Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich
Folgendes bekannt: Ende des Jahres scheiden turnusge-
mäß drei Mitglieder des Verwaltungsrates der Kreditan-
stalt für Wiederaufbau aus. Die Fraktion der SPD schlägt
als Nachfolger für den Kollegen Klaus Brandner den
Kollegen Jörg-Otto Spiller vor. Die Fraktion der CDU/
CSU schlägt für eine weitere Amtszeit wieder den Kolle-
gen Dietrich Austermann und die Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen wieder die Kollegin Christine
Scheel vor. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann sind die genannte Kollegin
und die beiden Kollegen als Mitglieder im Verwaltungs-
rat der KfW bestellt.
Die Fraktion der SPD möchte im Kuratorium der Stif-
tung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-
land“ einen Wechsel vornehmen. Der Kollege Marco
Bülow – bisher ordentliches Mitglied – soll nunmehr
stellvertretendes Mitglied und die Kollegin Gisela
Hilbrecht – bisher stellvertretendes Mitglied – soll nun-
mehr ordentliches Mitglied werden. Sind Sie auch mit
diesem Vorschlag einverstanden? – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann sind die genannten Abgeordneten wie
Redet
vorgesehen in die jeweiligen Gremien entsandt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ih-
nen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
ZP 1 Vereinbarte Debatte: Die Demokratie in der Ukraine festi-
gen
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Marie-Luise Dött, Dr. Rolf Bietmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Klima-
schutz-Doppelstrategie – Kioto-Protokoll zu einem
wirksamen Kioto-plus-Abkommen weiterentwickeln
und nationale klimafreundliche Entwicklung konse-
quent fortsetzen
– Drucksache 15/4382 –
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der S
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Das Kio
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zusammenleben auf
der Basis gemeinsamer Grundwerte
– Drucksache 15/4394 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler,
Klaus Haupt, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Kulturelle Vielfalt – Universelle
Werte – Neue Wege zu einer rationalen Integra-
tionspolitik
– Drucksache 15/4401 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ext
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Küster,
Dirk Manzewski, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Dr. Günter
Krings, Dr. Norbert Röttgen und der Fraktion der CDU/
CSU, der Abgeordneten Grietje Bettin, Jerzy Montag,
Volker Beck , weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Ab-
geordneten Rainer Funke, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP: Wettbewerb und Innovationsdynamik im Soft-
warebereich sichern – Patentierung von Computerpro-
grammen effektiv begrenzen
– Drucksache 15/4403 –
isungsvorschlag:
usschuss
ss für Wirtschaft und Arbeit
ss für Bildung, Forschung und
folgenabschätzung
PD und des
to-Protokoll
Überwe
Rechtsa
Ausschu
Ausschu
Technik
13414 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Präsident Wolfgang Thierse
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
, Dr. Ole Schröder, Dirk Fischer (Hamburg),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:
Promillegrenze in der Seeschifffahrt
– Drucksache 15/4383 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Hal-
tung der Bundesregierung zur Forschung an embryonalen
Stammzellen nach der Volksabstimmung in der Schweiz und
den damit verbundenen Auswirkungen für die Forschung in
Deutschland
ZP 6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer,
Rainer Funke, Daniel Bahr , weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP: Menschenrechte in der
Volksrepublik China einfordern
– Drucksache 15/4402 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke,
Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Ratifikation des 12. Zusatz-
protokolls zur Europäischen Menschenrechtskonven-
tion
– Drucksache 15/4405 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
ZP 7 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
der Bundesregierung: Einsatz bewaffneter deutscher
Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachungsmis-
sion AMIS der Afrikanischen Union in Darfur/Su-
dan auf Grundlage der Resolutionen 1556 und
1564 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 30. Juli 2004 und 18. September 2004
– Drucksachen 15/4227, 15/4257 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen
Joachim Hörster
Dr. Ludger Volmer
Harald Leibrecht
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 15/4259 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Alexander Bonde
Lothar Mark
Herbert Frankenhauser
Dietrich Austermann
Jürgen Koppelin
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer
Brüderle, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Keine Sperrfrist bei Abschluss eines Abwicklungsvertrags
nach arbeitgeberseitiger betriebsbedingter Kündigung
– Drucksache 15/4407 –
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– Drucksache 15/3980 –
überwiesen:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? –
ch höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie die Zusatz-
unkte 2 a und 2 b auf:
3 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Kioto-Protokoll tritt in Kraft – Ein Erfolg für
den Klimaschutz und eine Verpflichtung für
die Zukunft
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Peter Paziorek, Marie-Luise Dött,
Dr. Rolf Bietmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Klimaschutz-Doppelstrategie – Kioto-Pro-
tokoll zu einem wirksamen Kioto-plus-Ab-
kommen weiterentwickeln und nationale
klimafreundliche Entwicklung konsequent
fortsetzen
– Drucksache 15/4382 –
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Das Kioto-Protokoll national konsequent
umsetzen und international verantwor-
tungsvoll weiterentwickeln
– Drucksache 15/4393 –
Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungs-
ntrag der Fraktion der FDP vor.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13415
)
)
Präsident Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit, Jürgen Trittin.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Russi-
sche Föderation hat das Kioto-Protokoll ratifiziert. Es
wird am 16. Februar nächsten Jahres in Kraft treten. Das
ist ein Durchbruch für den internationalen Klimaschutz.
Hier hat sich multilaterale Umweltpolitik gegen unilate-
rales Beharren durchgesetzt.
Erstmals gibt es eine völkerrechtlich verbindliche Ober-
grenze für den Ausstoß von Treibhausgasen. Das In-
Kraft-Treten des Kioto-Protokolls ist ein unüberhörbares
Signal, dass die internationale Staatengemeinschaft den
Klimawandel ernst nimmt. Der Klimawandel ist keine
skeptische Prognose mehr, sondern bittere Realität. In
diesem Sinne hatte uns der Bundeskanzler auf dem
Weltgipfel in Johannesburg gemahnt.
Meine Damen und Herren, das Kioto-Protokoll leitet
eine klimapolitische Trendwende ein. Es gibt ein erstes
Ziel – ich betone: ein erstes Ziel – auf dem Weg zu einer
Industriegesellschaft vor, die entschieden weniger Treib-
hausgase emittiert und fossile Brennstoffe effizienter
einsetzt als bisher.
Aktive Klimaschutzpolitik erfordert nicht – wie man
gelegentlich hört – den Abschied von der Industriege-
sellschaft; aktive Klimaschutzpolitik erfordert vielmehr
eine andere Industriepolitik. Tony Blair spricht von einer
„neuen, grünen industriellen Revolution“. Klimaschutz
befördert neue Entwicklungsmodelle in Wirtschaft und
Gesellschaft. Der Boom erneuerbarer Energien in
Deutschland wirkt beispielgebend auch und gerade für
Schwellenländer. Energieeinsparung und die Steigerung
der Energieeffizienz schonen das Klima und die natürli-
chen Ressourcen und sie zahlen sich für private Haus-
halte, für den Dienstleistungssektor, aber auch für das
produzierende Gewerbe sehr rasch in Euro aus. Notwen-
dig sind dafür jedoch die richtigen Anreize.
Mit dem Kioto-Protokoll bekommt die Nutzung der
Atmosphäre erstmals einen Preis. Das Protokoll setzt ei-
nen verbindlichen Rahmen, den wir innerhalb der EU
und hier in Deutschland umsetzen.
Eine aktive Klimaschutzpolitik bedeutet aber auch,
alle Sektoren und alle Akteure auf den verschiedenen
Ebenen miteinzubeziehen. Nur damit schaffen wir die
notwendige Akzeptanz in der Gesellschaft für solche
nachhaltigen Lösungsansätze. In diesem Sinne schreiben
wir das Nationale Klimaschutzprogramm derzeit fort.
Wenn man die Entwicklung des Ölpreises und die Rah-
menbedingungen an den Weltenergiemärkten analysiert,
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ch möchte an dieser Stelle Ihnen allen – ausdrücklich
einer Vorgängerin, Frau Merkel, für ihre Verdienste –
afür danken.
Die Klimakonferenz in Buenos Aires im Dezember
ieses Jahres findet im Jahr 10 nach dem In-Kraft-Treten
er Klimarahmenkonvention statt. Wir können hier auf
as Erreichte zurückblicken und andererseits Weichen
tellen, um die internationale Klimaschutzpolitik in den
13416 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Bundesminister Jürgen Trittin
kommenden Jahren fortzuentwickeln. Deutschland wird
hier im Rahmen der Europäischen Union seine Rolle
ernsthaft weiter spielen. Wir können als Europäer und
insbesondere als Deutsche in der Klimaschutzpolitik auf
beachtliche Erfolge verweisen. Im Januar 2005 wird eu-
ropaweit der Emissionshandel beginnen. Was viele An-
fang dieses Jahres noch nicht geglaubt haben, wird jetzt
Wirklichkeit. Mit der Umsetzung des Kioto-Protokolls
prägen wir den internationalen Prozess. Damit haben wir
bewiesen, dass man als Vorreiter in Europa weltweit tä-
tig werden kann. Aber auch innerhalb Europas gehen wir
mit dem Emissionshandel einen völlig neuen Weg. Die
EU-Kommission genehmigte den deutschen Nationalen
Allokationsplan schon in der ersten Handelsperiode. Wir
sehen bereits in dieser Handelsperiode eine Reduzierung
des klimaschädlichen Gases CO2 vor. Der Emissions-handel wird helfen, das Klima dort zu schützen, wo es
ökonomisch am sinnvollsten ist. Kohlenstoff erhält ei-
nen Preis, sodass der Markt seine Funktion als Suchme-
chanismus für die günstigste Vermeidungsoption und die
beste Technik erfüllen kann.
Deutschland hat mit seiner aktiven Klimapolitik den
Ausstoß von Treibhausgasen wesentlich verringern kön-
nen. Mit einer Reduktion der Treibhausgasemissionen
um 237 Millionen Tonnen liegen wir derzeit etwa
2 Prozentpunkte vor der Kioto-Zielmarke von 21 Pro-
zent. Zusammen mit dem Vereinigten Königreich von
Großbritannien hat Deutschland wesentlich dazu beige-
tragen, dass die Europäische Union beachtliche Fort-
schritte auf der internationalen Bühne vorzeigen kann.
Die EU hat bis 2002 die Treibhausgasemissionen um
knapp 3 Prozentpunkte gesenkt. Ohne die Anstrengun-
gen, die in Deutschland und im Vereinigten Königreich
unternommen worden sind, läge die EU hingegen bei ei-
nem Plus von 10 Prozent.
Deutschland spielt beim Schutz des Klimas innerhalb
der EU – wir hoffen: auch global – weiterhin ganz vorne
mit. Gesetzliche Maßnahmen und Regeln zum Klima-
schutz in Deutschland werden von anderen Ländern als
Vorbild angesehen. Das gilt für das Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetz, aber auch für unseren Ansatz, externe Kos-
ten etwa über die Ökosteuer wieder zu internalisieren.
Wir können im Bereich der erneuerbaren Energien se-
hen: Wir haben im Jahre 2004 erstmals 10 Prozent unse-
res Stroms regenerativ erzeugt. Zusammen mit den Ein-
sparungen im Bereich der erneuerbaren Wärme – eine
vielfach unbeachtete Säule der Energiepolitik – sparen
wir inzwischen bis zu 60 Millionen Tonnen Kohlendio-
xid ein. Damit schützen wir sehr endliche Ressourcen.
Wir haben auf der internationalen Konferenz für er-
neuerbare Energien im Juni 2004 in Bonn und mit dem
dort beschlossenen Aktionsprogramm den globalen Aus-
bau der Energieerzeugung aus Sonne, Wind, Biomasse
und Wasser weit vorangebracht. Mit der Umsetzung die-
ses Aktionsprogramms werden zugleich bedeutende Kli-
magasminderungen erreicht. Wenn wir, wie im Aktions-
programm vorgesehen, über diese Instrumente bis
2015 1 Milliarde Menschen Zugang zu moderner Ener-
gie verschaffen wollen, dann werden wir damit nicht nur
einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass diese
Menschen Armut überwinden, sondern wir werden auch
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Auch bei der effizienteren und sparsameren Nutzung
on Energie gibt es riesige Potenziale. Wir wollen mit
lick auf die erste Verpflichtungsperiode des Kioto-Pro-
okolls mit dem neuen Nationalen Klimaschutzpro-
ramm sicherstellen, dass auch die privaten Haushalte,
uch der Verkehr, auch das Kleingewerbe ihren Beitrag
ur Reduzierung der CO2-Emissionen leisten. Das ist, souantifiziert in unserem Nationalen Allokationsplan, ein
eitrag von 9 Millionen Tonnen. Das haben wir zu er-
ringen.
Es wird dabei darauf ankommen, weitere Minde-
ungspotenziale zu erschließen. Ich finde es ermutigend,
ass es in den letzten Jahren gelungen ist, die CO2-Emis-ionen im PKW-Verkehr kontinuierlich zu reduzieren.
iesen Trend müssen wir aufrechterhalten. Aber wir
üssen auch im Güterverkehr zu einer Trendwende
ommen. Ich erwarte, dass die LKW-Maut, das heißt der
mstand, dass erstmals Umweltkosten in die Nutzung
on Verkehrswegen und damit in die Kalkulation einflie-
en, hier einen weiteren Schub bringt.
Im Gebäudebereich wollen wir die bewährten Instru-
ente – von der Energieeinsparverordnung bis zur ge-
ielten Förderung der energetischen Altbausanierung –
ortentwickeln. Gerade hier lassen sich erhebliche Min-
erungspotenziale kosteneffizient erschließen. Mit der
erbindlichen Einführung des Energieausweises ab
006 auch für Altbauten wird die energetische Qualität
ines Gebäudes künftig ein wichtiges Entscheidungskri-
erium beim Verkauf und bei der Vermietung von Woh-
ungen und Gebäuden sein. Dieser Ausweis schafft so
inen zusätzlichen Anreiz für Wärmeschutzmaßnahmen.
ufgrund der langen Lebensdauer von Gebäuden sind
nvestitionen in die Verbesserung der Wärmedämmung
nd der Heizungseffizienz besonders lange wirksam.
ir haben hier noch ein großes Potenzial.
Wir setzen mit diesem Plan das um, was der Bundes-
anzler einmal so formuliert hat:
Wer in der Klimadebatte glaubwürdig bleiben will,
der muss der Welt zeigen, dass er tatsächlich große
Anstrengungen unternimmt. Er muss zu Hause das
umsetzen, was er auf der internationalen Bühne
versprochen hat.
Die Anzeichen der von Menschen mit verursachten
limaänderung werden immer stärker. Meldungen und
arnungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
ern häufen sich: zunehmende Stürme, Dürren und Über-
chwemmungen. Die Gletscher in den Alpen und das
olareis schmelzen ab, und zwar in einem Tempo, das
issenschaftler noch vor zehn Jahren vielleicht für das
ahr 2020 oder 2025 prophezeit haben. Wir werden uns
eshalb in Buenos Aires auf der Klimakonferenz vor al-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13417
)
)
Bundesminister Jürgen Trittin
len Dingen mit den Folgen der Klimaänderung zu be-
schäftigen haben. Die Anpassung an den Klimawandel
wird mit auf der Tagesordnung stehen.
Anpassungsmaßnahmen sind in Entwicklungslän-
dern wie in Industriestaaten dringlich und unausweich-
lich. Die Entwicklungsländer sind von den Folgen des
globalen Klimawandels am stärksten betroffen. Gleich-
zeitig fehlen ihnen die Mittel, um diese zu handhaben.
Drei nach der Klimakonferenz in Bonn 2001 neu einge-
richtete Fonds werden Mittel für Anpassungsmaßnah-
men zur Verfügung stellen. Die EU-Mitgliedstaaten wer-
den gemeinsam mit anderen Industrieländern ab dem
Jahr 2005 jährlich insgesamt 410 Millionen US-Dollar
für den Klimaschutz und für die Anpassung an den Kli-
mawandel zur Verfügung stellen.
Die Bundesregierung wird sich bei der Konferenz in
Buenos Aires konstruktiv an der Diskussion gerade um
die Auswirkungen des Klimawandels und die notwendi-
gen Anpassungsmaßnahmen beteiligen. Die Beratungen
müssen zusammen mit der Diskussion über die Weiter-
entwicklung des internationalen Klimaschutzes nach
2012 voranschreiten; denn ohne zukünftige Emissions-
minderung und ohne eine Stabilisierung des Klimasys-
tems wird Anpassung in vielen Fällen unbezahlbar oder
gar unmöglich.
Wenn wir über Klimaschutzpolitik reden, müssen wir
auch über die Konsequenzen des Untätigbleibens reden.
Die Kosten der Flutkatastrophe in Europa 2002 wer-
den auf 16 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Die Hit-
zewelle 2003 hat zum frühzeitigen Tod vieler, besonders
älterer Menschen geführt und volkswirtschaftliche Kos-
ten in Europa von 13,5 Milliarden US-Dollar verursacht.
In Grenadas Hauptstadt Georgetown wurden in diesem
Sommer 90 Prozent der Häuser durch einen der vier
Wirbelstürme der diesjährigen Hurrikansaison zerstört.
Allein in Florida summieren sich die unmittelbaren
Schäden der Hurrikans in diesem Herbst auf mehr als
25 Milliarden US-Dollar. Solche Ereignisse werden sich
häufen. Klimaschutz ist machbar. Ein Untätigbleiben
können wir uns jedoch nicht leisten.
Die nächsten Jahre werden entscheidend dafür sein,
ob nicht mehr hinnehmbare Folgen des Klimawandels
wirklich verhindert werden können. Unsere Leitlinie ist
klar: Eine globale Erwärmung um mehr als zwei Grad
gegenüber den vorindustriellen Werten muss verhindert
werden. Kioto ist ein wichtiger, aber nur ein erster
Schritt. Weitere ehrgeizige Schritte müssen folgen.
Was sind die nächsten Schritte? Der Europäische Rat
wird sich auf dem kommenden Frühjahrsgipfel mit Stra-
tegien und Zielvorgaben zur mittel- und langfristigen
Emissionsminderung beschäftigen, die auch wirtschaftli-
che Aspekte berücksichtigen. Wissenschaftliche Ab-
schätzungen zeigen, dass die Treibhausgasemissionen
weltweit bis 2050 um etwa die Hälfte zurückgehen müs-
sen. Da die Emissionen in Entwicklungsländern zu-
nächst aber noch steigen werden, bedeutet das für die In-
dustriestaaten eine Minderung um etwa 80 Prozent.
Erste Notwendigkeit: Die Industrieländer müssen sich
auf ehrgeizige Reduktionsziele verständigen. Dabei ist
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Zweitens. Auch Schwellen- und Entwicklungslän-
er mit hohen und rasch wachsenden Emissionen müs-
en erste wirksame Klimaschutzverpflichtungen über-
ehmen. Wir können es uns global nicht leisten, dass
iese Länder – ich sage es einmal so – die gleichen Feh-
er begehen wie wir. Wir brauchen eine globale Ener-
iewende. Ziel ist eine weltweit nachhaltige Energiever-
orgung durch den Ausbau erneuerbarer Energien und
ie massive Erhöhung der Energieeffizienz beim Einsatz
ossiler Energieträger. Bei der Deckung des absehbaren
usätzlichen Energiebedarfs in Schwellen- und Entwick-
ungsländern wird der Nutzung erneuerbarer Energien
ine Schlüsselrolle zukommen.
Ich finde es ermutigend, dass sich China, das sein
ruttosozialprodukt bis 2020 vervierfachen will, gleich-
eitig vorgenommen hat, bis 2010 10 Prozent seines
troms regenerativ zu erzeugen. Das zeigt übrigens, dass
ier ein Markt von durchaus großem Interesse auch für
eutsche Firmen entsteht.
Drittens. Wir brauchen Politiken und Maßnahmen für
en bisher nicht erfassten grenzüberschreitenden Flug-
nd Schiffsverkehr. Internationale Wettbewerbsge-
ichtspunkte sind dabei zu berücksichtigen. Die Treib-
ausgasemissionen des internationalen Flug- und Schiffs-
erkehrs nehmen weiter zu und gefährden die Erfolge
er Klimaschutzpolitik. Der UNEP-Chef Klaus Töpfer
at Recht – ich zitiere ihn –: Es ist ökologisch ein Un-
ing, dass der Treibstoff so weit heruntersubventioniert
ird, dass Flüge für 10, 20 oder 30 Euro zu haben sind.
Meine Damen und Herren, wir stehen an einem Wen-
epunkt. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal den
undeskanzler zitieren:
Wer beim Klimaschutz bremst oder auch nur auf
der Stelle tritt, wird in nur wenigen Jahren den An-
schluss an die wichtigsten Märkte des nächsten
Jahrhunderts verpassen.
Bei aller Freude über das In-Kraft-Treten des Kioto-
rotokolls – es bleibt kaum Zeit zum Feiern. Wir müssen
eiter an der Bekämpfung des globalen Klimawandels
rbeiten. Aktive Klimaschutzpolitik bietet eine Chance,
atastrophen abzuschwächen bzw. zu vermeiden.
13418 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Bundesminister Jürgen Trittin
Aktive Klimaschutzpolitik bietet eine Chance für grö-
ßere Unabhängigkeit vom Öl und damit für mehr Versor-
gungssicherheit im Energiebereich. Aktive Klimaschutz-
politik bietet auch und gerade eine Chance für
nachhaltiges globales Wachstum und für mehr Beschäf-
tigung. Vor allen Dingen stehen wir aber vor der Heraus-
forderung, unserer Verantwortung gegenüber den nach-
folgenden Generationen gerecht zu werden.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Lippold, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sieben Jahre sind vergangen, seit die in-
ternationale Staatengemeinschaft das Kioto-Protokoll
angenommen hat. In dieser Zeit – so müssen wir feststel-
len – haben sich die Trends, auf die wir damals beschwö-
rend hingewiesen haben, ganz entscheidend verstärkt:
Ich denke an die Abschmelzung der Polkappen sowie
zunehmende Versteppung und Desertifikation, das heißt
die Verwüstung von Böden. Darüber hinaus geht es aber
auch um Fragen wie die Vernichtung der tropischen Re-
genwälder und um die möglichen Folgen eines Anstiegs
des Meeresspiegels. Ich glaube, wir sind über den Punkt
hinaus, dass man infrage stellen könnte, dass sich die
Dinge katastrophal entwickeln werden, wenn wir nicht
endlich handeln.
Das ist für uns deshalb von besonderer Bedeutung, weil
die großen Schadensfolgen, die damit verbunden sind,
noch von keinem richtig eingeschätzt werden. Ich
glaube, die Schätzungen, die wir vorliegen haben, stellen
eher die Untergrenze der auf uns zukommenden Bedro-
hungen als die Obergrenze dar.
Für uns in der CDU/CSU-Fraktion ist das Anlass, un-
serer eigenen Politik im Klimaschutz- und Umweltbe-
reich eine ethische Fundierung zu geben. Wir meinen
nämlich, aus umweltethischen Gründen ist es geboten,
den nachfolgenden Generationen eine bewohnbare, die
wachsende Bevölkerung menschenwürdig versorgende
und deren Entwicklungschancen berücksichtigende Welt
zu übergeben. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass die
Armutsgrenze zwischen Nord und Süd überwunden
wird. Wir im Norden müssen unseren Verpflichtungen
dem Süden gegenüber nachkommen. Notwendig ist
auch, dass wir den Artenreichtum der Schöpfung bewah-
ren. Gerade hier gibt es zurzeit ganz ernste Probleme.
Vor dem Hintergrund der Vision einer ungeteilten be-
wohnbaren Welt müssen wir bei aller Freude über das
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a diese Anpassungsmaßnahmen zum Beispiel in den
nselstaaten des Pazifik überhaupt nicht möglich sind,
üssen wir von vornherein auf andere Regelungen hin-
rbeiten.
Ich freue mich darüber, dass Russland für die Ratifi-
ation des Protokolls gewonnen werden konnte; das ist
in ganz entscheidender Schritt. Wir sollten nun gemein-
am mit der Russischen Föderation darüber nachdenken,
ie wir auch bilateral in diesen Fragen Positionen wei-
erentwickeln können.
Ich will damit aber auch die Aufforderung an die
undesregierung verbinden, dass wir uns darum bemü-
en, auch die USA für diesen Prozess zu gewinnen. Es
ibt erfreuliche Anzeichen im Kongress – ich denke an
cCaine – und im Senat. Amerikanische Politiker über-
egen jetzt offensichtlich, ob sie sich diesen Fragen nicht
n anderer Form zuwenden sollten, als das früher der Fall
ar. Wir sollten mit diesen das Gespräch suchen und den
nsatz weiterentwickeln, um die USA für die Lösung
nseres Problems zu gewinnen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir
icht handeln, werden jährlich allein 500 Millionen Ton-
en CO2 zusätzlich ausgestoßen. Das überspielt die bis-erigen Erfolge, die wir in der Bundesrepublik Deutsch-
and zum Beispiel durch den Ausstieg aus FCKW, den
luorkohlenwasserstoffen, erreicht haben. Das war ein
uter und richtiger Schritt, aber es macht deutlich, dass
nser Handeln allein nicht ausreichend ist. Wir müssen
ber Russland und die USA hinaus insbesondere die
chwellenländer in den weiteren Prozess einbeziehen.
abei müssen wir als Industrieländer uns nach wie vor
nserer besonderen Rolle in diesem Prozess bewusst
ein.
Herr Minister, Sie haben davon gesprochen, China
olle 10 Prozent seiner Energie regenerativ erzeugen.
as ist positiv. Aber bei der Explosion des Energiever-
rauchs in China stellt sich natürlich die Frage: Was ist
it den verbleibenden 90 Prozent? Wie wird sich dies in
ukunft entwickeln? Wenn sich diese Entwicklung fort-
etzt, werden alle Einsparmaßnahmen in den Industrie-
ändern der westlichen Welt durch die Entwicklung in
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13419
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Dr. Klaus W. Lippold
den Schwellenländern überspielt. Deshalb ist das für uns
ein ganz zentraler Punkt, an dem wir ansetzen müssen.
Ich glaube, das können wir nicht so laufen lassen.
Gleichzeitig sollte Deutschland auf die EU einwirken,
in Richtung der anderen Wirtschaftsblöcke – APEC,
AFTA, NAFTA – eine vergleichbare Politik zu betreiben
wie innerhalb der Europäischen Union. Wir müssen auch
auf dieser Ebene Mitstreiter gewinnen, wenn wir erfolg-
reich sein wollen. Das heißt aber auch, dass wir beispiel-
haft sein müssen bei der Reduzierung von Emissionen
über verschiedene Instrumente. Auf europäischer Ebene
haben wir jetzt Emissions Trading, den Handel mit
Emissionsrechten, eingeführt. Das ist ein guter Schritt.
Wir müssten solche Vereinbarungen aber nicht nur auf
der Ebene der EU, sondern weltweit haben. Erst dann
wird das Instrument voll funktionsfähig.
Ich bitte auch darum, Herr Minister, dass wir die Mög-
lichkeiten, die über Clean Development Mechanism und
Joint Implementation gegeben sind, in vollem Umfang
und nicht begrenzt nutzen.
Es ist egal, wo Kohlendioxid emittiert wird; es kommt
darauf an, dass diese Emissionen reduziert werden. Des-
halb ist wichtig, hier keine Begrenzung vorzusehen. Re-
duktionsleistungen sollten dort erbracht werden, wo sie
kostengünstig möglich sind.
Sie haben in der letzten Diskussion zu dieser Frage
noch einmal darauf hingewiesen, dass das bei der
Selbstverpflichtung nicht der Fall sei. Herr Minister,
die Selbstverpflichtung hatte ein anderes Ziel und in die-
ser Hinsicht waren wir in der Bundesrepublik erfolg-
reich. Die Selbstverpflichtung zielte darauf ab, dass wir
für die Bundesrepublik Deutschland ein Ziel vorgeben,
aber der Wirtschaft die kostengünstigste Möglichkeit be-
lassen, dieses Ziel zu erreichen. Deshalb ist eine Selbst-
verpflichtung nach wie vor sinnvoll und nicht so zu qua-
lifizieren, wie Sie es damals gemacht haben.
Ich gehe davon aus, dass wir heute, Herr Minister, so
viel Übereinstimmung haben wie selten zuvor in einer
Debatte in diesem Hause. Ich halte das nicht für falsch,
weil ich glaube, dass unsere gemeinschaftlichen An-
strengungen weltweit – Sie haben auf die Klimaschutz-
kommissionen verwiesen – von Erfolg gekrönt waren.
Aber, Herr Minister, das erspart uns natürlich nicht,
auch einmal darauf hinzuweisen, dass das eine oder an-
dere nicht geschehen ist und dass Sie sich klammheim-
lich von dem einen oder anderen verabschiedet haben.
Sie schreiben in dem Antrag, den Sie heute als Koalition
vorlegen, dass Deutschland seine nationale Reduktions-
pflicht – 21 Prozent der Emission von Treibhausgasen
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ir haben jetzt Ende des Jahres 2004 und ich sehe nicht,
err Minister, dass dieses überarbeitete Klimaschutzpro-
ramm vorläge. Ankündigungen genügen nicht.
Die Frage, was wir 2020 und 2040 erreichen, ist si-
herlich von Bedeutung. Aber wichtiger ist, dass wir die
ahziele erreichen und uns nicht mit Fernzielen über das
ichterreichen von Nahzielen hinwegtäuschen. Das kann
s nicht sein; deshalb müssen wir da anders vorgehen.
Wir erwarten, dass Sie dies mit einem energiepoliti-
chen Gesamtkonzept leisten, das Sie in dieses Klima-
chutzprogramm einbauen. Wir gehen nach wie vor da-
on aus, dass wir einen vollständigen Energiemix
rauchen, nicht einen eingeschränkten, wie Sie ihn vor-
ehen,
eil Sie das Ziel auf diese Art und Weise nicht erreichen
önnen. Ich bitte Sie auch, Herr Minister, sehr deutlich
u machen, dass wir auf internationaler Ebene noch stär-
er als bisher vorgehen müssen.
Lassen Sie mich aber noch einen Punkt aufgreifen,
en Sie angesprochen haben: Gebäudesanierung. Wir
ehen nach wie vor davon aus, dass hier ein entscheiden-
es, großes Potenzial liegt. Aber wir bitten Sie, das wahr
u machen, was Sie in Ihr Koalitionspapier geschrieben
aben, nämlich hier steuerliche Anreize zu verankern.
ieser Punkt fehlt. Damit könnte eine CO2-Minderungn einer Höhe erreicht werden, die wir mit den bisheri-
en Instrumenten nicht erreichen. Bitte reden Sie nicht
ur darüber, sondern handeln Sie auch.
ann kommen wir weiter.
13420 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Dr. Klaus W. Lippold
Wir werden Sie auch unterstützen, wenn es darum
geht, im Bereich der Reduktion der Emissionen im Ver-
kehr, der autobezogenen Emissionen, weiterzukommen.
Ich glaube, dass hier ein weiterer deutlicher und wichti-
ger Ansatzpunkt liegt.
Wir müssen, Herr Minister, die internationale Um-
weltpolitik reformieren. Dem UNEP fehlen Mandat und
Ressourcen. Die CSD kann die Richtung der globalen
Umweltpolitik kaum beeinflussen. Die Sekretariate der
Umweltkonventionen sind weltweit verstreut. Die Glo-
bal Environmental Facility ist unterfinanziert. Hier gibt
es genügend Ansatzpunkte, bei denen wir etwas tun
müssen, etwas ändern müssen.
Ich glaube, wir werden über alle Fraktionen hinweg
mit unseren Wirtschaftspolitikern noch einmal über die
Vereinbarkeit von Umweltschutz und WTO sprechen
müssen.
Das ist ein Ansatz, den ich für wichtig und richtig halte.
So wie wir in der Union das Klimaschutzziel in der Ge-
samtzielsetzung unserer politischen Arbeit verankern
wollen, müssen wir dieses Ziel auch gemeinschaftlich
verknüpfen und die WTO-Regeln mit dem Umwelt-
schutz in Einklang bringen.
Vor diesem Hintergrund bin ich der Meinung, dass
wir uns gemeinschaftlich darum bemühen sollten, unse-
ren Beitrag zu einem schnelleren Erreichen des globalen
Ziels zu leisten. Es ist wahrscheinlich die bedeutendste
Herausforderung, die vor uns liegt. Wir sollten sie, wie
gesagt, gemeinschaftlich angehen. Das hilft unseren
Bürgern und den Menschen weltweit.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Ulrich Kelber, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Es wird immer deutlicher: Der durch Menschen ver-
ursachte Klimawandel ist die größte globale Herausfor-
derung unserer Zeit. Bundeskanzler Gerhard Schröder
hat es auf dem Weltnachhaltigkeitsgipfel 2002 in Johan-
nesburg festgehalten:
Die weltweite Zunahme extremer Wetterereignisse
zeigt eines ganz klar: Der Klimawandel ist keine
skeptische Prognose mehr – er ist bittere Realität,
weltweit, in allen Kontinenten ... Diese Herausfor-
derung verlangt von uns entschiedenes Handeln.
Diese Ansicht wird von immer mehr politischen Führern
geteilt. Ich nenne beispielsweise Tony Blair, dessen wis-
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Ich spreche übrigens ganz bewusst von der „Heraus-
orderung Klimawandel“ und nicht von der „Bedrohung
limawandel“. Natürlich sind die Gefahren durch den
limawandel so dramatisch, dass sich sowohl Nichthan-
eln als auch zögerliches Handeln von selbst verbieten.
ber bloß Negativszenarien zu beschreiben löst in der
ffentlichkeit nichts anderes aus als Resignation. Des-
egen müssen wir die großen Chancen, die die Klima-
chutzpolitik mit sich bringt, betonen. Es sind gesell-
chaftliche und wirtschaftliche Chancen, für die es sich
u engagieren lohnt. Davon muss man die Menschen
berzeugen.
Es sind neue, energieeffiziente Produkte, die der Kli-
aschutz hervorbringt und mit denen Deutschland auf
em Weltmarkt punkten kann. Es sind die eingesparten
osten für die Energieträger, die in die Finanzierung von
ienstleistungen fließen und dort neue Arbeitsplätze
chaffen können. Ich will es einmal so sagen: Ich finan-
iere doch lieber den Handwerker, der auf meinem Dach
ärmedämmungen anbringt, als fundamentalistische
trukturen in Saudi-Arabien über das Begleichen meiner
lrechnung.
Ich bin kein Außenpolitiker und darf das deswegen
inmal deutlich aussprechen.
Angesichts der Tatsache, dass in der verarbeitenden
ndustrie in Deutschland Löhne und Nebenkosten nur
1 Prozent, aber Material- und Energiekosten 56 Prozent
er Gesamtkosten ausmachen, wird deutlich, dass der
limaschutz ein sehr großes Kostensenkungspotenzial
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13421
)
)
Ulrich Kelber
auch in der verarbeitenden Industrie hat. Das ist für den
Standort Deutschland sehr wichtig. Klimaschutz kann
dazu beitragen, dass die Kosten der Unternehmen, die
von schwankenden Energiepreisen sehr betroffen sind,
gesenkt werden können.
Klimaschutz bietet aber auch gesellschaftliche Chan-
cen. Es muss offen angesprochen werden: Unser welt-
weites System der Versorgung mit Rohstoffen und Ener-
gie funktioniert leidlich für 1 Milliarde Menschen und
das auch nur für einen sehr eng begrenzten Zeitraum,
nämlich in der Gegenwart. Es bietet dem Großteil der
Menschheit aber keine Chance, Wohlstand zu erlangen,
und nimmt den kommenden Generationen diese Chance
für die Zukunft. Deswegen ist es richtig, aus jeder Tonne
Öl, aus jeder Kilowattstunde Strom und aus jeder
Schiffsladung Rohstoffe wesentlich mehr Wohlstand he-
rauszuholen, um damit heute mehr Menschen und auch
den kommenden Generationen zu ermöglichen, in Wohl-
stand leben zu können.
Wenn am 16. Februar das Kioto-Protokoll in Kraft
tritt, dann sind die Klimaschutzziele bis 2010/2012 fest-
gelegt. Aber wir müssen schon heute über das Kioto-
Protokoll hinausdenken. Was kommt dann? Diese De-
batte wird in Buenos Aires beginnen und nächstes Jahr
innerhalb der Europäischen Union und der G 8 fortge-
führt. Es geht darum – dies ist erwähnt worden –, den
Anstieg der Durchschnittstemperatur auf der Erde auf
maximal 2 Grad zu beschränken. Nur dann – so die Mei-
nung der Wissenschaft – ist dieser Klimawandel einiger-
maßen zu bewältigen.
Früher haben die Lobbyisten einfach geleugnet, dass
es einen Klimawandel gibt. Heute sind sie etwas ge-
schickter. Sie wollen uns weismachen, es sei viel besser
und billiger, sich an die höheren Temperaturen anzupas-
sen, als die Emissionen von Treibhausgasen drastisch zu
senken.
Man sollte sich einmal die entsprechenden Zahlen
und Ereignisse anschauen. Das Deutsche Institut für
Wirtschaft schätzt, dass selbst ein gemäßigter Klima-
wandel allein in Deutschland in den nächsten Jahrzehn-
ten Kosten von fast 150 Milliarden Euro – es spricht
noch von 137 Milliarden und mehr – verursachen wird.
Das sind die Folgekosten vermehrter Wetterextreme, von
Dürreschäden, Deichbauten und anderem mehr.
Nicht enthalten sind in dieser Schätzung die zu erwar-
tenden Opfer an Menschenleben. Gestern wurde eine
Studie renommierter europäischer Wissenschaftler aus
dem Bereich Wetter und Klima veröffentlicht, die be-
sagt, dass der Extremsommer 2003 zu 90-prozentiger
Wahrscheinlichkeit bereits auf den menschlich verur-
sachten Klimawandel zurückzuführen ist. Man hat einen
statistischen Abgleich mit den Zahlen in anderen Som-
mern durchgeführt und ist zu dem Ergebnis gekommen:
Es gab allein in Deutschland 7 000 zusätzliche Hitzetote,
35 000 in Europa. Das sind Größenordnungen, die wir
uns vor Augen führen müssen.
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ie Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages
at festgestellt, dass in den Industriestaaten zur Begren-
ung des Klimawandels eine Reduktion der Emissio-
en von Treibhausgasen um 80 Prozent bis 2050 not-
endig ist. Diese Einschätzung wurde von den
ührenden Wissenschaftlern der Welt immer wieder be-
tätigt.
SPD und Grüne haben sich vorgenommen, bis 2020
ie Emissionen in Deutschland um 40 Prozent zu sen-
en, wenn sich die EU zu einer Senkung um 30 Prozent
erpflichtet. Außerdem – auch das können Sie dem
eutigen Antrag entnehmen – wollen wir die Initiati-
en anderer europäischer Staaten, zum Beispiel die
chwedens und Großbritanniens, bis 2050 die Emissio-
en in der EU um 60 Prozent zu senken, aufgreifen und
u einer gemeinsamen europäischen Initiative weiter-
ntwickeln.
Ich erinnere an das Zitat des Chefs von BP Deutsch-
and: Die Wirtschaft will diese langfristigen Perspekti-
en. Sie will wissen, in welche Richtung sie investieren
oll, weil sie Wirtschaftsgüter benötigt, die über 30 oder
0 Jahre abgeschrieben werden müssen.
Wir wollen auch die Entwicklungs- und Schwellen-
änder in den Klimaschutz einbinden. Wir bekennen uns
n unserem heutigen Antrag dazu, dass in dieser Frage
uf lange Sicht weltweit nur ein für alle Menschen glei-
hes, einziges Recht existieren kann. Niemand kann sich
uf Dauer das Recht herausnehmen, mehr Treibhausgase
mittieren zu dürfen als Menschen in anderen Regionen
ieser Welt.
enn die Industriestaaten dieses Bekenntnis abgeben,
ird dies die Entwicklungs- und Schwellenländer dazu
ewegen, ebenfalls Verpflichtungen im Rahmen des Kli-
aschutzes zu übernehmen.
Wenn das die Entwicklungs- und Schwellenländer
un, hat das einen weiteren Vorteil; denn das Nichtein-
inden der Entwicklungs- und Schwellenländer war im-
er ein von den Vereinigten Staaten vorgetragenes
rgument dafür, sich nicht an den weltweiten Anstren-
ungen zum Klimaschutz zu beteiligen. Dieses Argu-
ent wäre weg. Wir sollten dann nicht in dem Druck
13422 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Ulrich Kelber
nachlassen, darauf hinzuwirken, dass die USA entweder
das Kioto-Protokoll oder spätestens die Nachfolgever-
einbarungen ebenfalls ratifizieren und als weltweit größ-
ter Emittent ihrer Verantwortung an dieser Stelle nach-
kommen.
Ich möchte dazu einen weiteren Vorschlag machen.
Um den Druck weiter zu erhöhen, sollte die Europäische
Union anbieten, dass einzelne Bundesstaaten der USA
dem europäischen Emissionshandel beitreten können.
Denn auf der Ebene der Bundesstaaten gibt es einen gro-
ßen Widerspruch zur Klimaschutzpolitik von George
Bush. Diese Kritik muss gestärkt werden, um an dieser
Stelle zu einem anderen Ergebnis zu kommen.
Beruhigend ist in diesem Zusammenhang, dass es die
US-Wirtschaft ist, die beginnt, den Druck auf den Präsi-
denten zu erhöhen. Denn sie befürchtet erstens, nicht mit
wettbewerbsfähigen Produkten auf dem Weltmarkt auf-
treten zu können. Zweitens achten die weltweit agieren-
den Investmentfonds, die zur Refinanzierung der wirt-
schaftlichen Tätigkeit dienen, immer stärker darauf, ob
eine Firma auf eine Welt mit mehr Klimaschutz vorbe-
reitet ist. In dieser Hinsicht bekommen die amerikani-
schen Unternehmen immer schlechtere Noten und damit
Probleme mit ihrer Refinanzierung. Von daher beginnt
auch das Weltfinanzsystem, den Klimaschutz stückweise
zu unterstützen.
Die Enquete-Kommission des Bundestages hat nach-
gewiesen, dass Klimaschutz keine wirtschaftlichen
Nachteile mit sich bringt. Im Gegenteil, mit dem Emis-
sionshandel, der Förderung erneuerbarer Energien und
auch dem fortzuschreibenden Klimaschutzprogramm ha-
ben wir effiziente Instrumente. Wir werden aber neue
Instrumente entwickeln müssen. Ich schlage zum Bei-
spiel vor, dass man von dem japanischen Beispiel lernt
und ein deutsches und europäisches Top-Runner-Pro-
gramm einführt. Das heißt, man identifiziert die wich-
tigsten Energie verbrauchenden Produkte – PCs, Klima-
anlagen, Kühlschränke, Autos – und schreibt vor, dass
jedes Produkt innerhalb kürzester Zeit den Energieeffi-
zienzstandard des zu dem Zeitpunkt effizientesten Pro-
dukts erreichen muss. Es wird also etwa in 2004 gesagt:
In 2010 darf kein PC mehr verkauft werden, der nicht
wenigstens die Energieeffizienz des besten PCs des Jah-
res 2004 erreicht. Die Japaner werden dies tun und allein
damit ihre CO2-Emissionen vermutlich um 16 Prozent inden nächsten 15 Jahren reduzieren.
Klimaschutz bietet also neue Produkte, neue Jobs,
neue Möglichkeiten und mehr Nachhaltigkeit. Der Kli-
maschutz ist eine große Chance. Diese Chance müssen
wir beherzt und konsequent ergreifen.
Vielen Dank.
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Das ist auf der einen Seite ein Verdienst des Deut-
chen Bundestages, dessen Enquete-Kommission zum
chutz der Erdatmosphäre schon vor 14 Jahren für eine
onsequente Klimaschutzpolitik votiert hat. Die Ver-
andlungen über das Kioto-Protokoll wurden allesamt in
en 90er-Jahren begonnen und 1997 beendet, unter Re-
ierungsbeteiligung der FDP. Herr Minister Trittin, da
ie hier heute Morgen ausgeführt haben, dass die Unter-
chrift Russlands auch ein Erfolg der jetzigen Regierung
ar, hätten Sie dazusagen sollen, dass das auch ein Er-
olg der parlamentarischen Bemühungen war; denn hier
aben sich vor allen Dingen die Parlamente – auch der
mweltausschuss des Deutschen Bundestages – einge-
chaltet und Gespräche geführt. Deshalb ist das ein Ge-
amterfolg der Parlamente auf der Welt.
Jetzt ist von entscheidender Bedeutung, dass der
ioto-Prozess in Gang gehalten wird und dass weitere
änder, insbesondere die USA, dazu bewogen werden,
er Kioto-Gemeinschaft beizutreten. Es müssen recht-
eitig tragfähige Konzepte für das Kioto-Protokoll und
eine Instrumente auch für die Zeit nach 2012 entwickelt
erden. Ich kann Ihnen vonseiten der FDP weiterhin
ine konstruktive Zusammenarbeit anbieten. Ich muss
hnen aber sagen, Herr Minister Trittin, dass ich erwartet
ätte, dass Sie hier heute Morgen etwas dazu sagen, wie
ie auf internationaler Ebene in den Klimaverhandlun-
en weiter verfahren wollen. Da Sie das nicht getan ha-
en, wird die FDP-Bundestagsfraktion für die nächste
itzung des Umweltausschusses einen Bericht anfor-
ern, damit Sie uns Rede und Antwort stehen und uns
agen, wie Sie diesen internationalen Prozess befördern
ollen.
Sie haben ja so schön gesagt, Herr Trittin, dass
eutschland der Hauptarchitekt der internationalen Kli-
apolitik sei. Leider kann man nicht behaupten, dass
ies unter Ihrer Ressortverantwortung zutrifft. Wenn ich
ir anschaue, wie die Bedingungen in Europa zustande
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13423
)
)
Birgit Homburger
gekommen sind, dann muss ich feststellen, dass
Deutschland dies nicht wirklich beeinflusst hat. Die Vo-
raussetzungen zur Nutzung der flexiblen Instrumente des
Kioto-Protokolls – Joint Implementation, CDM und
Kohlenstoffsenken – sind in Deutschland nach wie vor
nicht geschaffen. Die FDP hat hier in den letzten Jahren
in insgesamt acht Anträgen konkrete Vorschläge unter-
breitet. Wir haben Ihnen Vorschläge gemacht, wie wir
Deutschland auf den Emissionshandel und die Absen-
kung von Emissionen vorbereiten können. All diese An-
träge haben Sie mit den Stimmen von Rot-Grün abge-
lehnt.
Ich habe mit Verwunderung das große Lob, das Sie
heute Morgen dem Emissionshandel erteilt haben, zur
Kenntnis genommen. Ich kann mich noch gut erinnern,
wie lange Sie sich dagegen gesträubt haben, den Emis-
sionshandel in Deutschland einzuführen. Letztendlich
wird der Emissionshandel in Deutschland durch den
Zwang der EU zum 1. Januar nächsten Jahres eingeführt.
Wenn es nach uns gegangen wäre, wäre dieses effiziente
Instrument zur Erreichung von Klimaschutzzielen in
Deutschland sehr viel früher eingeführt worden.
Die FDP bekennt sich dazu, dass wir auch auf natio-
naler Ebene Anstrengungen unternehmen und verstärken
müssen, um zu einem wirksamen und auch wirtschaftli-
chen Klimaschutz zu kommen. Dazu muss für Deutsch-
land allerdings ein schlüssiges Gesamtkonzept unter
Einbeziehung aller Instrumente und Sektoren erarbeitet
werden. Im Augenblick gilt der Emissionshandel nur für
die Industrie. Wir haben Sie aufgefordert, dieses Instru-
ment auf die Bereiche Verkehr und Haushalte auszuwei-
ten. Wir brauchen ein schlüssiges Gesamtkonzept. Das
von Ihnen angekündigte überarbeitete Klimaschutzpro-
gramm liegt immer noch nicht vor.
Ihre Aussage, Sie wollten sich für eine Emissionsmin-
derung innerhalb der EU um insgesamt 30 Prozent und
– unter dieser Voraussetzung – in Deutschland um
40 Prozent einsetzen, ist, Herr Minister Trittin, ein hilf-
loser Versuch, zu überdecken, dass Sie für Deutschland
kein klimapolitisches Gesamtkonzept haben.
Wir brauchen Energieeinsparungen, wir brauchen An-
strengungen zur Steigerung der Energieeffizienz und wir
brauchen Anstrengungen im Bereich der erneuerbaren
Energien. Aber das, was bis jetzt vorliegt, ist Stückwerk.
Wir brauchen in Deutschland ein Energiegesamtkonzept.
Wir haben auch dazu einen Antrag vorgelegt.
Herr Minister, Sie haben gesagt, dass die Abhängig-
keit vom Öl verringert werden soll. Sie haben aber nicht
gesagt, dass auch die Abhängigkeit vom Gas verringert
werden soll. Sie haben im Zusammenhang mit dem
Emissionshandel Anreize für eine verstärkte Nutzung
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ie Nutzung von Gas und Öl aus Russland in Deutsch-
and zu stärken und eine Initiative zu ergreifen für ein
eutsches Finanzkonsortium zur Beteiligung an dem lu-
rativen Gasgeschäft in Russland? Sehr verehrter Herr
inister Trittin, ich bin der Meinung, dass diese Bun-
esregierung hier einen großen Fehler macht. Sie erhö-
en damit zum einen die Abhängigkeit von einer be-
timmten Region. Zum anderen – das ist für uns ein ganz
esonderer Punkt – ist die Firma Jukos in Russland ent-
ignet worden; dem bisherigen Eigentümer wird ein
echtsstaatswidriger Prozess gemacht. Wenn dann die
eutsche Bundesregierung dazu auffordert, das Kern-
tück dieses Konzerns zu kaufen bzw. sich daran zu be-
eiligen, ist das aus deutscher Sicht nicht nur klimapoliti-
cher, sondern auch energiepolitischer Unsinn. Das ist
or allen Dingen auch unter dem Gesichtspunkt der
ahrung der Menschenrechte ein unmögliches Verhal-
en dieser Bundesregierung.
Sie verkennen, dass in wenigen Jahrzehnten mehr als
ie Hälfte aller Treibhausgasemissionen in Schwellen-
nd Entwicklungsländern auftreten werden. Mit fle-
iblen Instrumenten könnten wir hier eine kostengüns-
ige Reduzierung der Emissionen erreichen. Gerade in
iesen Ländern gibt es riesige Potenziale für die Sen-
ung von Emissionen, und zwar sowohl ökologisch als
uch ökonomisch, weil man dort die Emissionen zu
eutlich niedrigen Kosten mindern kann. Da das Welt-
lima an Grenzen nicht Halt macht, sollten wir dieses
otenzial endlich nutzen. Dazu kann ich Ihnen nur sa-
en: Hier haben Sie versagt! Andere Länder in Europa
aben aufgrund des Kioto-Protokolls bereits heute Ver-
inbarungen getroffen, damit diese flexiblen Instrumente
ur Reduzierung von Klimagasemissionen genutzt wer-
en können. Dazu gehören die Niederlande, Österreich,
änemark und Norwegen. Ich könnte Ihnen auch noch
ndere Länder aufzählen. Dazu kann ich Ihnen nur sa-
en: In Deutschland ist all das noch nicht gemacht wor-
en. Es hätte aber gemacht werden müssen. Hier haben
ie schlicht und ergreifend versagt.
13424 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Birgit Homburger
Deswegen ist es von entscheidender Bedeutung, dass
die Bundesregierung mit geeigneten Schwellen- und Ent-
wicklungsländern baldmöglichst in Verhandlungen über
zwischenstaatliche Übereinkommen zur gemeinsamen
Durchführung von Klimaschutzprojekten tritt. Das ist die
Voraussetzung dafür, dass deutsche und ausländische
Unternehmen gemeinsam diese Emissionsminderungen
auf rechtlich sicherem Boden durchführen können.
Dabei geht es im Übrigen nicht darum, dass die
Schwellen- und Entwicklungsländer, wie Sie es ausge-
drückt haben, nicht dieselben Fehler machen wie wir,
sondern darum, dass wir Technologietransfer gewähr-
leisten, was mit den Instrumenten des Kioto-Protokolls
auf hervorragende Weise möglich ist. Auf der einen
Seite können wir in diesem Bereich Technologie- und
Kapitaltransfer durchführen, auf der anderen Seite Ent-
scheidendes für das Weltklima erreichen. Deswegen
wollen wir, dass diese Instrumente endlich auch in
Deutschland genutzt werden.
Wir fordern Sie auf, unverzüglich einen Gesetzent-
wurf zur Umsetzung der europäischen Richtlinie, der so
genannten Linking Directive, vorzulegen, die am
13. November dieses Jahres in Kraft getreten ist. Darin
wird festgelegt, dass genau diese Instrumente zur Redu-
zierung der Kosten beim Klimaschutz auch in Deutsch-
land genutzt werden können. Sie haben jetzt ein Jahr
Zeit, um diese Richtlinie umzusetzen. Ich hoffe, Sie wer-
den dieses eine Jahr nicht brauchen. Sie wissen nämlich
schon seit langem, dass diese Richtlinie umgesetzt wer-
den muss. Daher fordern wir Sie auf, sofort einen ent-
sprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.
Frau Kollegin, ich muss Sie bitten, zum Ende zu kom-
men.
Herr Präsident, Klimaschutz ist eine nationale und
eine internationale Herausforderung. Wir werden sie nur
gemeinsam meistern können. Die FDP wird sich weiter-
hin konstruktiv daran beteiligen. Herr Minister Trittin,
machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben! Wir feiern das
In-Kraft-Treten des Klimaschutzprotokolls. Diese Bun-
desregierung allerdings kann man in keiner Weise feiern.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Reinhard Loske,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-
or ich zu meinen Ausführungen komme, will ich kurz
em Kollegen Lippold und der Kollegin Homburger ant-
orten. Herr Lippold, ich finde es gut, dass in diesem
ohen Hause in Sachen Klimaschutzpolitik offenbar
ach wie vor ein breiter Konsens besteht. Auch finde ich
s richtig, dass man sich, wenn man ein Ziel wie das
005-Ziel verfehlt, darüber Gedanken macht, warum das
eschehen ist, und dass man darüber Rechenschaft ab-
egt. Aber ich finde es unstimmig, wenn Sie einerseits
eklagen, dass das 2005-Ziel nicht erreicht worden ist,
ndererseits aber jede Klimaschutzmaßnahme, die wir
orschlagen, ablehnen. Das passt vorne und hinten nicht
usammen.
Nun zu Ihnen, Frau Homburger. Sie haben wieder das
ohelied der flexiblen Instrumente gesungen und von
lean Development Mechanism und Joint Implementa-
ion gesprochen. Für die Zuhörerinnen und Zuhörer sage
ch: Das bedeutet im Wesentlichen, dass man Klima-
chutz außerhalb der eigenen Landesgrenzen betreibt,
eil es dort angeblich billiger ist.
nser Ansatz ist ein anderer. Wir wollen, dass ökologi-
che Innovationen und Strukturwandel hier geschehen,
eil wir glauben, dadurch auf den Weltmärkten der Zu-
unft ganz vorne zu sein. Deswegen brauchen wir hier
m Lande Strukturwandel und Innovationen. Bitte folgen
ie uns auf diesem Pfad! Das wäre vernünftig.
Sie haben über unsere Abhängigkeit von Öl und
as gesprochen – hier stimme ich Ihnen voll zu –, die zu
roß ist. Beim Öl beträgt sie über 90 Prozent, beim Gas
5 Prozent. Diese Abhängigkeit wird noch stärker wer-
en. Die Diversifizierungsstrategie, der zufolge wir un-
ere Energie aus verschiedenen Bezugsländern bekom-
en, ist zwar richtig, aber nur begrenzt möglich. Denn
iese Ressourcen konzentrieren sich nun einmal in einer
estimmten Region der Welt; das ist so. Übrigens habe
ch nichts gegen Turkmenistan. Bei Ihnen klang im Un-
erton immer mit: Ausgerechnet Turkmenistan! Meine
üte, die Gasressourcen sind nun einmal dort. Die beste
ersicherung gegen eine allzu große Abhängigkeit von
l und Gas – hier sollten wir uns einig sein – ist Energie-
insparung. Daran müssen wir arbeiten.
Jetzt komme ich auf die Rahmenbedingungen der Kli-
apolitik zu sprechen. Es ist sehr wichtig, dass das
ioto-Protokoll am 16. Februar 2005 in Kraft tritt. Es ist
ine gemeinsame Anstrengung von Bundesregierung
nd Bundestag gewesen, sich dafür einzusetzen; das war
ichtig. Denn auch in diesem Hause hat es Leute gege-
en, die eine andere Tonlage angestimmt haben und für
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13425
)
)
Dr. Reinhard Loske
den Fall, dass das Kioto-Protokoll nicht in Kraft tritt,
über einen Plan B nachdenken wollten. Manche haben
gesagt, das wird sowieso nicht kommen, oder das still-
schweigend gehofft. Man kann nur sagen: Es ist gut,
dass wir in dieser Sache einen langen Atem gehabt ha-
ben. Man kann nur all denjenigen danken, die sich dafür
eingesetzt haben. Denn ohne das In-Kraft-Treten des
Kioto-Protokolls – darüber müssen wir uns im Klaren
sein – wäre der Klimaschutzprozess erlahmt; das wäre
ganz schlimm gewesen.
Zum nationalen Klimaschutzprogramm. Auch das
ist eine Randbedingung, die wir sehr ernst nehmen müs-
sen. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie uns
sehr bald sagt, was sie zu tun gedenkt, um das Klima-
schutzziel zu erreichen. Ich sehe ein ganz großes Hoff-
nungszeichen darin – Uli Kelber hat es bereits angespro-
chen –, dass die Briten sowohl die Präsidentschaft in der
EU als auch die bei der G 8 übernehmen. Es ist ein Zei-
chen von strategischer Außenpolitik, wenn Blair jetzt
sagt, dass er die G-8-Präsidentschaft vor allen Dingen
nutzen will, um den Klimaschutz voranzubringen und
das mit dem Thema Afrika, also der Nord-Süd-Gerech-
tigkeit, zu verknüpfen – das ist genau der richtige An-
satz –, und wenn er sagt, er will die EU-Ratspräsident-
schaft dafür nutzen, dass wir uns Gedanken über die
zweite Verpflichtungsperiode ab 2012 machen. Ferner
meint er, dass der Luftverkehr endlich in das Klima-
schutzregime einbezogen werden soll. Es kann doch
nicht angehen, dass ein Bereich mit einer derartigen Dy-
namik systematisch ausgespart wird.
Das sind sehr positive Vorschläge und da mache ich
mir eine Menge Hoffnung. Ich glaube, wir können es uns
in der Tat nicht mehr leisten, den Luftverkehr aus dem
Kioto-Regime und dem EU-Klimaschutzregime heraus-
zulassen – er gehört hinein. Es wird einen Wettbewerb
um die besten Instrumente geben, also ob es der Emis-
sionshandel sein soll, wie die Briten meinen, oder eher
fiskalische Elemente, die wir bevorzugen. Man wird se-
hen. Aber klar ist: Da muss etwas passieren. Ich be-
trachte das als positiven Wettbewerb zwischen Großbri-
tannien und Deutschland um die Vorreiterrolle im
europäischen Klimaschutz; das sehe ich mit einer gewis-
sen Freude. Diese Art von Wettbewerb finde ich sehr
gut. Wenn zwei so große Staaten wie Großbritannien und
Deutschland das Thema auf der Agenda so weit nach
oben setzen, dann kommt der internationale Klima-
schutzprozess in Europa und in den Vereinten Nationen
hoffentlich voran.
Zu den Rahmenbedingungen noch Folgendes: Wir
hatten in den 70er-Jahren eine sehr starke Debatte über
die Endlichkeit der Ressourcen. Die Sorge stand im Vor-
dergrund, dass uns die Ressourcen ausgehen, vor allen
Dingen Öl und Gas. In den 80er- und 90er-Jahren wurde
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Uli Kelber hat gemeint, wir sollten nicht die negativen
inge in den Vordergrund stellen. Ich will trotzdem, um
och einmal klar zu machen, wie wichtig es ist, dass wir
etzt handeln, ein paar Meldungen der letzten Wochen
nd Monate aufgreifen. Wenn wir abstrakt reden – die
limaforschung sagt dieses und jenes; die Wetterextreme
ehmen zu –, ist das zwar richtig, klingt aber auch irgend-
ie leblos. Deswegen werde ich ein paar konkrete Dinge
ennen: Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisa-
ion sterben schon heute jährlich mehr als 150 000 Men-
chen an den Folgen des Klimawandels; eine sehr trau-
ige Zahl, wie ich finde.
Das Internationale Komitee für Arktiswissenschaften
nd der Arktis-Rat haben eine gemeinsame Studie vor-
elegt, in der sie zu dem Schluss gekommen sind, dass
ie Arktis in besonderer Weise anfällig ist für die globale
rderwärmung. Die Wissenschaftler befürchten, dass die
isbären in der Arktis aussterben werden; das halte ich
ür eine sehr traurige Nachricht, übrigens auch für meine
inder, für viele Kinder.
Die Universität Zürich hat eine Studie vorgelegt, nach
er zwischen 1985 und 2000 die Gletscher in der
chweiz bereits 18 Prozent ihrer Fläche verloren haben;
n den gesamten Alpen sind es 22 Prozent gewesen.
Der Deutsche Wetterdienst hat vor wenigen Tagen
rklärt: Nach Einschätzung der Klimaforscher könnten
ie Jahresdurchschnittstemperaturen in Deutschland bis
um Jahr 2100 von heute 8,3 Grad Celsius auf rund
1 Grad Celsius steigen. Die damit verbundenen nasse-
en Winter und trockeneren Sommer würden zu mehr
ochwasser im Winter und größerem Wassermangel im
ommer führen. Wir haben es also mit fundamentalen
eränderungen zu tun.
Ich hatte eigentlich gehofft, Herr Brüderle wäre auch
ier; für ihn habe ich eine besonders traurige Nachricht
erausgesucht: Dietmar Rupp von der Staatlichen Lehr-
nd Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau in Baden-
ürttemberg warnt davor, dass infolge des Klimawan-
els die Eisweinlese in Deutschland völlig ausfallen
önnte. Der Eiswein, ein hohes Kulturgut, wird also
öglicherweise auch verschwinden. Das ist eine
chlimme Nachricht, nicht nur für Herrn Brüderle, son-
ern für uns alle.
13426 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Dr. Reinhard Loske
Im zweiten Teil meiner Ausführungen möchte ich et-
was zu unserem Antrag sagen. Was sind die Kernele-
mente des Antrages? Zunächst einmal ist es für uns ganz
wichtig, dass sich Deutschland das Ziel setzt, den Aus-
stoß seiner Klimagase bis 2020 um 40 Prozent zu redu-
zieren. Wir wollen, dass die Bundesregierung in der
Klimaschutzstrategie Pfade dafür aufzeigt, wie dieses
Ziel erreicht werden kann. Das ist eine sehr zentrale For-
derung von uns. Gleichzeitig wollen wir, dass sich die
Bundesregierung in Brüssel dafür einsetzt, dass der Aus-
stoß bis 2020 EU-weit um 30 Prozent reduziert wird.
Frau Homburger, Sie sprachen vorhin von einem Ablen-
kungsmanöver. Das ist völliger Blödsinn. Wir alle wis-
sen, dass wir gemeinsam handeln müssen. Die EU der 25,
also nach der Erweiterung um die neuen Beitrittsländer,
bietet ganz andere Einsparmöglichkeiten als die alte EU
der 15. Diese Potenziale müssen und wollen wir aus-
schöpfen.
Zweiter wichtiger Punkt unseres Antrages. Wir müs-
sen Vorreiterallianzen schmieden. Die Länder, die ge-
meinsam handeln wollen, sollen das auch tun. Man sollte
nicht darauf warten, bis auch der Letzte noch auf den
Zug aufspringt. In dem weiten Feld zwischen nationalen
Alleingängen und vollständiger Harmonisierung gibt es
sehr viele Handlungsmöglichkeiten. Gleichgesinnte kön-
nen gemeinsam handeln. Wir benötigen im Klimaschutz
Koalitionen der Willigen.
Den dritten Punkt, der in diesem Antrag für uns sehr
wichtig ist, möchte ich als „gerechtigkeitsorientierten
Klimaschutz“ bezeichnen. Mit dem Ansatz, der besagt,
wer viel emittiert, der erhält auch viele Emissionsrechte,
und wer wenig emittiert, der erhält auch nur wenige
Emissionsrechte, werden wir die Entwicklungsländer
niemals ins Boot der internationalen Klimapolitik holen
können. Das wäre nicht nur unmoralisch, sondern auch
unrealistisch. Es ist aber ganz zwingend, dass wir sie ins
Boot holen. Deswegen schlagen wir in unserem Antrag
den Ansatz vor, dass alle Erdenbürgerinnen und Erden-
bürger langfristig die gleichen Pro-Kopf-Rechte haben;
denn dieses Gerechtigkeitskriterium ist eine wichtige
Voraussetzung dafür, dass die Entwicklungsländer hin-
zukommen.
Im Englischen wird es mit „contract and converge“
bezeichnet. Die Industrieländer müssen ihre Emissionen
also senken und die Emissionen der Entwicklungsländer
dürfen zwar noch moderat wachsen, aber es gibt eine
Obergrenze, ein Cap, die nicht überschritten werden
darf. Das zusammengenommen könnte dazu führen, dass
die Blockade der internationalen Politik überwunden
wird. Uli Kelber sprach es bereits an: Das war immer ei-
ner der Haupteinwände des US-Senats. Er hat nämlich
gesagt, man brauche die Einbeziehung der Entwick-
lungsländer. Mit dem, was wir hier vorschlagen, bezie-
hen wir die Entwicklungsländer mit ein, stellen aber
gleichzeitig klar: Die Hauptverantwortung – das richtet
sich an die USA – tragen natürlich die Industrieländer;
denn sie haben das Problem verursacht. Deswegen müs-
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In dieser Angelegenheit sehe ich in den USA durch-
us auch den einen oder anderen Hoffnungsschimmer.
s gibt die Initiative zum Emissionshandel der Senato-
en McCain und Lieberman, die im Senat, ich glaube,
ber 40 Stimmen bekommen hat. Wir sehen, dass die
merikanische Öffentlichkeit die Ergebnisse der Arktis-
tudie und anderer Studien mit Erschrecken zur Kennt-
is nimmt und dass sich in vielen US-Bundesstaaten
New York State, Kalifornien und andere – in Sachen
limaschutz durchaus eine ganze Menge tut. Das heißt,
ie USA sind kein verlorenes Land in Sachen Klima-
chutz. Ich muss zwar leider sagen, dass von der Bun-
esebene im Moment wenig zu erwarten ist; die Ebene
arunter ist aber durchaus agil. Bezogen auf die Bundes-
bene versprechen wir uns von den guten Beziehungen
wischen Blair und Bush bzw. zwischen Großbritannien
nd den USA eine gewisse Belebung des transatlanti-
chen Klimadialogs.
Zum Thema Joint Implementation und CDM, die hier
ereits angesprochen wurden. Es ist klar, dass wir diese
nstrumente nutzen wollen und dass wir es unserer Wirt-
chaft ermöglichen müssen, dass sie sie nutzt. Für uns ist
ber auch klar, dass wir hohe Qualitätsstandards brau-
hen. Es muss sicher sein, dass es hier keinen Miss-
rauch gibt. Deswegen halte ich eine Orientierung an ei-
em goldenen Standard, also an der besten verfügbaren
echnologie, zumindest dort, wo öffentliche Mittel flie-
en, für das Allermindeste, was wir anstreben sollten.
Grundsätzlich sind wir ohnehin der Meinung, dass
an von dem Denken wegkommen muss, es sei alles nur
ine Bürde, eine Last und ein Kostenfaktor. Wir müssen
iel stärker die Chancen sehen und die Herausforderun-
en begreifen; denn es ist doch ganz offenkundig, dass
er Klimaschutz der Innovationsmotor der Zukunft wer-
en kann und muss.
Wir glauben, dass derjenige, der auf die Fragen Ant-
orten hat, wie man Öl oder auch ganz allgemein fossile
nergieträger am besten ersetzt und wie man das Klima
m besten schützen kann, auch den größten wirtschaftli-
hen Erfolg haben wird, und zwar deshalb, weil er auf
en Weltmärkten der Zukunft ganz vorne mitspielen
ird. Wir wollen das und wir hoffen, dass das ein ge-
einsames Anliegen des Hohen Hauses ist.
Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Paziorek, CDU/
SU-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13427
)
)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn am 16. Februar des nächsten Jahres erstmals völ-
kerrechtlich verbindlich ein Klimaschutzsystem in Kraft
tritt, das verbindliche Verpflichtungen zur Treibhausgas-
reduzierung vorgibt, dann ist das ein Meilenstein für den
internationalen Klimaschutz. Gerade wir als Umweltpo-
litiker müssen klar und deutlich sagen: Das ist wahrhaft
ein historischer Schritt. Wir als Union freuen uns, dass
wir seit 1990 auch international in den verschiedenen
Positionen daran mitgewirkt haben, einen solchen Erfolg
im Februar nächsten Jahres zu ermöglichen.
Weil das aus unserer Sicht ein Meilenstein ist, lieber
Kollege Reinhard Loske, möchte ich Sie persönlich an-
sprechen, da Sie zu Beginn völlig zu Recht konstatiert
haben, dass bis jetzt aufgrund der vorliegenden Anträge
und Redebeiträge glücklicherweise festzustellen ist: In
den Grundsätzen der Klimaschutzpolitik gibt es in die-
sem Haus einen großen Konsens. In dem Fall hätten wir
uns als Union gewünscht, dass wir dazu einen gemeinsa-
men Antrag formuliert hätten. Bis 1998 verhielt es sich
so: Wenn wir – ich war mehrfach dabei – auf interna-
tionale Konferenzen mussten, haben wir zuvor als Mehr-
heitsfraktion immer das Gespräch mit der Opposition ge-
sucht, um beim Klimaschutz die gemeinsame Basis
herauszustellen. Wir wollten so deutlich machen, dass
das Parlament in Grundsätzen der internationalen Klima-
schutzpolitik hinter der Regierung steht. Das haben wir
bis 1998 als Mehrheitsfraktion angeboten. Das wissen
Sie, Herr Müller, und auch Sie, Frau Mehl. Wir sind oft
persönlich auf Sie zugegangen.
Deshalb lautet heute unsere kritische Frage: Warum
haben Sie das nicht gemacht, sondern wollen eigene An-
träge durchsetzen? Es wäre besser gewesen, wir hätten
den Konsens in gemeinsamen Anträgen betont. Es wäre
besser gewesen, Sie wären auf uns zugegangen. Damit
wäre dokumentiert gewesen, dass wir dieses Ziel welt-
weit gemeinsam erreichen wollen.
– Herr Kelber, das ist jetzt nur noch Nachkarten. Wenn
Sie hier dazwischenrufen: „Dann hätten Sie uns beim
Emissionshandel ein bisschen mehr entgegenkommen
müssen“,
frage ich Sie: Haben Sie denn immer noch nicht verstan-
den, dass es darum geht, einerseits Grundsätze herauszu-
stellen, um deutlich zu machen, was wir wollen, anderer-
seits um den richtigen Weg zu ringen? Das ist die
Aufgabe des Parlaments. Karten Sie doch nicht mit sol-
chen Zwischenrufen nach!
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Es kann nicht die Aufgabe der Regierung sein, zu er-
lären: Wir als Regierung machen das nicht – das haben
ie gerade gesagt –, sondern das ist Aufgabe der Opposi-
ion. – In dem Fall können Sie auch gleich abdanken und
arauf verzichten, Politik zu machen.
Es gibt leider in den letzten Tagen eine Diskussion in
eutschland über die Frage: Wie viel Klimaschutz kön-
en wir uns in Deutschland vor dem Hintergrund der
irtschaftlichen Entwicklung noch leisten? Zeigen Sie
tzt mit dem Finger bitte nicht auf Wirtschaftsorganisa-
ionen. Sie selbst haben zum Beispiel die Stellungnahme
es neuen Vorstandsvorsitzenden von BP zitiert. Es gibt
tellungnahmen von noch vielen anderen. Man hat
anchmal das Gefühl, als ob einige Wirtschaftsleute viel
eiter sind, als das in der Politik wahrgenommen wird.
ch will darauf abzielen, dass es in der Regierung höchst-
ahrscheinlich keine einheitliche Position gibt; denn
enn ich die Stellungnahme von Herrn Clement im Wirt-
chaftsbericht lese, nämlich dass sich die Wirtschaftspo-
itiker gegen überzogene Standards der Umweltpolitiker
ehren müssten, und wenn ich heute feststelle, dass der
mweltminister sehr stark in seinen Reden betont, dass
eutschland bei den erneuerbaren Energien Weltmeister
st und man in dem Bereich tatsächlich Gutes erreicht
at, wir aber gleichzeitig nirgendwo ein belastbares
13428 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Dr. Peter Paziorek
Energiekonzept finden, das Wirtschaftspolitik und Um-
weltpolitik zusammenführt, dann kann ich nur sagen:
Dieses Konzept gibt es in dieser Regierung höchstwahr-
scheinlich nicht, weil es einen Dissens zwischen denen,
die Wirtschaftspolitik machen, und denen, die Umwelt-
politik machen, also zwischen dem Umweltminister und
dem Wirtschaftsminister, gibt. Sie haben keine Linie und
das müssen wir Ihnen vorwerfen.
Kollege Paziorek, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hustedt?
Gerne.
Herr Paziorek, Sie haben sich mit Ihrem Kollegen
Seehofer im Fraktionsvorstand sehr heftig dafür einge-
setzt, dass die CDU/CSU-Fraktion hier im Bundestag
dem EEG zustimmt. Stimmt es, dass Herr Merz und Frau
Merkel das verhindert haben? Kann man daraus schlie-
ßen, dass in Ihrer Fraktion in dieser Frage diametral ent-
gegengesetzte Positionen vertreten werden?
Frau Hustedt, ich kann Ihnen klar und deutlich ant-
worten: Frau Merkel und Herr Merz haben nichts verhin-
dert.
Das, was Sie hier in der Öffentlichkeit wiedergeben, ist
völlig falsch. Richtig ist, dass sich viele Umweltpoliti-
ker, auch ich, in der Bundestagsfraktion dafür eingesetzt
haben, dass die erneuerbaren Energien eine realistische
Perspektive bekommen. Für uns sind erneuerbare Ener-
gien mehr als nur Windenergie. Das will ich deutlich sa-
gen. Da gibt es andere Ansatzpunkte.
Aber der Ansatz, der dann in der Fraktion gefunden wor-
den ist, ist richtig. Wir alle sagen gemeinsam: Wir wol-
len in 2007/08 prüfen, wie wir den Emissionshandel
und die Förderung der erneuerbaren Energien even-
tuell rechtlich miteinander verbinden können. Das war
der Kompromiss im Fraktionsvorstand. Das war kein
Votum gegen die erneuerbaren Energien. Das war ein
Votum dafür, dass wir zu einem geeigneten Zeitpunkt
eine Zwischenbilanz ziehen, um die Fördermechanismen
eventuell besser aufeinander abzustimmen.
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as ist deshalb so wichtig, weil die Darstellung von Kli-
aschutzmaßnahmen im Kioto-Protokoll als Last – das
st schon in psychologischer Hinsicht nicht vorteilhaft –
m Grunde genommen die Vorbedingung dafür war, dass
nschließend um die Lastenverteilung gefeilscht
urde, und die Hinweise, dass dies ein riesiger Vorteil
st, ständig unter den Tisch fallen und nicht mehr ein we-
entliches Element der Entscheidungsfindung bei sol-
hen Verhandlungen sind.
Das Kioto-Protokoll setzt ein Minimalziel und seine
msetzung bereitet natürlich Probleme. Aber wir müssen
eiter denken; denn die Clean Development Mechanism
13430 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Dr. Hermann Scheer
haben unter anderem den Effekt, dass dieses Minimalziel
zum Maximalziel wird. Schließlich werden ökonomische
Anreize nur für das Erreichen des Minimalziels gegeben.
Deswegen müssen wir – das sollten wir schon in unserem
jetzigen Handeln berücksichtigen – auf der einen Seite
das Kioto-Protokoll umsetzen und auf der anderen Seite
weitere Initiativen vorantreiben. Das ist die zwingende
Schlussfolgerung, die sich aus dem geschilderten objek-
tiven Problem ergibt.
Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang sind
– darüber muss auch auf internationaler Ebene reflektiert
werden – die Kalkulationsmethoden einer optimalen
Kostenallokation für klimaschützende Maßnahmen;
denn diese würden in letzter Konsequenz bedeuten, dass
jedwede Umweltinvestition in Deutschland unverant-
wortlich wäre, weil mit dem gleichen Geld etwa im Se-
negal oder in Thailand mehr CO2-Emissionsreduktionals bei uns erreichbar wäre. Diese gewissermaßen kon-
zeptionell angelegte Konsequenz kann aber niemand
verantwortlich ziehen. Im Kioto-Protokoll sind in dieser
Hinsicht zwar gewisse Bremsen eingebaut worden. Aber
diese gedankliche Prämisse begegnet uns ständig in wirt-
schaftswissenschaftlichen Gutachten. Manche gehen so-
gar so weit und sagen: Aus diesen Gründen sollte man
etwa das Erneuerbare-Energien-Gesetz abschaffen. –
Eine geradezu absurde Konsequenz, die daraus gezogen
wird!
Bei den beschriebenen Kalkulationsmethoden, die zu-
nehmend auch Gutachten von bestimmten Umweltinsti-
tuten prägen, fallen – neben dem Klimaschutz – automa-
tisch andere harte ökonomische Fakten und ethische
Motive flach, die eigentlich zu neuen Initiativen führen
müssen. Die Gesundheitsschäden des herkömmlichen
Energiesystems lassen sich mit CO2-Minderungkalkula-tionen nicht erfassen, ebenso nicht die Sicherheitsvor-
teile, die sich aus einer „Weg vom Öl“-Strategie und der
damit einhergehenden Minderung der militärischen Si-
cherheitskosten ergeben, die sicherlich auch bei uns wei-
ter steigen werden. Im Moment gehen diese Kosten in
den USA und in Großbritannien nicht zuletzt zulasten
des Klimaschutzes und ökologischer Investitionen.
Ein weiteres Problem ist der unglaublich hohe Was-
serverbrauch von herkömmlichen Kraftwerken. Die Ein-
sparung von Wasser durch den Wechsel zu Systemen,
die mit erneuerbaren Energien arbeiten, lässt sich eben-
falls nicht mit CO2-Minderungskalkulationen erfassen.
Schon gar nicht lässt sich das Problem der Entwick-
lungsländer damit lösen. Viele dieser Länder müssen
schon heute mehr für den Import von Erdöl zahlen, als
sie durch den Export überhaupt erwirtschaften. Die Kon-
sequenz ist, dass diese Länder, volkswirtschaftlich gese-
hen, eindeutige Vorteile haben, wenn sie von Ölimporten
zur Produktion heimischer Energieträger, insbesondere
eigener Bio-Treibstoffe – darauf ist ihre Infrastruktur be-
sonders angewiesen –, wechseln.
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Aus diesem Grunde nenne ich ein paar Hinweise, wo
nsatzpunkte liegen könnten.
Ein Ansatzpunkt zur Eindämmung des Energiever-
rauchs im Flugverkehr könnte die WTO sein. Die
teuerbefreiung der Flug- und Schiffstreibstoffe ist ein
larer Fall der Diskriminierung der Verkehrsträger des
andverkehrs; denn die Treibstoffe dieser Verkehrsträ-
er sind besteuert.
nsofern hätte sich die WTO schon längst damit beschäf-
igen müssen. Sie hätte für eine Beseitigung dieser Dis-
riminierung eintreten können, und zwar nicht mit dem
iel, die Treibstoffe des Landverkehrs von der Steuer zu
efreien, sondern mit dem Ziel, auch die Treibstoffe des
chiffs- und des Flugverkehrs zu besteuern.
Ein anderer Ansatzpunkt ist der Energiehandel. Die
TO hätte schon längst im Energiehandel tätig werden
üssen. Wenn sie es nicht von sich aus tut, dann muss
an versuchen, sie dazu zu bringen. Wir haben es heute
it der absurden Situation zu tun, dass der Handel mit
ossilen Energien quasi zollfrei ist, dass aber der Handel
it Energieeffizienztechniken und mit Solarenergietech-
iken teilweise mit Zöllen von bis zu 80 Prozent belegt
t. Wenn wir vorankommen wollten, müsste es eigent-
ch genau umgekehrt sein. Das läge im Interesse aller
änder, nicht zuletzt der Dritten Welt und sogar der eige-
en Exportwirtschaft.
Schließlich sollten wir zwingend die Initiative ergrei-
en – wir sollten nicht warten, wie sich das internationale
ystem, das in dieser Frage bisher versagt hat, dazu ver-
ält –, die Förderung erneuerbarer Energien auf interna-
onaler Ebene zu institutionalisieren. Die Regierungs-
raktionen haben einen entsprechenden Beschluss
efasst. Auch der Koalitionsvertrag enthält dieses Ziel.
uf dem internationalen Parlamentarierforum in Bonn
m 2. Juni parallel zur Konferenz „Renewables 2004“ ist
er Antrag, eine internationale Agentur für erneuer-
are Energien einzurichten, einstimmig, also auch mit
en Stimmen der Kollegen aller Fraktionen aus diesem
ause, verabschiedet worden.
Man kann dies nicht davon abhängig machen, ob das
N-System und die anderen UN-Organisationen damit
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13431
)
)
Dr. Hermann Scheer
einverstanden sind. Sie sind damit nicht einverstanden.
Wenn sie nämlich damit einverstanden wären, dann
müssten sie zugeben, dass sie in dieser Frage das Not-
wendige bisher nicht zustande gebracht haben oder zu-
stande bringen durften, weil ihre Statuten es ihnen unter-
sagen.
Aus diesem Grunde kann man nicht einfach nur auf
die Internationale Energie-Agentur verweisen. Sie hat
gerade einen Zuwachs der Nutzung fossiler Energieträ-
ger um 80 Prozent bis zum Jahr 2050 als unabweisbar
notwendig dargestellt. Es gibt Organisationen, die wie
die IEA für fossile Energien oder wie die Internationale
Atomenergiebehörde für die Mobilisierung und den
Technologietransfer der Atomenergie da sind. Es gibt
auf der institutionellen Ebene nichts Vergleichbares zur
internationalen Mobilisierung erneuerbarer Energien.
Deswegen dringen wir darauf, nun die notwendigen
Schritte zur Umsetzung einzuleiten. Wir müssen hier ini-
tiativ werden; denn wir haben diese Idee entwickelt. Da-
her sollten wir hier voranschreiten und andere mitziehen,
auch wenn sie im Moment noch zögerlich sind. Wenn sie
nicht heute mitmachen, dann machen sie eben morgen
mit.
Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegen Franz Obermeier, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist in
der Tat so, dass in der Klimaschutzpolitik über die Ziel-
setzung offenbar fraktionsübergreifend Konsens besteht.
Insofern war die Regierungserklärung des Bundesum-
weltministers auch wenig angreifbar. Sie enthielt wenige
Einzelheiten und war sehr allgemein gehalten.
Ich möchte auf die Aussagen meines Vorredners zu-
rückkommen. Zur Besteuerung von Kerosin im Flugver-
kehr beispielsweise haben wir in allen Fraktionen ein-
deutige Festlegungen. Die Frage ist nur: Warum sind wir
bei diesem Einzelthema in den zurückliegenden Jahren
– immerhin haben wir seit sechs Jahren einen grünen
Umweltminister – keinen Schritt vorangekommen? Ist
das Untätigkeit oder Unvermögen?
Der Bundesumweltminister hat eine Rede gehalten,
ohne irgendwo einmal eine Quelle für seine Zahlen an-
zugeben. Ich möchte mich auf Zahlen der Internationa-
len Energie-Agentur beziehen. Wenn man diese Zahlen
verinnerlicht, dann erkennt man, dass das Bild in der in-
ternationalen Klimapolitik nicht ganz so rosig ist, wie es
heute gemalt wird.
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ies bedeutet, dass wir in dem genannten Zeitraum welt-
eit insgesamt mit einer Steigerung auf 29,4 Milliarden
onnen zu rechnen haben. Es gibt namhafte Wissen-
chaftler, national und international, die aufgrund dieser
ahlen davon reden, dass das Kioto-Protokoll geschei-
ert ist. In der CDU/CSU-Fraktion gehen wir nicht so
eit. Aber wir müssen diese Problematik sehr wohl kon-
tatieren.
Jetzt komme ich auf die nationale Politik zurück. Wo
leibt der Ansatz der Bundesregierung dafür, innerhalb
er nächsten sechs Jahre eine weltweite Klimapolitik zu
orcieren? Zu Zeiten unserer Regierung, 1993, hat man
n der COP schon eindeutige Zielsetzungen beschlossen:
Verabschiedung und Durchführung von Programmen
nd Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimaverände-
ung“ oder „Entwicklung und Transfer von Techniken
ur Reduktion von Klimagasen“. Meine Damen und
erren von den Regierungsfraktionen, das beschränkte
ich bei Ihnen ausschließlich auf Windenergie und er-
euerbare Energien, was nicht ganz verkehrt ist, aber bei
eitem nicht ausreicht. Sie haben die Forschung und
ntwicklung bei den fossilen Energieträgern fast zum
rliegen gebracht.
Wenn Sie nun den Blick nach China oder Indien rich-
en, um zu sehen, wie dort der Energiehunger gestillt
ird, dann erkennen Sie: Es rächt sich ganz bitter, dass
ir in Deutschland als führende Nation bei der For-
chung und Nutzung fossiler Energieträger nahezu aus-
allen.
Die Technikfeindlichkeit von Rot-Grün treibt hier
anz besondere Blüten.
an beschränkt sich ausschließlich auf das, was – –
Der Emissionshandel, Frau Kollegin, hat nichts mit
echnik und Technologien zu tun. Nur am Rande
13432 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Franz Obermeier
bemerkt: Vor dem Hintergrund dessen, was auf interna-
tionaler Ebene und insbesondere in den genannten Län-
dern in Sachen Kernenergie in den nächsten Jahren alles
passiert, ist es ganz bitter, dass wir uns auch aus diesem
Bereich, wenn es nach Ihnen geht, verabschieden sollen.
– Ich rede allen Energieträgern das Wort, weil der welt-
weite Energiehunger in den nächsten Jahren und Jahr-
zehnten so groß sein wird, dass wir sämtliche Register
zur Erzeugung von Energie – das geht von Treibstoffge-
winnung bis hin zu Stromerzeugung – ziehen müssen.
Herr Dr. Scheer, wir stimmen darin überein, dass wir
unsere Konzepte den Entwicklungs- und Schwellenlän-
dern nicht überstülpen können. Eines muss aber klar
sein: Das, was wir können – das beginnt bei erneuerba-
ren Energien und geht bis zur Kernenergie –, müssen wir
im Sinne eines effektiven Klimaschutzes Staaten auf der
ganzen Welt günstig anbieten.
Im Übrigen wird das im Moment auch auf den Klima-
rahmenkonferenzen so diskutiert. Das können Sie über-
all nachlesen.
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik
Deutschland muss sich öffnen und wieder zur Entwick-
lung der bestmöglichen Techniken zurückkehren, um
sie in Deutschland und in den Ländern, die in den nächs-
ten Jahren eine gewaltige Entwicklung nehmen werden,
einsetzen zu können. Ich habe den Eindruck, dass wir in-
ternational gesehen eine einäugige Politik betreiben,
weil wir uns nicht trauen, Ländern wie China einsatzfä-
hige effiziente Techniken auf der Basis fossiler Energie-
träger anzubieten.
Zum Schluss lassen Sie mich festhalten: Vorbeugen-
der Klimaschutz muss sinnvoll sein. Im Saldo dürfen wir
nur teilweise auf teure Techniken zum Klimaschutz set-
zen. Wir müssen auch immer volkswirtschaftliche As-
pekte im Auge haben.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegin Michaele Hustedt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Das
Jahr 2005 wird ein sehr bedeutsames Jahr für den Klima-
schutz werden: Das Kioto-Protokoll tritt in Kraft und es
beginnt die Debatte über ein Kioto-plus-Abkommen; der
Emissionshandel in Deutschland und in Europa beginnt;
Deutschland wird ein neues Klimaschutzprogramm auf-
legen und Großbritannien hat angekündigt – das wurde
schon gesagt –, während seiner EU- und G-8-Präsident-
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Angesichts der aktuellen Fakten, die uns im Augen-
lick geballt erreichen, sind wir uns, Herr Obermeier,
err Lippold und Herr Paziorek, anscheinend in der sehr
raurigen Analyse einig, dass der Treibhauseffekt schon
ängst zur Wirklichkeit geworden ist und es auch schon
ür unsere Generation und nicht erst für zukünftige weit
eichende Folgen für die Ökologie haben wird, wenn wir
icht sehr schnell und sehr entschieden handeln. An-
onsten könnte ein Umsteuern noch viel teurer werden.
ines möchte ich dabei schon anmerken: Was nützen die
onntagsreden der Umweltpolitiker von der CDU/CSU,
ei denen im Gegensatz zu den Politikern der FDP Hop-
en und Malz nicht ganz verloren sind, wenn sie sich
icht gegen Merz und Merkel durchsetzen
nd dafür sorgen, dass tatsächlich auch aktive Maßnah-
en für den Klimaschutz auf den Tisch gelegt werden?
berzeugen Sie Ihre Fraktionsspitze, dass sie nicht im-
er gegen die erneuerbaren Energien zu Felde zieht, und
elfen Sie uns bei unseren Bemühungen, für Akzeptanz
n der Gesellschaft zu sorgen, Akzeptanz auch dafür,
ass es etwas kostet.
nterstützen Sie uns in der Strategie „Power vom
auer“, in der es um nachwachsende, durch den Land-
irt produzierte Rohstoffe für Treibstoffe, für die chemi-
che Industrie und für Wärme und Strom geht.
Das ist für uns nicht neu, aber in Ihrer Fraktion setzen
ie sich nicht durch.
egleiten Sie konstruktiv den CO2-Emissionshandel!urch diesen Prozess werden Innovationen angestoßen,
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13433
)
)
Michaele Hustedt
damit in der neuen Investitionsperiode für neue Kraft-
werke auf moderne und neueste Technologien gesetzt
wird.
Abschließend möchte ich noch etwas zum Bereich
Wärme sagen, einem Thema, das mir für den Rest der
Legislaturperiode sehr am Herzen liegt. In den anderen
Bereichen haben wir schon sehr viele Maßnahmen be-
schlossen, aber Sie haben alle Initiativen – das wurde
schon gesagt – abgelehnt.
35 Prozent des Primärenergieverbrauchs entfallen auf
das Heizen.
Das bedeutet, wir haben ein gigantisches Einsparpoten-
zial von jährlich 114 000 Terawattstunden. 25 Millionen
Tonnen CO2 pro Jahr könnten hier eingespart werden.Wir könnten damit einen sehr großen Beitrag für den
Klimaschutz leisten. Die Erhöhung der Öl- und Gas-
preise belastet auch die Menschen, die in diesem Jahr
häufig schon 10 oder 20 Euro pro Monat mehr für Heiz-
kosten ausgeben müssen.
18 Milliarden Euro Investitionen wären in diesem Be-
reich nötig. Damit könnten Hunderttausende von Ar-
beitsplätzen geschaffen werden, die nicht exportiert wer-
den können. Es geht dabei um Arbeitsplätze bei
Handwerkern, in der notleidenden Bauindustrie oder in
der Dämmstoffindustrie, bei kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen. Eine Offensive weg vom Öl
brächte uns in eine umweltfreundliche Win-Win-Situa-
tion.
Bei zwei Dritteln aller Häuser, die zurzeit moderni-
siert werden, werden nur Schönheitsreparaturen durchge-
führt. Obwohl an diesen Häusern wegen dieser Arbeiten
sowieso ein Gerüst steht, findet keine Modernisierung im
Hinblick auf energetische Aspekte statt. Das ist ein Skan-
dal und eine Herausforderung, der wir uns stellen sollten.
Auch im Gebäudebereich haben wir mehr gemacht,
als Sie je auf den Weg gebracht haben. Unser CO2-Ge-bäudesanierungsprogramm ist weltweit einmalig und hat
tatsächlich zu 100 000 Sanierungen geführt. Aber es ist
zu wenig.
Ich möchte auch Sie mitnehmen und hoffe, dass wir ge-
meinsam in nächster Zeit Initiativen vorschlagen.
Dazu gehören die ambitionierte und bedarfsgerechte
Umsetzung der Idee des Gebäudepasses und eine Aufsto-
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ann sind Sie allerdings genauso unglaubwürdig wie
isher. Sie werden nur glaubwürdig, wenn Sie bereit
ind, auch in diesem Bereich Schritte voranzugehen.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Kurt-Dieter Grill,
DU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
en! Verehrte Frau Hustedt, die „Sonntagsreden“ – ganz
bgesehen davon, ob man den Sonntag für diesen Be-
riff missbrauchen sollte – gebe ich gerne zurück. Ich
in davon ausgegangen, dass wir heute eine wahrhaftige
ebatte führen, und habe deshalb nicht alle Unterlagen
itgebracht.
Sie haben in Ihrer Rede insbesondere den Gebäudebe-
eich und den Wärmebereich sehr stark aufgeblasen und
ie Situation so dargestellt, als hinge alles davon ab, ob
ir als Opposition mitmachen. Sie haben versucht, da-
on abzulenken, dass der Nachhaltigkeitsrat Ihnen be-
cheinigt hat, dass Sie bei der Energieeinsparung am we-
igsten getan haben. Da sind wir aber mitten im
ebäudebereich und dazu kann ich nur sagen: Sie haben
in Problem geschildert, aber verschwiegen, dass Sie in
en letzten sechs Jahren genau für dieses Problem keine
ösung erarbeitet haben. Das ist Ihre Bilanz.
Mich regt in dieser Debatte am meisten auf, dass Sie
ie Probleme zwar an vielen Stellen richtig beschreiben
auch überhöht –, dass aber das, was Sie an Lösungen
nzubieten haben, in einem krassen Widerspruch zu der
eschreibung der Probleme steht. Ich mache das einmal
n der Rede von Herrn Scheer deutlich: Abgesehen von
er Frage, ob das Steuerkonzept richtig ist, steht die Be-
chreibung, die Herr Scheer hier abgegeben hat, in einem
rassen Widerspruch zu dem, was diese Bundesregie-
ung, dieser Bundeskanzler auf internationalen Konfe-
enzen vorgetragen hat.
Die Kollegin Homburger hat auf Russland hingewie-
en. Wir haben gestern in einer Debatte über die Ukraine
emeinsam demonstriert, worum es uns geht. Aber wenn
ie Russland hier als Erfolgsbeispiel darstellen – wir wer-
en uns mit Russland noch sehr nachhaltig beschäftigen
13434 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Kurt-Dieter Grill
müssen –, dann sage ich Ihnen als Sozialdemokraten: Fra-
gen Sie einmal – ich will das hier jetzt nicht vortragen,
weil mir daran liegt, dass wir über die Frage noch einmal
intern reden; im Übrigen haben Sie sich an dieser Stelle so
verhalten, dass Sie mit uns keinen gemeinsamen Antrag
formuliert haben; zu Amerika würden Sie jeden Tag mit
uns gemeinsam einen Antrag erarbeiten – den Kollegen
Erler, was er aus Moskau in Bezug auf das Kioto-Abkom-
men mitgebracht hat. Ich rate Ihnen dringend dazu. An-
gesichts dessen haben wir alle keine Veranlassung, zu fei-
ern, dass irgendjemand ratifiziert hat. Es stellt sich die
Frage: Nutzen die Russen das Kioto-Protokoll als Instru-
ment für die ökonomische und ökologische Erneuerung
Russlands? Dahinter mache ich – nach den Gesprächen,
die ich in dieser Woche geführt habe – immer noch ein
Fragezeichen.
Im Zusammenhang mit der fossilen Energie sage ich
Ihnen zwei Dinge:
Erstens. Schauen Sie sich einmal die Energiefor-
schungspolitik an. Dann werden Sie zu der Erkenntnis
gelangen, dass es – angesichts der Tatsache, dass die
Kohle in den nächsten 400 Jahren eine bedeutende Rolle
in der Weltenergieversorgung spielen wird, was auch im-
mer Sie hier vortragen – in der Forschung zu fossilen
Energieträgern ein schweres Versäumnis gibt.
Zweitens. Ich kann Ihnen drei, vier Reden des Bun-
deskanzlers beibringen, in denen er sich über die Zu-
kunft der Energieversorgung in Deutschland und in Eu-
ropa auslässt und die Solarenergie sozusagen nach ganz
hinten schiebt. Er spricht sich dafür aus, dass die Kern-
kraftwerke in Deutschland durch Steinkohle- und Braun-
kohlekraftwerke ersetzt werden. Das sind die Reden des
Bundeskanzlers, Ihres Regierungschefs. Sie haben nichts
dazu gesagt, auch heute hier nicht, wie eine konsistente
Politik denn aussehen kann.
Das sagt Ihnen im Übrigen auch der Nachhaltigkeits-
rat: kein Konzept, zu wenig Forschung und zu wenig
Energieeinsparung. Das ist die Kritik des Nachhaltig-
keitsrates unter Vorsitz von Volker Hauff.
Ein Weiteres. Ich bin mit Herrn Loske durchaus ein-
verstanden, wenn er sagt, dass wir das zusammen beden-
ken müssen. Ich bin sehr dafür, auch unter dem Ge-
sichtspunkt der europäischen Politik. Peter Paziorek hat
zu Recht darauf hingewiesen, dass wir, wenn wir glaub-
würdig bleiben wollen, auch als Europäer, uns ange-
sichts dessen, was jetzt an Bilanz vorliegt, nicht als Mus-
terknabe im globalen Maßstab aufspielen dürfen und
dass wir alle, auch unsere europäischen Nachbarn und
nicht nur Amerika, Veranlassung haben, uns um Fort-
schritte zu bemühen.
Wenn wir ein Scheitern der Lissabon-Strategie, der
Wachstumsstrategie, konstatieren müssen, dann stellt
sich doch die Frage: Was tun wir, um die ökonomisch ef-
fizientesten Felder der Klimapolitik zu identifizieren und
als Erste in Angriff zu nehmen,
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Ich erteile das Wort Kollegen Michael Müller, SPD-
raktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
rill, es ist ein Widerspruch, einerseits von Wahrhaftig-
eit zu reden, aber andererseits Einzelpunkte aus dem
usammenhang zu reißen und daraus eine willkürliche
trategie zu entwickeln. Das passt nicht zusammen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13435
)
)
Michael Müller
Ich finde es, ehrlich gesagt, intellektuell unredlich,
wenn man bei einem so großen Problem der Menschheit
wie dem der Klimaänderung vordergründig parteitak-
tisch operiert.
Das hilft uns nicht weiter. Wir hatten in diesem Haus be-
züglich dieser zentralen Zukunftsfrage immer einen brei-
ten Konsens. Man kann ihn auch durch Nickeligkeiten
zerstören. Dagegen wehre ich mich.
Um was geht es? Es geht um den zentralen Punkt,
dass die Menschheit dabei ist, in der Stratosphäre die
Fenster zu schließen. Wir verändern damit ihre Chemie
und Dynamik sowie die Wärmebilanz und den Energie-
haushalt. Dies hat nicht nur zur Folge, dass es auf der
Erde immer wärmer wird, sondern auch, dass sich die
Lebensbedingungen auf der Erde in einer immer größe-
ren Geschwindigkeit gravierend verändern.
Es ist kein – im engeren Sinne – ökologisches Thema.
Es ist vielmehr die zentrale Frage, wie die Zukunft un-
serer Zivilisation gesichert werden kann. Es ist weit
mehr als ein Fachthema. Es ist eine Herausforderung an
die gesamte Menschheit. Denn es geht um die Frage, ob
die industrielle Zivilisation eine Zukunft hat oder nicht.
Darauf kann man nicht mit Klein-Klein antworten.
Aus meiner Sicht gibt es bei der Klimafrage folgende
entscheidende Punkte:
Erster Punkt. Wir erleben, dass sich beim Thema Kli-
maveränderung und nachholende Industrialisierung
unsere Diskussion auf die großen Debatten der letzten
30 Jahre, sozusagen wie in einem Brennglas, fokussiert.
Unsere Welt ist im Kern auf die Industrieländer ausge-
richtet. Dort lebt aber nur ein Viertel der Menschheit.
Diese Strukturen müssen nun auf die restlichen 5 Mil-
liarden bis 6 Milliarden Menschen erweitert werden. Die
bisherigen Strukturen sind aber nicht übertragbar. Wir
müssen also begreifen – das ist eine unglaublich große
Herausforderung –, dass wir eine Welt geschaffen haben,
die aus wenigen reichen und sehr vielen armen Ländern
besteht. Aufgrund der Industrialisierung werden die ar-
men Länder jetzt reicher. Daraus folgt, dass wir mit der
Natur nicht mehr so umgehen dürften, wie wir es bisher
getan haben.
Der zweite Punkt. Es besteht nach wie vor ein hohes
Bevölkerungswachstum in Höhe von 75 Millionen
Menschen pro Jahr. Es ist zwar nicht die entscheidende
Ursache unseres Problems, aber dadurch wird die Pro-
blematik zugespitzt. Nach wie vor verbrauchen die In-
dustrieländer, die ein niedriges Bevölkerungswachstum
haben, überdurchschnittlich viele Ressourcen.
Der dritte Punkt. Wir erleben zum ersten Mal, dass
wir hinsichtlich der Natur an Grenzen stoßen. Seit etwa
500 Jahren ist der Fortschrittsgedanke der Menschheit
auf ein Immer-Mehr, Immer-Schneller und Immer-Hö-
her ausgerichtet. Auf einmal müssen wir feststellen, dass
es Grenzen gibt, die wir nicht überspringen dürfen.
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elche Verantwortungslosigkeit der Politik ist es, wenn
ir trotz unseres Wissens immer erst dann reagieren,
enn eine Katastrophe eingetreten ist? Das können wir
ns bei diesem Thema nicht leisten. Darum geht es.
Drittens. Auch den Punkt „Umgang mit Unwissen-
eit“ halte ich für ungeheuer wichtig. Wir haben es mit
o komplexen Herausforderungen zu tun, dass wir fest-
tellen müssen: In vielen Bereichen kennen wir zwar die
rends der Gefahren. Aber wir können nicht mit Sicher-
eit sagen, ob sie nicht möglicherweise noch sehr viel
chneller und umfangreicher eintreten, als wir es be-
ürchten.
Die internationale Gemeinde der Klimawissenschaft-
r geht bei der Erwärmung von einer Bandbreite zwi-
chen 1,4 und 5,8 Grad bis Ende dieses Jahrhunderts aus.
ahrscheinlich werden es 2,5 Grad sein; aber es kann
uch eine Erwärmung um 5,8 Grad geben. Eine solche
rwärmung kann die Erde überhaupt nicht verkraften.
chon eine Erwärmung um 2,5 Grad ist mehr als das,
as eigentlich verträglich wäre. Aber eine Erwärmung
m 5,8 Grad wäre zum Beispiel für die Ernährungslage
n der Welt undenkbar. Das wäre die Programmierung
on Unfrieden auf der Erde und neuer gewalttätiger
onflikte.
Deshalb können wir uns nicht mit der These zufrieden
eben, die Erwärmung sei ein globales Thema und des-
alb müsse global gehandelt werden. Wenn global unzu-
eichend gehandelt wird, dann kommen wir aus dem Di-
emma nicht heraus. Antworten müssen gegeben
erden. Natürlich wollen wir globale Antworten geben.
ber was machen wir denn, wenn dies schon auf natio-
aler Ebene schwierig ist und wir zu langsam operieren
13436 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Michael Müller
und es auf globaler Ebene erst recht schwierig ist und
wir noch langsamer reagieren?
Es gibt doch gar nichts anderes als die Dreistufen-
strategie, mit der wir begonnen haben, nämlich erstens
national, wo es ökonomisch verträglich und sozial sinn-
voll ist, Vorreiterrollen einzunehmen – es gibt doch gar
keine andere Position –, zweitens in Europa das Feld zu
bereiten, eine gemeinsame Strategie in Angriff zu neh-
men – da sind wir Gott sei Dank ein Stück vorangekom-
men –, und drittens, wo immer es geht, internationale
und globale Verträge abzuschließen.
Zu Letzterem muss man allerdings sagen: Das schei-
tert vielfach an dem Widerspruch zwischen den Interes-
sen der Industrieländer und den Nachholbedürfnissen
der Entwicklungsländer. Wir können das nicht einfach
wegdiskutieren. Es hat auch viel damit zu tun, dass vor
allem die reichen Länder Angst davor haben, etwas zu
verändern, weil sie in der Ökologie nur eine Bedrohung,
nicht aber eine Chance für die Zukunft sehen.
Wir müssen deutlich machen, dass die Ökologie eine
Chance ist. Das ist gerade in der Klimadebatte unsere
Aufgabe.
Ein weiterer zentraler Punkt ist: Wie kann man einen
solchen Paradigmenwechsel hin zum Klimaschutz in ei-
ner Welt hinbekommen, die auf immer kurzfristigere
Entscheidungen ausgerichtet ist? Das zentrale Thema
des Klimaschutzes ist es, in größeren Zeiträumen zu
denken. Aber wir haben vor allem in der Wirtschaftswis-
senschaft eine Eindimensionalität, ein dort vorherr-
schendes Denken, das sich nur an denDreimonatszyklen
der Vierteljahresberichte orientiert. Mit Vierteljahresbe-
richten kann ich die langfristigen Veränderungsprozesse
in der Natur und vor allem in den Klimasystemen nicht
erfassen.
Die Kurzfristigkeit, die die Ökonomie seit einigen Jah-
ren beherrscht, ist gesellschaftspolitisch und ökologisch
das Furchtbarste, was es überhaupt gibt.
Wir müssen uns gemeinsam dagegen wehren. Eine öko-
logische Modernisierung kann keine Kurzfristpolitik
sein, sondern ganz im Gegenteil: Verantwortungsüber-
nahme auch für größere Zeiträume.
Wir müssen weiterhin sagen: Natürlich haben wir als
Nationalstaat eine begrenzte Handlungsfähigkeit; natür-
lich sind die Kohlendioxidemissionen der Bundesrepu-
blik global gesehen relativ gering. Aber ich frage: Kann
das eine Beruhigung sein oder was heißt es, wenn ich
sage: „Wir sind doch nur mit einem geringen Teil betei-
ligt; schauen Sie doch einmal nach China“?
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enn die Modernität der Industriestaaten eine Anpas-
ung an globale Zwänge bedeutet, dann orientiert sich
uch China daran. Modernität muss Innovation bedeu-
en, vor allem auf dem Feld der ökologischen Moderni-
ierung.
enau da sind wir Vorreiter; denn Sie haben überhaupt
icht begriffen, dass eine moderne Energiepolitik eben
icht der Austausch von Energieträgern ist. Es geht nicht
arum, wie Sie jetzt beispielsweise wieder meinen, mehr
tomenergie zu haben.
Nein, moderne Energiepolitik ist etwas völlig ande-
es, nämlich wo immer es geht, Energieumsätze zu ver-
eiden. Das ist ein ganz anderer Ansatz. Dieser Ansatz,
nergieumsätze zu vermeiden, ergibt sich eben nicht nur
us der Wahl der Energieträger, sondern aus dem Ge-
amtkonzept. Es müssen optimale Strukturen geschaffen
erden, um möglichst wenig Energie zu verbrauchen.
50 Jahre lang galt die Philosophie, dass nur mit immer
ehr Energieeinsatz Fortschritt möglich sei. Wir müssen
ie Philosophie entwickeln, dass mit immer weniger
nergie- und Ressourcenverbrauch Fortschritt möglich
ird. Das ist ein anderes Verständnis, ein innovatives
erständnis. Unterstellen Sie uns insofern nicht, wir hät-
en kein Energiekonzept. Wir haben ein anderes Konzept
ls Sie – das richtige Konzept.
Bleiben wir also bei den Fakten. Der natürliche Ge-
alt von Kohlenstoff in der Atmosphäre würde etwa bei
80 Teile auf 1 Million Teile liegen – dieser Wert
tammt aus der Zeit zu Beginn der Industrialisierung,
lso etwa 1850 –; heute liegt dieser Wert, wenn man alle
reibhausgase auf Kohlenstoff umrechnet, etwa bei
30 ppm. Wir wissen, dass eine Erhöhung auf 560 ppm,
lso die Verdopplung gegenüber dem natürlichen Wert,
ine Erwärmung von 2 Grad Celsius bedeutet; das ist in
er Diskussion inzwischen unbestritten. Das heißt, wir
aben auch vor dem Hintergrund der Zeitverzögerung,
ie ich angesprochen habe – Klimaänderungen haben ei-
en Vorlauf von etwa 40 bis 50 Jahren –, nur noch ver-
ammt wenig Zeit, eine Katastrophe zu verhindern. Des-
alb kommt es darauf an, zu begreifen, dass wir
ukünftige Klimaprobleme nur heute verhindern kön-
en. In der Zukunft bleiben die Anpassungskosten. Die
npassungskosten werden jede Ökonomie in ihren Fä-
igkeiten weit überfordern. Wir werden dann nichts
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13437
)
)
Michael Müller
mehr lösen können. Insofern heißt für uns die entschei-
dende Aufgabe, Vorsorge mit moderner Innovationspoli-
tik zu verbinden. Dieser Aufgabe nehmen wir uns an.
Lassen Sie mich in dem Zusammenhang noch etwas
sagen. Viele glauben, die Klimaproblematik sei vor al-
lem ein Thema der tropischen und subtropischen Brei-
ten; ich weiß, Herr Paziorek, Sie glauben das nicht. In
der Zwischenzeit ist aber klar: Die Klimaproblematik
wird zu einer zentralen Herausforderung für Europa,
vor allem für Nordeuropa. Ich will hierzu zum Ab-
schluss nur drei Punkte nennen.
Drei Punkte sind zu viel.
Wenn man sieht, dass sich das Phytoplankton, also die
biologische Pumpe in den Meeressystemen, nach Nor-
den zurückzieht, wenn man sieht, dass sich der Salzge-
halt im Atlantik verändert, wenn man sieht, dass der
Druckwirbel schwächer wird, und wenn man sieht, dass
das so genannte Heinrich-Ereignis, nämlich das Ab-
schmelzen von Gletschern, dramatisch zunimmt, dann
wird man begreifen müssen: Die Klimaproblematik wird
zu einem europäischen Problem. Deshalb ist es keine
Frage unserer Großzügigkeit gegenüber dem Rest der
Welt, es ist eine Frage unseres ureigenen Interesses, Vor-
reiter beim Klimaschutz zu sein und zu bleiben.
Vielen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/
4398. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/
CSU auf Drucksache 15/4382 mit dem Titel „Klima-
schutz-Doppelstrategie – Kioto-Protokoll zu einem
wirksamen Kioto-plus-Abkommen weiterentwickeln
und nationale klimafreundliche Entwicklung konsequent
fortsetzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/4393 mit dem Titel „Das Kioto-Pro-
tokoll national konsequent umsetzen und international
verantwortungsvoll weiterentwickeln“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
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und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zusammenleben auf der Basis gemeinsa-
mer Grundwerte
– Drucksache 15/4394 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Max Stadler, Klaus Haupt, Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Kulturelle Vielfalt – Universelle Werte –
Neue Wege zu einer rationalen Integra-
tionspolitik
– Drucksache 15/4401 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
ie Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Wi-
erspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
er Abgeordnete Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Helmut
chmidt hat vor wenigen Tagen behauptet, es sei ein
13438 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Wolfgang Bosbach
Fehler gewesen, Gastarbeiter aus anderen Kulturkreisen
anzuwerben. Insbesondere eigene Parteifreunde haben
ihn dafür heftig kritisiert. Man kann darüber streiten, ob
diese Aussage in der Sache richtig und politisch vernünf-
tig ist, aber ein solcher Streit ist müßig. Seit Jahrzehnten
leben Menschen aus anderen Kulturkreisen mitten unter
uns. Sie sind längst ein Teil unserer Gesellschaft gewor-
den. Es geht also nicht um die Frage, ob wir mit ihnen
zusammenleben oder zusammenleben wollen, sondern
um die Frage, wie wir das wollen.
Bemerkenswert ist die Äußerung von Helmut
Schmidt auf jeden Fall: Erstens. Wir können nicht jeder
Forderung der Wirtschaft nach mehr ausländischen Ar-
beitskräften nachkommen. Angesichts der dramatischen
Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt müssen wir
uns zunächst darum bemühen, die inländischen Arbeits-
losen in Brot und Arbeit zu bringen, bevor wir weitere
Zuwanderung nach Deutschland organisieren.
Außerdem findet Zuwanderung nie nur auf Arbeitsplätze
statt, sondern immer auch in unsere Gesellschaft. Des-
wegen muss die Integrationskraft unserer Gesellschaft
Maßstab für die Zuwanderung nach Deutschland sein
und diese Integrationskraft ist nicht unbegrenzt.
Zweitens. Unter Integrationsgesichtspunkten ist Zu-
wanderung nicht gleich Zuwanderung. Wenn wir Men-
schen – wie in den vergangenen Jahrzehnten überwie-
gend geschehen – aus anderen Kulturkreisen nach
Deutschland kommen lassen, ist das für Staat und Ge-
sellschaft eine andere Herausforderung als beispiels-
weise die Binnenmigration innerhalb der Staaten der
Europäischen Union.
Drittens. Es gibt im Zusammenhang mit Zuwande-
rung insbesondere aus anderen Kulturkreisen nicht nur
Besorgnis erregende Fehlentwicklungen, sondern es gibt
dramatische Probleme. Diese Probleme muss man offen
ansprechen dürfen, ohne dass sofort reflexartig die Ras-
sismuskeule gezogen wird.
Es kann nicht sein, dass man offenkundige Probleme
nicht anspricht, weil man befürchten muss, sofort mit
dem Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit konfrontiert zu
werden.
In Deutschland leben heute über 3 Millionen Mus-
lime, davon fast 750 000 mit deutscher Staatsangehörig-
keit. Das sind unsere Nachbarn, unsere Arbeitskollegen,
unsere Mitschülerinnen und Mitschüler. Der allergrößte
Teil von ihnen ist friedlich, rechtstreu und bemüht sich
zumindest um Integration in unsere Gesellschaft. Ihnen
müssen wir entgegenkommen. Deswegen ist es richtig,
dass im neuen Zuwanderungsgesetz ein eindeutiger
Schwerpunkt auf dem Bereich der Integration liegt.
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Wenn über den Islam oder über Islamismus gespro-
hen wird, ist eine Differenzierung wichtig. Wir müssen
nterscheiden zwischen dem Islam als Religion, als
laubensgemeinschaft einerseits und dem Islamismus
owie dem religiös motivierten Terrorismus andererseits.
s wird immer wieder gesagt, wir dürften niemanden
nter Generalverdacht stellen. Das ist richtig und deswe-
en tut das auch niemand.
Richtig ist aber auch: Der islamistisch motivierte Ter-
orismus hat seine Wurzeln in religiösem Fanatismus.
er dies leugnet, verschließt die Augen vor der Wirk-
ichkeit. Deswegen müssen wir diesen islamistischen
xtremismus viel entschiedener bekämpfen, als das in
er Vergangenheit der Fall war.
Religionsfreiheit heißt nicht Narrenfreiheit. Reli-
ionsfreiheit heißt nicht Freiheit für religiöse Fanatiker.
n Deutschland leben inzwischen über 30 000 Islamis-
en. Von ihnen gelten gut 3 000 als gewaltgeneigt; sie be-
ürworten also die Anwendung von Gewalt. Oder sie
ind sogar gewaltbereit, das heißt, sie sind bereit, zur
urchsetzung ihrer Ziele selbst Gewalt anzuwenden.
on denen müssen wir uns trennen, lieber heute als mor-
en. Das hat mit Ausländerfeindlichkeit überhaupt
ichts zu tun.
Wir sind ein tolerantes Land. Aber wenn wir das auf
auer bleiben wollen, dann muss gelten: keine Toleranz
egenüber Intoleranten und kein Wegducken, wenn un-
ere religiöse Toleranz dazu missbraucht wird, für eine
slamistische Ordnung zu werben, die exakt diese Tole-
anz abschaffen will.
agegen vorzugehen, das ist nicht nur unser Recht, son-
ern sogar unsere Pflicht. Niemand kann sich auf Reli-
ionsfreiheit berufen, der seine religiöse Überzeugung
azu nutzen will, den demokratischen Rechtsstaat und
en Pluralismus zu zertrümmern, um anschließend auf
iesen Trümmern einen islamistischen Gottesstaat zu er-
ichten.
In Deutschland gibt es fast 3 000 Moscheen und Ge-
etshäuser. Davon gelten etwa 100 als nachrichten-
ienstlich relevant. Daher unsere Forderung: Wir müs-
en genauer hinsehen und hinhören. Wir müssen unsere
ienste und Sicherheitsbehörden so ausstatten, dass sie
n der Lage sind, Gefahren rechtzeitig zu erkennen und
bzuwehren. Der Islamismus ist in erster Linie keine re-
igiöse, sondern eine politische Bewegung. Sein Ziel ist
s, die Trennung von Kirche und Staat aufzuheben,
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13439
)
)
Wolfgang Bosbach
um einen islamistischen Gottesstaat zu errichten.
Nicht Recht und Gesetz einer demokratisch gewähl-
ten verfassunggebenden Versammlung sollen maßgeb-
lich sein, sondern nur der Koran und die Worte und Ta-
ten des Propheten. Dieser islamistischen Ordnung hat
sich nach der Vorstellung der Islamisten jede private Le-
bensführung und jede Staatsgewalt zu unterwerfen. Das
ist eine neue Form von Totalitarismus. Demokratie und
Islamismus sind ein Widerspruch in sich. Das ist ein
Grund dafür, warum es kein islamistisches Land gibt,
das eine Demokratie ist, jedenfalls keine Demokratie in
unserem Sinne. Diese islamistischen Länder sind abso-
lute Monarchien, Diktaturen oder – wie beispielsweise
der Iran – Theokratien.
Für uns muss auch an dieser Stelle gelten: Wehret den
Anfängen! In einer Moschee wurde beispielsweise Fol-
gendes gepredigt – ich zitiere wörtlich –:
Amerika ist ein großer Teufel, Großbritannien ein
kleiner, Israel ein Blut saugender Vampir. Einst wa-
ren die Europäer unsere Sklaven, heute sind es die
Muslime. Dies muss sich ändern. … Wir müssen
die Ungläubigen bis in die tiefste Hölle treiben. Wir
müssen zusammenhalten und uns ruhig verhalten,
bis es soweit ist. … Wir müssen die Demokratie für
unsere Sache nutzen. Wir müssen Europa mit Mo-
scheen und Schulen überziehen.
Solche Sätze kennzeichnen eine Geisteshaltung, die mit
unserer Verfassung unvereinbar ist.
Wer sich in dieser Form äußert, hat sein Aufenthaltsrecht
in Deutschland spätestens am Ende seiner Predigt verlo-
ren.
Wer sich so äußert, der weist sich selbst aus Deutschland
aus.
Wir beschäftigen uns in unserem Antrag sehr intensiv
mit islamischen und islamistischen Glaubenseinrichtun-
gen. Hundertprozentig politisch korrekt ist es sicherlich,
aus einem Gutachten, das das Land Nordrhein-Westfalen
in Auftrag gegeben hat, zu zitieren. Darin geht es um
das, was in den Schulbüchern der berühmten König-
Fahd-Akademie in Bonn-Bad Godesberg steht. Durch
die Schulbücher werden die Kinder auf den „Kampf ge-
gen Ungläubige“ vorbereitet. Nach einer Pressemeldung
heißt es:
So stehe „das Töten nicht unter Tabu, sondern wird,
wenn es um den Glauben geht, für notwendig ge-
halten“. Den Schülern werde „eingetrichtert, dass
der Islam und damit alle Muslime seit den Kreuz-
zügen bis heute durch die Juden und die Christen
existenziell bedroht seien“. Es sei „erste Pflicht ei-
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Bleiben Sie ganz entspannt. – Ich zitiere ihn:
Es schmerzt mich mitzuerleben, mit welchen Diffa-
mierungen die Parteien im Streit um die „Leitkul-
tur“ arbeiten. Diesen Begriff in die Verbindung mit
der unheilvollen deutschen Geschichte von 1933
bis 1945 zu bringen, wie es Marieluise Beck getan
hat, grenzt an Rufmord. Solche Äußerungen gegen
das Konzept der Leitkultur haben eine Wirkung wie
Steine und Gummigeschosse des Hasses im Nahen
Osten. Ich erwarte eine rationale Diskussion über
den Gegenstand.
arüber sollten die Kritiker einmal in Ruhe nachdenken.
Multikulti ist kein Zukunftsmodell, Multikulti ist ge-
cheitert.
enn wir ein friedliches Miteinander von Menschen un-
erschiedlicher Nationalität, Hautfarbe oder Religion
ollen, dann brauchen wir einen gemeinsamen, werte-
rientierten gesellschaftlichen Konsens.
Herr Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischen-
rage der Abgeordneten Beck?
Ja.
13440 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Lieber Herr Kollege Bosbach, sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass dieser von Herrn Tibi geäu-
ßerte Zusammenhang von mir so nicht hergestellt wor-
den ist, und sind Sie bereit, das Weitertragen dieses Ge-
rüchts, der Zuschreibung zu mir, zu unterlassen?
Das nehme ich gerne zur Kenntnis und hoffe, dass ich
damit auch zur Kenntnis nehmen kann, dass Sie diesen
Begriff nicht mehr für einen Kampfbegriff
gegen die vielfältigen, pluralen Lebensäußerungen in
unserem Volk halten, sondern für eine Selbstverständ-
lichkeit, die das Fundament beschreibt, auf dem wir alle
gemeinsam stehen.
Warum sollten wir diesen Konsens, die Orientierung
an uns alle – das gilt übrigens auch für die Deutschen –
verpflichtende Normen und Werte nicht „freiheitliche
demokratische Leitkultur“ nennen? Wir brauchen mehr
Integration einerseits und mehr Entschlossenheit gegen
jede Form von Extremismus andererseits. Wer dies mit
uns gemeinsam will, der kann dem Antrag zustimmen.
Danke fürs Zuhören.
Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD,
Franz Müntefering.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Titel der
beiden Anträge, die wir heute hier diskutieren,
sind schon symptomatisch.
Der Antrag der Koalition heißt „Zusammenleben auf
der Basis gemeinsamer Grundwerte“, der der CDU/CSU
heißt „Politischen Islamismus bekämpfen“.
vor! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist
schofelig!)
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Herr Fraktionsvorsitzender, gestatten Sie eine Zwi-
chenfrage?
Einen Moment, bitte. – Hören Sie noch ein bisschen
u; vielleicht habe ich ja doch Recht.
ie Sache ist doch eindeutig: Wer gegen unsere Gesetze
erstößt – und die Gesetze sind klar und eindeutig –, der
uss zur Rechenschaft gezogen werden, ob Deutscher
der Ausländer. Gewalt ist nicht erlaubt, auch nicht in
amilien. Hass predigen ist nicht erlaubt, auch nicht in
oscheen. Eine Frage von Integration ist das aber nicht,
as ist eine Frage der Gesetze. Wir sind dafür, dass diese
esetze angewandt werden.
Integration ist eine ganz praktische Frage: eine Frage
es Alltags, eine Frage der Nachbarschaft, eine Frage
es Miteinanders. Wir haben seit 40 Jahren Menschen
ingeladen, in dieses Land zu kommen. Wir haben da-
um geworben, mitzuhelfen, dass Deutschland Wohl-
tandsland bleibt. Viele sind gekommen. Wir haben Ar-
eitskräfte zu uns geholt, zu denen wir lange Zeit
astarbeiter gesagt haben. Eines ist auf diesem Weg klar
eworden: Weil viele Menschen zu uns gekommen sind,
üssen wir jetzt über das Problem der Integration disku-
ieren.
Noch eines: Dadurch, dass wir Arbeitskräfte zu uns
eholt haben, leben jetzt 7,3 Millionen Ausländer bei
ns, wovon 3,3 Millionen Muslime sind. Viele von ihnen
ind in Sportvereinen, am Arbeitsplatz und als Ge-
chäftsleute in großen und kleinen Betrieben aktiv. Es
ibt übrigens 50 000 türkische Unternehmerinnen und
nternehmer, die 300 000 Menschen beschäftigen. Mus-
ime und Ausländer insgesamt aus allen Teilen der Ge-
ellschaft sind in Vereinen und Verbänden. In Moscheen
ehen sie weniger. 80 Prozent der Muslime sind religiös
icht aktiv. Das alles klingt ziemlich deutsch.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13441
)
)
Franz Müntefering
Ganz zweifelsfrei gibt es aber auch Probleme, zum
Beispiel hinsichtlich der Sprache: bei der frühkindli-
chen Erziehung, in der Schule, beim Religionsunterricht,
im Beruf und wegen der Chancen, die Frauen und Mäd-
chen genommen werden, weil sie keine Gelegenheit ha-
ben, die Sprache zu erlernen. Es ist wichtig, die Sprache
zu erlernen. Das gehört zentral mit zur Integration. Ich
glaube, dass wir hier sehr nah beieinander und uns einig
sind.
Es ist vielleicht gut, an dieser Stelle zwei Dinge fest-
zuhalten: Erstens. Wenn in diesem Land gegen Gesetze
verstoßen wird – ob von Deutschen oder von Auslän-
dern –, muss dies sanktioniert werden. Zweitens. Um in
unserem Land bestehen zu können, muss unsere Sprache
gelernt werden. Das müssen die Ausländer von sich aus
wollen. Wir wollen ihnen dabei helfen. In diesen beiden
Punkten sehe ich keine Differenz zwischen unseren An-
sichten.
Herr Bosbach, es ist problematisch, dass Ihr Antrag
danach Passagen enthält, durch die deutlich wird, was
Sie mit Ihrer Diskussion im Schilde führen. In Ihrem
Forderungskatalog gibt es den sehr interessanten
Punkt 4. Sie stellen dort fest, dass es um ein Konzept
geht, mit dem langfristig ein friedliches und fruchtbares
Miteinander der religiösen und der nicht religiösen Men-
schen in Deutschland erreicht werden soll. Das haben
Sie wahrscheinlich ein wenig schnell hingeschrieben.
Ich will das nicht näher untersuchen; denn das hat mit
Ausländern und Integration überhaupt nichts mehr zu
tun. Hier bewegen Sie sich auf einem ganz anderen Feld.
Sie stellen in Ihrem Antrag weiter fest, dass Integra-
tion nicht Assimilation meint. Das sehen wir auch so.
Das ist gut und ein dritter Punkt, in dem wir übereinstim-
men.
In Ihrem Antrag heißt es unter Nr. 4 weiter:
Integration meint … die Anerkennung des Verfas-
sungsstaates und der freiheitlich demokratischen
Leitkultur in Deutschland …
Diese Formulierung finde ich interessant. Hier haben Sie
die Leitkultur endlich einmal aus dem pathetischen Ne-
bel herausgeholt und festgestellt, dass Sie mit der Leit-
kultur grundgesetzliche Regelungen meinen. Wenn Sie
das meinen, dann ist es okay. Dann heißt es eben nicht
mehr FDGO, sondern FDLK, also freiheitlich-demokra-
tische Leitkultur. Das ist etwas seltsam und nicht beson-
ders aufregend.
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Herr Bosbach, meine Damen und Herren von der
pposition, es bleibt die Frage, was Sie meinen.
enn Sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung,
ie sie im Grundgesetz steht, und die Gesetze, die aus
hm abgeleitet werden, zu Ihrer so genannten Leitkultur
rklären, dann frage ich mich, was die kulturellen
rundvorstellungen sind, die Zuwanderer in unser Land
hrer Meinung nach zusätzlich zwingend erlernen müs-
en. Das ist hier nicht erklärt. Das, was Sie eben dazu ge-
agt haben, hat die Sache nicht deutlicher und klarer ge-
acht, Herr Bosbach.
Herr Kollege Müntefering, es gibt eine Reihe von
ünschen nach Zwischenfragen. Zunächst möchte Herr
ollege Stadler eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie
ie zu?
Zwei lasse ich gerne zu.
13442 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Herr Müntefering, nun haben Sie einige Zeit Ihre Ge-
danken entwickelt, woran ich Sie auch gar nicht hindern
wollte. Ich möchte Sie nur fragen, ob Sie bereit sind, zu
bestätigen, dass wir uns in der heutigen Debatte nicht
mit zwei Anträgen, wie Sie gemeint haben, sondern mit
drei Anträgen befassen.
Ich bin deswegen zu der Frage gekommen, weil Sie
darauf abgestellt haben, dass aus der Titelbezeichnung
von Anträgen ein Rückschluss auf den Inhalt gezogen
werden kann, und der Antrag der FDP den Titel trägt:
„Kulturelle Vielfalt – Universelle Werte – Neue Wege zu
einer rationalen Integrationspolitik“. Es wäre schön ge-
wesen, wenn Sie diesen Antrag in Ihre Überlegungen
einbezogen hätten. Dann hätten wir erfahren, wie Sie
sich dazu verhalten.
Wenn ich eine Minute mehr Redezeit gehabt hätte,
hätte ich Ihren Titel ebenfalls nennen können. Jetzt ha-
ben Sie es getan. Ich kann nur bestätigen, dass der An-
trag vorliegt.
Jetzt hat der Kollege Bosbach das Wort.
Herr Kollege Müntefering, Sie haben gerade unter
Hinweis auf die entsprechende Formulierung in unserem
Antrag begrüßt, dass wir keine Assimilation, aber Inte-
gration erwarten. Sie haben wörtlich gesagt: Assimila-
tion lehnen wir ab. Meine Frage ist: Wer ist „wir“? Sind
das die Eheleute Müntefering, die gesamte SPD oder die
SPD-Bundestagsfraktion?
Es ist keine zweieinhalb Jahre her, dass der Bundes-
minister des Innern die Assimilation von Ausländern in
Deutschland gefordert hat.
Hier im Deutschen Bundestag hat er die Forderung nach
Assimilation unter Hinweis darauf verteidigt, dies heiße
doch nur ähnlich werden, Anpassung, und dies könne
man doch mit guten Gründen fordern. Lehnen Sie das
ab? Oder schließen Sie in dieses „wir“ den Bundesinnen-
minister mit seiner Meinung nicht ein?
Ich habe festgestellt, Herr Bosbach, dass Sie in Ihrem
Antrag erklären: Assimilation wollen wir nicht. Das
habe ich für gut befunden; denn das wollen wir auch
nicht. Deutlicher kann man doch gar nicht sein. Meine
Worte sind doch klar verständlich.
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ch spreche als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfrak-
ion und als Mitglied dieser Partei. Das ist wahrschein-
ich bekannt; darüber sollten Sie sich keine Sorgen ma-
hen.
Da ich aber noch nicht ganz fertig bin, will ich Sie,
err Bosbach, weiterhin ansprechen. Unter Nr. 4 Ihres
ntrags heißt es, dass das Grundgesetz die Leitkultur
ei.
as ist interessant, aber uns nicht fremd. Wenn Sie Ihre
ussage darauf reduzieren, dann wäre das ein Fort-
chritt.
Wenn Sie Ihre Aussage nicht darauf reduzieren, dann
st das noch interessanter; denn Sie haben weitere kultu-
elle Grundvorstellungen eingefordert. Ich habe Sie da-
aufhin gefragt: Was meinen Sie damit? Wenn man das
it dem abgleicht, was im Grundgesetz steht, dann stellt
ich die Frage: Was bleibt Ihnen denn dann noch?
eshalb ist für mich zweifelhaft, ob das, worüber jetzt
iskutiert wird, von Ihnen wirklich ehrlich gemeint ist.
ch vermute, dass dahinter etwas ganz anderes steckt. Ich
laube, Herr Bosbach, die CDU/CSU hat entdeckt, dass
an mit diesem Thema Wahlkampf machen könnte.
ch denke, dass es Ihnen darum geht und Sie nicht an der
lärung der Tatbestände interessiert sind, über die wir
ier miteinander reden.
Sie entdecken die Möglichkeit, mit diesen kulturellen
rundvorstellungen im deutschen Interesse, das Frau
erkel immer im Munde führt, in Verbindung mit Patrio-
ismus ein Thema aufzubauen, das auch für den Parteitag
b Sonntag angekündigt ist. Die Sache mit dem deut-
chen Interesse ist deshalb so interessant, weil Sie, als
ir damit im Zusammenhang mit dem Irakkrieg argu-
entiert haben, empört aufgeschrien haben, dass das
icht angehe.
Das ist zur Sache.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13443
)
)
Franz Müntefering
Vielleicht wissen Sie nicht, was Ihre Vorderen wollen.
Als die Sache mit dem deutschen Interesse auf unseren
Plakaten zur Europawahl stand, haben Sie versucht, das
zu karikieren. Jetzt sind Sie dabei, zu formulieren, was
das deutsche Interesse ist. Sie müssten für das Plagiat ei-
gentlich Lizenzgebühren bezahlen.
Vergleichbar sind Ihre Aussagen zum Patriotismus.
Wir haben in unserer 141-jährigen Geschichte vieles für
das Land erreicht. Das Land gehört uns nicht und es ge-
hört auch Ihnen nicht. Das, was uns miteinander verbin-
det, ist, dass alle Menschen, die in diesem Lande woh-
nen, ob Deutsche oder nicht, ob Mitglieder Ihrer Partei,
meiner Partei oder anderer Parteien, denselben An-
spruch, dasselbe Recht und die Aufgabe haben, diesem
Land zu dienen. Wenn eine Partei sagt „Wir sind die Pa-
trioten“, dann kann vielleicht ein Wort von Johannes Rau
helfen, der einmal gesagt hat: „Patrioten sind Menschen,
die ihr Land lieben.
Nationalisten sind Menschen, die die Heimatländer an-
derer missachten.“ Dies gilt auch für Menschen aus an-
deren Ländern, die bei uns sind. Deshalb gehört das sehr
wohl zum Thema der Integration.
Wir alle sind gut beraten, wenn wir in großer Achtung
voreinander, auch vor anderen Völkern und anderen
Ländern, unseren Patriotismus hier im Land nicht über-
höhen.
Wir sind so gute Patrioten wie Sie. Auch das nehmen wir
als Sozialdemokraten für uns in Anspruch. Den Beweis
dafür kann man gut und einfach führen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention erhält zunächst der Abge-
ordnete Pflüger das Wort.
Herr Müntefering, Sie haben eben den Titel des CDU/
CSU-Antrages mit den Worten „Politischen Islamismus
bekämpfen“ zitiert und ergänzt, dass man schon an dem
Titel sehen könne, dass die Union, wenn es um Islam
und Islamismus gehe, vor allen Dingen eine Kampfposi-
tion einnehme.
Sie haben damit den Eindruck vermittelt, es sei heute un-
ser Bestreben, eine Kampflinie aufzubauen. Sie haben
den Menschen nur die halbe Wahrheit gesagt. Das ist
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Dasselbe gilt für das Thema Patriotismus. Auch ich
in dagegen, einem anderen im Rahmen einer normalen
olitischen Debatte Patriotismus abzusprechen.
er wollte bestreiten, dass sich auch die Sozialdemokra-
en für dieses Land eingesetzt haben? Patriotismus darf
an nicht in erster Linie als Keule benutzen.
Sie haben auch mit der Aussage Recht, dass Patriotis-
us nicht in der Weise geäußert werden darf, dass man
uf andere Länder herabschaut. Aber wenn Bundesmi-
ister Trittin kurz vor seinem Amtsantritt 1998 erklärt, er
abe in der Vergangenheit nie die deutsche National-
ymne gesungen und er werde sie auch nicht in Zukunft
ingen,
enn diese Bundesregierung einen nationalen Feiertag
bschaffen will und Herr Trittin eine Woche später er-
lärt, er möchte einen islamischen Feiertag einführen,
ann zweifle ich in der Tat daran, dass bei allen Mitglie-
ern der Regierungsfraktionen patriotisches Verständnis
errscht. Uns geht es um aufgeklärte Vaterlandsliebe.
as ist nichts Schlimmes; sie ist vielmehr etwas Gutes
nd Richtiges.
Herr Kollege.
13444 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Ich komme zu meinem letzten Punkt. Zum Begriff der
Leitkultur werden die Kollegin Köhler und der Kollege
Grindel, die den Antrag im Wesentlichen formuliert ha-
ben, gleich noch etwas ausführen. Lassen Sie mich nur
so viel anmerken: Dass der Begriff Leitkultur hier als
Kampfbegriff nach dem Motto „Diejenigen, die ihn ver-
wenden, wollen andere Kulturen und Religionen gering
schätzen“ aufgebaut wird, ist schwer erträglich.
Wir sind sehr für Religionsfreiheit und wir sind sehr
dafür, dass sich andere Menschen nicht assimilieren
müssen.
Wir meinen aber auch, dass eine Gesellschaft, die darauf
verzichtet, über das Grundgesetz hinaus eine Leitkultur
zu definieren – die sich zum Beispiel in der deutschen
Sprache zeigt –, dazu herausfordert, parallele Gesell-
schaften zu schaffen. Deswegen glauben wir, dass der
Begriff der Leitkultur, sofern er in einer vernünftigen
Weise verwendet wird, weiterführt.
Bitte, Herr Müntefering.
Der Antrag Ihrer Fraktion trägt die Überschrift „Poli-
tischen Islamismus bekämpfen – Verfassungstreue Mus-
lime unterstützen“.
Dass Sie die Bekämpfung des politischen Islamismus
zum Kernpunkt dieses Antrags und der Ausführungen
von Herrn Bosbach gemacht haben,
steht doch außer Zweifel.
Was ich Ihnen nahe legen wollte, ist – hören Sie gut
zu, Herr Bosbach und Herr Pflüger! –
– das kann schon sein; dann stellen wir das eben gemein-
sam fest –, dass der Verstoß gegen Gesetze und das
Thema Integration auseinander gehalten werden sollten.
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Sie haben Punkt 4 Ihres Antrags angesprochen. Ich
abe nichts dagegen, wenn Sie von der Leitkultur spre-
hen. Ich habe es lediglich begrüßt und freue mich wirk-
ich darüber, dass Sie bereit sind, diesen Begriff zu präzi-
ieren. Viele Menschen im Land fragen sich, was Sie
amit meinen. Sie haben diesen Begriff seinerzeit einge-
ührt, um sich, die CDU, als eine Partei mit einem be-
onderen kulturellen Hintergrund vorzustellen.
Ich habe mich immer wieder gefragt, was Sie eigent-
ich meinen und wer Sie eigentlich sind. In diesem Punkt
erstehe ich Sie nicht. In Ihrem Antrag haben Sie erst-
als schriftlich formuliert, dass es Ihnen im Kern um
nseren Verfassungsstaat und um unser Grundgesetz
eht.
Ich betone noch einmal: Wenn Sie sagen, die Leitkul-
ur entspreche unserem Grundgesetz, dann ist das in
rdnung. Das können Sie ruhig als Leitkultur beschrei-
en. Dagegen habe ich nichts. Ich würde zwar nicht die-
en Begriff dafür verwenden, weil es sich um eine Erhö-
ung besonderer Art handelt, aber darüber hinaus
ommen wir uns schon näher.
Sie haben aber noch nicht erläutert, Herr Pflüger – das
erden Sie möglicherweise noch tun –, was Sie mit dem
rlernen der „gewachsenen kulturellen Grundvorstellun-
en“ – additiv zum Grundgesetz, obligatorisch für alle
enschen, die zu uns ins Land kommen – meinen. Sie
einen damit hoffentlich nicht, dass sie alle Mitglieder
er CDU werden sollen. Das haben Sie sicherlich nicht
emeint.
Jetzt hat der Abgeordnete und Innenminister Otto
chily das Wort zu einer Kurzintervention.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-
en! Mein Kollege Müntefering hat eben für die SPD-
raktion erklärt, dass wir Assimilation nicht erzwingen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13445
)
)
Otto Schily
wollen. Damit spricht er auch für den Abgeordneten
Otto Schily.
Aber ich will auch darauf hinweisen, dass Assimilie-
rung erlaubt ist.
Insofern haben Sie mich völlig falsch zitiert, Herr
Bosbach. Ich habe in dem Interview, das Sie vielleicht
meinen – Herr Prantl zitiert mich falsch und Sie zitieren
mich falsch –, keine Assimilierung gefordert.
– Nein, ich habe nie Assimilierung gefordert. Das ist
völlig falsch.
Ich meine, auch Assimilierung kann eine Form der In-
tegration sein; wir sollten sie nicht aus Gründen der Poli-
tical Correctness für beklagenswert halten. In der Ge-
schichte der Bundesrepublik Deutschland gibt es viele
Integrationsvorgänge, die nichts anderes als Assimilie-
rung sind. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen – Herr
Professor Frankenberg, Wissenschaftsminister in Baden-
Württemberg, hat mir diese Anekdote gerade berichtet –:
Als er sich kürzlich – wie das auf einer langen Autofahrt
schon einmal geschieht – mit seinem Fahrer, der deut-
scher Staatsbürger serbischer Abstammung ist und einen
serbischen Namen trägt, über die Probleme Baden-
Württembergs unterhalten hat, hat dieser gesagt: Frau
Schavan kann nicht Ministerpräsidentin von Baden-
Württemberg werden, weil sie nicht zu uns gehört. Dazu
kann ich nur sagen: Dieser Mann ist assimiliert und inte-
griert. Das finde ich in Ordnung.
Ein weiteres Beispiel: Cem Özdemir spricht reines
Schwäbisch. Auch das ist eine gewisse Form von Assi-
milierung. Ich wüsste nicht, was daran beklagenswert
sein sollte.
Trotzdem kennt er sich in der Türkei noch gut aus und
spricht fließend Türkisch. Er bildet also eine interkultu-
relle Brücke.
Lassen Sie uns doch nicht dogmatische Graben-
kämpfe führen! Wir sollten die Beantwortung der hier
zur Diskussion stehenden Fragen viel lockerer angehen.
Es gibt viele Formen der Integration. Assimilierung ist
nicht des Teufels, sondern unter den Bedingungen des
Grundgesetzes erlaubt.
Vielen Dank.
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Herr Schmidt, wir können uns sehr gerne darüber un-
erhalten. Aber mir ist das Thema zu ernst, als dass ich
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)
)
Hans-Michael Goldmann
es dauernd durch Zwischenbemerkungen und Unklarhei-
ten weiter verwässern will.
Sehr gelehrter Herr Kollege Bosbach, ich habe Sie
heute Morgen im Frühstücksfernsehen und auch hier
wieder als einen Mann des scharfen Wortes erlebt. Ich
finde, dass manche Ihrer Formulierungen in der Schärfe
etwas unglücklich sind. Religionsfreiheit in Verbindung
mit Narrenfreiheit zu bringen – in welcher Form auch
immer –, halte ich für unqualifiziert.
– Herr Bosbach, Sie können so lange dazwischenrufen,
wie Sie wollen. Hören Sie lieber gut zu!
Ich habe mir die Mühe gemacht, mich mit dem be-
rühmten Punkt vier des CDU/CSU-Antrags auseinander
zu setzen. Es liegt sicherlich an mir, dass ich ihn nicht in
Gänze verstanden habe. Aber wir wollen doch festhal-
ten, dass Sie zwischen den Worten „Anerkennung des
Verfassungsstaates“ und den Worten „der freiheitlichen
demokratischen Leitkultur“ das Verbindungswort „und“
gesetzt haben. Das heißt, es gibt so etwas wie die Aner-
kennung des Verfassungsstaates und es gibt daneben et-
was anderes, nämlich eine freiheitliche demokratische
Leitkultur.
– Können Sie mir einmal sagen, was das ist?
– Bevor Sie den Mund aufmachen, hören Sie mir lieber
zu und denken Sie einmal nach!
– Herr Bosbach, Sie legen bei diesem Thema schon wie-
der diese integrative Art an den Tag. Sie brüllen in der
Gegend herum und produzieren Sprechblasen.
Man kann es eigentlich ganz einfach machen. Sie sind
ja ein Sprachakrobat und wissen daher, was ein Haupt-
wort und was ein Wiewort ist.
In Ihrem Antrag ist das Hauptwort „Leitkultur“ und sind
die Wiewörter „freiheitlich“ und „demokratisch“. Nach
meinem Verständnis sollten bei der Integration „Demo-
kratie“, „Freiheit“ und „Gleichheit“ die Hauptwörter
sein.
Wenn man das praktiziert, dann kann man durchaus eine
Kultur entwickeln, die einen in bestimmten Lebensberei-
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
eis?
Nein, das möchte ich jetzt nicht, weil ich mir viel
ühe gegeben habe, diesen Gedanken zu entwickeln.
Herr Bosbach, das unterscheidet uns vielleicht. Ich
eiß wenigstens, was in Ihrem Antrag steht. Bei einigen,
ie eben geredet haben, hatte ich nicht unbedingt den
indruck, dass sie alles verstanden haben, was darin
teht.
Herr Kollege Bosbach, wir sollten uns vielleicht ein
enig mehr auf den Begriff der Rechtskultur verständi-
en. Ich denke, es ist völlig klar: Wer sich an das hält,
as im vorderen Teil Ihres Antrags angesprochen wird,
ämlich an die Anerkennung des Verfassungsstaates und
nserer Rechtskultur – das fängt damit an, dass man
icht die Zeitung liest, wenn man von einem Kollegen
irekt angesprochen wird; aber das, was Sie machen, ist
ahrscheinlich eine Variante der Leitkultur –,
er soll bei uns aufgenommen und integriert werden; das
st überhaupt keine Frage. Derjenige, der das nicht tut,
er hat in unserer Demokratie, in unserem Rechtsstaat
ichts zu suchen. Da sind wir uns völlig einig.
Mit Ihrem Begriff der Leitkultur – ich habe eben ver-
ucht, darzustellen, dass er falsch ist – machen Sie etwas
nderes – ich halte das für gefährlich –: Im Grunde ge-
ommen reduzieren Sie das Ganze auf das Erschei-
ungsbild eines Menschen: auf das Tun, auf das Essen,
uf das Hören von Musik, möglicherweise sogar auf das
ussehen.
amit stellen Sie Menschen anderer Kulturkreise in eine
efährliche Ecke unserer Gesellschaft. Deswegen kann
ch Sie nur herzlich darum bitten: Verabschieden Sie sich
indeutig von dem Begriff der Leitkultur!
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13447
)
)
Hans-Michael Goldmann
Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten, dass die
Menschen, die zu uns gekommen sind, an Demokratie
und Kultur teilnehmen! Lassen Sie uns dafür sorgen,
dass diese Menschen bereit und willens sind, unsere
Sprache zu lernen, damit sie begreifen, was wir unter
Ehe und Partnerschaft verstehen. Lassen Sie uns dann
klar sagen, dass zum Beispiel eine Zwangsheirat mit un-
serem demokratischen Verständnis überhaupt nicht in
Einklang zu bringen ist.
Lassen Sie uns darauf hinarbeiten, dass sich die Muslime
in Deutschland ein Stück mehr zusammenfinden, damit
wir den runden Tisch der Religionen an vielen Stellen
gemeinsam ausgestalten können.
Das Thema Integration in unsere Gesellschaft erfor-
dert nach meiner Auffassung eine gründliche, eine tiefer
gehende Beratung. Wir sind dazu gerne bereit.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Claudia Roth.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ich freue mich, dass Sie sich schon freuen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich frage mich schon, was diese Debatte leisten muss.
Sie muss verantwortlich geführt werden und sie darf
keine Stimmungsmache sein. Sie muss Probleme benen-
nen, aber sie darf keine Ängste schüren.
Sie muss vor allem mit Polemik aufhören und muss kon-
struktive Vorschläge für die Verbesserung der Integra-
tion leisten;
das vermisse ich bei Ihnen sehr.
Diese Debatte muss auch mit einer Lebenslüge
Schluss machen. Es geht um die Anerkennung unserer
Realität,
ob einem das passt oder nicht. Ich komme aus Bayern.
Da passt es vielen nicht, aber es ist so: Deutschland ist
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Wir haben Menschen und nicht Gäste und nicht bloß
rbeitskräfte in dieses Land geholt. Max Frisch und
ustav Heinemann haben das sehr früh erkannt. Diese
igranten haben den Wohlstand in diesem Land mit ge-
ördert und dieses Deutschland in den letzten Jahrzehn-
en mit geprägt. Unser Land ist Lebensmittelpunkt für
illionen von ausländischen Neubürgern geworden. Sie
ind hier, sie wollen hier sein und sie sollen bitte hier
leiben. Diese Sicherheit müssen wir ihnen geben. Wir
üssen ihnen und ihren Kindern das Gefühl geben, dass
eutschland auch ihre Heimat ist. Das tun Sie in den sel-
ensten Fällen; zu dem Schluss komme ich, wenn ich mir
ie öffentliche Debatte der letzten Woche vergegenwär-
ige.
Deutschland ist eine multikulturelle Gesellschaft,
err Bosbach, und das wissen Sie auch. Das ist die Rea-
ität. Die Realität ist nicht gescheitert. Jede fünfte Ehe in
iesem Land ist binational. Jedes fünfte Kind hat einen
igrationshintergrund. Deutschland ist auch ein multire-
igiöses Land. 3,3 Millionen Moslems leben in diesem
and. Diese Moslems sollten sich endlich eine entspre-
hende Repräsentanz geben. Das halten wir für sehr not-
endig.
Wer etwas für Integration tun will, wer zusammen-
ühren und nicht spalten will, der darf sich dieser Reali-
ät nicht verweigern. Sie ablehnen oder rückgängig ma-
hen zu wollen ist illusionär. Ausgrenzung verbaut die
hancen von Integration.
Herr Bosbach, Sie sind wirklich ein Akrobat, was die
prache angeht. In Ihrem Antrag ist von der Leitkultur
ie Rede. Heute Morgen laufen Sie aber wieder mit dem
egriff der deutschen Leitkultur durch alle Agenturen.
as ist nicht das, was Bassam Tibi sagt. Der redet von
er europäischen Leitkultur. So wie Sie landauf, landab
ber deutsche Leitkultur, über deutsche kulturelle Um-
angsformen – da frage ich mich wirklich, was das sein
oll – reden, so wie Sie heute in den Agenturen wieder
on der deutschen Leitkultur sprechen – ich kann es Ih-
en gern zeigen, Herr Bosbach –, ist das nicht integrativ,
ondern da hierarchisieren Sie. Sie hierarchisieren Kul-
uren, Sie hierarchisieren Religionen und Sie hierarchi-
ieren Menschen. Es muss aber darum gehen, die gleich-
erechtigte Teilhabe und Chancengleichheit zu fordern.
13448 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Claudia Roth
Das tun Sie nicht, obwohl Sie jetzt in Ihrem Antrag das
Wörtchen „deutsch“ gestrichen haben.
Anerkennung der Realität, das heißt auch anzuerken-
nen: Ja, es gibt Schwierigkeiten. Ja, es gibt Konflikte. Ja,
es gibt Probleme. Aber Integration funktioniert in wei-
ten Bereichen auch. Drei Viertel der Migranten leben
nicht in ethnisch geprägten Vierteln. Die Zahl der Kon-
takte der Deutschen der jüngeren Generation zu Migran-
ten nimmt zu. Das Schlechtreden von erfolgreicher Inte-
gration ist das pure Gegenteil von Patriotismus, von dem
Sie immer reden.
Die Stigmatisierung von Menschen in Bezirken mit
hohem Ausländeranteil löst überhaupt kein Problem.
Was wir nicht brauchen, Herr Grindel, ganz sicher nicht,
ist eine Ausländerquote, wie Herr Schönbohm sie gefor-
dert hat,
was auf Zwangsumsiedlungen hinauslaufen würde. Was
wir nicht brauchen, ist die Forderung von Frau Schavan,
dass plötzlich nur noch in Deutsch gebetet werden darf.
Das ist keine Integration, sondern das spaltet und das ist
ein Signal für Ausgrenzung. Das ist Gift für die politi-
sche Stimmung in diesem Land.
Was wir brauchen, ist eine systematische Integra-
tionspolitik. Das ist über Jahrzehnte, auch dank Ihnen,
versäumt worden. Sie betrifft nicht nur die Neuzuwande-
rer – das ist jetzt im Zuwanderungsgesetz festgelegt –;
sie ist auch nachholende Politik. Sie fordert von allen
Seiten Integrationsbereitschaft ein. Integrationspolitik
heißt zuallererst Sprachförderung im frühkindlichen
Alter – das muss uns sehr viel wert sein –, heißt weiter
Öffnung des öffentlichen Dienstes, der Polizei und des
Verfassungsschutzes für Menschen mit einem Migra-
tionshintergrund. Sie reden immer davon. Aber wie sieht
denn die Praxis in den Ländern, die Sie regieren, aus? Da
passiert doch das pure Gegenteil.
Integrationspolitik beinhaltet gezielte Förderung von
Migranten bei Ausbildung, Bildung und auf dem Ar-
beitsmarkt, gezielte Förderung von Frauen und Mäd-
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Ein bisschen später kann er sie gerne stellen.
ntegration beinhaltet auch – das unterstützen wir sehr –
usbildung von Imamen an deutschen Universitäten und
eutschsprachigen islamischen Religionsunterricht.
Ich denke, dass von dieser Debatte heute das Signal
usgehen muss, dass Moslems in diesem Land nicht un-
er Generalverdacht stehen.
as heißt überhaupt nicht, dass wir nicht selbstverständ-
ich für eine entschiedene Bekämpfung islamistisch-
xtremistischer Bestrebungen sind. Auch Sie wissen,
ass wir keine Aufhetzung zu Gewalt und keinen Antise-
itismus in den Moscheen dulden. Sie wissen auch, dass
ir uns offensiv mit Vorstellungen von religiös oder kul-
urell begründeten Formen von Unfreiheit oder Un-
leichheit auseinander setzen und dass wir Maßnahmen
um Beispiel gegen die Zwangsverheiratung ergriffen
aben.
Wir treten ein für die Religionsfreiheit: hier bei uns
uch für Moslems, in der Türkei auch für Christen und
leviten. Religionsfreiheit heißt aber nicht, dass reli-
iöse Vorstellungen über die demokratische Rechtsord-
ung gestellt werden dürfen.
eswegen darf aber Integrationspolitik doch nicht auf
rdnungspolitik reduziert werden, wie es meiner Mei-
ung nach in Ihrem Antrag der Fall ist. Integrationspoli-
ik muss doch den Islam als gleichberechtigte Religion
nerkennen und zum Ziel haben, den Islam quasi bei uns
inzubürgern. Denn ein europäischer Islam ist doch der
este Beitrag im internationalen Kampf gegen den isla-
istischen Extremismus.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Multikulturalität
st nicht nur Realität, sie stellt für uns auch ein starkes
deal dar, womit wir Freiheit, Vielfalt und die Achtung
nterschiedlicher Lebensweisen und Lebensentwürfe
erbinden. Sie erfordert eine Kultur der Differenz sowie
ine Kultur der Toleranz und des Respekts. Toleranz in
iner multikulturellen Demokratie bewegt sich immer im
ahmen unserer Verfassungsordnung. Die Zukunft liegt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13449
)
)
Claudia Roth
also im Pluralismus, nicht in der Monokultur. Die Zu-
kunft erfordert einen viel stärkeren interreligiösen und
interkulturellen Dialog, nicht den Kampf der Kulturen
oder die Hierarchisierung von Kulturen und Religionen.
Das gemeinsame Fundament, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das ist das Grundgesetz, das ist unsere Verfas-
sung, das sind die universellen Menschenrechte, das ist
unsere Demokratie. In diesem, aber nur in diesem Sinn
bin ich gerne Verfassungspatriotin.
Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete
Bosbach das Wort.
Frau Kollegin Roth, ich habe mich zu Wort gemeldet,
weil Sie glaubten, darauf hinweisen zu müssen, dass ein
erheblicher Unterschied zwischen den Wortpaaren „Leit-
kultur in Deutschland“ und „deutsche Leitkultur“ be-
stehe. Ich darf Ihnen einmal vorlesen, was die CDU
Deutschlands vor genau vier Jahren beschlossen hat:
Integration erfordert deshalb, neben dem Erlernen
der deutschen Sprache sich für unsere Staats- und
Verfassungsordnung klar zu entscheiden und sich in
unsere sozialen und kulturellen Lebensverhältnisse
einzuordnen. Dies bedeutet, dass die Werteordnung
unserer christlich-abendländischen Kultur, die vom
Christentum, Judentum, antiker Philosophie, Hu-
manismus, römischen Recht und der Aufklärung
geprägt wurde, in Deutschland akzeptiert wird. Das
heißt nicht Aufgabe der eigenen kulturellen und re-
ligiösen Prägung, aber Bejahung und Einordnung in
den bei uns für das Zusammenleben geltenden
Werte- und Ordnungsrahmen.
… Multikulturalismus und Parallelgesellschaften
sind kein Zukunftsmodell. Unser Ziel muss eine
Kultur der Toleranz und des Miteinander sein – auf
dem Boden unserer Verfassungswerte und im Be-
wusstsein der eigenen Identität. In diesem Sinne ist
es zu verstehen, wenn die Beachtung dieser Werte
als Leitkultur in Deutschland bezeichnet wird.
Wenn Sie, Frau Kollegin Roth, bei der Frage, was
deutsche Leitkultur bzw. was Leitkultur in Deutschland
ist, minutenlang nur in rhetorische Erregungszustände bis
hin zum Brüllen verfallen, dann kann das nur heißen, dass
Sie in der Sache überhaupt nichts dagegensetzen können.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kristina Köhler.
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Das ist strafbar, richtig.
ch habe lange überlegt, ob ich diese Aussagen hier
örtlich vortragen soll, aber ich tue es, weil ich will,
ass wir aufwachen und dass uns klar wird: Wir reden
ier nicht über Kleinigkeiten oder über missverständli-
he oder ungeschickte Formulierungen,
13450 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Kristina Köhler
sondern über Antisemitismus in seiner krassesten Form.
– Sie fragen: Wo ist der Handlungsbedarf?
Meine Damen und Herren, wir sind hier in Deutsch-
land zu Recht sehr sensibel beim Thema Antisemitismus
und deswegen frage ich Sie zum Thema „Handlungsbe-
darf“: Warum können solche islamistischen Hetzblätter
unbeanstandet am Bahnhof Zoo hier mitten in Berlin
verkauft werden?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Abgeordneten Streb-Hesse?
Ja.
Frau Kollegin, ich denke, Sie haben an den Reak-
tionen gemerkt, dass es nicht streitig ist, dass das Hetze
ist und dass dagegen strafrechtlich vorgegangen werden
muss.
Ist es aber dann nicht auch Hetze – dazu würde ich gerne
Ihre Meinung hören –, wenn die CDU im hessischen
Landtag in der letzten Woche fordert
– hören Sie bitte zu! –, dass sich die Einwanderer zur
Verfassung und zu den christlich-humanistischen Werten
bekennen,
sich aber anschließend in einer weiteren Debatte die
CDU-Landesregierung und die CDU-Landtagsfraktion
geschlossen hinter den stellvertretenden Fraktionsvorsit-
zenden Irmer stellen, der mehrfach in den Zeitungen, die
er selbst herausgibt, und in anderen Äußerungen fordert,
dass – jetzt hören Sie genau zu – EU-Kommissar
Verheugen des Hochverrats angeklagt wird, weil er sich
für den Beitritt der Türkei zur EU ausgesprochen hat,
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er – jetzt geht es noch weiter – seit Jahren den Frak-
ionsvorsitzenden der Grünen, Tarek al-Wazir, aus einer
inationalen Ehe stammend, mit dem Beinamen
Mohammed“ tituliert und der die Bundesjustizministe-
in – da weiblich – des Schwachsinns bezichtigt?
Frau Kollegin – –
Es ist gefordert worden, dass der Kollege diese Äuße-
ungen zurücknimmt und sich entschuldigt. Ich denke, in
inigen Punkten müsste er zivilrechtlich belangt werden.
ch bin erstaunt, wenn die gleiche Fraktion hier im Bun-
estag – –
Frau Kollegin, Sie wollten eine Zwischenfrage stel-
en. Es ist doch recht schwierig, auf eine Frage zu ant-
orten, die sich auf Vorgänge in einem anderen Parla-
ent bezieht.
ber Sie können das gerne versuchen, Frau Köhler.
Ich habe durchaus eine Frage gehört, Frau Streb-
esse, nämlich ob ich das nicht ebenso unglaublich
inde. Da sage ich Ihnen: nein. Ich möchte das nicht mit
er Leugnung des Holocausts gleichsetzen.
Frau Kollegin, auch der Kollege Volker Beck möchte
ine Zwischenfrage stellen.
Entschuldigung, ich möchte jetzt fortfahren.
Meine Damen und Herren, das wirklich Unglaubliche
st, dass diese Blätter hier in Deutschland neben der
Frankfurter Rundschau“ und der „Welt“ einfach so ver-
auft werden können.
Der Islamismus führt aber auch zu einer tagtäglichen
nterdrückung von so genannten Ungläubigen. Da-
ei sind „Ungläubige“ nicht nur Christen oder Nicht-
uslime, sondern „Ungläubige“ im Sinne der Islamisten
ind auch die ganz große Mehrheit der verfassungstreuen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13451
)
)
Kristina Köhler
Muslime hier in Deutschland. Diese Gruppe ist das erste
Opfer der Islamisten und vielleicht sogar ihr größtes.
Deswegen tun wir den verfassungstreuen Muslimen
bitter Unrecht, wenn wir islamistische Organisationen
als Vertreter der Muslime in Deutschland anerkennen.
– Ich finde es schön, dass Sie mir da zustimmen; denn in
dem Antrag von der FDP steht, dass Sie hier keine Tabus
kennen wollen, dass Sie einen Dialog mit den Repräsen-
tanten aller muslimischen Gruppen führen wollen. Ich
sage Ihnen: Für die CDU/CSU sind Organisationen tabu,
die sich nicht eindeutig zu unserer Verfassung bekennen.
Denn wir können es den verfassungstreuen Muslimen in
Deutschland einfach nicht zumuten, Islamisten als ihre
Repräsentanten anzuerkennen, weil wir nämlich ganz
genau wissen, dass die riesige Mehrheit der Muslime in
Deutschland mit dem Islamismus nichts zu tun hat.
Die Bundesregierung – ich meine nicht Sie, Herr Mi-
nister Schily – hat hier weniger Berührungsängste. Da
gibt es zum Beispiel den Islamrat. Der Islamrat wird
dominiert von der islamistischen Vereinigung Milli
Görüs, die wiederum vom Verfassungsschutz beobachtet
wird. Genau dieser Islamrat ist für unseren Bundesum-
weltminister Jürgen Trittin ein wichtiger Partner im
Kampf für eine ökologischere Welt. Denn Herr Bun-
desumweltminister Trittin hat in seinem Haushalt ein ge-
meinsames Projekt mit dem Islamrat mit dem Titel
„Islam und Umweltschutz am Beispiel des Wassers“.
Ich will einmal wohlmeinend unterstellen, dass der Herr
Bundesumweltminister hier aus Naivität handelt.
Aber genau diese Naivität können wir uns hier in
Deutschland nicht mehr leisten. Wir müssen klar zwi-
schen den Islamisten und den verfassungstreuen Musli-
men unterscheiden und wir müssen uns auch endlich Ge-
danken darüber machen, wie wir die verfassungstreuen
Muslime in ihrem Kampf gegen die Islamisten unterstüt-
zen wollen.
Noch eine Bemerkung zu der notwendigen und sehr
wichtigen Differenzierung zwischen Islam und Isla-
mismus. Die Islamisten missbrauchen den Islam. Das ist
das eine. Das andere ist: Es ist unerträglich, dass man
sich bei jedem Satz gegen den Islamismus des Vorwurfs
erwehren muss, man habe den Islam in Gänze gemeint.
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischen-
frage?
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nd denen, die Intoleranz und Unterdrückung predigen
nd die unsere Verfassung zerstören wollen. Es geht
icht um eine Auseinandersetzung der Religionen, son-
ern um eine Auseinandersetzung zwischen Freiheit und
nterdrückung.
An dieser Stelle bin ich nicht zu einem Dialog bereit.
ch weiß, dass unter dem Begriff „Dialog der Kulturen“
iel Gutes geschieht. Aber ich bin nicht bereit, über
emokratie und Menschenrechte zu verhandeln.
ie Beachtung der Menschenrechte ist eine Mindestan-
orderung an jeden, der in unserem Land leben möchte.
ber diese Mindestanforderungen müssen wir an dieser
telle sprechen.
Damit sind wir bei der demokratischen Leitkultur.
ch weiß, dass viele von Ihnen diesen Begriff nicht mö-
en. Ich habe aber, ehrlich gesagt, von Ihnen noch kei-
en besseren Vorschlag gehört.
nbestritten ist doch, dass eine funktionierende Gesell-
chaft einen Kern an gemeinsamen Normen und Wer-
en benötigt.
urch diese wird die Gemeinschaft begründet, erhalten
nd weiterentwickelt. Dazu gehört nicht nur, die Werte
nserer Verfassung anzuerkennen, sondern beispiels-
eise auch – Sie wollten ja Beispiele hören –, dass eine
ewisse Kenntnis über die Geschichte unseres Landes
orhanden ist.
13452 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Kristina Köhler
Denn wer in Deutschland leben will, muss auch willens
sein, die Lehren anzuerkennen, die wir aus unserer Ge-
schichte gezogen haben.
Wer nämlich die demokratische Leitkultur anerkennt,
der wird nicht über eine „zionistische Weltverschwö-
rung“ räsonieren. Zur demokratischen Leitkultur gehört
insbesondere: keine Toleranz der Intoleranz.
Zu einer Kurzintervention erhält die Abgeordnete
Deligöz das Wort.
Frau Kollegin Köhler, eigentlich wollte ich wegen ei-
nes wichtigen Termins an dieser Debatte nicht teilneh-
men. Ich habe die Debatte aber am Bildschirm verfolgt
und bin jetzt in den Plenarsaal gekommen, weil ich Ih-
nen Folgendes sagen muss: Ich bin bekennende Musli-
min, aber – das gebe ich gerne zu – nicht besonders reli-
giös. Bei solchen Debatten allerdings entdecke ich
plötzlich die Religion in mir. Durch die Art und Weise,
mit der Sie in dieser Debatte pauschalieren und uns alle
über einen Kamm scheren,
machen Sie mich zu einer bekennenden und religiösen
Muslimin. Das ist das Ergebnis Ihres Umgangs mit die-
sem Thema!
Wenn Sie schon eine Zeitung wie „Vakit“ zitieren
– ich gebe gerne zu, dass es ein wirklich verabscheu-
ungswürdiges Zitat war –, dann müssen Sie aber auch er-
wähnen, dass es in Deutschland auch Zeitungen wie bei-
spielsweise „Deutsche Stimme“, „Junge Freiheit“, und
„Deutsche Nationalzeitung“ gibt. In denen finden Sie
viele Stellen, die ich mindestens genauso verabscheu-
ungswürdig finde. Trotzdem kann man nicht sagen, dass
alle Christen oder alle Menschen in Deutschland hinter
den Aussagen dieser Zeitungen stehen.
Hinsichtlich Ihres Zitats will ich noch hinzufügen: Es
gibt Medienvielfalt und es gibt die Pressefreiheit. Solche
Meinungen zu äußern wie die, die Sie gerade zitiert ha-
ben, steht in Deutschland unter Strafe.
– Getroffene Hunde bellen. Was wollen Sie eigentlich?
Ich finde Ihre Reaktion nicht richtig.
Ich will noch eines sagen: Die Hinwendung zur Reli-
gion ist auch Folge einer gescheiterten Integrationspoli-
tik, die Sie zu verantworten haben. Es hat sich in diesem
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Frau Kollegin Deligöz, Sie haben mir eben Pauscha-
ierung vorgeworfen. Ich möchte Sie bitten, mir im An-
chluss, wenn das Protokoll meiner Rede vorliegt, zu
eigen, in welchem Satz ich pauschaliert habe. Ich habe
en Unterschied zwischen Muslimen und Islamisten
anz deutlich herausgestellt. Ich habe mich genau dage-
en verwahrt, dass ein Angriff auf den Islamismus im-
er als ein Angriff auf den Islam umgedeutet wird. Ent-
chuldigung, das haben Sie eben wieder getan.
Zum Zweiten. Sie haben die Zeitung „Vakit“ ange-
prochen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass die von
ir zitierte Aussage auf keinen Fall von der Meinungs-
reiheit gedeckt ist, sondern Volksverhetzung ist.
Ja, das hat sie gesagt. – Es wäre doch hier der richtige
rt, die Verantwortlichen in diesem Hause zu fragen,
arum das einfach so geschieht und warum zum Bei-
piel der Verfassungsschutz nichts tut.
arum kann eine Zeitung mit einer solchen Aussage in
eutschland verkauft werden?
ch glaube nicht, dass ich gestern zufällig auf das erste
xemplar gestoßen bin, in dem eine solche antisemiti-
che Hetze stattfindet.
Wir dulden das hier in Deutschland und das muss sich
ndern!
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13453
)
)
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Sebastian Edathy.
– Ich möchte alle Seiten bitten, die Emotionen ein biss-
chen herunterzukochen. Wir alle wissen, dass das eine
besonders schwierige Debatte ist; dafür sprechen ja auch
die Reaktionen. Aber man sollte sich gegenseitig noch
zuhören können. – Bitte.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Köhler, Sie haben Recht: Das Wissen um
deutsche Geschichte zu mehren muss unser aller Anlie-
gen sein. Mein Vater ist in Indien geboren worden. Er
hat mir vor kurzem erzählt, dass er bei einem Skatabend,
als er das Stichwort „Bismarck“ aufbrachte, gefragt wor-
den ist, ob das der mit dem Hering sei. Das war eine
Antwort eines deutschen Mitbürgers. Insofern hat dieses
Anliegen nicht viel mit dem Thema „Leitkultur“ oder
gar „Integration“ zu tun.
Die Debatte über das Thema Integration hat in den
vergangenen Wochen mitunter Züge getragen, ange-
sichts deren ich mich bisweilen gefragt habe, über wel-
ches Land eigentlich geredet wird. Über Deutschland,
dessen Geschichte und Gegenwart stets von Migration
mitgeprägt wurde und wird und das sich durch Plurali-
tät auszeichnet? Unser Land hat mit seiner Heterogenität
überwiegend gute Erfahrungen gemacht, mit Ideologien
des Homogenitätsstrebens aber stets nur schlechte. Des-
halb kann man sagen: Die große Vielseitigkeit unseres
Landes gehört eindeutig eher zu seinen Stärken als zu
seinen Schwächen.
Meine Damen und Herren, zu den diesjährigen Preis-
trägern des Wettbewerbs „Jugend forscht“ gehören
Jakob Bierwagen und Julia Oberland ebenso wie Giu-
seppe Nicolaci, Nikon Rasumov und Masud Sultan. Auf
die Leistungen dieser jungen Leute können wir gleicher-
maßen stolz sein.
Einer der populärsten zeitgenössischen Autoren hier-
zulande ist Wladimir Kaminer. Der erste deutsche Film,
der nach 20 Jahren wieder einen Goldenen Bären ge-
wann, wurde von Fatih Akin gedreht. Xavier Naidoo ist
einer der meistgehörten deutschen Popkünstler. Ohne
Gerald Asamoah, Miroslav Klose und Kevin Kuranyi
wäre es – auch das ist richtig – um die Offensivkraft der
deutschen Fußballnationalmannschaft eher schlecht be-
stellt.
Was verbindet die Menschen unseres Landes gleich
welcher Herkunft oder Religion? Im demokratischen
und sozialen Rechtsstaat Deutschland kann es darauf nur
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Über die Einhaltung dieser Verfassung – auch das ge-
ört zur Realität im Einwanderungsland Deutschland –
acht übrigens unter anderem Verfassungsrichter Udo
i Fabio, der Enkel eines Zechenarbeiters, der aus Ita-
en in das Ruhrgebiet eingewandert ist.
Wir waren uns in diesem Hause nach den Terroratta-
ken vom 11. September 2001 darüber einig, dass wir
icht der falschen These vom Kampf der Kulturen,
estgemacht am Religionsbegriff, das Wort reden. Es
äre falsch, es wäre verheerend, diese gemeinsame Po-
ition aufzugeben oder hinter sie zurückzufallen. Es ist
leichermaßen falsch, eine Debatte über Integrationsfra-
en zuvorderst als sicherheitspolitische Debatte zu füh-
en. Diesen Vorwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen
on CDU/CSU, muss man Ihnen an dieser Stelle ma-
hen.
Es wäre verwerflich und zutiefst beleidigend, wenn
an bei den über 3 Millionen Menschen muslimischen
laubens in Deutschland auch nur annähernd den Ein-
ruck erweckte – in den letzten Wochen könnte dies
uch aufgrund mancher unbedachter Worte leider ge-
chehen sein –, sie würden unter den Pauschalverdacht
estellt, potenzielle Extremisten zu sein. Das wäre
alsch. Islamismus hat mit dem Islam ebenso wenig zu
un wie seinerzeit die Kreuzzüge mit den Grundwerten
es Christentums.
Friedrich der Große – nicht unbedingt ein Republika-
er – hat einmal zutreffend bemerkt:
Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die
Leute, die sich zu ihnen bekennen, ehrliche Leute
sind.
eine Damen und Herren, aus guten Gründen ist die
reiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekennt-
isses Bestandteil des Grundgesetzes. Zugleich gilt: Das
irken von Hasspredigern, gleich welcher religiöser
der ideologischer Couleur, kann und darf nicht geduldet
erden. Unsere Demokratie ist wehrhaft; Extremismus,
gal welcher Art, wird stets den gemeinsamen Wider-
tand der Demokraten finden.
Wie Sie vielleicht wissen, bin ich Mitglied der evan-
elisch-lutherischen Landeskirche Hannover. Ich weiß
icht, ob ich hier der einzige bin; Herr Goldmann, wie
t das mit Ihnen?
13454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Sebastian Edathy
– Na ja!
Als Mitglied dieser Landeskirche sage ich: Wer meint,
als Christ in Deutschland den Muslimen in Deutschland
Integrationsbereitschaft pauschal absprechen zu dürfen,
der sei insbesondere an das neunte Gebot erinnert, das da
lautet:
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen
Nächsten.
Denn es ist doch wahr: Das Zusammenleben in Deutsch-
land gestaltet sich ganz überwiegend friedlich und zivili-
siert. Das spricht für die Stärke und Stabilität unserer
Gesellschaftsordnung. Diese Stärke und Stabilität zu
bestreiten, wäre falsch und würde die Wirklichkeit ver-
zerren; es wäre zudem höchst unpatriotisch.
Wahr ist aber auch: Es gibt Defizite. Der Anteil von
Schulabbrechern mit Migrationshintergrund ist zu hoch,
die Beherrschung der deutschen Sprache als entschei-
dender Schlüssel für gelingende Integration vielfach
nicht ausreichend. Hier wirken sich Versäumnisse der
Vergangenheitsfolgen schwer aus.
CDU und CSU haben lange Zeit verneint, dass
Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass viele
der Menschen, die in dieses Land kamen, nicht Gäste
waren, sondern Nachbarn und neue Mitbürger wurden.
Von dieser Realitätsverweigerung war in den 80er-Jah-
ren und in weiten Teilen der 90er-Jahre die Bundespoli-
tik geprägt.
Eine zeitgemäße Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes
und ein Zuwanderungsgesetz, das unter anderem eine
systematische Sprachförderung vorsieht, konnten im
Interesse unseres Landes erst von einer rot-grünen Bun-
destagsmehrheit durchgesetzt werden.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, ist es nicht angebracht, wenn Sie in den Mittel-
punkt Ihrer Äußerungen die Klage darüber stellen, dass
diejenigen, denen Sie lange Zeit die Zugehörigkeit zu
unserem Gemeinwesen abgesprochen haben, zu wenig
Zugehörigkeitsgefühle entwickelt hätten und dass dieje-
nigen, denen man die Schlüssel zur Öffnung der Türen
in unsere Gesellschaft lange Zeit vorenthalten hat, im
gemeinsamen deutschen Haus ihre Zimmer zu selten
verlassen. Helfen Sie mit, insbesondere in den von Ihnen
regierten Bundesländern – so, wie wir es auf Bundes-
ebene tun –, Integrationsprozesse zu fördern und zu un-
terstützen, auch materiell und finanziell.
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Achten wir gemeinsam darauf, soziale Probleme nicht
u ethnisieren oder zur Angelegenheit einer Religionsge-
einschaft zu erklären. Es sind ja nicht die Kinder von
us der Türkei kommenden Chirurgen oder – wenn ich
n meinen Vater denke – indischstämmigen Pastoren, die
chwierigkeiten haben, ihre Teilhabechancen in unserem
and zu nutzen. Vielmehr reden wir doch von unterpri-
ilegierten, sozial schwachen Menschen, und dabei nicht
ur von Menschen mit Migrationshintergrund, deren Fa-
ilien seit kurzem oder seit wenigen Generationen in
eutschland leben. Wir reden auch von Nichtmigranten-
amilien, in denen es Tendenzen zur Verfestigung eines
tatus der Benachteiligung gibt.
Wir sind es nicht zuletzt unserer Selbstachtung als
itglieder einer offenen, keinem Klassendenken verhaf-
ten Gesellschaft schuldig, gemeinsam dafür Sorge zu
ragen, dass insbesondere mit Blick auf heranwachsende
enerationen das Motto der Jugenddörfer auch unser
eitsatz wird: Keiner darf verloren gehen!
Einige Bausteine zum Erreichen dieses Ziels sind der
usbau der Betreuung von Kindern im Vorschulalter, wo
ötig eine möglichst früh einsetzende Sprachförderung,
ehr Durchlässigkeit im Schulwesen, Religionsunter-
icht unter staatlicher Aufsicht und eine Ausweitung von
ualifizierungsmaßnahmen für junge Bürger ohne
chulabschluss.
enn wir stellen fest: Anfällig für extremistische Paro-
n sind Menschen, die keine Perspektive sehen. Das gilt
ür den Rechtsextremismus genauso wie für den Islamis-
us. Dem entgegenzuwirken, ist unsere gemeinsame
ufgabe.
Ein Zusammenleben in Respekt der Menschen unter-
inander, in Achtung vor der Würde des anderen, ohne
ngst vor Verschiedenheit ist möglich. Dieses Zusam-
enleben zu gestalten, ist zugleich der Auftrag des
rundgesetzes, den zu erfüllen wir immer wieder aufs
eue gefordert sind.
Am Vorabend des 60. Jahrestages des Kriegsendes
önnen wir selbstbewusst feststellen: Das Maß an Zivili-
ierung der deutschen Gesellschaft war noch nie so
roß wie heute. Darauf können wir gemeinsam stolz
ein. Wir müssen aber zugleich darauf achten, dies nicht
ls Selbstverständlichkeit zu betrachten. Wir müssen
ielmehr dafür Sorge tragen, dieses kostbare Gut zu
ahren und zu mehren. Dazu gehört, Konflikte, die es in
inem offenen Land immer geben wird, friedlich auszu-
agen.
Unserer Gesellschaft tut es nicht gut und sie entwi-
kelt sich nicht gut weiter, wenn man sie in Gruppen, in
eile spaltet. Nicht um Teile, sondern um das Ganze geht
s. Das im Auge zu behalten, rational und mit behutsa-
er Sprache zu argumentieren statt zu stigmatisieren,
ie breite Grundlage unseres Gemeinwesens zu stärken
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13455
)
)
Sebastian Edathy
und in dessen Vielseitigkeit nicht zuerst ein Risiko, son-
dern zuerst eine Chance zu erblicken, sollte uns leiten.
Auf diesem schwierigen Weg gab und gibt es viele Un-
wägbarkeiten – das wird auch so bleiben – und dieser
Weg ist bisweilen steinig. Aber es gibt nur diesen Weg;
denn alle anderen würden in eine Sackgasse führen.
Auf ein Deutschland, in dem das Zusammenleben von
Menschen verschiedenster Herkunft, Religionen und
Weltanschauungen auf der Basis der gemeinsamen
Werte unseres Grundgesetzes nicht nur gelingt, sondern
selbstverständlich geworden ist, können wir zu Recht
stolz sein. An der Weiterentwicklung unseres Landes in
diesem Sinne zu arbeiten, ist unser aller Verpflichtung.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Max Stadler.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die FDP-Fraktion will mit ihrem heutigen An-
trag und insbesondere mit dem von meinem Kollegen
Klaus Haupt entwickelten Integrationskonzept einen
Beitrag zur Versachlichung der Integrationsdebatte leis-
ten. Dies scheint mir angesichts des Verlaufs der heuti-
gen Debatte dringend erforderlich.
Wir haben heute wieder gesehen, dass die Verwen-
dung ideologisch besetzter Begriffe wie „Multikulti“
oder „Leitkultur“
eher dazu führt, dass die Kontrahenten aneinander vor-
beireden. Das führt ebenso wenig weiter, wie es etwas
bringen würde, wenn man sich in der Argumentation
ausschließlich auf Negativbeispiele stützen oder gar die
Augen vor den Problemen verschließen würde.
Frau Kollegin Köhler, die unerträgliche Passage aus
einer Zeitung, die Sie vorhin zitiert haben, ist ein Fall für
die Staatsanwaltschaft in Berlin.
Wenn sie davon Kenntnis erlangt, muss sie einschreiten.
Das ist völlig selbstverständlich. Bei uns gilt zwar das
Recht auf Meinungsfreiheit, aber das hat Grenzen. Es ist
wichtig, das festzuhalten, weil wir gleich darauf zurück-
kommen.
In der jetzigen Situation brauchen wir pragmatische
Lösungen. Diese pragmatischen Lösungen haben ihre
Basis in den Grundwerten unserer Verfassung. Ich nenne
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azu hat die FDP in Baden-Württemberg eine Initiative
estartet.
Zum Dritten. Die Grundrechte – dieser Punkt ist
ichtig; allerdings gerät er manchmal in Vergessenheit –
ind auch dadurch gekennzeichnet, dass sie jedem Ein-
elnen das Recht auf aktive Teilhabe am gesellschaftli-
hen Leben und an politischen Entscheidungen zubilli-
en. Deswegen stelle ich die Frage: Warum sollten
enschen, die bereits länger als fünf Jahre rechtmäßig
n Deutschland leben, über kommunale Angelegenhei-
en, also über ihren eigenen unmittelbaren Lebensbe-
eich, nicht mitbestimmen dürfen?
13456 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Dr. Max Stadler
Meine Damen und Herren, auch in der heutigen De-
batte dürfen wir nicht so tun, als gäbe es die Bemühun-
gen um Integration erst seit zwei oder drei Wochen.
Selbstverständlich arbeiten viele Menschen seit Jahren
und zum Teil auch mit großem Erfolg daran. Aber wir
hätten mit dem Zuwanderungsgesetz schon vor Jahren
eine neue Qualität der Integrationspolitik schaffen kön-
nen, wenn wir nicht viel zu viel Zeit durch unnötigen
Streit verloren hätten.
Das zum Beispiel von der SPD-Fraktion wohlmeinend
ausgerufene „Jahrzehnt der Integration“ ließ bisher auf
sich warten. Das muss jetzt endlich angepackt werden.
Meine Damen und Herren, wir waren, was den Inte-
grationsteil des Zuwanderungsgesetzes betrifft, nicht
mutig genug. Die nachholende Integration blieb nahezu
ausgespart. Das heißt auf Deutsch: Was macht es für ei-
nen Sinn, dass jemandem, der am 2. Januar nächsten
Jahres nach Deutschland einreist, ein Deutschkurs ange-
boten wird, jemandem, der am heutigen 2. Dezember
einreist, aber nicht, obwohl beide wahrscheinlich unge-
fähr die gleiche Zeit hier bleiben werden? Ich halte das
für einen schweren Fehler.
Warum gibt es eigentlich keine angemessene Rege-
lung, die vorsieht, dass wir Menschen, die seit vielen
Jahren mit ihren Familien hier leben, deren Kinder hier
geboren sind und die bestens integriert sind, hier behal-
ten und ihnen erlauben können, dauerhaft in Deutsch-
land zu leben? Auch eine solche Regelung zu schaffen,
das ist im Zuwanderungsgesetz nicht gelungen.
Wahrscheinlich war es falsch, dass wir Juristen am Ende
der Verhandlungen unter uns waren. Integration ist näm-
lich eine Aufgabe für alle.
Daher greift die FDP-Fraktion den Vorschlag von
Guido Westerwelle auf, der verlangt hat, einen „Runden
Tisch der Religionen“ ins Leben zu rufen. Wir brauchen,
wie ich es vorgeschlagen habe, –
Herr Kollege Stadler!
– tatsächlich einen pragmatischen Dialog ohne Be-
rührungsängste mit all denen, die bereit sind, die Wert-
vorstellungen des Grundgesetzes weiter zu transportie-
ren, sodass sie bei allen Menschen, die in Deutschland
leben, bald Gemeingut sind.
Vielen Dank.
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ir haben noch einen langen Weg vor uns, was die inte-
rationspolitischen Angebote von uns als aufnehmender
esellschaft anbelangt. Wir werden uns sicherlich noch
iele Male damit auseinander setzen, in diesem Haus
nd auf der Ebene der Länder und Kommunen, wo ein
esentlicher Teil der Integrationsarbeit geleistet wird.
Wir sind uns einig, dass jeder Extremismus, der die
eligion über die Gesetze des Staates stellt, mit einem
emokratischen Rechtsstaat nicht vereinbar ist. Deswe-
en soll und muss der demokratische Staat den Islamis-
us mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen.
azu gehört das Strafrecht, Frau Köhler, dazu gehört
wie ich auch gefordert habe – mehr Fremdsprachen-
ompetenz bei der Polizei und beim Verfassungsschutz,
amit islamistische Quellen ausgemacht werden.
Doch wir alle sagen: Islamismus ist nicht gleichzuset-
en mit Islam. Ich füge hinzu: Auch religiöser Konserva-
ivismus ist nicht gleichzusetzen mit Islamismus.
ir haben die Aufgabe, uns jeder Generalverdächtigung
on Muslimen entgegenzustellen, weil wir nicht aus-
renzen wollen; es würde sich ja eines Tages gegen uns
enden, wenn wir ausgrenzen würden. Wenn wir wol-
en, dass sich jemand zu diesem Land und zu seinen
erten bekennt, dürfen wir ihn nicht von vornherein un-
er Verdacht stellen.
ir brauchen den Dialog mit den Muslimen und wir
üssen ehrlich bezeugen, dass wir gewillt sind, den Is-
am als Religion gleich zu behandeln. Aus Dialog, Aner-
ennung und Repression besteht der Dreischritt, mit dem
ir den politischen Islamismus austrocknen können.
In den letzten vierzig Jahren sind Anhänger einer uns
eitgehend fremden Religionsgemeinschaft zugewan-
ert. Lange war diese Religion in unserem Lande nicht
ichtbar und wir haben als aufnehmende Gesellschaft
iel zu lange nicht gehandelt. Noch immer ist der
eutschsprachige islamische Religionsunterricht in unse-
en Schulen über Modellprojekte nicht hinausgekom-
en. Noch immer steckt die Ausbildung von Imamen an
eutschen Universitäten in den Kinderschuhen und es
ehlt an einem kontinuierlichen Dialog mit den Musli-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13457
)
)
Parl. Staatssekretärin Marieluise Beck
men. Dieser ist nicht leicht – ich weiß, wovon ich spre-
che –, weil die Organisationen oft undurchsichtig sind
und man sich durchaus auf einem schwierigen Terrain
befindet, wenn man mit den Verbänden zusammentrifft.
Es gibt immer noch kaum kluge Ansätze, wie auch die
Muslime zu einer institutionellen Organisationsform
kommen können, in der der Staat ein verlässliches Ge-
genüber hat. Der Kollege Koschyk ist jetzt nicht da, da-
her bitte ich, es ihm auszurichten: Das ist das, was unter
Staatskirchenrecht zu verstehen ist.
Spannend ist, was der neu gewählte Vorsitzende der
bürgerlich-konservativen französischen Regierungspar-
tei, Nicolas Sarkozy, seinen Franzosen ins Stammbuch
schreibt:
Die Integration setzt weiterhin voraus, daß die Re-
publik Platz macht. Viele unserer muslimischen
Mitbürger haben das nicht unbegründete Gefühl,
daß es ihnen schwerer gemacht wird als anderen
Franzosen, einen Platz zu finden.
Diese Beschreibung, meine Damen und Herren, trifft lei-
der auch auf Deutschland zu.
Pluralität ist Kennzeichen von Einwanderungsge-
sellschaften, von modernen Gesellschaften überhaupt.
Gerade deshalb müssen auch wir fragen, was unsere Ge-
sellschaft zusammenhält. Im Kern geht es um die Frage
des Zusammenlebens in unserem demokratischen
Rechtsstaat; auf der Grundlage unserer Verfassungs-
werte.
Ich habe vorgeschlagen, dass wir die Einwanderer
zum Patriotismus einladen. Die Einladung bedeutet, dass
unsere Verfassung auch ihre Verfassung ist. Wer nicht
eingeladen wird, der gesellt sich auch nicht dazu.
Wer nicht anerkannt wird, der identifiziert sich auch
nicht. Es darf nicht um Ausgrenzung gehen, sondern es
muss immer um Einbeziehung gehen.
Wir sollten unsere Kraft darein legen, dass die Dazuge-
kommenen sich wirklich zugehörig fühlen können, ohne
dass sie der Herkunft ihrer Eltern, ihrer Religion oder ih-
rer Kultur abschwören müssten. Das schafft Identifika-
tion und öffnet die Türen für Integration.
Unsere Verfassung fordert Freiheit der Meinungen
und Religionen, nicht ihre Übereinstimmung. Unsere
Verfassung lässt kulturelle Differenz zu, ja sie begreift
sie als Recht: Es gibt ein Recht auf Differenz, es gibt ein
Recht auf Anderssein. Es geht darum, abweichende Le-
bensweisen – auf der Basis gemeinsamer Grundwerte –
anzuerkennen.
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Toleranz heißt deshalb auch: Zumutungen aushalten.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
RÜNEN):
Ja. – Für die einen ist das Kopftuch eine Zumutung,
ür die anderen eine künstlerische Persiflage auf den Ko-
an oder die Bibel.
Es gibt nicht die Muslime, die Türken und auch nicht
ie Deutschen.
as sollte unsere Grundhaltung sein.
Frau Präsidentin, zum Schluss möchte ich die Kolle-
innen und Kollegen gerne noch dazu auffordern, ins
ino zu gehen. Gönnen Sie sich den Film „Rhythm is
t!“ In ihm können Sie sehen, wie die bewundernswerten
ünstler Sir Simon Rattle und Royston Maldoom junge
enschen – unter ihnen sind viele Migranten – zu einer
temberaubenden künstlerischen Hochleistung bringen.
ie verlangen diesen Menschen viel ab.
Frau Kollegin, bitte. Ich glaube, Ihr Tipp ist ange-
ommen.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
RÜNEN):
Sie fordern Anstrengung und Disziplin und glauben
n ihre Fähigkeiten. Dies könnte auch unser integrati-
nspolitisches Motto sein.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Grindel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
nser Bundespräsident Horst Köhler hat sich gestern in
übingen erstmals zur Integrationsdebatte geäußert. Er
agte:
Keine Gruppe darf aus der Gesellschaft ausge-
schlossen werden, keiner aber darf sich auch selber
ausschließen.
oleranz sei deshalb nicht mit Gleichgültigkeit und
gnoranz zu verwechseln.
13458 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Reinhard Grindel
Es ist sicher richtig und muss festgehalten werden:
Die Mehrheit der Muslime bei uns ist integrationsbereit
und achtet unsere Gesetze und Verfassungsprinzipien. Es
wächst aber die Zahl derjenigen, die auf Abschottung
setzen, die über Moscheevereine fundamentalistisches
Gedankengut verbreiten, die Eltern zwingen, ihre Kinder
in die Koranschule zu schicken, sodass sie nicht mit ih-
ren deutschen Mitschülern spielen können, und die Inte-
gration verhindern wollen. Zentrale Aufgabe der Politik
muss es daher sein, die integrationswilligen und weltof-
fenen ausländischen Mitbürger zu unterstützen und sie in
ihrem Wunsch zu stärken, in Deutschland selbstbe-
stimmt zu leben. Das ist unsere Aufgabe. Daran müssen
wir härter als bisher arbeiten.
Die Vorsitzenden der Grünen haben in diesen Tagen
dagegen einen Aufsatz im „Tagesspiegel“ unter dem
Motto „Multikulti ist Freiheit“ veröffentlicht.
Frau Roth, das ist abwegig. Multikulti toleriert islami-
sierte Räume in unseren Städten und Verhaltensweisen
von Ausländern, die zu Unfreiheit führen. Keine Tole-
ranz gegenüber Intoleranten – das schafft Freiheit und
Rahmenbedingungen, die wir für die Integration brau-
chen. So muss es sein. Frau Roth, das, was Sie multikul-
timäßig als Freiheit definiert haben, brauchen wir nicht.
Die türkischstämmige Schauspielern Sibel Kekilli hat
in dieser Woche dem „Focus“ ein eindrucksvolles Inter-
view gegeben, in dem sie die Unterdrückung muslimi-
scher Frauen und Mädchen anprangert. Sie sagt:
Aber ich finde, von deutscher Seite darf auch nicht
weggeguckt werden. Es fängt im Kleinen an: Deut-
sche Gerichte fällten Urteile, dass muslimische
Mädchen wegen der Religion ihrer Eltern nicht zum
Sport und auf Klassenfahrten durften. Was ist denn
das für eine Toleranz, die auf Kosten der Mädchen
geht?
Ich frage vor allem die Grünen: Was ist eigentlich aus
Ihrem Anspruch auf Emanzipation geworden?
Frau Roth, Sie lassen die Mädchen, von denen Sibel
Kekilli zu Recht spricht, im Stich und machen die Unter-
drückung noch schlimmer, indem Sie solche Mädchen
am liebsten auch noch in den Schulen mit Kopftuch tra-
genden Lehrerinnen konfrontieren wollen. Das ist ein
völlig falscher Weg, mit dem Sie gerade diesen Mädchen
nicht gerecht werden.
Wir wollen Selbstbestimmung und Integration. Wir
wollen kein Klima des Nebeneinanders, aus dem schnell
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Jetzt sagen alle, Deutsch sei der Schlüssel zur Integra-
ion. Das haben wir als Union immer gesagt. SPD und
rüne schreiben in ihrem Antrag zum Thema Integra-
ionskurse:
Nach dem Grundsatz des „Förderns und Forderns“
werden Rechte und Pflichten klar formuliert.
Schön wär’s, kann ich dazu nur sagen. Wir haben bei
en Zuwanderungsverhandlungen eindringlich und
achdrücklich an Sie appelliert, Integrationskurse ver-
flichtend zu machen. Wir wollten, dass künftig nie-
and eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis be-
ommt, der nicht erfolgreich einen Integrationskurs
esucht hat. Damit wollten wir erreichen, dass auch die-
enigen, die in einer Parallelgesellschaft leben, den
wang spüren, einen Integrationskurs zu besuchen, so-
ass wir über diesen Weg an die Menschen herankom-
en, um ihnen auch Beratungsangebote zu machen.
Das wäre ein überzeugendes Integrationskonzept.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
ollegin Sonntag-Wolgast?
Ich möchte erst diesen Gedanken zu Ende führen. –
ie haben den Ansatz, Integrationskurse verpflichtend
u machen, aus ideologischen Gründen verhindert. In Ih-
em Antrag schreiben Sie:
Mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes
sind die vielfältigen integrationspolitischen Ver-
säumnisse der Vergangenheit aber nicht vollständig
ausgeräumt.
azu kann ich nur sagen: Fassen Sie sich an Ihre eigene
ase. An CDU und CSU liegt es wirklich nicht.
Herr Kollege Grindel, nun sind Sie zwar erst seit die-
er Legislaturperiode Mitglied des Deutschen Bundesta-
es. Aber es sollte doch auch vorher Ihrer Aufmerksam-
eit nicht entgangen sein, wo die Hauptversäumnisse
er Integrationspolitik der letzten drei bis vier Jahr-
ehnte lagen und dass es die rot-grüne Koalition war, die
um Beispiel mit der Staatsbürgerschaftsreform Anfor-
erungen an die Sprachkenntnisse und die Verfassungs-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13459
)
)
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
treue der Eingewanderten stellte. Im Zuwanderungsge-
setz, das weite Teile Ihrer Partei nach Kräften bekämpft
haben, wird endlich auch das Kernstück der Integration,
Sprachkurse nach dem Grundsatz des Förderns und For-
derns, konsequent als Ziel verfolgt. Das kann doch Ihrer
Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, sodass Sie hier zu
behaupten wagen, es gebe tief greifende Versäumnisse.
Erste Antwort: Ich kann nicht erkennen, dass die
wachsende Zahl von Einbürgerungen die Integration
tatsächlich gefördert hätte. Genau das Gegenteil ist der
Fall.
Mit der Optionsregelung, die Sie bei der Staatsbürger-
schaft eingeführt haben, mit der ausländische Kinder
Deutsche werden können, ohne Deutsch sprechen zu
können und ohne einen Bezug zu unserem Land zu ha-
ben, sorgen Sie dafür, dass Integration eben nicht er-
reicht wird, Frau Dr. Sonntag-Wolgast.
Zweite Antwort: Die PISA-Studie beweist – das ist
ein Beispiel für Integration –, dass ausländische Kinder
in Bayern einen größeren Schulerfolg haben als deutsche
Kinder in Bremen. Das sollte Ihnen zu denken geben.
Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel: Länder und
Kommunen warten seit Monaten auf die Verordnung zu
den Integrationskursen. Die Grünen haben diese lange
verhindert. Sie haben versucht – der Bundesinnenminis-
ter weiß das –, die Anforderungen an das Sprachniveau
zu senken. Darüber hinaus haben Sie Ausnahmetatbe-
stände durchgedrückt, bei denen Ausländer die Kurse
doch nicht besuchen müssen. Erst gestern ist die Verord-
nung nun endlich beschlossen worden. Eine gute Vorbe-
reitung für die Integrationskurse, die wir wohl alle als
wichtig erachten, ist dadurch um Monate verzögert wor-
den. Bei der ersten Nagelprobe, bei der Sie zeigen konn-
ten, wie ernst Sie es mit der Integration nehmen, war Ih-
nen Ideologie wichtiger, als ein ordentliches Konzept
vorzubereiten, mit dem vor Ort tatsächlich Probleme ge-
löst werden können, statt Ideologien zu frönen.
Der SPD-Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz
Buschkowsky, hat in diesen Tagen immer wieder erklärt,
es gebe bei der Integration Rückschritte und in den Pa-
rallelgesellschaften seines Bezirks hätten junge Muslime
wenig Zukunftsperspektiven. Die Zahl junger Men-
schen, die dort ohne Abschluss die Schule verlassen,
wachse ständig an. – Ich will darauf verweisen, dass es
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Wir haben – einige Vertreter Ihrer Fraktion wie Frau
kgün waren dabei – mit einer Gruppe des Innenaus-
chusses bereits bei einem Besuch im Juni in Ankara den
eiter des türkischen Amtes für Religionsfragen darum
ebeten, dass Imame Deutschkurse besuchen, bevor sie
u uns kommen und auch länger bei uns bleiben dürfen.
Er hat dem zwar sehr zugestimmt und gesagt, es solle
ich etwas ändern; aber geschehen – Frau Kollegin Roth,
ie wissen das – ist bis heute nichts. Ich fordere von die-
er Stelle gerade die türkische Regierung auf, uns bei un-
eren Integrationsbemühungen wirklich zu unterstützen
nd den Ankündigungen auch Taten folgen zu lassen.
ahr ist leider auch: Moscheen werden immer mehr
um Treffpunkt für radikale und gewaltbereite Isla-
isten und zu Orten von Indoktrination und Volksver-
etzung. SPD und Grüne schreiben stolz in ihrem An-
rag:
Das neue Zuwanderungsgesetz ermöglicht die Aus-
weisung von gefährlichen ... Hetzern, die die Frei-
heitsrechte unserer verfassungsrechtlichen Grund-
ordnung missbrauchen.
iebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von
en Grünen, fair wäre es gewesen, wenn Sie in Ihrem
ntrag hinzugefügt hätten: Und wir danken CDU und
SU dafür, dass sie so nachdrücklich dafür gesorgt ha-
en, dass im Zuwanderungsgesetz etwas für mehr Si-
herheit getan wird. – Wenn es nach Ihnen gegangen
äre, könnten wir Hassprediger und Terrorverdächtige
n Zukunft nicht ausweisen.
s waren wir – die CDU/CSU –, die – auch über unsere
ollegen in den Bundesländern – diese Bestimmung in
as Zuwanderungsgesetz hineingebracht haben.
13460 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Reinhard Grindel
Das gilt es festzuhalten.
Ich komme zum Schluss.
Multikulti ist in Wahrheit Kuddelmuddel. Es ist eine Le-
benslüge, weil Multikulti in vielen Vierteln eben nur
Monokultur geschaffen hat, wo Anreize zur Integration
fehlen. Sibel Kekilli meint dazu in ihrem „Focus“-Inter-
view, das ich bereits erwähnt habe:
Die Politiker müssen unbedingt klar machen, dass
ein Nebeneinander nicht geht.
Dem kann man nur zustimmen. CDU und CSU haben
immer gesagt: Wir brauchen mehr Integration
und wir brauchen mehr politische Unterstützung für In-
tegrationswillige. Sonst fährt die Ausländerpolitik in
Deutschland gegen die Wand.
Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Lale Akgün von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich war neun Jahre alt, als ich 1962 nach
Deutschland kam. Konrad Adenauer war Bundeskanzler
und Conny Froboess sang das Lied „Zwei kleine Italie-
ner“, die erste poetische Beschreibung des Gastarbeiter-
daseins in Deutschland. Damals gab es in Deutschland
670 000 Ausländer. Sie galten als interessant und exo-
tisch, aber keinesfalls als belastend oder gar gefährlich.
Sie lebten in Arbeiterheimen und hatten keinerlei Kon-
takt zur deutschen Gesellschaft, aber merkwürdiger-
weise sprach niemand von „Parallelgesellschaften“. Das
Wort Integration kannten nur Soziologen.
Ganz anders stellt sich die Situation heute dar. Die
Debatte, die wir heute zu den Themen Integration, Isla-
mismus und Extremismus erleben, droht sich hochzu-
schaukeln und das politische Klima in Deutschland zu
vergiften, vor allem dann, wenn man sich in der Argu-
mentation nicht auf sachliche Inhalte konzentriert, son-
dern Vorurteile durch ständiges Wiederholen zu zemen-
tieren versucht.
In dieser Situation bedauere ich es zutiefst, dass es ei-
nige Politiker aus den Reihen der CDU/CSU gibt, die die
Debatte auf eine theoretische Ebene heben, die Stim-
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un frage ich mich, ob Sie in Ihrer Partei verschiedene
inien verfolgen, und ich frage mich, ob Sie uns hier et-
as anderes erzählen, als die CSU hintenherum macht.
Deutschland ist ein demokratischer und weltoffener
taat. Gerade deshalb werden wir es nicht tolerieren,
ass Extremisten die demokratischen Freiheiten miss-
rauchen und Andersgläubige und Andersdenkende ver-
nglimpfen oder gar bedrohen. Ich denke, darin sind wir
ns in diesem Hause über alle Fraktionsgrenzen hinweg
m Grundsatz einig.
Ich fordere ebenso energisch dazu auf, in der Debatte
ie Trennlinie zwischen dem Islam als Religion und dem
slamismus – also der politischen Instrumentalisierung
er Religion – nicht zu verwischen. Wir dürfen nicht
auschal eine der großen Weltreligionen für die Verbre-
hen einiger Terroristen verantwortlich machen. Diese
lischees schüren Rassismus und Islamophobie
nd liefern den Neonazis die Steilvorlage für die men-
chenverachtende Hetze gegen die Einwanderer und den
slam. Ich will an dieser Stelle in Erinnerung rufen, dass
n den vergangenen zehn Jahren in Deutschland über
00 Menschen Opfer rassistischer Gewalt geworden
ind.
Die große Mehrheit der Muslime in Deutschland be-
ennt sich ohne Wenn und Aber zu den Werten der Ver-
assung, nicht nur verbal, sondern aus innerster Überzeu-
ung und in dem Bewusstsein, dass Extremismus und
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13461
)
)
Dr. Lale Akgün
Islamismus alle Menschen bedrohen, besonders auch die
Muslime, die demokratisch denken und jede Form von
Extremismus ablehnen.
Demokratischen Muslimen fällt übrigens nichts leich-
ter, als einen Eid auf das Grundgesetz abzulegen, wenn
dies als Teil der Einbürgerungszeremonie eingeführt
werden sollte. Dann sollte dies aber nicht nur für die
Muslime, sondern für alle Einzubürgernden gelten. Ich
betone das bewusst, weil ich aus eigener Erfahrung spre-
che. Sie kennen meine Position hinsichtlich der Integra-
tion und des Rechts auf gleichberechtigte Religionsaus-
übung für Muslime, die ich auch im Zuge der Diskussion
über das Kopftuchtragen von Lehrerinnen immer wieder
vorgetragen habe.
Das alles hat mir viel Kritik und hässliche Drohungen
von Rechtsextremen und Islamisten gleichermaßen be-
schert. Das alles ist zu ertragen, weil ich weiß, wie viel
Zuspruch ich andererseits aus der Mitte unserer Gesell-
schaft von Deutschen und Migranten, von Muslimen wie
Christen bekomme.
Aber es gibt einen Punkt, bei dem auch bei mir das
Fass innerlich überläuft, und zwar immer dann, wenn ich
als Muslimin generell stigmatisiert werde, wenn ich von
Journalisten gefragt werde, ob ich um 22 Uhr abends
noch ein Interview geben darf, ob mein Mann mir das er-
laubt und ob auch ich zwangsverheiratet sei. Ich merke
deutlich, dass in der öffentlichen Diskussion etwas aus
dem Ruder gelaufen ist.
Jede Zwangsehe ist eine zu viel. Aber sie ist im nor-
malen Alltag doch nicht der Regelfall. Die Öffentlich-
keit beschäftigt sich zurzeit viel zu sehr mit Sensationen
und viel zu wenig mit der Realität der Zugewanderten.
Alle reden von Integration. Aber wie definiert man
sie? In soziologischer Hinsicht besteht die Minimalan-
forderung an die Integration darin, Steuern zu zahlen
und seine Kinder in die Schule zu schicken. Integration
kann aber auch heißen, gesellschaftliche und politische
Verantwortung zu übernehmen. Dazwischen gibt es un-
zählige Schattierungen und Möglichkeiten.
Wir sollten uns davor hüten, die Definitionsmacht
über Integration und Desintegration zu beanspruchen
und Menschen zu Objekten unserer Integrationsvorstel-
lungen machen zu wollen. Machen wir uns eines klar:
Die Politik kann niemanden integrieren. Wir können
aber die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Zuge-
wanderten die Chance bekommen und den Wunsch ver-
spüren, in dieser Gesellschaft anzukommen.
Wenn Herr Schönbohm meint, dass er Zwangsmittel
zur Integration nicht ausschließen will, dann kann ich
ihn nur bedauern, weil er den Sinn und das Ziel von Inte-
gration nicht verstanden hat. Aber ebenso bedaure ich
diejenigen, die er zwangsintegrieren möchte.
Wir von der Koalitionsfraktion haben einen Antrag
vorgelegt, der den Schwerpunkt auf die Gemeinsamkeit
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Daher der Appell an die Unionsfraktion: Nutzen Sie
hren Einfluss auf die unionsregierten Bundesländer und
orgen Sie dafür, dass sie die Integrationsmittel nicht
ürzen, sondern ihrer Verantwortung gerecht werden!
timmen Sie im Bundestag für unsere sinnvollen Vor-
chläge, zum Beispiel die Abschaffung der Eigenheim-
ulage und die Verwendung der dadurch frei werdenden
ittel für die Bildung. Auch das ist ein Schritt hin zu
ehr Integration.
Übrigens sagen auch Sie, liebe Kolleginnen und Kol-
egen von CDU und CSU, viele richtige Dinge, was die
ntegration betrifft: Die zugewanderten Menschen müs-
en richtig Deutsch sprechen. Sie müssen sich um Bil-
ung und berufliche Qualifizierung bemühen. Sie müs-
en Kontakte knüpfen. Trotzdem gehen Ihre Appelle
icht in die Herzen der zugewanderten Menschen, weil
ie sie nicht als Teil der deutschen Gesellschaft begrei-
en. Das spüren die Zugewanderten. Das Wirgefühl, das
ine Gesellschaft ausmacht und das die Grundlage eines
esunden Patriotismus werden könnte, bleibt aus.
Apropos Patriotismusdebatte: Sie sollte nicht geführt
erden, um einen Teil der Bevölkerung auszuschließen,
ondern um alle einzuschließen. Dieses Land ist auf der
uche nach dem Wirgefühl. Ob Ost und West oder Ein-
eimische und Zugewanderte – die trennenden Schnei-
en gehen durch die Bevölkerung. Wenn jedoch jemand
laubt, dass ein Wirgefühl auf Kosten der Zugewander-
en erzeugt werden kann, und zudem Angstgefühle in
er Bevölkerung hervorruft und diese instrumentalisiert,
chadet er diesem Land. Das ist das pure Gegenteil von
atriotismus.
13462 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
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Dr. Lale Akgün
Angesichts der demographischen Entwicklung in
unserem Land haben wir nur dann eine Chance,
Deutschland auf Weltniveau zu halten, wenn wir ein
Wirgefühl entwickeln. Wir können es uns nicht leisten,
einen erheblichen Teil unseres Nachwuchses als Auslän-
der auszuschließen. In meiner Heimatstadt Köln bei-
spielsweise beträgt der Ausländeranteil 30 Prozent.
Frau Kollegin Akgün, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. – Ich appelliere an alle in diesem Haus: Werden
wir ruhig ein wenig patriotisch! Reden wir von den letz-
ten 50 Jahren bundesdeutscher Geschichte! Es ist die ge-
meinsame Geschichte von Deutschen und Zugewander-
ten, auf die wir alle ein wenig stolz sein dürfen.
Einheimische und Zugewanderte müssen endlich begrei-
fen, dass dieses Land ihr gemeinsames Land ist und dass
sie gemeinsam Verantwortung für dieses Land und seine
Menschen tragen. Das ist Patriotismus, wie ich ihn ver-
stehe. Unter diesen Voraussetzungen bin ich eine über-
zeugte Patriotin.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Politischen Islamismus bekämpfen – Verfassungstreue
Muslime unterstützen“ – so lautet der Titel des CDU/
CSU-Antrags. So weit, so gut, und zwar auch deshalb,
weil „-ismen“ immer ideologische Dogmen und damit
Gefahren für die Gesellschaft und ihre Mitglieder ber-
gen. Das Dumme am Antrag der CDU/CSU ist: Er wirbt
in warmer Prosa und zielt auf eiskalte Fakten.
So wird betont: „Der Islam ist eine große Weltreligion.“
Dann wird ein spezifischer EU-Islam erfunden. Was
würde wohl der Papst von einem weiß-blauen Bayernka-
tholizismus halten?
Wie könnte ein EU-Islam aussehen: mit dem Katholiken
Stoiber und dem Evangelen Beckstein als Propheten?
Oder wie stellen Sie sich das vor?
Gefährlicher ist aber die wieder belebte Forderung
nach einer deutschen Leitkultur. Was ist das: die Weiß-
wurst, die Bulette oder der Döner, die Französische Re-
volution, der Tag der Befreiung oder Bayern München?
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er das tut, der signalisiert, die deutsche Kultur – was
mmer das ist – sei höherwertig. Wohin das führen kann,
ollten alle bedenken, und zwar vorher. Die ganze Leit-
ulturdebatte ist falsch. Sie ist gefährlich. Aus meiner
icht erweist sie der Integration einen Bärendienst.
Hinzu kommt im vorliegenden CDU/CSU-Antrag das
bliche Spiel: Sie wollen Bürgerrechte abbauen und den
atenschutz schänden. Sie wollen noch mehr persönli-
he Daten sammeln, speichern und austauschen. Auch
as steckt in Ihrem Antrag. Das ist – leider – Trend, be-
auerlicherweise zunehmend auch bei der SPD und bei
inigen Grünen. Die PDS lehnt das ab.
Dann gibt es in der ganzen Debatte noch richtige
reppenwitze. Wer nach Deutschland kommt, solle ei-
en Eid auf das Grundgesetz leisten, meinte Edmund
toiber gestern wieder. Ausgerechnet der Ministerpräsi-
ent Bayerns, dessen Landtag im Mai 1949 das Grund-
esetz mit Mehrheit abgelehnt hat, schlägt jetzt vor, es
olle ein Eid geleistet werden.
Ich finde, die historische Schmach dieser Abstim-
ung ist tilgbar, indem alle Bürgerinnen und Bürger
ayerns, Herr Kollege Geis, einen Eid aufs Grundgesetz
eisten.
itte keine Extrawurst für Nichtdeutsche, gleiches Recht
ür alle, auch für Deutsche, auch für Bayern!
Da wir schon bei diesem Thema sind: Man kann das
rundgesetz nicht hochhalten, wenn man es zugleich
ushöhlt. Das ist aber seit 1990 Usus, in der Ära Kohl
benso wie unter der Regierung Schröder. Wie wir prak-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13463
)
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Petra Pau
tisch erfahren haben, wog ein persönliches Versprechen
für Kanzler Kohl in der CDU-Spendenaffäre mehr als
sein Amtseid auf das Grundgesetz.
Man schafft keine bürgernahe Verfassung, indem man
die Bürgerinnen und Bürger von Verfassungsentscheiden
ausschließt. Die Forderung nach Volksabstimmungen,
zum Beispiel zur EU-Verfassung, bleibt aktuell.
In nahezu allen EU-Ländern gehört das zur demokrati-
schen Kultur. Nur die „besonders leitenden“ Deutschen,
übrigens nicht nur bei der CDU/CSU, wollen davon
noch immer nichts wissen.
Ein Schlussgedanke. Bis in die SPD hinein wurde die-
ser Tage verkündet, die multikulturelle Gesellschaft sei
gescheitert und sie sei eine gefährliche Illusion. Ich finde
das genauso langweilig wie die Diskussion darüber, ob
Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht. Wir
sind beides: multikulturell und ein Einwanderungsland.
Die eigentliche Frage ist, wie wir damit positiv umge-
hen. Darauf gibt der CDU/CSU-Antrag keine Antwor-
ten. Das finde ich schade; aber das war wohl Ihre Ab-
sicht.
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
beim Bundesminister des Innern, Ute Vogt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir haben in Deutschland ab und zu Anlass, einmal zu
schauen, was wir zu leisten in der Lage sind oder schon
einmal gewesen sind. Ich will deshalb einen Blick in die
Geschichte werfen, in das Jahr 1699. Damals hat der
württembergische Herzog Eberhard Ludwig 3 000 Glau-
bensflüchtlinge, Waldenser genannt, aufgenommen. Sie
waren aus ihrer ehemaligen Heimat vertrieben worden.
Eberhard Ludwig wollte damit die Landwirtschaft vo-
ranbringen; er wollte in seinem Herzogtum Bauern an-
siedeln. Er hat angeordnet, dass jede Familie etwa acht
Personen in den Scheunen der entsprechenden Gehöfte
aufzunehmen hat.
Die Anwohner haben sich beklagt und sie haben da-
gegen protestiert. Als Folge dessen hat der Herzog ver-
fügt, dass die Waldenser selbst preiswert und kosten-
günstig Ackerland erwerben dürfen. Sie haben eigene
Schulen aufgemacht. Sie haben französisch gesprochen.
Sie waren alles andere als verbunden mit der Gesell-
schaft.
Auch in meinem Wahlkreis leben Waldenser.
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Wir haben überwunden, denke ich, was uns in der De-
atte lange getrennt hat, nämlich dass sich die einen im-
er nur auf die Bedrohungen und auf die Schilderung
essen konzentriert haben, was uns geschehen kann,
enn Menschen aus anderen Ländern kommen, und dass
ich die anderen darauf konzentriert haben, darzustellen,
as die Chancen und die Bereicherungen sind. Dabei hat
an nur reflexartig aufeinander reagiert. Wir sollten
icht gering schätzen, was wir mit dem Zuwanderungs-
esetz geschafft haben. Wir sind an einen Punkt gelangt,
o wir erkannt haben, dass beides notwendig ist: zum
inen deutlich zu machen, dass Integration bedeutet,
ass es die Verpflichtung derer gibt, die in ein Land zu-
andern, sich dieser Integrationsanforderung zu stellen,
nd zum anderen die Verpflichtung zu übernehmen, In-
egrationsangebote zu machen. Da sind wir tatsächlich
iel weiter, als wir in der öffentlichen Debatte und im öf-
entlichen Streit manchmal zu erkennen geben.
13464 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
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Pa
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Sprache ist der
große Kanal, durch den die Menschen einander ihre Ent-
deckungen, Folgerungen und Erkenntnisse vermitteln. –
Ich glaube, dass das eine Schlüsselbeschreibung auch für
das ist, was wir unter Integration verstehen sollten. Wir
müssen uns miteinander auf die gemeinsamen Rechts-
grundlagen verständigen bzw. müssen anerkennen, dass
wir auf der Grundlage der hier geltenden Gesetze fried-
lich zusammenleben. Wir sollten gleichzeitig aber auch
aufgeschlossen und offen bleiben dafür, voneinander Er-
kenntnisse über das Leben zu gewinnen, ohne daraus
eine Ausschließlichkeit zu formulieren.
Es wurde schon angesprochen: Wir haben im Kabi-
nett gestern die Verordnung zu den Integrationskursen
beschlossen.
– Es hätte auch früher sein können; damit hätte ich kein
Problem gehabt. – 208 Millionen Euro stehen jetzt für
Integrationskurse zur Verfügung. Es steht nicht nur Geld
für diejenigen zur Verfügung, die neu zuwandern. Es ist
gelungen, zumindest einen Teil der Mittel für diejenigen
zur Verfügung zu stellen, die bereits in Deutschland le-
ben, aber trotzdem noch Bedarf haben, die deutsche
Sprache zu lernen.
Deshalb glaube ich schon, dass wir eine wichtige Vor-
leistung vonseiten des Bundes erbringen; das ist ein
wichtiger Meilenstein. Dazu gehört aber, das Ganze mit
Leben zu füllen, auch in den Ländern, auch in den Kom-
munen.
Das Thema Bildung wurde schon angesprochen. Für
mich ist entscheidend, dass wir nicht warten, bis die Kin-
der in der Schule Probleme haben, bis die Jugendlichen
den Hauptschulabschluss nicht schaffen und zum
Schluss keinen Beruf bekommen, weil ihnen die Sprache
als Grundlage fehlt, sondern dass in den Ländern Initiati-
ven ergriffen werden, nach denen zum Beispiel ver-
pflichtend der Sprachstand festzustellen ist, bevor die
Kinder eingeschult werden, oder im Kindergartenbereich
etwas getan wird, damit Sprache gelernt wird, sodass die
Kinder mit ausreichenden Sprachkenntnissen in die
Schule gehen können und nicht erst dort festgestellt wer-
den muss, dass die Anforderungen gar nicht erfüllt wer-
den können.
Eine Erkenntnis, die wir in vielen unterschiedlichen
Regelungen im Zuwanderungsgesetz auch festgeschrie-
ben haben, ist wesentlich dafür, dass Integration und Zu-
sammenleben unterschiedlicher Menschen in Deutsch-
land organisiert werden kann. So werden in dem Gesetz
ganz deutlich diejenigen, die hier kein Aufenthaltsrecht
bekommen können, weil sie sich verfassungswidrig ver-
halten, gegenüber allen anderen abgegrenzt. Dadurch
nehmen wir die vorhandenen Ängste der Menschen
ernst, verstärken sie aber nicht, sondern ergreifen durch
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etin Kaplan ist nicht zu Ihrer Zeit ausgewiesen wor-
en.
ach den damals geltenden Gesetzen hätten wir weder
as Vereinsverbot noch die Ausweisung durchsetzen
önnen. Der Fairness halber bitte ich Sie, das in dieser
ebatte anzuerkennen und sich nicht immer nur auf bil-
ige Polemik zu stützen.
Diese klare Unterscheidung, die das Zuwanderungs-
esetz zwischen denen, die sich gegen die Verfassung
tellen, und denen, die hier dauerhaft friedlich leben
ollen – denen wendet man sich sogar positiv zu –,
acht, ist der Knackpunkt dafür, dass durch gemein-
ame Anstrengung die Integration derer gelingt, die hier
riedlich mit uns leben wollen. Zugleich wird auch der
ialog gefördert, indem wir die Benennung von An-
prechpartnern für die staatliche Seite fordern. Es ist ja
äufig schwierig, bei den Muslimen einen Ansprechpart-
er zu finden. Zugleich erachten wir es als notwendig,
on den Glaubensgemeinschaften legitimierte Ansprech-
artner als Gegenüber zu haben. Darum müssen wir wer-
en und das müssen wir auch einfordern. Diese Forde-
ung kann man, wie ich glaube, auch von unserer Seite
ufstellen.
Zu einem weiteren Punkt, den Sie angemahnt haben,
öchte ich Ihnen Folgendes sagen: Von der Bundesre-
ierung geförderte Deutschkurse für türkische Imame
ibt es bereits seit dem Jahr 2002. Wir finanzieren ge-
einsam mit Diyanet und der Botschaft in Ankara
prachkurse, in denen sie Deutsch lernen und sich zu-
leich auf die hiesige Kultur einlassen können. Wir sind
lso in vielem weiter, als Sie denken. Wenn Sie sich ein-
ach nur einmal erkundigen oder im Ausschuss dann,
enn man etwas vorträgt, zuhören würden, dann würden
anche Aufgeregtheiten gar nicht erst entstehen und
üssten manche Versäumnisse nicht angemahnt werden,
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13465
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Parl. Staatssekretärin Ute Vogt
da viele Dinge schon seit langem vonseiten der Regie-
rung erledigt worden sind.
Frau Kollegin Vogt, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
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Ich komme zum Schluss. – Ich denke, dass wir uns
der Thematik Integration auch in der Tradition der Auf-
klärung, in der wir stehen, annehmen sollten. Da gerade
das Thema „Leitkultur“ immer wieder zu einem
Reizthema wird, schlage ich vor, dass wir uns gemein-
sam an der Haltung eines Mannes orientieren, die für ei-
nige aus Ihren Reihen durchaus hilfreich sein kann. Hal-
ten wir es mit der Leitkultur so, wie es Heiner Geißler
formuliert hat: Unsere Leitkultur ist unsere Verfassung
und die ist auf der Grundlage unserer historischen Erfah-
rungen entstanden. – Davon sollten wir uns leiten lassen,
also weg von der Propagierung von Schlüsselbegriffen
hin zur praktischen Verfassungstreue. Das ist der legi-
time und richtige Weg für Deutsche und für diejenigen,
die aus anderen Ländern zu uns kommen.
Das Wort hat jetzt als letzter Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt der Kollege Norbert Geis von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sind uns alle einig, dass die Integration der
bei uns lebenden zugewanderten ehemaligen Ausländer
die wichtigste Aufgabe unseres Staates, aber auch eine
wichtige Aufgabe unserer Gesellschaft insgesamt ist.
Der Mord in den Niederlanden hat uns schlagartig be-
wusst gemacht, dass es auch bei uns Parallelkulturen und
Parallelgesellschaften gibt. Wenn sich diese Strukturen
verfestigen, sind Konflikte vorprogrammiert. Insofern
müssen wir nicht mit dem Finger auf die Niederlande
deuten. Eine solche Situation kann auch bei uns entste-
hen, wenn es nicht gelingt, diese Strukturen abzubauen
und die Integration voranzubringen.
Die Integration ist ohne Alternative, aber sie ist nicht
einfach. Sie ist nicht einfach, weil die Kulturen natürlich
unterschiedlich sind. Ich habe immer vollen Respekt vor
jedem Muslim, der in Treue seinen Glauben lebt, sich zu
seinem Glauben bekennt und versucht, sich nach den is-
lamischen Regeln zu richten. Aber die Regeln des Islam
und die Regeln, die ihren Ursprung in unserer Kultur ha-
ben, sind nicht dieselben.
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m Islam ist der Mensch Gott bedingungslos unterwor-
en; im Christentum versteht sich der Mensch als Kind
ottes, als Partner Gottes, als Ebenbild Gottes. Diese
benbildlichkeit Gottes hat nach Paul Kirchhof zu dem
adikalsten Freiheits- und Gleichheitssatz der gesamten
echtsgeschichte geführt und die Kultur unseres Abend-
andes bestimmt. Deshalb haben wir eine andere Ent-
icklung genommen als beispielsweise der islamisch
estimmte Orient. Das ist der Grund für die Unter-
chiede.
Für uns sind die Einmaligkeit, die Unvergleichbarkeit
edes Einzelnen, seine Freiheit und seine unverletzbare
ürde höchste Güter. Beim Islam bestimmt die Umma,
ie Gemeinschaft der Gläubigen, das Leben des Einzel-
en. Die Freiheit des Einzelnen steht nicht so im Vor-
ergrund wie beispielsweise im abendländischen Wes-
en. Das ist der Unterschied. Wir müssen in einem
rozess des Dialogs versuchen, diesen Unterschied viel-
eicht nicht auszugleichen, aber Verständnis füreinander
u wecken, um eines Tages eine Angleichung zu errei-
hen. Ich glaube, Integration kann nur gelingen, wenn
uch die Angleichung gelingt. Das ist ein Prozess, der
icht von heute auf morgen abgeschlossen werden kann;
s ist ein langwieriger Prozess.
Aus erwähntem Freiheitssatz heraus ist im Westen die
emokratie entstanden. Die Demokratie setzt die indi-
iduelle Freiheit und die Unverletzlichkeit des Men-
chen voraus und bietet gleichzeitig den verfassungs-
echtlichen Rahmen, in dem eine solche Lebensform
elebt werden kann. Das finden wir in diesem Maße in
en islamisch regierten Ländern nicht. Diese Feststel-
ung muss auch in einer solchen Debatte erlaubt sein,
hne deswegen gleich in die Ecke zu geraten, man
ürde sich überheben. Ich denke gar nicht daran, hier
ertungen vorzunehmen. Ich möchte nur einmal den
nterschied herausstellen, um die Schwierigkeiten bei
er Integration deutlich zu machen. Integration ist ein
chweres Werk, aber wir können uns nicht davor drü-
ken. Wir müssen diese Aufgabe meistern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine wich-
ige Aufgabe unserer Gesellschaft und vor allem unseres
13466 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Norbert Geis
Staates besteht darin, alles zu unternehmen, um den bei
uns lebenden Muslimen, insbesondere den jugendlichen
Muslimen, eine gute Ausbildung zu ermöglichen.
Wir müssen erreichen, dass die Muslime in den Mittel-
stand hineinkommen. Dann werden sie nämlich ihre ab-
gekapselten Straßenzüge, ihre Parallelgesellschaft, ver-
lassen und in andere Wohngegenden ziehen;
dann wird es zu einem vernünftigeren Miteinander kom-
men. Die soziale Lage ist im Augenblick ein Hemmnis
bei der Integration. Dieses Problem muss gemeistert
werden. Das ist allerdings in erster Linie unsere Auf-
gabe, also eine Aufgabe unseres Staates und unserer Ge-
sellschaft.
Aber Integration ist nie eingleisig. Integration ist im-
mer eine Sache zwischen Zugewanderten und aufneh-
mender Gesellschaft. Natürlich müssen diejenigen bei
uns, die zugewandert sind, unsere Sprache sprechen.
Das ist aber nur der erste Schritt. Wir wissen, dass in
Frankreich Muslime leben, die, weil sie beispielsweise
aus Marokko kommen, von Kindheit an Französisch
sprechen, dass es aber dort trotzdem große Unterschiede,
dass es Parallelgesellschaften gibt. Die Sprache ist sehr
wichtig, aber sie ist nur der erste Schritt.
Der zweite Schritt ist die Anerkennung unserer Ver-
fassung. Das ist richtig und das ist heute auch schon ge-
sagt worden. Allerdings ist das nicht ganz so einfach,
wie es sich manchmal angehört hat. Denn in jeder Ver-
fassung – und in unserer Verfassung erst recht – sind Le-
bensformen niedergeschrieben. Die diesen Lebensfor-
men zugrunde liegenden Überzeugungen drücken sich
also in der Verfassung aus.
Damit sind wir schon mitten in einer Kulturdebatte.
Sie können die Verfassung nicht losgelöst von der Kultur
sehen. Da bin ich anderer Meinung als Sie.
Sie können die Verfassung nicht nur rechtspositivistisch
sehen, sondern müssen sie in einen Kulturzusammen-
hang stellen. Aus diesem Kulturzusammenhang ist die
Verfassung entstanden.
– Lassen Sie mich das bitte in aller Ruhe ausführen. Sie
können ja anderer Meinung sein; darüber brauchen wir
nicht zu streiten.
Deswegen haben die Väter und Mütter unseres
Grundgesetzes in die Präambel ausdrücklich den Gottes-
bezug hineingeschrieben. Sie wollten damit zum Aus-
druck bringen, dass unsere Verfassung, dass unser staat-
liches Leben nicht ohne unsere christliche Tradition
gesehen werden darf.
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Herr Kollege Geis, erlauben Sie eine Zwischenfrage
es Kollegen Hartmann?
Bitte.
Herr Hartmann, bitte.
Herr Kollege Geis, ich bin Ihnen ausdrücklich dank-
ar für diesen sehr nachdenklichen, abwägenden und
uch philosophisch fundierten Beitrag, den Sie zum
chluss dieser Debatte leisten. Sie wägen verschiedene
ulturen und verschiedene Werthaftigkeiten gegen-
inander ab. Ich teile das. Ich teile auch die Orientierung
m christlichen Menschenbild. Gestatten Sie mir die
rage – ich meine sie völlig unpolemisch, eher als Anre-
ung für Ihren Wortbeitrag –: Würden Sie mir zugeste-
en, dass die Orientierung am Personsein, am christli-
hen Menschenbild nicht verhindert hat, dass in Europa
nd in Deutschland schreckliche Barbarei möglich war,
ass also diese Orientierung alleine keineswegs ausrei-
hen kann, um ein gefestigtes demokratisches Staatswe-
en aufzubauen?
Das ist zweifellos richtig. Aber Sie müssen natürlich
ehen, dass es in der Geschichte immer Brüche gibt und
ass jeder Mensch Brüche in sich trägt. Jeder Mensch
ann versagen und so kann auch ein Volk versagen. Sie
ürfen dabei aber den Grundansatz nicht außer Acht las-
en. Wir kommen aus unserer abendländischen Ge-
chichte nicht heraus; sie ist 2 000 Jahre alt. Niemand
ann aus seiner Geschichte aussteigen und unsere Ge-
chichte ist nun einmal vom christlich-jüdischen Erbe
estimmt. Dazu kommen viele andere Momente: die
ufklärung, die ganze Gedankenwelt der Renaissance.
ie müssen im Grunde genommen die Griechen und die
ömer mit einbeziehen. Dann kommen Sie letztendlich
icht zu einer 2 000-jährigen, sondern sogar zu einer
000-jährigen Geschichte. Vor diesem Hintergrund
xistiert unsere Kultur.
Ich stimme Ihnen zu, dass es furchtbare Brüche in un-
erer Geschichte gab. Aber ich glaube, dass sie nicht mit
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13467
)
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Norbert Geis
dem Ansatz unserer Kultur in Einklang gebracht werden
müssen, sondern dass sie einfach furchtbare Brüche ge-
wesen sind.
– Hat es uns nicht bewahrt. Kein Mensch ist davor be-
wahrt, so auch ein Volk nicht.
Ein Schlussgedanke noch. Hier ist vom Eid auf die
Verfassung und von Verfassungspatriotismus gespro-
chen worden. Ich will nicht sagen, dass das verkehrt ist.
Aber es reicht nicht. Zur Annahme der Verfassung ge-
hört auch, die Geschichte zu akzeptieren. Herr von
Klaeden hat dies vorhin in seinem sehr guten Wortbei-
trag gesagt.
Wenn wir es mit der Integration ernst meinen, dann
müssen wir von den bei uns lebenden Muslimen verlan-
gen, dass sie die Verantwortung für unsere Geschichte
mittragen. Es kann nicht sein, dass in einem Volk eine
Gruppe Verantwortung trägt und die andere Gruppe
nicht. Auch die Zugewanderten müssen die Verantwor-
tung für unsere Geschichte, sowohl für den guten als
auch für den schrecklichen Teil, mittragen. Das ist mehr
als der Eid auf die Verfassung und mehr als Verfassungs-
patriotismus. Das ist echter Patriotismus.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/4260, 15/4394 und 15/4401 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 a bis 30 c sowie
den Zusatzpunkt 4 auf:
30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung arzneimittelrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 15/4294 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich , Hans-Michael Goldmann,
Joachim Günther , weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Feldversuche über die Vor- und Nachteile von
60-Tonnen-LKW starten
– Drucksache 15/3951 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
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Michael Goldmann, Horst Friedrich ,
Joachim Günther , weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Wasserstraßenausbaugesetz vorlegen
– Drucksache 15/4039 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
P 4 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe
Küster, Dirk Manzewski, Jörg Tauss, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Ab-
geordneten Dr. Günter Krings, Dr. Norbert
Röttgen und der Fraktion der CDU/CSU, der Ab-
geordneten Grietje Bettin, Jerzy Montag, Volker
Beck , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
sowie der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Karl
Addicks, Daniel Bahr , weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
Wettbewerb und Innovationsdynamik im Soft-
warebereich sichern – Patentierung von Com-
puterprogrammen effektiv begrenzen
– Drucksache 15/4403 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen , Dr. Ole Schröder,
Dirk Fischer , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Promillegrenze in der Seeschifffahrt
– Drucksache 15/4383 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
en Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
ie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
berweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
all. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 31 a
is 31 f. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vor-
agen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 31 a:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen zu dem Antrag
der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ,
13468 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Daniel Bahr , Rainer Brüderle und wei-
terer Abgeordneter
Engpass zwischen Wiesbadener Kreuz und
Krifteler Dreieck beseitigen
– Drucksachen 15/3104, 15/4095 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhard Weis
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
15/3104 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 31 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 164 zu Petitionen
– Drucksache 15/4273 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 164 ist einstimmig ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 31 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 165 zu Petitionen
– Drucksache 15/4274 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 165 ist einstimmig ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 31 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 166 zu Petitionen
– Drucksache 15/4275 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 166 ist einstimmig ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 31 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 167 zu Petitionen
– Drucksache 15/4276 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 167 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 f:
Beratung der ersten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses zu 23 gegen die
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berall in der Welt werden die Chancen, die die embryo-
ale Stammzellforschung bietet, offensiv aufgegriffen.
n Deutschland hegen und pflegen wir den Status quo.
Die Wahlberechtigten in der Schweiz – da sollten ge-
ade diejenigen, die eben so aufheulten, zuhören –
aben mit 66,4 Prozent für die Forschung an embryona-
en Stammzellen gestimmt, für eine Forschung an sol-
hen Stammzellen, die bei der künstlichen Befruchtung
berzählig bleiben, um bessere Therapien, wie man dort
ormulierte, gegen Diabetes, Parkinson oder Alzheimer
u entwickeln. Zwei Drittel haben für die Forschungs-
reiheit gestimmt.
as ist der breite gesellschaftliche Konsens, den viele
on uns immer wieder einfordern. Das ist ein Zeichen ei-
er reifen Demokratie, in der komplexe Themen wie die
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13469
)
)
Ulrike Flach
Stammzellforschung von den Bürgern verstanden und
entschieden werden.
Ich bin sicher, dass diese Entscheidung in Deutsch-
land nicht viel anders ausfiele.
Ein informiertes Volk wird sich, wenn wir es fragen, die
Möglichkeit, eine medizinische Innovation zu fördern
und zu nutzen, nicht nehmen lassen.
Die Fundamentalposition von Rot und Grün und Tei-
len der Union isoliert uns immer mehr. In den letzten
fünf Jahren haben die Briten die Forschung an embryo-
nalen Stammzellen und das therapeutische Klonen er-
laubt. Sie rechnen in fünf Jahren mit den ersten Thera-
pieerfolgen. Die Franzosen haben die Forschung auf
fünf Jahre befristet zugelassen. Kalifornien wird
3 Milliarden Dollar für die Stammzellforschung ausge-
ben. Israel, Indien, die skandinavischen Länder, China,
Südkorea, überall werden und wurden Gesetze geändert,
um Forschung zu erlauben und langfristig Menschen mit
schweren Krankheiten zu helfen. Auch die EU – darüber
haben wir in diesem Hause diskutiert – hat bereits zwei
Vorhaben gefördert, bei denen embryonale humane
Stammzellen verwendet wurden.
Und bei uns? Der Bundeskanzler beklagte Ende Ok-
tober die enorme Zurückhaltung bei der Umsetzung der
Bio- und Gentechnik, die sich – man höre und staune –
aus dem Gedankengut der Umweltbewegung, traditio-
neller Technikskepsis und christlicher Motivation speise
und uns auf den Weltmärkten schwäche und Innovatio-
nen nicht befördere.
„Hört! Hört!“ kann man da nur sagen.
Wirtschaftsminister Clement forderte an dieser Stelle
eine Lockerung der Bremsen bei der Bio- und Gentech-
nik. Ich frage mich natürlich zunehmend: Wer regiert
denn eigentlich in diesem Lande?
Sie könnten doch die gesetzlichen Vorgaben ändern.
Aber weder der Kanzler noch Herr Clement, auch nicht
Frau Zypries mit ihrem sehr liberalen Verständnis des
Grundgesetzes und schon gar nicht die Ministerin
Bulmahn haben in den Koalitionsfraktionen eine Mehr-
heit. Die Union mit Frau Böhmer an der Spitze beteiligt
sich – das tut mir Leid – zumindest in Teilen an diesem
Stillhalteabkommen.
Anstatt Innovationen anzuschieben, schieben Sie die
Forscher aus diesem Lande.
Der Direktor des Deutschen Krebsforschungszen-
trums in Heidelberg, Professor Wiestler, beklagt zu Recht
die rigide Stichtagsregelung im Stammzellgesetz und die
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Das ist kein Unsinn. Die DFG hat es erst kürzlich wie-
er dargelegt.
Professor Hescheler, einer der renommiertesten deut-
chen Stammzellforscher, erklärt: Vor 15 Jahren waren
ir in der Stammzellforschung top. Wir brauchen drin-
end neue humane embryonale Stammzelllinien, die wir
ufgrund der deutschen Gesetzeslage nicht über thera-
eutisches Klonen gewinnen können.
Meine Damen und Herren, Sie geben unseren Wis-
enschaftlern weder durch den Import noch durch die
ermehrung von Linien die Zellen, die wir für unsere
pitzenforschung brauchen. Das ist angesichts der Sor-
en von Forschern und Kranken grotesk.
Wir fordern seit langem die Abschaffung der Stich-
agsregelung. Wir wollen eine Streichung der darauf be-
uhenden Strafandrohung. Wir fordern eine Änderung
es Embryonenschutzgesetzes, um so wie die Schweiz
n überzähligen Embryonen zu forschen und Stammzel-
en durch therapeutisches Klonen vermehren zu können.
Im Jahr der Innovationen hat Deutschland seine füh-
ende Position in der Stammzellforschung verloren. Die
nderen schieben sich an uns vorbei. Blair, Chirac,
chwarzenegger und die Schweiz – die Liste der Innova-
ionsförderer wird immer länger. Nur der Name
chröder taucht nicht auf. Die FDP sagt Ihnen erneut
heute noch in einer Aktuellen Stunde, im Januar in
orm eines Antrages –: Ändern Sie endlich diese Geis-
eshaltung, die Sie hier seit vielen Monaten präsentiert
aben! Geben Sie den Weg frei für eine innovative For-
chungsförderung! Gehen Sie diesen Weg mit uns und
ehmen Sie die Fehler der Vergangenheit zurück!
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Carola Reimann
on der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
chweiz hat am Wochenende mit Zweidrittelmehrheit
das ist wirklich erstaunlich – ein Stammzellfor-
chungsgesetz beschlossen, das Forschung mit humanen
13470 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Dr. Carola Reimann
embryonalen Stammzellen unter strengen Auflagen er-
laubt. Wenn man das Gesetz liest, kommen einem viele
Elemente bekannt vor. Die Kriterien für die Bewilligung
beim Bundesamt für Gesundheit, wie es in der Schweiz
heißt, weisen doch sehr große Ähnlichkeit zu unserem
deutschen Stammzellgesetz, das wir Anfang 2002 in die-
sem Haus beschlossen haben, auf.
Es ist nicht so, dass es bei uns keine Stammzellfor-
schung gibt.
– Sie haben uns da aber als Insel bezeichnet. –
Auch in Deutschland ist unter Auflagen – unter strengen
Auflagen, das will ich gar nicht abstreiten – Forschung
mit humanen embryonalen Stammzellen erlaubt und
wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft auch
finanziell gefördert.
Im Sommer hat die Bundesregierung den Ersten Er-
fahrungsbericht über die Durchführung des Stammzell-
gesetzes vorgelegt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren fünf
Projekte bewilligt worden, darunter auch das Projekt des
von Ihnen genannten Professors Hescheler, das als zwei-
tes Projekt im Jahre 2003 bewilligt wurde.
Mittlerweile sind sieben Forschungsprojekte bewilligt
worden, es sind also noch zwei Projekte hinzugekom-
men. Erst im Oktober ist ein weiteres Projekt hier in Ber-
lin bewilligt worden. Sie alle können sich über den aktu-
ellen Stand jederzeit auf den Webseiten des Robert
Koch-Institutes informieren.
Wir haben in Deutschland die Regelung, dass For-
schung mit humanen embryonalen Stammzellen durch-
aus erlaubt ist, und zwar – das ist der Unterschied zu der
Schweiz – an Zelllinien, die vor dem 1. Januar 2002 her-
gestellt wurden und die im Register des NIH gelistet
sind.
Bei allen genehmigten Anträgen handelt es sich um For-
schungsvorhaben, die mit diesen Zelllinien auskommen.
Dabei geht es vor allen Dingen um Grundlagenfor-
schung, die sich, wie ich glaube, auch sehr gut betreiben
lässt, ohne dass man an der Stelle Chancen vergibt.
Allen beantragten Forschungsvorhaben ist gemeinsam,
dass sie Differenzierungsvorgänge von Zellen untersu-
chen, zum Beispiel die Differenzierung zu neuralen Vor-
läuferzellen, zu dopaminergen Neuronen oder zu Kar-
diomyozyten. In vielen Fällen untersuchen sie auch
Migrationsprozesse in Zellverbänden, zum Beispiel in
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ies ist nach meiner Ansicht durch das Schweizer Ge-
etz nicht ausgeschlossen.
Bei aller Offenheit für die Nutzung überzähliger Em-
ryonen kann ich derzeit keine sachliche Notwendigkeit
rkennen, unser Stammzellgesetz zu ändern. Denn außer
er von den Verbandsvertretern vorgebrachten allgemei-
en Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
orschung – die sie im Übrigen zu allen Zeiten vorgetra-
en haben – gibt es keine Forschergruppe – auch nicht
ie des Professor Hescheler –, die mit einem konkreten
rojekt an uns herangetreten wäre, bei dem die vorhan-
enen Zelllinien nicht ausreichen würden.
Aber an dieses Gremium ist er nicht herangetreten.
Wenn das der Fall wäre, würde ich das hier jederzeit
iskutieren. Es muss aber sehr sachlich und seriös fun-
iert vorgetragen werden,
elche Stammzelllinien dazu genutzt werden und wa-
um die Zelllinien, die zurzeit zur Verfügung stehen, für
iese Grundlagenforschung nicht ausreichen. Das muss
chon begründet werden können.
Ich halte die Regelungen in unserem Stammzellgesetz
ach wie vor für sehr ausgewogen. Sie ermöglichen den
issenschaftlern in unserem Land Grundlagenforschung
ithilfe humaner embryonaler Stammzellen und tragen
leichzeitig dem Wunsch einer großen Gruppe in unse-
em Land und – das darf man auch nicht vergessen –
uch hier in unserem Parlament Rechnung, die großen
ert auf ein hohes Schutzniveau für Embryonen legt.
as ist in unserem Embryonenschutzgesetz verankert.
ir sollten daher an unserem Stammzellgesetz in der jet-
igen Form festhalten.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13471
)
)
Das Wort hat jetzt die Kollegin Professor Maria
Böhmer von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Forderung der FDP, den Stichtag beim Stammzellgesetz
aufzuheben und – wie wir heute gehört haben – am bes-
ten alle Gesetze, die in diese Richtung gehen,
also auch das Embryonenschutzgesetz, abzuschaffen, hat
schon Ritualcharakter, liebe Kollegin Flach.
Sie wird dadurch auch nicht besser oder überzeugender.
Fakt ist: Seitdem das Stammzellgesetz Mitte 2002 in
Kraft getreten ist, hat das Robert Koch-Institut sieben
Genehmigungen erteilt. Damit ist belegt, dass Forschung
an menschlichen embryonalen Stammzellen in Deutsch-
land möglich ist. Wir haben die Forschung nicht behin-
dert und nicht blockiert. Wir haben sie unter sehr restrik-
tiven Bedingungen zugelassen, und zwar an den
Stammzelllinien, die bereits existieren. Der Stichtag ist
wichtig. Er verhindert nicht Forschung; denn es geht
zurzeit um Grundlagenforschung, um nichts anderes. Je-
der seriöse Wissenschaftler, der auf diesem Feld tätig ist,
bestätigt uns:
Dafür reichen die Stammzellen völlig aus.
– Liebe Frau Flach, ich gehe gern darauf ein. Wir haben
engsten Kontakt zu den Wissenschaftlern. Sie wissen,
dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen Beirat für
Fragen der Bio- und Gentechnologie mit exzellenten
Stammzellwissenschaftlern berufen hat.
Wir haben erst vor kurzem einen großen Kongress
durchgeführt. Dabei waren die Professoren Schöler,
Hescheler und Franz zu Gast. Die Professoren Hescheler
und Franz arbeiten an Projekten im Rahmen der mensch-
lichen embryonalen Stammzellforschung. Wir haben au-
ßerdem Professor Ho zu Gast gehabt, der ein exzellenter
Wissenschaftler im Bereich der adulten Stammzellfor-
schung ist. Übereinstimmende Meinung war: Die exis-
tierenden Stammzelllinien reichen für die Grundlagen-
forschung in Deutschland völlig aus.
Um nichts anderes geht es.
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Da Sie immer wieder dagegen anrennen, will ich Ihnen
n dieser Stelle sagen: Es würde sich lohnen, von diesen
itualisierten Debatten, die Sie führen, wegzukommen
nd nach den wirklichen Gründen zu fragen, warum die
tammzellforschung nicht vorankommt. Ich war vor we-
igen Wochen im NIH in Washington und habe mich vor
rt kundig gemacht. Die Amerikaner sind in der gleichen
ituation. Hier wie dort verbinden sich zwei Dinge mit-
inander: Wir wollen zum einen die Grundlagenfor-
chung sicherstellen, zum anderen aber die ethischen
renzen achten. Leitgedanke war für uns im Deutschen
undestag bei jeder dieser Entscheidungen: Kein
enschlicher Embryo soll für die Forschung in Deutsch-
and getötet werden. Dabei werden wir auch bleiben.
Beim NIH hat sich herausgestellt – das können wir,
laube ich, auch für Deutschland sagen –: Es gibt erstens
ur wenige Forscher, die in der Lage sind, Stammzellfor-
chung zu betreiben. Das NIH hat daraus die Konse-
uenz gezogen und bietet inzwischen Trainingskurse für
orscher an. Das ist vernünftig; denn dort, wo Forschung
ugelassen ist, muss auch die entsprechende Technik
orhanden sein.
Zweitens – ich finde, das ist ein ganz wichtiger
chritt, der möglicherweise Forschern in Deutschland
ehr helfen wird – ist das NIH dabei, die zugelassenen
tammzelllinien zu einer Stammzellbank auszubauen.
ie werden charakterisiert und katalogisiert. Damit will
an vor allen Dingen ein Hemmnis nehmen – dieses
emmnis nehme ich sehr ernst, Frau Flach –, das den
ahren Grund darstellt, warum einzelne Forscher sagen:
ir brauchen andere Stammzelllinien. Der Hinderungs-
rund für Forscher in Deutschland liegt nämlich nicht in
er Stammzellgesetzgebung bei uns,
ondern in den Patentregelungen in den USA. Das ist der
unkt.
enn man von dort Stammzelllinien anfordert und sie
ier nutzt, ist man ein Stück abhängig, weil man auf-
rund der Patentregelungen seine Forschungserkennt-
isse teilen muss. Man muss die Dinge beim Namen
ennen, um voranzukommen, und darf nicht wie Sie
tets an der falschen Stelle bohren.
An einem anderen Punkt will ich nachhaken: Profes-
or Hescheler, den Sie gerne und viel zitieren, wäre sehr
aran interessiert, hier in Deutschland ein bestimmtes
orschungsvorhaben durchzuführen. Er möchte gerne
usloten, ob menschliche embryonale Stammzellen zu
ewinnen sind, ohne dass die Embryos sterben müssen.
13472 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Dr. Maria Böhmer
Das würde uns aus dem Dilemma herausführen. Aber
merkwürdigerweise ist sein Forschungsantrag nicht ge-
nehmigt worden. Da ich davon überzeugt bin, dass dies
die Ansicht auch bei SPD und Grünen ist, die wie wir
Verantwortung für das Stammzellgesetz tragen, muss ich
sagen: Wir sollten ein großes Interesse daran haben,
Wege zu eröffnen, damit Stammzellforschung in Zu-
kunft in der Art möglich ist, dass dafür kein Embryo ge-
tötet werden muss. Darauf müssen wir unsere Kräfte
konzentrieren, nicht auf irgendwelche spekulativen
Überlegungen, die Sie immer wieder anstellen.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Ich will in aller Deutlichkeit sagen – dabei stützte ich
mich nicht nur auf den Stammzellbericht der Bundesre-
gierung, sondern auch auf die weltweit gesammelten Er-
kenntnisse, die uns bis jetzt vorliegen –: Das Stammzell-
gesetz hat sich bewährt. Es bedarf keiner Änderung. Wir
werden an dem Grundsatz festhalten: Grundlagenfor-
schung ja, aber kein Verbrauch von Embryonen für die
Forschung in Deutschland.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Loske vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
hat in der Tat Ritualcharakter: Die FDP will immer wie-
der ein Alleinstellungsmerkmal für sich reklamieren.
Die Wahrheit ist allerdings, dass sich alle Menschen da-
mit quälen, die Balance zwischen ethischen Grenzen auf
der einen Seite und dem hohen Gut der Forschungsfrei-
heit auf der anderen Seite zu finden.
Dass Sie das Alleinstellungsmerkmal in dieser Frage da-
durch erlangen wollen, dass Sie nur die eine Seite der
Medaille betrachten, ist sehr traurig. Das muss ich Ihnen
sagen.
Nun zum Gesetz – hierzu haben Sie eine Fehlin-
formation abgegeben; ich habe mich im Vorfeld genau
informiert –: Das Gesetz, über das in der Schweiz eine
Volksabstimmung stattgefunden hat, stammt vom
19. Dezember 2003. Es betrifft Fragen der Forschung an
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Das ist nicht sophistisch; das ist so. Lesen Sie das im
rotokoll nach. Vielleicht haben Sie sich auch verspro-
hen; das kann ja passieren. Aber man darf nicht so tun,
ls würden alle Formen, die Sie für richtig halten, in der
chweiz genehmigt. Das Ganze dient Ihnen nur dazu,
ie Argumentation zu stützen, die da lautet: In Sachen
erbrauchende Embryonenforschung wird es einsam um
eutschland.
n Wahrheit ist das Bild wesentlich differenzierter. Da-
auf hat die Kollegin Reimann – wie ich finde: zu
echt – hingewiesen.
Nun zur Situation in Deutschland. Im Embryonen-
chutzgesetz von 1990 ist die „Produktion“ von überzäh-
igen Embryonen explizit verboten. Das heißt, in
eutschland gibt es keine überzähligen Embryonen.
Einen Moment, lassen Sie mich diesen Gedanken wei-
erführen. – Wenn Sie wollen, dass verbrauchende Em-
ryonenforschung betrieben wird, dann müssten Sie den
weck des Embryonenschutzgesetzes ändern.
ie müssten es von einem Schutzgesetz in ein Ressour-
enbeschaffungsgesetz umwandeln. Das machen wir
icht mit. Das muss ich ganz klar sagen.
Denken Sie nur an die In-vitro-Fertilisation. Diese
ird bei uns so gehandhabt, dass dabei nicht mehr be-
ruchtete Eizellen entstehen, als letztlich eingesetzt wer-
en. Denken Sie nun noch an die Präimplantationsdia-
nostik, die Sie wahrscheinlich – darüber wurde jetzt
llerdings nicht geredet – ebenfalls befürworten.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13473
)
)
Dr. Reinhard Loske
Hierbei werden bewusst mehrere Eizellen befruchtet.
Eine Konstruktion, bei der eine große Zahl von „über-
zähligen Embryonen“ entsteht, ist nichts anderes als eine
Einladung, sie im Rahmen der Forschung auch zu ver-
brauchen. Eine solche Konstruktion können wir nicht
mittragen.
Dann müssen Sie sich schon dazu bekennen, dann
müssen Sie sagen: Der Gesetzeszweck soll geändert
werden; der Zweck sollen Maßnahmen zur Beschaffung
von Ressourcen für die embryonale Stammzellforschung
sein. So viel Ehrlichkeit muss sein.
Ich will abschließend noch auf eine Sache hinweisen
– es wurde ja von mehreren Rednern schon gesagt –: Es
gibt sieben genehmigte Anträge. Forschung an embryo-
nalen Stammzellen ist in Deutschland möglich, wenn
diese Stammzellen vor einem bestimmten Stichtag ent-
standen sind. Die Qualität der Kulturen wird zwar hier und
da einmal beklagt – das gebe ich zu; man hört das ja –, aber
es ist doch nicht so, dass das der Grundtenor der ganzen
Debatte wäre; es sind nur einzelne Leute, die darüber
klagen.
Das ist nun einmal so in einer pluralen Gesellschaft; es
wäre auch schlimm, wenn es nicht so wäre. Aber daraus
jetzt abzuleiten, man könne es gar nicht anders machen,
als den Weg völlig freizumachen, das ist falsch.
Außerdem will ich auf die Fortschritte bei der For-
schung an adulten Stammzellen hinweisen. Die sind
nämlich erheblich:
Die Nähe zu therapeutischen Anwendungen ist viel grö-
ßer als im Bereich der Forschung an embryonalen
Stammzellen; diese ist noch eine reine Grundlagenfor-
schung.
Ich will zwei Projekte aus der wissenschaftlichen
Fachzeitschrift „The Lancet“ von 2004 anführen: Adulte
Stammzellen, aus Skelettmuskulatur gewonnen, zeigen
in Tierversuchen Differenzierungen zu Muskelfaserzel-
len. Anderes Beispiel: Einsatz adulter Stammzellen aus
dem Knochenmark zur Reparatur von Herzgewebe; auch
hier große Fortschritte.
– Sie tun immer so, als wäre die Forschung an adulten
Stammzellen im Gegensatz zur embryonalen Stammzel-
lenforschung eine Randerscheinung. Nein, das Gegenteil
ist der Fall.
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ch will das gar nicht weiter ausführen, ich will nur zu
em Schluss kommen: Das Stammzellgesetz in der jetzi-
en Fassung ist der Versuch einer Abwägung zwischen
thischen Grenzen und dem Ziel der Forschungsfreiheit.
s ist ein gutes Gesetz, das uns im Moment keine Pro-
leme bereitet; deswegen müssen wir es auch nicht än-
ern.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel Happach-
asan von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-
ächst einmal: Ich verwahre mich ganz entschieden da-
egen, dass das Anstoßen von Diskussionen über sehr
ichtige gesellschaftliche Fragen in diesem Haus als Ri-
ual angesehen wird.
as kann es wohl nicht sein. Wenn die Fundamentalisten
n den so genannten Volksparteien verhindern, dass diese
ragen öffentlich diskutiert werden, dann ist es Aufgabe
er FDP, dieses hier anzustoßen. Ich meine, wir haben
ieses ordentlich gemacht.
Frau Böhmer, ich darf Ihnen noch das eine sagen – es
tammt zwar nicht von einem CDU-Kollegen; es stammt
on Peter Glotz –: Der Embryo ist in Deutschland so
ange geschützt, bis er abgetrieben wird. – Ich meine,
ir müssen uns auch dieser Diskussion stellen.
orschung an humanen embryonalen Stammzellen ist
urzeit in erster Linie Grundlagenforschung; darüber
ind wir alle uns einig. Die Grundlagenforschung wie-
erum ist so gut, wie es die Zelllinien sind, auf denen sie
eruht. Auch Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates
er CDU haben mir am Telefon gesagt, sie brauchen
ringend Zugang zu den neuen Zelllinien, damit ihre
rundlagenforschung, in die wir viel Geld investieren
ollen, auch so gut ist, wie sie sein sollte.
13474 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Dr. Christel Happach-Kasan
Reden Sie mit ihnen nicht unter der Vorbedingung, das
zu verhindern; behalten Sie, wenn Sie mit ihnen reden,
folgende Aspekte im Auge: Was wollen sie? Was brau-
chen sie? Wie wichtig ist Grundlagenforschung im Be-
reich der Stammzellforschung? Dann werden Sie hören:
Auch die Forscher in Deutschland brauchen diese neuen
Zelllinien wegen ihrer Qualität.
Stammzellforschung ermöglicht ein vertieftes Ver-
ständnis elementarer biologischer Vorgänge wie Zelldif-
ferenzierung oder Tumorentwicklung. Die Qualität dieser
Forschung ist Basis und Fundament aller angewandten
Forschung. Grundlagenforschung ist eine öffentliche
Aufgabe; zumindest in dem Punkt sind wir einer Mei-
nung. Aber in der Stammzellforschung werden außer-
dem Chancen gesehen, Krankheiten zu heilen. Wir brau-
chen eine Ethik des Heilens,
des Heilens von Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer,
Diabetes. Auch die davon betroffenen Menschen haben
ein Anrecht darauf, Hoffnung zu haben.
Das Stammzellgesetz, das der Deutsche Bundestag in
der letzten Legislaturperiode beschlossen hat, ist unbe-
friedigend, weil es den Import neuer Zelllinien verhin-
dert, die von Forschern und Forscherinnen dringend ge-
braucht werden. Sie haben ethische Bedenken angeführt.
Ebenso gibt es die Hoffnung kranker Menschen und ih-
rer Angehörigen, durch neue, in der Stammzellforschung
entwickelte Therapien Hilfe zu erhalten. Auch diese
Menschen brauchen eine Antwort von uns.
Im Vorfeld der Verabschiedung des Stammzellgeset-
zes hat eine Bildungsministerin eines deutschen Bundes-
landes gesagt:
Die medizinische Forschung … befindet sich auf
hohem Niveau, auch und gerade im Bereich der
Humangenomforschung und in der Gentechnologie.
Gerade die öffentliche Förderung von Forschung
auf diesem Gebiet ermöglicht erst Transparenz und
eröffnet Gestaltungsmöglichkeiten, wie sie uns als
Zuschauer von ausländischen Entwicklungen näm-
lich verwehrt würden. Eine Selbstbescheidung …
auf bloße Lizenzfertigung oder Anwenderlösungen
würde im Zeitalter von Binnenmarkt und Internet
nur dazu führen, dass wir das importieren, was bei
uns verboten, aber in unseren Nachbarländern er-
laubt ist. Ich finde, auch das wäre eine moralisch
fragwürdige Praxis.
Wir würden Wissenschaftler verlieren, die ihre
gesellschaftliche Verantwortung in Deutschland wahr-
nehmen wollen, die hier Forschung betreiben wol-
len, und zwar unter verlässlichen Rahmenbedingun-
gen.
Dies sagte die Bildungsministerin des Bundeslandes
Schleswig-Holstein, Frau Ute Erdsiek-Rave, SPD.
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ch bitte um Beifall, liebe Kolleginnen und Kollegen von
er SPD.
err Kollege Rossmann, ich glaube, wir sind uns einig,
ass wir diese Kollegin schätzen. Ich finde es schade,
ass Sie ihr keinen Beifall geben.
Wir diskutieren in Deutschland über Elitehochschulen
nd wir alle sind uns darin einig, dass es nicht nur eine
rage der Finanzen, sondern auch der Exzellenz der
issenschaftler ist. Wir wissen, dass Wissenschaftler ei-
en gesetzlichen Rahmen,
esellschaftliche Akzeptanz und – das will ich deutlich
agen – Vertrauen brauchen.
ch meine, unsere Wissenschaftler verdienen dieses Ver-
rauen. Herr Loske hat es angesprochen: Wir wissen,
ass wir bei der In-vitro-Fertilisation nur sehr wenige
berzählige Embryonen haben, einige haben wir aber.
as zeigt, dass unsere Forscher sehr sorgfältig und sehr
erantwortungsbewusst mit den Gesetzen umgehen. Nur
elbstbewusste Menschen können Vertrauen schenken.
eien wir im Deutschen Bundestag bitte selbstbewusst
nd schenken wir unseren Wissenschaftlerinnen und
issenschaftlern Vertrauen!
Die Zustimmung der Bevölkerung in der Schweiz zur
tammzellforschung sollte für uns Anstoß sein, erneut
ie Diskussion über die Stammzellforschung aufzuneh-
en und die unsägliche Stichtagslösung abzuschaffen.
ir brauchen ein neues Gesetz!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege René Röspel von der SPD-
raktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
erren! Manchmal erinnert mich die FDP durchaus an
eine kleinen Kinder zu Hause.
er Tobias geht an die Spielzeugkiste, nimmt sich ein
pielzeug heraus und die kleine Randi kommt sofort an-
esaust und will genau das Spielzeug haben, das er sich
erausgesucht hat; ihr eigenes tolles Spielzeug lässt sie
iegen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13475
)
)
René Röspel
– Meine Kinder plärren allerdings nicht so und ich bin
mir ziemlich sicher, dass sie ihren Konkurrenzkomplex
und den Futterneid ablegen. Das ist nämlich Bestandteil
der menschlichen Entwicklung.
Bei der FDP bin ich mir manchmal nicht so sicher.
Was ist geschehen? Die Schweiz hat ein Referendum
mit einer Wahlbeteiligung von 36 Prozent durchgeführt.
Zwei Drittel davon haben sich für die Einführung der
Stammzellforschung ausgesprochen. Die FDP fragt so-
fort, welche Auswirkungen das auf die Forschung in
Deutschland und auf unseren Forschungsstandort hat.
Ist das eine neue Situation? Ich behaupte, nein. Bezogen
auf die Schweiz ist sie neu, insgesamt erleben wir das
aber seit Jahren. In Frankreich, Großbritannien, Schwe-
den, Belgien und in den Niederlanden wird diese For-
schung in dem Ausmaß betrieben, wie sich die FDP das
wünscht.
Bisher ist dabei allerdings noch nichts herausgekommen.
Jetzt kommt die Schweiz noch hinzu. Ändert sich für die
deutsche Situation grundlegend etwas? – Nein.
Lassen Sie mich eine Nebenbemerkung machen: Ich
fände es interessant, wenn das Referendum genau das
entgegengesetzte Ergebnis gehabt hätte
oder wenn die Schweiz demnächst ein Biopatentgesetz
bekäme, durch das die Patente viel stärker eingeschränkt
würden, als Sie sich das wünschen. Würden Sie auch
dann eine Aktuelle Stunde durchführen wollen?
Die wesentliche Frage ist allerdings, ob unsere For-
scher nun benachteiligt sind oder nicht. Ich sage, nein.
Ich will das auch begründen – Frau Happach-Kasan, Sie
waren nicht dabei –: Vor gerade einmal zwei Jahren, im
Januar 2002, haben wir in einer fünfstündigen Debatte,
die, wie ich glaube, ein sehr hohes Niveau hatte und die
auch öffentliche Beachtung gefunden hat, sehr intensiv
darüber gesprochen, ob wir Forschung an embryonalen
Stammzellen zulassen und Embryonen zerstören lassen
wollen. Die große Mehrheit dieses Hauses hat entschie-
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ir wollen auch niemandem im Ausland den Anreiz ge-
en, für deutsche Forschungsprojekte Embryonen zu
erstören. Bei der Diskussion ist aber auch das Stamm-
ellimportgesetz herausgekommen, um deutschen For-
chern auf der Basis von Zelllinien, die nicht für die
eutsche Forschung hergestellt wurden, aber schon exis-
ieren, Forschung zu ermöglichen.
Man kann zwar eine gewisse Inkonsequenz feststel-
en, aber im Ergebnis bleibt klar: Wir haben vor zwei
ahren deutschen Forschern mit den importierten
tammzelllinien die Werkzeuge an die Hand gegeben,
m all das zu erforschen, was möglich ist. Das ist eben
icht eine Pflege des Status quo, wie Sie gesagt haben,
rau Flach. Vielmehr hat die Forschung einen echten
prung gemacht. Die Forscher in Deutschland sind auf-
erufen, mit diesen Zellen zu arbeiten. Sieben Arbeits-
ruppen haben diese Anregung in der Tat aufgenommen
nd arbeiten seit einem halben oder einem Jahr daran.
er wirklich ernsthaft daran arbeitet, der kann nicht
chon nach einem halben Jahr feststellen: Diese Zellen
eichen nicht, wir brauchen neue. Es ist nun an den For-
chern, zu zeigen, was möglich ist. Dabei sind sie noch
ange nicht am Ende ihrer Möglichkeiten.
Forschung in Deutschland wird nicht behindert. Zwei
ründe: Erstens. Die Forschung in Deutschland im Be-
eich der adulten oder somatischen Stammzellen, also
er Zellen, die man ohne ethische Probleme vom er-
achsenen Menschen gewinnen kann, ist nach wie vor
pitze. Diesen Forschungsbereich müssen wir alle mit-
inander fördern.
Zweitens. Wir geben den Forschern, die es wollen,
ie Möglichkeit, mit embryonalen Stammzelllinien, die
or dem 1. Januar 2002 hergestellt worden sind, die sta-
il und verlässlich sind und in Kultur gehalten werden,
u arbeiten. Für die Grundlagenforschung – das habe ich
erade gehört – ist das völlig ausreichend. Die Forscher
erden Jahre brauchen, um zu zeigen, ob sie überhaupt
n die Grenzen ihrer Möglichkeiten kommen.
Ich muss allerdings auch Kritik äußern: Sie haben ge-
agt, es gehe um die Grundlagenforschung. Aber im
leichen Atemzug führen Sie wieder die ganzen Hei-
ungsversprechungen in Bezug auf Krankheiten wie
arkinson, Alzheimer und Diabetes an. Sie könnten mir
arantiert nicht erklären, wie man Diabetes mit Stamm-
ellen heilen kann. Ich sage Ihnen: Das ist wirklich un-
erantwortlich. Wir sollten uns darauf einigen, dass es
m Grundlagenforschung geht. Schon jetzt Heilungsver-
prechungen für Kranke zu machen, die davon wahr-
cheinlich nie profitieren werden, weil die Forschung
13476 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
René Röspel
mindestens zehn bis 20 Jahre dauern wird, halte ich für
unverantwortlich. Damit sollten wir in der Diskussion
sehr zurückhaltend sein.
Fazit meiner fünfminütigen Rede: Erstens. Es gibt
keine neuen Erkenntnisse – Sie können auch nichts dafür
anführen –, die es notwendig machen würden, diesen
ausführlich diskutierten Grundsatzbeschluss von vor
zwei Jahren zu revidieren.
Zweitens. Den deutschen Forschern sind mit dem Be-
schluss von vor zwei Jahren mehr Möglichkeiten gege-
ben worden, als sie in den nächsten Jahren ernsthaft nut-
zen können. Die Forscher haben den Beweis zu führen,
dass diese Möglichkeiten nicht ausreichend sind. Von
dieser Stelle der Appell: Nutzt die Möglichkeiten und
forscht!
Drittens. Deutschland ist ein guter Forschungsstand-
ort, seit Rot-Grün regiert. Endlich gibt es wieder mehr
Geld für Bildung und Forschung und damit mehr Moti-
vation und Möglichkeiten, hier etwas zu tun.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Rachel von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es er-
staunt nicht, dass die FDP eine Aktuelle Stunde zum
Thema embryonale Stammzellforschung beantragt hat,
waren doch in der jüngsten Vergangenheit wiederholt
Forderungen des Bundeskanzlers und des Wirtschafts-
ministers Clement zu vernehmen, dass die Stammzell-
forschung in Deutschland unbegrenzt zugelassen werden
solle.
Im September hat dies Herr Westerwelle in der „Welt“
kommentiert. Zitat: Die FDP werde Herrn Clement
durch Anträge im Bundestag die Gelegenheit geben, sei-
nen Worten auch Taten folgen zu lassen.
Mit der Volksabstimmung in der Schweiz hat die FDP
nun endlich den Anlass gefunden, den noch jungen
Stammzellkompromiss infrage zu stellen. Dabei verken-
nen Sie allerdings die Relevanz der Schweizer Abstim-
mung; denn durch die Abstimmung haben sich die
Argumente für und gegen die verbrauchende Embryo-
nenforschung überhaupt nicht geändert.
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Bundeskanzler Schröder und Minister Clement haben
ich mit ihrer eigenen Forderung in Widerspruch zum
tammzellbericht der eigenen Bundesregierung gestellt.
enn im Bericht der Bundesregierung heißt es wörtlich
ich zitiere –:
Die aufgrund des Stammzellgesetzes verfügbaren
humanen embryonalen Stammzellen, die vor dem
Stichtag 1. Januar 2002 gewonnen worden sein
müssen, sind für die derzeitige Grundlagenfor-
schung ausreichend geeignet.
ie rechtlichen Bedingungen sind also in Deutschland
usreichend, können wir feststellen.
s stellt sich also die Frage, warum sich Schröder und
lement so schwer tun, diesen Beschluss des Bundesta-
es zu akzeptieren. Es scheint eher so, als dienten die
egelungen des Stammzellgesetzes der Regierung als
ündenbock. Sie sollen hier ein Alibi für Fehlentwick-
ungen im Bereich der Forschung und für die Nachteile
es Biotechnologiestandortes Deutschland verschaffen.
icht etwa die rechtlichen Einschränkungen bei der hu-
anen embryonalen Stammzellforschung, sondern eine
chlechte Forschungspolitik und unzureichende Finan-
ierung sind die wahren Ursachen der Schwächen des
eutschen Forschungsstandortes.
Für den Bereich der Stammzellforschung gilt eben
icht das Gleiche, Frau Flach, wie für andere Technolo-
ien. Es handelt sich hier eben nicht um eine reine Wirt-
chaftsdebatte oder eine reine Wettbewerbsdebatte.
eine Damen und Herren von der FDP, bevor wir über
irtschaftswachstum und Wettbewerb reden,
ollten wir uns erst einmal darüber verständigen, inwie-
ern sich dieser auch ethisch vertreten lässt.
ch füge hinzu, dass wir auch nicht aus vermeintlich
irtschaftlichen Gründen übersehen dürfen, welchen
roßen politischen Wert der Stammzellkompromiss für
ie Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland ge-
abt hat.
eiterhin gilt, was Grundlage der Entscheidung des
undestages gewesen ist: Die Zerstörung eines Embryos
ur Herstellung von embryonalen Stammzellen verstößt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13477
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)
Thomas Rachel
gegen die Menschenwürde des Embryos und dessen
Recht auf Leben.
– Frau Flach, da bin ich nicht alleine. Das war nämlich
die Mehrheitsmeinung des Deutschen Bundestages.
Diese ethische und verfassungsrechtliche Bewertung
hängt auch nicht von der Entwicklung der Gesetzgebung
in unseren Nachbarländern ab.
Für die embryonale Stammzellforschung werden etli-
che Heilversprechen ins Feld geführt. Keines hat sich
bisher konkretisiert.
Greifbare positive Ergebnisse mit Therapien sind bislang
nicht im Bereich der embryonalen Stammzellen erzielt
worden; allerdings gibt es interessante Ansätze im Be-
reich der adulten Stammzellen. Ich will hier nur die Er-
folge von Bodo Strauer in Düsseldorf erwähnen, der mit
adulten Stammzellen Herzinfarktpatienten hat helfen
können. Wir brauchen eine verstärkte Förderung in die-
sem Bereich der ethisch unproblematischen Forschung.
Ferner zeichnen sich unter Umständen Möglichkeiten
ab, embryonale Stammzellen ohne die Zerstörung von
Embryos zu gewinnen. Der Neurophysiologe Professor
Hescheler verfolgt zurzeit diese Idee, bei der Stammzel-
len aus einer Blastozyste entfernt und gewonnen werden
können, ohne dass die Blastozyste und der Embryo zer-
stört werden. Ich finde es geradezu alarmierend, dass er
für diesen interessanten, zukunftsweisenden Ansatz trotz
zermürbender Suche keine finanzielle Unterstützung ge-
funden hat, und zwar weder bei der Deutschen For-
schungsgemeinschaft noch im Förderprogramm des Bil-
dungs- und Forschungsministeriums. Dies muss uns zu
denken geben, wenn es uns gemeinsam darum geht, wie
auf nicht umstrittenen Wegen neue Stammzelllinien ge-
wonnen werden können.
Wir sollten nicht voreilig unsere grundlegenden Über-
legungen über Bord werfen
und uns in Fragen der Menschenwürde und des Lebens-
schutzes von anderen Ländern in unseren anerkannten,
überlegten ethischen Standards relativieren lassen.
Unser nach intensiver Diskussion in diesem Hause ge-
fundener Kompromiss ist tragfähig, er beruht auf einer
ernsten Debatte und er hat auch eine friedensstiftende
Wirkung in Deutschland gehabt. Diesen Kompromiss
nach so kurzer Zeit anzugreifen, wie Sie das tun, er-
scheint mir weder nötig noch sinnvoll.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Josef Fell vom
ündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
nd Kollegen! Das Ergebnis des Schweizer Volksent-
cheides zur verbrauchenden Embryonenforschung ist
atsächlich sehr bemerkenswert. Immerhin hat sich die
ehrheit eines Volkes, welches als konservativ und an
hristlichen Grundwerten orientiert gilt, für den Ver-
rauch von überzähligen humanen Embryonen zu For-
chungszwecken ausgesprochen. Bemerkenswert ist da-
ei vor allem, dass dies nur mit dem Töten dieser
mbryonen möglich ist. Damit ist ein wichtiger Grund-
atz der christlichen Ethik – der Schutz des Lebens auch
on Embryonen und der Menschenwürde der Embryo-
en – verletzt.
Triebfeder der Volksentscheidung ist die Heilserwar-
ung, die viele Menschen in der embryonalen Stamm-
ellforschung sehen.
s wird immer wieder angeführt, dass man alles unter-
ehmen müsse, um die Menschen von Geißeln wie Alz-
eimer, multipler Sklerose und anderen bisher unheilba-
en Krankheiten zu befreien. Dies ist ohne Zweifel ein
ichtiges Ziel der Forschung, das nicht ernsthaft infrage
estellt werden kann.
Dennoch ist eine nähere Betrachtung notwendig,
eine Damen und Herren von der FDP. Ich möchte in
iesem Zusammenhang drei entscheidende Fragen stel-
en.
Erstens: Sind die Heilsversprechungen in der embryo-
alen Stammzellforschung wirklich haltbar und realis-
isch?
13478 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
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Hans-Josef Fell
Zweitens: Gibt es nicht auch Alternativen, die eine
ähnliche Heilserwartung versprechen, ohne die ethi-
schen Grundsätze infrage zu stellen?
Drittens: Gibt es gar vernachlässigte Krankheitsberei-
che, die eine stärkere Forschungsunterstützung benöti-
gen, aber keine oder keine angemessene Unterstützung
bekommen, weil zum Beispiel das kommerzielle Inte-
resse daran fehlt?
Die Beantwortung aller drei Fragen führt mich zu der
Erkenntnis, dass die Forschung an Stammzellen aus hu-
manen Embryonen nicht notwendig ist und daher die
Menschenwürde von Embryonen nicht der Forschungs-
freiheit geopfert werden muss.
Zur ersten Frage: Neuere Erkenntnisse gerade aus den
jüngeren Kongressen von Alzheimerforschern belegen
immer deutlicher, dass die Heilserwartung nicht beleg-
bar ist. Immer mehr Forscher sehen in einer Stammzell-
therapie keine oder nur geringe Heilungsmöglichkeiten.
Trotz großer Forschungsanstrengungen in den letzten
Jahren gibt es praktisch keine positiven Forschungser-
gebnisse.
Es gehört auch zu einer verantwortungsvollen Politik,
keine unrealistischen Heilserwartungen bei Kranken zu
wecken. Denn auch dies ist in ethischer Hinsicht ver-
werflich.
Zur zweiten Frage: Mit adulten Stammzellen oder mit
Stammzellen aus Nabelschnurblut gibt es Alternativen
zu embryonalen Stammzellen. Mein Kollege Reinhard
Loske hat einige Beispiele genannt; ich könnte die Liste
der Beispiele noch weiter fortführen, etwa mit adulten
Stammzellen zur Bekämpfung von Blasenschwäche
– das sind große Erkenntnisse – oder mit der Gewinnung
von Stammzellen aus der Bauchspeicheldrüse. Es gibt
eine beachtenswerte Liste von Erfolgen, die mindestens
ähnliche Potenziale erwarten lassen wie die embryonale
Stammzellforschung, aber ohne die damit verbundenen
ethischen Probleme.
Zur dritten Frage: Es gibt eine große Anzahl von
Krankheiten, für die es weltweit nur wenige wirksame
Medikamente gibt. Dennoch gibt es kaum Forschungs-
anstrengungen der öffentlichen Hand oder der privaten
Wirtschaft, obwohl Millionen von Menschen darunter
leiden. Ein Beispiel ist die Schlafkrankheit, die 60 Mil-
lionen Menschen südlich der Sahara bedroht und für die
es bis heute kein wirksames Heilmittel gibt. Zu diesen
vernachlässigten Krankheiten gehören auch die Chagas-
Krankheit oder die Leishmaniose. Das alles sind Krank-
heiten, die Millionen von Menschen leiden und sterben
lassen.
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nd es gibt schon gar keine Pharmakonzerne, die sich
rnsthaft darum bemühen.
Auch bei diesen Krankheiten gibt es das Argument
er Heilserwartung. Aber da sie in den ärmsten Weltre-
ionen auftreten, werden kaum Geschäfte durch den
erkauf von Medikamenten gegen diese Krankheiten er-
artet. Dieser bedauerliche Zustand wirft ein besonderes
icht auf die Heilserwartung bei der Stammzellfor-
chung aus humanen embryonalen Stammzellen. Offen-
ichtlich ist hier neben der Heilserwartung die kommer-
ielle Gewinnerwartung eine wichtige Triebfeder.
Ich stimme Herrn Rachel zu: Die Stammzelldebatte
arf keine reine Wirtschaftsdebatte sein. Wir sollten die
orschung in der Medizin viel stärker an den Krankhei-
en der gesamten Menschheit und weniger an Medika-
enten ausrichten, die nur von einem ganz kleinen Teil
er Menschen bezahlt werden können. Jedenfalls sollten
ir Medikamentenforschung viel stärker an solchen Kri-
erien ausrichten. Ethische Probleme wie zum Beispiel
er Schutz der Menschenwürde von Embryonen sind
ann nicht berührt. Das deutsche Stammzellgesetz lässt
ier ausreichend Forschung zu. Eine Aufgabe des Em-
ryonenschutzgesetzes ist nicht notwendig.
Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Lensing von
er CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
en! In meinem ständigen objektiven Bemühen, einer
erson oder einer Sache gerecht zu werden, habe ich we-
ig Anlass, Ihnen, Herr Kollege Fell, uneingeschränkt
eizupflichten. Es tut mir ein bisschen Leid für Sie, aber
eute bin ich ganz auf Ihrer Seite.
Ich habe großen Respekt vor der Entscheidung unse-
es Nachbarn Schweiz und dessen ehrwürdiger Demo-
ratie. Aber ich meine, dass sich die Schweizer mit ih-
em aktuellen Votum auf Dauer keinen ausreichenden
efallen getan haben dürften. Offensichtlich bildet die
ulassung der nunmehr wenig eingeschränkten For-
chung mit embryonalen Stammzellen eine weitere
tappe bei der Verschiebung ethischer Wertmaßstäbe –
nd dies nicht in Richtung Fortschritt.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13479
)
)
Werner Lensing
Die Schweizer Regelung mit all ihren Auswirkungen
– bis hin zum therapeutischen Klonen – findet bei mir
keine Zustimmung, ebenso nicht in diesem Zusammen-
hang das 7. Europäische Forschungsrahmenprogramm.
Mit dem Verzicht auf eine Stichtagsregelung in der
Forschung an humanen embryonalen Stammzellen wird
ein erster Anreiz – man muss es nach wie vor so sagen
dürfen – für die Tötung von Embryonen zum Zwecke
der Stammzellherstellung geschaffen. Bei aller Bereit-
schaft, sich zu öffnen, kann ich hierin keinen Fortschritt
erkennen.
Das alles dient nur der Versachlichung und Verzweckung
des Menschen.
Überragend scheint nun das Nützlichkeitsdenken zu
sein. Der Kollege Rachel hat wiederholt und zu Recht
auf die Missachtung des Lebensrechts und der Men-
schenwürde hingewiesen. Wenn die Basis für gegebe-
nenfalls gute Taten fehlt, dann fehlt die eigentlich tra-
gende Grundlage. Deswegen empfinde ich das Ergebnis
des Schweizer Volksentscheids als einen Tabubruch.
Nun wird von einigen Kritikern am deutschen
Stammzellgesetz vom 25. April 2002 kurzerhand be-
hauptet, eine fehlende Öffnung in der Stammzellfor-
schung treibe viele Wissenschaftler ins Ausland. Frau
Flach, auch Sie haben das behauptet.
Aber das stimmt nicht. Ich könnte Ihnen aufzählen, wer
alles unter anderem unter Einsatz von Frau Böhmer wie-
der den Weg zu uns, zum Beispiel nach Münster, in die
Kulturstätte des Münsterlandes, gefunden hat.
In Deutschland ist der Mensch in der Petrischale ge-
schützter als im Mutterleib – darauf haben wir oft hinge-
wiesen; wir alle wissen das –, was dazu führt, dass es
hier Hunderttausende Abtreibungen gibt. Dazu möchte
ich anmerken – ich nehme das auf meine Kappe –: Wenn
man sich hier große Gedanken über den Beginn und das
Werden des Lebens – ich möchte hinzufügen: damit
auch über das Ende des Lebens – macht, dann darf man
dabei die Abtreibungen nicht vergessen, nur weil der
Gedanke daran unbequem ist.
Planungssicherheit in der Forschungsförderung
würde uns helfen. Fokussierung auf die Genom- und
Proteinforschung würde uns dienen, diverse erweiterte
Möglichkeiten zur Einwerbung von privatem Kapital
ebenfalls. Ich erhoffe mir, dass wir alle, egal wo wir jetzt
stehen, für die Forschung Freiheit fordern und dass die
Patienten ihren berechtigten Anspruch auf medizinische
Versorgung behalten. Außerdem erhoffe ich mir, dass
wir immer die Bereitschaft zeigen, zu sagen: Wir sind
für neue Entwicklungen offen. Auch wenn ich sehr für
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Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentari-
che Staatssekretär Ulrich Kasparick das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Wo-
henende haben sich 36 Prozent der wahlberechtigten
chweizer an einer Abstimmung beteiligt. 66 Prozent
ieser Wahlberechtigten haben einer Vorlage für ein
eues Stammzellforschungsgesetz zugestimmt. Nach
iesem Gesetz ist es möglich, an menschlichen embryo-
alen Stammzellen zu forschen sowie Stammzellen aus
berzähligen Embryonen zu gewinnen, allerdings unter
ehr strengen Voraussetzungen.
Eine ähnliche Regelung hat sich Frankreich gegeben.
enn man sich die Europakarte vor Augen führt, sieht
an, dass wir in Europa sehr verschiedene Regelungen
u dieser sehr komplizierten Frage haben. Auch die Be-
andlung dieses Themas im 6. Europäischen For-
chungsrahmenprogramm zeigt, dass wir in Europa sehr
erschiedene ethische Beurteilungen der Frage haben,
b man an embryonalen Stammzellen arbeiten sollte und
b man Stammzellen dafür gewinnen darf.
Es gibt in Europa sehr unterschiedliche Auslegungen
nd Regelungsansätze. Die Situation in Europa sieht so
us, dass bioethische Fragen in erster Linie auf nationa-
er Ebene diskutiert und entschieden werden müssen.
as haben wir mit dem vom Deutschen Bundestag im
pril 2002 beschlossenen Stammzellgesetz getan.
Diesem Gesetz ist eine sehr intensive und sehr verant-
ortungsbewusste Debatte vorausgegangen, die nicht
ur hier im Deutschen Bundestag stattgefunden hat, son-
ern auch in der Wissenschaft, in der Gesellschaft und in
13480 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick
der Politik. Wir haben es uns mit diesem Thema – ich er-
innere mich an diese Debatten noch sehr gut – wirklich
nicht leicht gemacht. Die Enquete-Kommission des
Deutschen Bundestages und der Nationale Ethikrat ha-
ben sich damit befasst. Ihre in der Tendenz gegenläufi-
gen Aussagen und auch der Diskussionsverlauf selbst
bei den Debatten im Bundestag zeigen, dass es selbst auf
nationaler Ebene sehr mühsam gewesen ist, zu einer Lö-
sung zu kommen.
Dennoch ist gerade unser Stammzellgesetz ein, wie
ich finde, gelungenes Beispiel dafür, dass Politik auch in
ethischen Grenzfragen geeignete Lösungen entwickeln
kann, die einerseits gegenläufige moralische Bewertun-
gen sowie die unterschiedlichen Interessen respektieren
und andererseits klare Regelungen schaffen, durch die
sichergestellt wird, dass dieses wichtige Forschungsge-
biet in Deutschland weiterhin bearbeitet werden kann.
– Der Deutsche Bundestag hat anders entschieden.
Das Gesetz trägt den ethischen Bedenken Rechnung.
Es gewährleistet die Forschung mit menschlichen em-
bryonalen Stammzellen in Deutschland. Es gewährleistet
auch, dass kein weiterer Embryonenverbrauch zur
Stammzellgewinnung veranlasst wird. Damit ergänzt
dieses Gesetz das Embryonenschutzgesetz.
Der Erste Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu
dem Gesetz, der im Juli dieses Jahres vorgelegt wurde,
ist schon angesprochen worden. Dieser Erfahrungs-
bericht zeigt: Die Regelungen haben sich im Grunde be-
währt. Die eröffneten Möglichkeiten sind von der For-
schung angenommen worden. Deutsche Forscher arbei-
ten mit diesen Stammzellen.
Vom Robert Koch-Institut wurden bisher sieben Anträge
genehmigt. Durch die Forschung werden gegenwärtig
sowohl mit embryonalen wie auch mit adulten Stamm-
zellen neue Erkenntnisse gewonnen.
Wir werden uns in Europa weiterhin dafür einsetzen,
dass ein dauerhaft tragfähiger rechtlicher Wertekanon
entwickelt werden kann, der es auch im europäischen
Raum ermöglicht, zu mehr Gemeinsamkeiten und Stan-
dards zu kommen. Aus unserer Sicht ist eine Änderung
der geltenden nationalen Regelungen zum Umgang mit
Embryonen und menschlichen Stammzellen gegenwär-
tig nicht geboten.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Eichhorn von
der CDU/CSU.
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ie Unverfügbarkeit des Lebens lässt nicht zu, dass Em-
ryonen zu Forschungszwecken zerstört werden.
Mit der Forschung an embryonalen Stammzellen wird
ie Hoffnung verbunden, bisher unheilbare Krankheiten
herapieren zu können. In den letzten Jahren hat sich je-
och gezeigt, dass Forscher mit den ethisch unbedenkli-
hen adulten Stammzellen sehr beachtliche Erfolge er-
ielen können. Erst Ende Oktober haben deutsche
orscher bei einem Symposium in Bern Verfahren der
ewinnung und Anwendung adulter Stammzellen vor-
estellt, welche erstaunliche Verbesserungen der Herz-
eistung oder der Leberregeneration bringen.
Adulte Stammzellen werden heute meist aus dem
nochenmark der Patienten gewonnen, bei denen die
nwendung geplant ist. Sie sind im Gegensatz zu em-
ryonalen Stammzellen nicht nur ethisch unbedenklich;
ei der Anwendung treten auch keine Abstoßreaktionen
uf, wie dies bei embryonalen Stammzellen der Fall ist.
aher wird der Patient von einer lebenslänglichen Medi-
amenteneinnahme verschont.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13481
)
)
Maria Eichhorn
Erhebliche Bedenken gegen die Anwendung humaner
embryonaler Stammzellen werden in einer neuen Studie
des Kölner Max-Planck-Institutes für neurologische For-
schung und der Universität Köln geäußert. Im Tierver-
such wurde in 75 bis 100 Prozent der Fälle die Bildung
bösartiger Tumore beobachtet,
wenn embryonale Stammzellen der Maus oder daraus
abgeleitete Vorläuferzellen in Mäuse transplantiert wur-
den. Sämtliche heute vorweisbaren Therapieerfolge
beim Menschen sind auf die ethisch unbedenklichen
adulten Stammzellen zurückzuführen. Deutsche For-
scher haben daran einen herausragenden Anteil.
Daher müssen wir die Forschung und Therapie mit adul-
ten Stammzellen ausbauen.
Der Druck, der von interessierter Seite immer wieder
aufgebaut wird, um eine Abschaffung der Stichtagsrege-
lung im Stammzellgesetz von 2002 zu erreichen, ist un-
nötig und geht an den Tatsachen vorbei. Deutsche
Stammzellforscher befinden sich heute im internationa-
len Spitzenfeld.
Ich habe hohen Respekt vor der Leistung der Forscher.
Die Würde des Menschen ist jedoch nicht relativier-
bar. Deshalb müssen wir auch hohe ethische Maßstäbe
für Medizin und wissenschaftliche Forschung setzen.
Die unbedingte Achtung vor jedem menschlichen Leben
muss Maßstab für unser Tun sein.
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es passt
sehr gut, dass wir heute Morgen schon sehr viel über Kul-
tur und Werte diskutiert haben. In seinem Stück „Der Be-
such der alten Dame“ zeigt uns der Schweizer Dramati-
ker Friedrich Dürrenmatt eine reiche Frau, die nach
Jahrzehnten in ihr Heimatdorf Güllen zurückkehrt, um
sich an ihrem früheren Geliebten Alfred Ill zu rächen. Sie
bietet den Bewohnern des Dorfes sehr viel Geld an, wenn
sie ihn töten. Zunächst lehnen die Dorfbewohner dies na-
türlich im Namen von Menschlichkeit und Christentum
entrüstet ab. Nach und nach aber sieht man, dass sie alle
diese sündhaft teuren gelben Schuhe tragen, die sich ei-
gentlich keiner von ihnen leisten kann, und am Ende wird
Alfred Ill von ihnen gemeinschaftlich ermordet.
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en Schweizern wurde, wie uns damals auch, Hoffnung
uf Heilung von schweren Krankheiten gemacht. Der
reis für diesen möglichen Nutzen sei gar nicht so hoch,
enn überzählige Embryonen müssten ohnehin sterben
nd deshalb solle es doch erlaubt sein, sie zu töten,
m aus ihnen Chancen für die Medizin und vielleicht
hancen für Kranke zu gewinnen. Genau das haben wir
on Ihnen heute immer wieder gehört. Mit einer extra
afür entwickelten Ethik des Heilens wurde das Töten
enschlichen Lebens als angemessener Preis für den
edizinischen Fortschritt eingefordert. Für die FDP ist
as erneut ein willkommener Anlass, sehr verehrte Kol-
eginnen und Kollegen, eine Debatte vom Zaun zu bre-
hen, die wir in diesem Haus bereits vor rund drei Jahren
ntensiv und auf höchstem Niveau geführt haben.
Ich weiß natürlich, dass das Ergebnis, zu dem die da-
alige Debatte führte, ein schwieriger Kompromiss war,
er einigen zu weit und anderen nicht weit genug ging.
ir können mit diesem Kompromiss hingegen auch in
er deutschen Forschung sehr gut auskommen – das ha-
en wir heute gehört –
13482 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Dr. Wolfgang Wodarg
und sehen keinen Grund für eine Revision des Stamm-
zellgesetzes.
Die FDP hat offenbar die Wertefrage für sich entschie-
den.
Sie ist bereit, am Lebensanfang und am Lebensende
menschliches Leben aus Nützlichkeitserwägungen bzw.
aus zivilrechtlichen Erwägungen zur Disposition zu stel-
len.
Man darf aber die Frage stellen, was das alles mit der
Entscheidung in der Schweiz zu tun haben soll. Die Ant-
wort darauf ist zum Glück wieder ganz einfach. Sie lau-
tet: gar nichts. An den grundsätzlichen Argumenten für
und wider ändert sich nämlich durch die Entscheidung,
die in der Schweiz getroffen wurde, nicht das Geringste.
Das scheint man aber in der FDP anders zu sehen und
ich frage mich schon: Was für eine ethische Position
steht eigentlich dahinter? „Die anderen machen das doch
auch“ ist jedenfalls kein guter und schon gar kein ethi-
scher Grund, auch dafür zu sein.
Schauen wir uns doch Beispiele für das an, was in an-
deren Ländern alles gemacht wird. In Belgien ist bei-
spielsweise seit kurzem die so genannte aktive Sterbe-
hilfe auch in Fällen von Depression erlaubt.
Sie können dort also von einem Arzt verlangen, dass er
Sie tötet, weil Sie in Ihrer Depression keinen anderen
Ausweg sehen. Müssen wir das jetzt in Deutschland
ebenfalls zulassen, nur weil die Belgier es zulassen?
Beispielsweise erlaubt Großbritannien schon seit einiger
Zeit das Klonen von menschlichen Embryonen.
Müssen wir das jetzt in Deutschland zulassen, nur weil
es in England erlaubt ist? Oder nehmen wir die Schweiz
selbst: Dort ist seit einigen Jahren der ärztlich assistierte
Suizid geduldete Praxis. Müssen wir ihn deshalb auch in
Deutschland erlauben?
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
mich zum Abschluss bemerken: Wenn es um die ver-
brauchende Embryonenforschung geht, sind wir alle Be-
wohner von Güllen. Trotzdem und gerade deswegen
sollte für uns gelten: Nur weil andere gelbe Schuhe an-
ziehen, müssen wir das noch lange nicht tun.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Mayer von der
DU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kol-
ege Fell hat mehrmals von der Menschenwürde der Em-
ryonen, auch der überzähligen, gesprochen. Ich finde
iesen Ausdruck gespenstisch angesichts der Tatsache,
ass in Deutschland behinderte Föten, die außerhalb des
utterleibs bereits lebensfähig sind, straffrei getötet
erden können. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, dass
onseiten der Koalition etwas dagegen getan wird.
Anlass für die heutige Debatte ist das Ergebnis der
olksabstimmung in der Schweiz. Der Deutsche Bun-
estag hat bereits eine Entscheidung zur Stammzellfor-
chung getroffen. Der Kompromiss, dem ich damals zu-
estimmt habe, erweist sich zunehmend als Hemmnis
ür die deutsche Forschung.
r schließt nämlich die deutsche Forschung von neuen
ntwicklungen aus.
Seit der Debatte vor drei Jahren hat sich vieles getan;
as ist von den Rednern der FDP bereits gesagt worden.
ch möchte zu gegensätzlichen Meinungen, die es zur
orschung an embryonalen und an adulten Stammzellen
ibt, einige Sätze sagen. Die Forschung an embryonalen
nd an adulten Stammzellen sind zwei völlig verschie-
ene Dinge mit unterschiedlichen Zielen. Die Forschung
n embryonalen Stammzellen dient der Grundlagenfor-
chung. Bei der Grundlagenforschung ist das Ergebnis
ffen; wenn ein Ergebnis erzielt wurde, ist die Grundla-
enforschung eigentlich überflüssig. Deshalb ist die For-
erung, die Forschung müsse zu einem Ergebnis führen,
icht gerechtfertigt.
Ich finde, es ist auch nicht unethisch, für Menschen
orzusorgen, die erst in 20 oder 50 Jahren erkranken.
s hat sich bestätigt: Embryonale Stammzellen des Men-
chen haben eine außergewöhnliche Bedeutung für die
rundlagenforschung.
eutsche Forscher dürfen von dieser Entwicklung nicht
usgeschlossen oder in die zweite Reihe verwiesen wer-
en, was gegenwärtig leider der Fall ist.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13483
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)
Dr. Martin Mayer
Deshalb ist es notwendig, dass wir die Debatte der Jahre
2001 und 2002 wieder aufnehmen. Dabei darf es in den
Fraktionen im Vorfeld keine Festlegungen über das Ab-
stimmungsverhalten geben. Ich weiß, dass ich in meiner
Fraktion hier eher eine Minderheitenposition vertrete,
aber ich halte die Debatte für notwendig.
Dabei müssen wir auch Grundsatzfragen nachgehen.
Ich möchte allen Gegnern der Forschung an embryona-
len Stammzellen des Menschen die Frage stellen: Wol-
len Sie der Schweiz, Frankreich, Großbritannien, Israel,
Schweden und anderen Staaten ethisch begründetes, ver-
antwortliches Handeln absprechen,
nur weil diese Länder bei der Stammzellforschung eine
forschungsfreundlichere Regelung haben als wir in
Deutschland?
Vor solchem Hochmut sollten wir uns hüten.
Bei der Entscheidung über die Forschung an Embryo-
nen geht es im Grundsatz um den Status von so genann-
ten überzähligen oder verwaisten Embryonen. Das sind
befruchtete Eizellen aus der Zeugung im Reagenzglas,
bei denen absolut keine Chance besteht, dass sie jemals
in den Mutterleib eingepflanzt werden. Sie haben damit
nie die Chance, ein Mensch zu werden, und müssen des-
halb, wenn sie aufgetaut werden, absterben.
Die Gegner der Forschung an diesen Embryonen stüt-
zen ihre Ablehnung im Wesentlichen auf die falsche An-
sicht, die befruchtete Eizelle sei bereits ein Mensch. Dies
ist nicht so.
Richtig ist: Die befruchtete Eizelle kann nur unter der
Voraussetzung ein Mensch werden, dass sie sich in die
Gebärmutter einnistet.
Deshalb muss sie auch, solange diese Chance besteht,
wie ein Mensch geschützt werden. Kann sie allerdings
kein Mensch mehr werden,
kann für sie nicht der gleiche uneingeschränkte Schutz
gelten. Dann muss dem Grundrecht der Forschungsfrei-
heit und dem Interesse der lebenden Menschen innerhalb
bestimmter, vom Grundgesetz garantierter Grenzen der
Vorrang eingeräumt werden.
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Nach der Abstimmung in der Schweiz hat der Journa-
st Mattias Kamann in der Zeitung „Die Welt“ Folgen-
es geschrieben: Die Bioethikdebatte, in die Deutsch-
nd vor Jahren verfiel, erscheint „wie ein Rausch
undamentaler Erregungen, nach dessen Ende sich die
rage stellt, ob man es nicht noch einmal mit nüchter-
em Kopf versuchen sollte“. Ich werbe sehr für diesen
orschlag.
Als letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde hat die
ollegin Nicolette Kressl von der SPD-Fraktion das
ort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In
ielen Berichten über die Entscheidung in der Schweiz
tand die Formulierung: Nach langem politischem Rin-
en ist ein Stammzellforschungsgesetz in der Schweiz
erabschiedet worden. – Diese Formulierung erinnert
wie ich finde, zu Recht – an die Diskussionen, die wir
ier vor zweieinhalb Jahren über die Gesetzgebung in
iesem Bereich hatten. Weil diese Debatte eine, wie Sie
ich vielleicht erinnern, sehr hochrangige, niveauvolle
ebatte war, die über die Fraktionsgrenzen hinweg ge-
ührt worden ist, bitte ich darum, dass das Niveau in die-
er Diskussion erhalten bleibt.
Frau Flach, deshalb verbietet sich für mich ein Zwi-
chenruf wie der, den Sie gerade bei einem der Redner
us meiner Fraktion gemacht haben: Wir wollen Men-
chen heilen und Sie nicht. Ich bitte Sie wirklich, so et-
as nicht mehr zu formulieren,
eil das dem notwendigen Niveau dieser Debatte nicht
ngemessen ist.
13484 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Nicolette Kressl
Ich sage Ihnen ausdrücklich, dass ich es für richtig
halte, dass es in solchen ethischen Fragen unterschiedli-
che Bewertungen und Meinungen der einzelnen Men-
schen und Abgeordneten geben kann und muss.
Aber es verbietet sich, denjenigen, die aus Gewis-
sensgründen eine andere Meinung haben, vorzuwerfen,
sie würden Forschung verhindern. Denn die Regelung,
die wir gefunden haben, ermöglicht die Grundlagenfor-
schung in Deutschland. Ich möchte Sie wirklich bitten,
dass wir anders miteinander umgehen. Alles andere wäre
Polemik, die absolut nicht angebracht ist.
Das Recht der Forscher auf Forschungsfreiheit darf
nicht ausgehebelt werden. Mit unserer Entscheidung ist
es auch nicht ausgehebelt worden. Damals haben wir ab-
gewogen zwischen den Möglichkeiten, die die For-
schung haben muss, und den ethischen Ansprüchen, die
wir formuliert haben. Zu diesen Ansprüchen sollten wir
weiterhin stehen.
Wir sollten einmal schauen, was die Überprüfungen
in diesem Bereich ergeben haben. Sie wissen, dass die-
ses Gesetz von der deutschen Wissenschaft angenom-
men worden ist. Es ist schon mehrfach angesprochen
worden, dass mehrere Forschungsanträge innerhalb der
gesetzten Fristen genehmigt worden sind.
Die ersten Erfahrungen zeigen, dass sich das Stammzel-
lengesetz, das wir beschlossen haben, bewährt hat. Ich
halte es für absolut notwendig, die Ergebnisse von sol-
chen Evaluierungen ernst zu nehmen und nicht einfach
beiseite zu schieben.
Ich will noch einmal ausdrücklich betonen, dass wir
im Moment keinen Grund sehen, neue Regelungen zu
treffen. Diese würden auch nur zu Verunsicherungen im
Forschungsbereich führen.
Da wir erst vor zweieinhalb Jahren klare und eindeutige
Regelungen getroffen haben, macht es keinen Sinn, im
Forschungs- und Wissenschaftsbereich Änderungen auf
die Schnelle durchzuführen. Dies halten wir, wie gesagt,
nicht für sinnvoll. Wir sollten uns gemeinsam vorneh-
men, in jedem dieser Fälle zwischen den berechtigten In-
teressen der Forscherinnen und Forscher und der ethi-
schen Verpflichtung der Politik abzuwägen. Daran
sollten wir uns immer halten.
Vielen Dank.
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Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anton
Schaaf, Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab-
geordneten Jutta Dümpe-Krüger, Irmingard
Schewe-Gerigk, Volker Beck , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Zukunft der Freiwilligendienste – Ausbau der
Jugendfreiwilligendienste und der genera-
tionsübergreifenden Freiwilligendienste als zi-
vilgesellschaftlicher Generationenvertrag für
Deutschland
– Drucksache 15/4395 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Die Fraktionen haben sich auf eine Beratungszeit von
5 Minuten verständigt. – Dazu höre ich keinen Wider-
pruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
er Kollege Anton Schaaf für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
onntag feiern wir den Internationalen Tag des Ehren-
mtes. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, wollen das Eh-
enamt, die ehrenamtliche Tätigkeit und das bürger-
chaftliche Engagement aber nicht nur feiern, sondern
or allem fördern. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir
eute den von der Koalition eingebrachten Antrag „Zu-
unft der Freiwilligendienste“ im Deutschen Bundestag
eraten.
Wir möchten diesen Antrag auch verstanden wissen
ls Zeichen der Anerkennung und des Respekts für all
ie Menschen, die sich in unserem Lande in Vereinen,
erbänden, Selbsthilfegruppen und an vielen anderen
tellen engagieren.
Im vorliegenden Antrag geht es um eine besondere
und zwar um die einzige gesetzlich geregelte – Form
es Engagements: die Jugendfreiwilligendienste. Das
reiwillige soziale Jahr hat in diesem Jahr 40-jähriges Ju-
iläum, das freiwillige ökologische Jahr immerhin schon
0-jähriges Jubiläum. 300 000 junge Menschen haben
ich in dieser Zeit jeweils für ein Jahr engagiert. Entge-
en der weitläufigen Auffassung, dass sich junge Men-
chen nicht engagieren wollen, steigen die Bewerberzah-
en deutlich: Drei bis vier Bewerberinnen und Bewerber
ibt es für jeden der 15 500 Freiwilligendienstplätze.
Die Tätigkeitsfelder wurden 2002 erweitert und sind
unmehr fast ebenso vielfältig wie die Interessen junger
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13485
)
)
Anton Schaaf
Menschen. Ein Freiwilligendienst kann als ökologisches
oder soziales Jahr, als Jahr in der Kultur, im Sport wie
auch in der Denkmalpflege im In- und im Ausland abge-
leistet werden.
Besonders auffällig ist der hohe prozentuale Anteil
junger Frauen, die bereit sind, sich freiwillig zu engagie-
ren. Dies hat sicherlich zwei Aspekte. Einer ist: Wir
müssen gemeinsam darauf achten, dass Freiwilligkeit
nicht vornehmlich weiblich bleibt. Der zweite ist, sich
vor Augen zu führen, welche enormen Potenziale in Be-
zug auf Freiwilligkeit wir bei den jungen Menschen ha-
ben. Wir sollten sie nutzen und deutlich fördern.
Vor diesem Hintergrund ist es für mich nicht erklär-
lich, warum der eine oder andere eine allgemeine
Dienstpflicht fordert.
Auf der einen Seite wird die Dienstpflicht gefordert; auf
der anderen Seite gibt es viele jungen Menschen, die
sich freiwillig engagieren wollen und denen wir keinen
Platz zur Verfügung stellen können.
Mit dem vorliegenden Antrag machen wir uns trotz
der bekanntermaßen schwierigen Haushaltssituation auf
den Weg, mehr jungen Menschen ein Angebot zu ma-
chen. Das wird sicher nur Schritt für Schritt gehen. Aber
in diesem Antrag ist klar das Ziel beschrieben, das wir
erreichen wollen: 30 000 Plätze im Bereich der Jugend-
freiwilligendienste. Die Träger haben angeboten, diese
Zahl an Plätzen bei entsprechender Förderung zur Verfü-
gung zu stellen. Das ist, wie ich finde, ein dankenswertes
Angebot und auch realistisch. Aufgaben und damit Ein-
satzstellen gibt es genug.
Einen Teil des Antrags haben wir in diesem Jahr so-
zusagen haushaltstechnisch schon umgesetzt. Zur Er-
richtung von Modellprojekten zum Aufbau generations-
übergreifender Freiwilligendienste stehen im Haushalt
des Familienministeriums 10 Millionen Euro bereit. Da-
mit setzen wir eine Empfehlung der Kommission „Im-
pulse für die Zivilgesellschaft“ um, die von der Bundes-
ministerin Renate Schmidt im letzten Jahr eingesetzt
worden ist.
Der vorliegende Antrag ist ein Teil der Umsetzung
des Kommissionsberichtes. Denn im Bericht der Kom-
mission heißt es, dass es unabhängig von den Fragen zur
Zukunft der Wehrpflicht und damit des Zivildienstes
notwendig und richtig ist, Freiwilligendienste auszu-
bauen. Das und nur das ist mit diesem Antrag gewollt.
Die Öffnung der Freiwilligendienste für Menschen al-
ler Altersgruppen ist eine aktive, innovative Gesell-
schaftspolitik und angesichts der demographischen Ent-
wicklung vernünftig und geboten. Deshalb müssen die
schon bestehenden Jugendfreiwilligendienste verstärkt
gefördert werden. Zudem ist es notwendig, neue Formen
generationsübergreifender Freiwilligendienste zu erpro-
ben. Dabei können Menschen Verantwortung überneh-
men, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse einbringen, neue
Kompetenzen erwerben und sich persönlich wie beruf-
lich orientieren.
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Am Sonntag feiern wir den Internationalen Tag des
hrenamtes. Dies ist ein Tag zum Feiern und für die Ko-
lition Anlass, unsere Ziele im Hinblick auf die Engage-
entförderung zu benennen. Ich möchte Sie auffordern
itzumachen. Zeigen Sie mit uns gemeinsam Engage-
ent für diejenigen, die sich engagieren wollen.
Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Dörflinger,
DU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
erren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir am
ommenden Sonntag den Internationalen Tag des Ehren-
mtes feiern, Herr Kollege Schaaf, dann ist das ein guter
nlass für diese Debatte. Wir sind uns völlig einig, dass
uch in dieser Debatte zunächst einmal ein Dank sowie
in Wort der Anerkennung und des Respekts an all dieje-
igen, die sich in diesem Land als Freiwillige ehrenamt-
ich oder bürgerschaftlich engagieren, gerichtet werden
13486 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Thomas Dörflinger
muss. Sie werden mir nachsehen, dass ich in diesen
Dank mit besonderer Herzlichkeit die 270 00 Mitglieder
des deutschen Kolpingwerks einschließe.
– Das ist schön.
Diese Männer und Frauen leisten einen wichtigen
Beitrag zum Gelingen unseres Gemeinwesens, und zwar
nicht so sehr deswegen, weil das, was sie tun, ansonsten
durch die öffentliche Hand finanziert werden müsste
– das ist nicht der wesentliche Punkt –, und auch nicht
nur deswegen, weil das, was sie in freiwilliger Tätigkeit
ausüben, möglicherweise eine Ergänzung oder Fortbil-
dung dessen sein kann, was sie beruflich tun oder zu tun
gedenken, sondern deswegen, weil das, was sie ehren-
amtlich und freiwillig tun, ein ganz wesentliches Mo-
ment für das Gelingen dieser Gesellschaft beschreibt,
nämlich dass jeder für den anderen und jede für die an-
dere etwas tun muss. Insofern, Herr Kollege Schaaf, tei-
len wir den Ansatz, den Sie in Ihrem Antrag formulieren,
Freiwilligendienste generationsübergreifend zu organi-
sieren, ausdrücklich. Wir nehmen Ihre Bereitschaft
gerne auf und signalisieren die unsrige, im Beratungs-
verfahren möglicherweise zu einem gemeinsamen An-
trag zu kommen, was dem Thema durchaus angemessen
wäre. Gestatten Sie mir allerdings, dass ich mich auch
mit einigen kritischen Bemerkungen an diesen Antrag
heranwage.
Erster Punkt. Herr Kollege Schaaf, Sie haben in Ihrer
Rede selbst die Frage der allgemeinen Wehrpflicht an-
gesprochen. Es wäre natürlich hilfreich, wenn Sie, allein
um dem Verdacht zu entgehen, die Freiwilligendienste
als einen Ersatz des Wehrdienstes und des Zivildienstes
zu positionieren, vorab klären würden, wie die Koalition
zu dieser Frage steht. Ich habe von dieser Stelle aus im-
mer kritisiert, dass sich Rot und Grün in dieser Frage
nicht einig sind. Jetzt haben wir insofern einen Fort-
schritt gemacht, als sich inzwischen auch die SPD in die-
ser Frage nicht mehr einig ist. Wir haben einen Bundes-
innenminister, der sich relativ unverhohlen – ich er-
wähne dies, weil Sie das Thema angesprochen haben,
Herr Kollege Schaaf – für einen allgemeinen Pflicht-
dienst ausgesprochen hat. Wir haben eine Parlamentari-
sche Staatssekretärin des gleichen Ministeriums, die öf-
fentlich davon ausgeht und es auch wünscht, dass die
Wehrpflicht abgeschafft wird.
Wir haben aber gleichzeitig auch den Bundesminister
der Verteidigung und einen Verteidigungspolitiker Ihrer
Fraktion, nämlich Reinhold Robbe, die sich vehement
für einen Erhalt der allgemeinen Wehrpflicht ausspre-
chen. Nun wäre mein Rat, dass Sie möglichst bald zu ei-
ner gemeinsamen Position finden – zunächst einmal als
SPD, aber auch als SPD-Bundestagsfraktion – und dies
nicht bis möglicherweise ins Jahr 2006 hinausschieben.
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Vom Kollegen Schaaf immer gerne.
Bitte schön.
In weiten Teilen stimmen wir ja überein, Herr
örflinger. Nur, würden Sie mir bitte bestätigen, dass ich
n meiner Rede ausdrücklich gesagt habe – ausdrücklich;
as ist sicherlich auch nachzulesen –, dass jenseits der
rage der Zukunft der Wehrpflicht und der Zukunft des
ivildienstes die Freiwilligendienste deutlich ausgebaut
erden müssen – so heißt es im Kommissionsbericht aus
rüssel zum Thema Zivilgesellschaft und das ist auch
or dem Hintergrund der demographischen Entwicklung
in Gebot – und dass dieser Antrag mit keinem Wort die
ehrpflicht oder den Zivildienst erwähnt, sondern sich
usdrücklich nur auf das Ziel des Ausbaus der Freiwilli-
endienste bezieht?
Dass Sie das so gesagt haben, bestätige ich Ihnen
erne. Ich bestätige Ihnen aber auch gerne einen zweiten
unkt, und zwar dass in dem Antrag sehr wohl ein Zu-
ammenhang zwischen der allgemeinen Wehrpflicht und
em Zivildienst auf der einen Seite und dem Thema
reiwilligendienst auf der anderen Seite hergestellt wird.
n dem Antrag heißt es auf Seite 5:
Ein erster Schritt zur Transferierung von Zivil-
dienstmitteln in den Bereich der Freiwilligendienste
wurde mit der Änderung des Zivildienstgesetzes
2002 gemacht.
enn Sie einen ersten Schritt feststellen, dann gehen Sie
ffensichtlich auch von einem zweiten, einem dritten
der möglicherweise noch mehr Schritten aus.
lso scheint es offensichtlich doch Mehrheitsmeinung
hrer Fraktion zu sein, dass wir von der Abschaffung von
ehrpflicht und Zivildienst auszugehen haben und dass
nsofern doch ein Zusammenhang besteht.
Es ist auch interessant, einen Blick auf die Genese
ieses Antrags zu werfen. Wir wurden als CDU/CSU-
undestagsfraktion vor wenigen Wochen interessanter-
eise von Verbandsseite darauf aufmerksam gemacht,
ass das zuständige Bundesministerium offensichtlich
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13487
)
)
Thomas Dörflinger
etwas im Bereich generationsübergreifende Freiwilli-
gendienste plane. Mich hat das insofern erstaunt, als ich
zu diesem Zeitpunkt von dem Vorhaben nichts wusste.
Von Verbandsseite berichtete man, man sei ausdrücklich
aufgefordert worden, Projekte im Ministerium anzumel-
den, was mich zu der Frage veranlasst hat, wo denn die
Haushaltsmittel für diese Projekte veranschlagt sind. In-
teressanterweise tauchten in der Bereinigungssitzung
wie aus dem Nichts, wie Phönix aus der Asche,
10 Millionen Euro auf – wohlgemerkt: eine globale Min-
derausgabe, die nicht definiert ist, steht auch im Haus-
halt –, um diese Projekte zu finanzieren.
Ich halte das Verfahren insofern für merkwürdig, als
der zuständige Ausschuss des Deutschen Bundestages
mit dieser Frage nicht ordnungsgemäß befasst wurde,
sondern erst indem uns heute dieser Antrag vorgelegt
wird, nachdem Sie mit dem Haushalt aber bereits Fakten
geschaffen haben
und Sie mit denjenigen, die Sie sich möglicherweise als
Trägerinnen und Träger vorstellen können, zuerst reden,
bevor Sie im Deutschen Bundestag die Kolleginnen und
Kollegen mit dieser Sache konfrontieren.
– Selbstverständlich habe ich den Kommissionsbericht
gelesen, Frau Kumpf.
Darin und auch im letzten Protokoll des Unterausschus-
ses Bürgerschaftliches Engagement steht, dass man sich
mit der Frage befasse, aber nicht, dass man konkrete
Projekte plane, die in diesem Haushalt bzw. im Haushalt
des Jahres 2005 bereits Wirkung zeigen sollen. Das steht
nicht darin. Genau diesen Umstand habe ich kritisiert.
Ich bin der Auffassung, wir tun gut daran, den Antrag
zum Anlass zu nehmen, in der kommenden Beratung das
Thema Freiwilligendienste noch etwas umfassender in
den Blick zu nehmen, als das Gegenstand des Antrages
ist. Ich mache das an zwei Sachen fest:
Erster Punkt. Wir müssen uns auch im Interesse der
Freiwilligendienste und mit Blick auf das, was die Föde-
ralismuskommission gegenwärtig diskutiert, darüber
klar werden, und zwar fraktionsübergreifend, am besten
noch im Konsens mit den Ländern, wo das zukünftig
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s gibt da ein Problem, welches begründet ist in unse-
em redlichen Bemühen, für eine soziale Absicherung zu
orgen, und der Definition eines Arbeitnehmerstatus in
inigen Ländern, in die wir Freiwillige entsenden. Hier
esteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Wir sollten
ie Chance nutzen, das im Beratungsverfahren mit den
etroffenen zu klären und möglicherweise einen ent-
prechenden Vorschlag zu unterbreiten.
Ich stehe einem Punkt in Ihrem Antrag sehr skeptisch
egenüber, und zwar dem Punkt, in dem es um die „Ver-
esserung der öffentlichen Wahrnehmung der Freiwil-
igendienste“ geht. Ich stelle gar nicht das redliche Be-
ühen in Abrede, dass Sie das verbessern wollen, aber
ie Erfahrung mit sämtlichen Öffentlichkeitstiteln in den
inzelplänen des Bundeshaushalts legt den Verdacht
ahe, dass es Ihnen bei der Verbesserung der öffentli-
hen Wahrnehmung weniger um das Projekt als viel-
ehr um die öffentliche Wahrnehmung des Bundesmi-
isters oder der Bundesministerin geht.
n dieser Stelle – das werden Sie uns nachsehen – sind
ir etwas skeptisch.
Ich bin der Auffassung – das gilt auch für meine Frak-
ion –, dass die beste Werbung für Freiwilligendienste
ie ist – darin sind wir uns wieder einig –, möglichst vie-
en jungen und möglicherweise auch älteren Menschen
ie Möglichkeit zu eröffnen, einen Freiwilligendienst zu
achen, um diese dann in die Lage zu versetzen, an-
chließend über ihre Erfahrungen zu berichten. Das ist
ie beste Werbung für Freiwilligendienste, die wir uns
orstellen können. Das ist wesentlich besser, als wenn
ir versuchen würden, dies werbetechnisch mit Hoch-
lanzbroschüren zu unterstützen.
Interessant ist natürlich auch, dass Sie zum Schluss
es Antrages – wobei ich mir eine Bemerkung über das
erhältnis zwischen dem lyrischen Einführungsteil und
em Forderungskatalog verkneife – die Aufforderung an
ie Bundesregierung richten, zu prüfen und dann mögli-
herweise darüber zu berichten, was da zu tun ist. Ich
abe etwas Ähnliches schon einmal gelesen und mir den
ntsprechenden Abschnitt aus dem Internet gezogen.
amals hörte sich das etwas anders an:
Wir werden auf der Grundlage der Handlungsemp-
fehlungen der Enquete-Kommission „Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements“ prüfen,
diese Kommission hat ihre Arbeit abgeschlossen –
13488 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Thomas Dörflinger
wie der gesetzliche Rahmen für die Freiwilligenar-
beit weiter entwickelt werden kann und weitere Ini-
tiativen zur Verbesserung des freiwilligen Engage-
ments starten.
Das stammt aus der Koalitionsvereinbarung des Jah-
res 2002. Wenn Sie Ende 2004 die Aufforderung an die
Bundesregierung richten, das zu tun, was im Koalitions-
vertrag des Jahres 2002 steht, dann frage ich: Was ist ei-
gentlich in der Zwischenzeit, in den zwei zurückliegen-
den Jahren, geschehen, wenn Sie Ihre eigene Forderung
nach zwei Jahren wiederholen müssen?
Meine Damen und Herren, ich betone noch einmal
ausdrücklich unsere Bereitschaft, an diesem Antrag kon-
struktiv mitzuwirken, um, wie beschrieben, möglicher-
weise ein gemeinsames Vorgehen abzustimmen. In die-
sem Sinne freue ich mich auf gute Beratungen.
Herzlichen Dank.
Ich erteile jetzt der Kollegin Jutta Dümpe-Krüger,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Freiwilliges Engagement ist ein wesentliches Gestal-
tungselement moderner Demokratie und nachhaltiger
gesellschaftlicher Verantwortung. Mit unserem Antrag
stehen wir für eine neue Kultur der Freiwilligkeit in
Deutschland; denn unser Konzept integriert die Poten-
ziale aller Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.
Unsere wichtigsten Forderungen sind folgende:
Erstens. Wir wollen die klassischen Jugendfreiwilli-
gendienste ausbauen, und zwar auf die 30 000 Plätze,
die uns die Träger angeboten haben. Wir wissen genau,
dass wir in diesem Bereich eigentlich noch viel mehr tun
könnten. Wir haben in unserem Antrag ausdrücklich die
Auslandsfreiwilligendienste berücksichtigt. Herr Dörflinger,
zur öffentlichen Wahrnehmung sage ich Ihnen: Wir wer-
den erst dann wieder dafür werben, dass sich mehr junge
Menschen bewerben, wenn wir mehr Plätze zur Verfü-
gung haben. Das würde im Moment überhaupt keinen
Sinn machen;
denn im Moment erleben wir, dass sich zwei bis drei Ju-
gendliche um einen Platz bewerben. Es sind also nicht
genug Plätze vorhanden, um das große Interesse abzude-
cken. Deswegen werden wir uns erst dann darum küm-
mern, wenn wieder genug Plätze für die jungen Leute
zur Verfügung gestellt werden können.
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Die Einsatzstellen beobachten darüber hinaus, dass
ie jungen Freiwilligen während ihres Dienstes eine zu-
ehmende Bereitschaft zu Engagement im Allgemeinen
ntwickeln. Das heißt, sie werden durch ihr FSJ und ihr
ÖJ dazu motiviert, sich weiterhin bürgerschaftlich zu
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13489
)
)
Jutta Dümpe-Krüger
engagieren. Damit holen wir junge Menschen genau da
ab, wo sie sich befinden, und wir entwickeln gleichzeitig
eine starke Zivilgesellschaft und setzen Rahmenbedin-
gungen für eine neue Kultur der Freiwilligkeit.
Ich weiß nicht, ob Sie den Film kennen, in dem
250 Kinder und Jugendliche aus 25 Nationen zur Musik
von Strawinski tanzen; er heißt „Rhythm is it“. Er zeigt,
welches Potenzial Kinder und Jugendliche mit Migra-
tionshintergrund haben; sie müssen nur eine Chance be-
kommen, ihr Potenzial zu entfalten. Ich sage Ihnen, wa-
rum ich das erzähle: Dieser Film war in meinem
Bundesland Nordrhein-Westfalen der Anstoß für junge
Migranten einer technischen Berufsschule, gemeinsam
mit ihrem Lehrer zu sagen: Wir sind doch auch wer, wir
können doch auch was. Diese jungen Menschen wollen
jetzt gemeinsam mit Fachleuten in einer gelungenen Mi-
schung aus bürgerschaftlichem Engagement, Integration
und Kooperation mit Unternehmen eine Bürgerstiftung
gründen, die eine Grundlage dafür sein soll, dass jugend-
liche Migranten in Arbeit und Ausbildung kommen, in-
dem sie ein kleines Unternehmen aufbauen und dabei
auch noch etwas für die Umwelt tun: Sie wollen kleine
Blockheizkraftwerke und komplexe Regelungssysteme
bauen.
Das ist nur eine Idee für bürgerschaftliches Engage-
ment. Ich finde, es ist eine tolle Idee, es ist ein Leucht-
turmprojekt.
Es zeigt, welche Ressourcen in unserer Gesellschaft vor-
handen sind – wir müssen sie nur aktivieren. Es zeigt
Engagement, das auf gleichberechtigten und respektvol-
len Umgang miteinander setzt, trotz aller Verschieden-
heit. Wenn wir alle freiwilliges Engagement so verste-
hen, dann befinden wir uns, wie ich glaube, auf einem
guten Weg in eine offene und in eine tolerante Gesell-
schaft und auf dem Weg, diese offene und tolerante Ge-
sellschaft auch weiterzuentwickeln.
Danke schön.
Das Wort hat nun die Kollegin Laurischk für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ehrlich gesagt, passt der vorliegende Entwurf so gar
nicht in das Bild, das meine Fraktion bisher von der
recht guten Arbeit in diesem Bereich des zuständigen
Ministeriums unter Renate Schmidt hat. Wir mögen im
Detail anderer Auffassung sein, in der großen Linie sind
die Liberalen den Auffassungen der Ministerin oft näher
als ihre eigene Fraktion.
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Es wäre sehr nett, wenn Sie mir zuhören würden.
Demzufolge kann ich nur hoffen, dass Form und Stil
ieser Vorlage nicht als erster Schritt für Ihre Forderung
ach „Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung der
reiwilligendienste durch Öffentlichkeits- und Informa-
ionsinitiativen“ zu verstehen sind, die auf Seite 5 Ihres
ntrages steht. Es ist auch schade, dass Sie die Ministe-
in so wenig fundiert in die Spur setzen wollen. Wir
rauen Frau Schmidt in diesem Bereich mehr zu, als Sie
ier vortragen.
Kommen wir zu einer der wenigen Aussagen im An-
rag. Sie fordern, dass im Rahmen der verfügbaren Haus-
altsmittel verbesserte Rahmenbedingungen für die Frei-
illigendienste zu schaffen sind. Abgesehen davon, dass
ie FDP unter verbesserten Rahmenbedingungen gesetz-
iche Regelungen beispielsweise zur Zertifizierung ver-
teht, was kaum haushaltsrelevant wäre, verstehen Sie
arunter anscheinend, die Anzahl der geförderten Plätze
rheblich zu erhöhen. Das wäre eine durchaus berech-
igte Forderung, wenn Sie uns gleichzeitig Ihre Vorstel-
ungen zur Gegenfinanzierung verraten würden.
Ebenso unverständlich bleibt, warum Sie den Ausbau
er Auslandsdienste und des Europäischen Freiwilligen-
ienstes berechtigterweise fordern und sich im Antrags-
itel nur auf Deutschland beziehen. Unverständlich ist
13490 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
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Sibylle Laurischk
auch, aus welchem Grund Sie die Einrichtung von Mo-
dellprojekten zum Aufbau generationsübergreifender
Freiwilligendienste fordern. Dies ist bereits beschlossen
und soll in 2005 umgesetzt werden.
Vollkommen unverständlich ist mir als Liberale, wa-
rum Sie wieder einmal einen Bericht einfordern wollen,
insbesondere deshalb, weil dies ein Bericht zu einem
Freiwilligendienstgesetz sein soll. Bereits am 26. Juni
2001 forderte die damalige Bundesministerin Christine
Bergmann anlässlich des Kongresses zur Zukunft der
Freiwilligendienste:
Wir müssen die Freiwilligendienste in unserer Ge-
sellschaft ausbauen und umstrukturieren.
Damit war eigentlich die Vorlage eines umfassenden
Freiwilligendienstgesetzes für das Internationale Jahr
der Freiwilligen im Jahr 2001 gemeint, welches dann nur
in der bekannten Rumpffassung verabschiedet wurde.
Wir brauchen keinen neuen Bericht hierüber, sondern die
erfolgten Vorarbeiten sind endlich in die Tat umzusetzen.
Auf Seite 3 Ihres Antrags ist von einem „Freiwilli-
gendienst für alle Jugendlichen“ die Rede. So um-
schrieben wäre der Dienst nicht mehr freiwillig, sondern
ein Pflichtdienst, wie Mitglieder der Bundesregierung
ihn bereits forderten. Die FDP lehnt jede Form des Frei-
willigendienstes, der für alle Jugendlichen verpflichtend
wäre, entschieden ab.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Michael Bürsch, SPD-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
brauchte jetzt die dreifache Zeit, um all die Irrtümer und
Missverständnisse auszuräumen, die die Kollegen beim
Lesen des Antrags in deutscher Sprache in diesen offen-
bar hineingedeutet haben.
Ich nehme mir nur ganz kurz Zeit, um vier Punkte zu
nennen.
Frau Kollegin, es war keine heiße Nadel im Spiel. Wir
haben Jahre an dem Antrag gestrickt.
Die Ergebnisse der dreijährigen Beratungen der En-
quete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen En-
gagements“
und die Empfehlungen der Enquete-Kommission „Im-
pulse für die Zivilgesellschaft“, die ihren Bericht Anfang
des Jahres abgegeben hat, sind darin enthalten.
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ch vergebe Ihnen gern, weil Sie in diesem Thema nicht
o drin sind wie wir. Das ist für mich Grund genug, Ih-
en vorzuschlagen, dass wir in ein Privatissimum gehen,
n dem ich Ihnen die 851 Seiten des Berichts der En-
uete-Kommission erkläre.
ch könnte Ihnen dann all das rauf- und runterbeten, was
n diesem hervorragenden Antrag enthalten ist.
err Kollege Dörflinger, Ihnen sage ich: Der Antrag hat
ichts mit der Wehrpflicht zu tun. Alles, was Sie in ihn
ineingedeutet haben, ist reine Kaffeesatzleserei. Auch
enn Sie die Buchstaben und Worte noch so sehr hin-
nd herwenden, es geht doch um die Freiwilligendienste.
s ist beileibe nicht das erste Mal, dass wir Gelder aus
em Zivildiensttitel umschichten.
enn Sie das in den letzten Jahren verfolgt haben, dann
issen Sie, dass die Zahl der Zivildienstplätze in den
ergangenen Jahren bereits mehrfach reduziert worden
st.
Es ist das Privileg einer großen Volkspartei, das abzu-
arten, was diese Partei in ihrer großen Weisheit im
ächsten Jahr entscheiden wird. Bis dahin gibt es jeden-
alls bei uns die Freiheit, sich zu äußern, ob man dafür
der dagegen ist. Das zeichnet uns aus. Wenn Sie das
icht so machen, ist das Ihre Sache.
Herr Dörflinger, das ist keine PR-Maßnahme. Auch
a haben Sie einen Satz in Ihrem Sinne gedeutet, der das
ber gar nicht hergibt. Es geht darum, im Zuge der Ver-
esserung der öffentlichen Wahrnehmung für dieses
nstrument zu werben. Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus
merika, das ich gerne anführe. Dort wird praktisch von
edem Schüler und jeder Schülerin in der elften Klasse
rwartet, dass er oder sie sich in einem Projekt engagiert
nd dies mitorganisiert, wofür zwei bis drei Stunden in
er Woche an Zeit investiert werden sollen. Am Ende
iefert er oder sie einen Bericht darüber ab, was sich im
eugnis niederschlägt. So etwas soll es bei uns im Rah-
en des freiwilligen Engagements geben, aber bisher
ibt es das noch nicht.
Ich werbe wie andere dafür, dass es bei dem Thema
reiwilligendienste wahrhaftig nicht nur um Staatsknete
eht, sondern dass wir zum Beispiel wie auch in anderen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13491
)
)
Dr. Michael Bürsch
Ländern die Wirtschaft mit ins Boot nehmen. Das ist die
Werbung für das Projekt Freiwilligendienste, die wir
meinen. Sie werden keine Hochglanzbroschüren bekom-
men.
Es wird darum gehen, dass wir für dieses wichtige Pro-
jekt gemeinsam mehr Mitstreiter finden.
Herr Dörflinger, das können Sie wahrscheinlich auch
nicht wissen: In den letzten zwei Jahren ist etliches pas-
siert, was die Freiwilligendienste betrifft. Es ist darauf
verwiesen worden, dass die Enquete-Kommission unter
meinem Vorsitz eine Reihe von Vorschlägen auch zu
dem Thema Freiwilligendienste gemacht hat. Wir haben
dann – das ist eine erstmalige Einrichtung – einen Unter-
ausschuss installiert, damit diese ganzen Empfehlungen
– so praktisch sie auch sind – nicht irgendwo im Bücher-
schrank verschwinden. Das ist mit dem Unterausschuss
„Bürgerschaftliches Engagement“ gelungen.
Ich lade Sie überaus herzlich ein: Kommen Sie alle
vier Wochen am Mittwoch zu uns, um zu sehen, was sich
bei jeder Sitzung praktisch verändert. Das Thema
„Schutz der Engagierten“ haben wir in den letzten an-
derthalb Jahren wirklich vorangebracht; allein dazu kann
ich Ihnen einen Meter an Material vorlegen.
Das betrifft auch die Freiwilligen im In- und Ausland.
Es ist also einiges passiert. Der Fortschritt ist zwar
– das wissen wir alle – eine Schnecke, aber sie bewegt
sich voran.
Das Schönste ist, dass wir uns bei diesem Thema ins-
gesamt, wenn ich einmal diese manchmal etwas klein-
karierte Kritik außen vor lasse, einig sind. Bei den Frei-
willigendiensten muss etwas geschehen. Das Neue, das
in diesem Antrag enthalten ist – ich bitte Sie, dem Klub
beizutreten bzw. mit ins Boot zu kommen –, ist der gene-
rationenübergreifende Ansatz. Wir werden nur gesell-
schaftlich bestehen können, wenn wir bei der demogra-
phischen Entwicklung, die wir alle voraussehen können,
Jung und Alt zusammenbringen.
Es gibt hier viele gute Beispiele; die Kollegin
Dümpe-Krüger hat eins genannt. Mir ist ein anderes zur
Kenntnis gebracht worden. Bei der Kölner Initiative „Ju-
gendhilfe und Schule“ arbeiten deutsche Senioren mit
ausländischen Jugendlichen zusammen. Das ist ein wun-
derbares Projekt des gegenseitigen Kennenlernens und
des Diskutierens. Die Älteren geben ihre Erfahrungen
weiter und machen sich damit vertraut, wie junge aus-
ländische Menschen denken, die vielleicht etwas anders
sind. Umgekehrt hat dieser Austausch durchaus einen er-
hellenden Wert für die jungen Ausländer, wenn sie von
Älteren etwas lernen und ihnen im Rahmen ihrer Mög-
lichkeiten helfen. Von dieser Art gibt es viele Projekte.
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n dieser Stelle zitiere ich gerne den alten Konfuzius:
an ahnt ja gar nicht, wie viel Lob man vertragen kann.
as sollten wir beherzigen.
Von vielen Geburtstagsfeiern weiß man, dass die Be-
roffenen ein erhebliches Volumen vertragen können.
Nun hat das Wort der Kollege Andreas Scheuer für
ie CDU/CSU-Fraktion.
Hoch geschätzter Herr Präsident! Verehrte Kollegin-
en und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Das fängt gut an, Herr Kollege. – Der kommende
onntag ist der Tag des Ehrenamtes. Die CDU/CSU-
undestagsfraktion dankt sehr herzlich allen ehrenamt-
ich und freiwillig Engagierten. Die Aktiven leisten ei-
en unschätzbaren Dienst für unsere Gesellschaft. Sie
erkörpern eine solidarische Leistungsgesellschaft, in
er es ein Zusammenspiel von Rechten, aber auch
flichten für die Bürger gibt und in der mehr Verantwor-
ung und weniger Vollkaskomentalität mit staatlicher
undumversorgung vorherrschen. Wir als Unionsfrak-
ion wollen im Deutschen Bundestag mithelfen, das
lima für bürgerschaftliches Engagement weiter zu ver-
essern. Ich spreche auch im Namen von Klaus Riegert,
nseres Obmanns im zuständigen Unterausschuss, in
em wir fraktionsübergreifend in einem guten Klima zu-
ammenarbeiten.
Heute debattieren wir über einen besonderen Teil bür-
erschaftlichen Engagements, die Freiwilligendienste.
iele Menschen bringen ihre Potenziale in die Gesell-
chaft ein, ob Jüngere oder Ältere. Ich danke den Frei-
illigen jedes Alters für ihren Einsatz. Jugendfreiwilli-
endienste erfahren einen regelrechten Run. Es mag an
13492 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Andreas Scheuer
den Problemen in der Wirtschaft und auf dem Arbeits-
markt liegen – ausgelöst durch eine miserable Politik
von Rot-Grün –,
dass junge Menschen hierin eine Chance sehen, wenn sie
keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz bekommen ha-
ben.
Was ich hervorheben möchte, ist die Tatsache, dass es
so viele junge Bewerber für den Freiwilligendienst gibt.
Vielerorts hat sich das Image von Jugend über die Jahre
leider nicht verändert. Jeder kennt die Vorurteile, die he-
rumgeistern, und die Eigenschaften, die man jungen
Menschen zuschreibt. Hat sich etwas grundlegend seit
der babylonischen Toninschrift vor einigen Tausend Jah-
ren vor Christus geändert, die lautet: Jugend ist träge,
gottlos und faul und verachtet die Eltern? Das entspricht
nicht der Realität. Auch die Politik kann dabei mithelfen,
diese Vorurteile abzubauen.
– Ich bin richtiggehend überrascht, dass ich einmal von
der SPD Applaus bekomme.
Rund drei junge Bewerber auf einen Freiwilligen-
dienstplatz sprechen eine andere Sprache. Unsere Ju-
gend will sich in die Gesellschaft einbringen und mithel-
fen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion findet es Spitze,
dass sich junge Menschen für Ehrenamt und Freiwilli-
gendienst interessieren. Das ist eine Investition in die
Zukunft unserer Gesellschaft. Unser Staat wäre schlimm
dran, wenn es dieses Engagement nicht gäbe. Aber wir
müssen auch mithelfen, dass sich das Image und die An-
erkennungskultur verbessern. Die Fleißigen dürfen in
unserer Gesellschaft nicht die Dummen sein.
Jetzt flattert uns ein Antrag von Rot-Grün in die Bü-
ros. Ich sage das deshalb so flapsig, weil darin sehr viel
Prosa geboten wird. Den Text, meine Damen und Herren
von der Koalition, können Sie gut für Sonntagsreden be-
nutzen. Er ist windelweich, wenig verfänglich, wenig
konkret, aber er hört sich halt gut an. Viele Worte wie
„grundsätzlich bewährt“, „könnte“, „hätte“ und „sollte“
kommen darin vor. Was wollen Sie denn?
Werden Sie konkreter und mutiger! Wir nehmen gerne
Ihre Einladung an, Herr Kollege Schaaf, uns bei den fol-
genden Beratungen zusammenzusetzen, um eine Lösung
zu finden. Wenn wir bei den Inhalten zusammenkom-
men, helfen wir Ihnen auch gerne, den Antrag zu schrei-
ben, damit etwas Konkretes herauskommt.
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Zweitens. Beim Zivildienst haben wir dasselbe He-
umeiern. Ständig gibt es Blockaden für die Träger, es
indet ein Hinauszögern und Auf-Zeit-Spielen statt. Da-
ei werden Strukturen zerstört.
Die Ministerin – sie hatte gestern ihren Auftritt bei
erner; vielleicht muss sie sich noch ausruhen, aber die
taatssekretärin kann es ihr mitteilen –
eht damit hausieren, dass die 800 Millionen Euro für
en Zivildienst auch bei einer Abschaffung den Trägern
ur Verfügung stehen, um diese zu beruhigen. Da wer-
en wir genau hinschauen müssen.
Drittens. Jetzt komme ich zum Freiwilligendienst.
atürlich gehören die Punkte zusammen, weil Rot-Grün
ie Abschaffung des Zivildienstes durch die Freiwilli-
endienste auffangen will. Aus dem vorliegenden An-
rag lese ich heraus, dass Sie, meine Damen und Herren
on der Koalition, vor allem den Ausbau der Jugend-
reiwilligendienste wegen der hohen Nachfrage garan-
iert bekommen wollen. Das ist grundsätzlich okay.
ber wie soll man Folgendes bewerten? Im Internet
irbt das Ministerium vor allem mit den generations-
bergreifenden Freiwilligendiensten, also vor allem mit
er Zielgruppe ältere Menschen.
ie Koalitionsfraktionen wollen mehr Jugendfrei-
illigendienste. Und der zuständige Staatssekretär
uhenstroth-Bauer führte dazu in der Sitzung des Bun-
esrates am 2. April 2004 aus:
Der mit der Entschließung geforderte Ausbau der
Jugendfreiwilligendienste wäre somit nicht zielfüh-
rend und angesichts der Lage der öffentlichen
Haushalte wohl auch kaum finanzierbar. Denn er
würde nicht nur auf Bundes-, sondern vor allem auf
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13493
)
)
Andreas Scheuer
Länderseite zusätzliche Haushaltsmittel vorausset-
zen …
Da haben wir den Beweis doch schwarz auf weiß! Was
wollen Sie? Stellen Sie die Mittel für den Ausbau end-
lich bereit oder nicht? Bei dem Schlingerkurs soll sich
noch einer auskennen.
Sie laden uns ein, mitzumachen. Das ist in Ordnung.
Miteinander reden kostet nichts. Wir werden sehen, was
sich daraus ergibt. Die Opposition muss Ihnen wieder
einmal dabei helfen, aus Ihrer Vielstimmigkeit herauszu-
finden.
Den im Antrag enthaltenen Prüfauftrag – er wurde
schon angesprochen –, inwieweit ein Bundesfreiwilli-
gendienstplan und ein Freiwilligendienstgesetz die Frei-
willigendienste nachhaltig sichern und fördern könnten,
können wir unterstützen; denn diese Forderung ist nicht
neu.
Herr Kollege.
Lassen Sie mich noch den Gedanken zu Ende führen.
Dem Ministerium stehen Haushaltsmittel zur Verfü-
gung, um Modellprojekte im Freiwilligendienst durch-
zuführen.
Ich möchte an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen,
aber es wurden in einer Hauruckaktion 10 Millio-
nen Euro sozusagen aus der Hüfte geschossen,
die nicht im Haushaltsentwurf aufgeführt waren,
sondern erst in einer Bereinigungssitzung eingebracht
wurden.
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ber lassen wir das beiseite.
Sehr geehrter Herr Kollege Scheuer, würden Sie mir
echt geben, dass sich das Zitat von Staatssekretär
uhenstroth-Bauer auf einen im Bundesrat eingebrach-
en Antrag des Bundeslandes Saarland zum Ausbau der
ugendfreiwilligendienste bezog und dass die Antwort
esagte, dass prioritär die generationsübergreifenden
reiwilligendienste aufgebaut werden müssen – weil
iese noch nicht existieren –, ohne die Jugendfreiwilli-
endienste zu gefährden, und dass die Koalition mitge-
eilt hat, dass sie Mittel im Haushalt eingestellt hat, dass
rste Projekte gemeldet worden sind, dass die generati-
nsübergreifenden Freiwilligendienste im kommenden
ahr anlaufen werden und dass im nächsten Haushalts-
ahr die Jugendfreiwilligendienste gestärkt werden sol-
en? Würden Sie konstatieren, dass sich die Antwort von
uhenstroth-Bauer hinsichtlich des Ausbaus der Freiwil-
igendienste auf den Antrag des CDU-regierten Saar-
ands bezog?
Herr Kollege Schaaf, der Staatssekretär hat sich im
undesrat zu diesem Antrag geäußert. Er hat den weite-
en Ausbau der Jugendfreiwilligendienste abgelehnt.
as geht aus dem Protokoll hervor.
nsofern ist es durchaus ein Kunstgriff – um zu meinem
orhin begonnenen Gedanken zurückzukehren –, in den
aushaltsberatungen plötzlich die 10 Millionen Euro in
en Haushalt einzustellen. Das ist soweit in Ordnung.
arüber müssen wir nicht diskutieren.
uch die Verpflichtungsermächtigung über weitere
Millionen Euro ist in Ordnung. Das Problem besteht
ber darin – das hat auch der Staatssekretär festgestellt –,
ass der weitere Ausbau der Freiwilligendienste nicht
13494 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Andreas Scheuer
zielführend ist. Wir prangern die Vielstimmigkeit zwi-
schen der Koalition und der Regierungsbank an.
Es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischen-
frage.
Ich warte schon darauf.
Ich möchte aber wechselseitig um etwas Disziplin bit-
ten. Es muss nicht unbedingt sein, dass jeder, der ohne-
hin als Redner gemeldet war und bereits gesprochen hat,
noch eine Zwischenfrage stellt.
– Wenn es der Wahrheitsfindung diente, dann wäre ich
weniger zurückhaltend, Herr Kollege.
Herr Kollege, ich würde Ihnen gerne eine Frage stel-
len, die hoffentlich der Wahrheitsfindung dient. Würden
Sie mir zustimmen, dass wir nicht 10 Millionen, sondern
11 Millionen Euro nicht gerade aus der Hüfte geschos-
sen haben, wie Sie es formuliert haben, sondern aus den
Mitteln des Zivildienstes in den Haushalt eingestellt ha-
ben, und zwar 1 Million Euro für die klassischen Ju-
gendfreiwilligendienste und 10 Millionen Euro für die
neuen generationsübergreifenden Freiwilligendienste?
Herr Kollege Bürsch, das ist eine hervorragende
Frage ist; das kann ich nur bestätigen.
Frau Dümpe-Krüger, wir prangern das Vorgehen an.
Sie hätten schon im Haushaltsentwurf deutlich machen
können, dass Sie Geld aus dem Zivildiensttitel heraus-
nehmen. Es gibt keine Planungssicherheit auf diesem
Gebiet. Man muss sich ja nur vor Augen führen, welche
Meinung der Staatssekretär laut Protokoll vor ein paar
Wochen vertreten hat.
– Bei euch ändert sich schnell etwas, auch die Meinun-
gen.
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Ich fahre fort. Die zentrale Frage ist: Darf der Bund
zw. die Ministerin die hier zur Diskussion stehenden
rojekte überhaupt weiter ausbauen? Wir unterstützen
en Prüfauftrag, weil dann endlich geklärt sein wird, ob
ie Ministerin das ausbauen darf, was sie ständig ankün-
igt. Wie heißt es in der „FAZ“ vom 30. November die-
es Jahres:
Eine Abschaffung des Zivildienstes sei „kein Pro-
blem“, wenn ein Teil des Geldes für die Freiwilli-
gendienste verwendet werde, sagte die für den Zi-
vildienst zuständige Ministerin.
ch weiß nicht, inwieweit die Ministerin das Grundge-
etz beachtet. Vielleicht geht sie ja nach dem Prinzip
or: Wenn schon der ganze Haushalt verfassungswidrig
st, dann spielt es ohnehin keine Rolle mehr, wie ich
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13495
)
)
Andreas Scheuer
– gleichsam als Kavaliersdelikt – meinen Haushalt hand-
habe.
Sie sollten die Fußnoten des Kommissionsberichtes
lesen.
Auf Seite 11 befindet sich ein kleines Sternchen mit gro-
ßer Bedeutung – ich gebe zu, dass man bei Augenpro-
blemen eine starke Lesebrille braucht; aber ich helfe Ih-
nen –:
Eine Mitfinanzierung neuer Modellvorhaben durch
den Bund setzt bei der derzeitigen Haushaltslage
eine Gegenfinanzierung im jeweiligen Haushalts-
plan voraus. Für die Finanzierung von Mindeststan-
dards zu neuen generationsübergreifenden Freiwil-
ligendiensten hat der Bund grundsätzlich keine
Finanzierungskompetenz; denn selbst wenn eine
Gesetzgebungskompetenz des Bundes für neue ge-
nerationsübergreifende Freiwilligendienste bejaht
werden könnte – was bislang ungeklärt ist –, läge
doch die Finanzierungsverantwortung aufseiten der
Länder, die diese gesetzlichen Regelungen auszu-
Was denn nun?
Wir werden jedenfalls bei Ihrer Parallelstrategie, den Zi-
vildienst langsam dahinsiechen und einschlafen zu las-
sen und gleichzeitig alternative Angebote aufzubauen,
sehr genau hinschauen.
Ich komme zum Schluss. Wir danken der Koalition
sehr herzlich dafür, dass sie in ihrem vorliegenden An-
trag gesellschaftspolitische Begriffe wie zum Beispiel
die „aktive Bürgergesellschaft“ aus den Programmen der
CDU/CSU übernommen hat.
Wenn wir Ihnen zum Beispiel auch bei der Wertediskus-
sion Nachhilfeunterricht geben sollen, dann wenden Sie
sich bitte vertrauensvoll an uns. Wir haben damit kein
Problem. Nichtsdestotrotz kann das nicht über die offe-
nen inhaltlichen Fragen des vorliegenden Antrags hin-
wegtäuschen. Lassen Sie uns in den weiteren Beratun-
gen hart an einer Lösung arbeiten, damit vor allem die
jungen Menschen Raum bekommen, um sich zu enga-
gieren und einzubringen.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ute Kumpf.
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Vor allem in Richtung der Fraktion der CDU/CSU
sie rühmt sich sonst immer so, dass ihre Mitglieder im
hrenamtlichen Bereich verankert sind – sage ich: Es
äre ganz ratsam, die Kontakte zu den jeweiligen Orga-
isationen zu halten, sodass man weiß, worüber disku-
iert wird. In Baden-Württemberg werden ehrenamtliche
portler am nächsten Wochenende zum ersten Mal strei-
en. Diese Sportler feiern ihre Landesregierung sonst
mmer; daher ist das ein bisschen seltsam. Es müsste Sie
igentlich ganz schön ärgern, dass die Landesregierung
n Baden-Württemberg den Zuschuss für Übungsleiter in
portvereinen streicht.
Herr Riegert und Herr Dörflinger, wir geben am Tag
es Ehrenamtes keine schönen Worte von uns – solche
orte haben wir auch heute hier wieder gehört –; viel-
ehr setzen wir das, was wir in der Enquete-Kommis-
ion alle gemeinsam beschlossen haben, Stück für Stück
m.
in Beschluss ist, die Freiwilligendienste auszubauen.
Ich möchte eine weitere Anmerkung zu diesem
hema machen. Herr Scheuer, Sie gehen davon aus, dass
reiwilligendienste eine attraktive Alternative für junge
änner sind. Bislang waren Freiwilligendienste eine ty-
isch weibliche Angelegenheit. Der Freiwilligendienst
urde vor 40 Jahren von der Diakonie in Baden-Württem-
erg ins Leben gerufen, um Frauen eine Möglichkeit zu
eben, sich in die Diakonie einzubringen. Außerdem
urde der Freiwilligendienst geschaffen, weil es im so-
ialen Bereich einen riesigen Arbeitskräftemangel gab.
Bislang tummeln sich in den Freiwilligendiensten
och sehr wenige Männer. In den vergangenen 40 Jahren
aben insgesamt etwa 300 000 Menschen Freiwilligen-
rbeit geleistet. Der überwiegende Anteil dieser Men-
chen waren Frauen. Seit 2001, 2002 liegt der Anteil
unger Mädchen bei 23 Prozent und der Anteil der Män-
er bei 17 Prozent. Wir möchten ganz gern mehr Män-
ern eine Chance geben, im Bereich der neuen Freiwilli-
endienste zu arbeiten.
Bislang wurden Freiwilligendienste vor allem von äl-
eren jungen Menschen geleistet. Ich denke dabei an je-
anden, der gerade Abitur gemacht hat und auf der
13496 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Ute Kumpf
Suche nach seiner beruflichen Orientierung ist. Wir wol-
len, dass Freiwilligendienste auch Jüngeren möglich
sind. Sie sollen die Chance haben, einen Lernort vorzu-
finden und sich eine Freiwilligenkultur zu erschließen,
um auf diese Weise Erfahrungen zu machen und zu
wachsen.
Ganz wichtig ist Folgendes – das wissen Sie selbst –:
Derjenige, der Freiwilligenarbeit gemacht hat oder sich
in irgendeiner Art und Weise in die Freiwilligenarbeit
eingebracht hat, wird auch später bürgerschaftlich enga-
giert sein. Das zeigen Untersuchungen. Es muss uns ein
wichtiges Anliegen sein, die Bereitschaft, sich für die
Gesellschaft zu engagieren, zu fördern. Wir müssen die
entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen und die
notwendigen Maßnahmen ergreifen. Stichworte sind:
Ausbau der ehrenamtlichen Tätigkeitsfelder, generatio-
nenübergreifender Ansatz. Ich wiederhole: Wir müssen
dafür sorgen, dass die Freiwilligenarbeit von uns poli-
tisch begleitet und anerkannt wird.
Da immer wieder behauptet wird, die Jungen, die Äl-
teren oder die Menschen in den neuen Bundesländern
schwächelten,
möchte ich Sie noch auf Folgendes hinweisen: Mittler-
weile liegt der „Zweite Freiwilligensurvey“ vor. Er be-
sagt – darüber dürfen wir uns alle freuen –, dass das En-
gagement und die Bereitschaft zum Engagement sowohl
der Jungen als auch der Älteren ungebrochen sind. Wir
können sogar einen Zuwachs feststellen, und zwar von
34 Prozent auf 36 Prozent.
Vor allem wollen sich junge Menschen freiwillig enga-
gieren und wollen entsprechende Angebote haben – die
Zahlen wurden vorhin schon genannt –, sodass wir gar
nicht damit nachkommen, die notwendigen Plätze be-
reitzustellen. In der letzten Zeit, seit 1999 – es hat ja im-
mer geheißen, die Senioren und Seniorinnen seien gar
nicht so aktiv, wie wir uns das eigentlich vorstellen –,
zeigen aber auch die Älteren – das sind die zwischen 56
und 65 – mehr Engagement. Anders als vielleicht nach
mancher Sichtweise des konservativen Lagers – da denkt
man, die Migranten und Migrantinnen seien bürger-
schaftlich gar nicht unterwegs – gilt das auch für die Mi-
granten und Migrantinnen.
Wir wollen mit unserem Antrag einen weiteren Bau-
stein in unserer erfolgreichen Förderung des bürger-
schaftlichen Engagements schaffen. Wir wollen es
nicht dabei belassen, dass wir den Versicherungsschutz
erweitert und das bundesweite Netzwerk initiiert haben.
Sie sind bei den Diskussionen leider nicht dabei; viel-
leicht wissen Sie nicht, was in der so genannten Engage-
ment-Community diskutiert wird. Auch durch die Grün-
dung des Unterausschusses, der diese Diskussion ständig
begleitet
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Sie sind Mitglied; Sie werden diese Arbeit, denke ich,
ut begleiten –, werden wir dafür sorgen, dass das
hema „Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement“
icht auf ein Jahr oder auf eine Enquete-Kommission fo-
ussiert bleibt. Wir werden weiter dafür sorgen, dass die-
es soziale Kapital, das sich nicht verbraucht, wenn wir
ls Gesellschaft es gebrauchen, Anerkennung und Wert-
chätzung erfährt.
Nachdem das Ganze von Ihnen vorher sehr heftig de-
attiert und kritisiert worden ist, hoffe und wünsche ich,
ass das, was eingangs gesagt worden ist, für uns alle
utrifft: Wir wollen gemeinsam die Freiwilligenkultur in
ie Zukunft gerichtet konstruieren und begleiten. Wir la-
en Sie herzlich dazu ein.
Danke schön.
Frau Kollegin Kumpf, haben Sie Bedenken, wenn ich
ie Debatte jetzt schließe?
öchten Sie vielleicht noch einen Satz hinzufügen? –
as ist nicht der Fall. Dann schließe ich hiermit die Aus-
prache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
rucksache 15/4395 zur federführenden Beratung an
en Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
owie zur Mitberatung an den Haushaltsausschuss zu
berweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist
icht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 6:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Angela Merkel, Michael Glos, Siegfried
Kauder , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
– Drucksache 15/4285 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
ie Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
en Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
er Kollege Gehb für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In meiner
angjährigen Tätigkeit als Richter, zuletzt am Hessischen
erwaltungsgerichtshof, habe ich nicht nur viele Urteile
ällen und begründen müssen, sondern noch viel mehr
olche von Kolleginnen und Kollegen lesen müssen. Wie
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13497
)
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Dr. Jürgen Gehb
das in der Verwaltungsgerichtsbarkeit üblich ist, hat da-
bei natürlich so manche Institution und Behörde ihr Fett
abbekommen. Aber an keiner Stelle und von niemandem
habe ich einen auch nur annähernd so schwerwiegenden
Vorwurf lesen müssen wie den folgenden: Das war ein
kalter Putsch der politischen Leitung des Auswärtigen
Amtes gegen die bestehenden Gesetze.
Mit diesen harschen Worten hat der Vorsitzende Richter
am Landgericht Köln im Februar dieses Jahres bei der
Verkündung des Urteils gegen den Chef einer Schleu-
serbande die von der rot-grünen Bundesregierung um-
gestaltete Praxis der Visumerteilung geradezu gegei-
ßelt.
Die harschen Worte des Richters weisen auf einen un-
glaublichen Skandal hin, den die Bundesregierung zu
verantworten hat. Der Richter hat damit zutreffend be-
schrieben, was sich im Bereich der Einreisepolitik seit
dem Antritt der Regierung Schröder/Fischer im Oktober
1998 abspielt: Grüne Multikultiträume werden notfalls
auch schon mal gegen Recht und Gesetz verwirklicht.
Die Interessen unseres Landes und insbesondere auch
seiner Sicherheit müssen dahinter zurücktreten. Der In-
nenminister bläst die Backen auf, kann sich aber gegen
die vom Außenminister angeführten grünen Ideologen
nicht durchsetzen und der Bundeskanzler lässt alle ge-
währen.
Es geht um glatten Rechtsbruch, um politischen
Missbrauch und um Gefährdung unseres Landes: keine
schönen Vorwürfe, denen sich die Bundesregierung aus-
gesetzt sieht.
Diese außerordentlich schwer wiegenden Vorwürfe be-
dürfen der Aufklärung. Daher ist dieser Untersuchungs-
ausschuss, der so genannte Schleuserausschuss, so not-
wendig und so berechtigt.
Das Handeln der politischen Leitung des Auswärtigen
Amtes vollzog sich dabei auch nicht im luftleeren Raum.
Sollte der Rechtsbruch vonseiten der Grünen systema-
tisch vorbereitet worden sein? Unter dem Vorwand,
Deutschland müsse weltoffener werden, wurde jeden-
falls unmittelbar nach der Regierungsübernahme damit
begonnen, die Visumerteilungspraxis grundlegend zu
verändern. Ziel war dabei nicht mehr primär die Ge-
währleistung der Sicherheit der Bundesrepublik
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ieses Ziel verfolgen die Grünen bekanntlich seit ihrer
ründung. In allen Debatten, in denen es um die Begren-
ung der Zuwanderung ging, haben sie sich verweigert.
ir erinnern uns zum Beispiel an die Debatte um das
sylrecht, in der die Grünen nicht bereit waren, ange-
ichts eines Zustroms von mehr als 400 000 Asylbewer-
ern pro Jahr an der notwendigen Reform des Art. 16
es Grundgesetzes mitzuwirken. Es ging weiter mit der
oppelten Staatsangehörigkeit, die die Grünen prak-
isch uneingeschränkt zulassen wollten. Ein weiteres
eispiel ist das Zuwanderungsgesetz.
uch dort haben die Grünen der ungebremsten Einwan-
erung das Wort geredet.
ekanntlich ist auch dieses Konzept, das Rot-Grün sogar
ithilfe eines Verfassungsbruchs – Wowereit lässt grü-
en – verwirklichen wollte, nicht Gesetz geworden.
ank CDU und CSU haben wir heute ein Zuwande-
ungsgesetz, das auch die Interessen unseres Landes be-
ücksichtigt.
Das alles passt Ihnen natürlich nicht, meine Damen
nd Herren von den Grünen. Und weil die Gesetze nicht
o geworden sind, wie Sie sich das vorgestellt haben,
erfallen Sie auf eine andere trickreiche Lösung. Warum
icht den Vollzug so ändern, dass die Ergebnisse, die Sie
uf der legislativen Ebene immer gewollt haben, auch
rzielt werden können?
arum sich neben der kreativen Buchführung nicht auch
uf eine kreative Rechtsauslegung einlassen? Warum
icht geltendes Recht dehnen, getreu dem alten Sponti-
pruch, – ohne mir die Diktion zu Eigen zu machen –: le-
al, illegal, scheißegal?
In der ersten rot-grünen Koalitionsvereinbarung von
998 ist die Rede davon, dass die illegale Einwande-
ung und insbesondere die Schleuserkriminalität be-
ämpft werden sollten. Getan haben Sie nachgerade das
egenteil. Besonders deutlich hat dies die damalige Eu-
opaabgeordnete der Grünen Ilka Schröder auf den
unkt gebracht, indem sie die „Subventionierung der
chleuserbranche an der EU-Ostgrenze“ forderte und die
13498 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Dr. Jürgen Gehb
Tätigkeit von Schleuserbanden als „humanitäre Maßnah-
men“ bezeichnete.
Diesen Weg der direkten Subventionierung von
Schleuserbanden haben Sie, meine Damen und Herren
von Rot-Grün, dann zwar nicht ausdrücklich beschritten.
Aber im Ergebnis lief Ihre Politik doch auf eine Förde-
rung dieser Gruppierungen hinaus. So wurden im Laufe
des Jahres 1999 bereits einige Erlasse des Auswärtigen
Amtes an die Auslandsvertretungen gerichtet, in denen
die Voraussetzungen zur Visumerteilung gelockert wur-
den. Das Ganze gipfelte dann in dem berüchtigten
Fischer/Volmer-Erlass vom 3. März 2000, mit dem der
vermeintlich hehre Grundsatz „Im Zweifel für die Reise-
freiheit“ – Sie wissen, dass ich gerne lateinisch rede,
also: in dubio pro libertate –
verkündet wurde. Die Folge war, dass Schleuserbanden
quasi mit staatlicher Hilfe ihr Unwesen treiben konnten.
Treffender, als es der verurteilte Schleuserchef auf seiner
Homepage zum Ausdruck brachte, kann man es nicht
formulieren: www.visafabrik.de.
Statt, meine Damen und Herren, nach einem schmis-
sigen Begriff aus dem Volksmund zu suchen, mit dem
man den Ursachenzusammenhang zwischen der Wei-
sung des Außenministers und der massenhaften Einreise
von zweifelhaften Personen zutreffend beschreiben
könnte, will ich es juristisch ganz trocken auf die den
Rechtskundigen unter Ihnen geläufige und bekannte For-
mel der Conditio sine qua non bringen:
Herr Fischer hat mit seiner Weisung „im Zweifel für die
Reisefreiheit“ eine Bedingung geschaffen, die nicht hin-
weggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg, nämlich
die Einreise dieser zweifelhaften Personen, jedenfalls
dem Umfang nach, mit an Sicherheit grenzender Wahr-
scheinlichkeit entfiele. Die Frage nach einer vorwerfba-
ren Schuld des Außenministers muss in diesem Schleu-
serausschuss mindestens mit geklärt werden. Wir können
davon nicht ablassen, selbst wenn Joschka Fischer neben
Dieter Bohlen, Boris Becker oder Daniel Küblböck jetzt
zu den Promis zählt, die man sehr, sehr lieb zu haben hat,
jedenfalls wenn man zu den Lesern einer gewissen Bou-
levardzeitung gehört.
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nd muss zur Verantwortung gezogen werden.
ir können ja nicht wegen der geringeren Popularität
on Frau Künast oder Herrn Trittin
iese zum Gegenstand unseres Untersuchungsausschus-
es machen und ins Visier nehmen.
Meine Damen und Herren, ich will einige Sätze aus
er Begründung des Urteils des Landgerichts Köln zi-
ieren:
Als besonders stark wirkender Strafmilderungs-
grund wirkte sich aus, dass dem Angeklagten die
Begehung seiner Straftaten gegen das Ausländerge-
setz auf allen Ebenen von den zuständigen Behör-
den sehr leicht gemacht wurde. Der Angeklagte B.
handelte unter den Augen der staatlichen Stellen.
eiter heißt es:
Im Gegenteil wurden die Mitarbeiter der Visumab-
teilung der Botschaft in Kiew faktisch durch Er-
lasse der politischen Führung des Auswärtigen Am-
tes angewiesen …
ei dem Fehlverhalten der staatlichen Stellen handelte
s sich auch nicht um „Entgleisungen“ im Einzelfall.
ielmehr war das Versagen der mit den anstehenden Fra-
en beschäftigten Behörden „flächendeckend und allum-
assend“.
Mit dem Urteil ist der Komplex strafrechtlich aber
och gar nicht aufgearbeitet. Gegen mindestens fünf Be-
ienstete der Bundesregierung und gegen mehrere Bot-
chaftsbedienstete laufen weitere strafrechtliche Ermitt-
ungsverfahren.
Meine Damen und Herren, aus Zeitgründen sage ich
ur Folgendes: Wir beantragen heute die Einsetzung ei-
es Untersuchungsausschusses, der von der Presse schon
reffend als „Schleuserausschuss“ bezeichnet worden ist.
abei möchte ich klarstellen: Es geht nicht um die Mit-
rbeiter an den Botschaften. Es geht um das Fehlverhal-
en der politischen Leitung. Die Hinweise darauf sind
assiv.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13499
)
)
Dr. Jürgen Gehb
Wann, wenn nicht jetzt, nach einem solchen Urteil eines
Strafgerichts, sollte man überhaupt einen Untersu-
chungsausschuss einrichten?
Wir werden auch nicht klaglos eine Überweisung un-
seres in jeder Hinsicht eindeutigen und verfassungsmäßi-
gen Antrags in den Geschäftsordnungsausschuss hinneh-
men, die erkennbar eine verfassungswidrige Bepackung
zum Ziel hat. Sie glauben doch nicht wirklich, dass Sie
auch nur einen Deut von Ihren Missständen ablenken
können, wenn Sie zur Not noch die Visapraxis seit der
Kanzlerschaft Konrad Adenauers ins Auge fassen wol-
len.
Wir Christdemokraten stehen für Sicherheit und Welt-
offenheit. Freiheit und Weltoffenheit bedeuten keinen
Verzicht auf Kontrolle. Die Begriffe schließen sich nicht
aus; sie bedingen sich geradezu. So wollen wir Christde-
mokraten schon heute – gemäß dem Motto der WM
2006 –, dass „die Welt zu Gast bei Freunden“ ist. Doch
auf Kriminelle und Menschenhändler als Gäste und
Freunde können wir gern verzichten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Olaf Scholz für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, Herr Gehb hat etwas missverstanden. In dem
Untersuchungsausschuss, den er beantragt, geht es nicht
um das, was er schon immer an den Grünen nicht leiden
konnte.
Es ist über zwei wichtige gute Dinge zu berichten, die
Gegenstand des Untersuchungsausschusses werden sol-
len und die dazu führen, dass wir uns jetzt mit den Pro-
blematiken beschäftigen müssen und auch wollen.
Erstens. Wir leben in einem schönen Land. Deutsch-
land ist ein schönes Land. Es ist wirtschaftlich stark.
Seine Unternehmen haben weltweite Kontakte
und viele Menschen wollen mit diesen Unternehmen Ge-
schäftsbeziehungen haben. Dazu gehört, dass man einan-
der begegnet.
Wir sind ein gutes Land, was die Wissenschaft und
die Bildung betrifft; wir sind ein guter Wissenschafts-
standort. Das ist der Grund, warum viele Menschen in
dieses Land reisen:
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ie wollen von unserer Bildung und unserer Wissen-
chaft profitieren. Wir brauchen weltweite Kontakte für
ie Wissenschaft dieses Landes.
Hier leben freundliche, gute Menschen, die auch be-
ucht werden wollen. Deshalb ist es wichtig, dass das ge-
chehen kann.
eutschland ist ein Land, das sicher ist. Es gibt hier
eine No-go-Areas wie in anderen Ländern; Touristen
üssen nicht vor bestimmten Gegenden gewarnt wer-
en. Auch das ist ein Grund, warum viele Menschen
erne hierherkommen: Sie wollen das erleben, sie wol-
en dieses schöne, sichere und gute Land bereisen. Das
st der eine Grund, warum viele Menschen nach
eutschland kommen wollen.
Der zweite Grund ist ein Ereignis, das noch gar nicht
o lange zurückliegt, das wir uns aber immer wieder in
rinnerung rufen müssen: Die Spaltung der Welt in Ost
nd West wurde aufgehoben, der Eiserne Vorhang ist
erschwunden. Das hat dazu geführt, dass Bürger aus
ielen Staaten, die wegen der dortigen diktatorischen
egime festgehalten wurden und denen es unmöglich
emacht wurde, hierher zu kommen, wovon sie ein Le-
en lang geträumt haben, dieses Land jetzt bereisen wol-
en. Das ist seit 1989/90 ein Phänomen in Europa und
ir sind froh und glücklich darüber, dass die Freiheit in
ll diesen Ländern endlich Platz gegriffen hat.
Endlich dürfen diese Menschen zu uns kommen. Des-
alb ist es seit 1989/90 die Aufgabe aller Bundesregie-
ungen, die gerade Verantwortung tragen, dafür zu sor-
en, dass die Menschen kommen können, indem dazu
eeignete und sinnvolle Verfahren entwickelt werden.
um Beispiel haben die Minister Kinkel und Kanther zu-
ammen mit dem ADAC ein Carnet de Touriste einge-
ührt, das vielen Bürgern aus einigen dieser Länder die
eise nach Deutschland möglich gemacht hat. Die Sache
st später problematisch geworden, aber das Grundanlie-
en war nicht falsch. Es stammt aus dem Jahre 1995 und
ir müssen uns mit den Schwierigkeiten, die dabei auf-
etreten sind, befassen. All die Dinge, die auch weiter-
in eine Rolle spielen – der Reiseschutzpass, das Travel
oucher, der Travel Care Pass der Hanse-Merkur Reise-
ersicherung –, liegen auf dieser Linie und müssen im
usammenhang betrachtet werden. Das gilt auch für die
rage des Reisebüroverfahrens, das aus der Zeit der frü-
eren Regierung Kohl/Kanther/Kinkel stammt und das
uch dem Motiv folgt, von dem ich eben berichtet habe.
Zwei schöne, wichtige Dinge sind also die Ursache
ür das, womit wir uns jetzt beschäftigen müssen.
13500 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Olaf Scholz
Es gibt einen weiteren Gesichtspunkt und der ist nicht
so schön. Wenn viele Menschen kommen, dann sind da-
runter auch welche, die wir hier nicht haben wollen,
die die Sicherheit unseres – und nicht nur unseres –
Landes bedrohen. Wir müssen alle Vorkehrungen tref-
fen, dass ihnen das nicht gelingen kann.
Es gibt Leute, die einreisen wollen, um hier zu blei-
ben, oder sie wollen durchreisen, um etwa in ein anderes
Land innerhalb des Schengen-Bereiches zu gelangen
und dort zu arbeiten. Es gibt Menschen, die kriminelle
Handlungen planen. Sicherlich müssen wir immer da-
rauf achten, dass hier niemand einreist, der terroristische
Bestrebungen hat.
Aus meiner Sicht ist das ein ganz wichtiges und zen-
trales Anliegen, das sowohl die Regierung mit den Mi-
nistern Kinkel und Kanther zu verfolgen hatte als auch
die Minister, die jetzt Verantwortung für diesen Bereich
tragen, zu verfolgen haben. Ich glaube, dass gerade un-
ser weltweit so angesehenes und wirtschaftlich starkes
Land eigentlich so etwas wie eine Gemeinsamkeit der
politischen Parteien beim Vorgehen in dieser Frage be-
nötigt; denn wie wir das regeln, hängt auch davon ab,
wie wir die Wirtschaftskraft, die Attraktivität unseres
Landes im weltweiten Wettbewerb, aber auch im Wett-
bewerb um Vorbildliches, zum Beispiel mit Blick auf
unsere Demokratie, zum Tragen bringen können.
Deshalb ist es schon richtig, dass wir schauen, was
wir besser und anders machen können. Aber wir müssen
immer genau wissen, was wir tun. Das, was wir den Bür-
gern vieler Länder, auch derjenigen, über die ich gerade
gesprochen habe und die erst seit kurzem Freiheit erpro-
ben und erfahren können, an Reisebeschränkungen vor-
schreiben, wollten wir unseren Bürgern nicht bieten las-
sen, wenn sie in andere Länder reisen.
Weil wir Sicherheitsprobleme haben, ist es richtig,
dass wir den Bürgern aus Ländern wie beispielsweise
der Ukraine die Einreise schwerer machen, als dies für
unsere Bürger gilt, die oft ohne große Formalitäten in
andere Länder reisen können. Wir müssen uns immer
wieder in Erinnerung rufen, dass wir schon jetzt diesen
Menschen – zu Recht – Schwierigkeiten zumuten, und
zwar solche, von denen wir nicht wollen, dass sie unse-
ren Bürgern zugemutet werden. Auch das gehört zu die-
ser Betrachtung, und das muss man gemeinsam bewälti-
gen.
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich in Orange
erscheinen soll. Gestern haben wir an dieser Stelle über
die ukrainische Demokratiebewegung gesprochen.
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Was sollen die Menschen in Kiew, die in Orange de-
onstrieren, denken, wenn wir ihnen sagen: Wir unter-
tützen euch zwar, aber es soll keiner von euch kom-
en?
as wäre eine schlechte Botschaft.
Herr Kollege, mit einer Büttenrede haben Sie sich in
iesem Parlament dauerhaft verewigt.
eil wir nicht sagen können, dass keiner von diesen
enschen kommen kann, müssen wir mit Schwierigkei-
en bei der Einreise rechnen.
uch die ehemaligen Minister Kanther und Kinkel hat-
en Schwierigkeiten damit. Diese Schwierigkeiten kann
an aber nicht leugnen. Wir müssen vielmehr darüber
iskutieren, was zu tun ist.
Meine Damen und Herren, ich habe drei Bitten.
rste Bitte: Bleiben Sie gelassen!
s ist wichtig, in einem Untersuchungsausschuss gelas-
en zu bleiben. Denn Gelassenheit ist notwendig, um
ich ohne Vorurteile mit einer Sache zu befassen.
an sollte nicht meinen, dass man schon vorher weiß,
ie es hinterher ausgehen wird. Man sollte eine gewisse
eugier und auch die Bereitschaft mitbringen, zu akzep-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13501
)
)
Olaf Scholz
tieren, dass es vielleicht anders kommt, als man vorher
gedacht hat.
Ich sage deswegen noch einmal: Bitte etwas mehr Gelas-
senheit! Weil Sie so gern lateinisch sprechen, will ich Ih-
nen sagen: Im Ausschuss geht es darum, dass wir uns der
Sache sine ira et studio widmen.
Zweite Bitte. Wir sollten die Bereitschaft mitbringen,
dazuzulernen. Wir sollten gemeinsam herausfinden – das
sind wir unserem attraktiven Land schuldig –, wie wir
die Sicherheitsanforderungen möglichst effizient und
sorgfältig erfüllen können. Deshalb ist es wichtig, dass
man sich in einem solchen Ausschuss nicht nur Bekann-
tes sagt, sondern auch Schlussfolgerungen zieht, die zu
einer Verbesserung in der Praxis führen. Auch das ist
eine Bitte an Sie: Machen Sie dabei mit!
Dritte Bitte: Passen Sie auf!
Ein Untersuchungsausschuss ist ein wenig wie das Fi-
schen in einem Teich. Sie werfen eine Angel aus und
hoffen, dass ein Vorwurf gegen die Regierung anbeißt.
Aber wie gesagt: Passen Sie dabei auf! Während Sie da-
von träumen, einen großen Fisch am Haken zu haben,
landen plötzlich Kinkel und Kanther auf dem Teller.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Hellmut
Königshaus das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP-
Fraktion steht der Einsetzung des Untersuchungsaus-
schusses, jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt, skep-
tisch gegenüber. Ich glaube, der bisherige Verlauf der
Debatte hat diese Skepsis sehr bestätigt.
Da kommt der Kollege Scholz und tut so, als gebe es
überhaupt keine Probleme.
– Nein, das steht nicht in meinem Manuskript. Sie kön-
nen es gerne haben, wenn Sie einmal das Manuskript ei-
ner guten Rede haben wollen. – Der Kollege Dr. Gehb
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uch ich war einmal Richter. Ich weiß: Ein Richter kann
n der Tat – jedenfalls in der Urteilsbegründung und bis
ur nächsten Instanz – schreiben, was er will.
araus Schlüsse zu ziehen ist allerdings etwas voreilig.
Eines ist allerdings auch klar: Der Volmer-Erlass ist
edenfalls in Teilen rechtswidrig. Davon kann man sich
berzeugen, indem man ihn liest. Aber dafür brauchen
ir keinen Untersuchungsausschuss.
Wir werden natürlich in diesem Untersuchungsaus-
chuss, wenn er denn eingerichtet wird, ganz konstruktiv
itarbeiten. Denn es ist in der Tat notwendig, dass wir
rüfen, ob bei der Visaerteilung Missstände geherrscht
aben, ob es Versäumnisse oder Missbräuche gab und ob
s sie womöglich – das wäre das Gravierendste – immer
och gibt. Aber wir hätten natürlich ganz gerne das Er-
ebnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ab-
ewartet. Denn wir wollen uns nicht an die Stelle eines
taatsanwaltes setzen, sondern uns auf die parlamentari-
che Kontrolle von Regierungshandeln konzentrieren
nd uns nicht in Kleinigkeiten verlieren.
ndividuelles Fehlverhalten von Einzelnen können Sie
ie ausschließen. Wenn wir in so einem Fall jedes Mal
it parlamentarischen Untersuchungsausschüssen rea-
ierten, hätten wir sehr viel zu tun.
Ob es aber über den Volmer-Erlass hinaus – Herr
olmer, so lustig ist das nicht – politisch zu verantwor-
endes Fehlverhalten gibt, können wir noch nicht beur-
eilen. Das werden wir dann im Untersuchungsausschuss
äher feststellen können. Bisher kennen wir Eindrücke
iner Strafkammer. Das ist in Ordnung; das mag sich
ort so dargestellt haben. Das sind Behauptungen, Ver-
utungen, Verdächtigungen. Es gibt also Indizien. Wir
erden prüfen, ob es im Einzelfall über den Volmer-
rlass hinaus – ich nenne ihn jetzt einmal so – Fehlver-
alten gegeben hat.
Wir nehmen allerdings einen Vorwurf sehr ernst – der
as zuständige Gericht offenbar unmittelbar aus der
ündlichen Verhandlung gewonnen hat –: dass sich
uch hochrangige Angehörige des Auswärtigen Amtes
emüht hätten, zu täuschen, zu mauern, zu vertuschen,
urz: die Ermittlungen zu stören.
13502 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Hellmut Königshaus
Das können wir sicherlich nicht akzeptieren. Dem wer-
den wir auch im Untersuchungsausschuss nachgehen.
Wir werden ebenso versuchen – da können Sie sicher
sein –, den Sachverhalt in den übrigen Bereichen aufzu-
klären und daraus Konsequenzen zu ziehen.
Der Versuch der Koalition – das will ich hinzufü-
gen –, das Untersuchungsthema auszuweiten,
ist eine Nebenkampflinie. Das können Sie gerne tun; es
ist aber vollkommen kontraproduktiv und nutzlos; denn
es geht uns darum – es geht ja um unser Land –, wie wir
in Zukunft etwaige Missstände beseitigen können, und
nicht darum, irgendwelche Schuldzuweisungen in Bezug
auf die Vergangenheit zu treffen.
Wir haben keine Angst vor Prüfungen; Sie können das
also gerne tun. Aber wir finden es nachgerade abwegig,
bei einem so ernsten Thema in kleinliches parteipoliti-
sches Gezänk abgleiten zu wollen. Das sehen wir als
eine unzumutbare Handhabung des Ganzen an.
Wir sehen auch die Gefahr, dass durch diese bisher
noch überhaupt nicht bewiesenen Verdächtigungen die
Mitarbeiter in den RK-Stellen der Auslandsvertretungen
verunsichert und zu einer restriktiven Handhabung ge-
drängt werden.
Das wäre in gleicher Weise schädlich, wie es im umge-
kehrten Fall das behauptete Fehlverhalten wäre.
Wir sind ein freies Land. Das haben Sie gesagt; da
gebe ich Ihnen ausnahmsweise wirklich Recht. Wir sind
ein freizügiges Land. Das wollen wir auch bleiben. Wir
wollen keine Einreisepolitik, die abschottet und gerade
diejenigen abschreckt, die wir eigentlich hier haben wol-
len.
Denn es sind gerade die Gutwilligen, die sich ab-
schrecken lassen. Jeder Straftäter sucht ein Schlupfloch
und findet in der Regel – das ist die bedauerliche Er-
kenntnis – auch eines.
Wir wollen den Tourismus, den wissenschaftlichen
Austausch und den Geschäftsreiseverkehr nicht behin-
dern. All dies ist schon gesagt worden; deshalb will ich
es nicht wiederholen. Die USA sind in diesem Punkt
wirklich ein warnendes Beispiel.
Eines ist mir besonders wichtig: Wir können es nicht
zulassen – egal von welcher Seite man das betrachtet –,
dass uns letzten Endes Schleuserbanden oder andere
Kriminelle diktieren, wie wir uns in der Einreisepolitik
verhalten. Denn wer Restriktionen verhängt und dies nur
tut, weil es diese Schleuserbanden gibt, ist im Grunde
genommen genauso von den Schleuserbanden abhängig
wie einer, der in Kenntnis von Schleuserbanden nichts
tut. Nein, meine Damen und Herren, wir als Liberale
wollen sicherstellen, dass Recht und Gesetz angewandt
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Selbstverständlich wollen wir auch der Frage nachge-
en, ob die Leitung des Auswärtigen Amtes die Mitar-
eiter in den RK-Stellen durch personelle Ausstattung
berhaupt in die Lage versetzt hat, ihre Arbeit ordnungs-
emäß zu erledigen. Dazu haben wir einiges gehört, was
ehr bedenklich stimmt. Ich erinnere daran, dass es in
er letzten Legislaturperiode gerade die FDP war, die
ich gegen globale Kürzungen bei genau diesen Stellen
ewehrt und übrigens auch durchgesetzt hat, dass sie da-
on ausgenommen wurden.
Meine Damen und Herren, wir teilen nicht die Auf-
assung, dass Mitarbeiter aus dem Bereich des BMI in
ie Auslandsvertretungen abgeordnet werden sollten,
ber wir können uns durchaus vorstellen, dass geeignete
itarbeiter aus diesem Bereich herausgelöst und an-
chließend in den auswärtigen Dienst übernommen wer-
en; denn dann könnte die Sachbearbeitung auf ent-
andte Mitarbeiter übertragen werden. Nur wenn mehr
ntsandte Mitarbeiter als Visaentscheider zur Verfügung
tehen und auftreten, kann die oftmals durchaus proble-
atische Betrauung von Ortskräften mit sicherheitsrele-
anten Aufgaben reduziert werden. Aber es macht kei-
en Sinn, wenn wir hier im Inland aufgrund eines
ersonalmangels an anderer Stelle Straftätern mit einem
ielfachen an Aufwand hinterherlaufen müssen. Wir
ordern deshalb Vorrang für die Prävention, notfalls
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13503
)
)
Hellmut Königshaus
auch durch Umschichtung von Planstellen, aber nicht
durch Umschichtung von Zuständigkeiten.
Ich komme zum Schluss: Alles dies werden wir im
Ausschuss, wenn er denn kommt, ohne Vorverurteilung,
aber selbstverständlich auch ohne Ansehen der Person
prüfen. Wir werden auch darauf achten, dass sich diese
Untersuchungen nicht in kleinliches Gezänk verirren,
wie es sich heute Morgen gezeigt hat. Die Sicherheit un-
seres Landes und übrigens auch der freiheitliche Charak-
ter unseres Landes sind uns viel zu wichtig; sie sind auch
viel wichtiger als dieser kleinliche Parteienstreit.
Ich danke Ihnen.
Bevor nun der fröhliche Wettbewerb in Latein weiter-
geht, weise ich auf unsere Geschäftsordnung hin, wo-
nach Reden im Deutschen Bundestag auch komplett in
deutscher Sprache vorgetragen werden dürfen.
Das Wort hat nun der Kollege Jerzy Montag, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kolle-
ginnen und Kollegen der CDU/CSU-Opposition, die den
Antrag, über den wir heute beraten, unterschrieben ha-
ben, von Merkel und Glos bis Zeitlmann und Zöller,
wollen mit einem Visaausschuss Mitglieder unserer Re-
gierung des Rechtsbruchs bezichtigen und sie in die
Nähe von Prostitution, Menschenhandel und organisier-
ter Kriminalität rücken. Das ist unanständig und ver-
leumderisch.
Diese Verleumdungen weisen wir ganz entschieden zu-
rück. Wir werden auch im Untersuchungsausschuss da-
für sorgen, dass Sie auf diese Art und Weise nicht zum
Erfolg kommen können.
Sie wollen mit dem Visaausschuss Sachverhalte un-
tersuchen, die in diesem Hause schon dutzende Male be-
sprochen und erklärt worden sind. Ihre Anfragen und die
Antworten der Bundesregierung füllen bereits ganze Ak-
tenbände. Es gibt in der Visavergabepraxis des Auswärti-
gen Amtes nichts mehr aufzudecken, weil alle Fakten seit
Monaten bekannt sind. Kollege Volker Neumann hat in
der letzten Debatte zu diesem Thema, am 12. November,
einen vollständigen Abriss der Rechtslage und Verwal-
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Sie wollen mit Ihrem Visaausschuss
n Wahrheit einen Keil zwischen Bundesaußenminister
ischer und Bundesinnenminister Schily treiben.
a führt kein Weg hin. Mit dieser Leichtmatrosenmann-
chaft werden Sie bei diesem Vorhaben Schiffbruch er-
eiden.
ischer und Schily – das weiß jeder hier im Hause –, das
st ein ganz altes Gespann,
as Sie jedenfalls nicht auseinander bringen werden.
Im Übrigen überschreiten Ihre Versuche in dieser
ichtung das Recht des Untersuchungsausschusses. Die
st verfassungswidrig, weil sie die geschützte Sphäre der
olitischen Meinungsbildung in der Bundesregierung
icht achten, sondern ausforschen wollen. Deshalb wer-
en wir Ihren Antrag heute in den Geschäftsordnungs-
usschuss überweisen,
o er geprüft, vervollständigt und verfassungsfest ge-
acht wird.
Sie wollen sich mit Ihrem Visaausschuss
inen Traum erfüllen: den seit Jahren beliebtesten Politi-
er in der Bundesregierung madig zu machen.
Herr Kollege Gehb, ich gratuliere Ihnen. Seit gestern
ind Sie designierter Obmann des Untersuchungsaus-
chusses in spe. Sie haben dies jedenfalls sehr schön in
er gestrigen Ausgabe der „Sächsischen Zeitung“ ausge-
ührt. Sinngemäß heißt es dort:
13504 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Jerzy Montag
Wir werden Herrn Fischer in den Dunstkreis einer Fehl-
entscheidung stellen und nehmen billigend in Kauf, dass
dabei ein bisschen von seiner Popularität verloren geht.
Entlarvender kann man sich nicht äußern, als Sie es tun.
Sie werden sich überheben. Das Schwergewicht Fischer
– das meine ich diesmal ausschließlich politisch –
spielt in einer anderen Preisklasse. Da können Sie mit
Kreisverwaltungsreferenten aus München oder Impuls-
bolzen aus Hessen nicht kommen.
Schließlich wollen Sie mit Ihrem Visaausschuss die
kommenden Wahlkampfzeiten erreichen. In Ihren Rei-
hen wird fortwährend über mögliche Untersuchungsaus-
schüsse verhandelt. Dabei ist die Hauptfrage nicht, was
man aufdecken kann, sondern: Womit können wir der
Bundesregierung am meisten schaden?
Das Rennen hat jetzt der Visaausschuss gemacht, und
zwar offensichtlich, weil Sie in diesem das größte Skan-
dalisierungspotenzial sehen.
Sie haben sich mit dem Antrag aber – um den Aus-
schuss in die kommenden Wahlkampfzeiten zu platzie-
ren – sehr viel Zeit gelassen. Angeblich – Sie, Herr Kol-
lege Gehb, haben das heute hier gesagt – war das Urteil
des Landgerichts Köln der Auslöser für Ihre Entschei-
dung.
Nur, das Urteil datiert vom 9. Februar und wir haben De-
zember.
Der Kollege Gehb – so hat er sich gestern jedenfalls
geäußert – wurde durch das Urteil – Zitat – ganz hellhö-
rig und bei ihm gingen alle Alarmglocken an. Bei Ihnen,
Herr Kollege Gehb, haben diese Glocken jetzt zehn Mo-
nate lang geschrillt, ehe Sie auf die Idee mit dem Unter-
suchungsausschuss gekommen sind.
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lso werden Sie Ihren Ausschuss auch bekommen.
Aber dieser Untersuchungsausschuss wird sich um-
assend mit dem Thema der Anwendung des geltenden
usländerrechts und der Visaerteilungspraxis der deut-
chen Auslandsvertretungen insbesondere in den MOE-
nd GUS-Staaten beschäftigen müssen. Die Geschichte
er Visaerteilung und Visahandhabung für Osteuro-
äer fängt nicht im Oktober 1998 an. Sie glauben, die
hematisierung im Ausschuss auf den Zeitraum nach
998 begrenzen zu können. Mit dem Fall des Eisernen
orhangs, der Europa nach dem Ende des Zweiten Welt-
riegs in zwei gegnerische Teile geteilt hat, erhielten
illionen von Menschen die Reisefreiheit, die ihnen bis
ahin nicht vergönnt war. Sie nutzen diese Freiheit, so
ut sie können. Ihre Unterstellungen – seit Monaten sug-
erieren Sie in vielen Ihrer Reden, dass es sich hierbei
rößtenteils um Schwarzarbeiter, Prostituierte und Kri-
inelle handelt – sind durch und durch perfide.
Meine Damen und Herren, diese Menschen haben
irklich wenig Geld. Sie kratzen alles zusammen, was
ie haben, um sich die Reise in den Westen erlauben zu
önnen. Unter diesen Menschen gibt es auch solche, die
orübergehend schwarzarbeiten.
uch gibt es Fälle von Zwangsprostitution und organi-
ierter Kriminalität; sie sind nicht zu dulden.
amit beschäftigen sich die Sicherheits- und Strafverfol-
ungsorgane bei uns im Lande. Aber die meisten dieser
enschen wollten nur einmal erleben, was für uns seit
ahrzehnten selbstverständlich ist: die Welt sehen und
ich Neues anschauen. Danach wollten sie wieder in ihre
eimat zurückkehren.
Wir werden uns deshalb auch von Ihrem Antrag auf
insetzung eines Untersuchungsausschusses, der von
en Engstirnigen in Ihren Reihen unterstützt wird, nicht
avon abbringen lassen, dafür zu arbeiten, dass Deutsch-
and ein weltoffenes und gastfreundliches Land ist und
leibt,
o auf seine Nachbarn im Osten Europas zugeht,
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13505
)
)
Jerzy Montag
und dass Weltoffenheit und Humanität auch in Zukunft
wichtige, verpflichtende Elemente der Arbeit unserer
Auslandsvertretungen bleiben.
Gerade heute sind Ihre Angriffe auf Menschen aus der
Ukraine besonders heuchlerisch.
Dabei beziehe ich mich ganz ausdrücklich auf das, was
mein Kollege Olaf Scholz dazu gesagt hat.
Es ist unglaublich, dass Sie glauben, Sie könnten wohl-
feile Reden zugunsten der Demonstranten in Kiew und
Lwow halten und gleichzeitig die Masse der Ukrainer so
verleumden, wie Sie das tun.
Die schon am Anfang, besonders aber Mitte der 90er-
Jahre anschwellende Zahl von Visaanträgen führte bei
der Bearbeitung der Anträge tatsächlich zu großen Pro-
blemen. Um hier Abhilfe zu schaffen, wurden sowohl
das Reisebüroverfahren als auch das Reiseschutz-
passverfahren eingeführt. Ersteres hat die Notwendig-
keit abgeschafft, persönlich bei der Visastelle vorzuspre-
chen, das Zweite hat für den Staat die Gewährleistung
einer unbürokratischen Ausfallbürgschaft für eventuelle
Kosten übernommen.
Es ist richtig: Schlepperringe haben sich dieser beiden
Instrumente bemächtigt und sie in vielen Einzelfällen
zur Täuschung der Auslandsvertretungen missbraucht.
Nur, meine Damen und Herren, das Reisebüroverfahren
und das Reiseschutzpassverfahren stammen nicht aus
unserer Regierungszeit, sondern sind von der Regierung
Kohl in den 90er-Jahren eingeführt worden.
Sie berufen sich immer auf das Urteil des Landge-
richts Köln vom 9. Februar dieses Jahres, zitieren es al-
lerdings völlig aus dem Zusammenhang gerissen und
verfälschen es komplett.
Ich habe mir vielleicht als einer der wenigen die Mühe
gemacht, das Urteil von A bis Z zu lesen. Darin wird auf
mehreren Hundert Seiten akribisch ausgeführt, dass der
Straftäter, der abgeurteilt worden ist, nicht den Volmer-
Erlass, den er wahrscheinlich gar nicht kannte, benutzt
hat, um nach Deutschland zu schleusen, sondern dass er
ausschließlich die beiden Instrumente, die in Ihrer Re-
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eswegen ist der in diesem Zusammenhang gegen die
undesregierung erhobene Vorwurf auch so zu verste-
en, dass er sich gegen Sie von der CDU/CSU richtet,
ie Sie mit erhobenem Finger auf die rot-grüne Bundes-
egierung zeigen.
All diese Zustände, die im Einzelnen bekannt sind, sind
zwischen durch die Aktivitäten der Regierung und des
uswärtigen Amtes beendet worden. Am 3. August 2001
st zum Stichtag 1. Oktober 2001 die erste undichte
telle, das Reisebüroverfahren, gestopft worden. Im
ärz 2003 ist das andere Loch gestopft worden, indem
as Reiseschutzpassverfahren auf einen reinen Kranken-
ersicherungsnachweis zurückgeführt worden ist.
Was nicht abgestellt ist
nd was wir auch nicht abstellen wollen, meine Damen
nd Herren, ist die persönliche Einflussnahme von Ab-
eordneten der CDU/CSU auf die Visumserteilung für
iele Ukrainer.
er hat sich nicht alles für eine humane und men-
chenfreundliche Behandlung von Einreisewilligen
ingesetzt! An erster Stelle Herr Kollege Dr. Uhl,
ber viele andere Ihrer Fraktion auch. Sie alle haben um
ie Anwendung des Volmer-Erlasses gebeten:
itte nach Recht und Gesetz, aber doch nicht immer so
leinlich gegenüber denjenigen Reisewilligen, die sie zu
etreuen haben. Zu Hause im Wahlkreis warteten wohl
reunde auf Arbeitskräfte, auf Glaubensbrüder, auf Ge-
chäftspartner, auf Heiratswillige. Deswegen haben Sie
ich immer dafür eingesetzt.
ch kann nur noch einmal wiederholen: Sie wollen nicht
n die Wahrheit ran, Sie wollen an den Bundesaußenmi-
ister ran. Sie wollen mit Dreck werfen und hoffen, dass
twas hängen bleibt. Freuen Sie sich nicht zu früh.
13506 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Jerzy Montag
Lassen Sie es sich gesagt sein: Für Sie ist unser Außen-
minister Joschka Fischer wie eine Eiche:
An der können Sie sich wetzen und schuppern, bis Sie
bluten – die Eiche steht!
Am Ende der Ermittlungen des Untersuchungsausschus-
ses, den Sie jetzt durchsetzen wollen, werden Sie die
Scherben Ihrer Politik zu besichtigen haben. Sie sind un-
fähig zu guter Nachbarschaft in Richtung Osteuropa,
Sie können Sicherheit nur herstellen, indem Sie Frem-
denphobie und Ausländerangst schüren, und Sie setzen
die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands aufs Spiel: Sie
würden uns am liebsten von der Welt abschotten. Wir
werden uns anstrengen, dass Ihnen dies nicht gelingt.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Hans-Peter Uhl, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kolle-
gen! Jerzy Montag aus München, Joschkas Ministrant
mit dem Weihrauchkästle in der Hand, das er betulich in
großer Sorge um seinen Außenminister schwenkt! Ha-
ben Sie doch keine Angst! Halten Sie es wie Herr
Scholz: Bleiben Sie ganz gelassen!
Wir werden niemals versuchen, die geradezu sprichwört-
liche Geschlossenheit – bundesweit bekannt – zwischen
dem Exgrünen Schily und dem Obergrünen Joschka
Fischer zu stören. Wir wissen doch: Es passt kein Blatt
Papier zwischen die beiden.
Wir wollen Ihnen, Herr Montag, aber bei Ihrem neu-
erlichen Vorschlag, die Ukraine zu retten, indem wir den
Ukrainern Visa ausstellen, nicht folgen. Das machen wir
lieber nicht! Denn die Ukraine – mit Verlaub, das dürften
Sie wissen – hat die gleiche Bevölkerungsgröße wie
Frankreich. Wenn wir alle dort mit Visa ausstatten, damit
sie herkommen können, geht das vielleicht selbst
Joschka einen Schritt zu weit.
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etzt wird Bundestagsabgeordneten der Union vorgehal-
en, sie hätten sich in mehreren Fällen für Visumsertei-
ungen ausgesprochen. Namen von Abgeordneten wer-
en von der Staatsministerin Kerstin Müller verlesen, so
ls hätte sie eigenhändig Ladendiebe erwischt und
önnte sie jetzt an den Pranger stellen.
Meine verehrten Damen und Herren, es ist und bleibt
as elementare Recht der Bürger, sich an ihren Abgeord-
eten zu wenden, und es ist unser Recht und auch unsere
flicht, Herr Scholz, mit diesen Petitionen an die Bun-
esregierung heranzutreten und um eine Überprüfung
es Sachverhalts zu bitten. Mich können Sie mit dieser
ethode jedenfalls nicht einschüchtern. In dem Fall, der
ier angeführt wurde, ging es um Folgendes: Das Baye-
ische Rote Kreuz führt seit Jahren Reisen für jugendli-
he Pfadfinder aus der Ukraine durch. Eines Tages gab
s Probleme mit dem Visum, kurz vor der Abreise; sie
atten ihre Rucksäcke schon gepackt. Ich habe mich
ann dafür eingesetzt, dass sie ihre Visa bekommen.
Ja, ich bekenne mich dazu. Ich würde es wieder tun
nd ich hoffe doch sehr, dass auch Sie es tun würden.
Ich will Ihnen eines sagen, wovon Sie noch nichts
issen können: Ich habe gestern schon wieder in einem
isumsfall an das Auswärtige Amt geschrieben. Ein mir
eit 20 Jahren bekannter Perser mit – mittlerweile –
eutschem Pass hat eine schwere Krebsoperation vor
ich und will noch einmal Verwandtenbesuch aus Tehe-
an empfangen. Der Cousine und der Tochter wurde die
rteilung eines Visums abgelehnt, und zwar, wie mir
cheint, aus fadenscheinigen Gründen. Ich habe einen
rief geschrieben, weil mir der Mann bekannt ist, und
abe ausgeführt, wie der Fall wirklich liegt.
ch habe mich dafür eingesetzt und werde mich auch
eiter dafür einsetzen. Ich hoffe sehr, dass auch Sie be-
eit sind, sich für solche humanitären Fälle einzusetzen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13507
)
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Dr. Hans-Peter Uhl
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte
sie sehr, mit diesen perfiden Angriffen unverzüglich auf-
zuhören.
Es wäre auch gut, wenn der eine oder andere Journalist
diese perfiden Angriffe nicht blindlings dümmlich ab-
pinseln würde.
Angesichts der politisch gewollten Praxis, die über
Jahre hinweg zu einem massenhaft unkontrollierten
Visamissbrauch – hunderttausendfach – geführt hat,
muss dieser Untersuchungsausschuss eingesetzt wer-
den. Die Visapraxis auf der Grundlage einer Weisung
des Außenministers Fischer von März 2000 verstößt ge-
gen den Geist des Schengen-Abkommens.
Wir haben mit schriftlichen Anfragen und mit Regie-
rungsbefragungen versucht, Licht ins Dunkel zu bringen.
Die Bundesregierung hat präzise gestellte Fragen aber
nicht beantwortet. Sie hat Fakten dreist abgestritten und
Versäumnisse beschönigt. Das heißt, aus parlamentari-
schen Gründen müssen wir zum letzten denkbaren Mittel
des Untersuchungsausschusses greifen. Durch Zeugen-
vernehmungen und Aktenbeiziehungen werden wir
Licht in den Visaskandal bringen.
Die Aufklärung durch diesen Ausschuss ist auch für
die Zukunft wichtig. Wir alle wissen, dass die Migra-
tionsströme nach Westeuropa und vor allem nach
Deutschland in den nächsten Jahren wachsen werden,
dass die Nachfrage nach Schengen-Visa von Jahr zu Jahr
größer werden wird und dass die Warteschlangen vor
den deutschen Visastellen noch länger werden. Das
heißt, wir müssen wissen, wie wir mit dieser Situation
umgehen können.
Wir müssen bedenken, dass es bei Monatsgehältern in
den GUS-Staaten in Höhe von 100 Euro gar nicht sein
kann, dass Hunderttausende von Menschen als Touristen
oder Geschäftsreisende hierher kommen. Wir wissen
ganz genau, dass die Mehrzahl dieser Menschen
Schwarzarbeiter und Billiglohnarbeiter sein müssen.
Meine Kollegen von der SPD, es wird Ihnen im nächsten
Jahr sehr zu schaffen machen – als Stichwort nenne ich
nur Hartz IV –, wenn Sie den Grünen die Hand für diese
Visapolitik reichen.
Wir werden es auch nicht zulassen, dass mit Visa ausge-
stattete Prostituierte in großer Zahl nach Deutschland,
insbesondere nach Berlin, kommen. Darüber wird noch
zu reden sein. Dies alles wird im Visa- bzw. Schleuser-
ausschuss geprüft werden.
Wir brauchen den Ausschuss, um die behördlichen
Versäumnisse der letzten Jahre aufzudecken. Wir brau-
chen den Ausschuss, um die dafür Verantwortlichen fest-
zustellen. Wir brauchen den Ausschuss, um die beste-
hende Visapraxis an den deutschen Konsularabteilungen
zu überprüfen und zu verbessern. Ich füge hinzu – Herr
Montag, hier haben Sie uns ganz gezielt, bewusst und
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eutschland hat niemals versucht, irgendwelche Ver-
andtenbesuche zu verhindern, die aus humanitären
ründen gemacht werden sollten. Wir werden uns dafür
insetzen, dass es zu einem solchen Austausch in noch
rößerer Zahl als bisher kommen kann. Wir werden auch
älle vortragen, in denen dieser vernünftige und gute
ustausch von Wissenschaftlern, Studenten und Wirt-
chaftsleuten behindert wurde. Auch das wollen wir in
iesem Ausschuss zur Sprache bringen, sodass das zu-
ünftig nicht mehr möglich ist.
Herr Montag, darin unterscheiden wir uns von Ihnen
nd von den Grünen ganz allgemein: Wir wollen keine
inreise von illegalen Billiglohnarbeitern,
ir wollen keine Einschleusung von Prostituierten und
ir wollen kein Einsickern von Kriminellen und schon
ar nicht von Terroristen, wie es bereits vorgekommen
st.
Sie haben die Möglichkeit, zu sortieren. Die Bundes-
egierung hat eingespielte Verwaltungsapparate in den
isastellen. Fangen Sie ja nicht an, die Schuld auf die
pitzenbeamten der Konsularabteilung zu schieben. Die
chuld liegt bei der politischen Führung und nicht bei
en kleinen Beamten.
as Problem liegt ganz allein bei der grünen politischen
ührung, ihren Instruktionen und Erlassen, die wir Stück
ür Stück durchleuchten werden.
Verblendet von der eigenen Ideologie sitzen die Grü-
en nach wie vor in ihrem Kitschladen von Weltoffen-
eit und multikultureller Gesellschaft. Nicht einmal die
reignisse in Holland haben die Grünen wachgerüttelt.
ine realitätsbezogene Sicherheitspolitik, wie sie uns
orschwebt, ist mit den Grünen nicht zu machen.
s gibt die Gefahr des massenhaften Visamissbrauchs.
ies müssen Sie zur Kenntnis nehmen, aber das wollen
13508 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
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Dr. Hans-Peter Uhl
vor allem die Grünen nicht wahrhaben. Auch die Pro-
bleme der illegalen Einwanderung müssen Sie ernst neh-
men. Sie aber wollen sie verdrängen.
Der Untersuchungsausschuss wird zeigen – in dem
Wortlaut des Volmer-Erlasses wird in diesem Zusam-
menhang von Weltoffenheit schwadroniert –, wie ein-
gangs schon gesagt worden ist, ob der Bundesaußenmi-
nister Joschka Fischer die Visapraxis überprüft und
grundlegend geändert hat. Er will die Türen für ein welt-
offenes Deutschland nach dem Motto öffnen: Macht
hoch die Tür, die Tor macht weit.
Das ist grüne Zuwanderungspolitik pur. Diese grüne Zu-
wanderungspolitik ist gescheitert.
Sie ist an den Zuständen vor der deutschen Botschaft in
Kiew gescheitert, die sprichwörtlich geworden und
durch die ganze Weltpresse gegangen sind.
Sie sind mit Ihrer multikulturellen, offenen Zuwande-
rungspolitik, die die Sicherheitsinteressen Deutschlands
negiert, gescheitert. Dies werden wir deutlich machen.
Dazu brauchen wir den Ausschuss, in dem dies offen ge-
legt werden wird. Was danach mit Joschka Fischer pas-
siert, werden wir schon sehen. Bleiben Sie gelassen,
Herr Montag.
Das Wort hat nun die Kollegin Monika Heubaum für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum wie-
derholten Male haben wir nun heute Gelegenheit, uns in
diesem Hohen Hause mit dem Lieblingsthema einiger
Kollegen von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu be-
schäftigen, nämlich mit dem ungeheuren Vorwurf, die
Bundesregierung leiste durch die Praxis ihrer Visaertei-
lung kriminellen Machenschaften Vorschub.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich hat
die Opposition das Recht, mögliche Missstände oder
Fehlentwicklungen,
die in den Zuständigkeitsbereich der Bundesregierung
fallen, aufzudecken oder zu untersuchen.
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Hunderte von Anfragen, mündlich, schriftlich, Große
nd Kleine Anfragen,
at die Bundesregierung in der Zwischenzeit bearbeitet
nd beantwortet.
m 12. November dieses Jahres haben wir hier im
ause die Große Anfrage zum Verdacht der Förderung
er Schleuserkriminalität durch die Bundesregierung de-
attiert.
as öffentliche Interesse an diesem Thema bleibt aller-
ings begrenzt.
iebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
önnen Sie mir denn Beispiele für das Medienecho nen-
en, das diese Debatte damals gefunden hat, die überdies
ur besten Sendezeit am Freitagvormittag übertragen
orden ist?
önnen Sie mir irgendeinen Zeitungsartikel nennen, der
uf genuines Interesse der Medien schließen lässt und
icht aus Ihren Reihen unterfüttert worden ist?
Nun werden wir uns also in den nächsten Wochen
eiterhin mit diesen Praktiken, die Sie anwenden, und
it diesem Thema beschäftigen dürfen.
n der letzten Woche, der Haushaltswoche, haben wir
us den Reihen der CDU/CSU schon einen kleinen Vor-
eschmack auf das bekommen, was uns in der nächsten
eit erwartet. Mit Worten, die ich besser nicht wieder-
ole, weil ich vom Bundestagspräsidenten nicht gerügt
erden möchte, wurde hier der Außenminister be-
chimpft. Ihm wurde vorgeworfen, er habe dazu beige-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13509
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Monika Heubaum
tragen, dass Millionen von Ausländern illegal nach
Deutschland und in andere europäische Länder einge-
reist seien.
Trotz diverser Entschuldigungen wurden die perfiden
Vorwürfe in der Sache nicht zurückgenommen. Diese
Äußerungen insgesamt machen deutlich, um was es der
CDU/CSU mit diesem Untersuchungsausschuss über-
haupt geht: den Außenminister und die politische Füh-
rung des Auswärtigen Amtes zu diskreditieren,
nicht aber, um Aufklärung in der Sache zu betreiben.
Dass die Union dieses Ziel verfolgt, erkennt man an den
Äußerungen im Plenum. Ich denke hier nicht zuletzt an
den Kollegen Dr. Uhl, der den Staatsminister a. D.
Dr. Ludger Volmer einen einwanderungspolitischen
Triebtäter nannte.
Man erkennt es auch an den Formulierungen des Einset-
zungsantrags.
Daher kann die Vorlage der CDU/CSU in einem seriös
arbeitenden Parlament, wie wir es sind, nicht akzeptiert
werden und muss an den Geschäftsordnungsausschuss
überwiesen werden.
Der Auftrag des Untersuchungsausschusses ist in dem
Antrag völlig unklar formuliert. Er bezieht sich nicht auf
Tatsachen und Fakten, sondern enthält Unterstellungen,
durch die die Mitglieder der Bundesregierung sowie ihre
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verunglimpft, be-
schimpft und vorverurteilt werden.
So wird etwa suggeriert, dass die Bundesregierung ge-
gen geltendes Recht und internationale Verpflichtungen
verstoßen habe, dass sie die organisierte Kriminalität
fördere und Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik
Deutschland und der Schengenstaaten gefährde.
Ich möchte hier eindringlich darauf hinweisen, in
welch sensiblem Bereich sich die Visapolitik abspielt.
Deutschland ist, wie schon ausgeführt wurde, ein weltof-
fenes und gastfreundliches Land und wir haben ein gro-
ßes Interesse an dieser Offenheit, die unsere Gesell-
schaft nämlich erst zu der macht, die sie ist. Aus vielen
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ir müssen gerade angesichts terroristischer Bedrohung
eiterhin für sie kämpfen. Denn ohne sie verliert unsere
esellschaft nicht nur ihre einzigartige Anziehungskraft,
hne sie verlieren wir auch ein Stück unserer politischen
reiheit.
Aber wir müssen natürlich auch die Erfordernisse der
nneren Sicherheit berücksichtigen. Die Anschläge
om 11. September 2001 und vom 11. März 2004 in
adrid haben wohl am deutlichsten gezeigt, dass Offen-
eit auch Risiken für die Sicherheit mit sich bringt, vor
enen wir die Augen selbstverständlich nicht verschlie-
en. Das tun wir auch nicht. Sicherheitspolitik ist bei der
oalition in sehr guten Händen.
ir sind offen für legale Einreisen. Wir wehren uns ge-
en Versuche der illegalen Einreise nach Deutschland
nd Europa. Schleusertum, Zwangsprostitution, Drogen-
chmuggel – diesen Verbrechen müssen wir auch mit
nserer Visapolitik vorbeugen. Im Kontext der Globali-
ierung werden diese Probleme nicht weniger. Im Ge-
enteil: Sie begegnen uns in ganz neuen Dimensionen.
us diesem Grund dürfen die Sicherheitsinteressen
eutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger nicht
ernachlässigt werden. Wenn Fälle von Missbrauch und
orruption auch und gerade im Zusammenhang mit der
rteilung von Visa auftreten, dann müssen sie entschlos-
en bekämpft werden. Das tun wir auch.
In diesem Spannungsbereich von Sicherheit einerseits
nd dem Wunsch nach Offenheit andererseits arbeiten
ie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Visastellen
er deutschen Auslandsvertretungen. Sie haben eine ver-
ntwortungsvolle Aufgabe und werden ihr in ganz über-
iegendem Maße in hervorragender Weise gerecht.
Der rechtliche Rahmen hat sich dabei im Kern nicht
eändert: Sie sind gebunden an das deutsche Ausländer-
echt, das Schengener Durchführungsübereinkommen
nd an die Gemeinsame Konsularische Instruktion. Da-
it spielen im Visumsverfahren nicht nur die Sicher-
eitsbelange, sondern auch humanitäre Verpflichtungen
ine Rolle. Auch diesen Ansprüchen müssen wir bei der
rteilung von Visa gerecht werden und dürfen sie kei-
esfalls als Instrument zur Abschottung missbrauchen.
Dazu gibt es den Bereich der Ermessensentscheidun-
en, in dem sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
nserer Botschaften und Konsulate bewegen. Diese
13510 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
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Monika Heubaum
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die hervorragende Ar-
beit leisten, werden sich nun bei der Union dafür bedan-
ken können, dass sie mit der Einsetzung eines Untersu-
chungsausschusses unter Generalverdacht geraten und
verunsichert werden.
Wie sollen sie ihren Ermessungsspielraum für sachge-
rechte Entscheidungen noch wahrnehmen können, wenn
ihre Arbeit zum Spielobjekt parlamentarischer Profilie-
rung gemacht wird?
Sehr geehrte Damen und Herren von der Union, Sie
haben selbstverständlich das Recht, einen Untersu-
chungsausschuss zu beantragen. Es findet sich in Ihrem
Antrag jedoch kein einziger der vorgenannten Aspekte
wieder, die dem Untersuchungsausschuss wenigstens ein
bisschen Sinn verleihen würden. Aber wen wundert es?
Ihr Ziel ist es ja nicht, eine sachliche Debatte zu führen,
sondern das Ansehen der politischen Führung des
Auswärtigen Amtes und insbesondere das des Bundes-
außenministers zu beschädigen.
Daher muss, wie gesagt, der Antrag an den GO-Aus-
schuss überwiesen und dort überarbeitet werden.
Frau Kollegin, denken Sie bitte daran, dass Ihre Rede-
zeit abgelaufen ist.
Ja. – Abschließend sage ich den Damen und Herren
von der CDU/CSU-Fraktion, dass sie ihr Ziel, das sie
mit dem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsaus-
schusses verfolgen, nämlich den Außenminister und das
Auswärtige Amt zu diskreditieren, nicht erreichen wer-
den.
Wir von der SPD-Fraktion sehen diesem Untersu-
chungsausschuss daher sehr gelassen entgegen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Clemens
Binninger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Angesichts
der Debattenbeiträge von Rot-Grün in den vergangenen
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nd dass Sie selbst davor nicht zurückschrecken, die Be-
ühungen der demokratischen Opposition in der Ukra-
ne damit zu verknüpfen. Das ist beschämend!
arum geht es weder in dieser Debatte noch bei dem
orgesehenen Untersuchungsausschuss.
Es geht auch nicht darum, Herr Montag, dass es in der
ergangenheit möglicherweise immer wieder einmal
robleme bei der Visaerteilung gegeben hat. Visamiss-
rauch mag es immer wieder gegeben haben.
Kriminalität ist leider unter allen Regierungen ein
hänomen, das nicht ganz ausgemerzt werden kann.
enn Kriminalität aber eine bestimmte Dimension er-
eicht hat, dann muss man nachfragen, wie das möglich
st. Es geht hier um die Tatsache, dass seit dem Jahr 2000
ie Zahl der illegalen Schleusungen sowie der Men-
chenhandel und die Prostitution – ich beziehe mich da-
ei insbesondere auf die deutsche Botschaft in der
kraine – in einem Maße wie noch nie zuvor in der Ge-
chichte dieses Landes zugenommen haben.
as steht in Zusammenhang mit dem Erlass, den das
ußenministerium unter Verantwortung des heute schon
iel zitierten Ministers Fischer – ich hätte ihn gar nicht
rwähnt; aber Sie selber reden ja dauernd von ihm – im
ahr 2000 verfügt hat. Der Fischer/Volmer-Erlass regelt
m Kern Folgendes: Im Zweifel ist bei der Visaerteilung
ie Reisefreiheit höher zu bewerten als die Sicherheit der
enschen in unserem Land. Allein das ist ein Skandal,
em man nachgehen muss.
Doch, ich habe ihn gelesen.
Seit In-Kraft-Treten dieses Erlasses sind die Zahlen
er erteilten Visa und auch der Missbrauchsfälle – das ist
er Zusammenhang – dramatisch gestiegen. Wenn man
ich den Erlass genau anschaut, dann stellt man fest, dass
it ihm zumindest das gefördert wurde, was wir vermei-
en wollen, nämlich dass Menschen illegal in unser
and kommen. Wenn man sich zudem die gesamte Ge-
chichte des Prozesses in Köln vor Augen führt, dann
uss man leider feststellen: Der Fischer/Volmer-Erlass
ar kein taugliches Instrument für eine vernünftige
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13511
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Clemens Binninger
Visapolitik, sondern ein Weckruf für die organisierte
Kriminalität.
Ich möchte anhand von ein paar Fakten versuchen
– auch wenn Sie sich darüber genauso wie über die Ein-
setzung eines Untersuchungsausschusses heute schon
mehrfach empört haben –, der deutschen Öffentlichkeit
die Zusammenhänge aufzuzeigen. 1998 und 1999 – Herr
Erler, damals waren Sie schon an der Regierung – er-
teilte die deutsche Botschaft in der Ukraine im Durch-
schnitt 140 000 Visa pro Jahr. Sicherlich wird es auch in
dieser Zeit Missbrauchsfälle gegeben haben. Aber das
scheint das Normalmaß gewesen zu sein. Das kritisiere
ich nicht. Aber als im Jahr 2000 der Fischer/Volmer-Er-
lass in Kraft trat, stieg die Zahl der durch die deutsche
Botschaft in der Ukraine erteilten Visa schlagartig auf
über 200 000. Als es sich in der Szene herumgesprochen
hatte, wie leicht man hier an Visa kommen kann, ist im
folgenden Jahr die Zahl der erteilten Visa auf 300 000
gestiegen. Angesichts solcher Dimensionen ist es noch
nicht einmal im Ansatz möglich – da können die Mitar-
beiter noch so gut sein; allein mengenmäßig geht das
nicht mehr –, zu bewerten, ob der Antrag auf ein Visum
korrekt ist oder ob es sich um kriminelle Aktivitäten
handelt. 300 000 Visa in einem Jahr dank Ihres Erlasses,
in dem die Reisefreiheit im Zweifel höher bewertet wird
als die Sicherheit der Menschen in unserem Land! Das
sind die Fakten, die den Zusammenhang zwischen dem
Fischer/Volmer-Erlass und dem Anstieg der Zahl der
missbräuchlich erteilten Visa belegen.
– Sicher nicht, Herr Kollege Hartmann. Dass wir uns alle
dafür verwandt haben, mag nur in Einzelfällen stimmen.
Aber den Zusammenhang zwischen dem Fischer/
Volmer-Erlass und den beschriebenen Dimensionen, die
seit In-Kraft-Treten dieses Erlasses erreicht wurden,
können Sie jedenfalls nicht wegdiskutieren.
Wenn dann in einem Gerichtsverfahren noch bekannt
wird, dass ein Verurteilter auf seiner Homepage mit der
Adresse www.visafabrik.de Werbung machen konnte,
dann zeigt das doch, welche Schleusen Sie mit diesem
Erlass geöffnet haben. Deshalb führen wir heute diese
Debatte und deshalb haben wir die Einsetzung eines Un-
tersuchungsausschusses beantragt.
Wir werden im Untersuchungsausschuss verschiede-
nen Fragen nachgehen müssen, zum Beispiel der Frage,
wie es sein konnte, dass südeuropäische Nachbarstaaten
Deutschlands schon früher auf den Missbrauch aufmerk-
sam wurden und warum nichts passiert ist, nachdem das
BMI das Außenministerium informiert hatte. Herr
Montag, wir werden außerdem der Frage nachgehen
müssen, wie ein tschetschenischer Terrorist, der an dem
Anschlag auf das Moskauer Musicaltheater beteiligt war,
trotz angeblicher Warnhinweise des russischen Nach-
richtendienstes ungehindert mit einem von der deutschen
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Ich sehe, dass der Kollege Winkler etwas fragen
öchte.
enn Sie die Redezeit anhalten, dann lasse ich die Frage
u.
Das mache ich natürlich. Vielen Dank für die Unter-
tützung bei der Leitung der Sitzung.
Herr Winkler, bitte.
Herr Kollege Binninger, Sie haben gerade sehr lange
nd ausführlich über die Situation in der Ukraine und
ber die in der dortigen Botschaft aufgetretenen Miss-
tände gesprochen. Sie haben das mit einem Erlass des
uswärtigen Amtes aus dem Jahre 2000 begründet.
Wie kann es Ihrer Meinung nach zu diesen Missstän-
en durch einen Erlass, der für – wohlgemerkt – alle
isastellen, also für alle konsularischen Abteilungen und
ür alle Botschaften, weltweit gilt, kommen, wenn er
och angeblich so gemünzt ist, dass jeder einigermaßen
ntelligente Verbrecher auf dieser Welt nichts anderes zu
un hat, als sich auf ihn zu berufen, ihn zu nutzen und
ach Deutschland alles einzuschleusen, was ihm irgend-
ie über den Weg läuft? Mir ist diese Deduktion noch
icht wirklich klar. Wie kommen Sie dazu, zu glauben,
ass es an diesem Erlass liegt, dass nur aus diesen Län-
ern vermehrt eingeschleust worden ist und dass es nur
urch wenige Fälle, die andere hier schon erwähnt ha-
en, aufgefallen ist?
Das kann doch nur daran liegen – ich bitte Sie, zu
agen, ob Sie mir da zustimmen –, dass es hier um
13512 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Josef Philip Winkler
kriminelle Einzelfälle geht und dass das Ganze mit dem,
was der Richter, der von seiner richterlichen Freiheit Ge-
brauch gemacht hat, in seinen Urteilsbegründungen an
Dummheiten geschrieben hat, überhaupt nichts zu tun
hat. Dieser Richter hat sich wohl geirrt. Er hat Politik ge-
macht und keine Sacharbeit vor Gericht.
– Stimmen Sie mir darin zu?
Kollege Winkler, ich könnte es mir ganz einfach ma-
chen und sagen: Nein, ich stimme Ihnen nicht zu.
Ich will aber den Versuch unternehmen – das liegt
vielleicht an meiner eigenen beruflichen Erfahrung –, Ih-
nen zu sagen, warum es gerade in der Ukraine oder in ih-
ren Nachbarstaaten zu Unregelmäßigkeiten gekommen
ist. Die Nähe zu Deutschland spielt für Kriminelle na-
türlich eine Rolle.
Es ist in den Botschaften all derjenigen osteuropäischen
Länder, die nahe an Deutschland liegen und noch nicht
in der EU sind, zu Unregelmäßigkeiten gekommen. Das
ist sicherlich ein Aspekt. Das Entscheidende aber ist:
Die Unregelmäßigkeiten haben zu einem Zeitpunkt ein-
gesetzt, als der Fischer/Volmer-Erlass in Kraft trat. Da-
ran kommen Sie nicht vorbei.
Ich will noch einen weiteren Grund dafür nennen, wa-
rum wir den Untersuchungsausschuss für so notwendig
halten. Der Vertreter des Auswärtigen Amtes, Staats-
sekretär Chrobog, hat dafür gestern im Innenausschuss
ein paar treffende Beweise geliefert.
Herr Chrobog war schon einmal vor zehn Monaten in
unserem Ausschuss und hat über die ganze Sache berich-
tet. Damals hat er laut Protokoll gesagt:
In Kiew wurden 16 Ortskräfte wegen Korruption entlas-
sen. Gestern musste er auf Nachfragen einräumen, er
habe sich wohl getäuscht und es seien wohl sechs gewe-
sen. Das kann ja einmal passieren.
Er hat vor zehn Monaten gesagt, der Fischer/Volmer-
Erlass sei präzisiert worden, man habe die Sache mittler-
weile im Griff und die Korrekturmechanismen zeigten
Wirkung. Gestern hat er gesagt, die Erlasslage sei leider
verwirrend, man habe den Fischer/Volmer-Erlass mitt-
lerweile außer Kraft gesetzt und etwas Neues erlassen.
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– Darf ich im Plenum nicht mehr reden?
Herr Binninger, Sie haben gerade dargestellt, wie oft
ich die Erlasslage ändert. Herr Scholz hat in seinem
rsten Beitrag auch schon dargestellt, wie sich die
rlasslage seit 1989/90 immer wieder geändert hat. Da-
ei nehmen wir insbesondere auf die Umbrüche in Ost-
uropa und in ganz besonderer Weise auf die Umbrüche
n der Ukraine Bezug. Würden Sie angesichts dessen
olgendes zur Kenntnis nehmen?
Im Moment macht sich die Europäische Union Ge-
anken darüber, wie die Ukraine näher an Europa heran-
eführt werden kann. Es gibt einen so genannten Action
lan – Aktionsplan – zur Heranführung – –
Ich kann nichts dafür, dass Sie kein Englisch sprechen;
nglisch ist aber nun einmal die Umgangssprache in der
U. Ich muss den Text gleich ohnehin ins Deutsche
bersetzen, weil er mir nur in Englisch vorliegt.
Herr Kollege Volmer, die Frage – –
Der Aktionsplan der Europäischen Union für die
kraine, Herr Binninger, enthält ein ganzes Maßnah-
enbündel.
ürden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass das Maß-
ahmenbündel der Europäischen Union, erarbeitet im
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13513
)
)
Dr. Ludger Volmer
Ausschuss für Osteuropa und Zentralasien, am
12. Oktober der Presse vorgestellt – –
Entschuldigen Sie. Einen Moment! – Ich darf einmal
Folgendes klarstellen – weil es diesen Zwischenruf so
oft gibt, wollte ich das den Kollegen der Opposition
schon häufig sagen –: Nach der Geschäftsordnung kann
man Zwischenfragen stellen oder auch Zwischenbemer-
kungen machen. Was hier passiert, ist also durchaus im
Rahmen der Geschäftsordnung. Deswegen behält der
Kollege Volmer jetzt auch weiterhin das Wort.
Herr Binninger, es geht darum, dass sich die Wei-
sungslage besonders in Bezug auf die Ukraine immer
wieder verändert. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass
sich in dem neuesten Papier der Europäischen Union zur
Ukraine, in dem Aktionsplan zur Heranführung der
Ukraine an die Europäische Union, der Vorschlag findet
– nun hören Sie zu! –: Wir sollten darüber nachdenken,
mehr Flexibilität in das existierende Visaregime einzu-
führen.
Herr Kollege Volmer, Sie haben mit Ihrer Zwischen-
frage oder mit Ihrer Zwischenbemerkung eigentlich das
bestätigt, was ich zu Beginn meiner Rede gesagt habe.
Sie verknüpfen wieder einmal Legales und politisch Ge-
wolltes mit Illegalem.
Wir legen aber Wert darauf, dass man illegale Zustände
beendet, die Verursacher benennt, die Konsequenzen
daraus zieht und parallel dazu in allen legalen Bestre-
bungen nicht nachlässt. Das unterscheidet uns mögli-
cherweise. Das ist Ihr Fehler.
Ich nehme noch einen dritten Anlauf, um über den
Auftritt von Staatssekretär Chrobog im Innenaus-
schuss zu berichten. Er wollte uns beschreiben, wie das
Außenministerium von Herrn Fischer zukünftig den
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uch da war die Freude nur kurz. Wir mussten ihm näm-
ich sagen: Das geht gar nicht, weil beim Zuwanderungs-
ompromiss zwar über die Einladerdatei gesprochen
urde, aber die Rechtsgrundlage dafür fehlt.
Wenn das die Instrumente des Ministeriums von
errn Fischer sind, mit denen es Visamissbrauch be-
ämpfen will, nämlich Instrumente, die es noch gar nicht
ibt, dann tut der Untersuchungsausschuss mehr Not
enn je.
Der Untersuchungsausschuss wird zeigen, dass dieser
rlass, der mittlerweile nicht mehr in Kraft ist, in den
ahren 2000 bis 2004 ein Weckruf für die organisierte
riminalität war. Sie können so weit zurückgehen, wie
ie möchten: Aus dieser Verantwortung können Sie sich
icht stehlen. Der Untersuchungsausschuss wird genau
as zutage bringen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael
artmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
erren! Ich habe jetzt bei dieser wahrhaftig nicht sehr
urzen Debatte aufmerksam den Rednern von der Union
ugehört. Man muss ihnen eines attestieren: Sie haben
ich bemüht, sie haben sich angestrengt, sie haben ge-
appelt, sie haben gekrampft, aber sie haben nicht einen
rund nennen können, warum dieser Untersuchungsaus-
chuss wirklich notwendig sein soll.
Vielleicht sind die Nachdenklichen unter Ihnen,
eine Damen und Herren, bereit, einen Moment tatsäch-
ich zuzuhören. Das Recht auf Einsetzung eines Untersu-
hungsausschusses ist eines der wichtigsten und höchs-
en parlamentarischen Rechte, die im Grundgesetz – in
13514 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Michael Hartmann
diesem Fall in Art. 44 – verbrieft sind. Es handelt sich
um ein zentrales Minderheitenrecht, dem wir als
Mehrheitsfraktion natürlich auch in diesem Falle hohe
Achtung entgegenbringen.
Diese hohe Achtung, Herr Dr. Gehb, verpflichtet uns,
mit besonderer Sorgfalt mit diesem rechtlichen Instru-
ment umzugehen, das der Kontrolle dient. Deshalb
appelliere ich in der Tat an Sie, insbesondere an die
Nachdenklichen unter Ihnen: Setzen Sie doch dann einen
Untersuchungsausschuss ein, wenn es wirklich gerecht-
fertigt und notwendig ist, und entwerten Sie nicht dieses
wesentliche parlamentarische Element.
Wer beliebig damit umgeht, darf sich nicht darüber
beklagen – das beklagen ja auch wir in Talkshows,
Sonntagsreden und anderswo –, dass die Parlamente
nicht mehr ernst genommen werden, dass die Menschen
sich von uns abwenden und nichts mehr mit dem zu tun
haben wollen, was wir hier tun. Was Sie da machen,
stellt ein Beispiel dafür dar, wie man nicht vorgehen
sollte.
Es ist in der Tat so, dass es bei der Visaerteilung an
der Botschaft in Kiew zu Unregelmäßigkeiten kam und
dass vieles nicht so gelaufen ist, wie wir gemeinsam es
gerne wollten. Das haben Sie moniert und kritisiert. Sie
haben den Finger in die Wunde gelegt, indem Sie dafür
gesorgt haben, dass sich der Auswärtige Ausschuss da-
mit auseinander setzt, indem Sie zweimal den Innenaus-
schuss damit befasst haben und indem Sie eine Große
Anfrage, eine Kleine Anfrage und mehr als
100 Einzelfragen gestellt haben, die alle anständig, voll-
ständig und gründlich beantwortet worden sind.
Deshalb ist es überflüssig, was Sie da heute aufziehen.
Wir kommen nicht weiter, wenn wir uns wechselsei-
tig skandalisieren. Wir kommen auch nicht weiter, wenn
wir einen parlamentarischen Stil an den Tag legen, der,
gelinde gesagt, Herr Kollege Dr. Uhl, in sich wider-
sprüchlich ist. Sie haben in der Debatte im März – wir
beschäftigen uns ja schon fast ein Jahr mit dem Thema –
auf den Hinweis des Kollegen Volmer, dass der Grund-
satz „in dubio pro libertate“ gelte, wörtlich folgenden
Satz gesagt:
Sie benutzen eine solche Formulierung, obwohl Sie
genau wissen, dass es um organisierte Kriminalität
–
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inerseits schüren Sie latent Misstrauen und unterstel-
en, dass Horden von Illegalen und Kriminellen zu uns
ommen, und andererseits stimmen Sie an Weihnachten
n den Ruf ein, dass die Unterdrückten und Verfolgten zu
ns kommen sollen. Das passt nicht zusammen.
Wir sind der festen Überzeugung: Wenn man diese
orfälle anführt und wenn man sich tatsächlich damit
useinander setzen will, dann sollten wir es gründlich
nd anständig tun. Deshalb werden wir Ihren Antrag in
en Geschäftsordnungsausschuss überweisen, wohl be-
ründet und gut fundiert. Wenn etwas nicht in Ordnung
ar, muss man feststellen, wie es dazu kam. Man muss
um Beispiel die Zusammenarbeit mit dem ADAC und
as Aushandeln der Briefe durch Herrn Kanther und an-
ere Kollegen der damals unionsgeführten Regierung
enau überprüfen. Wenn Herr Kanther einmal fünf Mi-
uten Zeit hat – er ist ja noch anderswo beschäftigt –,
ören wir ihn vielleicht auch zu diesem Thema an.
chließlich ist er nun untersuchungsausschuss- und ge-
ichtserprobt.
Herr Dr. Gehb, als Sie vorhin die wirklich unsägli-
hen Richteräußerungen zitiert haben, habe ich gedacht:
iese Äußerungen eines Richters sind wirklich starker
obak. Danach habe ich festgestellt, dass auch Sie Rich-
er waren. Dann erstaunt mich das allerdings nicht.
Herrn Wiefelspütz braucht man nicht in Schutz zu neh-
en und genauso wenig muss man andere Personen aus
er Koalition in Schutz nehmen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist nun
inmal wahr, dass wir ein weltoffenes, tolerantes Land
ein wollen und dass all jene zu uns kommen sollen und
ürfen, die sich an Recht und Gesetz halten. Wenn Ver-
ahren nicht in Ordnung sind, wenn Fehler gemacht oder
traftaten begangen werden, dann funktionieren unsere
echtsstaatlichen Verfahren gut genug, um all dem ein
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13515
)
)
Michael Hartmann
Ende zu setzen, um all das zu unterbinden, wie der Pro-
zess und die Urteile gezeigt haben.
Anstatt also hier pharisäerhaft zu argumentieren, soll-
ten wir nach der letzten Sitzungswoche in die verdiente
Weihnachtspause gehen und uns mit der Stimmung der
Weihnacht überlegen, ob wir nicht auf diesen überflüssi-
gen Untersuchungsausschuss verzichten wollen.
Nach dem so genannten Lügenausschuss und mit dem
von Ihnen nun beantragten Visaausschuss
würde diese Legislaturperiode sonst in die Geschichte
eingehen als die Legislaturperiode mit den überflüssigs-
ten von der Unionsfraktion beantragten Untersuchungs-
ausschüssen. Bewahren Sie uns gemeinsam davor!
Es liegt ein Antrag zur Geschäftsordnung vor. – Bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Namens
meiner Fraktion stelle ich den Antrag auf sofortige Ab-
stimmung über unseren Antrag.
Eine weitere Wortmeldung zur Geschäftsordnung. –
Bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wi-
derspreche diesem Antrag. Es ist völlig unsinnig, über
diesen Antrag sofort abzustimmen, weil er weder in sei-
nem Inhalt noch in seinem Titel dem entspricht, was ei-
nem Untersuchungsausschuss angemessen wäre. Wir
sind deswegen der Auffassung, dass der Antrag im Ge-
schäftsordnungsausschuss sorgfältig geprüft werden
muss. Dahin werden wir diesen Antrag überweisen.
Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion der
CDU/CSU wünscht sofortige Abstimmung in der Sache.
Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
wünschen Überweisung an den Ausschuss für Wahlprü-
fung, Immunität und Geschäftsordnung.
Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschuss-
überweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage
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und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine Bekräftigung des absoluten Folter-
verbots
– Drucksache 15/4396 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf
Bindig, Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Christa Nickels, Volker
Beck , Thilo Hoppe, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Nepal – Menschenrechte schützen und Gewalt
beenden
– Drucksache 15/4397 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Ulrich Heinrich, Daniel Bahr ,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Einhaltung der Menschenrechte in Nepal
– Drucksache 15/3231 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung und
Umsetzung des Zusatzprotokolls zur UN-Anti-
Folter-Konvention
– Drucksache 15/3507 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
13516 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger
Haibach, Dr. Martina Krogmann, Melanie
Oßwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Presse- und Meinungsfreiheit im Internet
weltweit durchsetzen – Journalisten, Men-
schenrechtsverteidiger und private Internet-
nutzer besser schützen
– Drucksache 15/3709 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
EU-Jahresbericht zur Menschenrechtslage
Ratsdok. 13449/03
– Drucksachen 15/2636 Nr. 2.16, 15/3001 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Rudolf Bindig
Holger Haibach
Rainer Funke
ZP 6a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Rainer Funke, Daniel Bahr
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Menschenrechte in der Volksrepublik China
einfordern
– Drucksache 15/4402 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention
– Drucksache 15/4405 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Rudolf Bindig, der aber erst anfangen
wird, wenn hier Ruhe eingekehrt ist.
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Nach der Hälfte der Legislaturperiode stellt sich die
ilanz der rot-grünen Menschenrechtspolitik positiv dar.
ir haben viel erreicht. Zunächst ist es erfreulich, dass
ie Stelle des Menschenrechtsbeauftragten im Aus-
ärtigen Amt wieder besetzt wurde. Mit Tom Koenigs
rhalten wir einen hervorragenden Mitstreiter, der im
osovo und zuletzt in Guatemala persönlich erfahren
onnte, wie wichtig die Menschenrechte für Frieden,
emokratie und Aussöhnung sind.
ir wünschen ihm alles Gute für seine schwierige Auf-
abe. Zugleich danken wir der bisherigen Amtsinhabe-
in, Claudia Roth, für ihren engagierten Einsatz.
Unsere Zwischenbilanz nach zwei Jahren kann sich
ehen lassen. Der nächste Menschenrechtsbericht der
undesregierung wird auf unsere Anregung hin erstmals
inen nationalen Aktionsplan enthalten und dadurch
icht nur über Ereignisse und Aktionen der beiden letz-
en Jahre informieren, sondern auch perspektivisch
läne und Projekte vorstellen. Mehrere Ratifizierungen
nternationaler Abkommen bzw. ihrer Zusatzprotokolle,
o das Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention,
as sich mit Kindersoldaten befasst, wurden abgeschlos-
en bzw. auf den Weg gebracht.
Wir haben uns intensiv mit der menschenrechtlichen
erantwortung von Unternehmen auseinander gesetzt
nd werden weiterhin für die UN-Normen zur men-
chenrechtlichen Verantwortung und für ein Beschwer-
everfahren zum Sozialpakt eintreten. Seit kurzem gibt
s den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konflikt-
ösung und Friedenskonsolidierung“, der ein wichtiges
lement bei der Prävention von Menschenrechtsverlet-
ungen ist. Auch die Rechte der Frauen wurden weiter
estärkt. Unter anderem wurde vor wenigen Wochen ein
esetz gegen den Menschenhandel verabschiedet.
Ab Januar kann endlich das Zuwanderungsgesetz
mgesetzt werden, das wesentliche Verbesserungen für
lüchtlinge bringen wird, insbesondere für Opfer nicht
taatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung und
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13517
)
)
Rudolf Bindig
für viele Personen, die in Deutschland bislang nur gedul-
det waren.
Wir haben uns ferner intensiv mit der Vereinbarkeit
von Menschenrechten und islamischem Recht ausei-
nander gesetzt und eine klare Grenzlinie zwischen inter-
kulturellem Dialog und Menschenrechtsdialog gezogen.
Wir haben bei jeder sich bietenden Gelegenheit innenpo-
litisch wie außenpolitisch darauf hingewiesen, dass es
im Kampf gegen den Terrorismus keinerlei Relativie-
rung der Menschenrechte geben darf.
Auch den Schutz bedrohter und verfolgter Menschen-
rechtsverteidiger haben wir gemeinsam gestärkt und in
diesem Kontext zum letztjährigen Tag der Menschen-
rechte die Aktion „Parlamentarier schützen Parla-
mentarier“ ins Leben gerufen. Ich danke allen Kolle-
ginnen und Kollegen, die sich daran aktiv beteiligt und
sich für gefährdete Politiker und Politikerinnen im Aus-
land eingesetzt haben.
Selbstverständlich haben wir uns regelmäßig mit
Menschenrechtsverletzungen in einzelnen Ländern be-
fasst. Nicht immer schlägt sich dies in unmittelbar vor-
zeigbaren Arbeitsergebnissen nieder, wie zum Beispiel
in einem Antrag, den wir heute zu Nepal vorgelegt haben.
Allerdings sind länderspezifische Anträge nicht immer
hilfreich, auch wenn sich die FDP dies mit ihrem Antrag
zur bevorstehenden Chinareise des Bundeskanzlers ein-
bildet. Manchmal ist ein kritischer Menschenrechtsdia-
log mit Regierungsvertretern und Parlamentskollegen
oder die Unterstützung einheimischer Menschenrechts-
organisationen und Menschenrechtsverteidiger eher ziel-
führend. Ich jedenfalls habe die Absicht, Menschen-
rechtsthemen direkt anzusprechen, wenn ich nächste
Woche den Bundeskanzler auf seiner Reise nach China
und Japan begleite.
Dies sind einige Punkte unserer Halbzeitbilanz. Nicht
weiter ausgeführt habe ich Problembereiche, die wir
über Jahre hinweg bearbeiten. Dazu gehören der Kampf
gegen die Genitalverstümmelung, die Diskriminierung
von Minderheiten, Straflosigkeit oder die EU-Asyl- und
-Flüchtlingspolitik.
Auch der Kampf gegen Folter zählt zu den men-
schenrechtlichen Kernthemen. Weil dieses Thema so
wichtig und momentan leider hochaktuell ist, haben wir
für die heutige Debatte einen Antrag dazu vorgelegt. Der
Titel „Für eine Bekräftigung des absoluten Folterver-
bots“ macht bereits klar, dass es nicht darum geht, etwas
Neues zu fordern, sondern darum, Bewährtes beizube-
halten. Seit dem 11. September 2001 nämlich bröckelt
das absolute Folterverbot, nicht nur an den Stammti-
schen dieser Welt, sondern auch in politischen und juris-
tischen Erörterungen.
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In Deutschland ist Folter auch verfassungsrechtlich
eächtet. Wir sollten uns darin auch nicht durch einige
üngere rechtsphilosophische Äußerungen und Grundge-
etzkommentare verunsichern lassen. Deutschland sollte
ach innen und nach außen klar und konsequent Position
ür das absolute Folterverbot beziehen.
Aus der Vorbildfunktion heraus, die Deutschland in-
ernational in Menschenrechtsfragen einnimmt, wäre es
ünschenswert, dass wir so rasch wie möglich das Zu-
atzprotokoll zur UN-Anti-Folter-Konvention zeichnen
nd ratifizieren. Ich appelliere an jene unionsgeführten
änder, die noch Vorbehalte haben, den Weg für eine
atifizierung frei zu machen. Deutschland könnte damit
nternational ein wichtiges Signal setzen. Ich bin froh,
ass die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern er-
reulich verlaufen.
Lassen Sie uns alle dazu beitragen, dass der jahrhun-
ertelange Kampf gegen die Folter nicht vergeblich war!
assen Sie uns alle für das absolute Folterverbot eintre-
en! Den Kampf gegen den Terrorismus können und
erden wir auch mit rechtsstaatlichen Mitteln gewinnen.
avon bin ich überzeugt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
13518 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Holger Haibach.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist inzwi-
schen gute Übung hier im Deutschen Bundestag, anläss-
lich des Tags der Menschenrechte eine Debatte zu füh-
ren. Erfreulich ist aus meiner Sicht die weitgehende
Einigkeit über viele Themen im Bereich Menschen-
rechte. Weniger erfreulich ist allerdings, dass wir uns mit
einer Fülle von menschenrechtlichen Problemen kon-
frontiert sehen, die in einer solchen Debatte kaum noch
vernünftig und sachgerecht behandelt werden können.
Wo stehen wir also im Jahr 2004, in einer Zeit der
Terrorismusbekämpfung und der Integrationsdebatte?
Wo stehen wir, was den Stellenwert der Menschenrechte
betrifft, zur Halbzeit dieser Legislaturperiode in
Deutschland sowie im Parlament und wo steht die Bun-
desregierung? Wo liegen neue Herausforderungen? Wel-
che Lösungen haben wir?
Das Zusammenrücken in einer globalisierten Welt
und die Medialisierung unserer Gesellschaft tragen dazu
bei, dass Krisen mehr und mehr erfahrbar werden. Nah-
ost, China, Kuba und zuletzt Sudan und Simbabwe wa-
ren dabei die geographischen Stichworte in der Men-
schenrechtsdebatte der letzten Jahre. Andererseits
drohen Konfliktregionen, die nicht im Fokus der Me-
dienöffentlichkeit stehen, leicht in Vergessenheit zu ge-
raten. Mit Ausnahme von Kolumbien ist Lateinamerika
ein gutes Beispiel hierfür.
Deshalb haben wir als deutsche Parlamentarier die
Aufgabe, Mechanismen zu fördern und zu entwickeln,
die dem Schutz und der Durchsetzung der Menschen-
rechte weltweit möglichst effizient dienen. Das Pro-
gramm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“
– Kollege Bindig hat es schon angesprochen – war ein
richtiger und wichtiger Schritt in dieser Hinsicht und ein
erfolgreicher noch dazu. Zahlreiche Kolleginnen und
Kollegen haben die durch unseren Ausschuss aufgebaute
Datenbank bereits genutzt und sich über verfolgte Parla-
mentarier informiert. Da wir alle gemeinschaftlich die
Einrichtung dieses Programms beschlossen haben, sind
wir nun auch in der Pflicht, die gesammelten Informatio-
nen zu nutzen und uns für verfolgte Kolleginnen und
Kollegen einzusetzen.
Außerdem sollten wir noch mehr Anstrengungen un-
ternehmen, die Öffentlichkeit für dieses Vorhaben zu
sensibilisieren. Immerhin können wir darauf verweisen,
dass die erste Parlamentarierin, für die wir uns im Rah-
men einer Petition eingesetzt haben, die kurdische Abge-
ordnete Leyla Zana, inzwischen aus ihrem türkischen
Gefängnis entlassen worden ist. Es wäre vermessen, zu
behaupten, dass dies auf unser Programm zurückzufüh-
ren ist. Aber es ist, so meine ich, doch berechtigt, zu sa-
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Öffentliche Aufmerksamkeit gilt es auch beim Thema
enschenrechte in der Türkei insgesamt einzufordern.
ch will an dieser Stelle keinesfalls die Beitrittsdebatte
ühren; das ist sicherlich Thema einer anderen Debatte.
ch frage mich nur ab und an, ob die Bundesregierung
nd an ihrer Spitze der Kanzler deutlicher als bisher be-
eit sind, zu formulieren, dass ungeachtet aller unbe-
treitbaren Fortschritte die bisher durchgeführten Refor-
en bei weitem noch nicht im täglichen Leben der
enschen in der Türkei angekommen sind.
Ich will für die CDU/CSU-Fraktion deutlich machen,
ass wir nach wie vor Defizite sehen, vor allen Dingen
n der Behandlung der Religions- und Minderheiten-
echte. Noch immer sind gerade die christlichen Reli-
ionsgemeinschaften Behinderungen und Repressalien
usgesetzt.
So kann nach wie vor das 1971 geschlossene Pries-
erseminar auf der Insel Halki vor Istanbul seinen Be-
rieb nicht aufnehmen, obwohl seit zwei Jahren eine Lö-
ung versprochen ist. Bei der Rückerstattung von
rundstücken und Gebäuden an verschiedene Kirchen
ind von den circa 2 000 Anträgen etwa 300 deswegen
bgelehnt worden, weil die Liegenschaften unter dem
amen eines Heiligen registriert sind und dessen Zu-
timmungserklärung zur Umschreibung in das Grund-
uch fehlt, weil der Heilige umständehalber nicht zur
mschreibung erscheinen kann. Hinzu kommen Pro-
leme bei der Wahl von Stiftungsvorständen, der unge-
lärte Status von ausländischen Geistlichen und vieles
ehr.
Darüber redet der Bundeskanzler aber leider nur aus-
esprochen selten in der Öffentlichkeit. Ein offenes
ort, wie er es auch bei anderen Gelegenheiten unter
reunden für sich beansprucht, wäre auch an dieser
telle mehr als angebracht.
ie Voraussetzung dafür, ein offenes Wort sprechen zu
önnen, ergibt sich logischerweise nur dann, wenn man
uch die Gelegenheit dazu hat.
In diesem Zusammenhang will ich auf eine neue, aus
einer Sicht sehr Besorgnis erregende Entwicklung hin-
eisen: auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit
m Internet, die wir als CDU/CSU-Fraktion heute mit
inem eigenen Antrag zum Thema der Debatte gemacht
aben. In der Türkei zum Beispiel werden Internetseiten
ensiert oder blockiert sowie Internetcafes überwacht.
ber es gibt neben der Türkei noch viele andere Länder,
ie dabei noch wesentlich restriktiver vorgehen und das
echt auf freie Meinungsäußerung in den neuen Medien
inschränken. Diese Tatsache wiegt umso schwerer, als
ie Zahl der Internetnutzer und damit die Bedeutung des
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13519
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)
Holger Haibach
Internets für die Gewinnung von Informationen immer
größer wird.
Hinzu kommt, dass das Internet gerade für diejenigen,
deren Bewegungsfreiheit entweder aufgrund staatlicher
Repression oder aus Mangel an Geld oder wegen der Ge-
fahr von bewaffneten Konflikten eingeschränkt ist, oft
die einzige Möglichkeit zur Meinungsäußerung oder zur
Information bietet. So nimmt es denn auch nicht wunder,
dass gerade die Staaten, die ohnehin für schwere Men-
schenrechtsverletzungen bekannt sind, insbesondere auf
diesem Feld große Anstrengungen unternehmen, um In-
ternetjournalisten, Menschenrechtsaktivisten und nor-
male Internetnutzer zu behindern und ihnen den Zugang
zum Internet entweder ganz zu verwehren oder diesen
passend zur jeweiligen Ideologie einzuschränken.
Einige Beispiele dafür haben wir in unserem Antrag
aufgelistet. Aufgrund der Kürze der Redezeit will ich
hier nur eines davon nennen: In China ist nicht nur der
Zugang zum Internet und zu E-Mails zensiert und regle-
mentiert; darüber hinaus befinden sich zurzeit 60 oder
61 Cyber-Dissidenten – die Zahl schwankt etwas – we-
gen Verstoßes gegen die Zensurmaßnahmen in Haft.
Vorgestern meldete der „Spiegel“ in seiner Online-Aus-
gabe, dass China den Zugang zur Nachrichtenseite der
Internetsuchmaschine Google gesperrt hat, obwohl sich
Google von vornherein zur Selbstzensur entschlossen
und erklärt hat, keine gegenüber dem Regime in China
kritischen Seiten zu veröffentlichen.
Gerade wir, die wir in Deutschland nach unserer Er-
fahrung im letzten Jahrhundert über Sensibilität verfü-
gen und auch eine entsprechende Gesetzgebung haben,
sind in der Verantwortung, diesen Entwicklungen in aller
Schärfe entgegenzutreten.
Der Bundestag und insbesondere die Regierung sind hier
gefordert. Das ist einer der vielen Punkte, die der Bun-
deskanzler und auch Herr Bindig – wenn er mitreist,
freut mich das sehr –, ansprechen sollten, wenn sie dem-
nächst zu einer Reise nach China aufbrechen. Hoffent-
lich tun sie das dann auch und hoffentlich ist der Bun-
deskanzler in seiner Wortwahl ebenso deutlich wie die
Mitglieder seiner Koalition oder der ehemalige Bundes-
präsident Johannes Rau, wenn es um andere Fragen hin-
sichtlich der Menschenrechte geht: die Diskriminierung
religiöser Minderheiten wie der Christen oder der Falun-
Gong-Anhänger, die Repression gegenüber ethnischen
Minderheiten, die Unterdrückung der kulturellen Auto-
nomie der Tibeter oder auch die exzessive Verhängung
der Todesstrafe oder die Anwendung von Folter.
Man kann den Kolleginnen und Kollegen der FDP
nur zustimmen, dass seitens der Regierung und des
Kanzlers nicht von dem auch durch seine eigene Koali-
tion vorgegebenen Weg bezüglich des Waffenembargos
abgewichen werden darf.
Glaubwürdigkeit – das ist eine Binsenweisheit – ent-
steht durch vorbildliches Handeln im eigenen Haus. Wir
können nur dann in der Welt auftreten und zum Beispiel
Misshandlungen und Folter in China geißeln, wenn wir
uns auch in Deutschland ganz klar zu diesem Thema äu-
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leichzeitig müssen wir aber auch deutlich machen,
ass in Deutschland kein Platz für Folter sein kann, we-
er in der Gesellschaft noch bei der Polizei, auch nicht
ei unseren Streitkräften.
eutschland sollte hier weiterhin seiner Vorreiterrolle
erecht werden.
Wenn wir jetzt Resümee ziehen und uns die Frage
om Beginn meiner Rede nochmals vornehmen, wo wir
enn eigentlich stehen, dann sehen wir, dass wir alle
war auf dem Weg sind, aber noch viel vor uns haben.
nsbesondere diese Bundesregierung, die es sich nun
inmal zum Anspruch gemacht hat, Menschenrechtspo-
itik als Querschnittsaufgabe zu definieren, hat noch ei-
en sehr weiten Weg vor sich.
„Deutsche Menschenrechtspolitik: widersprüchlich
nd entwicklungsfähig“ – so urteilt etwa das Forum
enschenrechte nach zwei Jahren Rot-Grün in der zwei-
en Amtszeit. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirk-
ichkeit bleibt erkennbar. Amt gewordenes Symbol für
iese Kluft ist die Position des Menschenrechtsbeauf-
ragten der Bundesregierung, ein „Posten mit großem
itel und wenig Einfluss“. Damit Sie nicht glauben, das,
as ich hier sage, sei das übliche Oppositionsgenörgle,
ill ich Ihnen gern gestehen, dass diese Formulierung
icht mir, sondern der „Frankfurter Rundschau“ einge-
allen ist, die nun wahrlich nicht in dem Verdacht steht,
ine Hauspostille von CDU, CSU oder FDP zu sein.
n ihrer Ausgabe vom 25. Oktober 2004 schreibt diese
eitung anlässlich des Ausscheidens von Claudia Roth
us diesem Amt, der ich übrigens bei dieser Gelegenheit
och einmal recht herzlich für ihre wichtige und enga-
ierte Arbeit danken will:
Das ihr
Frau Roth –
Mögliche habe sie aus dem Amt herausgeholt. Das
„Mögliche“ ist schon von Amts wegen klein: ein
kleiner Arbeitsstab, geringe Kompetenzen und noch
dazu muss sich der oder die Menschenrechtsbeauf-
tragte oft auf die Zunge beißen … Denn die „harte“
Außenpolitik machte ohnehin der Minister.
Möge es dem Nachfolger von Frau Roth, Tom
oenigs, gelingen, seinerseits das Mögliche oder viel-
eicht sogar das Unmögliche aus dem Amt herauszuho-
en, und möge es uns in den nächsten Jahren gemeinsam
elingen, einen Beitrag zur Durchsetzung der Men-
chenrechte in unserem Lande und weltweit zu leisten.
13520 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
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Holger Haibach
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christa Nickels.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Debatte über Folter möchte ich nicht das wieder-
holen, was meine Kollegen aus den verschiedenen Frak-
tionen bereits völlig zu Recht vorgetragen haben. Ich un-
terstreiche jeden einzelnen Satz.
Wir bringen in diese Debatte zum Tag der Menschen-
rechte aus gutem Grund einen Antrag ein, der die abso-
lute Gültigkeit des Folterverbots bekräftigt. Es ist eine
fatale Entwicklung, dass im Kampf gegen den Terro-
rismus sicher geglaubte Grundwerte plötzlich infrage
gestellt werden sollen. Folterstaaten verweisen mit
Häme und Genugtuung darauf, dass sich – ihrer Mei-
nung nach – der freie Westen das Prinzip der unveräu-
ßerlichen Menschenrechte offenbar nur zu Schönwetter-
zeiten leisten will und im Zweifel nur für seine eigenen
Bürger. Doch das Folterverbot gilt notstandsfest und ab-
solut.
Darum bin ich froh, dass Deutschland eine sehr wich-
tige Rolle bei der Ausarbeitung des 2002 verabschiede-
ten Zusatzprotokolls zur UN-Anti-Folter-Konvention
geleistet hat. Jetzt ist es umso wichtiger, dass die Bun-
desrepublik dieses Zusatzprotokoll auch zeichnet und
ratifiziert. Das Besondere an diesem Protokoll ist die
Einrichtung eines nationalen, unabhängigen Kontroll-
gremiums, das regelmäßig Besuche in den Einrichtun-
gen durchführt, in denen Menschen die Freiheit entzo-
gen wird, sei es im Bereich der Polizei und Justiz, sei es
in geschlossenen Abteilungen von Heimen und Psychia-
trien.
Hier werden Länderzuständigkeiten berührt. Deshalb
müssen die Länder der Ratifizierung des Protokolls zu-
stimmen. Ich begrüße es sehr, dass Bund und Länder in-
zwischen konstruktiv an einer pragmatischen Lösung ar-
beiten. Ich kann nur betonen, wie wichtig eine rasche
Zeichnung und Ratifizierung wäre, um eine innen- und
außenpolitischen Signalwirkung zu erzielen.
Wir haben gestern den Appell der Vereinten Natio-
nen, mehr Mittel für die humanitäre Arbeit aufzubrin-
gen, unterstützt. Herr Morris, der Direktor des World
Food Programm, war anwesend und hat uns noch einmal
nachdrücklich auf die wieder schlechter werdende Situa-
tion von Hunderttausenden von Menschen in Darfur auf-
merksam gemacht. Unsere Regierung setzt sich auf die-
sem Gebiet sehr beispielhaft ein. Ich möchte daher noch
einmal darauf hinweisen, dass es absolut wichtig ist,
dass die sudanesische Regierung als deutliches Zeichen
ihres Willens, diese Krise zu beenden und für das Wohl
der Menschen zu sorgen, statt guter, starker Worte, die
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ir brauchen eine effiziente Zusammenarbeit der suda-
esischen Regierung mit der Afrikanischen Union und
en Vereinten Nationen. Wir brauchen endlich eine Ent-
affnung der Janjawid und die Festnahme der für Ver-
rechen, für Massenvergewaltigung, Vertreibung und
ord Verantwortlichen. Diese Verbrechen sind gerade in
er letzten Woche wieder aufgeflammt. Tausende Men-
chen waren diesen Verbrechen ausgesetzt und sind ih-
en zum Opfer gefallen. Es wäre ein ganz wichtiges Zei-
hen, wenn einer der berüchtigtsten Milizenführer der
anjawid, Musa Hilal, der in Khartum frei umhergehen
nd seinen Geschäften nachgehen kann, endlich festge-
ommen, vor Gericht gestellt und zur Verantwortung ge-
ogen würde.
Ich möchte mit Blick auf Darfur noch einmal darauf
inweisen, dass im April dieses Jahres in diesem Haus
ehr viele Appelle dahin gehend formuliert wurden, dass
ir alle, zehn Jahre nach dem Völkermord in Ruanda,
ufgerufen sind, alles uns Mögliche zu tun, um solch ka-
astrophale Situationen und Massenmorde zu verhin-
ern. Ich glaube, dass gerade vor diesem Hintergrund die
nstrengungen für die Menschen in Darfur verstärkt
erden müssen.
Auch glaube ich, dass wir in Vorbereitung des zehn-
en Jahrestags des Massakers von Srebrenica im Juli
ächsten Jahres sehr viel tun müssen, damit der Aktions-
lan „Krisenprävention“, den Bundesregierung und Par-
ament beschlossen haben, umgesetzt wird und effizient
irken kann. Statt ständig zu klagen, müssen wir mit all
nseren Möglichkeiten dazu beitragen, dass solche Mas-
enmorde nicht noch einmal geschehen können.
Zur Halbzeitbilanz unseres Ausschusses gehört für
ich, auch auf eigene Aktivitäten hinzuweisen, die wir
m Bereich der Innenpolitik durchführen. Für uns ist es
ine Daueraufgabe, auch dafür zu sorgen, dass den
lüchtlingen in Deutschland ein vernünftiger und siche-
er Aufenthalt gewährt wird. Ich möchte an Afghanistan
rinnern; denn Deutschland fördert den Aufbau der dor-
igen Polizei in großem Umfang. Trotzdem ist die Si-
herheitslage bisher nicht entscheidend verbessert wor-
en. Die Situation ist noch nicht stabil. In einigen
egionen ist sie sehr fragil oder hat sich sogar ver-
chlechtert.
Darum sehe ich den Beschluss der letzten Innenmi-
isterkonferenz vom November dieses Jahres mit Sorge,
ass ab dem 1. Mai nächsten Jahres afghanische Flücht-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13521
)
)
Christa Nickels
linge in großer Zahl mit Zwang zurückgeführt werden
sollen. Denn ich glaube, dass diese Entscheidung nicht
nur eine Zumutung für die betroffenen Menschen ist,
sondern dass sie auch die Stabilität in Afghanistan nicht
stärkt, sondern eher unterminiert. Diese Menschen wer-
den in eine sehr unsichere Situation zurückgeführt. Sie
haben keine Arbeit, sind nicht sicher und müssen Gefah-
ren für ihr eigenes Leben auf sich nehmen.
Das gilt auch für die Rückführung der Minderheiten
in das Kosovo. Mir ist unbegreiflich, warum die Innen-
ministerkonferenz den seit vielen Jahren hier geduldeten
afghanischen Flüchtlingen, die gut integriert sind, nicht
endlich eine Zukunftsperspektive in Form eines Aufent-
haltsrechts zugesteht. Dann könnten sich diese Men-
schen tatsächlich auf freiwilliger Basis entscheiden, ob
und wann sie es sich und ihrer Familie, vor allen Dingen
den weiblichen Angehörigen ihrer Familie, zumuten
können, nach Afghanistan zurückzukehren, dort wieder
Fuß zu fassen und zu leben.
Weitere rund 150 000 Ausländerinnen und Ausländer
leben seit mehr als fünf Jahren hier in Deutschland, weil
sie wegen rechtlicher bzw. tatsächlicher Abschiebungs-
hindernisse nicht nach Hause zurückkehren können. Sie
erhalten vielfach über Jahre hinweg eine Duldung, ohne
dass eine abschließende ausländerrechtliche Entschei-
dung getroffen wird.
Ich sehe mit Sorge, dass die problematische rechtli-
che Situation von Geduldeten durch die Regelungen
des Zuwanderungsgesetzes nur ansatzweise gelöst wird.
Der überwiegende Teil der Geduldeten wird seinen Sta-
tus nicht verbessern können. Die im Zuwanderungsge-
setz vorgesehene Härtefallregelung kann die Situation
der langjährig Geduldeten nicht substanziell verbessern,
weil die Einrichtung von Härtefallkommissionen im Er-
messen der Länder liegt und deshalb ein einheitliches
Verfahren nicht gesichert ist. Außerdem werden die Här-
tefallkommissionen bei einer großen Anzahl von Anträ-
gen überfordert sein.
Ich möchte als durchaus positiven Aspekt unserer Ar-
beit die Aktion „Parlamentarier schützen Parlamenta-
rier“ vorstellen. Kollege Haibach, ich finde, dass wir
hier einiges erreicht haben. Uns liegen sehr viele Anfra-
gen von Kollegen in unserem Parlament vor, aber auch
von Kollegen aus den Länderparlamenten und von Mi-
nisterpräsidenten. Unser gesamtes Präsidium hat sich da-
für eingesetzt. Es ist auch ein Verdienst von Bundestags-
präsident Thierse, der auf seiner Reise in die Türkei im
April dieses Jahres, noch einmal ausdrücklich auf unsere
Petition zugunsten von Leyla Zana und vier weiteren
Abgeordneten hingewiesen hat. Ich glaube, das war ein
wichtiger Beitrag dazu, dass diese Abgeordneten im Juni
dieses Jahres aus dem Gefängnis entlassen wurden.
Zum Schluss meiner Rede möchte ich daran erinnern,
dass viele Menschen in unserem Land einen ganz prakti-
schen Beitrag zur Sicherung der Menschenrechte leisten
können. Ich höre immer wieder, dass viele Menschen
gerne Geld spenden, dass sie aber, wenn sie vom
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Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Men-
chenrechtsfragen haben im Moment in den Augen der
eltöffentlichkeit, aber auch bei uns in Deutschland
ochkonjunktur; leider überwiegend aus wenig erfreuli-
hem Anlass. Deshalb zunächst einmal zum Positiven:
ie Menschen in der Ukraine gehen zu Hunderttausen-
en auf die Straße und kämpfen für die Demokratie und
uch für die Menschenrechte in ihrem Land. Sie verdie-
en und brauchen unsere volle Unterstützung und Soli-
arität.
ichtig ist jetzt, dass die Entwicklung in der Ukraine
riedlich bleibt und dass der übermächtige Nachbar
ussland ein wirklich demokratisch zustande gekomme-
es Ergebnis akzeptiert.
Es wäre gut, wenn Bundeskanzler Schröder auf sei-
en Freund Präsident Putin in dieser Richtung einwirken
önnte.
islang hat der Bundeskanzler seitens des russischen
räsidenten alles geschluckt: die Menschenrechtsverlet-
ungen und die Wahlfarce in Tschetschenien, die Unter-
tützung für Lukaschenko in Belarus, den rechtsstaatlich
13522 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
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Rainer Funke
zweifelhaften Jukos-Prozess, die Beschneidung der
Pressefreiheit und die Entmachtung der Gouverneure,
der unabhängigen Abgeordneten der Duma und der klei-
neren Parteien. Jetzt, mit Blick auf die Demokratiebewe-
gung in der Ukraine, hat selbst der Bundeskanzler offen-
sichtlich erkannt, dass es Zeit ist für das oft zitierte
„offene Wort unter Freunden“.
Der Bundeskanzler wird auf seiner Chinareise in der
nächsten Woche, auf der ich ihn zusammen mit dem
Kollegen Bindig begleiten darf, gefordert sein, eine
Lanze für die Menschenrechte zu brechen. Der Deutsche
Bundestag hat die Bundesregierung vor einem Monat
aufgefordert, sich erst und nur dann für eine Aufhebung
des EU-Waffenembargos gegenüber China einzusetzen,
wenn sich die Menschenrechtslage in China wirklich
nachhaltig verbessert hat. Der Bundeskanzler sollte sich
in Peking an diesen Parlamentsbeschluss halten. Wir,
Herr Kollege Bindig, werden ihn daran erinnern, wenn
er mit unseren chinesischen Gesprächspartnern spricht.
Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor, in dem diese
beiden Forderungen des Deutschen Bundestages an den
Bundeskanzler nochmals unterstrichen werden. Gerade
im Hinblick auf die Reise ist dieser Antrag notwendig,
Herr Kollege Bindig.
Meine Damen und Herren, auch in Deutschland
selbst sind die Menschenrechte in den letzten Wochen
leider ins Gerede gekommen. Angestoßen durch die Vor-
gänge in den Niederlanden und vor dem Hintergrund der
Bedrohung durch den islamischen Terrorismus machen
sich viele Menschen in Deutschland große Sorgen da-
rüber, ob und wie der Islam und die Menschenrechte
miteinander vereinbar sind und was das für das Zusam-
menleben und die Integration islamischer Mitbürger in
Deutschland bedeutet. Wir haben uns im letzten Jahr im
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
schwerpunktmäßig mit diesem Thema auseinander ge-
setzt. Wir haben in vielen Fachgesprächen und in einer
großen Anhörung erfahren, dass der Islam durchaus eine
Religion ist, die auch auf Versöhnung ausgerichtet ist:
Einflussreiche islamische Theologen haben beispiels-
weise nachgewiesen, dass die von uns zu Recht immer
wieder kritisierte Steinigung eigentlich unislamisch ist;
ich erinnere an die Gespräche mit den Ajatollahs. Wir
müssen in Deutschland, aber auch weltweit, unbedingt
dazu übergehen, zwischen dem islamistischen Funda-
mentalismus und dem Islam sorgfältiger zu differenzie-
ren.
Natürlich müssen wir auch in den islamischen Ländern
weiterhin die Beachtung der Menschenrechte anmah-
nen. Wir dürfen aber keine antiislamischen Stimmun-
gen – schon gar nicht unter dem Deckmantel der Men-
schenrechte – bei uns oder im Ausland schüren.
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ein Dank gilt aber auch Christa Nickels für die hervor-
agende Leitung des Menschenrechtsausschusses.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph
trässer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrte Damen und Her-
en! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Jahresbericht
er Europäischen Union zur Menschenrechtslage 2004
n Europa ist bereits der sechste dieser Art. Dieser Be-
icht soll aufzeigen, wie die gemeinsamen Werte der EU
n der praktischen politischen Umsetzung in den Men-
chenrechtsbereich Eingang finden.
Des Weiteren verdeutlicht dieser Jahresbericht aber
uch vorhandene Defizite und damit auch einen Hand-
ungsbedarf für die europäische Menschenrechtspolitik.
nter zwei Gesichtspunkten ist die Darstellung der Men-
chenrechtslage im Bericht 2004 allerdings von beson-
erer Bedeutung:
Zum Ersten ist dieser Bericht der erste seiner Art, der
ie Zusammenarbeit von 25 Mitgliedstaaten der Euro-
äischen Union beschreibt, also auch die mit den zehn
euen Mitgliedstaaten, die in dem Bericht insgesamt
her kritisch bewertet werden. Ich denke auch an die in
nserem Antifolterantrag genannten Länder im Balti-
um, die noch bestimmte Abkommen ratifizieren müs-
en, um gewisse Kriterien erfüllen zu können. Der Be-
icht beinhaltet eine breitere Diskussionsgrundlage und
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13523
)
)
Christoph Strässer
verleiht dem europäischen Streben nach universeller
Einhaltung der Menschenrechte noch mehr Gewicht in
der Welt.
Zum Zweiten hat sich im Berichtszeitraum leider wie-
derum gezeigt, dass die terroristische Bedrohung vor
Europa als Anschlagsziel keinen Halt gemacht hat. Ins-
besondere die Anschläge in Madrid zu Beginn dieses
Jahres haben uns mehr als deutlich vor Augen geführt,
wie verletzlich unsere offenen demokratischen Gesell-
schaften tatsächlich sind. Die EU hat am 25. März 2004
die Erklärung zum Kampf gegen den Terrorismus gebil-
ligt. Die Erklärung macht unmissverständlich deutlich,
dass terroristische Handlungen Anschläge gegen die
Grundwerte der Union sind. Die Union hat zudem versi-
chert, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um im Ein-
klang mit den Grundprinzipien und den Verpflichtungen
im Rahmen der Resolution 1373 des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen alle Formen des Terrorismus zu be-
kämpfen.
Dem stimmen wir natürlich ausdrücklich zu. Die
große Herausforderung, die sich der deutschen und der
europäischen Menschenrechtspolitik in dieser schwieri-
gen weltpolitischen Lage und gerade in Zeiten dieses
globalen Terrorismus aber stellt, ist die Verteidigung der
Menschenrechte. Die Preisgabe oder auch die unverhält-
nismäßige Einschränkung von Menschenrechten wären
bereits ein Sieg der Terroristen über den Rechtsstaat, zu
dessen Verteidigung gerade wir aufgerufen sind.
Deshalb sage ich bei allem Grundkonsens über die
Bedeutung präventiv wirkender Maßnahmen im eigenen
Land und in der EU, gerade auch mit Blick auf die jüngst
bekannt gewordene Entscheidung des Ministerrates der
Innenminister über die Einführung so genannter bio-
metrischer Daten in die Pässe von mehr als
450 Millionen EU-Bürgern: Bei all diesen Maßnahmen
muss die Balance zwischen Sicherheitsaspekten und der
Bewahrung der Freiheitsrechte gewahrt bleiben. Eine
Ausuferung auch in unseren eigenen Ländern, wie bei-
spielsweise die durch das Bundesverfassungsgericht ge-
rügte Abhörpraxis durch Behörden, oder die Beschnei-
dung der Rechte nationaler Parlamente und auch des
EU-Parlaments selbst dürfen wir als Menschenrechts-
politiker und Parlamentarier gerade in diesen höchst sen-
siblen Bereichen nicht klaglos hinnehmen. Das sollten
wir an dieser Stelle auch in Zukunft deutlich machen.
Wir unterstützen nachhaltig die Forderung des
Berichts der Kommission, dass die Bekämpfung des Ter-
rorismus niemals mit einer Missachtung der Menschen-
rechte einhergehen darf. Die Terrorismusbekämpfung
muss entsprechend internationaler Menschenrechtsvor-
schriften vorgehen. Gerade hier besteht die existenzielle
Gefahr der Aufweichung rechtsstaatlicher Grundprinzi-
pien.
Tschetschenien, Guantanamo und andere Problemfel-
der sprechen eine deutliche Sprache. Wie ich gehört
habe, fahren Herr Funke und Rudolf Bindig mit nach
China. Nicht nur aus diesem Grunde bin ich ganz sicher,
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Aufgrund der weltpolitischen Lage und der damit ver-
undenen Angst der Menschen stehen sicher geglaubte
echtsprinzipen und Menschenrechte zur Disposition.
s wird der unbegreifliche Versuch unternommen, Leid
egen Leid aufzuwiegen. Diese Entwicklung macht auch
ie derzeitige innenpolitische Folterdebatte sehr fühlbar,
u der an dieser Stelle bereits alles Nötige gesagt worden
st.
Das Bestreben der EU, den Kampf gegen Rassismus,
iskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz
eiter voranzutreiben, wird von uns ohne Abstriche un-
erstützt. Dies gilt gerade für einen Bereich, der dankens-
erterweise im Bericht angesprochen wird, nämlich die
ituation ethnischer Minderheiten, insbesondere von
oma und Sinti, in Beitrittsländern, aber auch im
osovo und in Serbien. Ich konnte mir anlässlich einer
eise für den Menschenrechtsausschuss ein sehr persön-
iches Bild der Situation in Teilen dieser Länder machen,
o Menschen seit 1999 in Camps mehr vegetieren als le-
en, deren Lebenssituation nur als desaströs bezeichnet
erden kann, und wo von einer Einhaltung menschen-
echtlicher Standards, unabhängig von der Sicherheits-
age, wirklich nicht mehr geredet werden kann.
Deshalb ist mein Fazit dieser Reise – ich werde das
och an anderer Stelle ausführlich darstellen – sehr klar
nd eindeutig – das sage ich bei vollem Bewusstsein und
erstand –: Aus menschenrechtlicher Sicht sind Rück-
ührungen solcher Minderheiten unter den obwaltenden
edingungen in Lagern wie in Obilic, Mitrovica, Vush-
ri, Nis und in Novi Sad, die sich in der Wojwodina ver-
chärfen, jetzt und in absehbarer Zeit nicht zu verant-
orten. Das sage ich an dieser Stelle ganz deutlich.
In diesem Sinne möchte ich meinen Beitrag mit dem
unsch beenden, dass die höhere Anzahl von Mitglied-
taaten der EU, die sich diesen menschenrechtlichen
tandards verpflichtet haben, tatsächlich zu einer
13524 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Christoph Strässer
Stärkung der Menschenrechte in der Welt insgesamt bei-
tragen wird.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Melanie Oßwald.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine
Heimatstadt Nürnberg ist die Stadt der Menschenrechte.
So freue ich mich besonders, dass wir heute eine Debatte
zum Tag der Menschenrechte führen und ich an dieser
Debatte mitwirken kann.
Wir sollten uns immer wieder aufs Neue die Bedeu-
tung der Menschenrechte in Erinnerung rufen. Wir müs-
sen uns bewusst werden, in wie vielen Regionen dieser
Erde Menschenrechte immer noch massiv missachtet
werden. Menschenrechte kommen jedem Menschen al-
lein aufgrund seines Menschseins zu, also unabhängig
von der ethnischen und sozialen Zugehörigkeit, der
Staatsangehörigkeit und dem Geschlecht. Zum Schutz
der Menschenrechte wurde unter dem Dach der UNO in
den vergangenen 60 Jahren ein beeindruckendes Netz
von Menschenrechtsverträgen entwickelt. Um die Ein-
haltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen in diesem
Bereich zu überwachen, entstand zusätzlich ein umfang-
reiches Schutzsystem. Allen Verträgen und Kontrollme-
chanismen zum Trotz werden dennoch täglich weltweit
Menschenrechte verletzt.
Am Beispiel Nepals wird dies deutlich. Obwohl die
nepalesische Regierung verschiedene Menschenrechts-
pakte der Vereinten Nationen unterzeichnet und ratifi-
ziert hat, kommt es immer wieder zu massiven Verstö-
ßen gegen die Menschenrechte. Die hohen Erwartungen
an die demokratische Revolution von 1990 wurden hier
leider nicht erfüllt. Es wurden zwar einige Verbesserun-
gen im Bereich der Menschenrechte erreicht, aber der
seit fast acht Jahren anhaltende Konflikt zwischen der
Regierung und den Maoisten hat die Lage der Men-
schenrechte in den letzten Jahren wieder massiv ver-
schlechtert.
In dieser Zeit forderte dieser Konflikt mehr als
10 000 Menschenleben. Seit der Auflösung des Parla-
ments 2002 gibt es zudem keine demokratisch gewählte
Volksvertretung mehr. Stattdessen regieren vom König
eingesetzte Vertreter. Die maoistischen Aufständischen
fordern eine Abschaffung des Königtums und eine Um-
wandlung Nepals in eine kommunistische Volksrepublik.
Seit dem Ende des Waffenstillstandes im vergangenen
Jahr häufen sich Verstöße gegen die Menschenrechte auf
beiden Seiten. So werden Maoisten für zahlreiche
Tötungen und Hinrichtungen von Sicherheitskräften ge-
nauso wie von Zivilisten verantwortlich gemacht. Auch
Entführungen und Folter von Gefangenen und Entführ-
ten gehen auf ihr Konto. Laut Amnesty International
kommt es aufseiten der Maoisten regelmäßig zu Entfüh-
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Die VN-Anti-Folter-Konvention wurde von der nepa-
esischen Regierung unterzeichnet und ratifiziert. Die
undesregierung muss endlich die nepalesische Regie-
ung nachdrücklich an die daraus entstehenden Ver-
flichtungen erinnern.
inzu kommen Menschenrechtsverletzungen wie Ver-
ammlungs- und Demonstrationsverbote, Diskriminie-
ungen von Angehörigen bestimmter Kasten und von
rauen. Ein großes Problem stellt zudem der ausge-
rägte Menschenhandel mit Frauen und Mädchen nach
ndien dar. Besonders die Pressefreiheit lässt zu wün-
chen übrig. Wie die Organisation „Reporter ohne Gren-
en“ berichtet, wurden 2003 in keinem Land der Welt so
iele Journalisten verhaftet wie in Nepal.
Es ist erschreckend, dass der gewalttätige Konflikt
wischen Regierung und Maoisten und die damit einher-
ehenden Verletzungen der Menschenrechte internatio-
al kaum Beachtung finden. Ich möchte die heutige De-
atte dazu nutzen, um darauf aufmerksam zu machen.
ie massive Verschlechterung der Menschenrechtssitua-
ion in Nepal wird eklatant unterschätzt und verharmlost.
eshalb ist es wichtig, die internationale Aufmerksam-
eit wieder auf diese Region zu richten.
Die Bundesregierung muss in diesem Konflikt end-
ich aktiv werden und gemeinsam mit den EU-Partnern
uf eine Vermittlung zwischen der nepalesischen Regie-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13525
)
)
Melanie Oßwald
rung und den Maoisten drängen. Sie hat es bisher auch
versäumt, sich intensiv für die Wiederherstellung der de-
mokratischen Grundsätze einzusetzen. Die seit zwei Jah-
ren aufgeschobenen Neuwahlen zu einem demokrati-
schen Parlament müssen endlich durchgeführt werden.
Die Bundesregierung sollte gezielt die deutsche Ent-
wicklungshilfe nutzen, um diesen Prozess zu fördern.
Die Menschenrechte sind zu wichtig, als dass wir deren
Einhaltung dem Zufall überlassen dürften.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika Graf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder
regionale und inhaltliche Schwerpunkte gesetzt. So ha-
ben uns zum Beispiel die Entwicklungen nach dem
11. September 2001 nicht nur zu einer nachhaltigen Be-
schäftigung mit der Situation in Afghanistan veranlasst,
sondern auch zu der Auseinandersetzung mit dem The-
menbereich „Menschenrechte und Islam“. Ich erinnere
an die exzellente Anhörung, die wir in diesem Zusam-
menhang durchgeführt haben. Herr Funke hat sie bereits
erwähnt. Sie hat sich durch ihre wissenschaftliche Sach-
lichkeit wohltuend von der oft sehr oberflächlichen und
populistischen Sichtweise mancher Medien abgehoben.
Im Jahr 2004 hat sich der Ausschuss schwerpunktmä-
ßig mit der Entwicklung in Afrika befasst. Auch hierzu
wurde eine viel beachtete Anhörung zum Thema „Die
menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen
im Kontext von Gewaltökonomien in Afrika“ durchge-
führt. In dieser Anhörung wurde das Verderben brin-
gende Zusammenspiel von international subventionier-
ten Diktaturen, der Implosion staatlicher Strukturen, der
privaten Bereicherung durch verbrecherische Netzwerke
und dem Entstehen neuer Kriege deutlich gemacht. Die
Verantwortung international agierender Wirtschaftsun-
ternehmen wurde überdeutlich. Viele Erkenntnisse aus
dieser Anhörung lassen sich leider auch auf andere Re-
gionen übertragen. Das Protokoll aller Anhörungen kann
übrigens im Internet auf der Ausschusswebsite abgeru-
fen werden.
Die Anträge, die wir im Menschenrechtsbereich bear-
beiten, beschäftigen sich aus gutem Grund selten mit der
Situation in einzelnen Ländern. Viele Menschenrechts-
verletzungen müssen unter globalen Aspekten themati-
siert werden. Das machen nicht nur die erwähnten Anhö-
rungen deutlich, sondern auch der Antrag der Union zur
Presse- und Meinungsfreiheit im Internet, auf den ich
heute wegen der Kürze der Redezeit leider nicht näher
eingehen kann. Aber es gibt Ausnahmen von der Regel.
Eine davon war aus nachvollziehbaren Gründen Afgha-
nistan. Die Situation der Frauen dort hat uns in den letz-
ten Jahren mehrfach beschäftigt.
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– „Weltweit“ haben Sie gesagt, Herr Haibach. Aber es
stimmt. – Er wird – da bin ich ganz sicher – den Bundes-
kanzler auf seiner Chinareise mit diesen Themen kon-
frontieren, wenn er ihn begleitet. Ich nehme an, dass
auch Herr Funke und Frau Vollmer dies tun werden.
Herr Haibach, ich denke daher, dass Ihr geäußertes
Misstrauen nicht ganz gerechtfertigt ist, insbesondere
was das Engagement unserer Kolleginnen und Kollegen
in diesem Bereich betrifft.
Herzlichen Dank.
Danke schön. – Jetzt hat der Abgeordnete Klaus-
Jürgen Hedrich als letzter Redner in dieser Debatte das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Graf, Sie
haben es uns jetzt schwer gemacht, am Schluss Ihrer
Rede zu klatschen; ich hatte mich gerade darauf vorbe-
reitet. Aber ich fand Ihre Ausführungen sehr angemes-
sen; das wollte ich Ihnen gesagt haben.
Die gängige These lautet, dass es bei Menschenrech-
ten keine Kompromisse geben sollte. Aber wie sehen ei-
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Für unsere Fraktion seien stellvertretend genannt:
rsula Männle, die heute Mitglied des Bayerischen
andtags ist – sie ist sehr wohl zu nennen, Frau Schewe-
erigk –, Irmgard Karwatzki, die heute noch sprechen
ird, Susanne Rahardt-Vahldieck, die Berichterstatterin
u Art. 3 des Grundgesetzes in der damaligen Gemeinsa-
en Verfassungskommission, Claudia Nolte, die dama-
ige frauen- und jugendpolitische Sprecherin unserer
raktion, Maria Böhmer, die damals Vorsitzende des
undesfachausschusses Frauenpolitik war und heute
13528 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
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Annette Widmann-Mauz
stellvertretende Vorsitzende unserer Fraktion im Deut-
schen Bundestag ist, aber eben auch und ganz selbstver-
ständlich unsere Partei- und Fraktionsvorsitzende
Dr. Angela Merkel, die damals Bundesministerin für
Frauen und Jugend war.
Sie alle haben sich damals mit sehr viel Herz, Mut und
Durchsetzungskraft für unsere Sache eingesetzt.
Erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte
wurde mit dieser Ergänzung der Staat verpflichtet, aktiv
die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung
von Frauen und Männern zu fördern. Erstmals wurde es
ihm zur Aufgabe gemacht, von sich aus auf die Beseiti-
gung bestehender Nachteile hinzuwirken.
Rot-Grün hat den zehnten Jahrestag dieser wichtigen
Ergänzung des Grundgesetzes in diesem Jahr wohl
schlicht vergessen.
Das finde ich sehr schade, weil gerade dieses Datum für
uns Frauen insgesamt ein sehr wichtiges ist. Wir Frauen
von der Union haben dieses Jubiläum in unseren Reihen
durchaus begangen. Wir haben im besten Sinne des Wor-
tes in der Vergangenheit geblättert und Zukunftsperspek-
tiven diskutiert.
Die Zeiten haben sich verändert, aber die Grundpro-
bleme sind doch dieselben geblieben. Der Zeitgeist ist
zwar schon lange nicht mehr so kämpferisch frauenbe-
wegt, wie das früher der Fall war. Gleichberechtigte
Partnerschaft lautet heute das Schlüsselwort. Die meis-
ten Frauen möchten sich nicht mehr gegen die Männer
emanzipieren, sie wollen partnerschaftliches Miteinan-
der, und dies auf Augenhöhe. Junge Frauen formulieren
ihre Probleme heute nicht mehr so grundsätzlich, wie es
ihre Mütter taten. Sie haben häufiger eine qualifizierte
Ausbildung oder Hochschulbildung und qualifizierte
Jobs, die denen ihrer männlichen Altersgenossen nur
noch im Verdienst nachstehen, und stellen sich deshalb
die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie
durchschnittlich immer später oder eben – das beweist
die hohe Zahl kinderloser Akademikerinnen – leider oft
gar nicht mehr.
Irgendwann kommt fast immer der Punkt, an dem
Ziele und Vorstellungen auf die altbekannten Reibungs-
punkte stoßen, nämlich ungleiches Gehalt, Beschrän-
kung auf typische Frauenbereiche, keine ausreichend
guten Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Erwerbstä-
tigkeit und Familie, gläserne Decken auf dem steinigen
Weg in Führungspositionen und viel zu wenig Familien-
freundlichkeit. Trotz einiger Bereiche, in denen junge
Frauen spektakuläre Erfolge erzielen – so beim Bil-
dungs- und Ausbildungsniveau oder beim Einstieg ins
Berufsleben –, hat bislang noch immer kein wirklicher
Wandel in den Machtstrukturen und in der Arbeitsplatz-
organisation stattgefunden.
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Wir von der CDU/CSU teilen die Zielsetzungen der
tärkung der Frauenerwerbstätigkeit oder des Ausbaus
on Möglichkeiten zur ganztägigen Kinderbetreuung.
och, meine Damen und Herren, der Weg zum Ziel ist
ntscheidend: Er muss gangbar, realistisch und finan-
ierbar sein, denn wir wollen unsere Zukunft nicht auf
and bauen. Sie hängen teilweise leider jedoch nach wie
or gesetzgeberischen Wunschträumen nach und haben
eine schlüssigen Finanzierungskonzepte, was am Ta-
esbetreuungsausbaugesetz wieder einmal deutlich
urde.
Außerdem müssen unterschiedliche Lebensentwürfe
on Frauen besser berücksichtigt werden. In den Koali-
ionsfraktionen neigt man immer noch dazu, Frauen, die
ich ausschließlich um die Familie kümmern, am Weges-
and stehen zu lassen. Das wird es mit der Union nicht
eben.
Achten Sie bitte auf die Zeit. Es wäre jetzt Zeit für
en Schlusssatz.
Jawohl. – Wie damals brauchen wir heute passgenaue
nd zeitgemäße Konzepte. Moderne Gleichstellungspo-
itik ist gestern wie heute eine gesamtgesellschaftliche
ufgabe. Es gilt, die Strukturen zu verändern und über-
olte Rollenbilder zu hinterfragen, jedoch nicht um den
reis, diese durch neue, quasiverbindliche Rollenbilder
u ersetzen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13529
)
)
Annette Widmann-Mauz
Die Herausforderungen moderner Gleichstellungspo-
litik können zudem nur im Geschlechterkonsens erfolg-
reich gemeistert werden. Darauf sollten wir uns in Zu-
kunft stärker konzentrieren. Lassen Sie uns gemeinsam
die Gleichstellungspolitik aus ihrer Nische herausholen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Humme.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-
nen! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen von der CDU/
CSU, Sie legen heute einen Antrag vor, der mir tatsäch-
lich Hoffnung für Ihre Fraktion gibt. Schließlich haben
Sie in Ihrer Fraktion mit nur 23 Prozent immer noch den
geringsten Frauenanteil. Auch das könnten Sie mithilfe
Ihres Antrags ändern.
– Die haben wir auch. Das ist gar keine Frage.
Leider muss ich Ihnen, Frau Widmann-Mauz, sagen,
dass die heutige aktuelle Nachricht lautet: Herr Oettinger
und nicht Frau Schavan liegt in Baden-Württemberg
vorn. Das ist auch ein Beispiel dafür, wie stark das
Gleichstellungskonzept in der CDU/CSU wirkt.
Aber jetzt zur Sache und zu Ihrem Antrag, Frau
Widmann-Mauz: Viele der Forderungen und Analysen
aus Ihrem Antrag kann ich durchaus teilen und unterstüt-
zen. Aber wie so oft ist Papier sehr geduldig und wie bei
vielen anderen Ihrer Politikfelder vermisse ich ein biss-
chen Fleisch in der Suppe und frage: Wie kann man das,
was Sie in Ihrem Antrag fordern, eigentlich umsetzen?
Was ist Ihr Konzept?
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen von der CDU/
CSU, Sie fordern eine konsequente Umsetzung von
Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes, das heißt einen höhe-
ren Stellenwert der Gleichstellungspolitik in der Gesell-
schafts- und Wirtschaftspolitik. Das unterstreichen wir
dreimal. Das empfinden wir genauso.
Weiter heißt es – das ist für die CDU/CSU ein Riesen-
fortschritt –: Wir möchten Gender Mainstreaming als
Konzept umsetzen. Dazu sagen wir: Gut so! Weiter so!
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Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen von der CDU/
SU, Sie fordern die Umsetzung von Gender Mainstrea-
ing. Das ist wunderbar. Aber Sie schreiben gleichzei-
ig, dass Sie es „angemessen“ und ohne „Bürokratie“
msetzen möchten.
as bedeutet das im Zusammenhang mit dem Thema
leichstellung? Gender Mainstreaming heißt, dass wir
edes Gesetz, das wir auf den Weg bringen, darauf über-
rüfen, wie es auf Männer und Frauen wirkt, ohne eine
er beiden Gruppen in irgendeiner Form zu benachteili-
en. Ist das für Sie Bürokratie? Gender Mainstreaming
ird in die Personalpolitik der Bundesbehörden aufge-
ommen und die Mitarbeiter werden geschult, damit sie
ach diesem Prinzip überhaupt handeln können. Ist das
ür Sie Bürokratie?
In Ihrem Antrag stellen Sie eine Menge richtiger For-
erungen, aber gleichzeitig schränken Sie Ihre Forderun-
en wieder ein. Ihr Antrag erinnert mich ein bisschen an
ie Echternacher Springprozession: ein Schritt vor und
wei Schritte zurück. Das brauchen Männer und Frauen
uf keinen Fall. Was sie brauchen, sind konsequente
chritte nach vorn, hin zu mehr Gleichstellung. Wir sind
iese Schritte gegangen, liebe Kollegen, liebe Kollegin-
en.
Seit 1999 gibt es das Programm der Bundesregierung
Frau und Beruf“.
ender Mainstreaming ist seitdem in der Geschäftsord-
ung der obersten Bundesbehörden verankert. Seit 2001
ilt dieses Prinzip dank unseres Gleichstellungsdurchset-
ungsgesetzes auch für den öffentlichen Dienst des Bun-
es und seit der letzten Woche gibt es das Gleichstel-
ungsgesetz für die Bundeswehr. All das sind ganz
13530 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Christel Humme
konkrete und konsequente Schritte hin zu mehr Gleich-
stellung.
Meine Herren und Damen von der CDU/CSU, mit Ih-
rem Antrag fallen Sie leider hinter unsere tatsächliche
Gleichstellungspolitik zurück. „Rolle rückwärts“ ist of-
fensichtlich das Konzept. Das möchte ich Ihnen bewei-
sen. In Ihrem Antrag fordern Sie weiterhin „die Wahl-
freiheit von Frauen und Männern zwischen Beruf und
Familie“. Das klingt erst einmal gut. „Wahlfreiheit“ ist
ein schöner Begriff. Aber uns reicht das auf keinen Fall.
Denn wir wollen nicht die Entscheidung „zwischen Be-
ruf und Familie“.
Diese Entscheidung hatten Männer und Frauen in den
letzten 50 Jahren schon immer – in der Regel mit dem
Ergebnis: Die Frau bleibt zu Hause und versorgt die Kin-
der; der Mann hat den Beruf.
Wir wollen eine echte Wahlentscheidung für Beruf
und Familie, für Frauen und Männer.
Das ist der Unterschied zu Ihrem Antrag.
– Wir sind damit in der Realität, Frau Widmann-Mauz.
Wir wissen: 80 Prozent der jungen Männer und
Frauen und 71 Prozent der Frauen mit Kindern wollen
beides, Beruf und Familie.
Wir schaffen die Rahmenbedingungen, damit Männer
und Frauen ihre Lebensentwürfe verwirklichen können.
Darum haben wir einen Anspruch auf Teilzeit für
Männer und Frauen durchgesetzt. Sie haben das abge-
lehnt. Wir haben das Tagesbetreuungsausbaugesetz für
Kinder unter drei Jahren auf den Weg gebracht.
Wir werden schauen, wie Sie sich im Bundesrat verhal-
ten werden. Werden Sie wieder ablehnen? Warum sper-
ren Sie sich die ganze Zeit gegen unser Ganztagsschul-
programm, für das wir den Ländern 4 Milliarden Euro
zur Verfügung stellen?
Hier zeigt sich wieder einmal, wie widersprüchlich Ihre
Politik eigentlich ist.
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lockade, das scheint Ihre Politik zu sein.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, meine Damen und
erren von der CDU/CSU, Gesetze und Rahmenbedin-
ungen reichen nicht aus – das wissen wir alle –, um für
leichstellung von Männern und Frauen zu sorgen. Wir
üssen – das gehört dazu – Mentalitäten ändern, für eine
ndere Unternehmenskultur werben und Frauen ermuti-
en, sich gegen Benachteiligungen zur Wehr zu setzen.
ie Umsetzung der europäischen Gleichstellungsrichtli-
ien in einem Antidiskriminierungsgesetz wird im
ächsten Jahr dafür sorgen, dass Frauen ihre Rechte
ahrnehmen können. Das ist ein wichtiger Meilenstein,
en wir nächstes Jahr setzen werden. Das sind die nächs-
n konsequenten Schritte, die wir gehen, um Gleichstel-
ng von Frauen und Männern zu verwirklichen.
Neben den verbesserten Rahmenbedingungen brau-
hen wir Veränderungen in den Köpfen. Lassen Sie uns
afür gemeinsam kämpfen! Nicht länger darf das männ-
iche Lebensmodell der Maßstab sein, an den sich die
rauen anzupassen haben. Das schwingt in Ihrem Antrag
eider immer noch ein bisschen mit. Wir brauchen neue
ebensmodelle, die Männern und Frauen die gleichen
echte geben. Dann sind wir einen ganz wichtigen
chritt zur Gleichstellung hin weitergekommen. An die-
er Stelle, Frau Widmann-Mauz, nehme ich gerne Ihren
ntrag auf. Kämpfen wir darum weiter, und zwar ge-
einsam!
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sibylle Laurischk.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
erren! Vor zehn Jahren hat der Deutsche Bundestag mit
er Novellierung von Art. 3 des Grundgesetzes zum
usdruck gebracht, dass es mit der reinen Feststellung
Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ nicht getan
st. Die Forderung nach „Durchsetzung der Gleichbe-
echtigung“ und Hinwirken auf „die Beseitigung beste-
ender Nachteile“ brachte zum Ausdruck, dass Struktur-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13531
)
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Sibylle Laurischk
veränderungen zur Erreichung des Ziels der
Gleichberechtigung von Männern und Frauen notwendig
sind. Eine Bestandsaufnahme über die Auswirkungen
von Art. 3 Abs. 2 ist also sinnvoll.
Trotz guter Ausbildungen schaffen es nach wie vor
nur unterdurchschnittlich wenige Frauen in die Füh-
rungsetagen großer Unternehmen. Auch an den Univer-
sitäten bleiben sie weiter im so genannten Mittelbau hän-
gen und sind bei den Ordinarien unterdurchschnittlich
vertreten. Im internationalen Vergleich mit Frankreich,
den skandinavischen Ländern, aber auch den USA sind
wir in dieser Hinsicht weit abgeschlagen.
Nicht zuletzt die politischen Parteien sind gefordert,
Frauen mit mehr Selbstverständlichkeit zur Mitarbeit zu
motivieren. Da nehme ich meine eigene Partei nicht aus.
Als Badenerin beobachte ich natürlich den Wettbewerb
der beiden Kandidaten um das Amt des Ministerpräsi-
denten in Baden-Württemberg und die sich daraus mög-
licherweise ergebenden Folgen für die Positionierung
von Frauen in Spitzenämtern in der Union.
Auch im Erwerbsleben muss sich der Gleichberech-
tigungsgedanke widerspiegeln. Hier sind die Tarifpar-
teien in besonderer Weise gefordert, indem gleiche oder
gleichwertige Arbeit auch gleich zu bezahlen ist und
keine unterschwellige Ausgrenzung von Frauen mehr
stattfinden darf. Parallel hierzu sind eine gute berufliche
Ausbildung und eine Veränderung des betrieblichen Kli-
mas auch für Frauen bzw. für Eltern, die nach einer
Phase der Kinderbetreuung wieder in den Beruf zurück-
kehren wollen, Voraussetzung für die Verbindung von
Elternschaft und Berufstätigkeit.
Die rückläufige Geburtenrate in Deutschland ergibt
sich nicht nur aus der Tatsache, dass 40 Prozent aller
Akademikerinnen keine Kinder mehr haben, sondern
auch aus der noch höheren Zahl von Männern, die sich
entscheiden, keine Kinder haben zu wollen. Zum einen
wäre eine verlässliche Kinderbetreuung auch für Kinder
unter drei Jahren und im Schulalter, die staatlicherseits
Angebot, aber für die Eltern nicht Verpflichtung ist, eine
wesentliche Voraussetzung für die Teilhabe von Eltern
am Erwerbsleben. Ich verweise auf die jetzt auch seitens
der OECD attestierte gute Infrastruktur der Kinderbe-
treuung in den neuen Bundesländern, ein Faktor, wes-
halb in der Umgebung Berlins Familien mit Kindern be-
vorzugt wohnen.
Im Rahmen der anstehenden Unterhaltsrechtsreform
wird es notwendig sein, die wirtschaftliche Eigenverant-
wortung von Frauen zu stärken. Die gerade von Män-
nern beklagte Belastung mit Unterhaltsverpflichtungen
ist dann änderbar, wenn Frauen und Mütter eine eigene
berufliche Erwerbsperspektive haben und die dafür not-
wendigen Voraussetzungen im Rahmen der Kinderbe-
treuung geschaffen werden.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Män-
er und Frauen sind gleichberechtigt.“ Für diesen
cheinbar so selbstverständlich klingenden Satz in Art. 3
es Grundgesetzes haben die Mütter des Grundgesetzes
nd allen voran die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert
art kämpfen müssen. Waschkörbe voller Briefe aus der
ivilgesellschaft waren nötig, damit dieser Satz 1949 in
as Grundgesetz aufgenommen wurde.
1994 gelang es ein zweites Mal, Frauenrechte im
rundgesetz zu verankern. Die tatsächliche Durchset-
ung der Gleichberechtigung als Staatsziel wurde festge-
chrieben. Auch diesmal war dies nur durch die Zusam-
enarbeit der Frauen innerhalb und außerhalb des
13532 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Irmingard Schewe-Gerigk
Parlamentes möglich. Ohne Frauen ist eben kein Staat zu
machen.
Das musste letztendlich und sehr spät auch die dama-
lige Frauenministerin Angela Merkel einsehen, obwohl
sich die Sprecherin der Frauen der CDU/CSU, Ursula
Männle, vehement gegen die Festschreibung als Staats-
ziel aussprach. Frau Karwatzki, die hier ist, hatte – da-
rauf will ich hinweisen – eine andere Position. Parado-
xerweise bedurfte es der Unterstützung von CDU-Män-
nern wie Christian Wulff, um in letzter Minute gemein-
sam mit den Frauen den Durchbruch zu erreichen.
Ob es auch daran liegt, dass Sie in Ihrem Antrag einen
so verklärten Blick auf die Vergangenheit haben? Sie be-
haupten, entscheidende Weichenstellungen in der
Frauen- und Familienpolitik würden Ihre Handschrift
tragen und seit der Übernahme der Regierung durch Rot-
Grün stagniere diese Entwicklung.
– Kein Mensch glaubt Ihnen das, Frau Widmann-Mauz.
Ich finde dies schon ziemlich dreist. Wenn ich mir
Ihre Weichenstellungen in 16 Jahren Regierungszeit so
ansehe, finde ich das, was Sie durchgesetzt haben, ziem-
lich mager. Ich erkenne ja an, dass Sie gesetzliche Rege-
lungen im Hinblick auf die Gleichberechtigung einge-
führt haben. Das alles war aber doch sehr halbherzig,
weil Sie die konservativen Kräfte Ihrer Fraktion nicht
hinter sich bringen konnten.
Das ist natürlich auch ein Problem. Nicht umsonst haben
die Frauen 1998 und 2002 Rot-Grün zum Erfolg verhol-
fen. Sie identifizierten sich mit dem Gesellschaftsbild
von Rot-Grün und lehnten Ihre damalige Heim-und-
Herd-Politik ab. Wir wollen eine moderne Geschlechter-
politik; Sie wollen einen modernen Herd.
Das, was Sie gemacht haben, war stark reformbedürf-
tig. Nehmen wir das Zweite Gleichberechtigungsgesetz.
Es war so unverbindlich, dass es seine Wirkung ver-
fehlte. 1998 waren zwar 45 Prozent der im Bundesdienst
Beschäftigten Frauen. Auf der Leitungsebene aber wa-
ren sie seltene Exemplare. Unser 2001 in Kraft getrete-
nes Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz – es könnte
einen schöneren Namen haben; das finde auch ich – ent-
hält demgegenüber verbindliche Instrumente wie zum
Beispiel die Leistungsquote. Sie hat dafür gesorgt, dass
schon vier Jahre nach In-Kraft-Treten der Anteil der Re-
feratsleiterinnen von 10 auf 16 Prozent und der der Ab-
teilungsleiterinnen von 2 auf 12 Prozent anstiegen. Ich
füge hinzu: Die Quote gilt nur bei gleicher Eignung,
Leistung und Befähigung. Also, keine Sorge, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP,
besser qualifizierte Männer werden auch weiterhin ein-
gestellt und befördert. Es gibt sie ja auch tatsächlich.
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Auch die Regelungen zur Elternzeit haben wir mo-
ernisiert. Die von Ihnen im Antrag geforderte Wahlfrei-
eit existiert schon. Sie ist durch einen Rechtsanspruch
uf Reduzierung der Arbeitszeit für Väter und Mütter
ährend der dreijährigen Elternzeit abgesichert. Nur
üssen die Männer das auch annehmen, was wir ihnen
ier anbieten.
ch sehe aber einen Silberstreif am Horizont: 1998, als
ir die Regierung übernahmen, waren es 1,6 Prozent der
änner, die Erziehungszeit nahmen. Jetzt, nach der Ge-
etzesänderung, sind es 5 Prozent. Das ist mir natürlich
iel zu wenig; aber wenn Sie die Prozente hochrechnen,
st es ja doch schon viel.
Zwar hatten Sie damit begonnen, Erziehungs- und
flegezeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung an-
uerkennen. Dass eine Mutter, die wegen der Kinderer-
iehung teilzeitbeschäftigt ist oder ein niedriges Ein-
ommen hat, jetzt bis zum zehnten Lebensjahr des
indes den durchschnittlichen Rentenversicherungsbe-
rag auf ihr eigenes Rentenkonto angerechnet bekommt,
at aber Rot-Grün durchgesetzt.
ir haben auch dafür gesorgt, dass eine Frau, die bis zu
rei Jahre ein Kind betreut, jetzt einen Anspruch auf
rbeitslosengeld sowie auf alle Arbeitsfördermaß-
ahmen hat. Auch der Anteil der Wissenschaftlerinnen
n den Universitäten, die Sie in Ihrem Antrag auch er-
ähnen, hat sich seit 1998 stark erhöht. Allerdings sind
eitere gesetzliche Regelungen gerade für die außeruni-
ersitären Forschungseinrichtungen notwendig; denn sie
erfahren noch nicht so richtig nach dem Gesetz.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn
ie behaupten, das Prinzip von Gender Mainstreaming
ei in der Praxis bisher wirkungslos geblieben, so frage
ch mich, ob Sie die vielen Verbesserungen nicht kennen
der nicht kennen wollen. Ich nenne nur einige: die Ver-
esserungen für behinderte Frauen hinsichtlich einer
eruflichen Tätigkeit, die Riester-Rente, das Betriebs-
erfassungsgesetz, den Aufbau einer bundesweiten
ründerinnenagentur und das Gender Kompetenzzen-
rum. Das alles sind Maßnahmen, die die Situation der
rauen in bestimmten Politikfeldern ganz besonders be-
ücksichtigen. Derzeit prüfen wir, wie Gender Budgeting
ls besondere Form des Gender Mainstreaming in den
aushalt des Bundes eingeführt werden kann.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13533
)
)
Irmingard Schewe-Gerigk
Immer noch verdienen Frauen im Durchschnitt deut-
lich weniger als Männer und der Anteil von Frauen in
Führungspositionen hinkt europaweit hinterher, aber es
ist nicht einfach, die festgefahrenen Strukturen zu lo-
ckern.
Hinsichtlich der freiwilligen Vereinbarung zwischen
der Regierung und den Arbeitgeberverbänden zur Förde-
rung der Chancengleichheit in der Privatwirtschaft hatte
ich nie die Illusion, sie werde wirklich etwas bewegen.
Der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Rezzo
Schlauch, sieht es so – ich zitiere mit Genehmigung der
Präsidentin –:
Die freiwillige Selbstverpflichtung der Privatwirt-
schaft, die beruflichen Chancen von Frauen zu ver-
bessern, ist gescheitert. Das Gleichstellungsgesetz
muss wieder auf die Agenda.
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Ich komme zum Schluss: Die rechtliche Gleichstel-
lung haben wir in den letzten Jahren weitgehend er-
reicht. Bis zur tatsächlichen Gleichstellung von Mann
und Frau bedarf es aber noch großer Anstrengungen. Es
wäre schön, liebe Kolleginnen von der CDU/CSU, wenn
Sie sich daran beteiligten. Ich rufe Ihnen zu: Kommen
Sie in der Gegenwart und in der Realität der Frauen an!
Das beste Beispiel dafür – ich habe gerade solche Poli-
tikfelder angeführt – –
Frau Kollegin, Sie müssen wirklich zum Schluss
kommen. Es darf auch keine Beispiele mehr geben.
Nein. – Kollege Rüttgers aus Nordrhein-Westfalen
wird zum Bundesparteitag einen Änderungsantrag mit
der Begründung einbringen, er wolle ein neues Frauen-
bild für die CDU/CSU. Damit, dass es dafür endlich Zeit
wird, hat der Mann vollkommen Recht.
Das Wort hat die Kollegin Irmgard Karwatzki, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit
einer kleinen Episode beginnen. In der vorigen Woche
machte ein junger Kollege auf die Frage, ob auch Frauen
im Parlamentarischen Rat gewesen seien, einen halblau-
ten Zwischenruf: Eine! Freundschaftlich korrigierte ich
ihn, es seien vier gewesen.
Wenn er heute hier wäre, könnte er lernen, wer diese
vier gewesen sind: zwei von der SPD, die schon ge-
nannte Elisabeth Selbert und Friederike Nadig, sowie
Helene Wessel vom Zentrum und Helene Weber von den
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Schon damals waren sich unsere Vorgängerinnen be-
usst, dass die Frage der Gleichberechtigung selbstver-
tändlich zum Komplex der Menschenrechte gehört. Sie
ämpften um ihren Standpunkt – dies hat die Kollegin
chewe-Gerigk gerade ausgeführt – und erreichten fol-
ende Verfassungsregelung im Grundgesetz:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt.
ber es blieb ein mühevoller Kampf; wir wissen, wie
chwierig der Weg zur tatsächlichen Teilhabe war. Man-
he Gesetze wurden im Bürgerlichen Gesetzbuch zu-
unsten der Frauen geändert. Aber was nützen die
chönsten Rechtsnormen, wenn sich in den Köpfen und
erzen der Mehrheit derer, die in den Machtzentren sit-
en, nichts oder nur wenig verändert?
Wir hatten das große Glück der Wiedervereinigung. Im
usammenhang damit wurde im Einigungsvertrag festge-
chrieben, eine gemeinsame Verfassungskommission
on Bundesrat und Bundestag einzusetzen. Viele, die
edenken in Bezug auf das alte Grundgesetz hatten, sa-
en jetzt die Möglichkeit, ihre Begehrlichkeiten festzu-
chreiben. Aber auch wir, die Frauen in allen Parteien
nseres Parlaments, erkannten darin die Stunde für eine
eränderung. Von den Kolleginnen aus den Fraktionen
urde bereits darauf hingewiesen. Unser damaliger Vor-
chlag wurde Verfassungswirklichkeit. Es trifft zu, dass
s bezüglich der Festschreibung unterschiedliche Mei-
ungen gab; aber es ist gelungen. Die jetzige Formulie-
ung ist ein sehr guter Kompromiss:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichbe-
rechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Ich meine, wir alle sollten einmal schauen, was da-
aus geworden ist. Zehn Jahre nach der Ergänzung des
rt. 3 des Grundgesetzes stellt sich uns heute die Frage,
ie diese Präzisierung in der Praxis aussieht und welche
efizite es gibt. Nachgegangen werden muss unter ande-
em der Frage, ob nicht auch die Zuwanderinnen aus
nderen Kulturkreisen an dem hiesigen Gleichberech-
igungsprozess zu beteiligen sind und warum sich Paral-
elgesellschaften bilden.
Ja. Ich darf das aber ausführen. Wenn wir uns gleich
lle einig sind, ist das eine tolle Sache. Ich muss meine
13534 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Irmgard Karwatzki
Überlegungen aber ausführen dürfen. Ich sage das ja
nicht vorwurfsvoll an eine Adresse.
– Nein, überhaupt nicht. Wenn ich einen Punkt setze, ist
das keine Frage. Lassen wir das jetzt so stehen. Sie wer-
den gleich merken, was ich sagen will.
Vor dem Hintergrund einer starken Zunahme von Fa-
milien mit Migrationshintergrund kommt der Frage der
Umsetzung des Gleichberechtigungsgebots des Grund-
gesetzes eine große Bedeutung zu. Tausende Muslimin-
nen leben in Deutschland unter dem Zwang des Patriar-
chats, eingesperrt in der Wohnung, hilflos gegen
männliche Gewalt und Zwangsverheiratung. Ohne
Chance auf Integration verschwinden sie in einer Paral-
lelwelt, die von fundamentalistischen Männern domi-
niert wird.
In einigen wichtigen Bereichen, in denen zurzeit Dis-
kussionen stattfinden, haben wir die Chance, gemeinsam
etwas für diese Frauen zu tun. Ich nenne den Kopftuch-
streit, die Zwangsverheiratung und die Situation, dass
türkische Eltern ihren Töchtern den Zugang zum Sport-
und Sexualunterricht in der Schule verweigern können.
Diese Fragestellungen dürfen wir nicht übersehen. Wir
müssen sie angehen.
Das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 2 des Grundge-
setzes gilt für alle, ungeachtet der Herkunft und der Reli-
gion. Frauen in Deutschland sollen nirgendwo diskrimi-
niert werden: nicht im Bildungsbereich, nicht im
Berufsleben, nicht im Gesundheitswesen und nicht in al-
len anderen Bereichen des wirtschaftlichen und sozialen
Lebens, nicht in der Ehe und nicht in der Familie. Verbo-
ten sind auch – darauf müssen wir immer wieder hinwei-
sen – Frauenhandel und Ausbeutung von Frauen durch
Prostitution. Wir alle müssen unser Augenmerk zukünf-
tig noch mehr auf diese Faktoren richten. Wir alle sind
diesen Frauen zur Solidarität verpflichtet.
Ich bitte Sie alle – das sage ich auch an unsere
Adresse – gemeinsam etwas für die Frauen auf den Weg
zu bringen, damit im Interesse von Frauen und Kindern
ein wenig mehr Frieden in die Familien einkehren kann.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Renate Gradistanac, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Anfang des Jahres 1995 schreibt eine Leser-
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o
enn Ihre Spitzenpolitikerinnen haben leider häufig da-
it zu kämpfen. Frau Schavan wird unterstellt, sie sei les-
isch. Frau Merkel wird seit Jahren auf ihr Äußeres ange-
prochen. Für mich bzw. für uns ist das diskriminierend.
Das Spektrum der Gewalt gegen Frauen ist breit. Es
eicht von Übergriffen im Berufsleben und Belästigun-
en auf der Straße über vielfältige Formen der Missach-
ung, der Misshandlung und der sexuellen Ausbeutung
is hin zu Vergewaltigungen und Tötungen. Die SPD-
eführte Bundesregierung hat die Rechte der Frauen
eutlich gestärkt. Beispielhaft nenne ich das Programm
Frau und Beruf“, den Aktionsplan zur Bekämpfung der
ewalt gegen Frauen und das Aktionsprogramm zum
chutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung. Als wich-
ige Bestandteile des Aktionsprogramms zum Schutz der
rauen vor Gewalt sind die Prävention, das Strafrecht,
as Gewaltschutzgesetz sowie Beratungs- und Hilfsan-
ebote zu nennen. Bei den letztgenannten Beispielen be-
arf es gewaltiger Anstrengungen vor Ort.
Drei wichtige Studien sind kürzlich veröffentlicht
orden: eine Pilotstudie zur Gewalt gegen Männer, eine
egleitforschung der Interventionsprojekte gegen häusli-
he Gewalt und die erste repräsentative Untersuchung zur
ewalt gegen Frauen. Sie zeigt auf, dass 40 Prozent der
efragten Frauen körperliche und/oder sexuelle Gewalt
rlebt haben. Mindestens jede vierte Frau im Alter von
6 bis 85 Jahre, die in einer Partnerschaft gelebt hat, hat
örperliche und/oder sexuelle Übergriffe durch aktuelle
der frühere Partner ein- oder mehrmals erfahren.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13535
)
)
Renate Gradistanac
Gewalt im häuslichen Bereich ist leider immer noch
die am weitesten verbreitete Gewaltform. Von ihr sind vor
allem Frauen und Kinder betroffen. Wenn die Polizei in
Stuttgart wegen Gewalttaten alarmiert wird, befindet sich
der Tatort bei drei von vier Streifenwageneinsätzen im
häuslichen Bereich. Unser Gewaltschutzgesetz zeigt Wir-
kung: Wer schlägt, fliegt raus, wird der Wohnung verwie-
sen! Im Kreis Freudenstadt im Schwarzwald wurden von
der Polizei in den vergangenen vier Jahren 49 Platzver-
weise wegen häuslicher Gewalt ausgesprochen. Die Täter
waren nur Männer. In fast allen Fällen wurden anschlie-
ßend keine weiteren Gewalttätigkeiten bekannt.
Durch unser Gewaltschutzgesetz haben die Frauen
die Wahl: Sie können in ihrer Wohnung bleiben oder ins
Frauenhaus gehen. Leider sind Frauenhäuser immer wie-
der von Mittelkürzungen oder Schließungen bedroht
oder sie werden sogar geschlossen.
Frau Widmann-Mauz, Ihre CDU-Kollegin Karen Koop,
frauenpolitische Sprecherin in Hamburg, hält die Schlie-
ßung eines Frauenhauses für vertretbar. Das konnte ich
im „Hamburger Abendblatt“ vom 22. Juli 2004 nachle-
sen. Zeit für Taten? Aber doch bitte nicht gegen, sondern
für die Frauen!
Danke.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Hannelore Roedel,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Frauen, es geht voran!“ – Das berichtete das
Familienministerium im September dieses Jahres den
Vereinten Nationen. Auf dem Papier ist die Gleichstel-
lung der Geschlechter in Deutschland auf einem guten
Weg. Das tröstet diejenige Frau, die beim beruflichen
Aufstieg an die berühmte gläserne Decke stößt, natürlich
ungemein! Bevor sie sich den Kopf einrennt bei dem
Versuch, in die Chefetage vorzustoßen, kann sie ja zu
diesem Regierungsbericht greifen und nachlesen, dass
mit der Vereinbarung zur Förderung der Chancengleich-
heit von Frauen und Männern in der Wirtschaft ein wich-
tiger Schritt vollzogen sei. – Vollzogen wurde bisher nur
eines: nichts Nachvollziehbares. Aber das ist ja nichts
Neues bei dieser Regierung, scheint doch besonders in
der Frauenpolitik das Motto von Rot-Grün „Mehr Schein
als Sein“ zu lauten.
Blicken wir einmal gemeinsam zurück. Ein langer
Weg liegt hinter uns: von der Weimarer Verfassung über
das Grundgesetz von 1949 bis zur Festschreibung der
Gleichberechtigung als Staatsziel vor zehn Jahren, 1994.
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ie Bundesregierung hat zwar viele wohlklingende Ak-
ionsprogramme gestartet, etwa „Frauen und Beruf“ oder
Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesell-
chaft des 21. Jahrhunderts“, doch – das müssen Sie zu-
eben – die damit angestrebten Ziele sind eben nicht er-
eicht.
akt ist – das müssen Sie zur Kenntnis nehmen –: Die
ahl der Arbeitslosen ist auf Rekordniveau und eine
rendwende ist nicht in Sicht. Das ist eindeutig die
olge der falschen Wirtschafts- und Sozialpolitik die-
er Bundesregierung.
ach wie vor verdienen Frauen bei gleicher Arbeit im
urchschnitt 30 Prozent weniger als Männer. In Wissen-
chaft und Forschung sind Frauen weiterhin unterreprä-
entiert. Obwohl mehr Frauen als Männer Hochschulab-
chlüsse haben, sind nur knapp 10 Prozent aller
rofessuren von Frauen besetzt. An den außeruniversitä-
en Forschungseinrichtungen ist sogar nur jede 20. Füh-
ungskraft weiblich. Tatsachen! Auch in der Wirtschaft
iegt der Anteil von Frauen in Führungspositionen unter
0 Prozent und damit unter dem europäischen Durch-
chnitt. In nur einem der 100 größten börsennotierten
nternehmen sitzt eine Frau im Vorstand.
Diese Situation ist paradox: Noch nie gab es so viele
ut ausgebildete Frauen – noch nie so viele Ministerin-
en in einem Kabinett –, doch trotz dieser Voraussetzun-
en haben es Frauen heute schwerer als je zuvor,
rbeit zu finden. Ohne die stärkere Beteiligung von
rauen am Arbeitsmarkt wird es aber keinen Auf-
chwung in Deutschland geben.
n Anbetracht des demographischen Wandels werden
rauen als gut ausgebildete Fachkräfte eine immer be-
eutendere Rolle spielen. Diese Erkenntnis muss sich
uch in der Wirtschaft durchsetzen. Frauenförderung
arf sich nicht auf Sonntagsreden beschränken, sondern
uss bereits bei der Einstellung stattfinden und muss
ich beim Aufstieg fortsetzen.
13536 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Hannelore Roedel
Was die politischen Rahmenbedingungen angeht, ha-
ben Sie, meine Damen und Herren von der Regierung,
die Zeichen der Zeit leider nicht erkannt. Denn wesentli-
che Elemente der von Ihnen beschlossenen Reformen
vergrößern die Benachteiligung von Frauen. Nehmen
wir zum Beispiel Hartz: Neuerdings heißt es „Agentur“
statt „Anstalt“, „Jobcenter“ statt „Ämter“, „Fallmana-
ger“ statt „Sachbearbeiter“ und der Arbeitslose ist jetzt
„Kunde“. Klingt alles modern, doch haben Sie Änderun-
gen festgestellt? Die Personal-Service-Agenturen, das
Herzstück von Hartz, sollten 850 000 Stellen im Jahr
bringen. Tatsächlich vermittelt wurden 15 000 Arbeit-
suchende – leider die wenigsten davon Frauen. Auch in
den Agenturen selbst beträgt der Anteil der Frauen an
den Beschäftigten lediglich 30 Prozent. Mit Hartz IV
wurden die Weiterbildungsmittel gekürzt. Als Resultat
dieser Kürzungen mussten die Anbieter von Weiterbil-
dungsmaßnahmen Personal entlassen – überwiegend
weibliches, versteht sich. Auch bei der Vergabe von
Weiterbildungsgutscheinen werden Männer als so ge-
nannte teure Arbeitslose bevorzugt und die Frauen kom-
men zu kurz.
Besonders die für Berufsrückkehrerinnen wichtigen
Weiterbildungsmaßnahmen in Teilzeit werden fast über-
haupt nicht mehr durchgeführt. Damit wird diesen
Frauen der erneute Zugang zum Arbeitsmarkt fast un-
möglich gemacht. Man darf es fast nicht sagen, aber das
„Risiko Kind“ kommt hier voll zum Tragen.
Eine weitere Fehlentscheidung in der Arbeitsmarkt-
politik dieser Regierung zulasten von Frauen war die ge-
setzliche Verankerung des Anspruches auf Teilzeit.
Was nützt ein Anspruch auf Teilzeit, wenn Frauen nicht
einmal die Einladung zum Bewerbungsgespräch bekom-
men? Unternehmen ziehen den Bewerber vor, von dem
sie vermuten können, dass er später keine Teilzeitwün-
sche äußert. Diesen Nachweis haben wir.
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, das Problem der
Frauen lässt sich – anders, als Sie denken – nicht alleine
mit dem Ausbau der Kinderbetreuung lösen. Frauenpoli-
tik ist nämlich nicht nur Familienpolitik. Mehr Kinder-
betreuung allein schafft noch keine Arbeitsplätze für
Frauen. Erkennen Sie die Frauenpolitik doch endlich als
Querschnittsaufgabe an!
Um eine wirkliche Gleichberechtigung von Frauen und
Männern durchzusetzen, bedarf es mehr als theoretischer
Ansätze. Auch wenn sich Gender Mainstreaming auf
dem Papier gut anhört und Ihren Gesetzentwürfen den
Anschein formaler Gleichberechtigung gibt, reicht dies
nicht aus.
Die notwendigen Maßnahmen finden Sie in unserem
Antrag. Frau Staatssekretärin, ein guter Anfang wäre,
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Von insgesamt 249 Abgeordneten in der Bundestags-
fraktion der SPD sind 94 Frauen. In der CDU/CSU-
Fraktion sind es 57 von 247. Ich glaube, wenn man diese
Zahlen sieht, dann erkennt man, dass weder wir noch die
Bundesregierung von Ihnen Nachhilfeunterricht bei der
Frauenförderung brauchen.
Natürlich sind die Erfolge noch nicht so groß, wie wir
uns das wünschen. Es geht aber voran.
In Ihrem Antrag fehlt die Forderung nach bedarfsge-
rechten Ganztagsbetreuungseinrichtungen für Kinder al-
ler Altersgruppen völlig. Ich habe zumindest nichts ge-
funden.
Wenn man das in Verbindung mit Ihrer Forderung bringt,
durch geeignete Maßnahmen eine bessere Wahlfreiheit
für Frauen und Männer zwischen Beruf und Familie zu
fördern, dann wird klar, wo das hingehen soll.
Sie wollen weiterhin, dass sich Frauen und Männer zwi-
schen Beruf und Familie entscheiden.
Wir wollen, dass sie sich für beides entscheiden können.
Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Frau-
enpolitik.
Ich sage ausdrücklich: Frauen wollen sich nicht nur
zwischen Familie und Beruf entscheiden, sondern
Frauen wollen heute mehr, als nur einen Beruf auszu-
üben. Da sie alle eine gute Ausbildung haben, wollen sie
im Beruf Karriere machen.
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Frau Böhmer, Sie wissen genau, dass die Aktion mit
em kostenlosen dritten Kindergartenjahr viel Geld kos-
et, das besser für die Ganztagsbetreuung ausgegeben
erden sollte. Sie können aber zum dritten Kindergar-
enjahr gerne eine Zwischenfrage stellen.
Dort, wo Sie Verantwortung tragen, wird ganz deut-
ich, was für Sie wichtig ist. In diesen Ländern ist näm-
ich der Versorgungsgrad mit Plätzen an Ganztagsschu-
en am schlechtesten. Das zeigt, wo die Reise hingeht.
Ich hätte noch gerne etwas zu dem Thema Frauen in
er Wissenschaft gesagt. Aber das schaffe ich aufgrund
einer knappen Redezeit nicht mehr.
Einen Punkt möchte ich doch noch anmerken. Eben
st von einem Frauenproblem gesprochen worden. Das
st wieder ein gravierender Unterschied zwischen uns:
ir sehen Frauen nicht als Problem. Für uns sind Frauen
ie Lösung. Das macht Ihre Haltung deutlich.
Natürlich gibt es noch viel zu tun. Hier wurde eben
uch die Privatwirtschaft angesprochen: Ich mache kei-
en Hehl daraus, dass mir ein Gleichstellungsgesetz für
ie Privatwirtschaft deutlich lieber gewesen wäre als
iese Vereinbarung. Wir werden das in einiger Zeit zu
ewerten haben und sehen, wie es weitergeht. Ich würde
ich sehr freuen, Sie dann an unserer Seite zu sehen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
rucksache 15/4146 an die in der Tagesordnung aufge-
ührten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
erstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
o beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
13538 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-
– Drucksache 15/3596 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Die Redner Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Max
Straubinger, Otto Bernhardt, Hans-Josef Fell und
Gudrun Kopp haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/3596 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? Gibt es anderweitige Vorschlä-
ge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Norbert Schindler, Peter H.
Carstensen , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Reform des EU-Zuckermarktes ausgewogen
gestalten – Perspektiven für die deutsche
Landwirtschaft und die Erzeuger der Ent-
wicklungsländer sicherstellen
– Drucksache 15/4145 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Ulrich Heinrich, Gudrun
Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Marktwirtschaftliche Reform der europäi-
schen Zuckermarktordnung mit Augenmaß
erforderlich
– Drucksache 15/4399 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
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g1) Anlage 2
Ich will in diesem Zusammenhang an die Standort-
olitik, die in Europa im Verlauf der letzten 20 bis
0 Jahre betrieben wurde, erinnern. In diesen Tagen wird
tahl unter anderem deswegen so knapp, weil – auch in
eutschland – in den letzten Jahren viele Stahlwerke ge-
chlossen und Kapazitäten abgebaut wurden. Wir haben
icht vorhergesehen, dass die wirtschaftliche Entwick-
ung von Ländern wie China oder Indien zu einem er-
öhten Stahlverbrauch führen würde. Ich wage voraus-
usagen,
ass dies auch bei dem wichtigen Nahrungsmittel Zu-
ker der Fall sein wird, falls wir Produktionsstandorte in
eutschland aufgeben. Dies sage ich vor dem Hinter-
rund, dass sich Deutschland in den letzten zwei bis drei
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13539
)
)
Norbert Schindler
Jahren zum Weltmeister im Export von Arbeitsplätzen
entwickelt hat.
Uns wird vorgerechnet, dass die Belastung eine Grö-
ßenordnung von 3 bis 6 Milliarden Euro erreicht. Man
weiß aber, dass die Europäische Union Haushaltsmittel
in Höhe von nur 200 Millionen bis 400 Millionen Euro
für die Zucker verarbeitende Industrie ausgibt, um den
Wettbewerbsnachteil für bestimmte Produkte, die mit
europäischem Zucker hergestellt und auf dem Weltmarkt
verkauft werden sollen, auszugleichen. Man kann also
nicht von einem Nachteil der Zucker verarbeitenden In-
dustrie sprechen. Ein struktureller Nachteil in diesem
großen Verbrauchermarkt von 400 Millionen ist nicht zu
erkennen. Die Argumente sind nicht nachzuvollziehen.
Was ist in einer so schwierigen Lage zu tun? Natür-
lich sieht auch die Union ein, dass man aufeinander zu-
gehen muss. Ein Kompromiss darf aber nicht zur Ver-
nichtung von vielleicht 30 000 oder 40 000 bäuerlichen
Existenzen allein in der Bundesrepublik Deutschland
führen. Das geht einfach nicht. Das ist einfach nicht zu
machen.
Herr Fischler war im Juli in vorauseilendem Gehor-
sam unterwegs und hat starke Akzente gesetzt. Das
macht es uns nicht einfacher.
Er hat auch nicht das Panel bzw. die Entscheidung abge-
wartet, die vor einigen Wochen getroffen wurde. Wir ha-
ben in der Anhörung am 8. November und vor zwei Ta-
gen in Brüssel im Europäischen Parlament die
berechtigten Sorgen hören können. Deswegen muss man
nicht nur in Brüssel, sondern auch hier in Berlin ein Re-
sümee ziehen. Die deutliche Mehrheitsmeinung bei der
Anhörung war: So kann man die Vorschläge absolut
nicht akzeptieren.
Herr Staatssekretär Berninger, Sie geben vielleicht
nachher in Ihrer Rede eine Antwort auf meine Frage.
Welchen Standpunkt vertritt die Bundesrepublik
Deutschland? Vertreten Sie etwa die Auffassung, die vor
einigen Tagen im Europäischen Rat formuliert wurde,
nämlich dass die Vorschläge noch nicht weit genug ge-
hen? Darauf hätte ich gern eine Antwort.
Es besteht die Notwendigkeit, heute im Bundestag da-
rüber zu reden, wie die Bundesregierung zu diesem
Thema steht.
Was wird vonseiten Berlins gegenüber Brüssel getan,
um auch in der deutschen Wirtschaft bestehende Exis-
tenzfragen so zu beantworten, dass die Antwort nicht nur
die Bauern, sondern auch die Zuckerrübenfabrikanten
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mit der Folge, dass wir den Weltmarktpreis noch weiter
drücken und andere Zuckerproduzenten behindern.
Wir haben bereits ein erstes Schiedsverfahren vor der
Welthandelsorganisation verloren. Hinzu kommt, dass
die ärmsten Länder der Welt – weil wir im Rahmen der
Europäischen Union unseren Verpflichtungen nachkom-
men – von 2009 an unbegrenzt Zucker nach Europa ex-
portieren dürfen. Damit ist klar: Die Zuckermarktord-
nung ist in sich und aufgrund äußerer Einflüsse nicht
zukunftsfest.
Die Entscheidungen, die wir hier und in Europa tref-
fen, haben Auswirkungen auf die ganze Welt. Das wis-
sen wir spätestens, seit Kolleginnen und Kollegen der
Gewerkschaft der Zuckerarbeiter aus Malawi und Mo-
sambik den Weg zu uns gefunden haben, um mit uns zu
reden. Aber dazu wird mein Kollege Reinhold Hemker
noch einiges sagen.
Ich habe mit meinen Kollegen Dr. Wilhelm
Priesmeier und Dr. Sascha Raabe am Dienstag dieser
Woche an einer Anhörung unserer Kolleginnen und
Kollegen vom Europäischen Parlament teilgenommen.
Es war sehr eindrucksvoll, als dort die europäische Di-
mension der Entscheidung aufgezeigt wurde. 25 Länder
sowie die Anbauverbände haben dort ihre unterschiedli-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13541
)
)
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Michael
Goldmann, FDP-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich denke, wir sind uns darüber im Kla-
ren, dass es bei der Zuckermarktreform nicht mehr um
das Ob, sondern um das Wie geht. Wir, die FDP, sind der
Meinung, dass die Vorschläge, die der ehemalige Kom-
missar Fischler für die Kommission vorgelegt hat und
die nun von der neuen Kommissarin weiter verfolgt wer-
den, im Grundsatz in die richtige Richtung gehen.
Es wird darum gehen, die Preise zu senken und die
Quote zu reduzieren.
Herr Schindler, ich möchte jetzt nicht zu spitz wer-
den. Aber ich glaube, dass Sie an der gestrigen Aus-
schusssitzung nicht teilgenommen haben, als wir mit
dem Vertreter der WTO über die auf europäischer Ebene
anstehenden Dinge diskutiert haben. Die europäische
Ebene weist zu Recht darauf hin, dass wir mit dem, was
Herr Fischler vorgeschlagen hat, bei weitem nicht hin-
kommen, wenn das zum Tragen kommt, was schon jetzt
Panelurteil ist.
Wir sollten im Umgang miteinander so ehrlich sein,
uns gegenseitig nicht abzusprechen, dass wir uns Sorgen
um die Existenz der Rübenbauern und der Arbeitnehmer
in den Zuckerfabriken machen.
Wir sollten vernünftig zusammenarbeiten und versu-
chen, die Frage „Wie können wir das abfedern?“ zu be-
antworten.
Auf dem Markt gibt es einige Bausteine, mit denen
wir uns intensiv beschäftigen können. Niemand will
doch ernsthaft den Zucker aus der Gesamtreform des
Agrarbereichs herausnehmen. Zuckerrübenbauern be-
kommen ab dem 1. Januar 2005 eine Prämie auf ihre
Produktionsfläche. Wenn wir mit dieser Problematik
vernünftig umgehen, dann haben Zuckerrübenbauern die
Chance, einen erheblichen Ausgleich zu bekommen.
Deutsche Zuckerrübenbauern werden dann die Chance
haben, die Zuckerquote von anderen, jetzt noch produ-
zierenden Ländern der EU und damit bestimmte Liefer-
rechte zu erwerben.
Diese Palette sollte zusammengestellt werden. Wir
sollten darüber nachdenken, wie wir mit Modulations-
mitteln, mit Krediten, die die KfW und andere geben
können, die Zukunftsweichen stellen können. Wenn das
geschieht, dann haben wir durchaus eine Chance, zu ei-
ner guten Lösung in diesem Bereich zu kommen.
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Wir von der FDP sind gerne bereit, über Lösungen
achzudenken und an Lösungen mitzuarbeiten, die hel-
en, Arbeitsplätze zu sichern, und die Landwirten eine
nternehmerische Zukunft geben. Aber wir müssen auch
lipp und klar sagen, dass wir dafür eintreten, in dieser
iskussion gegenüber den Landwirten ehrlich zu sein,
amit sie wissen, worum es geht.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
atthias Berninger.
Ma
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
ie mich zu Beginn aus dem Antrag der Unionsfraktion
itieren. Die Bundesregierung wird in diesem Antrag un-
er anderem aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass
die EU in den laufenden WTO-Verhandlungen in
den Bereichen der internen Stützung, des Marktzu-
gangs und des Exportwettbewerbs nur solche Zuge-
ständnisse macht, die den Landarbeitern und den
Kleinbauern in den Entwicklungsländern zugute
kommen.
Damit wir uns nicht missverstehen: Die Bundesregie-
ung verfolgt im Rahmen der laufenden Welthandels-
unde ganz klar das Ziel, gerade die Interessen der
13542 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
Kleinbauern und der Landarbeiter stärker zu berücksich-
tigen und die neue Handelsrunde zu einer Entwicklungs-
runde zu machen. Aber stellen wir uns einmal vor, Länder
forderten, Deutschland dürfe seinen industriellen Markt
nur für Handwerker mit weniger als drei Beschäftigten
öffnen. Keiner in diesem Saal kann doch ernsthaft glau-
ben, eine solche Position hätte in den Verhandlungen auch
nur eine Minute Bestand. Ich glaube nicht, dass Angela
Merkel eine solche Position ernsthaft unterstützen würde.
Wenn wir über die Reform der Zuckermarktordnung
reden, dann haben wir es an vielen Stellen mit Bigotterie
zu tun. Lassen Sie mich ein zweites Beispiel nennen
– Zitat –:
Aber wir müssen auch besonders dafür arbeiten,
dass die Globalisierung den Armen dieser Welt zu-
gute kommt.
Dies wird nur gelingen, wenn sich die Industrielän-
der, also auch Deutschland, in ihrem Verhalten än-
dern und vor allem ihre Märkte für die Entwick-
lungsländer öffnen. Doch das heißt dann eben auch,
dass wir Wettbewerb und Strukturwandel anneh-
men müssen.
Dieses Zitat stammt aus der Antrittsrede des Bundes-
präsidenten Horst Köhler, die er am 23. Mai dieses Jah-
res hier gehalten hat, nachdem die CDU/CSU-Fraktion
den neuen Bundespräsidenten gemeinsam mit der FDP
gewählt hatte.
Bei diesen Sätzen hat das ganze Parlament geklatscht.
Wenn wir den Präsidenten und seine Rede ernst nehmen,
dann – der Meinung bin ich – kann ein Antrag wie der,
der hier von der Union vorliegt, in diesem Parlament zu-
mindest keine Mehrheit finden.
Ich denke, dass der Bundespräsident damit vollkommen
Recht hat; die Bundesregierung ist sich mit ihm darin
völlig einig. Den Armen eine Chance zu geben bedeutet,
dass auch wir in Deutschland Strukturreformen ma-
chen müssen. Diese Strukturreformen müssen wir auch
dann machen, wenn es schmerzhaft wird.
Eine Reihe der Abgeordneten, die hier in Berlin am
23. Mai bei der Rede des Bundespräsidenten geklatscht
haben, geht in die Bauernversammlungen, verspricht
dort – ich erlebe das bei diesen Versammlungen – den
Landwirten im wahrsten Sinne des Wortes das Blaue
vom Himmel
und glaubt, diese mit großen starken Worten in einer Si-
cherheit wiegen zu können, die absolut nicht mehr be-
steht.
Der Abgeordnete Schindler – Norbert, du hast da
wirklich eine detaillierte Kenntnis – hat darauf hinge-
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Meine Damen und Herren, das sollte Ihnen eine Lehre
ein: Bei den Luxemburger Beschlüssen hat die FDP
esagt, die Unionsposition sei völlig unrealistisch. Der
ollege Goldmann hat Ihnen hier wieder ins Stammbuch
eschrieben, dass Sie auf dem falschen Dampfer sind.
ernen Sie doch einmal daraus! Sie haben in der Vergan-
enheit einer Reform immer erst dann zugestimmt, wenn
m Grunde schon alles klar war.
Ich habe noch ein drittes Beispiel aus dieser schönen
angen Kette. Das ist ein Botschaftsvermerk. Er ist an-
onsten vertraulich, aber etwas darf ich Ihnen heute hier
icht vorenthalten. Der bayerische Agrarminister Miller
ar in Budapest in Ungarn und hat in einer Supermarkt-
ette eine Woche mit bayerischen Spezialitäten eröffnet.
o weit in Ordnung. Danach hat er ganz offiziell Gesprä-
he mit dem ungarischen Agrarminister geführt. In die-
en Gesprächen – so der Botschaftsbericht – hat er die
ngarische Seite gebeten, die bayerische Position auf
U-Ebene mit zu vertreten, weil die Bundesregierung
ies nicht tue.
Ich will nur auf Folgendes hinweisen: Die bundes-
taatliche Ordnung sagt, dass die Bundesregierung die
eutsche Position nach außen vertritt. Das, liebe Frau
ortler, haben Sie dem Kollegen Miller ebenfalls mitzu-
eilen.
Herr Miller lag immer komplett daneben, wenn es um
ie Reformen in Brüssel geht. Wären Leute wie Miller in
er Verantwortung, hätten die deutschen Bauern auch
ei den Luxemburger Beschlüssen in die Röhre geguckt.
iese Form von einseitiger Parteinahme halte ich für
icht in Ordnung.
)
)
– Es liegt nicht an unserer Politik. Auch Herr Miller hat
sich an die Sitten zu halten, die in diesem Lande herr-
schen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Bundesre-
gierung erkläre ich klar: Die Reform der Zuckermarkt-
ordnung wird erhebliche Einschnitte mit sich bringen.
Aber die Bäuerinnen und Bauern haben die Möglichkeit,
auch andere Produkte zu produzieren. Wir können ihnen
nicht betriebsbezogene Ausgleichszahlungen bis zum
Sankt-Nimmerleins-Tag zahlen. Es wird zu erheblichen
Einschnitten kommen, aber es gibt eben genug Produk-
tionsmöglichkeiten.
Da kann man gemeinsam mit den Landwirten Zukunft
bauen. Ich nehme nur den Bereich der Bioenergie als ein
Beispiel. Wir sollten hier gemeinsam daran arbeiten,
diese neue Welt auch für die Landwirte aufzubauen.
Vor 15 Jahren ist der Eiserne Vorhang verschwunden.
Das heißt, der Sozialismus hat in Europa keine Zukunft.
Das gilt auch für die Zuckermarktordnung.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Christa Reichard, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Zucker ist wie kein anderes Agrarprodukt ein
Weltmarktprodukt. Mit dem Rohrzucker begann vor
250 Jahren die Kolonialisierung der Karibik, Lateiname-
rikas und des Pazifiks. Erst mit der Kontinentalsperre
von Napoleon begann das Zeitalter der Zuckerrübe in
Europa.
Die Zweiteilung des Weltagrarhandels in Rohr- und Rü-
benzucker und die sich daraus ergebene Konkurrenzsi-
tuation ist auch heute noch ein bestimmender Teil des
Nord-Süd-Konfliktes.
Es ist nicht nur ein Gebot der christlichen Nächsten-
liebe, sondern liegt in unserem ureigenen Interesse, die
Armut in den Entwicklungsländern zu bekämpfen. Hun-
ger und Armut in der Dritten Welt gehen oft mit sozialer
Destabilisierung und Perspektivlosigkeit einher – in die-
ser Kombination eine gefährliche Brutstätte für radikale
Kräfte und terroristische Strukturen. Etwa 70 Prozent der
Armen dieser Welt leben in ländlichen Gebieten und ver-
dienen ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise in der
Landwirtschaft. Die Stärkung des landwirtschaftlichen
Sektors in Entwicklungsländern und der faire Zugang zu
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Dafür müssen die Verhandlungspartner in der WTO
eiter aufeinander zugehen. Auf beiden Seiten sind Zu-
eständnisse gefragt, sowohl aufseiten der Industrielän-
er als auch aufseiten der Entwicklungsländer. Das gilt
uch für die Reform der EU-Zuckermarktordnung.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die nun vorlie-
enden Vorschläge der Europäischen Kommission weder
nseren Zuckerproduzenten in Europa noch den Produ-
enten in den meisten Entwicklungsländern nützen. Ich
lädiere deshalb dafür, die Interessen der Entwicklungs-
änder, die beim Zuckerexport vom bisherigen EU-Sys-
em profitieren, stärker als bislang zu berücksichtigen.
er weiß denn schon, dass die EU mit jährlich rund
,3 Millionen Tonnen der weltweit größte Importeur von
ucker aus Entwicklungsländern ist?
iese erhalten dafür die garantierten Preise der EU; das
ntspricht einer jährlichen Entwicklungshilfe in Höhe
on etwa 560 Millionen Euro.
Mit der geplanten Reform der Zuckermarktordnung
teht dies auf dem Spiel, meine Damen und Herren. Wer
ie vollständige und schnelle Liberalisierung des Zu-
kermarktes fordert, muss wissen, dass er Kleinbauern in
frika Chancen zum Lebensunterhalt raubt. Schließlich
rofitiert eine Vielzahl von afrikanischen und karibi-
chen Staaten von dem bevorzugten Zugang zum EU-
uckermarkt.
eder einheimische Landwirte noch Kleinbauern in
ntwicklungsländern können in einem völlig liberali-
ierten System mit dem auf riesigen Plantagen zum Teil
nter Ausbeutung von Mensch und Umwelt erzeugten
ucker aus Brasilien konkurrieren.
ir können doch unsere eigenen Bauern oder die Klein-
auern Afrikas nicht zugunsten weniger Zuckerbarone
n Brasilien ärmer machen.
udem ist zu befürchten, dass weitere Regenwaldflä-
hen Brasiliens dem Zuckerrohranbau weichen müssen
nd der unkontrollierte Chemikalieneinsatz zunimmt.
13544 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Christa Reichard
Natürlich sind marktwirtschaftliche Reformen im Zu-
ckermarkt zwingend notwendig, aber Reformen müssen
für die Erzeuger und Verarbeiter bei uns und in den Ent-
wicklungsländern verkraftbar sein.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Raabe?
Ich bin am Schluss meiner Rede. – Vor diesem Hin-
tergrund erwartet die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
von der Regierung, dass sie sich stärker für sachorien-
tierte und längerfristige Lösungsansätze einsetzt.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Reinhold Hemker, SPD-
Fraktion.
Ich gehe einmal davon aus, liebe Frau Kollegin, dass
wir auf das diffizile Problem, das sich aus den Unter-
schieden zwischen einem Großproduzenten wie Brasi-
lien und Kleinproduzenten ergibt, in den Fachdebatten
noch einmal eingehen werden. Um das auseinander zu
setzen, braucht man nämlich längere Zeit, die wir in die-
ser Debatte hier nicht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegin! Frau Präsidentin!
Die Debatte hat meiner Ansicht nach schon gezeigt, was
eigentlich nicht geht, lieber Kollege Schindler: auf der
einen Seite eine möglichst große Besitzstandswahrung
– so will ich das einmal bewerten – für die, denen es ma-
teriell gut geht, und auf der anderen Seite so schnell wie
möglich – auch das steht in Ihrem Antrag – Armutsredu-
zierung als globale Aufgabe auf der Basis der Zusagen
anlässlich des Millenniumsgipfels. Das eine scheidet
aus, wenn das andere so betont werden soll, wie Sie es
gemacht haben.
Vor allem aber muss deutlich werden: Wer für den
globalen Zusammenhang Gerechtigkeit erreichen will,
der kann keine Versprechungen machen, wie sie in den
letzten Wochen gegeben wurden, nach dem Motto: Wir
machen eure Forderungen zu unseren Forderungen und
damit zum vordringlichen Anliegen unserer politischen
Initiative. Das ist nicht möglich. Ich stelle mir ein sol-
ches Vorgehen für die Weiterführung der WTO-Verhand-
lungen im Blick auf die Einstufung bzw. Bewertung von
so genannten sensiblen Produkten vor. Wir haben in
diesen Tagen im Fachausschuss auch mit dem Vertreter
der WTO darüber gesprochen. Würden alle diejenigen,
die sich als Hauptproduzenten bestimmter Produkte ver-
stehen, zu denen auch Zucker gehört, sagen, das seien
sensible Produkte, käme das für mich einem Fußball-
spiel gleich, bei dem mehrere Spieler mit unterschiedli-
chen Bällen versuchen, das Spiel zu gewinnen.
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ass das nicht geht, ist nicht nur bezogen auf den Sport,
ondern auch in Bezug auf die Politik verständlich.
Man kann bei Beharrung auf eigenen Interessen
darüber haben wir auch bei der Zuckermarktordnung
u diskutieren – nicht Zukunftsfähigkeit fordern und
leichzeitig für ganze Flächen dieser Welt durch die an-
ewandten Methoden Zukunftsfähigkeit verneinen.
Eine weitere politische Methode hilft uns ebenfalls
icht: Wir können nicht in unseren Anträgen Maßnah-
en für die Ärmsten der Armen fordern, die nicht im
ahmen der Marktordnungsverhandlungen, sondern im
ahmen der Entwicklungszusammenarbeit erfolgen sol-
en, damit ganz eindeutige Nachteile für uns selbst, wie
um Beispiel notwendige Quotenkürzungen, Subventi-
nsabbau usw., eingeschränkt und verhindert werden
önnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das geht
icht.
Für den Gesamtzusammenhang ist es wichtig, noch
inmal die Frage zu stellen: Woran ist Cancún eigentlich
escheitert?
ie verschiedenen Verhandlungsgruppen haben sich ge-
enseitig blockiert, die Neuordnung des Weltagrarsys-
ems stand immer im Vordergrund und es gab im Vorfeld
icht die klaren Positionen, die die Doha-Runde hätte
eiterführen können. Das waren die tieferen Gründe für
as Scheitern von Cancún, lieber Kollege Schindler.
ir wollten und wir wollen auch heute, ausgehend von
ieser gescheiterten Konferenz, eine Entwicklungs-
unde mit zumindest im Vorfeld relativ gleichen Chan-
en für alle Teilnehmer an den Verhandlungen.
In diesem Zusammenhang, lieber Kollege Berninger,
anke ich der Bundesregierung dafür, dass sie nun
chritt für Schritt konstruktiv versucht, auf die Vor-
chläge der EU-Kommission einzugehen und bereits im
orfeld deutlich zu machen, in welche Richtung be-
timmte Reformvorhaben wie zum Beispiel bei der Zu-
kermarktordnung gehen müssen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
ollegen Schindler?
Gerne, bei Norbert Schindler immer.
Herr Kollege, sogar Frau Künast hat feststellt – wie
iele andere Besucher, die, anders als ich, in Cancún wa-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13545
)
)
Norbert Schindler
ren und sich im Nachhinein entsetzt darüber unterhalten
haben –, dass die NGOs das Cancún-Ergebnis im Vor-
hinein kaputt gemacht haben. Es waren andere Themen
als die Agrarfragen, die Cancún damals zum Scheitern
brachten. Es ist sowohl meine Erkenntnis als auch die
Erkenntnis Ihrer Fraktionskollegen sowie von Frau Mi-
nisterin Künast, dass die Konferenz nicht an Agrarfragen
gescheitert ist. Das Scheitern immer wieder darauf abzu-
stellen ist etwas billig und nicht glaubwürdig. In Cancún
waren es wirklich die anderen Themen, die diese Welt
bewegen.
Fakt ist, lieber Kollege Schindler, dass sich insbeson-
dere Entwicklungsländer, die wir zu den ärmsten zählen,
vor Cancún, aber auch noch am Rande von Cancún und
in Cancún zusammengeschlossen und die Verhandlun-
gen blockiert haben. Bei bestimmten Fragestellungen
aus dem Agrarbereich und natürlich auch aus dem Be-
reich der Ernährungswirtschaft, in dem sie sich heute
langsam weiterentwickeln können, haben sie gesagt: Wir
blockieren und machen nicht mehr weiter.
Natürlich ging es nicht nur um die Agrarfrage. Aber
sie hat eine Rolle gespielt.
Zurzeit versuchen wir, im Vorfeld der Verhandlungen
auf diejenigen einzuwirken, die sich zusammengeschlos-
sen haben. Stichworte dazu sind die Baumwolle und die
jetzt vor dem Panel laufenden Verfahren, die – so hoffe
ich zumindest – im Frühjahr zum Abschluss kommen.
Meine Bewertung ist nicht einseitig. Ich habe diesen
Zusammenhang als Beispiel dafür genannt, wie solche
Blockaden in solchen Konferenzen wirken: Es kommt zu
keinen Ergebnissen. Das darf meiner Ansicht nach in der
Nachfolge von Cancún nicht wieder passieren. Es ist gut,
dass heute hier solche Aussagen wie vom Kollegen
Goldmann und wie von Matthias Berninger für die Bun-
desregierung gemacht werden, die den richtigen Weg an-
zeigen.
Das werden wir wie schon bei den letzten Diskussionen
im Fachausschuss zum Ausdruck bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von daher haben
wir jetzt eine gute Verhandlungsgrundlage. Die Gesprä-
che, die in den letzten Wochen mit Vertretern von FAO
und WTO in den Fachausschüssen, nicht nur im Aus-
schuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft, gelaufen sind, gingen in die richtige Richtung.
Wenn wir im Frühjahr das Panel-Urteil zu den Frage-
stellungen haben, die Matthias Berninger hier vorgetra-
gen hat, haben wir eine gute Grundlage für die Vorberei-
tung der Nachfolgekonferenz in Genf und an anderen
Stellen.
Herzlichen Dank.
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, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
und der Fraktion der FDP
Nationale Küstenwache schaffen
– Drucksachen 15/3322, 15/2337, 15/2581,
15/4153 –
Berichterstattung:
Abgordnete Annette Faße
Wolfgang Börnsen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
ussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
einen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
in Annette Faße, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ilhelm von Humboldt hat einmal gesagt: „Ohne Si-
herheit ist keine Freiheit.“ Das Zitat ist heute aktueller
enn je. Das Thema Sicherheit ist für unsere freie Ge-
ellschaft von existenzieller Bedeutung.
Mit der Terrorismusgefahr ergab sich die Notwendig-
eit, auch den Seeverkehr den gestiegenen Sicherheits-
nforderungen anzupassen. Unser Antrag weist hier ei-
en richtigen Weg. Er bündelt im Einsatzfall alle Kräfte
13546 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Annette Faße
des Bundes und der Länder. Er stellt sie unter eine klare
Führung mit kurzen Entscheidungswegen. Das ist der
Kern unseres Anliegens. Wir können uns im Einzelfall
keine langen Kompetenzdiskussionen und Abstim-
mungsrunden leisten.
Wir können uns genauso wenig jahrelange Diskussio-
nen über eine Grundgesetzänderung leisten. Es geht um
die Optimierung bestehender Küstenwache im Alltags-
betrieb und im Ernstfall. Da müssen wir das Rad nicht
neu erfinden. Wir können uns an den geschaffenen
Strukturen des Havariekommandos orientieren.
Der Antrag weist den Weg, die Küstenwache inner-
halb der bestehenden Strukturen zu stärken. Mit „inner-
halb der bestehenden Strukturen“ meine ich, dass wir es
uns ersparen, vorher ewige Verfassungsfragen zu klären,
und zwar aus einem einfachen Grund: weil es nicht sein
muss. Es gibt keinen Grund, eine Bundesküstenwache
mit eigener Rechtspersönlichkeit zu schaffen.
Es sind zum Teil sehr unterschiedliche Aufgaben mit
hoch spezialisierten Fahrzeugen und entsprechendem
Personal zu erledigen. Denken Sie dabei nur an die War-
tung der Seezeichen, eine Routineaufgabe der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung, an die grenzpolizeiliche
Sicherung, eine originäre Aufgabe des Bundesgrenz-
schutzes, oder an die Kontrollen beim Fischfang, eine
Hauptaufgabe der Fischereischutzboote.
Eine neue nationale Behörde würde hier sicher mehr
neue Probleme schaffen als bestehende Probleme lösen.
Die Einrichtung einer Bundesküstenwache würde be-
währte Strukturen und Ressorts aufbrechen, und das nur,
damit neue Strukturen und Ressorts mit denselben Auf-
gaben und denselben Zuständigkeiten wieder aufgebaut
würden.
Der heutige Koordinierungsverbund Küstenwache,
auf den Sie, meine Damen und Herren der Opposition,
zu Ihrer Regierungszeit sehr stolz waren, hat sich im
Grunde bewährt. Dies wird Ihnen jeder, der sich die Si-
tuation vor Ort angesehen hat, gerne bestätigen. Kolle-
gen, die vor Ort waren, haben richtigerweise das Hava-
riekommando und dessen Zusammenarbeit mit der
Küstenwache gelobt.
Die bestehende Zusammenarbeit zwischen Küsten-
wache und Havariekommando funktioniert, wie gesagt,
gut. Das gilt auch für die Zusammenarbeit mit der Bun-
deswehr. Gemeinsame Übungen haben stattgefunden
und werden weiter stattfinden. Die Akteure kennen sich
und arbeiten partnerschaftlich zusammen.
Dennoch werden wir die bestehenden Strukturen der
Küstenwache zu einer neuen, noch effektiveren Küsten-
wache ausbauen. Dabei sollen die bisherigen Strukturen
gestärkt und Synergieeffekte genutzt werden. Das sollte
eigentlich auch die Opposition begrüßen; denn zumin-
dest in Sicherheitsfragen haben wir das gleiche Ziel,
auch wenn der Weg in diesem Fall unterschiedlich ist.
Man weiß noch nicht genau, was die CDU im Lande
will. Auf Bundesebene strebt sie eine Grundgesetzände-
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ir gehen davon aus, dass die Verhandlungen über den
auf des Gebäudes noch in diesem Jahr abgeschlossen
erden. Die Minister haben sich auf den Standort Cux-
aven verständigt, worüber ich mich als örtliche Abge-
rdnete natürlich nur freuen kann.
Es geht weiterhin um mehr Sicherheit auf den deut-
chen Küstengewässern. Lassen Sie uns das Gute ver-
essern, indem wir die erforderlichen Einsatzstrukturen
ür den Notfall schaffen, ohne den Alltagsbetrieb auf den
opf zu stellen! Dazu brauchen wir keine wissenschaft-
iche Untersuchung, denn wir wissen, wovon wir reden.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Börnsen, CDU/
SU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
erren! Während wir hier in den Abendstunden über ein
ehr an Seesicherheit debattieren, sorgen Tausende von
rauen und Männern unseres Landes rund um die Uhr
afür, dass Schutz und Vorsorge für Mensch und Meer,
üste und Kümos tatsächlich gewährleistet werden. Ih-
en gebührt unser gemeinsamer Dank.
Dieser Dank gilt auch für die ehren- und hauptamtli-
hen Angehörigen der Deutschen Gesellschaft zur Ret-
ung Schiffbrüchiger. Ich finde es anerkennenswert,
ie sich hier gemeinnütziges Handeln von mehr als
000 Einsatzkräften manifestiert. Allein im letzten Jahr
ind mehr als 270 Menschen gerettet worden und hat es
50 Maßnahmen der Rettung aus kritischen Situationen
egeben. Das bedeutet, dass vor Ort Seesicherheit ge-
ährleistet wird.
Im kommenden Jahr hat die DGzRS ein Jubiläum. Sie
ird 140 Jahre alt. Gut 66 000 Menschen sind in dieser
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13547
)
)
Wolfgang Börnsen
Zeit gerettet worden, oftmals unter lebensbedrohlichen
Bedingungen. Wir sollten dieser Gesellschaft zum Jubi-
läumsjahr 2005 und darüber hinaus die Unterstützung
des gesamten Deutschen Bundestages garantieren.
Doch seit der Gründung der DGzRS im Jahre 1865
sind aus den Gefahren auf und durch die See unermessli-
che Bedrohungen geworden – und dies nicht nur für die
Küstenbewohner und die Ökosysteme von Nord- und
Ostsee. Nein, terroristische Anschläge auf Seeschiffe
können in Häfen und auf Ölplattformen zu Katastrophen
führen, können Handelswege über Jahre blockieren und
sind ein Erpressungspotenzial, das ein ganzes Land tref-
fen und auf lange Zeit lahm legen kann.
Viele haben vergessen, dass es bereits vor dem
11. September 2001 terroristische Angriffe auf See mit
Toten und Verletzten gegeben hat: am 7. Oktober 1985
beim Kreuzfahrtschiff „Achille Lauro“, am 11. Juli 1988
beim Ausflugsdampfer „City of Poros“, am 12. Oktober
2000 auf dem amerikanischen Kriegsschiff „USS Cole“,
am 6. Oktober 2002 beim französischen Öltanker „Lim-
burg“ und wenige Monate später im Hafen von Umm
Qasr, wo es in letzter Minute gelang, Terroristen zu stop-
pen.
Noch ist Europa, noch ist unser Land verschont ge-
blieben. Aber wie lange noch? Sind wir eigentlich aus-
reichend gegen diesen Seeterrorismus geschützt? Im
Ernstfall würde bei uns der BGS See eingreifen, auch
wenn dessen Boote unzureichend sind. Nicht einmal
Maschinengewehre dürfen die BGS-Boote mitnehmen.
Die Bundesmarine, optimal ausgerüstet, darf, bedingt
durch die Verfassungslage, nicht bei Terror auf See ein-
greifen. Die Bundesregierung hat sämtliche Anträge der
Union dazu abgewiesen. Das ist falsch, das ist fahrlässig
und das ist verantwortungslos.
Es ist widersinnig, was hier praktiziert wird. Die Bun-
desmarine betreibt am Horn von Afrika den Einsatz ge-
gen Terrorismus. Vor Hamburg und Wilhelmshaven, vor
Kiel und Rostock jedoch wird sie ausgegrenzt. Es wird
verhindert, dass die Bürger im eigenen Land einen opti-
malen Schutz erfahren. Das ist falsch. Kein anderes
Land in Europa, kein anderer Staat in der Welt vernach-
lässigt den Heimatschutz so, wie es die Bundesregie-
rung zurzeit tut. Mit Millionen von Euro betreibt sie im
Ausland Terrorabwehr, doch sie versagt in ihrer Verant-
wortung vor Ort.
Hier muss ein Umdenken erfolgen und neu gehandelt
werden.
Das gilt auch für die Schaffung einer schlagkräftigen
deutschen Küstenwache.
Solange noch vier Bundesminister und 16 Behörden,
fünf Landesumweltminister und fünf Landesinnenminis-
ter über eigene Kompetenzen in der Seesicherheit verfü-
gen, bleibt die Konstruktion eines maritimen Sicher-
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Danke; ich komme zum Ende. – Ich mache darauf
ufmerksam, dass wir nur durch eine veränderte Rechts-
rundlage – auch zur Sicherheit der Mitarbeiter in Cux-
aven – zu einer deutschen Küstenwache kommen, die
etzt und auf jeden Fall für die Zukunft notwendig ist.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Rainder Steenblock, Bünd-
is 90/Die Grünen.
13548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zwischen November 2002 und Januar 2004 gab
es sechs Schiffsunfälle in der Ostsee. Im Jahr 2001 gab
es 390 Ölteppiche auf der Ostsee und 596 auf der Nord-
see. Diese Zahlen zeigen deutlich, welchen Gefahren un-
sere Küsten und unsere Meere durch Unfälle, aber auch
– das sage ich sehr deutlich – durch die alltäglichen Be-
lastungen aufgrund der illegalen Schiffsreinigungen und
durch die Ölplattformen in jedem Jahr ausgesetzt sind.
Sie zeigen, dass wir dringend etwas für den Schutz unse-
rer Meere, der Küsten und der Menschen, die dort leben,
tun müssen; denn diese Gefahren nehmen zu. Allein in
der Ostsee wird es durch die russischen Ölexporte
– Russland hat gesagt, dass diese Ölexporte bis 2010
verdoppelt werden – immense neue Gefährdungspoten-
ziale geben. Deshalb unterstützen wir die Bundesregie-
rung, auf dem EU-Russland-Gipfel gerade in Fragen der
Schiffssicherheit keine Zugeständnisse zu machen und
die Russische Förderation aufzufordern, die Standards
der EU auf diesem Gebiet einzuhalten.
Für mehr Schiffssicherheit, Hafensicherheit und Si-
cherheit der Seeverkehrswege vor natürlichen, techni-
schen, aber auch terroristischen Gefahren müssen wir
das Nebeneinander der auf Bund und Länder verteilten
Kompetenzen beseitigen und die Strukturen neu ordnen.
Ziel muss es sein, alle beteiligten Kräfte dauerhaft in ei-
ner einheitlichen Struktur zu bündeln.
Nur auf diese Weise können wir die Schutzaufgaben ef-
fizienter und effektiver erledigen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der schles-
wig-holsteinische Landtag hat vor einem Jahr mit den
Stimmen aller Fraktionen vernünftige Vorschläge für
den Aufbau einer neuen, effektiven Struktur der Küs-
tenwache gemacht
und sie der Innenministerkonferenz der norddeutschen
Küstenländer vorgelegt. Diese Initiative – dies muss
man dann auch sehr deutlich sagen, Herr Kollege
Goldmann – ist am Widerstand der unionsgeführten
Küstenländer gescheitert.
Insbesondere die CDU/FDP-Koalition in Niedersachsen
hat dieses Verfahren platt gemacht.
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Angesichts der Gefahren ist es richtig, Schritte in
iese Richtung zu unternehmen. Ich habe immer dafür
lädiert, dass wir in Deutschland eine einheitliche Küs-
enwache brauchen. Angesichts der Gefahren, denen die
enschen und die Natur an der Küste ausgesetzt sind,
rauchen wir mehr als eine Leitstelle der Wasserschutz-
olizei. Das mag ein richtiger Schritt sein; es kann aber
uch ein Schritt sein, der weitergehende Strukturverän-
erungen verhindert. Deshalb müssen wir das weiterhin
m Auge behalten.
Lieber Kollege Börnsen, die Frage, ob wir tatsächlich
ine Grundgesetzänderung zur Lösung dieser Struk-
urfragen benötigen, ist aus meiner Sicht nicht aktuell.
ie Entscheidungen der Küstenländer sind so, wie sie
ind. Das mögen wir bedauern oder begrüßen. Deshalb
ilt es aber zunächst, die praktischen Schritte zu unter-
ehmen, die zu einer größeren Konzentration der Kräfte
ühren.
Unser Antrag bietet daher eine vernünftige Basis für
ine Entwicklung in Richtung Realismus und Pragmatis-
us. Nur so können wir, ohne Traumtänzer zu sein, un-
ere Verantwortung tatsächlich wahrnehmen und mehr
icherheit für die Schifffahrt, die Natur und die Men-
chen an unseren Küsten schaffen.
as ist Wahrnehmung von Verantwortung. Wir verkün-
en keine Illusionen; denn damit würden wir nur Erwar-
ungen wecken, die keiner erfüllen kann. Lassen Sie uns
ealistisch sein und gemeinsam für mehr Sicherheit sor-
en.
Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13549
)
)
Das Wort hat der Kollege Michael Goldmann, FDP-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das, was wir bundespolitisch wollen, wird
– das ist doch nichts Neues – von den eigenen Partei-
freunden vor Ort manchmal anders gesehen. Ich war
froh, als der Innenminister Schünemann von der CDU
besonders ins Gespräch kam. Die Frage ist doch: Ist das,
was vonseiten der SPD und der Grünen heute beschlos-
sen wird, das, was Sie sich die ganze Zeit gewünscht ha-
ben? Bringt das mehr Sicherheit, mehr vernetztes Tun?
– Was heißt, das ist ein richtiger Schritt? Herr
Steenblock, ich erinnere mich noch an die „Pallas“. Sie
erinnern sich sicher auch schmerzlich. Damals waren
wir uns doch einig. Wir haben damals eine Kommission
gebildet. Herr Grobecker, der Leiter der Kommission,
hat gesagt, wir brauchen eine nationale Küstenwache.
Wir haben uns auf den Weg gemacht, die nationale
Küstenwache zu realisieren. Glauben Sie nicht, dass das
immer Spaß gemacht hat. Ich komme auch aus Nieder-
sachsen und ich schätze die Arbeit des Havariekomman-
dos in Cuxhaven außerordentlich.
Das ist überhaupt keine Frage.
Über eines sind Sie sich doch im Klaren: Ein Havarie-
kommando ist keine Küstenwache. Es verfolgt nicht die
Ziele, die Sie selbst und Ihre Parteifreunde in Schleswig-
Holstein beschlossen haben.
Deshalb dürfen wir uns nicht damit zufrieden geben
und heute einfach etwas beschließen. Das mag pragma-
tisch sein, weil es vielleicht ein Stück weit mehr ver-
netzt. Das ist doch aber ganz eindeutig nicht die Lösung
des Problems. Sie wissen das doch ganz genau.
– Wissen Sie, es interessiert mich eigentlich herzlich we-
nig, ob die Landesregierung in Niedersachsen in dieser
Frage einen anderen Standpunkt einnimmt.
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Diese Landesregierung kann aus regionalen Gründen
nderer Meinung sein. Die Kollegin Faße, die aus Cux-
aven kommt, hat eben deutlich gemacht, dass sie das
avariekommando gut findet.
Annette, dann sagst du auch noch, dass du Ahnung da-
on hast und weißt, wovon du redest. Ich respektiere
eine Aussage. Nimm aber bitte zur Kenntnis, dass alle
nderen, die an der Küste agieren, anderer Meinung sind
ls du. Alle maritimen Organisationen an der Küste sa-
en: Wir brauchen eine nationale Küstenwache.
lle sagen das, nur du meinst: Ich weiß Bescheid; ein
avariekommando reicht aus.
Ein solcher Umgang miteinander macht nicht viel
inn. Ich weiß, was passieren wird. Ich will es nicht be-
chwören, aber ich weiß, was passiert, wenn das nächste
al an der Küste etwas passiert: Dann stehen wir wieder
lle hier und sagen: Oh Gott! Oh Gott! Wie konnte das
ur passieren? Wir werden hier Reden halten und sagen,
s muss sich etwas ändern. Wir machen dann mobil, stel-
n Forderungen und bilden wahrscheinlich wieder eine
ommission.
Du hast vorhin gesagt, wir bräuchten keine wissen-
chaftliche Untersuchung – in meinem Text war bisher
on einem Forschungsauftrag die Rede –, weil wir das
lles wissen. Das wissen wir aber nicht. Warum habt ihr
iese Untersuchung verweigert? Warum konnten wir
icht gemeinsam einen Weg finden, der keine grundge-
etzliche Änderung erforderlich macht? In unserem An-
ag wird eindeutig belegt, dass wir keine grundgesetzli-
he Änderung brauchen, um entscheidende Schritte zu
achen.
Aber wir können – Kollege Börnsen hat das vorhin
lar gesagt – eine Menge mehr tun, um Safety und Secu-
ity zusammenzuführen. Das wird durch euer Verhalten
dieser Frage leider scheitern; das ist schade.
Ich sage es jetzt ziemlich direkt: Ich werde dich hin-
ichtlich deiner fachlichen Kompetenz und deiner
laubwürdigkeit in eine gewisse Form persönlicher Haf-
ng nehmen,
enn uns die nächste Katastrophe an der Küste ereilt
nd wir genau wissen, dass das aus den Gründen gesche-
en ist, die Herr Börnsen vorhin genannt hat. Das muss
an sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Herr Kollege, Sie können sich leider nichts mehr auf
er Zunge zergehen lassen;
13550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
denn Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
Frau Präsidentin, wenn Sie wüssten, was mir heute
Abend noch alles auf der Zunge zergehen wird! Aber ich
werde Sie damit nicht weiter erfreuen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Problem der unterschiedlichen Zustän-
digkeiten für die Küste ist alt. Es war auch der Vorgän-
gerregierung bekannt. Bei dem Versuch, daran etwas zu
ändern, sind Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen
von Union und FDP, zumindest nach Ihrer heutigen Ein-
schätzung nicht sehr weit gekommen. Jetzt versuchen
Sie, die Optimierung des Küstenschutzes zu einer Ver-
fassungsdebatte aufzublähen.
Was wir aber brauchen, sind pragmatische Schritte vor
Ort, durch die die Küstenwache effektiver und die Küste
sicherer wird.
Die jetzige Regierung hat in diesem Bereich einiges
vorzuweisen. Im vergangenen Jahr haben wir das Hava-
riekommando in Cuxhaven eingerichtet. Wir haben aus
zwei Stellen eine gemacht und die beiden Küstenwach-
zentren zusammengelegt. Wir sind dabei, das neu errich-
tete einheitliche Küstenwachzentrum in Cuxhaven wei-
ter auszubauen. Wir haben die unterschiedlichen
Behörden in einem Küstenwachzentrum vereint.
Sie stimmen sich kontinuierlich ab und bilden gemein-
sam eine Einsatzleitung, in der die Bundeszuständigkeit
für die gesamte Küste liegt.
Hinzu kommt die Zusammenführung mit dem Hava-
riekommando und künftig auch mit dem Point of Con-
tact. Das wird dazu führen, dass es auf Bundesebene ein
praxisbezogenes Führungs- und Einsatzinstrument
geben wird, durch das alle beteiligten Stellen durch eine
auch räumlich enge Zusammenarbeit eingebunden wer-
den. Das sollten Sie nicht gering schätzen.
Aus Sicht der Innenpolitiker wäre es sinnvoll, dass
diejenige Organisation, die über die entsprechende Füh-
rungserfahrung verfügt, der BGS, dauerhaft die Leitung
übernimmt.
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em stehen fachliche Einwände der beteiligten Ressorts
ntgegen; Kollegin Faße hat sie deutlich dargelegt. Aber
ür den Krisen- und Einsatzfall muss es eine vorher
xakt definierte besondere Aufbauorganisation mit kla-
er Leitung und Führung geben. Dies fordern wir in un-
erem Antrag. Wir werden es auch umsetzen.
Wichtig ist nun, dass sich auch die Länder in diesen
echanismus einbinden, sowohl was die Wasserschutz-
olizeien der Länder als auch – Sie haben sie ja aufge-
ählt – die anderen beteiligten Behörden, etwa im Um-
eltbereich, angeht. Wir werden auch die Frage der
inbindung der Bundeswehr angehen,
nd zwar für die Fälle, die die Polizei des Bundes oder
ie der Länder nicht mit eigenen Mitteln bewältigen
ann.
Das Luftsicherheitszentrum in Kalkar, in dem alle be-
iligten Stellen eng zusammenwirken, kann hier durch-
us als Vorbild dienen. Dort arbeiten alle beteiligten
essorts in einem Raum zusammen, tauschen Daten un-
ereinander aus und operieren und agieren in der glei-
hen Lage. Dafür haben wir mit der Zusammenführung
er beiden Küstenwachzentren und dem Havariekom-
ando auch für die Küste die realen Grundlagen gelegt.
ir werden, ähnlich wie beim Luftsicherheitsgesetz,
uch die gesetzlichen Grundlagen schaffen.
Nun zur Frage einer generellen Zuständigkeit des
undes für die gesamte Küste. Die Übertragung der
2-Meilen-Zone an den Bund – Sie haben dieses Thema
ngesprochen – müsste in der Föderalismuskommission
iskutiert werden; aber genau das haben Ihre Länderin-
enminister abgelehnt. Das Problem der Einbindung der
änder in ein Küstenwachzentrum wäre aber auch damit
icht aus der Welt. Selbst dann, wenn der Bund für das
esamte Küstengebiet zuständig wäre, gäbe es auch wei-
rhin eine Schnittstellenproblematik; denn dann würden
ich zum Beispiel in den Häfen und an den Küstenlinien
chnittstellen ergeben. Das heißt, dass unabhängig von
ieser Frage nach wie vor die Kooperationsbereitschaft
er Länder gefordert ist.
Wir optimieren das Konzept für eine effiziente Küs-
nwache. Damit realisieren wir das, was notwendig und
öglich ist. Während Sie hier eine Verfassungsände-
ung zur Voraussetzung für eine Verbesserung hochstili-
ieren – ich kann es Ihnen nicht ersparen –, erzählen Sie
den Bundesländern das genaue Gegenteil.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13551
)
)
Gerold Reichenbach
Ihr Kollege, der niedersächsische Innenminister Uwe
Schünemann, will nämlich von der Schaffung einer Küs-
tenwache unter der Leitung des Bundes überhaupt nichts
wissen.
– Herr Schröder, ich kann Ihnen nicht ersparen, mit Ge-
nehmigung der Präsidentin aus dem Protokoll des nie-
dersächsischen Landtags vom 11. März 2004 zu zitieren.
Damals hat Herr Schünemann zu Ihrem eigenen Antrag
ausgeführt:
Die Schaffung einer Küstenwache unter Leitung
des Bundes würde eine Grundgesetzänderung erfor-
derlich machen, ohne dass ein Sicherheitsgewinn
… eintreten würde.
Die Landesregierung sieht derzeit keinen Anlass,
die verfassungsmäßige Kompetenzverteilung zwi-
schen Bund und Ländern … in Frage zu stellen und
Zuständigkeiten der Polizei …
ohne zwingende Notwendigkeit auf eine Bundesbe-
hörde zu übertragen.
Auf Bundesebene hü, auf Landesebene hott!
Offenbar herrscht bei Ihnen in der Sicherheitspolitik
das gleiche Chaos wie in der Gesundheitspolitik.
Oder handelt es sich dabei um ein kalkuliertes Spiel: auf
Bundesebene fordern und zu Hause genau diese Forde-
rung blockieren?
Solche Spielchen ziehen sich nämlich wie ein roter Fa-
den durch Ihre Vorstellungen von Sicherheitspolitik und
Katastrophenschutz. Das Thema Sicherheit eignet sich
aber nicht für Spielchen oder, wie der Bundesinnenmi-
nister kürzlich in diesem Hause treffend feststellte, für
„sicherheitspolitische Dampfplaudereien“. Mit Ihrem
Pingpongspiel können Sie die Bürgerinnen und Bürger
in diesem Lande nicht beeindrucken. Wir arbeiten in un-
serer Bundeszuständigkeit konsequent die notwendigen
Schritte zur Verbesserung der Sicherheit an unseren Küs-
ten ab und Sie können sicher sein, dass wir dies auch in
den anderen Bereichen zum Schutz unserer Bevölkerung
tun werden: bei der Polizei, beim Katastrophenschutz
und bei der Terrorabwehr.
Es stellt sich die Frage, ob Sie Ihren Worten im Bun-
destag dort, wo Sie in den Ländern Verantwortung ha-
ben, auch Taten folgen lassen werden.
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Bei uns reden die Leute von der Küste, Herr Tauss. –
rau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
en! Fast ein Jahr ist vergangen, seit wir von der CDU/
SU-Fraktion den Antrag zur Schaffung einer nationa-
en Küstenwache eingebracht haben. Wir wollen damit
ehr Sicherheit auf See für die Menschen und die Um-
elt erreichen. Liebe Kollegen von der SPD und den
rünen, ich begrüße ausdrücklich, dass auch Sie sich in-
erhalb dieses Jahres Gedanken gemacht haben, dass bei
hnen zumindest ein Problembewusstsein entstanden ist.
uch Sie haben inzwischen einen Antrag eingebracht;
as begrüße ich ausdrücklich.
Wie sehen die Strukturen zur Gefahrenabwehr auf See
us? Im Jahre 2004 führen auf See insgesamt fünf Bun-
esbehörden, der BGS, der Zoll, die Wasser- und Schiff-
ahrtsverwaltung, die Bundesanstalt für Landwirtschaft
nd Ernährung sowie die Marine und fünf Küstenländer
it ihrerseits 15 Behörden 16 Aufgaben auf See durch.
eit 50 Jahren versuchen wir nun, diese unterschiedli-
hen Kompetenzen durch Kooperationsvereinbarungen
u koordinieren. Mittlerweile gibt es 25 Staatsverträge.
as Ergebnis ist ein Nebeneinander von Einheiten und
uständigkeiten, das selbst von Experten nicht mehr
urchschaut wird.
Betrachten wir einmal die Abwehr von Gefahren
urch Terror und organisierte Kriminalität. Für diese
ufgaben verfügen der BGS und die Wasserschutzpoli-
ei über hervorragend ausgebildetes Personal und her-
orragend ausgestattete Boote. Auch die Marine ist bei
er Terrorismusabwehr unverzichtbar. Besonders kri-
isch ist hier der Faktor Zeit; hier spielen Stunden, wenn
icht Minuten eine entscheidende Rolle. Klare Befehls-
trukturen mit eindeutigen Handlungsbefugnissen sind
ntscheidend, um solche Krisen zu bewältigen. Genau
aran mangelt es.
Betrachten wir den Schutz vor Unfällen und
mweltkatastrophen, wenn Öl ausläuft, wenn Vögel
u verenden drohen. Hier sehen wir das letzte Kapitel
er unendlichen Koordinierungsgeschichte: das Havarie-
ommando. Es soll beim Eintritt eines so genannten
omplexen Schadenfalles die Führung übernehmen. Die
eleistete gute Arbeit des Havariekommandos verdan-
en wir einem hervorragenden Leiter und sehr motivier-
en Mitarbeitern. Frau Faße, das Havariekommando leis-
et diese Arbeit aber nicht aufgrund der vorhandenen
trukturen, sondern trotz der vorhandenen Strukturen.
13552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Dr. Ole Schröder
Es fehlen eben klare Befehlsstrukturen; sie existieren
nicht. Auch für den Fall einer so genannten komplexen
Schadenslage fehlen dem Leiter des Havariekommandos
die notwendigen Kompetenzen. Genau deshalb brauchen
wir eine Grundgesetzänderung.
Betrachten wir schließlich den Alltagsbetrieb. Hier
ist es schon aus Kostengesichtspunkten erforderlich, alle
Patrouillenfahrten aufeinander abzustimmen.
Dabei geht es nicht nur um die Patrouillenfahrten zwi-
schen den Booten des Bundes, sondern auch zwischen
den Booten der Länder und des Bundes.
Wenn ein Schiff auf hoher See kontrolliert wird, dann
können sowohl Grenzdelikte, Umweltdelikte als auch
Zolldelikte aufgedeckt werden. Frau Faße, die Fischerei-
aufsicht wird zum Teil schon jetzt vom BGS und von
den Wasserschutzpolizeien durchgeführt.
Es ist also möglich, Spezialaufgaben von einer Behörde
auszuführen. Sie haben in Ihrer Rede etwas anderes ge-
sagt.
Das Problem liegt hier zum einen bei den Bundesmi-
nisterien, die nicht optimal zusammenarbeiten, zum an-
deren an der Kompetenzverteilung zwischen dem Bund
und den Ländern. Anders als im Luftraum ist der Bund
eben nicht für die gesamte Gefahrenabwehr zuständig.
Daraus folgt diese absurde Aufgabenverteilung. Der
Bund ist beispielsweise dafür zuständig, zu kontrollie-
ren, dass kein Schweröl aus Schiffen ausläuft. Wenn
doch einmal Schweröl ins Meer fließt, dann hat der
Bund plötzlich keine Kompetenzen mehr.
Aufgrund der gegebenen Kompetenzlage müssen die
Bundesbeamten die entsprechenden Landesministerien
anrufen und fragen, ob sie nicht ein Schiff vorbeischi-
cken können.
Erklären Sie das doch bitte einmal den Bürgerinnen und
Bürgern an der Küste.
Liebe Kollegen der SPD und der Grünen, genau diese
ineffizienten Strukturen wollen Sie nun fortschreiben.
Sie sehen in Ihrem Antrag keinerlei wesentlichen struk-
turellen Änderungen vor. Im Gegenteil: Sie planen ein
weiteres, nämlich das 26. Kapitel der gescheiterten Ko-
operationsversuche. Sie planen die Fortsetzung des insti-
tutionellen Chaos und eine räumliche Konzentration, die
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Lieber Rainder Steenblock, Ihr Vorgehen besteht ein-
ach darin, alle in einen Raum zu stecken und zu hoffen,
ass sie sich verstehen. Frau Faße, das kann klappen, das
uss aber nicht klappen. Das klappt nur, wenn die ent-
prechende Kooperationsbereitschaft der handelnden
kteure vor Ort gegeben ist.
as ist das Prinzip Hoffnung.
ufgrund der möglichen Schadenslage, die eintreten
ann, sollten wir uns aber nicht auf das Prinzip Hoff-
ung verlassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen speziell von der
PD-Fraktion, Ihr schleswig-holsteinischer SPD-Innen-
inister, Klaus Buß, hat in einer Sitzung des Landtages
um Thema „Nationale Küstenwache“ Folgendes gesagt
ich zitiere ihn –: Vorweggehen muss der Bund. Ich
offe, dass die SPD-Fraktion des Bundestages dem An-
rag der CDU/CSU-Fraktion zustimmt und dass auf Bun-
esebene etwas in Gang gesetzt wird, was wirklich ein
roßer Schritt hin zu einer einheitlichen Küstenwache
äre.
Herr Kollege.
Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, tun
ie etwas! Wagen Sie mit uns gemeinsam einen wirkli-
hen großen Schritt!
egen Sie Ihren Antrag beiseite und stimmen Sie unse-
em Antrag für mehr Sicherheit an den Küsten zu!
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
chusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
rucksache 15/4153. Der Ausschuss empfiehlt unter
r. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An-
rags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13553
)
)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Die Grünen auf Drucksache 15/3322 mit dem Titel „Si-
cherheit vor der deutschen Küste verbessern – Küsten-
wache optimieren“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP ange-
nommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/2337 mit dem Titel „Schaffung einer na-
tionalen Küstenwache“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung
der FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2581 mit dem
Titel „Nationale Küstenwache schaffen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/
CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek,
Cajus Julius Caesar, Dr. Maria Flachsbarth, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Naturschutz im Miteinander von Mensch,
Tier, Umwelt und wirtschaftlicher Entwick-
lung
– Drucksachen 15/2467, 15/4018 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller
Cajus Julius Caesar
Undine Kurth
Angelika Brunkhorst
Die Redner Gabriele Lösekrug-Möller, Cajus Julius
Caesar, Dr. Maria Flachsbarth, Undine Kurth und
Angelika Brunkhorst haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben.1)
Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit auf Drucksache 15/4018 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Naturschutz im
Miteinander von Mensch, Tier, Umwelt und wirtschaftli-
cher Entwicklung“. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 15/2467 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU
und der FDP angenommen.
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1) Anlage 3 2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
urfs auf Drucksache 15/4231 an die in der Tagesord-
ung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
azu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
ann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Bernd Neumann , Ernst-
Reinhard Beck , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU
Klarheit für eine einheitliche Rechtschreibung
– Drucksache 15/4261 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Joachim Otto , Vera Lengsfeld, Josef
Philip Winkler und weiterer Abgeordneter
Die Einheit der deutschen Sprache bewahren
– Drucksache 15/4249 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Innenausschuss
Aussschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
ussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
DP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
erspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
ünter Nooke, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
iebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche
Anlage 4
13554 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Günter Nooke
Bundestag hat in seiner bisher einzigen Befassung mit
der Rechtschreibreform vor sechs Jahren festgestellt:
„Die Sprache gehört dem Volk.“ An diesem kurzen Satz
zeigt sich das ganze Dilemma, das uns heute beschäftigt.
Das Thema Rechtschreibreform ist bekannt. Es dürfte
keinen im Land geben, den es nicht betrifft. Ich kann mir
also eine Zusammenfassung der Ereignisse ersparen.
Mir ist wichtig, festzuhalten – hören Sie zu, Herr
Tauss –, dass sich die Unionsfraktion im Deutschen
Bundestag mit einem Antrag deshalb zu dem Thema zu
Wort meldet, weil die Verunsicherung in der Bevölke-
rung erschreckend ist.
– Hören Sie zu, Herr Kollege Küster, dafür sind Sie zu-
ständig. Die Tatsache, dass es im Bundestag möglich ist,
dass zwei Anträge zum gleichen Thema in verschiedener
Rechtschreibung erscheinen, ist legislative Schizophre-
nie. Unser Antrag fordert daher genau das, was der Titel
verspricht: Klarheit für eine einheitliche Rechtschrei-
bung; nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Um es ganz klar zu sagen: Es war ganz sicher keine
gute Idee, die Formulierung von Rechtschreibregeln zur
Sache der Politik zu machen.
Was schon im Jahre 1995/96 auf der Konferenz der Kul-
tusminister begann, hat in den vergangenen acht Jahren
ein unglaubliches Chaos angerichtet.
Politik darf nicht Verwirrung stiften, sondern muss Ver-
lässlichkeit erzeugen.
Der Deutsche Bundestag befasst sich angesichts der jet-
zigen Situation also zu Recht mit der Rechtschreibre-
form.
Der Notfall ist eingetreten.
Unser Antrag verhindert, dass der Eindruck entstehen
könnte, der Deutsche Bundestag sei an Klarheit und Ein-
heitlichkeit der deutschen Orthographie nicht interes-
siert. Zugleich sage ich aber noch einmal, dass das Auf-
stellen von Rechtschreibregeln nicht Aufgabe des
Staates ist. Die Sprache gehört dem Volk.
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icht etwa weil wir die Adressaten für die richtigen hal-
en. „Realistisch“ meint: Die Kultusminister sind ange-
prochen, weil sie sich die Zuständigkeit angeeignet ha-
en. Sie haben sich in politischer Regelungswut am
eiligsten einer Kulturnation vergriffen: der Sprache.
ie müssen jetzt die Größe haben, ohne Ansehen der ei-
enen Person, wieder einen gemeinsamen Sprachnenner
u finden. Das müssen sie ein für allemal tun und dann
üssen sie ein für allemal die Finger davon lassen, die
prache noch einmal durch politische Eingriffe zu re-
eln.
Man interpretiert unseren Antrag nicht falsch, wenn
an die Erwartung herausliest,
hör doch mal zu! – dass der Rat für deutsche Recht-
chreibung Kompetenz und Möglichkeit haben muss,
as Dilemma zu beenden. Dass dies nur möglich ist,
enn er tatsächlich alle relevanten Stimmen bündeln
ann, ist selbstverständlich. Das Ziel kann nicht sein, so
eiter zu machen wie bisher, nur mit neuen Gremien.
er designierte Vorsitzende des geplanten Rates für
eutsche Rechtschreibung, Hans Zehetmair,
orderte richtigerweise, dass sich die Politik in Zukunft
us der Debatte über die neuen Schreibregeln heraushal-
en solle.
icht mehr die Politik, sondern der Rat wird die Reform
egleiten. Das Gremium soll die Einheitlichkeit der
echtschreibung im deutschen Sprachraum bewahren
nd das orthographische Regelwerk weiterentwickeln.
Ich habe meine Bemerkungen zu den Länderminis-
ern schon gemacht. Es ist wichtig, hinzuzufügen, dass
ich die Weiterentwicklung der Orthographie an der gu-
en Lesbarkeit der deutsch geschriebenen Texte orien-
ieren muss und nicht etwa daran, wie es gelingen
önnte, dass Schüler weniger Fehler beim Schreiben ma-
hen. Dieses falsche Denken, dieses Missverständnis ist
it dafür verantwortlich, dass man die Kultusminister
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13555
)
)
Günter Nooke
für die Rechtschreibreform zuständig hielt. Wäre damals
im Deutschen Bundestag die Frage gestellt worden, ob
eine groß angelegte Reform notwendig sei und, wenn ja,
ob die Kultusminister sich ihr widmen sollten, wäre die
Antwort ein eindeutiges Nein gewesen.
Mit derselben Klarheit, mit der ich diese Frage da-
mals beantwortet hätte, muss ich aber heute sagen: Es ist
geradezu absurd, zu denken, der Rechtschreibung in
Deutschland und im deutschen Sprachraum sei am bes-
ten gedient, wenn es jetzt das Kommando „Zurück zur
alten Rechtschreibung!“ gäbe.
Politik hat die Aufgabe – immer dann, wenn sie am er-
folgreichsten ist, macht sie das und nimmt sich die Frei-
heit –, in jeder neuen Situation neu nachzudenken. Dabei
müssen wir uns, ob wir nun betroffen sind oder nicht, ob
wir beteiligt waren oder nicht, die Entscheidung der letz-
ten Jahre bewusst machen und diese berücksichtigen. Ich
mache keinen Hehl daraus, dass es keine Werbeveran-
staltung für Politik wäre, wenn eine alternde Politikerge-
neration, die vielleicht noch selbst eine ganze Schülerge-
neration in die neue Rechtschreibung getrieben hat, jetzt
sagte: Es gilt wieder alles, was vor zehn Jahren richtig
war. – Übrigens müsste man sich auch in Österreich und
der Schweiz erst an solche deutsche Sprunghaftigkeit ge-
wöhnen.
Als Kultur- und Medienpolitiker muss ich noch auf
eines hinweisen, nämlich dass zwar „FAZ“, „Bild“, „Die
Welt“ sowie andere Medien des Springer-Verlages die
alte Rechtschreibung verwenden, aber – das ist interes-
sant für manchen Abgeordneten – die Nachrichtenagen-
turen und sämtliche Lokalzeitungen bis auf eine die
neue;
von den Schulen und den staatlichen Einrichtungen, für
die die neue Regelung verbindlich ist, ganz zu schwei-
gen.
Also noch einmal zusammenfassend: Wir wollen mit
unserem Antrag einfach Druck machen und eine
schnelle und tragfähige Lösung einfordern. Wir halten es
für unverantwortlich, dass Schüler in Deutschland im
Deutschunterricht über Kommentare aus Zeitungen spre-
chen, für die es seit dem Sommer bezogen auf die Recht-
schreibung die Note „ungenügend“ geben würde. Dass
sich für die Schüler und Lehrer noch einiges ändern
muss und vielleicht zurückgenommen werden kann,
halte ich für zumutbar. Für den Erhalt der Vielfalt der
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Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine Anmerkung
n eigener parlamentarischer Sache. Herr Tauss, Sie ha-
en sich hier so vehement eingesetzt. Es ist völlig unbe-
reiflich, warum die Führung Ihrer Fraktion mit großem
hrgeiz die gewählten Vertreter mündiger Bürger im
eutschen Bundestag entmündigt, indem die Parole aus-
egeben wurde, die Anträge der Opposition nicht zu un-
erstützen. Dieser aufgesetzte und an Künstlichkeit kaum
u überbietende Fraktionszwang in der Frage der
echtschreibung macht das Parlament als Ganzes un-
laubwürdig.
n dieser Frage, in der die richtungweisende Kraft des
arlaments – nicht der Exekutive – offensichtlich ist,
assen Sie sich Ihre Meinung vorschreiben, sehr geehrte
olleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktio-
en. Das kann ich nicht glauben.
Sie haben die Chance verpasst, sich mit einem eige-
en Antrag zu diesem drängenden Thema zu Wort zu
elden. Mit Ihrer vorgeschriebenen Ablehnung unserer
nträge können Sie nichts anderes als Ihr Desinteresse
eigen. Das ist, wie Sie selbst gut wissen, nicht nur un-
ngemessen, sondern auch verantwortungslos.
ei einem Thema, das alle interessiert, nichts anderes als
esinteresse zu zeigen, ist sicherlich nicht der richtige
eg. Das werden die Zeitungen in Ihren Wahlkreisen,
enen das Thema durchaus nicht gleichgültig ist, zu
ommentieren wissen, und zwar – wie es aussieht – in
iner Rechtschreibung, zu der Sie offenbar keine Mei-
ung haben.
13556 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Das wird der Kollege Eckhardt Barthel, dem ich nun
das Wort für die SPD-Fraktion erteile, vermutlich zu ei-
nem großen Teil zurückweisen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der
Rede von Herrn Nooke habe ich immer an eine kleine
weiße Maus denken müssen, die sich im Laufrad be-
wegt. Es ist erstaunlich, mit welchem Pathos Sie hier et-
was vertreten haben, das es gar nicht gibt.
– Ja, der Wille zur Einheit.
Ich möchte erst einmal jemandem viel Erfolg für
seine Arbeit wünschen, und zwar Herrn Zehetmair, der
höchstwahrscheinlich am 17. Dezember den Vorsitz im
Rat für deutsche Rechtschreibung übernehmen wird.
Er ist auch unser Kollege in der Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“. Ich glaube, er braucht Unter-
stützung und vor allem Erfolg. Er selbst gehört zu denen,
die genauso wie ich vieles kritisch sehen. Wir sollten ihn
in dem Versuch unterstützen, die Gegner und die Anhän-
ger der Reform irgendwie zusammenzubringen und das
zu erreichen, was auch Sie wollen, nämlich Einigkeit.
Das ist nur auf diesem Weg möglich. Alles andere be-
deutet ein Vortäuschen falscher Realitäten.
Sie haben Herrn Zehetmair zitiert, Herr Nooke. In der
„Welt“, die Ihnen sicherlich nahe steht, Herr Nooke, lau-
tet die letzte Frage an Herrn Zehetmair: Was halten Sie
davon, dass sich der Bundestag der Rechtschreibung
noch einmal annehmen will? – Die Antwort ist eindeu-
tig: Das ist ein Irrweg.
Wenn Sie schon Herrn Zehetmair zitieren, dann bitte
richtig!
Wir beraten heute zwei Anträge. Ich kann zusammen-
fassend feststellen: In dem Antrag der CDU/CSU steht
nichts Neues – er enthält nämlich nichts anderes als das,
was mit dem Rat bereits umgesetzt worden ist – und in
dem anderen Antrag wird zu viel gefordert und das auch
noch – das muss ich an dieser Stelle hinzufügen – viel zu
spät.
Erlauben Sie mir noch eine kurze Fußnote. In der
Presse wurde darüber berichtet, dass der eine Antrag in
der alten Rechtschreibung formuliert wurde und der an-
dere in der neuen.
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Ich bin zwar voll gegen den Gruppenantrag, weil sein
nhalt falsch ist. Aber er ist ehrlicher als der Antrag der
DU/CSU; denn im Gruppenantrag wird mit der Forde-
ung nach völliger Rücknahme der Rechtschreibreform
lar Position bezogen. Angesichts der aktuellen Födera-
ismusdebatte finde ich es aber ein bisschen anmaßend,
ie Sie auf Bundesebene den einheitlich gefassten Be-
chluss der Ministerpräsidenten, die dafür zuständig
ind, quasi aufheben wollen. Herr Otto, ich finde es ein
isschen happig, wie weit Sie dort gehen. Ich möchte Ih-
en folgenden Satz aus einem Urteil des Bundesverfas-
ungsgerichts zur Zuständigkeit zitieren: Regelungen
ber die richtige Schreibung für den Unterricht in den
chulen fallen in die Zuständigkeit der Länder.
Wir wollen doch – genauso wie Sie in Ihrem Antrag –
ie Einheitlichkeit der Sprache gewährleisten. Wer das
ill, kann nicht fordern, dass nur der Bund zuständig
ein soll.
Eben, Herr Otto, wir wollen aber eine einheitliche
eutsche Sprache. Darüber sollten wir uns doch einig
ein.
Der Rechtschreibreform einige Zähne zu ziehen – in
er Tat gibt es mehrere Stellen, an denen man sich fragt,
ie das zustande gekommen ist – wird die Aufgabe des
ates für deutsche Rechtschreibung sein; das ist die ein-
ige Chance. Wenn er es nicht schafft, ist der Zug abge-
ahren. Deshalb unterstütze ich den Rat und nicht Schau-
nträge. Wenn die Anträge, die wir heute überweisen,
us den Ausschüssen irgendwann zurückkommen, dann
at der Rat – so hoffe ich jedenfalls – einen großen Teil
einer Arbeit schon erfolgreich erledigt.
ie wärmen sich die Hände an einem populistischen
euer. Mehr ist das nicht, was Sie hier machen.
Lassen Sie mich zum Schluss den Deutschen Kultur-
at zitieren, der wohl auch etwas mit Sprache zu tun hat:
Man kann nur hoffen, dass die unendliche Ge-
schichte Rechtschreibreform nach der Kultusminis-
terkonferenz jetzt nicht auch noch den Deutschen
Bundestag dauerhaft beschäftigen wird.
em ist nichts hinzuzufügen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13557
)
)
Eckhardt Barthel
Danke schön.
Herr Kollege Barthel, schon die Redezeitbegrenzung
steht der dauerhaften Beschäftigung des Bundestages
wirkungsvoll im Wege.
Nun hat der Kollege Hans-Joachim Otto für die FDP-
Fraktion das Wort.
Der Deutsche Bundestag ist der Überzeugung, dass
sich die Sprache im Gebrauch durch die Bürgerin-
nen und Bürger, die täglich mit ihr und durch sie le-
ben, ständig und behutsam organisch weiterentwi-
ckelt. Mit einem Wort: Die Sprache gehört dem
Volk.
Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat dieses Hohe
Haus im März 1998 mit Mehrheit beschlossen.
Genau hiergegen verstößt die Rechtschreibreform und
genau hier liegt der Kardinalfehler.
Es war ganz sicher ein Fehler, zu glauben, dass man
die sensible, dynamische Struktur einer Sprache in
eine staatliche Verordnung zwängen könnte.
Ausgerechnet derjenige, der dies sagte, ist jetzt beauf-
tragt, die deutsche Sprache in eine staatliche Verordnung
zu zwängen. Es ist der designierte Vorsitzende des Rates
für deutsche Rechtschreibung, Hans Zehetmair. An dem
jahrhundertelang in Deutschland, aber auch in den aller-
meisten anderen europäischen Kulturnationen bewährten
Gebot einer behutsamen und organischen Sprach- und
Rechtschreibentwicklung durch das Volk haben sich die
Bürokraten der zwischenstaatlichen Kommission ver-
sündigt.
Sie folgten bewusst oder unbewusst der Ideologie eines
Initiators der Reform, des SED- und PDS-Mitglieds
Dieter Nerius, der die Rechtschreibreform wörtlich be-
zeichnete als „eine Maßnahme der Sprachlenkung, die
nur vom Staat durchgesetzt werden kann“.
Staatliche Sprachlenkung ist genau das, was die Unter-
zeichner des Gruppenantrags jetzt und für alle Zukunft
verhindern möchten.
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Lieber Herr Tauss, Sie sollten lieber schweigen.
Es sind weit mehr Kolleginnen und Kollegen, die den
nhalt dieses Gruppenantrags unterstützen. Ich nenne
ier die Kollegin Dr. Vollmer und den Kollegen Winkler
on den Grünen – ich hoffe, ich schade ihnen nicht –, die
iese Position inhaltlich teilen.
ine nicht geringe Zahl von Kollegen aus Ihrer Fraktion,
ieber Herr Tauss, haben mir gesagt, sie würden diesen
ntrag gern unterstützen, sähen sich daran aber durch
en Druck Ihrer Fraktionsführung gehindert. Das ist ein
rmutszeugnis für die Fraktionsführung.
Es gab in der deutschen Geschichte schon einmal ei-
en Versuch staatlicher Sprachlenkung, nämlich die
echtschreibreform von 1876. Schon damals scheiterte
er Versuch nachhaltig. Auch die jetzige Rechtschreib-
eform ist grandios gescheitert. Sie hatte zwei zentrale
iele:
Erstens: die einfachere Erlernbarkeit. Das Gegen-
eil ist eingetreten. Nach einer jüngst veröffentlichten
ntersuchung hat die Rechtschreibreform das Erlernen
er Orthographie nicht etwa vereinfacht, sondern, im
egenteil, erschwert. Die Anzahl der Regeln hat nicht
b-, sondern zugenommen.
Zweitens: die Einheit der deutschen Sprache. Die-
es Ziel ist – das ist nun wirklich unbestreitbar – wirk-
ich völlig verfehlt worden. Das Gros der Schriftsteller,
arunter die Nobelpreisgewinner Günter Grass und
lfriede Jelinek, die führenden Buchverlage, die bedeu-
endsten Zeitungen und Zeitschriften, die gesamte deut-
che Schreibkultur, nicht zuletzt zwei Drittel des deut-
chen Volkes – Sie wollen doch noch immer eine
olkspartei sein – haben sich von der Neuschreibung mit
rausen abgewandt.
er die Einheit der deutschen Sprache will – wir wollen
ie –, der muss von einer staatlich verordneten Schlecht-
chreibreform konsequent Abstand nehmen.
Abschließend möchte ich noch auf einige Einwände
ingehen:
Der Bundestag ist – Herr Schmidt, das sagen Sie
och immer – unzuständig. Ich frage Sie, warum die
undesregierung das entscheidende Dokument, näm-
ich die „Wiener Absichtserklärung“, mit unterzeich-
et hat. Die Bundesregierung hat mit verhandelt und
13558 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Hans-Joachim Otto
mit unterzeichnet. Wir Bundestagsabgeordneten sind in
jedem Fall berechtigt, einen Appell an die KMK zu
richten.
Abwegig ist auch der Hinweis auf angebliche Mehr-
kosten: Selbst die glühendsten Verfechter der Reform
wollen nochmals nachbessern. Die Schulbücher müssen
also ohnehin umgeschrieben werden.
Nun zum Hinweis auf die Schüler, die die neuen Re-
geln bereits gelernt haben.
Antje Vollmer hat völlig Recht: Wir müssten uns bei den
Schülern entschuldigen,
sie das Falsche gelehrt zu haben. Unsere Bereitschaft,
aus Fehlern zu lernen und sie für die Zukunft zu korri-
gieren, hat im Übrigen Vorbildfunktion, vor allem für
Kinder.
Zum Abschluss noch ein Wort zum viel zitierten Rat
für deutsche Rechtschreibung. Dass dies eine bloße
Alibiveranstaltung ist,
in der sich die Bürokraten eine satte Mehrheit gesichert
haben, belegt der wohl begründete Rückzug des
P.E.N.-Zentrums und der Deutschen Akademie für Spra-
che und Dichtung. Den designierten Vorsitzenden dieses
Rates, den von mir wirklich sehr geschätzten Hans
Zehetmair, möchte ich an seine eigene Erkenntnis vom
vergangenen Jahr erinnern.
Sie müssen sich jetzt aber sehr beeilen. Ich hoffe, das
ist Ihnen klar, Herr Kollege.
Das tue ich. Ich zitiere noch Herrn Zehetmair und
dann bin ich fertig.
Zehetmair sagte:
Wir hätten die Rechtschreibreform nicht machen
dürfen. Die Politik darf sich nicht anmaßen, die
Sprache zu reglementieren.
Lieber Hans Zehetmair, auch der Rat darf sich nicht an-
maßen, die Sprache zu reglementieren. Geben Sie die
Sprache dem Volk zurück! Verzichten Sie auf eine staat-
lich verordnete Rechtschreibreform.
Vielen Dank.
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Das werden wir ja gleich sehen, Herr Schmidt. – Herr
räsident! Da mich der Kollege Otto hier unerhörter-
eise angesprochen hat, muss ich jetzt zu meinem Ver-
alten, was den Antrag betrifft, doch Stellung nehmen.
Zum einen ist es so – auch Sie haben das schon erle-
en können –: Das Verhalten eines Abgeordneten einer
egierungsfraktion wird manchmal mehr in geordnete
ahnen gelenkt, als man es sich als frei gewählter Abge-
rdneter wünscht. In diesem Fall war es so, dass die Vor-
tände beraten und sich darauf geeinigt haben, diese Ab-
timmung nicht freizugeben. Vermutlich hat man
edacht, Ihrem Antrag, Herr Kollege Otto, werde ge-
olgt, wenn man die Abstimmung darüber freigibt. Dem-
ntsprechend habe ich mich dazu hinreißen lassen,
eine Unterschrift zurückzuziehen, obwohl ich Ihren
ntrag vollinhaltlich unterstütze. Das will ich hier noch
inmal sagen.
Zum anderen sagen die Befürworter, man dürfe es
en Kindern nicht antun, die Reform jetzt wieder zu-
ückzunehmen. Das ist, finde ich, eine perfide Argumen-
ation; denn die, die von Anfang dagegen waren, haben
erade der Kinder wegen davor gewarnt, diese kom-
lette Umstellung vorzunehmen. Das ist eine Verdre-
ung der Tatsachen.
Der Herr Zehetmair gehört auch zu denen, die die Re-
orm gegen die breite Öffentlichkeit in Deutschland
urchgepeitscht haben. Es ist ein Treppenwitz der Welt-
eschichte, wenn der, der das gegen den Widerstand der
reiten Öffentlichkeit durchgesetzt hat, jetzt den Vorsitz
bernimmt und sagt, es sei ein Irrweg, wenn sich der
undestag damit befasse.
as ist überfällig. Es ist eine Schande, dass Herr
ehetmair diesen Vorsitz übernimmt. Die Zusammen-
etzung des Gremiums ist völlig inakzeptabel. Meiner
einung nach ist es richtig, dass sich die Reformgegner
icht darauf einlassen, da mitzuarbeiten.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13559
)
)
Josef Philip Winkler
Wenn die Anglizismen, deren Übernahme immer wie-
der heftig kritisiert worden ist, der GAU waren, dann ist
die Rechtschreibreform der Super-GAU der deutschen
Sprache.
Herzlichen Dank.
Das war eine bemerkenswerte Kurzintervention, die
insbesondere wegen der subtilen Hinweise auf das gele-
gentliche Spannungsverhältnis zwischen individueller
Meinungsbildung und Absichten der eigenen Fraktion
keiner Erwiderung des Angesprochenen bedarf,
was uns Redezeit spart.
– Nach der Geschäftsordnung hat er immer Recht. Damit
können wir das abschließen.
Nun hat die Kollegin Grietje Bettin das Wort.
Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Ehrlicherweise muss ich wohl sagen, dass ich an
der Rechtschreibreform ebenso wenig Freude hatte, wie
ich Freude an der Diskussion habe, die wir heute führen,
nämlich an der Diskussion darüber, sie wieder rückgän-
gig zu machen.
Es war schon damals ein öffentliches Ärgernis. Kaum
jemand in Deutschland konnte so richtig verstehen,
warum die Reform überhaupt notwendig war. Entspre-
chend negativ war dann auch die öffentliche Stimmung.
Doch damit nicht genug: In meinem Heimatland
Schleswig-Holstein wurde die Reform der Rechtschrei-
bung durch einen Volksentscheid gestoppt,
aber nur für ein Jahr; denn im Sinne der gesamtstaatli-
chen Verantwortung und der nationalen Identität, die in
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ie erklärte gegen den entschiedenen Willen der Bevöl-
erungsmehrheit die Rechtschreibreform wieder für ver-
indlich. Man hatte keine andere Wahl. Der Schaden für
ie schleswig-holsteinischen Schülerinnen und Schüler,
ie Schulen und nicht zuletzt auch die Schulbuchverlage
äre einfach zu groß gewesen. Auf die Schlussfolgerun-
en aus diesem unerfreulichen Beispiel für die föderale
rdnung will ich hier nicht zu sprechen kommen.
Absurd waren allerdings manche Abwehrversuche
er Reformgegner. Eltern klagten im Namen ihrer Kin-
er dagegen, dass ihre Sprösslinge die neue Rechtschrei-
ung in der Schule erlernen – mit dem Ergebnis, dass
iese für die Dauer des Deutschunterrichts die Klasse
erlassen mussten, um in einem Extraraum ganz allein
inen gesonderten Unterricht zu genießen.
ffektiver kann man ein Kind nicht zu einem Außensei-
er stempeln.
Eine simple Kehrtwende zur alten Rechtschrei-
ung mehr als ein halbes Jahrzehnt nach der Einführung
er neuen Rechtschreibung halte ich politisch für absolut
icht verantwortbar. Diejenigen, die mit der neuen
echtschreibung Schwierigkeiten haben und am lautes-
en „Zurück!“ rufen, haben früher in der Schule die alte
echtschreibung gelernt und haben einfach keine Lust,
ich umzustellen. Das ist verständlich; das geht mir zum
eil auch so.
öllig unverständlich aber ist, dass nun gerade den be-
roffenen Schülerinnen und Schülern zugemutet werden
oll, nach wenigen Jahren noch einmal umzulernen.
ir als Abgeordnete können schreiben, wie wir wollen;
ber Schülerinnen und Schüler haben keine Wahl.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der entschei-
ende Punkt, der in diesem Gruppenantrag leider kaum
erücksichtigung findet: Die Leidtragenden – –
13560 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Frau Kollegin Bettin, Ihr Hinweis, dass Abgeordnete
schreiben könnten, wie sie wollten, veranlasst den Kolle-
gen Otto zu einer Zwischenfrage.
Bitte, Herr Kollege Otto.
– Wir kontrollieren in Zukunft mal, wie er schreibt.
Liebe Frau Kollegin Bettin, nachdem Sie eben ge-
warnt haben, dass die Schüler noch einmal umlernen
müssten, möchte ich Sie fragen, welche Funktion der
Rat für deutsche Rechtschreibung überhaupt haben
soll, wenn er nicht neue Änderungen einführen soll?
Sind Sie nicht mit mir der Auffassung, dass die Schüler
und auch die deutsche Öffentlichkeit ohnedies erneut ge-
zwungen werden sollen, zum fünften Mal mit neuen Än-
derungen an der Reform, mit einer Reform der Reform
umzugehen? Müssen die Schüler nach dieser Murksre-
form nicht sowieso erneut umlernen?
Es ist so, dass sich Sprache permanent weiterentwi-
ckelt und wir auch immer wieder neu dazulernen müs-
sen. Wir haben immer klar gesagt, dass man da in vielen
Bereichen keine Vorschriften machen kann. Nichtsdesto-
trotz ist es jetzt so, dass die Schulbücher gemäß den
Vereinbarungen der neuen Rechtschreibung angepasst
wurden. Daran müssen wir jetzt festhalten.
– Sie müssen nicht in der Form umgeschrieben werden,
wie es bei Einführung der neuen Rechtschreibung der
Fall war. Der Ehrlichkeit halber sollten wir uns schon
eingestehen, dass es nicht zu substanziellen Veränderun-
gen durch Vorschläge dieses Rates kommen wird.
– Das weiß ich nicht. Es geht aber hier nicht darum,
Herrn Zehetmair zu gefallen.
Ich möchte noch auf einen entscheidenden Punkt ein-
gehen, der auch im Gruppenantrag nicht berücksichtigt
wurde. Die Leidtragenden einer Rechtschreibreform sind
nicht „FAZ“-Leserinnen und -Leser und einige große Zei-
tungsverlage, auch wenn sich diese als besonders gebeu-
telt hinstellen und vor Selbstmitleid fast zerfließen. Die-
ses Verhalten der Verlage hat maßgeblichen Anteil an
der derzeitigen Verunsicherung der Bevölkerung. Die
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as muss ich auch als Medienpolitikerin leider feststel-
en.
Die Betroffenen einer Rücknahme der Reform wären
ie Schülerinnen und Schüler, vor allem diejenigen,
ie das Schreiben und Lesen erst noch lernen müssen.
iesen Aspekt in der Argumentation außen vor zu las-
en, zeugt von Ignoranz gegenüber der PISA-Erkenntnis,
emäß der deutschen Schülerinnen und Schülern das Er-
ernen von Lesen und Schreiben in der Schule ohnehin
icht besonders leicht fällt. Ich halte deshalb ein Ein-
nicken und ein Zurück zur alten Rechtschreibung für
ildungspolitisches Abenteurertum, übrigens auch aus
ostengründen.
llein für neue Schulbücher müssten dreistellige Mil-
ionenbeträge ausgegeben werden. Dieses Geld würde
n anderer Stelle fehlen.
n Niedersachsen und im Saarland, wo es keine Lehrmit-
elfreiheit mehr gibt, müssten die Eltern wieder neue Bü-
her bezahlen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Bil-
ungsbereich wirklich Wichtigeres zu tun,
ls Geld für eine sich ständig ändernde Orthographie zu-
ammenzukratzen. Wir brauchen das Geld dringend für
esseren Unterricht, für mehr Ganztagsschulen und viel
rühere Förderung. Die in den letzten Tagen erschienene
ECD-Studie zu den Kindergärten sagt uns doch ein-
eutig, wohin die Reise gehen soll.
Natürlich darf der Bundestag über solch ein Thema
on nationaler Bedeutung auch dann beraten, wenn er
elbst hierfür keine Gesetzgebungskompetenz hat.
er Antrag der Unionsfraktion mit dem Titel „Klarheit
ür eine einheitliche Rechtschreibung“ greift durchaus
inige wichtige Punkte der Debatte auf. Einige Teile der
arin enthaltenen Analyse sind meines Erachtens durch-
us treffend formuliert.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13561
)
)
Grietje Bettin
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meiner Meinung
nach steht die KMK hier in der Verantwortung und muss
im Interesse der Schülerinnen und Schüler handeln. Ich
hoffe, alle Beteiligten und insbesondere die Medien neh-
men ihre Verantwortung für die nachfolgende Genera-
tion wahr, indem sie zu einer konstruktiven Lösung des
Problems beitragen. Auch wir als Abgeordnete haben
grundsätzlich diese Verantwortung wahrzunehmen. Ich
finde, dass diese Debatte bisher reichlich rückwärts ge-
wandt war.
Deshalb hoffe ich, dass wir bei der Diskussion in den
Ausschüssen doch gemeinsam zu einer Lösung des Pro-
blems kommen.
Danke schön.
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Steinbach das Wort.
Liebe Kollegin, man muss schon sagen, Ihre Argu-
mente hinken auf beiden Beinen. Sie haben aus Schles-
wig-Holstein berichtet und wollten damit plausibel ma-
chen, warum man eine Rechtschreibreform, die erst
einmal probeweise eingeführt worden ist, nach Ende der
Probezeit auf keinen Fall mehr rückgängig machen
könnte. Sie sagten, das Ganze würde keinen Sinn ma-
chen.
Dann darf man die Reform nicht probeweise einfüh-
ren, sondern muss sie von Anfang an endgültig einfüh-
ren.
Zweitens. Wir können als Politiker natürlich tagtäg-
lich prachtvoll über die Meinung unserer Bürger hinweg-
regieren und -agieren. Ob das besonders klug ist, möchte
ich mit drei Fragezeichen versehen.
Es kommt noch eines hinzu: Die gesamte intellektu-
elle schreibende Zunft hat sich gegen diese Recht-
schreibreform gewandt. Gestern Abend erst hat Günter
Grass im Nachbargebäude der Dresdner Bank gesagt, er
sei empört über diese Rechtschreibreform. Er hat auch
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In der Zwischenzeit hat der Kollege Schmidt mir mit-
eteilt, er fühle sich wie alle anderen Kollegen von dieser
urzintervention persönlich unmittelbar angesprochen,
erzichte aber nach gutem Zureden des Präsidenten auf
ie Möglichkeit einer Erwiderung. Das möchte ich aus-
rücklich lobend festhalten.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Heinrich-
ilhelm Ronsöhr für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
erren! Ich glaube, auch nach den beiden Kurzinterven-
ionen, dass es Not tut, in dieser Debatte endlich ein
tück weit ehrlicher zu werden. Wenn wir an der Reform
berhaupt nicht rütteln dürften, Frau Bettin, gäbe es ja
en Rat für deutsche Rechtschreibung mit dem desi-
nierten Vorsitzenden Herrn Zehetmair nicht.
etztlich sehen doch auch diejenigen, die die Recht-
chreibreform eingeführt haben, Reformbedarf, weil sie
anches für nicht plausibel halten.
Ich habe Frau Bettin angesprochen, weil sie das nach-
altig bestritten hat. – Ich finde es falsch, jetzt damit zu
rgumentieren, die Schulbücher müssten neu gestaltet
erden. Die müssen auch neu gestaltet werden, wenn
err Zehetmair und seine Kommission ihre Arbeit abge-
chlossen haben; denn er hat schon einigen Änderungs-
edarf angekündigt.
13562 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Wir sollten bitte ehrlich zugeben, dass die Recht-
schreibreform viele Verwirrungen hinterlassen hat. Spra-
che, auch die geschriebene Sprache, soll faszinieren.
Nach meinem Eindruck ist das Einzige, was in Deutsch-
land noch fasziniert, die Verwirrung über die Recht-
schreibreform.
Insofern hoffe ich wirklich – das hoffe ich gemeinsam
mit Ihnen, Herr Barthel –, dass der Rat für deutsche
Rechtschreibung erkennt, wie wichtig unsere Aufgabe
ist.
Ich lege ja nicht, wie Herr Zehetmair in der „Welt“ un-
terstellt hat, ein Regelwerk für die Rechtschreibung fest,
sondern ich mache meine Sorge deutlich, dass es zu ei-
ner uneinheitlichen Rechtschreibung in Deutschland
kommt.
Natürlich kann man sagen: Die Schüler müssen so
schreiben, wie es die Kultusminister festgelegt haben.
Das ist richtig. Aber wenn die Schüler die Einzigen sind
und Verlage oder Schriftsteller nach den alten Regeln
schreiben – Frau Steinbach hat eben zu Recht darauf hin-
gewiesen –, dann lernen die Schüler nur für die Schule,
aber nicht für das Leben. Deshalb gilt es, die Recht-
schreibregeln wieder mit mehr Akzeptanz zu versehen.
Wir können die Reform nur dann noch erfolgreich ge-
stalten, wenn wir Herrn Zehetmair und seine Kommis-
sion befähigen, das Reformwerk so auszugestalten, dass
es zu einer größeren Akzeptanz der Regeln kommt. Ich
denke zum Beispiel an die verwirrenden Regeln bei
Trennungen oder bei eingedeutschten Anglizismen, auf
die Sie zu Recht hingewiesen haben und aus denen man-
che Fehler herrührt. Oft weiß man wirklich nicht, wes-
halb ein Begriff so und nicht anders geschrieben wird.
In der Rechtschreibreform fehlt es an einer Plausibili-
tätskontrolle. Das zu verbessern und zu verändern, aber
andererseits eine Einheitlichkeit bei der Rechtschreibung
zu erhalten, ist, glaube ich, ungemein wichtig. Von daher
ist unser Antrag sinnvoll.
Meine Damen und Herren, wenn der Bundestag sich
bei der Sprache nicht einmal dieses Themas annehmen
darf, dann verstehe ich unsere Aufgabe nicht richtig.
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ass es Sinnloses gibt, geben doch inzwischen alle zu.
un wir doch nicht so, als wenn wir das noch bestreiten
üssten! Dass es manches Sinnlose zu beseitigen gibt,
st auch in der Rede von Herrn Barthel deutlich gewor-
en. Das hier zu bestreiten ist doch falsch. Wenn wir das
ritisch hinterfragen, stellen wir fest, dass wir da gar
icht so weit voneinander entfernt sind.
etonen wir auch einmal die Gemeinsamkeiten!
Wir bauen keinen Popanz auf. Ich glaube, dass es kein
opanz ist, über Sprache, Sprachentwicklung und Recht-
chreibung zu sprechen. Wenn Rechtschreibung nur
och etwas mit Recht-haben-Wollen zu tun hat – –
Dann kann ich nicht verstehen, was die Kultusminister
emacht haben.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass es zu eini-
en Korrekturen kommt und dass Herr Zehetmair die ei-
ene Reform so korrigieren kann, dass sie eine größere
kzeptanz in der deutschen Bevölkerung und im
eutschen Sprachraum findet. Diese Akzeptanz anzu-
treben ist ungemein wichtig. Wenn uns das durch diese
ebatte gelingt, dann tragen alle dazu bei, auch diejeni-
en, die sich von der neuen Rechtschreibung wieder ent-
ernt haben und zur alten zurückgekehrt sind. Dann ha-
en auch sie etwas Sinnvolles für unser ganzes deutsches
olk geleistet.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
er Kollege Jörg Tauss für die SPD-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13563
)
)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, lieber Kollege Otto, diesen Gefallen tue ich Ih-
nen heute nicht.
Lieber Herr Präsident! Frau Landesvorsitzende!
Heute beenden wir das Sommertheater, das hier begon-
nen worden ist.
Sie fangen aber so an, als wollten Sie es fortsetzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir reden hier übrigens über 0,5 Prozent des Wort-
schatzes, um einmal die Dimension klar zu machen.
Es ist interessant, einmal aufzurollen, wie das Som-
mertheater begonnen hat. Ausgangspunkt waren zwei
Unionsleute: ein Ministerpräsident, ein Möchtegern-Mi-
nisterpräsident. Beide sind mit ihrem Anliegen als Bett-
vorleger gelandet.
Von Tigern ist nicht die Rede.
Interessant ist aber die Historie. Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen von FDP und CDU/CSU, 1988
wurde die Debatte in Gang gesetzt, zu Ihrer Regierungs-
zeit. Der KMK-Beschluss erfolgte 1996, zu Ihrer Regie-
rungszeit. Damals war übrigens Herr Rüttgers Bildungs-
minister. In dieser Zeit hat man von ihm überhaupt
nichts zu diesem Thema gehört.
Erst als er Oppositionsführer in NRW war, hat er sich ge-
dacht, er müsse zu diesem Thema reden.
Er war übrigens nicht einmal zuständig. Interessanter-
weise war das damals Herr Kanther. Warum ausgerech-
net Herr Kanther für die Rechtschreibreform zuständig
war, weiß ich nicht. Vielleicht hat er sich mehr mit
schwarzen Koffern beschäftigt, als die Probleme, die Sie
alle beklagen, aufgetaucht sind.
Aber er veranstaltete eine Anhörung, zu der ich übrigens
noch komme.
Die zweite illustre Gruppe waren die Chefredakteure
von „Spiegel“, „FAZ“ und „Bild“, die einmal Politik ma-
chen wollten. Dass ausgerechnet das Gaga-Blatt „Bild“
als Hüterin der deutschen Sprache auftritt, ist eigentlich
eine Peinlichkeit.
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ber diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind
berhaupt nicht betroffen; denn sie haben die künstleri-
che Freiheit, zu schreiben, wie sie wollen. Wenn sie
ollen, können sie Schifffahrt und den Pfiff des Schiffes
der eines Zuges mit fünf „f“ schreiben.
So weit zur Einheit der deutschen Sprache.
Lieber Kollege Ronsöhr, zu dem Minnesang möchte
ch Folgendes sagen.
Herr Kollege Tauss, sind Sie bereit – wenn ja, in wel-
her Reihenfolge –, Zwischenfragen der Kollegin
engsfeld und des Kollegen Bergner zu beantworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich würde die Fragen in dieser mir sympathischen
eihenfolge zulassen.
Frau Lengsfeld, bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Erinnern Sie mich bitte daran, dass ich mit dem Min-
esang fortfahre.
Herr Kollege Tauss, Sie haben sicherlich Recht, wenn
ie sagen, dass die Schriftsteller nach wie vor schreiben
önnen, wie sie wollen. Ist Ihnen aber bewusst, dass es
ine Verordnung gibt, nach der nur Texte in Schulbü-
hern abgedruckt werden dürfen, die in der neuen
echtschreibung verfasst sind? Beispielsweise würden
exte des Schriftstellers Reiner Kunze, der in der DDR
erfolgt wurde und der seit Jahren ein sehr engagierter
ämpfer für die alte Rechtschreibung ist, aus den Schul-
üchern verschwinden, nur weil sie in der alten Recht-
chreibung verfasst wurden. Finden Sie das wirklich an-
emessen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Frau Kollegin, Sie irren sich.
13564 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Jörg Tauss
Sowohl der Minnesang, über den ich vorhin sprechen
wollte, als auch die Stücke von Goethe – denken Sie bei-
spielsweise an den Urfaust – sind selbstverständlich in
der damaligen Rechtschreibung abgedruckt. Probleme
tauchen nur auf, wenn im Unterricht Texte aus Zeitungen
behandelt werden. Da würde ich den Schulen empfehlen,
nur die Zeitungen für den Unterricht heranzuziehen, die
sich vernünftigerweise der neuen Rechtschreibung be-
dienen.
Jetzt ist der Kollege Bergner an der Reihe.
Herr Kollege Tauss, ich möchte an die Frage von Frau
Lengsfeld anschließen. Wir sind nun beide Mitglieder
des Bildungsausschusses. Halten Sie es tatsächlich für
pädagogisch sinnvoll, wenn wir Schülern in den Schul-
büchern eine andere Rechtschreibung vermitteln, als sie
in der Literatur zu finden ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Lieber Kollege Bergner, auch diese Frage zielt ein
bisschen am Problem vorbei,
weil im Unterricht Literatur verwendet wird, die in der
Tat die unterschiedlichsten Formen der Rechtschreibung
aufweist. Es kommt darauf an, zu welcher Zeit die Lite-
ratur verfasst worden ist.
Das gilt übrigens auch für Theaterstücke.
Eine Hauptschullehrerin aus meinem Wahlkreis sagte
mir heute – ich musste wegen einer Beerdigung heute
Mittag dorthin fahren –, dass die Schülerinnen und
Schüler mit der neuen Rechtschreibung bestens zurecht-
kommen. Diese Lehrerin hat mich gebeten, heute Abend
meinen Kolleginnen und Kollegen auszurichten, dass es
im Unterricht mit der neuen Rechtschreibung weniger
Probleme gibt als mit der von Ihnen so geschätzten alten
Rechtschreibung.
Ich möchte noch eine Bemerkung zu den Journalis-
tinnen und Journalisten sowie zu den Schriftstellerin-
nen und Schriftstellern machen.
Herr Kanther hatte 1996 zu einer Anhörung eingeladen
und um eine Stellungnahme zur Rechtschreibreform ge-
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ch sage noch einmal, dass wir uns über nur 0,5 Prozent
es Wortschatzes aufregen.
Herr Kollege Otto, ich weise Ihren Vorwurf, der nicht
air ist, zurück. Was müssen Sie für ein Politikverständ-
is haben, dass Sie hier die Politik rügen? Politik darf
nd muss Entscheidungen fällen. Wir sollten uns deswe-
en nicht gegenseitig beschimpfen. Hier ist aber zu sa-
en, dass das Regelwerk nicht von der Politik erarbeitet
orden ist.
as Regelwerk ist von der zwischenstaatlichen Kom-
ission erarbeitet worden, die aus fachlich ausgewiese-
en Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissen-
chaftlern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz
estand und die ab 1988 im Auftrag der KMK und des
MI gearbeitet hat.
In dem Antrag der Unionsfraktion werden die Kultus-
inister der Länder aufgefordert, schnellstmöglich dafür
u sorgen, dass der unbefriedigende und verunsichernde
ustand durch eine klare Entscheidung beendet wird. Ich
leibe dabei – mit meinem Zwischenruf habe ich es vor-
in schon zum Ausdruck gebracht –, dass die Verunsi-
herung allein durch diejenigen verursacht wird, die seit
em Sommer diese Debatte über die Rechtschreibreform
ühren.
ie war im Grunde genommen nahezu abgeschlossen.
Wenn Sie, Herr Kollege Otto, sagen, dass Sie sich von
ürokraten nicht vorschreiben lassen, wie Sie zu schrei-
en haben, dann kann ich nur sagen: Dieses Argument
ätte mir früher als Schüler einfallen müssen. Was wäre
ohl passiert, wenn ich das meiner Lehrerin entgegen-
eschmettert hätte? Wo sind wir denn überhaupt?
elbstverständlich brauchen wir Regeln im Unterricht,
ach denen gearbeitet werden kann.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13565
)
)
Jörg Tauss
Die Kollegin Bettin hat die Frage der Kosten ange-
sprochen. Ich kann daher darauf verzichten, dies aus-
führlich darzustellen.
Eines tröstet mich: Die „FAZ“, die sich mit an die
Spitze der Bewegung gegen die Rechtschreibreform ge-
stellt hat, titelte, wie ich kürzlich gelesen habe, über ei-
nen Beitrag – ich glaube, es ging um Fußball – nur ein
Wort: „Albtraum“. Sie schrieb Albtraum mit „b“.
Das heißt, selbst die Gegner der Reform haben die Re-
form schon so verinnerlicht, dass sie auf die bewährten
neuen Reformvorschriften zugreifen. Das tröstet mich.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bevor wir nun – –
– Kann ich denn nun die Aussprache schließen?
Dann erlaube ich mir drei knappe Bemerkungen, be-
vor wir die diskutierten Vorlagen vermutlich an die vor-
gesehenen Ausschüsse überweisen.
Erstens. Dass der Deutsche Bundestag ein Thema auf
seine Tagesordnung setzt, das die deutsche Öffentlich-
keit ganz offensichtlich intensiv beschäftigt und das von
deutschen Klassenzimmern bis zu deutschen Akademien
manche Aufregungen erzeugt hat, ist gewiss nicht zu be-
anstanden, auch wenn es für solche Initiativen neben
freundlichen auch unfreundliche Kommentare gegeben
hat.
Zweitens. Ich finde im Angesicht vieler Aufregungen
um die Rechtschreibreform die Erfahrung eher tröstlich,
dass es in diesem Lande offenkundig noch Dinge gibt,
die sich politischen Gestaltungsabsichten entziehen, völ-
lig gleichgültig, ob es sich um exekutive oder legislative
Versuchungen handelt.
Drittens. Es wäre schön, wenn die Vorlagen, die wir
gleich überweisen, anschließend das Plenum mit einer
Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses
wiedersehen würden, die diesen Einsichten Rechnung
trägt.
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Nun frage ich, ob Einvernehmen besteht, die Vorlagen
uf den Drucksachen 15/4261 und 15/4249 zur federfüh-
enden Beratung an den Ausschuss für Kultur und Me-
ien und zur Mitberatung an den Innenausschuss sowie
n den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
bfolgenschätzung zu überweisen. Gibt es dazu ander-
eitige Vorschläge? –
öchte jemand den Haushaltsausschuss beteiligen? –
uch das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisun-
en so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
– zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Weltbevölkerung und Entwicklung – zehn
Jahre nach Kairo
– zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Annette
Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Weltbevölkerungspolitik zehn Jahre nach
Kairo
– Drucksachen 15/3812, 15/3798, 15/4041 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Kortmann
Sibylle Pfeiffer
Thilo Hoppe
Markus Löning
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollte über
iese beiden Anträge insgesamt 30 Minuten diskutiert
erden. Die Kolleginnen und Kollegen Karin Kortmann,
ibylle Pfeiffer, Thilo Hoppe und Ulrich Heinrich haben
hre vorbereiteten Reden zu Protokoll gegeben.1) – Auch
azu erhebt sich kein Widerspruch.
Dann können wir damit die Aussprache für beendet
rklären und zur Abstimmung über die Beschlussemp-
ehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammen-
rbeit und Entwicklung auf Drucksache 15/4041 zu die-
en Anträgen kommen. Der Ausschuss empfiehlt in
einer Beschlussempfehlung, die beiden genannten An-
räge zusammenzuführen und in der Ausschussfassung
nzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
ung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der
timme? – Dann ist diese Beschlussempfehlung bei
Anlage 5
13566 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Stimmenthaltung der gesamten FDP-Fraktion mit großer
Mehrheit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Günter Nooke, Bernd Neumann ,
Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Abriss des Palastes der Republik nicht verzö-
gern
– Drucksachen 15/3315, 15/3887 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel
Günter Nooke
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der FDP-Fraktion
vor.
Auch hierüber soll eine halbe Stunde diskutiert wer-
den. – Darüber besteht offensichtlich Einvernehmen.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Eckhardt Barthel für die SPD-Fraktion das Wort.
– Vielleicht geht der Abriss ja schneller.
Meine Damen und Herren! Das ist nun der fünfte
Aufbruch zum selben Thema. Ich zitiere sonst nicht
große Leute, aber bei Nietzsche heißt es, Geschichte sei
eine ewige Wiederkehr des immer Gleichen. Irgendwie
passt das zu diesem Thema: Es wird immer wieder das-
selbe gesagt und dies dummerweise von denselben Leu-
ten.
Ich komme ganz kurz zu der Situation, aufgrund de-
ren ich meine, dass dieser Antrag total überflüssig ist.
Wir haben am 4. Juli 2002 den Beschluss gefasst, den
Palast abzureißen und das Schloss aufzubauen,
und ein Nutzungskonzept, das gerade gestern im Kultur-
ausschuss von Herrn Lehmann noch einmal sehr plas-
tisch und sehr angenehm vorgetragen wurde, sowie Vor-
schläge zur Platzgestaltung vorgelegt. Dieser Beschluss
steht; dennoch wird er immer wieder infrage gestellt und
dauernd wird noch einmal untersucht, ob dabei nicht
noch etwas schief gehen könnte. Das sollten wir sein las-
sen. Ein Beschluss des Deutschen Bundestages ist ein
Beschluss des Deutschen Bundestages ist ein Beschluss
des Deutschen Bundestages. Dabei sollte es auch blei-
ben.
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Dazu komme ich gleich.
Im Sommer ist leider Gottes eine blöde Sommerloch-
iskussion entstanden, weil einige Leute, die dem An-
rag damals zugestimmt hatten, angesprochen haben,
ass Ding stehen zu lassen, solange nicht klar sei, dass
as Schloss gebaut wird. Ich habe das für falsch gehalten
nd halte es weiterhin für falsch. Aber auch dies ist in-
wischen vom Tisch.
Ebenso ist bekannt, dass wir im vorigen Jahr ein
oratorium für zwei Jahre beschlossen haben, das zur
lanung und meiner Meinung nach auch für den Abriss
enutzt werden sollte. Wir wissen, dass dahinter auch
ie Frage stand, wie wir das Geld zusammenbekommen.
70 Millionen Euro sind bestimmt kein Pappenstiel. Es
st doch recht schwierig, bestimmten Bevölkerungsgrup-
en zu vermitteln, dass in dieser Zeit für so viel Geld ein
chloss gebaut werden soll.
Was den Abriss angeht, müssen wir uns darüber klar
ein, dass es hier nicht um eine Datsche geht. Dies ist ein
chwieriges Unterfangen: Die Statik ist schwierig, der
rund ist schwierig. Es besteht Angst, dass andere Bau-
en davon negativ beeinflusst werden könnten. Auch
ind die Probleme in Bezug auf das Grundwasser noch
icht gelöst. Es gibt sehr viele unterschiedliche Meinun-
en, wie es weitergehen soll. Ich kann nur hoffen, dass
s bei dem bisher Gesagten bleibt, wonach die Kosten
ür den Abriss 20 Millionen Euro nicht überschritten,
ber ich bin skeptisch, ob dies einzuhalten ist.
Nun will ich zu der Frage kommen, wann dieses Vor-
aben beginnt. Wir haben eine feste Planung auch für
en Abriss.
Eine Sekunde. – An dieser Stelle muss man ehrlicher-
eise sagen: Bedauerlicherweise – meinetwegen auch
einlicherweise – ist es beim Berliner Senat bei der Aus-
chreibung zu einem Fehler gekommen.
Das würde ich so nicht sagen, weil ich Menschen so et-
as nicht zutraue.
Sie können sagen, was Sie wollen. Das stimmt aber
icht.
Das Angenehme ist, dass das Ingenieurbüro, das Be-
chwerde beim Kammergericht eingereicht hatte,
iese jetzt zurückgezogen hat. Das ist gut, weil es damit
einen Gang gehen kann. Heute ist die Nachricht gekom-
en, dass in neun Monaten mit dem Abriss begonnen
erden kann.
Ich hoffe allerdings, dass bis dahin klar ist, dass nicht
ur etwas abgerissen wird. Vielmehr muss auch das da-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13567
)
)
Eckhardt Barthel
hinter Liegende, insbesondere der Dom, gesichert wer-
den. Einige denken wohl nur daran, dass jemand einen
Fehler gemacht hat. Dahinter steckt mehr als nur ein
kleiner Abriss. Insofern bin ich froh, dass es sich jetzt
nur noch um eine begrenzte Zeit handelt, die jeder auf
seine Art – mit Schimpfen oder mit Freude – genießen
kann.
Eigentlich wäre ich jetzt schon am Ende meiner Rede,
weil der Antrag der CDU/CSU-Fraktion nichts weiter
hergibt. Aber das einzig Spannende an dieser Geschichte
ist der Änderungsantrag der FDP-Fraktion. Er bringt
eine neue Note in die Debatte. Das halte ich für höchst
spannend. Den Kollegen, die zurzeit nichts anderes le-
sen, darf ich die Passage vorlesen:
Der Bund wird keine weiteren Mittel für eine Zwi-
schennutzung des Palastes der Republik zur Verfü-
gung stellen. Davon ausgenommen sind Mittel für
eine Ausstellung, die sich objektiv und wissen-
schaftlich fundiert mit der gesellschaftlichen, politi-
schen und architektonischen Geschichte des Bau-
werks auseinander setzt.
Das ist in der Tat eine neue Note. Ich finde das span-
nend, weil somit zu der Frage, was in der Zeit bis zum
Abriss mit dem Palast passiert, zwei Positionen vorlie-
gen. Es sind zwar nur neun Monate,
aber die Beschäftigung mit dieser Frage ist offensicht-
lich sehr intensiv.
Wir haben zwei Positionen. Eigentlich müssten Sie
sich einmal einig werden. Die CDU/CSU fordert in ih-
rem Antrag, dass der Palast überhaupt nicht bespielt
wird, es sei denn – das muss ich einschränkend hinzufü-
gen –, er wird von kleinen Institutionen wie dem BDI,
der das Geld mitbringt und nicht auf öffentliche Mittel
angewiesen ist, genutzt. Solche Organisationen dürfen
den Palast nutzen, ansonsten soll keiner hinein. Die FDP
will, dass der Palast weiter bespielt wird, und würde da-
für auch öffentliche Mittel einsetzen, aber es soll nur das
gespielt werden, was die FDP will. Das ist sehr interes-
sant.
Trotzdem gibt es eine faszinierende Gemeinsamkeit
zwischen den Anträgen. Beide wollen verhindern, dass
freie Gruppen den Palast nutzen können. Der eine ver-
sucht es über ein Verbot, der andere will eine bestimmte
Ausstellung zeigen.
Über dieses Verständnis kann ich nur staunen.
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1)
Herr Nooke, ich hatte versprochen, früher Schluss zu
achen. Das können Sie mir nachher erzählen.
Ich will nicht die Qualität der einzelnen Gruppen be-
erten. Das steht mir nicht zu. Das könnte ich auch gar
icht, weil ich nicht alle gesehen haben. Darum geht es
ber auch gar nicht. Das Thema lautet: Dürfen Projekte
m Palast durchgeführt werden, auch wenn sie als Pro-
ekt, nicht wegen des Spielortes, vom Hauptstadtkul-
urfonds finanziert werden? Das ist die Kernfrage bei-
er Anträge.
Ich will meine Position dazu ganz deutlich darstellen,
m mich vom Ideologieverdacht zu befreien: Ich bin
das habe ich schon mehrfach gesagt – für einen zügi-
en Abriss. Solange der Palast mit seinem morbiden
harme des Untergangs aber noch steht, möchte ich,
ass er genutzt werden kann. Künstler möchten hinein
nd sie haben ein Publikum hinter sich stehen. Es han-
elt sich um einen Zeitraum von – wenn das stimmt –
eun Monaten. Wir sollten die ganze Angelegenheit da-
er nicht zu hoch hängen.
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.
ie derzeitige Debatte über den Palast in Verbindung mit
em Hauptstadtkulturfonds bereitet mir ein bisschen
orge. Weil der Hauptstadtkulturfonds derzeit von meh-
eren Seiten auf so unangenehme Weise angeschossen
ird, habe ich Angst, dass dieser Fonds, eine der wich-
igsten Säulen unserer Hauptstadtkulturförderung, be-
chädigt wird. Das möchte ich verhindern.
Ihre Anträge werden Sie nicht zurückziehen; das ist
lar. Wir werden sie ablehnen. Ich bitte Sie aber, im Um-
ang mit dieser Frage, auch was den Hauptstadtkultur-
onds angeht, ein bisschen Zurückhaltung zu üben, weil
as eine ganz schwierige Geschichte ist.
Ich bedanke mich.
Herr Kollege Barthel, der Kollege Manfred Grund hat
ich durch Ihre Bemerkung „der Grund ist schwierig“
ersönlich angesprochen, um nicht zu sagen: angegriffen
efühlt.
ch habe ihn davon überzeugt, dass dies kein persönli-
her Angriff, sondern eine streng am Grundstück orien-
ierte Bemerkung war. Damit entfällt die Möglichkeit ei-
er persönlichen Erwiderung.
Die Kolleginnen Antje Vollmer und Petra Pau haben
hre Reden zu Protokoll gegeben.1) Sie sind ein
Anlage 6
13568 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
leuchtendes Beispiel für den folgenden Redner, Hans-
Joachim Otto für die FDP-Fraktion.
– Entschuldigung, wir wollen streng in der Reihenfolge
bleiben. Zunächst hat die Kollegen Renate Blank für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Dass Sie die CDU/CSU vergessen, ist
natürlich ein unverzeihlicher Fehler. Zu später Stunde ist
das aber kein Problem.
Ich bitte untertänigst darum, diesen Irrtum nicht in der
Fraktion zu verbreiten.
Kollege Barthel, die Diskussion findet zu später
Stunde, im Schutz der Dunkelheit statt. Sie ist aber sehr
wichtig. Es zeigt sich, dass wir mit unserem Antrag be-
stimmte Dinge angestoßen haben. Außerdem wollen wir
die Kontrolle darüber haben, was zwischen dem Bund
und dem Land Berlin passiert. Wenn wir unseren Antrag
nicht gestellt hätten, wäre das Land Berlin heute noch
gegen den Abriss des Palastes.
Kollege Barthel, das Verwirrspiel um diesen Abriss
verdient es wirklich, dass wir im Parlament darüber dis-
kutieren. Denn eine Versenkung dieses sich zum Trauer-
spiel entwickelnden Abrissprojektes im schriftlichen
Protokoll, wie es von Ihnen gewünscht war, wäre dem
Palast der Republik, über den die Meinungen geteilt
sind, nicht angemessen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ab
und zu werden Aussagen, die Sie noch im Sommer 2004
gemacht haben, von der Realität widerlegt oder sie sind
überholt.
So hat Kollege Barthel gesagt, dass die Rückbauarbeiten
im Frühjahr 2005 beginnen können. Kollegin Vollmer
sagte, es sei unerheblich, ob der Abriss Anfang Mai oder
Anfang Juli 2005 beginne. Diese Zeiträume sind keines-
falls zu halten, obwohl die Firma – Sie haben es er-
wähnt – ihren Widerspruch gegen die Ausschreibungs-
vergabe zurückgezogen hat.
Die Verhandlung vor dem Kammergericht hätte eigent-
lich heute stattfinden müssen. Aus unserer Sicht wird
sich der Beginn der Abrissarbeiten wahrscheinlich bis
zum Frühjahr 2006 hinziehen. Der Vertreter des Baumi-
nisteriums konnte im Ausschuss keine Antwort auf die
Frage nach dem Zeitraum geben.
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er Berliner Senat sieht das anders und will eine Perfo-
ierung der Fundamentplatte. Das weitere Vorgehen wird
eigen, welche der Möglichkeiten zum Tragen kommt.
reiswerter wäre eine Erhaltung des Kellers.
Im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
urde gestern mitgeteilt, dass alle Missverständnisse
wischen dem Bund und dem Land Berlin, die es, wie
en Medienberichten ständig zu entnehmen war, gab,
usgeräumt seien.
as wurde allerdings schon des Öfteren berichtet. Es
ehlt uns langsam der Glaube.
enn nach wie vor habe ich den Eindruck, dass der Ber-
iner Senat den Abriss verzögern will, obwohl der Regie-
ende Bürgermeister sich deutlich dazu geäußert hat.
as war der Bauteil.
Jetzt sage ich einige Worte zur Zwischennutzung.
ollege Barthel, hören Sie mir zu: Ich habe nichts gegen
ine Zwischennutzung, unter der Bedingung, dass dort
eine öffentlichen Mittel hineinfließen werden.
ollege Barthel, das waren einmal Ihre Worte.
ir bleiben bei unserer Meinung: keine Bundesmittel
ür die Zwischennutzung des Palastes der Republik bis
u seinem Abriss.
Mittel aus dem Hauptstadtkulturfonds sind öffentliche
ittel.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13569
)
)
Renate Blank
Aus diesem Grund sollen auch keine Mittel des Bundes
über den Hauptstadtkulturfonds für eine Ausstellung
über den Palast im Palast zur Verfügung gestellt werden.
Die Jury hat dieses Projekt scheitern lassen; also brau-
chen wir darüber, auch wenn der Kultursenator des Lan-
des Berlin noch nicht aufgibt, nicht weiter zu diskutie-
ren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, manchmal führt ein
offener Krieg zwischen zwei Frauen zu einer Entschei-
dung, die uns als Opposition sehr entgegenkommt.
Damit aber keine Missverständnisse entstehen, sage ich:
Dem Chef des DHM, Herrn Ottomeyer, würden wir eine
korrekte Aufarbeitung des Themas bescheinigen. Das
sage ich nur, damit es nicht zu irgendwelcher Legenden-
bildung kommt.
Zum Abschluss noch eine pikante Sache: Herrn von
Boddien, der sich mit seinem Förderverein um den Wie-
deraufbau des Berliner Schlosses verdient macht, wurde
die Genehmigung zur Errichtung eines Informations-
und Ausstellungspavillons zum Berliner Schloss versagt.
Zur Information: Weder auf den Bund noch auf das Land
Berlin kämen Kosten zu.
Die entstehenden Kosten würden nämlich vom Förder-
verein getragen. Wie kleinkariert vom Bezirksamt Mitte
von Berlin!
Aber vielleicht fehlt die Akzeptanz des Bezirkes Mitte
für den Beschluss des Deutschen Bundestages. Hier
sollte das Bezirksamt Mitte von Berlin noch einmal
gründlich nachdenken. Zumindest wir wollen bürger-
schaftliches Engagement. Deshalb, Kollege Barthel, war
unser Antrag absolut nicht überflüssig.
Nun hat der Kollege Hans-Joachim Otto das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be-
schränke mich auf drei Erwiderungen auf den Kollegen
Barthel.
Die erste: In neun Monaten geschieht zwar normaler-
weise viel,
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enn in neun Monaten damit begonnen wird, bekom-
en Sie von mir eine wunderschöne Flasche Rotwein.
Ihr wollt alle mittrinken? Nur mein Freund Eckhardt
arthel! Aber er wird sich über den Fall noch Gedanken
achen müssen, dass in neun Monaten erwartungsge-
äß nicht damit begonnen wird.
Herr Kollege, ich möchte eigentlich nur ungern zulas-
en, dass hier mit politischen Überzeugungen Geschäfte
etrieben werden.
Das muss auch einmal zulässig sein; ich bin doch aus
iner marktwirtschaftlichen Partei.
Ich empfehle deswegen, dieses Angebot außerhalb
es Protokolls zu machen.
Nun steht es drin.
Jetzt kommt meine zweite Bemerkung: Die Kollegin
lank hat eben den Kollegen Barthel auf eine Aussage
ufmerksam gemacht, die er getroffen habe. Er hat das
estritten.
a ich geahnt habe, dass das hier bestritten werden wird,
abe ich mir das herausgeschrieben und möchte hier
iedergeben, was im Protokoll der 19. Sitzung des Aus-
chusses für Kultur und Medien auf Seite 10 geschrieben
teht: Solange der Palast noch stehe, habe er nichts ge-
en eine Zwischennutzung – unter der Bedingung, dass
eine öffentlichen Mittel dort hineinfließen würden.
13570 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
)
)
Hans-Joachim Otto
– In die Zwischennutzung, das heißt es doch von der Lo-
gik her! Lieber Herr Kollege Barthel, ein bisschen miss-
verständlich war die Aussage doch. Wir haben das da-
mals alle anders verstanden.
Aber jetzt kommt der entscheidende Punkt: Der Kollege
Barthel hat es als eine spannende Frage bezeichnet und
hat uns finstere Absichten unterstellt, dass wir für diese
Ausstellung im Palast der Republik eintreten. Wir be-
kennen uns dazu: Unsere unendliche Begeisterung für
die Staatsministerin Christina Weiss hat uns veranlasst,
den Vorschlag aufzugreifen; sie hat nämlich diesen Vor-
schlag gemacht. Ich halte ihn für sinnvoll.
Wenn überhaupt öffentliche Mittel in die Zwischennut-
zung fließen, dann für diese Ausstellung; dieser Über-
zeugung bin ich und deswegen haben wir diesen Antrag
gestellt.
Deshalb ist es erstaunlich, dass Sie meinem Antrag nicht
zustimmen wollen. Lieber Kollege Barthel, ich gebe Ih-
nen jetzt die Gelegenheit, zu reden; ich erteile natürlich
nicht das Wort, aber ich werde der Frage des Präsiden-
ten, ob ich eine Zwischenfrage zulasse, zustimmen.
Ich muss Sie beide enttäuschen: Weil Ihre Redezeit
jetzt zu Ende ist, kann ich leider keine Zwischenfrage
mehr zulassen.
Lieber Herr Kollege Barthel, ich hoffe sehr, dass Sie
dem Änderungsantrag der FDP-Fraktion, der ja gerade
der Unterstützung von Frau Dr. Weiss dient, zustimmen
werden.
Das Wort hat nun die Kollegin Vera Lengsfeld für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Kollege Barthel, es wäre ja wirklich wun-
derbar, wenn ein Beschluss des Bundestages ein Be-
schluss des Bundestages wäre und wenn die Bundesre-
gierung dem auch folgen würde. Aber Sie wissen doch
genauso gut wie ich, dass der Beschluss schon vor zwei
Jahren gefasst wurde und dann ein Jahr lang nichts pas-
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enn jetzt kritisiere ich den BDI, McKinsey und den
Focus“,
ie sich diesen Zwischennutzungsprojekten mit ihren ge-
chlossenen Gesellschaften angedient und dort ihre Par-
ys veranstaltet haben. Dadurch ist eine Gruppierung le-
itimiert worden, die aus ihrer Vergangenheitsfixierung
inen Hype macht.
Ich bezeichne das einfach als den Triumph des
chlechten Geschmacks oder der Geschichtsvergessen-
eit.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004 13571
)
)
Vera Lengsfeld
Es stellt sich die Frage, wie lange es in der Mitte von
Berlin so weitergehen soll und wie lange noch Steuer-
mittel im Palast versenkt werden sollen.
Es wäre doch endlich einmal an der Zeit, statt ein un-
übersehbares Symbol des Scheiterns der DDR in Form
einer Ruine mitten in Berlin zu lassen, sich den Zu-
kunftsprojekten zuzuwenden.
Dafür gibt es eine ganze Menge Vorschläge.
Ich finde, man sollte einmal darüber nachdenken, ob
nicht der Vorschlag des Herrn von Boddien angenom-
men werden sollte, in der Zeit zwischen dem Abriss des
Palastes der Republik und dem Beginn des Baus des
Schlosses nach dem Vorbild des Zukunftsthemenparks
der Expo 2000 einen Humboldt-Themenpark für
Zukunftsfragen in der Mitte Berlins zu installieren.
Dann gäbe es in der Mitte Berlins, auf dem Schlossareal,
endlich einmal einen Publikumsmagneten, der sich mit
Zukunftsfragen und nicht mit der Vergangenheit be-
schäftigt und der in die Zukunft gerichtet ist. Das wäre
einmal ein positiver Beitrag.
Es gibt europäische Hauptstädte, die so etwas schon
mit Erfolg praktiziert haben. Zum Beispiel hat Wien im
Zuge der Umwidmung des ehemaligen Messegeländes
ein solches Projekt, das auf ein sehr großes Interesse ge-
stoßen ist, erfolgreich durchgeführt. Es ist schade, dass
es innovative Ideen und Privatinitiativen in unserem
Lande nach wie vor schwer haben.
Dazu gehört natürlich auch die Ablehnung des Bezirks-
amts von Berlin-Mitte, auf dem Schlossplatz eine Info-
box aufzustellen. Mit dieser Infobox soll über den Auf-
bau des Schlosses informiert werden. Es sollen Einzel-
heiten über das zukünftige Baugeschehen vermittelt
werden. Damit soll auch die Möglichkeit geschaffen
werden, Spenden für die Schlossfassade zu sammeln.
Man sollte sich einem solchen Projekt wirklich nicht
verschließen.
Die Dresdner haben es uns schließlich vorgemacht,
wie man mit viel Eigeninitiative und Willen ein Gebäude
buchstäblich aus Ruinen wiedererstehen lassen kann.
Ich finde, es ist wirklich mehr als eine Posse, dass Berlin
lieber an seiner Ruine festhält, statt beherzt etwas Neues
zu schaffen.
Ich schließe die Aussprache.
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1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
chusses für Kultur und Medien auf Drucksache 15/3887
u dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
Abriss des Palastes der Republik nicht verzögern“. Zu
em Antrag auf Drucksache 15/3315 liegt ein Ände-
ungsantrag der Fraktion der FDP vor, über den wir zu-
rst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag
uf Drucksache 15/4411? – Wer stimmt dagegen? – Wer
öchte sich der Stimme enthalten? – Das hat tatsächlich
icht gereicht. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
ache 15/3315 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
chlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
ält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mehr-
eitlich angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Apothekengesetzes
– Drucksache 15/4293 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Die dazu vorgesehene Debattenzeit wird nicht benö-
igt, weil die Kolleginnen und Kollegen Dr. Marlies
olkmer, Michael Hennrich, Dr. Wolf Bauer, Birgitt
ender, Detlef Parr und die Parlamentarische Staatsse-
retärin Marion Caspers-Merk ihre Reden zu Protokoll
eben.1)
Damit schließe ich die nicht eröffnete Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
urfs auf Drucksache 15/4293 an den Ausschuss für Ge-
undheit und Soziale Sicherung vorgeschlagen. – Dazu
telle ich Ihr Einvernehmen fest.
Damit kommen wir gleich zum Tagesordnungs-
unkt 18:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
ordnung des Pfandbriefrechts
– Drucksache 15/4321 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Auch dieser Punkt hätte eine halbe Stunde diskutiert
erden sollen, was aber durch die Entscheidung der
olleginnen und Kollegen Lothar Binding, Stefan
üller, Leo Dautzenberg, Kerstin Andreae, Rainer
unke und der Parlamentarischen Staatssekretärin
Anlage 7
13572 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2004
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Barbara Hendricks unnötig wird, die ihre Reden zu
Protokoll geben wollen.1)
Die Aussprache ist damit eröffnet und geschlossen.
Interfraktionell wird auch hier die Überweisung des
Gesetzentwurfs an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sollen diese allesamt verle-
sen werden? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates zur Einfüh-
rung eines europäischen Mahnverfahrens
KOM 173 endg.; Ratsdok. 7615/04
– Drucksachen 15/3135 Nr. 2.14, 15/4415 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Strässer
Thomas Silberhorn
Jerzy Montag
Sibylle Laurischk
Auch hierzu gibt es eine Reihe von gemeldeten Red-
nern, die ihre Reden zu Protokoll geben wollen: Axel
Schäfer, Christoph Strässer, Thomas Silberhorn, Jerzy
Montag und Sibylle Laurischk. 2)
Wir kommen dann sofort zur Beschlussempfehlung
des Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung über einen Vorschlag für eine Verord-
nung des Europäischen Parlamentes und des Rates zur
Einführung eines europäischen Mahnverfahrens auf
Drucksache 15/4415. Der Ausschuss empfiehlt, in
Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Das ist eine wunderschöne Übereinstim-
mung am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich bedanke mich bei allen, die zu diesem guten Ende
beigetragen haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 3. Dezember 2004,
9 Uhr, ein.
Ich schließe die Sitzung und wünsche Ihnen allen für
den Rest des Abends noch einige angenehme Stunden.