gerne. Ich weiß, dass im Interview ga-
antiert nicht gestanden hat, dass das deshalb der Fall ist,
eil die grüne Ministerin am Werk war. Das war sicher-
ich ein kleiner Zusatz von Ihnen. Ich erinnere mich da-
an noch bestens.
Der Punkt war folgender: Wir hatten festgestellt
schauen Sie sich die Statistiken des Waldzustandsbe-
ichts an! –, dass die Waldfläche zunimmt. Es wurde ge-
agt, dass von der Zunahme heute nur 60 Prozent genutzt
erden. Gleichzeitig gab es keine Zunahme der Wald-
chäden. Dann haben die Dürre des Jahres 2003 und ei-
ige andere Einflüsse dazu geführt, dass sich die Schä-
en verstärkt haben. Wenn Sie das zeitlich mit dem
enannten Datum vergleichen, dann haben Sie die Erklä-
ung.
Ich will eines klar sagen: Das, was wir brauchen, ist
ine nachhaltige Waldpolitik, und zwar nicht nur natio-
al, sondern auch global.
eshalb ist dieser Antrag so wichtig. In dem Antrag
erden verschiedene Punkte zusammengebracht: der
mbau des Forstes zu standortangepassten Mischwäl-
ern, Emissionsminderung und Holznutzung. Wir müs-
en mit der Nachhaltigkeit Ernst machen. Das geht nicht
hne Veränderungen.
Herr Caesar hat aufgeführt, wofür Sie alles sind. Ich
age Ihnen einen Spruch, den viele in der Schule gelernt
aben: Hic Rhodus, hic salta! Sie dürfen nicht nur Reden
alten, sondern Sie müssen dafür Sorge tragen, dass Ihre
ollegen – auch Frau Mortler – an anderer Stelle etwas
n. Man kann nicht auf der einen Seite fordern, viel für
13900 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Bundesministerin Renate Künast
den Wald zu tun, aber an anderer Stelle, zum Beispiel
beim EEG oder beim Agrardiesel, blockieren.
An jeder einzelnen Stelle blockieren Sie. Diese Dinge
gehören zusammen.
„Hic Rhodus, hic salta!“ heißt es. Machen Sie mit bei der
Charta für Holz! Sie kritisieren die Regelungen zum
Holzabsatzfonds. Auf der anderen Seite fordern Sie, ins-
besondere Herr Merz, einen Subventionsabbau. Sie kön-
nen nicht darüber klagen, dass der Staat für Dienstleistun-
gen, die er erbringt, Gebühren erhebt. Diese Gebühren
decken den Arbeitsaufwand. Jeder Mensch, der einen
neuen Personalausweis beantragt, muss die Arbeit des öf-
fentlichen Dienstes bezahlen. Warum denn nicht an dieser
Stelle? Das können Sie keinem erklären.
Dann müssen Sie auch bei dem Programm, das die Am-
moniakemission der Landwirtschaft betrifft, mitmachen,
weil Ammoniak eine Belastung für den Wald darstellt.
Ferner müssen Sie beim EEG und bei der Novellierung
des Bundeswaldgesetzes, die nun kommen wird, mitma-
chen. Diese wird auf eine andere Waldbewirtschaftung
abzielen.
Es geht nicht nur um nationale Maßnahmen, sondern
auch um viele andere Dinge, die wir mit dem Umwelt-
ministerium und dem BMZ erarbeiten. Es geht um die
Bekämpfung von illegaler Holzernte und von illegalem
Holzhandel. Die Wirtschaft muss dazu beitragen, dass
erkennbar wird, woher sie die Produkte nimmt. Diese
sollen zertifiziert werden, damit die Menschen etwas für
die Erhaltung des Waldes bei uns und in der Welt tun
können. Sie müssen bei der Zertifizierung und einer ein-
deutigen Verbraucherpolitik mitmachen.
Sie müssen auch bei der FSC-Zertifizierung der Wälder
mitmachen. Es kann nicht sein, dass wir für den Tropen-
wald auf den Philippinen eine Forderung aufstellen, die
wir bei uns nicht umsetzen. Das wäre ein wenig arro-
gant.
Ich bitte um entsprechende Unterstützung.
Ich könnte noch viele andere Punkte nennen. Klar
muss sein, dass die Verbraucher erkennen, was sie kau-
fen. Es gibt keine Alternative zu einer konsequenten
Umwelt- und Waldpolitik. Sie haben an der Verleihung
des Friedensnobelpreises an Frau Maathai aus Kenia ge-
sehen, welche Bedeutung der Wald hat. Sie sehen es
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel Happach-
asan von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
rau Hiller-Ohm, ein endloser Forderungskatalog, wie
ie ihn vorgelegt haben, ersetzt keine gute Politik. Ein
ndloser Forderungskatalog ersetzt nichts.
Frau Künast, ich habe den Eindruck, dass Sie beim
hema Wald eindeutig auf dem Holzweg sind.
enn der Wald in Deutschland dieselbe Förderung er-
ielte, wie Sie sie dem Ökolandbau angedeihen lassen,
ann wäre es um unseren Wald um einiges besser be-
tellt.
Der Forstschutzexperte Professor Michael Müller aus
harandt hat in der Wochenzeitung „Die Zeit“ kürzlich
estgestellt: „Wo Wald lebt, kränkelt er.“ Das hat uns alle
berrascht, aber es ist trotz allem eine beruhigende
achricht. Der Wald lebt.
Dennoch lädt diese Nachricht nicht zum Ausruhen
in; denn das Cluster Forst und Holz bietet etwa
Million Menschen in Deutschland Arbeit. Diese Men-
chen brauchen einen gesunden Wald.
Unser aller Herz hängt an unseren Wäldern. Jeder hat
in Bild der Wälder seiner Heimat vor Augen. Wir alle
ollen die Vitalität unserer Wälder erhalten und fördern.
Kurz vor Weihnachten, den Weihnachtsbaum im
lick, will ich die Gemeinsamkeiten hervorheben, liebe
ornelia Behm. Die Versauerung der Waldböden durch
en jahrzehntelangen Schadstoffeintrag ist ein dauerhaf-
er Stressfaktor. Auch Bündnis 90/Die Grünen haben
ies in ihrem Antrag festgestellt. Dieser Stress kann
urch Bodenschutzkalkungen gelindert werden, wie
uch Sie, Ministerin Künast, es in der „Süddeutschen
eitung“ gefordert haben. Dadurch wird die Vitalität un-
erer Wälder gestärkt. Nach dem Verursacherprinzip
üssen wir alle – nicht nur die Waldbesitzer – für diese
otwendigen Heilungsmaßnahmen zahlen. Es geht um
eilung, nicht um Symptombekämpfung.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13901
)
)
Dr. Christel Happach-Kasan
Die richtige Medizin kann aber nur der geben, der die
richtige Krankheitsursache festgestellt hat. Der Blick in
die Baumkronen zeigt nur Symptome. Die Ursachen für
die Erkrankung der Bäume liegen im Boden. Deswegen
will die FDP die Waldzustandserfassung auf eine Bewer-
tung der Böden umstellen. In einem Gutachten des Bun-
desforschungsministeriums wird genau dies gefordert.
Sie können sich insofern nicht einfach davonschleichen,
Frau Ministerin Künast.
An den herkömmlichen Waldzustandsberichten
wird massive Kritik geübt, die wir ernst nehmen müssen.
Wir können es uns nicht leisten, jährlich Berichte erstel-
len zu lassen und sie anschließend zu diskutieren, wohl
wissend, dass sie nur eine geringe Aussagekraft haben.
Verstärkte Holznutzung hilft dem Wald. Biologische
Systeme gewinnen durch Nutzung an Vitalität. Was im
Sport das Training ist, ist in unseren multifunktionalen
Wäldern die Holznutzung. Dafür muss die Charta für
Holz mit Leben erfüllt werden.
– Vielleicht können auch die Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU zuhören. Das fände ich sehr nett. Als
gelernte Lehrerin darf ich vielleicht diesen Einwurf vor-
bringen.
Die FDP macht in ihrem Antrag Vorschläge, wie für
Waldbesitzer die Nutzung des Holzes ihrer Wälder at-
traktiver werden kann. Denn die von der christlich-libe-
ralen Regierung in Auftrag gegebene Waldinventur hat
gezeigt, dass gerade in kleinen Privatwäldern zu wenig
Holz eingeschlagen wird. Das liegt auch daran, dass die
Bereitstellungskosten für Holz zu hoch sind.
Der europaweite Vergleich der Investitionsbedingun-
gen in der Nutzholzwirtschaft gibt Deutschland mangel-
hafte Noten in den Bereichen Bürokratie, Unternehmer-
freiheit und Reglementierungen. Das ist Ihr Werk, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün! Dazu gehören
zum Beispiel die Reglementierungen im Transportbe-
reich, die durch nichts begründet sind.
Die Planungen der Regierung, dem Holzabsatzfonds
zukünftig die bisher kostenfreien Leistungen für die Ver-
buchung der Abgaben in Rechnung zu stellen, lehnen
wir ab. Das wäre ein völlig falsches Signal.
Der weitere Umbau der Wälder hin zu naturnäheren
Wäldern trägt zur Biodiversität bei und kann die Stabili-
tät der Wälder erhöhen. Das wollen wir. Allerdings muss
dies mit Augenmaß erfolgen und berücksichtigen, dass
Nadelholz mehr nachgefragt wird als Laubholz. Der
Umbau muss auch berücksichtigen, dass in verschiede-
nen Regionen die von Biologen erträumten, potenziell
natürlichen Waldgesellschaften nicht wachsen, weil die
Böden zu stark verändert sind.
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Dr. Andreas Pinkwart, Dr. Hermann Otto Solms,
Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
– Drucksache 15/3232 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Haushaltsausschuss
13902 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Ina Lenke, Ulrike Flach, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Lage der Kommunen dokumentieren und ver-
bessern
– Drucksache 15/2602 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Gisela Piltz von der FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir die Kirchturmuhr in den meisten
Städten und Gemeinden durch eine Schuldenuhr erset-
zen würden, dann müssten die Glocken wohl ständig
läuten, vor allen Dingen in den Ohren der Kollegen von
Rot-Grün. Die Lage der Kommunen ist nach wie vor ka-
tastrophal. In seiner jüngsten Schätzung rechnet der
Deutsche Städtetag wieder mit einem hohen Schulden-
stand von über 8 Milliarden Euro in diesem Jahr. Dabei
sind die Gewerbesteuereinnahmen – das muss man zuge-
stehen – in den letzten Monaten einigermaßen angestie-
gen. Aber nach vielen Jahren hoher Defizite kann das
nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein.
Verantwortlich für die hohen Schulden sind nach wie
vor strukturelle Probleme, die nicht gelöst werden, unter
anderem die starke Zunahme der Aufgabenverlagerung
vom Bund auf die Städte und Gemeinden ohne entspre-
chende Kostenerstattung. Aber das ist ja auch total ein-
fach; denn die Kommunen sind im Bundestag nicht ver-
treten. Auch im Bundesrat denken die Länder zumeist an
sich und nicht an die Kommunen. So sind insbesondere
im Bereich der Sozialausgaben die Kosten im Jahr 2003
um 8 Prozent und im ersten Halbjahr 2004 um über
7 Prozent gestiegen, ohne dass es dafür einen Ausgleich
seitens des Bundes gegeben hätte, der schließlich die
Gesetzgebung zu verantworten hat. Dagegen wehren wir
uns.
Mit der Verankerung eines echten Konnexitätsprin-
zips im Grundgesetz wollen wir endlich eine rechtliche
Grundlage schaffen, die den Kommunen einen Anspruch
gegenüber dem Bund einräumt, die notwendigen finan-
ziellen Kosten ersetzt zu bekommen. Aber das haben Sie
alle außer uns im letzten Jahr in namentlicher Abstim-
mung abgelehnt. In Ihren Sonntagsreden setzen Sie sich
zwar dafür ein. Wenn es aber zum Schwur im Bundestag
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Zumindest die Union hat jetzt dazugelernt und fordert
as ebenfalls nach ihrem letzten Parteitag in Düssel-
orf – meiner Heimatstadt, auf die ich stolz bin.
Ich wünsche mir, dass die Föderalismuskommission
azu eine klarere Linie erarbeitet. In dem, was bisher
orgelegt worden ist, sind beispielsweise keine Ent-
cheidungsrechte für Kommunen enthalten und das, was
arin zu den Kosten festgestellt wird, ist nur ein kleiner
offnungsschimmer.
Das nächste Problem ist die unsichere Einnahmesitu-
tion aufgrund der konjunkturabhängigen Gewerbesteu-
reinnahmen. Ich habe mich lange gefragt, warum Rot-
rün die Gemeindefinanzreform seit über einem Jahr
berhaupt nicht mehr zum Thema macht. Ich weiß jetzt,
arum.
Es wird noch viel besser. Warten Sie ab. – Ich habe
ämlich die Bundesregierung gefragt, wie sich die von
hr behaupteten 6,6 Milliarden Euro Entlastung für die
ommunen errechnen lassen. Die Antwort der Parla-
e
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Im Jahr 2005 werden die Kommunen aufgrund der
Gemeindefinanzreform um 5,54 Milliarden Euro
Wenn die Bundesregierung glaubt, es habe eine Ge-
eindefinanzreform gegeben, dann verstehe ich, warum
ie diese Reform nicht mehr in Angriff nimmt.
enn sie weiterhin glaubt, dass die Gemeindefinanzre-
orm aus dem Gewerbesteueränderungsgesetz und dem
ierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Ar-
eitsmarkt besteht, dann hat sie die Welt nicht verstan-
en.
enn es so weit gekommen ist, dass innerhalb der Bun-
esregierung eine Staatssekretärin nicht weiß, was wirk-
ch los ist, dann wundert mich gar nichts mehr in diesem
and, erst recht nicht, was die Kommunen angeht.
Aber vielleicht fängt der eine oder andere von Ihnen
och an nachzudenken. Allein Ihr Verhalten bei
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13903
)
)
Gisela Piltz
Hartz IV zeigt, dass Sie den Kommunen keinen hohen
Stellenwert einräumen. Anstatt den Kommunen die al-
leinige Zuständigkeit für die Langzeitarbeitslosen zu
übertragen, werden sie zu Handlangern der Bundesagen-
tur gemacht.
Warum trauen Sie unseren Kommunen eigentlich nichts
zu?
Hinzu kommt Ihr genialer Coup beim Tagesbetreu-
ungsausbaugesetz. Dafür sind Sie und wir alle hier zu-
nächst einmal gar nicht zuständig. Zunächst erklären Sie,
dass die Kommunen durch Hartz IV Geld sparen. Ob das
so ist, weiß wirklich noch niemand. Von diesen fiktiven
Einsparungen sollen jetzt Kinderbetreuungsplätze ge-
schaffen werden.
Keine Frage: Das ist ein wichtiges Anliegen. Aber wa-
rum wählen Sie den Weg über eine Scheinfinanzierung?
Zu wenig Geld, da die Mittelzuweisungen aufgrund
fiktiver Einsparungen berechnet wurden, für die Erfül-
lung einer wichtigen und real existierenden Aufgabe, das
ist Show und keine ernsthafte Politik.
Wir alle wissen: Bibliotheken werden geschlossen,
Straßen können nicht erneuert werden und Kindergärten
müssen ihr Betreuungsangebot einschränken. Die Aus-
wirkungen auf die kommunale Wirtschaft und damit
auf die Wirtschaft überhaupt sind katastrophal. Wenn die
Kommunen kein Geld mehr haben, dann können sie kein
Geld mehr ausgeben. Die Kredite, die die Städte aufneh-
men müssen, bringen sie wirklich um den Verstand.
Viele finanzieren sich sogar nur noch über Kassenkre-
dite. Dieser Zustand ist wirklich unhaltbar.
Ich komme gleich zum Schluss.
Doch ein Problem liegt uns besonders am Herzen; damit
sollten Sie sich wirklich einmal auseinander setzen:
Wenn es so weitergeht, werden Sie niemanden mehr fin-
den, der in den Kommunen Verantwortung übernimmt.
Wer will denn nur Schulden verwalten? Wenn das so
weitergeht, meine Damen und Herren von Rot-Grün,
sind Sie schuld daran, dass die dritte Säule unseres Staa-
tes und damit der Staat insgesamt zugrunde gehen. Wir
liefern Ihnen die Alternativen; wir haben die Konzepte.
Sie haben dazu im letzten Jahr nichts vorgelegt.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hartmann von
er SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
en! Liebe Frau Piltz, es war interessant, zu dieser doch
chon etwas fortgeschrittenen Abendstunde in der vor-
eihnachtlichen Zeit des Advents Ihren Worten zu lau-
chen. Es wäre aber auch schön gewesen, in dieser har-
onischen Adventsatmosphäre wenigstens ein Wort zu
en beiden von Ihnen vorgelegten Anträgen zu hören.
as ist ausgeblieben; dazu konnten wir leider nichts er-
ahren.
enn man eine Vorlage in die Beratung einbringt, dann
uss man dazu auch Stellung nehmen.
Wie dem auch sei, kein Mensch bestreitet, dass die
age der kommunalen Finanzen nach wie vor schwie-
ig, da und dort sogar dramatisch ist. Kein Zweifel! Es
rfüllt uns nicht weniger mit Sorge als Sie, dass das so
st. Es nutzt uns nichts, glaube ich, wenn wir in dieser
rage so tun, als würde bei den Kommunen irgendetwas
esser werden, wenn man einfach den schwarzen Peter
in und her schiebt.
Viele von uns, die an dieser abendlichen Debatte teil-
ehmen, tragen selbst kommunale Verantwortung. In
ezug auf die FDP weiß ich das nicht so genau,
ber bei den großen Volksparteien gibt es ja viele Kom-
unalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker.
eshalb ist da die Kompetenz vielleicht auch etwas aus-
eprägter als bei Politikern aus denjenigen Parteien, die
ich mehr auf Landes- und Bundespolitik konzentrieren.
Wie dem auch sei, die Finanzkrise der kommunalen
eite ist eine Finanzkrise der öffentlichen Hand insge-
amt. Zu dem Schluss kommt man, wenn man die Lage
hrlich analysiert.
Herr Kollege Hartmann, erlauben Sie eine Zwischen-
rage der Frau Piltz?
13904 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Sehr gern.
Bitte schön.
An die Regierung gerichtet sage ich: Das ist mein par-
lamentarisches Recht.
Herr Kollege Hartmann, ist Ihnen bekannt, dass gut
ein Viertel der Mitglieder der FDP-Bundestagsfraktion
weiterhin ein kommunales Mandat hat und dass in unse-
rer Fraktion ebenso wie bei Ihnen Bürgermeister von
Städten und Gemeinden tätig sind?
Können Sie sich daher vorstellen, dass die Politiker Ihrer
Parteien nicht die Einzigen sind, die Regelungen im
Sinne der Kommunen treffen wollen?
Liebe Frau Piltz, es ist erfreulich, zu hören, dass auch
Sie da und dort über kommunalpolitischen Sachverstand
und aktive Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpo-
litiker verfügen. Herzlichen Glückwunsch dazu! Ich
nehme aber an, dass es in den Reihen der SPD mehr eh-
renamtliche Kommunalpolitiker gibt, als die FDP bun-
desweit überhaupt Mitglieder hat.
– Herzlichen Glückwunsch dazu! Wenn Sie den Sach-
verstand von denen auch annehmen, dann ist das gut.
Dann werden Sie nämlich zum Beispiel auch hören, dass
es tatsächlich eine gute und richtige Sache ist, dass wir
nicht das machen, was Sie jetzt erneut fordern,
nämlich die Gewerbesteuer abzuschaffen.
Den Kommunen geht es jetzt Gott sei Dank alles in al-
lem wieder etwas besser, wenn auch keineswegs in aus-
reichendem Maß; darüber sind wir uns einig. Die Ver-
besserung der Lage ist auch dadurch eingetreten, dass
wir – übrigens einmütig im Vermittlungsausschuss und
mit Zustimmung der Vertreter des Bundesrates; anders
wäre es auch gar nicht möglich gewesen – entgegen
manchen eindeutigen Forderungen der FDP die Gewer-
besteuer erhalten – bei der Union war die Haltung mal
so und mal so, wie man das bei ihr oft erlebt –
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Den Kommunen verbleiben von den Einnahmen aus
er Gewerbesteuer rund 21 Milliarden Euro. 2003 war
in Anstieg festzustellen, 2004 noch einmal ein deutli-
her Anstieg. Insgesamt liegen sie bei 25,9 Milliarden
uro. Die Veränderung bei der Umlage ist das eine, was
ur Verbesserung der Situation beigetragen hat. Durch
ie peu à peu besser werdende wirtschaftliche Entwick-
ung sind zudem die Einnahmen der Kommunen insge-
amt gestiegen. Wie wollen Sie das Ganze solide ohne
ie Gewerbesteuer hinbekommen? Das haben Sie nicht
rklärt.
Sie wollen einen Aufschlag auf die Einkommen-
teuer.
as hätte zur Folge, dass die Lasten zum Schluss von
tto Normalsteuerzahler zu tragen wären,
ber die Unternehmen, die die Infrastruktur nutzen, ent-
astet würden. Das kann nicht sein. Die Gewerbesteuer
st ein Stück kommunaler Gerechtigkeit. Wer die Infra-
truktur der Gemeinden in Anspruch nimmt, der soll da-
ür auch Steuern zahlen. Deshalb bleiben wir dabei: Die
ewerbesteuer ist gut und richtig und notwendig, jetzt
nd in Zukunft.
Über eines können wir in der Tat reden – das ist an die
dresse aller Kommunalpolitikerinnen und Kommunal-
olitiker gerichtet –: Es ist sicherlich so, dass der Bund
nd auch die Länder den Kommunen da und dort Stan-
ards aufbürden, die denen die Luft zum Atmen neh-
en. An dieses Problem müssen wir herangehen. Ich
ehe durchaus, dass es bei Ihnen entsprechende Forde-
ungen gibt, die sinnvoll sind. Aber zwischen wohlfeilen
orderungen in Anträgen und einer Praxis, die den Kom-
unen tatsächlich hilft, besteht ein himmelweiter Unter-
chied. Man muss vieles mit Mut und Entschlossenheit
ngehen. Wenn das, was Sie formuliert haben, nicht nur
ur Formulierung wohlfeiler Anträge dient, sondern
ommunale Praxis werden soll, dann sage ich Ihnen: In
en Ländern, in denen Sie mit Union regieren, haben Sie
ie Chance, das tatsächlich umzusetzen. Aber davon hört
nd sieht man nicht allzu viel.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13905
)
)
Michael Hartmann
Im Übrigen – das sage ich noch einmal ganz grund-
sätzlich –: Wer einerseits fordert, dass der Staat so gut
wie nichts mehr einnehmen soll, aber andererseits will,
dass die Kommunen Leistungen für die allgemeine Da-
seinsvorsorge erbringen, der erweist sich in Wirklichkeit
nicht als kommunalfreundlich. Insofern hoffe ich, dass
wir im Zuge des nahenden Weihnachtsfestes vielleicht
Umdenkungsprozesse auf Ihrer Seite erleben
und wir bei Standards und anderen Fragestellungen zu-
sammen etwas für die Kommunen tun können.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Bernhardt von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sind uns in diesem Hause über Folgendes
einig – das hat auch der Beitrag des sozialdemokrati-
schen Kollegen eben gezeigt –: Die finanzielle Situation
unserer Kommunen in Deutschland ist katastrophal. Das
ist die erste Feststellung, die sich aus den bisherigen Bei-
trägen ergibt.
Ich weise auf einige Zahlen hin: In diesem Jahr wer-
den die Kommunen ein Defizit von insgesamt
8,5 Milliarden Euro haben und im kommenden Jahr wird
es nach Angaben des Städtebundes etwa 10 Milliarden
Euro betragen. 10 Milliarden Euro neue Schulden be-
deuten, dass die Kommunen selbst bei einem günstigen
Zinssatz ein Jahr später 400 Millionen Euro neue Zinsen
zahlen müssen. Dies ist eine sehr gefährliche Entwick-
lung.
Meine Fraktion hat in diesem Hause wiederholt kon-
krete Vorschläge gemacht,
um die finanzielle Situation der Kommunen zu verbes-
sern. Nur einem dieser Vorschläge haben Sie letztlich
nach massivem Druck im Dezember des vergangenen
Jahres zugestimmt, nämlich dass die Gewerbesteuer-
umlage, die Sie im Jahr 2000 erhöht hatten, endlich wie-
der gesenkt wurde.
Dies brachte den Kommunen rund 2 Milliarden Euro
ein. Wenn das alles war, dann kann ich dazu nur sagen:
Die Kommunen müssen sich verlassen fühlen. Dies war
nämlich nur ein kleiner Schritt, der nicht ausreicht, um
das Problem zu lösen.
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ies ist natürlich nur im Rahmen einer grundlegenden
teuerreform möglich.
soliert kann man in diesem Bereich nichts machen. Da
n dieser Legislaturperiode nichts mehr passiert – Ihnen
ehlt die Kraft, uns die Mehrheit –,
eißt es doch, dass es frühestens ab 1. Januar 2008 eine
rundlegende Steuerreform gibt. Bis dahin können die
ommunen nicht warten. Wir müssen vorher etwas tun.
Bezogen auf die Gewerbesteuer kennen Sie unser
onzept; es sieht ähnlich aus wie das der Freien Demo-
raten. Wir sind der Auffassung, dass die Gewerbesteuer
icht europatauglich ist. Mit Ausnahme von Luxemburg
ibt es sie nirgends.
13906 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Otto Bernhardt
Sie ist eine Steuer, die sehr aufwendig zu erheben ist. Se-
hen Sie sich einmal den Unsinn alleine beim Aufwand
an: Sie wird erst erhoben und dann voll verrechnet. Das
bringt Kosten in Höhe von 100 Millionen Euro mit sich.
Eines hat sich auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten
gezeigt, meine Damen und Herren: Die Gewerbesteuer
ist sehr konjunkturabhängig. Das ist für die Gemeinden
sicher nicht die richtige Basis.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass wir uns von der
Gewerbesteuer nur trennen können, wenn wir einen ver-
nünftigen Ersatz für die Kommunen haben.
Wir diskutieren hier ähnlich wie die Freien Demokraten,
wie Sie wissen, über ein Modell, das zusammengesetzt
ist aus Heberecht, Zuschlagsrecht, Lohnsteuer, Einkom-
mensteuer und Körperschaftsteuer. Aber ich sage sehr
deutlich: Dies ist nur im Rahmen einer grundlegenden
Steuerreform möglich.
Meine Damen und Herren, es macht keinen Sinn, die
finanziellen Sorgen der Kommunen so herunterzuspie-
len, wie Sie es, Herr Hartmann, versucht haben. Bei uns
sind wahrscheinlich wie bei Ihnen mehr als die Hälfte
der Mitglieder kommunalpolitisch tätig. Ich sage sehr
deutlich: Wenn es mit den Kommunen finanziell so wei-
tergeht, geht auch die Lust der Bürger, sich kommunal-
politisch zu betätigen, deutlich zurück. Es macht keinen
Spaß mehr, Kommunalpolitik zu machen, wenn man im
Grunde nur noch eine Sitzung im Jahr braucht, nämlich
die zur Verabschiedung des Haushaltes, und nichts mehr
gestalten kann.
Deshalb mein Appell: Lassen Sie uns in die Richtung
gehen, die die FDP-Anträge weisen. Wir müssen den
Kommunen helfen, und zwar nicht erst 2008, sondern
möglichst schon morgen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Andreae vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Uns hat hier ja eine gewisse vorweihnachtliche
Stimmung erreicht, getreu dem Motto: „Alle Jahre wie-
der“. Wenn ich mir den Gesetzentwurf von der FDP, den
wir heute beraten, anschaue, stelle ich fest: Er ist iden-
tisch mit dem, den wir vor einem Jahr beraten haben. In
der Begründung ist ein bisschen geändert worden, aber
der Gesetzestext ist absolut gleich geblieben. Darüber
hinaus legen Sie uns halbjährlich irgendwelche Anträge
vor, die die Abschaffung der Gewerbesteuer zum Ziel
haben.
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ass weder wir noch die Kommunen diesen Vorschlägen
olgen, und zwar nicht, weil es Vorschläge vonseiten der
DP sind, sondern weil sie nicht überzeugen und nicht
u dem Ziel führen, das wir – eventuell alle gemein-
am – hier erreichen wollen. Aus unserer Sicht ist das
lso der falsche Weg.
eshalb werden wir Ihre Vorschläge und insbesondere
hren Gesetzentwurf heute wieder ablehnen.
In der Begründung steht ein ganz interessanter Satz.
ie schreiben – im Gegensatz zu dem, was in Ihrem frü-
eren Antrag steht –:
Die Gewerbesteuer … ist als unkalkulierbare Fi-
nanzquelle eine fortwährende Existenzbedrohung
für die Städte und Gemeinden.
rüher haben Sie nur von der Existenzbedrohung für die
nternehmen gesprochen. Inzwischen haben Sie das ge-
teigert; jetzt geht es um eine Existenzbedrohung für die
ommunen und Städte insgesamt. Hier wird Ihre Be-
ründung allerdings problematisch: Wir hatten nämlich,
achdem wir vor einem Jahr eine – wenn auch aus unse-
er Sicht vielleicht nicht ganz umfassende – Gemeinde-
inanzreform durchgeführt
nd an ein paar ganz entscheidenden Punkten Veränderun-
en vorgenommen haben, im ersten Halbjahr 2004 Ge-
erbesteuermehreinnahmen von 1,5 Milliarden Euro.
as ist ein Unterschied zu der Situation von vor einem
ahr. Deswegen verstehe ich nicht, warum der Antrag,
en Sie jetzt hier vorlegen, diese 1,5 Milliarden Euro
ehreinnahmen an Gewerbesteuer im ersten Halbjahr
berhaupt nicht berücksichtigt und honoriert. Unsere da-
alige Prognose, dass wir im Jahr 2004 Mehreinnahmen
on 2,5 Milliarden Euro haben werden, hat sich also be-
tätigt. Mit der Gewerbesteuer und Hartz IV sind wir
ittel- und langfristig auf dem richtigen Weg, die kom-
unalen Einnahmen zu stabilisieren.
Wenn Sie die Konjunkturabhängigkeit der Gewer-
esteuer als nach wie vor riesiges Problem bezeichnen,
ann müssen Sie sich schon fragen lassen, wer denn für
iese Konjunkturabhängigkeit verantwortlich ist.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13907
)
)
Kerstin Andreae
Wir hatten ein Konzept vorgelegt, mit dem die Bemes-
sungsgrundlage für die Gewerbesteuer konjunkturunab-
hängiger geworden wäre. Sie müssen sich vorhalten las-
sen, dass Sie da nicht mitgemacht haben.
Ich habe mir das Modell Ihrer liberalen Gemeinde-
finanzreform vom Juni des letzten Jahres genau ange-
schaut.
Ihre Vorschläge sind allerdings nicht ganz konsistent.
Sie sagen – das sagt die FDP grundsätzlich ja immer –,
Sie wollten auf alle Fälle die Steuern senken. Das ist
quasi Ihr Leitsatz. Aber nach Ihrem Modell würde die
Körperschaftsteuer von 25 Prozent auf 32 Prozent ange-
hoben. Hinzu kommt ein kommunaler Zuschlag. Damit
landen wir, über den Daumen gepeilt, bei Sätzen, die wir
schon heute haben.
Bei der Einkommensteuer ist es genau das Gleiche.
Zugleich prangern Sie aber die Höhe des Körper-
schaftsteuersatzes und der Einkommensteuersätze an.
Außerdem legen Sie ein Modell vor – jetzt wird die
ganze Sache völlig verquer –, das eine extrem teure Um-
stellung der Umsatzsteuer enthält. Von den sich daraus
ergebenen geringeren Einnahmen sollen die Kommunen
einen größeren Anteil bekommen. Sie haben ausgerech-
net, dass am Ende die Umstellung per saldo
800 Millionen Euro kostet und alles andere ein Nullsum-
menspiel wäre. Dieses stimmt aber nicht.
Wir wissen aufgrund der Berechnungen, die uns die
Kommission damals vorgelegt hat – auch Sie haben sie
gesehen und darüber diskutiert –,
dass Zuschlagsmodelle mit sehr großen Problemen ver-
bunden sind. Wir haben ja darüber diskutiert. Ich nenne
als erstes die Stadtflucht und das damit verbundene
Stadt-Land-Problem.
Dieses Problem ergibt sich, wie gesagt, aus dem Zu-
schlagsmodell.
Ein zweites Problem dabei ist – das ergibt sich auch
aus Ihrem Modell –, dass die Besteuerung von den Un-
ternehmen auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sowie auf die Bürgerinnen und Bürger verlagert wird;
auf diese werden die Steuern also umgelegt und diese
müssen mehr Steuern zahlen.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Kolbe von
er CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir be-
rüßen grundsätzlich den Gesetzentwurf der FDP, bringt
r doch das Thema Kommunalfinanzen endlich wieder
uf die Tagesordnung dieses Hauses. Hierin gehört es
uch; denn der Bürger erlebt den Staat vor Ort, also vor
llen Dingen in der Kommune. Wenn es in der Kom-
une nicht mehr richtig klappt, dann zweifelt er auch
m Staat. Deshalb sind wir alle hier gefordert.
Frau Kollegin Andreae, alle Jahre wieder haben Sie
iese Initiativen kritisiert. Zu Weihnachten könnte man
rgänzen: Alle Jahre wieder kommt das Christuskind –
eider nicht zu unseren Kommunen. Sechs Jahre Rot-
rün waren sechs verlorene Jahre für die Kommunen.
ir alle sind gefordert, dass das siebte Jahr kein verlore-
es Jahr wird.
Lassen Sie mich einmal ganz kurz rekapitulieren.
998 haben Sie eine große Gemeindefinanzreform in Ih-
er Koalitionsvereinbarung versprochen. Tatsächlich ha-
en Sie jedoch die Gewerbesteuerumlage erhöht.
amit haben Sie zunächst einmal das Gegenteil von dem
mgesetzt, was Sie versprochen haben. Im November
001 wollten Sie die ganze Sache am liebsten vergessen.
rst unter öffentlichem Druck haben Sie kurz vor der
undestagswahl 2002 eine Kommission eingesetzt. In
ller Eile hat dann noch eine konstituierende Sitzung
tattgefunden. Mehr ist in der damaligen Legislaturperiode
icht passiert.
13908 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Manfred Kolbe
Wir haben die ganze Zeit eine grundlegende Neuord-
nung gefordert, damit Aufgaben, Ausgaben und Einnah-
men wieder in ein Gleichgewicht kommen. Nach der
Wahl haben dann zwei Arbeitsgruppen, nämlich die Ar-
beitsgruppe „Kommunalsteuer“ und die Arbeitsgruppe
„Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe“ getagt. Diese haben im
Wesentlichen zwei Ergebnisse gebracht:
Im Rahmen einer kommunalen Finanzreform gab es
zum einen eine Rücknahme der Erhöhung der Gewerbe-
steuerumlage, was wir begrüßen.
Das gibt den Kommunen im Augenblick ein bisschen
Luft zum Atmen, weil die Gewerbesteuereinnahmen
dieses Jahr aufgrund der von uns geforderten Maßnah-
men wieder steigen.
Zum anderen wird im Zuge von Hartz IV eine Ent-
lastung von insgesamt 2,5 Milliarden Euro versprochen.
Allerdings muss man dabei sehr vorsichtig sein: Diese
Entlastung beruht auf bundesweiten Berechnungen. Wir
alle wissen, dass es große regionale Unterschiede gibt.
Sie können auch bei einer durchschnittlichen Wasser-
tiefe von 1,20 Metern ertrinken. Das droht einigen Kom-
munen demnächst.
Nach sechs Jahren Untätigkeit gehen Sie jetzt ins
siebte Jahr der Untätigkeit. Wir werden versuchen, das
zu verhindern; denn die Finanzlage der Kommunen ist
nach wie vor dramatisch. Die Ausgaben für soziale Si-
cherung sind dramatisch gestiegen: von 26,1 Milliarden
Euro im Jahre 1998 auf 30,4 Milliarden Euro im Jahre
2003. Umgekehrt wurden notwendigerweise die Investi-
tionen zurückgeführt: von 24,7 Milliarden Euro im Jahre
1998 auf 21,4 Milliarden Euro im Jahre 2003. Das ist
eine ganz negative Entwicklung.
Ich darf in diesem Zusammenhang den Bautzener
Oberbürgermeister Christian Schramm, der auch Präsi-
dent des Deutschen Städte- und Gemeindebundes ist,
zitieren:
Ein dramatisches Ergebnis gerade für den Mittel-
stand und das Handwerk, die dringend auf öffentli-
che Aufträge angewiesen sind. Ohne kommunale
Investitionen wird es keinen Aufschwung der Wirt-
schaft und keine neuen Arbeitsplätze geben.
Die kommunalen Defizite steigen; wir haben einen
Schuldenstand von 84 Milliarden Euro erreicht. Außer-
dem wird Hartz IV – lassen Sie mich kurz darauf einge-
hen – im nächsten Jahr neue Probleme für eine ganze
Reihe von Kommunen bringen. Hartz IV ist so konstru-
iert, dass eine Entlastung bei der Sozialhilfe eintritt. Es
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Dafür gibt es eine Revisionsklausel,
ber im Augenblick sind zahlreiche Kreise – etwa alle
rei Kreise in meinem Wahlkreis in Sachsen – nicht in
er Lage, ihre Haushaltslöcher zu schließen, weil ihnen
artz IV nicht die versprochene Entlastung, sondern Be-
stungen in Millionenhöhe bringt.
Die Kommunen, Herr Scheelen, beginnen aber bereits
diesem Jahr mit ihrer Haushaltsaufstellung.
Wenn man die Bundesregierung danach fragt, be-
ommt man – wie gestern in der Fragestunde – die fol-
ende Antwort:
In den einzelnen Ländern wird es zweifelsohne
Kreise und kreisfreie Städte geben, für die sich nach
Saldierung aller Be- und Entlastungen eine zusätzli-
che Belastung ergibt. Genauso wird es andere Kom-
munen geben, die von der Reform deutlich profitie-
ren. Über die Höhe der etwaigen Belastungen im
Einzelnen … liegen der Bundesregierung keine ver-
wertbaren Informationen vor.
ch finde es ausgesprochen schwach, dass der Bundesre-
ierung hierzu keine Informationen vorliegen; denn eine
anze Reihe von Kommunen, nämlich diejenigen mit ei-
er großen Anzahl von bisherigen Arbeitslosenhilfeemp-
ängern, haben in der Tat große Probleme. Ich fordere
ie auf, sich die notwendigen Informationen zu beschaf-
en.
Lassen Sie mich zum Abschluss kommen. Das
ächste Jahr darf kein verflixtes siebtes Jahr für die
ommunen werden. Wir müssen ernsthaft die Lösung
er kommunalen Finanzprobleme angehen. Wir von der
nion haben die Rezepte dafür.
Wir wollen erstens auf der Einnahmeseite die Kom-
unen an der Einkommensteuer und auch an der
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13909
)
)
Manfred Kolbe
Körperschaftsteuer beteiligen und ihnen ein eigenes He-
besatzrecht einräumen.
Wir wollen zweitens die Dynamik bei den Sozialaus-
gaben zurückführen. Es muss wieder der Grundsatz gel-
ten: Wer bestellt, der bezahlt auch.
Drittens müssen wir den Kommunen im verfassungs-
rechtlichen Gefüge unseres Landes ein stärkeres Mit-
spracherecht einräumen. Ich sage da ganz persönlich:
Ich hätte mir von der Föderalismuskommission den ei-
nen oder anderen Impuls mehr gewünscht.
In dem Sinne: Lassen Sie uns gemeinsam für die
Kommunen handeln! Wir können uns kein verflixtes
siebtes Jahr bei den Kommunen leisten.
Danke.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Bernd Scheelen von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Die Opposition kommt mir, ehrlich gesagt, wie der
Brandstifter vor, der als Erster nach der Feuerwehr ruft.
Sie beklagen lautstark und tränenreich den Zustand in
den Kommunen, obwohl Sie doch diejenigen sind, die
letztes Jahr im Vermittlungsausschuss den Entwurf einer
Gemeindefinanzreform, den wir eingebracht hatten, ab-
solut blockiert haben.
Ohne Sie ginge es den Gemeinden heute deutlich besser.
Wir haben Ihnen Vorschläge gemacht, wie man die
Gewerbesteuer festigen kann, wie man sie auf eine
deutlich breitere Basis stellen kann, wie man sie kon-
junkturunabhängiger machen kann und vor allen Dingen
wie man die großen Konzerne und Unternehmen, die es
in den letzten Jahren geschafft haben, sich an der Gewer-
besteuer vorbeizumogeln, dazu bringt, wieder ihren Bei-
trag zur Finanzierung der kommunalen Infrastruktur zu
leisten. Das haben Sie verhindert. Sie haben das blo-
ckiert. Deswegen geht die Lage in den Kommunen heute
voll auf Ihre Rechnung.
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Wir als Regierungskoalition hätten eigentlich eine
eutlich bessere Opposition verdient. Das wird an die-
em Tagesordnungspunkt deutlich.
rau Kollegin Piltz, Sie haben zwar fünf Minuten gere-
et, aber zu dem Antrag, den Sie eingebracht haben, kein
ort gesagt.
s gibt zwei Möglichkeiten, warum Sie das nicht getan
aben. Das eine will ich Ihnen nicht unterstellen: Sie
issen gar nicht, was Sie beantragt haben.
Das will ich Ihnen nicht unterstellen. – Vielmehr will
ch sagen: Sie wissen, was Sie beantragt haben, aber ha-
en nichts dazu gesagt, weil der Antrag so schlecht ist.
eswegen werde ich diesen Antrag jetzt ein wenig zer-
flücken müssen.
s tut mir Leid, dass ich das in dieser Deutlichkeit sagen
uss. Aber wir müssen über das reden, was Sie hier be-
ntragt haben.
Ich weiß gar nicht, ob Sie genau wissen, was Ihr For-
ulierungsvorschlag für das Grundgesetz eigentlich
edeutet, und ob Sie festgestellt haben, dass Ihr Formu-
ierungsvorschlag gar nicht mit Ihrem Antrag zusam-
enpasst.
Was wollen Sie mit dem Antrag? Sie sagen: Weg mit
er Gewerbesteuer! Dem Kollegen Bernhardt will ich an
ieser Stelle ein bisschen Nachhilfe zu der Frage geben:
o gibt es so etwas wie die Gewerbesteuer? Nicht nur in
uxemburg, sondern auch in Frankreich, Spanien und
talien – um nur ein paar europäische Mitbewerber zu
ennen –, in den USA, Kanada und Japan gibt es so et-
as.
ie sagen, die Gewerbesteuer belaste den Export. Ich
age Ihnen: Wir sind Exportweltmeister. Ganz so
chlimm kann es mit der Gewerbesteuer wohl nicht sein.
Sie sagen: Weg mit der Gewerbesteuer! Was bedeutet
as? Das bedeutet: 22 Milliarden Euro Einnahmen fallen
ei den Gemeinden weg.
13910 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Bernd Scheelen
– Ich komme dazu, keine Sorge. Als Ersatz wollen Sie
den Gemeinden einen größeren Anteil an der Umsatz-
steuer zugestehen.
– Moment, Schritt für Schritt. Ich habe das alles gelesen,
Herr Fricke. Ich hoffe, die drei Minuten, die ich noch
habe, reichen, Ihnen zu erläutern, was für einen Unsinn
Sie da beantragt haben.
Sie sagen also, die 22 Milliarden Euro Gewerbesteuer
brauche man nicht. Dafür sollen die Gemeinden mehr
Umsatzsteuereinnahmen bekommen. Wie viel? In Ihrem
Antrag steht: Sie sollen 11,5 Prozent bekommen. Das
sind 15 Milliarden Euro. Das kommt schon nicht ganz
mit den 22 Milliarden Euro hin.
Die Gemeinden bekommen über den 2,2-Prozent-Anteil
jetzt schon 3 Milliarden Euro, die ich in Abzug bringen
muss. Dann sind es also 12 Milliarden Euro. Es bleibt
ein Minus von 10 Milliarden Euro; das ist Fakt. Wie
wollen Sie das füllen? Jedenfalls offensichtlich nicht
über die Umsatzsteuer.
Kommen wir zu Ihrem zweiten Element. Die FDP
will, dass der 15-Prozent-Anteil der Gemeinden an der
Einkommensteuer und an der Lohnsteuer in einen von
den Kommunen zu bemessenden Zuschlag auf die Ein-
kommen- und Körperschaftsteuer umgewandelt wird.
Da sprechen wir über eine Summe von 20 Milliarden
Euro. Das ist der Anteil der Gemeinden an der Einkom-
mensteuer und der Lohnsteuer, den Sie umverteilen wol-
len. Sie wollen aber niemanden mehr belasten als vorher.
Das 10-Milliarden-Euro-Loch, das durch die Abschaf-
fung der Gewerbesteuer entsteht, verbleibt also erst ein-
mal – es sei denn, Sie verlangen von den Gemeinden,
dass sie ihre Zuschläge auf die Einkommensteuer so ge-
stalten, dass sie dieses 10-Milliarden-Euro-Loch füllen.
Das bedeutet, dass die Zahllast der Wirtschaft auf die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verlagert wird.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: So etwas machen wir nicht
mit.
– Doch, ich habe dieses wahnsinnige Konzept genau ge-
lesen.
Das Konzept, von dem Sie sprechen, umfasst genau
zwei Seiten. Wenn ich die ganzen Unterschriften ab-
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s hat die Elemente, die ich Ihnen vorhin genannt habe.
Nun machen Sie den Vorschlag – damit sind auch die
nnenpolitiker beschäftigt gewesen – zur Änderung von
rt. 28 des Grundgesetzes. Darin steht im Moment,
ass die Gemeinden zur Erfüllung ihrer Aufgaben einen
nspruch auf eine wirtschaftskraftbezogene Steuer-
uelle mit Hebesatzrecht haben. Sie wollen die
ebesatzregelung durch eine Zuschlagsregelung ergän-
en.
Ich sage Ihnen: Das Kriterium der Wirtschaftskraftbe-
ogenheit, das Sie im Grundgesetz belassen wollen, wird
hrem Vorschlag zufolge nur bei der Umsatzsteuer er-
üllt; denn Sie wollen die Umsatzsteuereinnahmen nach
er Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeits-
lätze verteilen. Notfalls kann man noch sagen, dass
iese Regelung in irgendeiner Form wirtschaftskraftbe-
ogen ist. Aber bei der Umsatzsteuer gestehen Sie den
emeinden kein Zuschlagsrecht zu. Das können Sie
uch gar nicht; denn hier kann es kein Zuschlagsrecht
eben. Dieses erste Element passt also nicht.
Nun zum zweiten Element. Die Gemeinden sollen ei-
en Zuschlag auf die Einkommen- und Lohnsteuer be-
ommen. In diesem Fall besteht zwar die Möglichkeit
es Zuschlags, aber das Kriterium der Wirtschaftskraft-
ezogenheit ist nicht erfüllt. Deswegen ist Ihr Formulie-
ungsvorschlag nicht deckungsgleich mit dem, was Sie
ier vortragen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn ich sol-
he Gesetzentwürfe lese, wundert mich das Ergebnis der
ISA-Studie nicht. Sie haben das Thema völlig verfehlt.
etzen, sechs.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
en Drucksachen 15/3232 und 15/2602 an die in der
agesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
ind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Heidi Wright,
Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig,
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13911
)
)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mehr Sicherheit für Radfahrer – insbeson-
dere Schutz vor Unfällen mit LKW im
Stadtverkehr
– zu dem Antrag der Abgeordneten Gero
der CDU/CSU
Keine toten Winkel bei Lastkraftwagen
– Drucksachen 15/3330, 15/2823, 15/4157 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
Gero Storjohann
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu
Protokoll gegeben werden. – Ich gehe davon aus, dass
Sie damit einverstanden sind. Es handelt sich um die Re-
den der Kollegen Heidi Wright von der SPD-Fraktion,
Gero Storjohann und Eduard Lintner von der CDU/
CSU-Fraktion, Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/
Die Grünen, Horst Friedrich , FDP-Fraktion,
sowie der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris
Gleicke1).
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/4157. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An-
trags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 15/3330 mit dem Titel „Mehr
Sicherheit für Radfahrer – insbesondere Schutz vor Un-
fällen mit LKW im Stadtverkehr“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2823 mit
dem Titel „Keine toten Winkel bei Lastkraftwagen“ für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls
einstimmig angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/4157 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen,
Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Rich-
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1) Anlage 2
2)
3)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
urfs auf Drucksache 15/4136 an die in der Tagesord-
ung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
nderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
st die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Dagmar
Schmidt , Karin Kortmann, Detlef
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wüstenbildung wirksam bekämpfen – Armut
überwinden, Ernährung sichern, Konflikte
verhindern
– Drucksachen 15/2395, 15/3795 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Schmidt
Christa Reichard
Thilo Hoppe
Ulrich Heinrich
Auch zu diesem Tagesordnungspunkt sollen alle Re-
en zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich
en), CDU/CSU-Fraktion, Hans-Christian Ströbele,
ündnis 90/Die Grünen, und Angelika Brunkhorst,
DP-Fraktion.3)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
chusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
icklung auf Drucksache 15/3795 zu dem Antrag der
raktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
it dem Titel „Wüstenbildung wirksam bekämpfen –
rmut überwinden, Ernährung sichern, Konflikte ver-
indern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
rucksache 15/2395 anzunehmen. Wer stimmt für diese
eschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
nthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist damit ange-
ommen.
Anlage 3
Anlage 4
13912 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
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)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 7
auf:
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Siegfried Kauder , Dr. Norbert
Röttgen, Dr. Wolfgang Götzer, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU
Rechtssicherheit für dienst- und hochschul-
rechtlich erlaubte Drittmitteleinwerbung
schaffen
– Drucksache 15/4144 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Hellmut Königshaus, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rechtssicherheit für die Einwerbung von
Drittmitteln an Hochschulen und Universitäts-
kliniken für Forschung und Lehre
– Drucksache 15/4513 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Siegfried Kauder von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehen Sie
es mir bitte nach: Ich wollte nicht Professor an einer
Hochschule sein. Dabei muss ich konkretisieren: Ich
wollte nicht Professor an einer deutschen Hochschule
sein; denn das Risiko, in ein Strafverfahren verwickelt
zu werden und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt zu wer-
den, wäre mir in der Tat zu hoch.
Warum? Dass die Mittel bei öffentlichen Institutionen
und somit auch an Universitäten knapp sind, wissen wir
alle.
Deswegen kam es zu einer Koalition zwischen Wirt-
schaft und Wissenschaft. Die Wissenschaft ist auf Zu-
wendungen von privaten Unternehmen angewiesen.
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ie nichts anderes getan haben, als in Pflichterfüllung
rittmittel einzufordern. So war denn das Thema eines
niversitären Symposiums im Jahre 2002 treffend ausge-
rückt, als provokant gefragt wurde: „Drittmitteleinwer-
ung – strafbare Dienstpflicht?“
Wie kann so etwas geschehen? In den Hochschulge-
etzen der Länder werden die Professoren aufgefordert,
m den Staatshaushalt zu unterstützen, Drittmittel einzu-
erben. Das haben sie auch getan. Sie bekamen aller-
ings nicht nur das Lob ihrer Universität, sondern auch
esuch vom Staatsanwalt. Es wurde vor dem Hinter-
rund von Untreue, Bestechlichkeit und Vorteilsan-
ahme ermittelt. Es kam flächendeckend zu zahlreichen
erurteilungen.
Die Professoren verstanden nicht mehr, was um sie
erum vonstatten ging, und sie fühlten sich beim Staat
icht mehr gut aufgehoben. Das hatte eine weitere, ein-
chneidende Konsequenz: dass nämlich Pharmaunter-
ehmen und Medizingerätehersteller inzwischen dazu
bergegangen sind, nicht mehr deutsche Hochschulen zu
ördern, sondern das Geld in private Institutionen zu ste-
ken oder zur Förderung von Forschungsaufgaben ins
usland zu transferieren.
Der Professor fordert Drittmittel ein, weil er hoch-
chulrechtlich dazu verpflichtet ist, der Staatsanwalt hält
hm strafrechtliche Vorschriften vor. Wo liegt der Knack-
unkt? Es gibt einen deutlichen Widerspruch zwischen
andesgesetzgebung und Bundesgesetzgebung. Wie
oll dieses Dilemma gelöst werden? Sicherlich nicht da-
urch, dass sich Professoren von der Drittmitteleinwer-
ung zurückziehen, sondern dadurch, dass der Gesetzge-
er aktiv wird.
Aktiv werden kann der Gesetzgeber – das sage nicht
ur ich, sondern das sagen zahlreiche Professoren an
ochschulen – nur im strafrechtlichen Bereich. Ein
rittmitteleinforderungsgesetz scheitert daran, dass der
und nur die Rahmengesetzgebung hat.
Wir müssen das Stigma einer strafrechtlichen Sank-
ionierung gesetzmäßigen Vorgehens von den Professo-
en nehmen. Die Lösung kann relativ einfach gefunden
erden; man muss im Strafgesetzbuch nicht viel ändern.
ührt man sich die augenblickliche Situation vor Augen,
tellt man fest, dass dieses Problem bisher nicht der Ge-
etzgeber, sondern der Bundesgerichtshof in zwei Ent-
cheidungen geregelt hat, zum einen im 47. Band auf
eite 295 und zum anderen im 48. Band auf Seite 44.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13913
)
)
Siegfried Kauder
– Herr Kollege Montag, er hat es so gut gelöst, dass man
nicht nur Jurist, sondern versierter Strafrechtler sein
muss, wie wir beide es beispielsweise sind, um diese
Entscheidungen auch nur im Ansatz verstehen zu kön-
nen. Ein forschender Professor ist nicht Strafrechtler;
dies soll er auch nicht sein. Er hat gegenüber seinem
Dienstherrn den Anspruch, dass er, sofern er sich ord-
nungsgemäß verhält, nicht nur vor Verurteilungen, son-
dern allein schon vor dem Stigma eines strafrechtlichen
Verfahrens bewahrt wird. Deswegen ist der Gesetzgeber
zum Handeln aufgerufen.
Man fordert den Professor auf, Drittmittel einzuwer-
ben. Wer strafrechtlich versiert ist, kann sich einmal
§ 331 Abs. 3 des Strafgesetzbuches anschauen. Nicht
einmal durch die Genehmigung des Dienstherrn ist ein
Rechtfertigungsgrund gegeben, wenn der Professor das
Drittmittel einfordert, weil diese Möglichkeit für ihn
verschlossen ist. Also steht er weiterhin in dem Di-
lemma, ob er sich an Landesrecht oder an Bundesrecht
halten soll.
Nun wäre es zu kurz gegriffen, zu sagen, dies habe
der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung im
47. Band bereits geregelt. Man muss diese Entscheidung
einmal lesen. Sie ist zu altem Recht ergangen, nämlich
zu dem Recht vor dem Korruptionsbekämpfungsgesetz
aus dem Jahre 1997, das die Strafbarkeit noch dadurch
deutlich ausgeweitet hat, dass es eine Unrechtsvereinba-
rung einengenden Charakter nicht mehr gibt. Auch aus
diesem Grund ist der Gesetzgeber und nicht der Bundes-
gerichtshof aufgerufen, eine Entscheidung zu treffen.
Im Übrigen – Juristen wissen dies – entscheidet der
Bundesgerichtshof nicht über ein Gesetz, sondern über
den jeweiligen Einzelfall. Ein Professor muss sich nicht
darauf einrichten, dass der Bundesgerichtshof den
nächsten Fall vielleicht anders entscheidet. Die Rechts-
lage ist verworren genug. Grenze doch jemand für einen
Mediziner nachvollziehbar den Straftatbestand der Un-
treue von dem der Vorteilsannahme und dem der Be-
stechlichkeit ab!
Nein, der Gesetzgeber ist aufgerufen, für das Problem
der Drittmitteleinwerbung als einer strafbaren Dienst-
pflicht eine klare Lösung zu finden. Der Ansatzpunkt er-
gibt sich aus einer Änderung von §§ 331 Abs. 3
und 333 Abs. 3 StGB: Man muss nur sagen, dass das,
was dienst- und hochschulrechtlich erlaubt ist, nach
Abs. 1 der §§ 331 und 333 StBG nicht strafbar ist. Damit
hätten wir das Problem gelöst. Diese Lösung habe nicht
ich allein gefunden, sondern – die Kollegin Flach war
bei dem Symposium dabei – sie war das Ergebnis einer
wissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas. Helfen
Sie bitte mit und lassen Sie die Professoren nicht im Re-
gen stehen!
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
err Kollege Kauder, wissenschaftliche Forschung ist
ür den Standort Deutschland von wesentlicher Bedeu-
ung; hierin sind wir uns sicherlich alle einig. Um diese
orschung effektiv durchführen zu können, ist die Ein-
erbung von Drittmitteln ausdrücklich erwünscht. Sie
aben bereits darauf hingewiesen, dass sich dies aus dem
ochschulrecht ergibt. In § 25 des Hochschulrahmenge-
etzes ist es ausdrücklich normiert. Für uns alle ist si-
herlich auch klar, dass das Erwünschte selbstverständ-
ich nicht verboten sein oder bestraft werden darf.
eshalb halte auch ich Rechtssicherheit für die erlaubte
rittmitteleinwerbung für unumgänglich.
Es stellt sich nur die Frage, ob die von Ihnen so vehe-
ent geschilderte Rechtsunsicherheit für die Professoren
irklich besteht. Unser Strafgesetzbuch verbietet Dritt-
itteleinwerbung an keiner Stelle. Problematisch kann
s allerdings dann werden, wenn die Einwerbung von
rittmitteln für Forschung und Lehre in den Zusammen-
ang mit Umsatzgeschäften gebracht wird.
eschaffungsentscheidungen im Bereich von Pharma-
nd Medizinprodukten dürfen natürlich nicht von der
ewährung außervertraglicher Leistungen abhängig ge-
acht werden. Auch in diesem Punkt sollten wir uns alle
inig sein. Wenn Sie sich die Fälle einmal genau anse-
en, um die es ging, werden Sie feststellen, dass die
eisten von ihnen im Bereich der Drittmitteleinwerbung
urch Professoren an medizinischen Fakultäten spielten.
Genauso sollten wir uns auch einig sein, dass wir für
en Fall, dass sich ein Amtsträger – um einen solchen
eht es bei einem Professor – persönlich bereichern
öchte, im Strafrecht die richtigen Regelungen haben.
ir können auch nicht hinnehmen, dass Hochschulmit-
rbeiter Einfluss auf Beschaffungsentscheidungen neh-
en, um unter Umgehung der einschlägigen Vorschrif-
en Mittel für eigene Forschungsvorhaben zu erhalten.
Schließlich zum beliebtesten Geschäft – das erkennt
an, wenn man sich damit beschäftigt hat –, zu Kick-
ack-Geschäften: Rückvergütungs- und andere Umge-
ungsvereinbarungen führen im Ergebnis eben nicht zu
inem sachgerechten Einsatz von Haushaltsmitteln; viel-
ehr erhöhen sie die Kosten insbesondere im Bereich
es Gesundheitswesens, darunter die der Krankenhäuser,
anz erheblich. Hierüber sind wir uns wohl alle einig,
err Kollege Kauder.
Wir sind uns auch einig, dass wir auf der anderen
eite den redlich handelnden Professor, von dem Sie
13914 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Joachim Stünker
gesprochen haben, über das zulässige Verfahren bei der
Drittmitteleinwerbung nicht im Unklaren lassen dürfen.
Deshalb ist für die erforderliche Rechtssicherheit im Be-
reich der Drittmitteleinwerbung das Hochschulrecht
maßgebend. Die Länder müssen also in ihren hochschul-
rechtlichen Normen klare Regelungen treffen.
Wir alle wissen – Sie haben darauf hingewiesen –,
dass es gerade in diesen Tagen Diskussionen hierüber im
Zusammenhang mit der Föderalismusreform gibt. Der
Bund hat auf diesem Gebiet keine Regelungskompeten-
zen. Handeln müssen zunächst einmal die Länder. Sie
müssen Drittmittelregelungen in ihren hochschulrecht-
lichen Gesetzen schaffen. Wenn sie sie geschaffen ha-
ben, ist das Verfahren für die Professoren klar. Genau in
diesem Augenblick haben wir dann auch im Strafrecht
keine Probleme mehr.
Korrespondierend zu Ihrem Vorschlag hat die FDP
noch einen Antrag nachgereicht; ich habe gerade gehört,
dass Sie auf der gleichen Veranstaltung waren.
– Das glaube ich nicht. Das Problem war neu für mich,
Herr Kollege.
Wenn Sie jetzt vorschlagen, das Strafrecht hinsicht-
lich des Straftatbestandes der Vorteilsannahme ge-
mäß §§ 331 und 333 StGB in der gewünschten Weise zu
ändern, dann wird das Ganze allerdings äußerst proble-
matisch. Das ist ein Vorschlag, der sehr wohl überlegt
sein sollte und den man nicht als Schnellschuss durch
den Deutschen Bundestag bringen sollte;
denn das Hohe Haus hat im Jahre 1997 das Korruptions-
strafrecht zu Recht verschärft, um strafbedürftige Fälle,
die zuvor noch durch das Netz gingen, erfassen zu kön-
nen.
Der damalige Vorteilsbegriff ist erweitert worden.
Herr Kollege Stünker, erlauben Sie eine Zwischen-
frage?
Bei Herrn Kollegen Kauder, der uns dazu gebracht
hat, dass wir heute Abend noch reden müssen, mache ich
auch das noch, aber nur, wenn es nicht zu lange dauert.
Bitte schön, Herr Kauder.
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Es gibt hier eine weitere Problematik. Sie beschrän-
en sich bei Ihrem Vorschlag explizit auf das Problem
er Drittmitteleinwerbung durch Hochschullehrer.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13915
)
)
Joachim Stünker
Die Abgrenzungsschwierigkeiten, von denen Sie ge-
sprochen haben und die es im Einzelfall durchaus geben
mag, gibt es eben nicht nur bei den Hochschullehrern,
sondern auch in anderen Bereichen.
Ich komme nun auf das von mir genannte Urteil zu
sprechen. Lesen Sie sich das Kremendahl-Urteil des
Bundesgerichtshofs, das vor ein paar Wochen veröffent-
licht wurde durch. Darin heißt es, dass bei Kremendahl
die Rechtsprechung hinsichtlich der Drittmitteleinwer-
bung im Hochschulbereich gerade nicht gilt, um zum
Tatbestandausschluss zu kommen. Die Vorinstanz hatte
ja diese Rechtsprechung entsprechend angewendet. Da
hat der BGH gesagt, das gilt nicht, und hat dann die Vo-
raussetzungen für die Frage der Vorteilsnahme aufge-
stellt. Anhand dieses Urteils sieht man, dass die ganze
Phalanx der Kommunalpolitikerinnen und Kommunal-
politiker in unserem Land in Zukunft gerade beim § 331
StGB riesige Abgrenzungsprobleme bekommen wird.
Die Verbände sind bereits entsprechend tätig geworden
und haben darauf aufmerksam gemacht.
Das heißt, wir können kein Sonderrecht für einzelne
Berufsgruppen schaffen, sondern wir müssen, wie wir es
gelernt haben, einen Tatbestand schaffen, der auf alles
passt. Deshalb schlage ich Ihnen vor, dass wir dieses
Thema im kommenden Jahr in einem anderen Zusam-
menhang diskutieren. Herr Kollege Kauder, Anfang
nächsten Jahres wird sich der Deutsche Bundestag ohne-
hin mit dem Korruptionsstrafrecht befassen; denn wir
werden dann den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur
Bekämpfung der Korruption vorlegen, der insbesondere
der Umsetzung des Strafrechtsübereinkommens gegen
Korruption des Europarates dient. Sie wissen um die
Problematik. Dabei geht es um § 108 e StGB und die
Frage, wie es mit der Käuflichkeit von Stimmen bei Ab-
geordneten aussieht.
Da der Bundesgerichtshof auch § 108 e StGB und
§ 331 StGB auf die Kolleginnen und Kollegen in der
Kommunalpolitik anwendet, gibt es hier eine Verbin-
dung. Das heißt, wir müssen uns mit dem Korruptions-
strafrecht insgesamt neu befassen. Ich denke, in diesem
Zusammenhang sollten wir den Antrag, den Sie hier vor-
gelegt haben, mitberaten. Ganz sicherlich werden wir
gegenwärtig aber keine Einzelfallregelung treffen. Schö-
nen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Stünker, wie Sie sicherlich wissen, bin ich keine Juristin,
sondern Forschungspolitikerin, und aus diesem Grunde
spreche ich mehr für die Seite der Betroffenen. Nicht nur
das Symposium, das Herr Kauder und ich besucht haben,
sondern auch die Betroffenen treiben uns dazu, uns dafür
einzusetzen, hier zu einer Änderung zu kommen.
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rotzdem war es natürlich ein Fehler.
Ja, gut, das brauche ich jetzt nicht weiter zu vertiefen. –
ir wissen aus der Hochschullandschaft, dass allein auf-
rund der veränderten Finanzierungsbedingungen in den
eweiligen Ländern inzwischen eine ganz andere Situa-
ion vorliegt, Herr Tauss wird mir zustimmen: Von uns,
lso von der Politik, wird den Hochschulen heute Tag für
ag vorgeschrieben, Drittmittel einzuwerben.
Natürlich ist das das Problem.
s gibt Hunderte von Fällen, in denen Anklage erhoben
urde.
Wir haben eine ganze Reihe von Problemen und
leichzeitig haben wir Hochschulen, die dazu verpflich-
et werden, Drittmittel in Millionenhöhe einzuwerben.
Wir sind hier in Berlin, halten wir uns einfach einmal
ie Zahlen vor. Allein die drei Berliner Universitäten
arben im Jahr 2003 über 160 Millionen Euro ein. Sie
önnen sich vorstellen, mit welchen Problemen wir als
orschungspolitiker in diesem Zusammenhang zu kämp-
en haben.
Deswegen bin ich der CDU/CSU sehr dankbar, dass
ie nach einer Anhörung, die wir im Forschungsaus-
chuss – mit äußerst renommierten Kollegen auf Ihrer
eite – durchgeführt haben, zu der Erkenntnis gekom-
en ist, diesen Vorschlag noch einmal gemeinsam ein-
ubringen. Die FDP hat dies in der letzten Legislaturpe-
iode versucht. Inzwischen ist die CDU/CSU an unserer
eite; das finde ich gut.
Wir wollen eine Änderung der §§ 331 und 333 des
trafgesetzbuches, nach denen die Annahme und Ge-
ährung eines Vorteils dann nicht vorliegt, wenn dieser
orteil dienst- bzw. hochschulrechtlich erlaubt ist.
leichzeitig wissen wir, dass sich selbstverständlich
uch die Bundesländer bewegen müssen.
13916 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Frau Kollegin Flach, darf Ihnen der Kollege Stünker
eine Zwischenfrage stellen?
Nein, wir wollen alle gemeinsam heim. Wir sind nur
Herrn Kauder zuliebe noch hier. Deswegen lasse ich
keine Zwischenfrage zu.
– Wie ich sehe, ist Herr Montag ganz meiner Meinung.
Ohne die Aussicht auf Zwischenfragen hat sich für
mich dann aber das Kommen kaum gelohnt.
Wir können vielleicht nachher noch Frau Homburger
reden lassen.
Wir müssen mit den Bundesländern zu einer Rege-
lung kommen. Diese Regelung muss möglichst einheit-
lich sein und klarstellen, dass Drittmitteleinwerbung für
Forschung und Lehre – das ist der zweite Punkt in unse-
rem Antrag – eine dienstliche Aufgabe darstellt. Wir
brauchen zudem Transparenz. Deshalb ist die Annahme
von Drittmitteln der Hochschule oder Klinikleitung
schriftlich anzuzeigen und genehmigen zu lassen. Das
sind die Kernpunkte unseres Antrages.
Ich sehe, meine Redezeit geht zu Ende. – Drittmittel
liegen nicht auf der Straße. Die Forschungsszene wartet
dringend auf eine Lösung. Ich wäre Ihnen sehr dankbar,
wenn Sie unseren Anregungen folgen würden und damit
zu einer Lösung kommen, mit der auch die Hochschulen
gut leben können.
Das Wort hat nun der Kollege Jerzy Montag, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hoch-
schulen, Forschungszentren, Universitätskrankenhäuser
und Kliniken – sie alle sind schon seit Jahren auf die
Einwerbung von Drittmitteln angewiesen. Das wurde
jetzt schon mehrfach gesagt; ich kann mich dem nur an-
schließen. Diese Entwicklung wird durch die Politik der
Länder und des Bundes gefördert. Forschung auf höchs-
tem Niveau ist ohne Drittmittel kaum noch zu machen.
Die Haushaltslage der öffentlichen Hände weist in die
gleiche Richtung. Deswegen ist die Bedeutung der Dritt-
mitteleinwerbung bei uns völlig unstrittig.
Dabei geht es um viel Geld, Einfluss und vielfältige
Vorteile bis hin zu besseren Arbeitsbedingungen und
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er durch Einleitung leichtfertiger Ermittlungsverfahren
ormuliert worden wäre.
s gibt keine belastbaren Zahlen als Beleg für Ihre Un-
enrufe, Unternehmer würden nicht mehr Drittmittel an
eutsche Universitäten geben. Auch das, was die FDP in
hrem Antrag kolportiert, wonach privates Geld wieder
inmal ins Ausland abwandern würde,
st eine Gespensterdiskussion.
Fakt ist hingegen: Wir haben eine völlig klare Recht-
prechung des Bundesgerichtshofs zur Abgrenzung von
rlaubter und gewünschter Drittmitteleinwerbung.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13917
)
)
Jerzy Montag
– Herr Kollege Kauder, lassen Sie uns das im Rechtsaus-
schuss besprechen. Ich lasse, mit Verlaub, eine Zwi-
schenfrage jetzt nicht zu.
Deswegen sage ich Ihnen: Wer nicht hintenherum die
Hand aufhält, der gerät in aller Regel auch nicht mit der
Staatsanwaltschaft in Konflikt. Es ist bezeichnend, dass
gerade die CDU-Kollegen Kauder und Schmidt, die Sie
beide auf einem Symposium waren, in diesem Zusam-
menhang von einem Generalverdacht gegen deutsche
Professoren reden und nach einer Entkriminalisierung
im Korruptionsbereich rufen. Der Kollege Schmidt hat
sich dazu wissenschaftlich geäußert und vor kurzem
noch eine andere Position vertreten. Ich verstehe nicht,
warum Sie jetzt plötzlich so vehement gegen Ihr eigenes
Gesetz aus dem Jahre 1997 vorgehen.
Wir werden die Anträge der Opposition in die Aus-
schussberatung überführen und dann im Zusammenhang
mit der Novellierung des § 108 e noch einmal miteinan-
der darüber sprechen. Aber nach dem, was Sie uns heute
geboten haben, sehe ich jedenfalls keine Notwendigkeit,
das Strafrecht in dem von Ihnen gewünschten Sinne zu
verändern.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Helge Braun für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Den Vorwurf, dass derjenige, der sich für mehr
Rechtssicherheit bei der Einwerbung von Drittmitteln
einsetzt, einer Liberalisierung der Korruptionsbestim-
mungen das Wort redet, muss ich entschieden zurück-
weisen.
Wir haben in den Reden der Vertreter der Regierungs-
fraktionen gehört, wie man verfährt: Erst wird das Pro-
blem generell angezweifelt; dann kommen vorsichtige
Äußerungen, mit denen man zugesteht, dass es Abgren-
zungsprobleme im Einzelfall geben mag, wenn auch
keine belastbaren Zahlen vorlägen. Ich will Ihnen sagen:
Es gibt belastbare Zahlen.
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as liegt unter anderem an einer erheblichen Verunsi-
herung von Forschern und von forschenden Unterneh-
en bei der Vergabe und Einwerbung von Drittmitteln.
70 Ermittlungsverfahren im Jahr sind aus Ihrer Sicht
ielleicht nicht viel. Ein Professor an einer Universität,
er sich einem Ermittlungsverfahren ausgesetzt sieht,
as sich aufgrund einer nicht eindeutigen Rechtslage
ber längere Zeit hinzieht, kann sich in seinem berufli-
hen Fortkommen in erheblicher Weise beeinträchtigt
ehen. Damit sind eine erhebliche Rufschädigung und
rhebliche Nachteile verbunden.
eshalb ist allein schon die Reduzierung der Zahl der
rmittlungsverfahren ein großer Wert.
Sind Sie jetzt fertig? – Wir unterhalten uns hier über
inen Bereich, in dem es in Deutschland um Gelder in
er Größenordnung von 5,4 Milliarden Euro jährlich
eht. Die Drittmitteleinwerbung ist eine zentrale Auf-
abe der Leute an den Hochschulen. Es geht nicht nur
m die Korruptionsbekämpfung: Transparenz kann
ergestellt werden. Wir haben relativ klare Verfahrens-
ege. Es ist vorgeschlagen worden, dass die Universitä-
en durch ein zusätzliches Genehmigungsverfahren
echtssicherheit herstellen und deutlich machen, wofür
ie Gelder ausgegeben werden.
as alles stellt kein Problem bei der Drittmittelvergabe
ar. Aber das strafrechtliche Problem wird nach derzeiti-
er Situation durch eine Genehmigung auf der Ebene der
ochschule in keiner Weise verhindert. Genau an dieser
telle setzt der Ansatz an, den die CDU/CSU und die
DP verfolgen.
13918 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004
)
)
Helge Braun
Aus unserer Sicht bestehen die Aufgaben eines mo-
dernen Drittmittelrechts darin, den Anteil der For-
schungsausgaben der Wirtschaft zu steigern, die Ab-
grenzungsschwierigkeiten zu überwinden und die
Klarheit für die Wissenschaftler wiederherzustellen. Die
rechtspolitische Diskussion, die Sie hier führen, kann ein
Professor nicht nachvollziehen.
Wenn Sie schon zugeben, dass das Problem für Sie
neu ist, dann sollten Sie sich bei den Universitätsprofes-
soren erkundigen. Sie werden immer wieder dieses Pro-
blem genannt bekommen. Es ist kein Wunder, dass
hierzu Veranstaltungen stattfinden und dass immer wie-
der darüber diskutiert wird. Lesen Sie das in der Rechts-
literatur nach! Die landesrechtlichen Vorschriften allein
des Landes Hessen sind in den letzten drei Jahren 17-mal
in Zeitschriften im öffentlichen Recht behandelt worden.
An dieser Stelle von einer Rechtssicherheit für Pro-
fessoren, Mediziner und Naturwissenschaftler zu spre-
chen, die nicht die gleiche Rechtsbewandtnis haben wie
Sie und sich wochenlang mit einem solchen Thema aus-
einander setzen können, ist überaus problematisch. Die
Zahlen sprechen für sich.
Die Bedeutung der Drittmitteleinwerbung in der Wis-
senschaft ist nicht hoch genug einzuschätzen.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft erstellt inzwi-
schen ein Ranking, in dem die Drittmitteleinwerbung der
Professoren ausdrücklich aufgeführt wird, und zwar als
positives Signal.
Das ist unterstützenswürdig. Aber angesichts der Tatsa-
che, dass die Professoren, die die höchste Drittmittelein-
werbungsquote aufweisen, diejenigen sind, die im an-
wendungsnahen Bereich arbeiten, ist insbesondere klar,
dass Drittmitteleinwerbung nicht auf die öffentliche
Hand, sondern auf die private Wirtschaft zurückgeht.
Herr Kollege – –
Ich bin sowieso gleich fertig. Dann kann er seine
Frage stellen.
An dieser Stelle setzt das Problem ein: Die Wirtschaft
muss Rechtssicherheit haben, damit investiert wird, und
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Da auch die Bundesregierung von ihrem Rederecht
berraschenderweise keinen Gebrauch machen will, sind
ir damit am Ende der Aussprache, die ich hiermit
chließe.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
rucksachen 15/4144 und 15/4513 an die in der Tages-
rdnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Schon die Andeutung ist nahezu strafbar, Herr Kollege
auss. –
ie Vorlage auf Drucksache 15/4144 soll zusätzlich an
en Finanzausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit
inverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
eisungen so beschlossen.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 sowie den
usatzpunkt 8 auf:
15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Günter Bruckmann, Ludwig Stiegler, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Winfried
Hermann, Albert Schmidt , Volker
Beck , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Luftverkehrsstandort Deutschland – Koordi-
nation und Kooperation verbessern – Nach-
haltigen Luftverkehr für die Zukunft sichern
– Drucksache 15/4518 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2004 13919
(C)
)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich , Dr. Karl Addicks, Daniel
Bahr , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Flughafenkonzept für Deutschland
– Drucksache 15/4517 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Werner Wittlich
Dr. Antje Vogel-Sperl
Birgit Homburger
Auch hierzu sollte eine halbe Stunde Debatte stattfin-
den. Dies ist aber entbehrlich, weil die Kollegin Petra
Bierwirth, Dr. Antje Vogel-Sperl und Birgit Homburger
sowie der Kollege Werner Wittlich ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben haben.2)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/4518 – sie betrifft den Tagesordnungs-
punkt 15 – zu überweisen: zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-
sen und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, den
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit sowie den Aus-
schuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Die Vorlage auf Drucksache 15/4517 – sie betrifft den
Zusatzpunkt 8 – soll an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu
weiter reichende Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist auch das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung über die Verwertung von Abfällen
– Drucksachen 15/4238, 15/4290 Nr. 2.1, 15/4488 –
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1) Anlage 5 2)
Ich wollte gerade vorschlagen, dass ich die Reden
da ich ja über sie verfüge – hilfsweise verlesen könnte,
enn jemand darauf besteht.
a auch darauf freundlicherweise verzichtet wird, kann
ch die Aussprache schließen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
mpfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
nd Reaktorsicherheit zur Verordnung der Bundesregie-
ung über die Verwertung von Abfällen auf Deponien
ber Tage. Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf
rucksache 15/4238 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
eschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
nthält sich? – Das ist bei einer überschaubaren Zahl be-
eiligter Kollegen eine auskömmliche Mehrheit. Damit
st die Beschlussempfehlung angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
rdnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
estages auf morgen, Freitag, den 17. Dezember 2004,
in. Sie beginnt unüblicherweise erst um 10 Uhr, weil
orher Fraktionssitzungen stattfinden.
Wegen der frühen Beendigung unserer heutigen
lenarberatung haben nun alle Kolleginnen und Kolle-
en noch ausreichend Zeit, sich gründlich auf die morgi-
en Fraktionssitzungen vorzubereiten.
Ich wünsche allen einen schönen Abend und schließe
ie Sitzung.