Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, sich zuerheben.
Am 17. Mai ist unser Kollege Matthias Weisheit ge-storben. Er wollte gerade eine Dienstreise antreten, alsein Herzanfall ihn aus unserer Mitte riss.Matthias Weisheit wurde am 18. Dezember 1945 inLeipzig geboren. In Ravensburg machte er das Abiturund in Weingarten absolvierte er sein Studium an der Pä-dagogischen Hochschule. Auch nach dem Studium blieber dem Bodenseeraum und seinen Menschen verbunden.20 Jahre arbeitete er hier als Realschullehrer an ver-schiedenen Schulen.Nicht allein durch die verschiedenen Funktionen, dieer in der Sozialdemokratischen Partei auf örtlicher undregionaler Ebene und als Mitglied der SozialistischenBodensee-Internationale innehatte, sondern ebenso inseiner Tätigkeit in zahlreichen Vereinen haben vieleRedeMenschen Matthias Weisheit als einen außerordentlichkontaktfreudigen, aufgeschlossenen Menschen kennenund schätzen gelernt.Auch sein Auftreten und Wirken im Ausschuss fürVerbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, wo erseine Fraktion als Obmann vertrat, war gekennzeichnetvon seiner Tatkraft und seiner offenen, direkten Art, aufMenschen zuzugehen und Probleme ohne Umschweifeanzusprechen. Selbst Schicksalsschläge wie der Tod sei-nes Sohnes im Jahr 1999 haben ihn nicht mutlos werdenlassen. Seiner Frau und seiner Tochter sprechen wir unsertief empfundenes Beileid aus. Wir werden ihm ein ehren-des Andenken bewahren. – Ich danke IhnenLiebe Kolleginnen und Kollegen, als Nacden verstorbenen Kollegen Weisheit hat dnete Elvira Drobinski-Weiß am 18. Mai 2004 die Mit-tzung, den 27. Mai 2004.30 Uhrgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich be-grüße die neue Kollegin sehr herzlich.
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass die KolleginErika Lotz als stellvertretendes Mitglied aus der Parla-mentarischen Versammlung des Europarates ausschei-det. Nachfolgerin soll die Kollegin Rita Streb-Hessewerden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist die Kollegin Rita Streb-Hesse alsstellvertretendes Mitglied in die Parlamentarische Ver-sammlung des Europarates gewählt.Sodann möchte ich noch drei Kollegen nachträglichzum 60. Geburtstag gratulieren. Es sind dies die Kolle-gen Hans-Peter Kemper, Wilhelm Schmidt und GertWeisskirchen. Im Namen des Hauses spreche ich diebesten Glückwünsche aus.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:1 Vereinbarte Debatte zur humanitären und menschenrecht-lichen Situation und internationalen Verantwortung imwestlichen Sudan
text2 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Im West-sudan eine humanitäre Katastrophe verhindern– Drucksache 15/3197 –
3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Nachhaltiges Wachstumin Ostdeutschland sichern– Drucksache 15/3201 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitss für Bildung, Forschung undfolgenabschätzungss für Tourismusss für die Angelegenheiten der Europäischen Union.hfolgerin fürie Abgeord-AusschuAusschuTechnikAusschuAusschuHaushaltsausschuss
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Präsident Wolfgang Thierse4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Günther
, Eberhard Otto (Godern), Dr. Karlheinz Guttmacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:Ostdeutschland als Speerspitze des Wandels – Leitlinieneines Gesamtkonzepts für die neuen Länder– Drucksache 15/3202 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich
, Joachim Günther (Plauen), Eberhard Otto (Go-
dern), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:Keine Kürzungen bei den Verkehrsprojekten in Ost-deutschland– Drucksache 15/3203 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Ent-wurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Bundes-notarordnung– Drucksache 15/3147 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom7. April 2003 zwischen der Regierung der Bundes-republik Deutschland und der Regierung der Tunesi-schen Republik über die Zusammenarbeit bei der Be-kämpfung von Straftaten von erheblicher Bedeutung– Drucksache 15/3177 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Rechtsausschussc) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Förderung von Wagniskapi-tal– Drucksache 15/3189 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeitd) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Klimke,Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU: Den Tourismus stär-ken – Chancen der EU-Erweiterung nutzen– Drucksache 15/3192 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionHaushaltsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten GabrieleLösekrug-Möller, Annette Faße, Brunhilde Irber, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-ordneten Undine Kurth , FranziskaEichstädt-Bohlig, Volker Beck , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN: Internationale Richtlinien für biologische Viel-falt und Tourismusentwicklung zügig umsetzen– Drucksache 15/3219 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Tourismusf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel,Rainer Brüderle, Daniel Bahr , weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDP: Verschiebung desZeitpunktes für das In-Kraft-Treten des Vierten Ge-setzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
auf den 1. Januar 2006
– Drucksache 15/3105 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussg) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung:Selbstverpflichtungserklärung der Deutschen Post AGzur Erbringung bestimmter Postdienstleistungen– Drucksache 15/3186 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft7 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: DenRechtsweg in der Regulierung des Telekommunikations-marktes ändern– Drucksache 15/3218 –8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Erler, GertWeisskirchen , Rainer Arnold, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenWinfried Nachtwei, Dr. Ludger Volmer, Volker Beck ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN: Fortsetzung und Anpassung derArbeit der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo– Drucksache 15/3204 –9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger,Dr. Christian Ruck, Christian Schmidt , weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Der Kosovopolitikeine Perspektive geben– Drucksache 15/3188 –10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt,Jürgen Koppelin, Otto Fricke, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Nachtragshaushalt und Haushaltssiche-rungsgesetz zur Korrektur der Bundesfinanzen notwendig– Drucksache 15/3216 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
Auswärtiger AusschussInnenausschuss
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Präsident Wolfgang ThierseSportausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und Medien11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner,Dr. Werner Hoyer, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDP: Für einen Helsinki-Prozess fürden Nahen und Mittleren Osten– Drucksache 15/3207 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss12 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Europäische Verfas-sung beschließen – der erweiterten Union ein solides Fun-dament für die Zukunft geben– Drucksache 15/3208 –13 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für eine qualitätsorien-tierte und an den regionalen Bedürfnissen ausgerichteteAusschreibungspraxis von arbeitsmarktpolitischen Maß-nahmen– Drucksache 15/3213 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
FinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen,Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP: Jugendstrafvollzug verfassungsfestgestalten– Drucksache 15/2192 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendVon der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweiterforderlich, abgewichen werden.Ferner sollen die Debattenpunkte nach Tagesord-nungspunkt 12 wie folgt aufgerufen werden: Tagesord-nungspunkt 17 – Kinder- und Jugendschutz –, Tagesord-nungspunkt 16 – Frauen und Familien in derBundeswehr –, Tagesordnungspunkt 19 – Südamerika-politik –, Tagesordnungspunkt 14 – Historisches Erbe –,Tagesordnungspunkt 18 – Tierarzneimittel – und dannTagesordnungspunkt 20 – Beziehungen der Europäi-schen Union zu Lateinamerika und der Karibik. Außer-dem sollen der Tagesordnungspunkt 13 – Hochwasser-schutz – und der Tagesordnungspunkt 15– Flächendeckende Postdienstleistungen – abgesetztwerden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstan-den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-schlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
– zu dem Antrag der Fraktionen der SPD unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENOffensive für den Mittelstand– zu dem Antrag der Abgeordneten DagmarWöhrl, Karl-Josef Laumann, HartmutSchauerte, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUGrundsätzliche Kehrtwende in der Wirt-schaftspolitik statt neue Sonderregeln –Mittelstand umfassend stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten RainerBrüderle, Dr. Hermann Otto Solms, GudrunKopp, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDPNeue Chancen für den Mittelstand – Rah-menbedingungen verbessern statt Förder-dschungel ausweiten– zu dem Antrag der Abgeordneten BirgitHomburger, Rainer Funke, Rainer Brüderle,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDPStatistiken reduzieren – Unternehmen ent-lasten – Bürokratie abbauen– zu dem Antrag der Abgeordneten BirgitHomburger, Joachim Günther ,Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPModellregionen für Deregulierung und Bü-rokratieabbau– Drucksachen 15/351, 15/349, 15/357, 15/752,15/1134, 15/3221 –Berichterstattung:Abgeordneter Christian Lange
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Noch zu keiner Zeit sind so viele denMittelstand strukturell unterstützende Reformen in sokurzer Zeit ergriffen,
auf den Weg gebracht und umgesetzt worden
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Klaus Brandner
wie zu Beginn der 15. Legislaturperiode.
– Ihre Freude zeigt, dass Sie vielleicht ein eher schlech-tes Gewissen haben,
wenn Sie den Reformstau im Mittelstand beklagen. Siewerden am Ende erleben, welch positive Bilanz wir vor-zulegen haben.Wir lassen uns bei unserer Arbeit von den Zielen undGrundsätzen, die der Bundeskanzler in seiner Regie-rungserklärung am 14. März des vergangenen Jahres an-lässlich der Erläuterungen zur Agenda 2010 formulierthat, leiten. Es geht dabei nicht um ein Konjunktur- undBeschäftigungsprogramm, das uns nur kurzfristig Er-leichterung schaffen würde, es geht bei der Agenda 2010um weit reichende Strukturreformen, die Deutschlandbis zum Ende des Jahrzehnts wieder an die Spitze beiWohlstand und Arbeit bringen werden.Ich gebe zu: Zurzeit wirken diese Reformen nochnicht so, wie sie wirken werden, wenn sich die konjunk-turelle Lage verbessert hat. Mit der Agenda 2010 verfü-gen wir aber über ein klares, stimmiges Konzept, beidem der Stärkung und der Förderung des wirtschaftli-chen Mittelstands eine ganz besondere Rolle zukommt.
Wenn ich mir dagegen die Anträge der Oppositions-parteien ansehe, kann ich ein vergleichbares Konzeptnicht entdecken. Hier wird vielen vieles versprochen;meist ist es ein Sammelsurium von Ankündigungen, diedann bei der konkreten Entscheidung – zum Beispiel imVermittlungsausschuss – keine Beachtung mehr finden.Meine Damen und Herren, kleine und mittlere Unter-nehmen haben es in unserem Lande zurzeit schwer, teil-weise sehr schwer.
Drei Jahre Stagnation haben tiefe Spuren hinterlassen.Doch es ist nicht nur die konjunkturelle Durststrecke, dieden Mittelstand plagt.
Der Wettbewerbsdruck auf den heimischen Märktennimmt zu und er wird weiter zunehmen. Die Plage istIhre Blockadepolitik, das müssen wir ganz deutlich se-hen, das werden die Menschen in diesem Land auchnach wie vor feststellen. Da nutzt es auch gar nichts,dass Sie ablenken wollen. In der Tat können wir unsnichts vormachen: Wenn Sie weiterhin wichtige Reform-schritte behindern, wird es dem Mittelstand auch in derZukunft nicht besser gehen können.
Ich will auf ein anderes Thema hinweisen: Die deut-sche Bankenlandschaft zum Beispiel befindet sich in ei-nem Prozess der Reorganisation. Die großen Privat-banken ziehen sich aus dem Finanzierungsgeschäft mitdem Mittelstand zurück. Sparkassen und Genossen-schaftsbanken, die traditionellen Kreditgeber der kleinenund mittleren Unternehmen, befinden sich selbst in einerschwierigen Konsolidierungsphase. Wir haben auf dieseSituation im Bankensektor reagiert. Nur, eines ist klar:Der Staat kann diese teilweise tief greifenden Umstruk-turierungsprozesse in unserer Wirtschaft, in unseremBankensektor nicht vollständig kompensieren.
Er kann ihre negativen Auswirkungen auf Investoren al-lein nicht auffangen, Herr Schauerte. Auch hier gilt: DerStaat kann nicht alles richten; er soll und darf es auchnicht. Das ist vornehmlich eine unternehmerische Auf-gabe, hier ist die schöpferische Kraft des Unternehmersund der Unternehmerin gefragt. Hier vonseiten der Poli-tik falsche Erwartungen zu wecken, wie Sie es teilweisetun, ist fahrlässig und unverantwortlich.
Es ist schon merkwürdig, meine Damen und Herren:Häufig sind diejenigen, die lautstark übermäßigenStaatseinfluss bedauern, nach immer weniger Staat, im-mer stärkerer Deregulierung und Entbürokratisierung ru-fen, diejenigen, die als Erste staatliche Hilfen und staatli-che Regulierung fordern, wenn sie ihre eigenenInteressen gefährdet sehen.Meine Damen und Herren von der Union und von derFDP, da klaffen Anspruch und Wirklichkeit häufig mei-lenweit auseinander. Ich kann Sie nur auffordern, in die-sem Zusammenhang mehr Redlichkeit zu zeigen, als Siein der Vergangenheit an den Tag gelegt haben.
Ich wiederhole meine Eingangsfeststellung: Zu keinerZeit wurden so viele Reformen für den Mittelstand aufden Weg gebracht wie in dieser Legislaturperiode.
Was haben wir versprochen? Was haben wir gehalten?Was bleibt noch zu tun? Dazu habe ich mir zehn Punktenotiert:Erstens. Wir haben die Finanzierungsbedingungen fürdie mittelständische Wirtschaft nachhaltig verbessertund werden sie weiter verbessern. Der Spitzensteuer-satz wurde von uns um 11 Prozentpunkte auf 42 Prozentgesenkt. Wir erinnern uns, liebe Kolleginnen und Kolle-gen insbesondere von der Union und der FDP: Damalslag er bei 53 Prozent.
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Klaus BrandnerDer Eingangssteuersatz betrug im Jahr 1998 25,9 Pro-zent; heute sind es 15 Prozent. Der Körperschaftsteuer-satz wurde von 30 Prozent für ausgeschüttete und von40 Prozent für einbehaltene Gewinne einheitlich auf25 Prozent gesenkt. Insgesamt werden die mittelständi-schen Unternehmen ab dem 1. Januar 2005 jährlich umgut 17 Milliarden Euro entlastet. Das müssen Sie einmalzur Kenntnis nehmen und dürfen es nicht nur schlechtmachen.
Das ist die größte Steuerstrukturreform, die es inDeutschland je gegeben hat. Sie hilft vor allem dem vonPersonengesellschaften geprägten Mittelstand. UnserZiel ist es, die Finanzierung von Investitionen durch dieEinbehaltung von Gewinnen aus steuerlicher Sicht at-traktiver zu machen. Das ist unsere Antwort auf die Fi-nanzierungskrise mittelständischer Unternehmen.Zweitens. Wir haben mit unserer Politik der striktenHaushaltskonsolidierung für anhaltend niedrige Zinsenund damit für günstige Finanzierungskosten der Unter-nehmen gesorgt. Was hilft der mittelständischen Wirt-schaft mehr als niedrige Finanzierungskosten?Drittens. Nach dem dramatischen Anstieg der Lohn-nebenkosten unter der unionsgeführten Bundesregierunghaben wir den Einstieg in die Konsolidierung der Kran-ken-, Pflege- und Rentenversicherung geschafft. Zu Ih-rer Erinnerung die Zahlen: Von 1982 bis 1998 sind dieSozialversicherungsbeiträge von 34 Prozent um ganze8 Prozentpunkte auf 42 Prozent gestiegen. Damit habenwir Schluss gemacht.
Wem nutzt die Senkung der Lohnnebenkosten mehr alsden kleinen und mittleren Unternehmen? Insbesonderediese Unternehmen werden davon profitieren.Viertens. Wir haben mit den Hartz-Reformen fürmehr Effizienz und mehr Mobilität auf dem Arbeits-markt gesorgt. Wir haben für Neueinstellungen den Kün-digungsschutz gelockert. Unternehmen können jetztschneller und leichter Arbeitskräfte rekrutieren.
Fünftens. Wir haben das Gesetz zur Intensivierungder Bekämpfung der Schwarzarbeit auf den Weg ge-bracht. Jahrzehntelang haben Sie, meine Damen undHerren von der Opposition, bei diesem Problem wegge-schaut, was fatale Folgen für die Steuer- und Abgaben-belastung in unserem Land hatte. Die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer hatten das letztlich durch höhereBeiträge mit zu finanzieren. Niemand sieht sich durchdie Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft aber mehr inseiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet als kleine undmittlere Unternehmen.Sechstens. Wir haben mit dem neuen Ladenschluss-gesetz die Chancen des Einzelhandels für mehr Umsatzund Beschäftigung verbessert.Siebtens. Wir haben nach 50 Jahren das Handwerks-recht entrümpelt und haben dadurch mehr Chancen fürdie im Handwerk Beschäftigten, für Existenzgründer, fürGesellen und für Meister eröffnet. Wir haben das Hand-werksrecht europatauglich gemacht.Achtens. Wir haben alle Förderaktivitäten des Bundesim Kredit- und Beteiligungsbereich in der KfW-Mittel-standsbank zusammengefasst. Das Förderangebot wurdegebündelt und gestrafft. Gleichzeitig wurde die Förder-politik weiterentwickelt und neu ausgerichtet, zum Bei-spiel mit der neuen Produktfamilie des Unternehmerka-pitals.Neuntens. Wir machen ernst mit dem Bürokratieab-bau. Deregulierung und Vereinfachung der Verwal-tungsabläufe sind in Arbeit.Zehntens. Wir haben bei der Innovations- und Außen-wirtschaftsförderung den Schwerpunkt auf die Förde-rung kleiner und mittlerer Unternehmen gelegt.Meine Damen und Herren, Johannes Rau hat in seinerletzten großen Berliner Rede die Frage gestellt, ob wiruns nicht inzwischen selber so schlecht geredet haben,dass wir uns nichts mehr zutrauen. Ich zitiere den Bun-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wüsste kein Land, in dem so viele Verantwortli-che und Funktionsträger mit so großer Lust soschlecht, so negativ über das eigene Land sprechen,wie das bei uns in Deutschland geschieht.Der Bundespräsident warnt:Das bleibt nicht ohne Folgen.Drei Beispiele dazu aus der jüngsten Vergangenheit:Erstens. Unser Sozialsystem steht nicht vor dem Zu-sammenbruch. Das zu behaupten wäre abstruser Unsinn.Trotzdem wird so getan, als wäre es so. Viele wollen dasdazu nutzen, das Sozialsystem völlig auf den Kopf zustellen und dem Mittelstand angeblich zu helfen. Geradeder Mittelstand ist auf gute Sozialbeziehungen angewie-sen.
Zweitens. Der Aufbau Ost ist weder gescheitert nochsind die Hilfen von über 1000 Milliarden Euro sinnlosund wirkungslos versickert. Der Aufbau ist vielmehr einRuhmesblatt der neueren deutschen Geschichte, auf dasalle Deutschen stolz sein können.
Enttäuscht kann nur der sein, der auf die Lügen derjeni-gen hereingefallen ist, die behaupteten, die deutsche Ein-heit könne aus der Portokasse bezahlt werden, und dieden Menschen blühende Landschaften in nur wenigenJahren versprachen.
Drittens. Der Industriestandort Deutschland stehtnicht vor dem Niedergang. Das Gegenteil ist richtig.
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Klaus BrandnerWir sind im weltweiten Wettbewerb einer der aktivstenStandorte für Investoren. Das wissen offenbar aber nurdie ausländischen Investoren. Bei Ihnen wird das auftaube Ohren stoßen. Das ist traurig genug; denn richtigist: Unsere Probleme sind lösbar und sie werden von die-ser Bundesregierung zurzeit Schritt für Schritt gelöst.
Der entscheidende Reformschritt, den wir dabei ge-gangen sind, ist die Agenda 2010. Das bestätigen unsalle internationalen Institutionen von Belang, seien esder Internationale Währungsfonds, die EuropäischeKommission oder die OECD. Alle bestätigen, dass wirauf dem richtigen Weg sind. Wir brauchen mehr Zuver-sicht, Mut und Entschlossenheit, aber auch mehr Verant-wortung und Disziplin, um die notwendigen Reformenzu bewältigen.Wir sind mit den Reformen noch nicht am Ende.
Der mit der Agenda 2010 eingeleitete Reformprozessmuss und wird weitergeführt werden. Ich würde mir fürunser Land wünschen, dass diejenigen in der öffentli-chen Debatte mehr Beachtung fänden, die sich mit rea-listischen Veränderungsvorschlägen sowie mit offenerDialog- und fairer Kompromissbereitschaft hervortun.Wir brauchen, wie Johannes Rau es empfiehlt, in unse-rem Lande wieder eine Kultur der Zuversicht und der Er-mutigung. Dazu rufe ich uns alle auf.
Ich erteile Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Lieber Kollege Brandner, wenn man Ihnen eben zuge-hört hat, dann bekam man wirklich das Gefühl, dass derRealitätsverlust schon sehr weit fortgeschritten ist.
Ihr Wort in Gottes Ohr, aber die Fakten schauen leideranders aus.Während dieser Debatte, also allein in diesen90 Minuten, werden irgendwo zwischen Flensburg undPassau sieben Betriebe offiziell Insolvenz anmelden; daswissen Sie. Sie wissen auch, dass, während wir hiersprechen – in diesen 90 Minuten –, 100 sozialversiche-rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse wegbrechenund Familien in Existenzängste geraten. In diesen ein-einhalb Stunden wird es auch wieder ein paar Spitzen-kräfte geben, die sich überlegen, unserer Heimat den Rü-cken zu kehren, um nicht hier, sondern in unserenNachbarländern Arbeitsplätze, Wohlstand und Wachs-tum zu schaffen. Das sind die Tatsachen, lieber HerrKollege.
Wenn ich mir unseren Antrag anschaue, der heute zurDebatte steht und den wir schon vor 15 Monaten einge-bracht haben, dann stelle ich fest, dass er genauso aktuellwie damals vor 15 Monaten ist.
Wir brauchen eine grundsätzliche Kehrtwende. DieseKehrtwende ist unter Ihrer Regierung nicht eingetreten.Eines muss ich Ihnen sagen: Die Lage ist seit 2003 nochdramatischer geworden, als sie sowieso schon gewesenist. Hier nützen auch die medienwirksamen Worte IhresKanzlers nichts, der ausgeführt hat, dass die Trendwendeendlich geschafft ist. Wo ist denn die Trendwende ge-schafft? Das haben Sie mit Ihren Worten nicht ausge-führt.Genauso wie wir haben auch Sie den zweiten Mittel-standsbericht der führenden Wirtschaftsverbände zurKenntnis genommen. Darin wurde die Entwicklung von1,6 Millionen Betrieben mit 12,5 Millionen Beschäftig-ten analysiert. Was wird dort ausgesagt? Dort steht, dassdas Wiederanspringen des Mittelstandes und damit derBinnenkonjunktur für die mittelständischen Unterneh-men lediglich ein Hoffnungswert bleibt. Es regiert indiesem Land also das Prinzip Hoffnung und sonst über-haupt nichts.Die Geschäftslage hat sich verschlechtert, nicht ver-bessert. In dem Bericht wird auch ausgeführt, dass wirnicht normale zyklische Schwankungen haben, sonderndass dies der Ausdruck massiver Strukturdefizite ist.Diese müssen angegangen werden. Aber mit Ihrer Poli-tik passiert gar nichts.Wir sehen es doch: Nach den Zahlen, die gestern dieGfK zum Konsumklima veröffentlichte, ist der Kon-sumklimaindikator auf 4,7 Prozent gesunken. Wir wis-sen von dieser lähmenden Konsumneigung. Die Men-schen haben Angst und sind durch Ihre Politikverunsichert. Besondere Angst haben sie – das ist inte-ressant – vor weiteren Steuererhöhungen dieser Regie-rung, wie es in der gestrigen Veröffentlichung der GfKdeutlich wurde.
Hören Sie doch auf die Bundesbank! Die Bundesbankschreibt in ihrem Bericht vom März, dass die Staats-schulden ohne Reformen in den nächsten zehn Jahrenvon über 60 Prozent, die wir schon jetzt haben, auf dann140 Prozent steigen werden. Sie wissen ganz genau, dasswir in einem hoch verschuldeten Staat leben. Dies istauch Ergebnis Ihrer Politik. Inzwischen wird für Zinsenmehr ausgegeben als für Forschung und Entwicklung.Das heißt, Sie finanzieren die Vergangenheit, nicht dieZukunft. Sie gehen hier den falschen Weg.
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Dagmar WöhrlDer Grund dafür ist nicht, dass die Steuereinnahmenwegbrechen. Vielmehr steigen die Steuereinnahmen.1998 lagen die Steuereinnahmen noch bei 175 Milliar-den Euro. Bei uns aber lag die Investitionsquote bei12,5 Prozent. Das ist für den Mittelstand wichtig. Inzwi-schen sind die Steuereinnahmen auf über 190 MilliardenEuro gestiegen; aber die Investitionsquote ist auf unter10 Prozent gesunken. Das schadet dem Mittelstand.Schauen wir uns einmal das Jahr 2003 an, HerrBrandner, das Sie gerade so hervorgehoben haben. Es istein Paradebeispiel dafür, wie man Vertrauen verspieltund wie es aufgrund des mangelnden Vertrauens zu im-mer weniger Investitionen von Unternehmen kommt.Ihre Mittelstandsoffensive haben Sie immens medien-wirksam angekündigt. Was ist dabei herausgekommen?Ein so genannter Small Business Act. Er war nämlichsehr „small“ und leider gab es auch wenig „business“,wie wir inzwischen festgestellt haben.
Es ging aber weiter. Sie sind unwahrscheinlich kreativbeim Erstellen von neuen Masterplänen und Offensiven,die aber wenig bringen. Sie haben dann einen Master-plan Bürokratieabbau aufgelegt. Was ist dabei herausge-kommen? Inzwischen haben wir mehr Bürokratie alsdamals. Sie bringen ein Gesetz nach dem anderen aufden Weg, das noch mehr Bürokratie nach sich zieht.Wenn Sie keine bürokratischen Gesetze auf den Wegbringen, dann schaffen Sie neue bürokratische Behör-den, und zwar eine nach der anderen. Das ist Ihre Politik.
Der Beweis dafür ist, dass die Unternehmen inzwi-schen 46 Milliarden Euro für Bürokratie aufbringen müs-sen. Allein der Mittelstand zahlt davon 84 Prozent. Wirmüssen uns schon fragen: Warum ist es nicht möglich, fürjedes Gesetz und jede Rechtsverordnung, die gemachtwerden, zwei abzuschaffen? Warum haben Sie dazu nichtden Mut? Warum werden nicht von nun an nur noch be-fristete Gesetze gemacht? Warum wird nicht festgelegt,dass die Altvorschriften in bestimmten Fristen überprüftwerden und die Regierung dann nachweisen muss, dassdie Vorschriften überhaupt notwendig sind?Herr Kollege Brandner, Sie haben vorhin die Hand-werksordnung angeführt. Die Reform der Handwerks-ordnung war als der große Wurf angedacht. Was habenSie gemacht? Sie haben versucht, die Handwerksord-nung zu zerschlagen und sie durch staatlich hoch sub-ventionierte Ich-AGs zu ersetzen. Das war Ihre Politik.
Sie wissen doch ganz genau, dass Innovation undWachstum nicht durch diese Kleinstunternehmen entste-hen. Diese können gerade für sich selbst sorgen.
Neue Ideen werden nur dort geboren, wo Menschen zu-sammenkommen und Ideen kreativ vorangebracht wer-den. Das ist im Mittelstand der Fall.
Dann kam noch etwas Neues in Form einer Innovati-onsoffensive, als Sie das Thema Innovation für sich ent-deckt hatten. Das ist schon wieder drei Monate her. Aberaußer vollmundigen Erklärungen und Expertenrunden,die Sie in der Presse übrigens sehr gut verkauft haben– das muss ich neidvoll anerkennen –, kam nichts. Esfehlt eine ernsthafte Konkretisierung dieses Projekts.Sie kündigen immer nur an.
Sie kündigen vollmundig Programme an, die – das mussich zugestehen – nicht schlecht klingen, aber inhaltlichnichts bringen. Sie haben bis jetzt nichts realisiert undauf den Weg gebracht, was uns in diesem Bereich nachvorne gebracht hätte. Auf das Mautdebakel
und die dadurch ausbleibenden Verkehrsinvestitionen,wovon viele kleine und mittlere Betriebe betroffen sind,will ich hier gar nicht näher eingehen.
Unser Land steht vor allem seit dem Mai dieses Jah-res vor neuen Herausforderungen. Das wissen Sie. Wiehaben Sie uns auf diese neuen Herausforderungen vorbe-reitet? Fakt ist, dass nicht nur die Großunternehmen Ar-beitsplätze verlagern, sondern inzwischen auch die klei-neren und mittleren Betriebe Arbeitsplätze zukünftig inden Beitrittsländern schaffen. Das geschieht nicht, weilsie vaterlandslos sind, wie einige von Ihnen behaupten.Sicher ist die Verlagerung für die Markterschließungwichtig und sicher werden damit auch Arbeitsplätze beiuns gesichert. Fakt ist aber auch, dass der Grund nichtnur weniger Steuern und weniger Abgaben sind. WissenSie, was es dort gibt? Unternehmerische Freiheit.
Das ist es, was viele kleine und mittelständische Be-triebe bewegt, nicht mehr hier zu investieren, sondern inunseren Nachbarländern.
Hier müssen Sie ansetzen. Aber was machen Sie? Siekürzen überproportional die GA-Förderung, ausgerech-net das Förderinstrumentarium, das kleine und mittel-ständische Betriebe zu Investitionen anregt. Das tun Sienur, um den Steinkohlebergbau abzusichern. Sie müssensich einmal überlegen, ob das die richtige Mittelstands-politik ist, die Sie auf den Weg bringen.
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Dagmar Wöhrl
– Lieber Herr Kollege, wenn Sie keine andere Politikmachen, dann kann ich auch keine andere Leier spielen.Machen Sie eine andere Politik, dann werde ich hierauch anders reden!
Sie wissen genauso wie wir, dass die Eigenkapital-schwäche die Achillesferse der mittelständischen Be-triebe ist. Hier müssen wir zu neuen Finanzierungsmög-lichkeiten und Anreizen kommen.Wir brauchen auch eine große Steuerreform. Ich redevon einer großen Steuerreform. Sie können mit uns darü-ber reden, mehr Subventionen abzubauen, als bisher ge-plant sind. Wir sind aber nicht bereit, Subventionen ab-zubauen und mit dem eingesparten Geld Haushaltslöcherzu stopfen. Eine große Steuerreform ist richtig, damitwir wieder konkurrenzfähig werden.Unsere Nachbarländer sind wirklich wachstumshung-rig. Sie haben Niedrigsteuersätze. Wir aber sind mit un-serer Gesamtsteuerlast an oberster Spitze in Europa.
Was haben Sie dem entgegenzusetzen? Ausbildungs-platzabgabe – toll. Im Bundesrat wird über Pläne zurErhöhung der Erbschaftsteuer gesprochen, anstatt dassSie unseren Vorschlag aufgreifen. Stunden Sie die Erb-schaftsteuer, wenn ein Betrieb von einem Nachfolgerübernommen wird! Erlassen Sie ihm die Erbschaftsteuernach zehn Jahren! Dann hat er ganz bestimmt mehr fürdie Volkswirtschaft getan, als wenn er unter Ihrer Regie-rung Erbschaftsteuer zahlt.
Wir haben viele Baustellen. Das ist gar keine Thema.Die gab es auch zu unserer Zeit. Die Probleme müssenaber angegangen werden. Wir können uns nicht zurück-lehnen. Wenn Sie sehen, dass sich bei einer der wichtigs-ten Baustellen bei Ihnen überhaupt nichts tut und auchnicht zu erwarten ist, dass sich in den nächsten zwei Jah-ren nichts tut, nämlich auf dem Arbeitsmarkt, der bei unswirklich in Beton gegossen ist, dann erkennen Sie dietraurigen Perspektiven, die wir haben. Wir müssen diebetrieblichen Bündnisse für Arbeit angehen. Das WorldEconomic Forum kam in einer Studie über 102 Länderzu dem Ergebnis, dass außer Venezuela wir das restrik-tivste Kündigungsschutzgesetz haben. Das müssen Siesich einmal vorstellen.Wenn Sie dann die neuesten Umfragen hören, wonachzwei Drittel der Unternehmen sich wegen unseres Kün-digungsschutzes gegen neue Jobs entscheiden, dannmuss man doch das Thema angehen. Wenn Sie weiterhinhören, dass 70 Prozent bereit sind, bei einer Lockerungdes Kündigungsschutzes zusätzliche Arbeitsplätze zuschaffen, dann muss man das Thema erst recht angehen.Wir haben Probleme mit unseren Sozial- und Regulie-rungskosten, die immer höher steigen, ohne dass die Be-schäftigten mehr Geld in der Tasche haben. Wir müssenaus dem Teufelskreis von wachsender Arbeitslosigkeitund eskalierenden Sozialleistungen herauskommen. Wirmüssen zu mehr privater Vorsorge und zu einer Entkop-pelung der Sozialleistungen vom Faktor Arbeit kommen.Aber es ist nicht so, dass nur wir diese Vorschlägemachen. Ich verstehe zwar, dass Sie unsere Entschlie-ßungsanträge und Gesetzentwürfe ablehnen – wir sindschließlich die Opposition –, aber warum hören Sie nichtauf den Sachverständigenrat, auf führende Forschungs-institute, auf nationale und internationale Wirtschaftsex-perten und auf Ihre eigenen Beiräte? Die Gutachten, dieIhnen erklären, was Sie falsch machen, stapeln sich in-zwischen. Packen Sie es doch an!
Ich möchte mit einem Zitat schließen, mit dem ich Ih-nen vielleicht ein Leitbild für die nächsten Wochen undMonate bieten kann, in denen Sie noch Regierungsver-antwortung tragen. Der Unternehmer und MittelständlerHans Knürr hat einmal gesagt:Belässt man dem Mittelstand die notwendigenMITTEL, hat er ohne staatliche Hilfe einen un-glaublich festen STAND.Denken Sie daran, wenn Sie über die nächste Steuerer-höhung nachdenken!Vielen Dank.
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär
Rezzo Schlauch das Wort.
Re
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren Kollegen! Liebe Frau Kollegin Wöhrl, Sie haben da-von gesprochen, dass es viele Baustellen gibt. Daraufkann ich nur eines erwidern: Wir arbeiten an diesen Bau-stellen, während Sie sie blockieren.
Ein aktuelles Beispiel einer solchen Baustelle, die Sieaus ideologischer Borniertheit blockiert haben, FrauKollegin Wöhrl, ist das Zuwanderungsgesetz,
um das wir uns seit zwei Jahren bemühen und das jetztGott sei Dank durch die Bemühungen des Bundeskanz-lers erfolgreich zum Abschluss gebracht werden kann.Damit nicht genug: Nicht nur das Zuwanderungsge-setz, sondern beispielsweise auch die sozialen Siche-
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Parl. Staatssekretär Rezzo Schlauchrungssysteme sind Baustellen, die mit dem Satz „DieRente ist sicher“ 16 Jahre lang geschlossen blieben. Wirhingegen sind – das war schwierig genug – in vielenEinzelschritten eine Reform der sozialen Sicherungssys-teme angegangen.
Herr Kollege Schlauch, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Michelbach?
Re
Nein danke, jetzt nicht. Ich habe gerade erst angefan-
gen.
Eine weitere Baustelle, auf die Sie nicht eingegangen
sind, ist das Thema Steuern. Sie haben über Jahre hin-
weg das Steuerniveau auf einem unerträglich hohen
Niveau gehalten. Wir haben es zwar mit Mühen, aber er-
folgreich gesenkt, und zwar so, dass die Senkung des
Steuerniveaus zielgenau den mittelständischen Betrieben
zugute kommt.
Insofern bleibt mir nur festzustellen: Natürlich ist
nichts so gut, als dass es nicht noch besser werden kann.
Aber wir müssen uns mit der Bilanz unserer Mittelstands-
politik nicht hinter Ihnen verstecken.
Kollege Schlauch, gestatten Sie jetzt eine Zwischen-
frage des Kollegen Michelbach?
Re
Nein danke, ich habe schon abgelehnt.Ich möchte auf zwei Gesichtspunkte näher eingehen.Herr Kollege Brandner hat schon ein Thema angespro-chen, auf das Sie nicht eingegangen sind und das derzeitmit Sicherheit eines der schwierigsten Probleme desMittelstands ist, nämlich die Finanzierung des Mittel-stands durch die Kreditwirtschaft. Wir haben – auchdas ist bei Ihnen übrigens unterblieben – frühzeitig Maß-nahmen ergriffen, um die Bereitschaft der Kreditwirt-schaft so zu steigern, dass der Mittelstand weiterhin zumKerngeschäftsfeld gehört und auch tatsächlich so behan-delt wird.
Mit der Fusion der beiden staatseigenen Förderban-ken zur KfW-Mittelstandsbank haben wir eine entschei-dende Weichenstellung vorgenommen. Die Bilanzen undZahlen machen deutlich, wie erfolgreich der von uns be-schrittene Weg ist. Im Jahr 2004 stellt die KfW insge-samt über 5 Milliarden Euro für Mittelstandskredite zurVerfügung. Bis März dieses Jahres sind bereits2,4 Milliarden Euro abgerufen worden.Wir haben speziell für den Mittelstand mit dem so ge-nannten Mezzanine-Kapital ein Finanzierungsinstrumentgeschaffen, das dazu geeignet ist, die Eigenkapital-schwäche der Unternehmen – die im Übrigen nicht vomHimmel gefallen ist, Frau Kollegin Wöhrl, sondern auf-grund unserer Steuerregelungen eine jahrzehntelangeGeschichte hat; Sie wissen, worin sie begründet liegt– zu mildern. Wir haben außerdem – Bayern ist bei die-sem Pilotfonds mit dabei – die Eigenkapitalfrage überdie KfW wieder aufgegriffen. Wir haben in diesem Be-reich also in massiver Weise Initiativen unternommen,um die Finanzierungsschwäche der Unternehmen durchdie Banken einigermaßen auszugleichen. Dass das nichteins zu eins möglich ist, ist klar.Frau Kollegin Wöhrl, zu einer weiteren von Ihnen an-gesprochenen Baustelle: Zur Sicherung der Unterneh-mensliquidität gehört ebenfalls, dass wir das ThemaZahlungsmoral nochmals angehen. Der kürzlich vorge-legte Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe„Verbesserung der Zahlungsmoral“ enthält aus unsererSicht eine Reihe guter Vorschläge, die nicht nur zu tech-nischen, sondern auch zu inhaltlichen Verbesserungender derzeitigen Rechtslage für Handwerker und Unter-nehmer führen dürften.
Auch beim Abbau der den Mittelstand besonders be-lastenden Bürokratie bzw. Überbürokratie – dieser Punktwird von Ihrer Seite und vonseiten der Wirtschaftsver-bände immer wieder angeführt – gibt es entscheidendeFortschritte. Bürokratieabbau betrifft – das wissen Siegenauso gut wie wir – alle staatlichen Ebenen, von derEU bis zu den Kommunen. Frau Kollegin, bei diesemThema haben wir aber die Erfahrung mit Ihnen von derOpposition sowie mit den Wirtschaftsverbänden ge-macht, dass gerade diejenigen, die am lautesten nach Bü-rokratieabbau rufen, genau dann lieber beim Alten blei-ben wollen, wenn es um die Wahrung eigenerBesitzstände geht.
In der von Ihnen angesprochenen Diskussion über dieHandwerksreform haben Sie regelrecht ideologischeGrabenkämpfe geführt, um zu verhindern, dass zehn Ge-werke von einer Anlage in die andere überführt werden.Allen, die damals den Untergang des Handwerks pro-phezeiten, kann ich nur sagen: Er ist nicht eingetreten.Im Gegenteil: Diese Reform hat sich sehr positiv ausge-wirkt. In den ersten drei Monaten dieses Jahres gab esbei fast allen Handwerkskammern einen regelrechtenGründungsboom, und zwar vor allem bei den zulas-sungsfreien Handwerken. Im Bereich vieler Handwerks-kammern kam es im Vergleich zum Vorjahreszeitraumbei den zulassungsfreien Handwerken zu einer Verfünf-fachung der Zahl der Eintragungen.
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Parl. Staatssekretär Rezzo SchlauchIch möchte Sie daran erinnern, dass Sie während derdamaligen Debatte Ihre Energie darauf verwandt haben,im klassischen Sinne strukturkonservativ zu agieren undalthergebrachte Strukturen zu verteidigen. Sie haben ver-sucht, den Wettbewerb einzuschränken.
Ich kann dazu nur sagen: Mit unserer Handwerksreformhaben wir mehr Wettbewerb ermöglicht und haben fürBelebung in diesem Bereich gesorgt, während Sie, wiegesagt, auf althergebrachte Weise den Status quo vertei-digt haben.
Das, was wir hier gemacht haben, war echter Bürokratie-abbau von unten, der außer Entschlusskraft und Mutnichts gekostet hat. Beides haben wir gehabt.Ein weiteres Beispiel für das Motto „Bürokratieabbauja, aber bitte nur bei den anderen“ ist die Reform desVergaberechts. Hier wird ein Wust an umfänglichenund unverständlichen Regelungen von Ihrer Seite sowie– das verwundert mich besonders – vor allen Dingenvonseiten der Wirtschaft und insbesondere der Wirt-schaftsverbände plötzlich als Bollwerk gegen Korrup-tion hochstilisiert. Ein einfaches, transparentes Vergabe-recht, wie wir es auf den Weg bringen wollen, wirdabgelehnt, und zwar deshalb, weil man um den Verlustdes Einflusses durch die so genannten Verdingungsaus-schüsse fürchtet, in denen bislang die Vertreter von Ver-bänden und Behörden gemeinsam die Ausschreibungsre-geln erarbeitet haben. Auch dies ist ein Beispiel dafür,dass diejenigen, die täglich den Schlachtruf der Deregu-lierung, der Liberalisierung, der Entbürokratisierung aufden Lippen führen, plötzlich zu heftigen Verteidigerndes Status quo werden, wenn es konkret wird.Wir setzen den Bürokratieabbau fort, beispielsweisedurch die Reform der Arbeitsstättenverordnung und da-durch, dass wir den Arbeitsschutz bei den Berufsgenos-senschaften bündeln. Das bestehende System mit80 Unfallversicherungsträgern in 16 Bundesländernführt nämlich dazu, dass die Betriebe häufig doppeltüberwacht werden. Durch die von uns vorgeschlageneZusammenführung des staatlichen und des berufsgenos-senschaftlichen Vollzugs im Arbeitsschutz wollen wirdiese Tätigkeiten bündeln und die Unternehmen so vonunnötigem Verwaltungsaufwand entlasten.Frau Kollegin Wöhrl, der große Wurf ist immer sehrschnell dargelegt. Ich erinnere Sie an den großen WurfIhres Kollegen Merz, den er mit einem radikalen Gestuspräsentiert hat – Stichwort „Steuerreform auf einemBierdeckel“ – und mit dem er in Ihren eigenen Reihenkläglich gescheitert ist. Es ist mehr Mühe und Arbeitnotwendig, um die Situation des Mittelstands zu verbes-sern. Da muss man auch in die Details gehen. An die Lö-sung dieser Probleme sind wir mit der Agenda 2010 undmit den von mir angesprochenen Maßnahmen zum Bü-rokratieabbau und zur Förderung des Mittelstands heran-gegangen.All dies ginge noch viel schneller, und zwar zumWohle des Mittelstands, wenn Sie Ihre unsägliche Blo-ckadepolitik in Sachen Zusammenführung von Arbeits-losenhilfe und Sozialhilfe im Bundesrat endlich aufgä-ben. Alle in diesem Haus sind dafür, dassArbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengeführt wer-den. Statt über organisatorische Fragen zu diskutieren,sollte man substanzielle Verbesserungen für den Mittel-stand in den Vordergrund rücken.Frau Kollegin Wöhrl, Sie haben ein düsteres Bild ge-zeichnet. Es war wie immer schwarz in schwarz. Das istIhre Farbe.
Ich kann Ihnen nur sagen – das wissen Sie; schließlichist das ein konservativer Ausspruch –: Wirtschaftspolitikist zur Hälfte gute Psychologie. In dieser Beziehung sindSie keine gute Wirtschaftspolitikerin, weil Sie mit„schwarz in schwarz“ nicht weiterkommen.Ich will Ihnen an diesem Punkt auch entgegenhalten:Nach der Frühjahrsmittelstandsumfrage der DZ Bank– immerhin eine objektive Institution – erwarten 44 Pro-zent der mittelständischen Unternehmen in den kom-menden Monaten bessere Geschäfte. Dies ist nach Anga-ben der Bank der zweithöchste Wert seit fast zehnJahren. Das klingt etwas anders als das von Ihnen darge-stellte Horrorszenario. Wir werden daran arbeiten, dasssich die Lage weiterhin verbessert.Danke schön.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr StaatssekretärSchlauch, Sie haben mir keine Gelegenheit gegeben,eine Frage zu stellen. Deshalb möchte ich mit dieserKurzintervention Ihre Behauptung klar zurückweisen,dass wir an verschiedenen Punkten blockiert haben. AlsSie von Blockaden gesprochen haben, müssen Sie wohlzunächst an sich selbst gedacht haben. Sie verwechselnhier etwas. Die CDU/CSU hat gestern im Finanzaus-schuss den Antrag gestellt, die für den Mittelstandäußerst schwierige Neuregelung der Gesellschafter-fremdfinanzierung über § 8 a Körperschaftsteuerge-setz wieder zu ändern. Es ist natürlich ein Mittelstands-vernichtungsprogramm, wenn die Zinsen für eineFinanzierung im Mittelstand auch noch voll versteuertwerden müssen. Sie haben die Veränderung verweigert,obwohl Sie wissen, dass das letztlich wirklich ein Mittel-standsvernichtungsprogramm ist.
Es muss noch einmal deutlich darauf hingewiesenwerden, dass wir von der CDU/CSU gerade einen An-trag für ein Sofortprogramm in der Steuerpolitik in den
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Hans MichelbachDeutschen Bundestag eingebracht haben und Sie sichauch diesem Antrag verweigert haben. Er hätte geradefür den Mittelstand ein deutliches Signal in RichtungEntlastung, mehr Freiraum für Investitionen und vor al-lem Vereinfachung gesetzt.Herr Staatssekretär, nehmen Sie einfach zur Kenntnis,dass Sie mit Ihrem Vorwurf nichts anderes tun, als Ne-belkerzen zu werfen. Sie haben dem Mittelstand damitnicht gedient. Der Mittelstand braucht eine klare Mittel-standspolitik und keine Nebelkerzen.Danke schön.
Kollege Schlauch, Sie haben die Möglichkeit zur Ant-
wort.
R
Herr Kollege Michelbach, ich möchte kurz auf den
§ 8 a Körperschaftsteuergesetz eingehen. Vielleicht ist es
Ihnen entgangen, aber Tatsache ist: Für die unbefriedi-
gende Fassung des § 8 a Körperschaftsteuergesetz sind
alle in diesem Hause, einschließlich Ihrer Fraktion, ver-
antwortlich;
denn dieser § 8 a ist vor Weihnachten im Vermittlungs-
ausschuss ausführlich beraten und in der jetzt gültigen
Fassung beschlossen worden.
Sie haben daran das gleiche Urheberrecht wie allen an-
deren auch.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir haben uns bemüht und
wir bemühen uns, die negativen Auswirkungen des § 8 a
durch einen so genannten Anwendungserlass in Bezug
auf die Bürgschaftsfälle abzumildern und das für den
Mittelstand positiver zu gestalten. Das haben wir getan.
Für weitere Korrekturen sehen wir derzeit keinen Be-
darf. Wir werden es aber natürlich noch einmal prüfen.
Den Eindruck zu erwecken, als ob Sie mit diesem
§ 8 a nichts zu tun haben, das ist nun wirklich nicht legi-
tim. Da haben wir alle ein Problem geschaffen.
Wir haben die Situation des Mittelstandes verbessert und
werden sie auch weiterhin verbessern.
Ich erteile Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! KollegeSchlauch, Sie haben so viele Dankesschreiben von Mit-telständlern für die außerordentlich erfolgreiche grün-rote Politik erwähnt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Siedie einmal vorlegen würden. Ich gebe Ihnen gern Kopiender Schreiben mit massiven Beschwerden über Ihre Poli-tik, die bei uns eingehen.
Kollegen Brandner, der uns nach seinem Beitrag ver-lassen hat, hätte ich gern noch etwas zu seiner Rede ge-sagt – man verfolgt ja die Beiträge der anderen bei derDebatte –, nämlich dass mir seine Selbstbeweihräuche-rung wie der folgende Fall vorkommt: Einem Bauernwird ein Schwein vom Hof geholt und geschlachtet. An-schließend bekommt er drei Koteletts zurück und sollsich dafür auch noch bedanken.
– Herr Stiegler, Sie werden im „Spiegel“ gerade mit denWorten zitiert, dass Sie Herrn Clement an die Wand klat-schen wollten. Das ist sehr witzig. Ich finde es sehr ori-ginell, wie Sie miteinander umgehen. Das ist hochinte-ressant.Wir diskutieren heute über einen Antrag von Grün-Rot vom 28. Januar 2003 mit der tollen Überschrift „Of-fensive für den Mittelstand“. Mit welchem NachdruckSie das betreiben, sieht man daran, dass wir ihn heute,im Mai 2004, abschließend beraten. Das hat eine einfa-che Ursache: Wir stehen vor der Europawahl. Da kom-men die üblichen Lippenbekenntnisse von Grün-Rotzum Mittelstand, um vor der Wahl einen guten Eindruckzu machen. Die Realität sieht anders aus.Die Zahl der Firmenpleiten hat 2003 einen neuenNachkriegsrekord erreicht. Die Arbeitslosigkeit warnach alter Zählung – Sie haben das ja etwas umge-schminkt – im April so hoch wie noch nie. Die Erwerbs-tätigkeit nimmt weiter ab. Die Binnenkonjunktur lahmttrotz guter Exportlage. Der Mittelstand ist eben in derRegion verwurzelt. Er kann nicht nach Südportugal oderChina auslagern und die Aufträge dort erfüllen.Ein zentraler Punkt, den Sie – Herr Schlauch, das hatauch Ihre Rede gezeigt – einfach nicht verstehen, ist,dass Mittelstandspolitik nur funktionieren kann, wenndie Regierung in ihrem politischen Handeln Berechen-barkeit, Vertrauen, Klarheit vermittelt. Der Mittelstandwill keine Subventionen, er will eine faire Chance ha-ben. Wenn Sie ständig alles neu regeln, hier und da ein
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Rainer BrüderleProgrämmchen auflegen, die Telekom aber das sie regu-lierende Gesetz beinahe selber schreiben lassen, Eon undRuhrgas einen Marktanteil von 85 Prozent zugestehen,die Kohlesubventionen fortsetzen, aber kein Geld fürBildung ausgeben, dann schaffen Sie kein Umfeld, indem Mittelständler erfolgreich arbeiten können.
Mittelstand ist kein Betriebsgrößenbegriff, sonderneine Geisteshaltung. Das ist Ihnen natürlich fremd. Eshandelt sich um Menschen, die mit einer anderen Ein-stellung als Funktionäre, die kein unmittelbares Risikotragen, an die Sache herangehen, die in der Regel mit ih-rem Vermögen bzw. ihrem Eigentum für ihre Entschei-dungen haften. Mittelständler haben eine spezielle Ein-stellung; gerade diese brauchen wir. Sie könnenmanchmal nachts nicht schlafen, weil sie sich überlegen,ob sie zu bestimmten Konditionen noch den Auftraghereinnehmen können und wie sie einen Weg finden, umihrer Belegschaft Arbeit zu geben. Bei ihnen arbeitenFamilienmitglieder mit. Eine 35-Stunden-Woche ist fürsie eine Witznummer. Nach drei Tagen haben sie dieseArbeitszeit erreicht.
Diese Menschen verunsichern Sie permanent. Siewerden von Ihnen schlecht behandelt.
Sie werden nach wie vor auch steuerlich schlechter be-handelt. Wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Siedoch Ihren Parteigenossen Professor Dr. Wiegard, denVorsitzenden des Sachverständigenrates. Der rechnet Ih-nen vor, dass die Konditionen für Mittelständler immernoch nicht mit denen der übrigen Wirtschaft vergleich-bar sind.
Und kommen Sie mir doch nicht mit der Steuerquote.Wenn viele mittelständische Betriebe nichts verdienenund deshalb keine Steuern zahlen können, dann kann dieSteuerquote nicht hoch sein. Ich treffe doch volkswirt-schaftliche Entscheidungen nicht nach Steuerquoten,sondern nach Steuersätzen.Sie übersehen völlig, dass wir nach der EU-Osterwei-terung plötzlich mit Ländern in unmittelbarem Wettbe-werb stehen, die eine Flat Tax haben, bei der nur ein Mi-nimum steuerfrei gestellt ist, die maximalen Steuersätzeaber bei unter 20 Prozent liegen. Es wird für manche Un-ternehmen bald völlig egal sein, ob ihr Firmensitz inRiga, in Köln, in Ljubljana oder in Hamburg ist. Der Un-terschied ist nur, dass sie bei uns 50 Prozent oder mehrSteuern zahlen, während sie dort weniger als 20 Prozentbezahlen. Wie Sie dies durchhalten wollen, ist mirschleierhaft. Das wird zu weiterer Abwanderung vonKapital und inzwischen auch von Arbeitskräften führen,weil die Leute merken, dass woanders mehr übrig bleibtund dort auch bessere Umfeldbedingungen herrschen.
Herr Clement wurde vom Superminister – ich zitierenoch einmal den „Spiegel“ – zum Störenfried degradiert.Einmal will er den Sparerfreibetrag streichen, dann solldie Ostförderung zusammengestrichen werden, dann solldas Straßennetz privatisiert werden. Gerade durch solcheVorschläge wird nicht die notwendige Klarheit geschaf-fen.Der Posten des Mittelstandsbeauftragten, der eigent-lich genau für diese Menschengruppe und ihre Geistes-haltung kämpfen müsste, ist heute zu einer Versorgungs-stelle für abgehalfterte grüne Politiker geworden.
Das ist nicht der richtige Weg. So kann man dem Mittel-stand keine Möglichkeiten aufzeigen, um aus der Kriseherauszukommen.Diese Aufzählung ließe sich ja fortsetzen: In einerBürgerversicherung sollen alle gleichgeschaltet werden.Hier bringen Sie eine DDR light ins System. Man könntenoch Ihren Zickzackkurs beim Ladenschluss und vielesandere hinzufügen. Mit all dem tragen Sie dazu bei, dassder Mittelstand keine faire Chance hat, sich positiv zuentwickeln. Die Bedingungen stimmen nicht. Selbstdiese schlechten Bedingungen sind nicht berechenbar.Aber Wirtschaften beruht auf Kalkulation. Am Schlussmüssen Sie rechnen: Zwei und zwei sind vier. Wer nichtrechnen kann, kann auch nicht steuern.
Die Eigenkapitalausstattung des Mittelstandes ist– zum Teil historisch bedingt, zum Teil bedingt durchunser Steuersystem – katastrophal schlecht. Der Deut-sche Sparkassen- und Giroverband hat vor kurzem eineUntersuchung vorgelegt, in der er 50 000 mittelständi-sche Betriebe erfasst hat. Von diesen hatte die Hälftekein Eigenkapital – mit anderen Worten: Die sind schonfertig, wissen es aber nur nicht – und im Schnitt hattenBetriebe bis 100 Beschäftigte eine Eigenkapitalquotevon 6 Prozent. In angelsächsischen Ländern liegt siezwischen 35 und 45 Prozent. Das ist eine strategischeSchwäche unseres Mittelstandes. Eine entsprechendeSensibilität für Rahmenbedingungen, die es dem Mittel-stand ermöglichen, sich einzubringen, fehlt Ihnen leidervöllig.
Ich erteile das Wort Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk,
SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Oppositionin der vergangenen Dreiviertelstunde hier geboten hat,
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Dr. Sigrid Skarpelis-Sperkwar billige Polemik, widersprüchlich und zum Teil aus-gesprochen heuchlerisch.
Dass Sie zuerst der Handwerksordnung zustimmen undsie dann hier angreifen und beklagen, finde ich außeror-dentlich schäbig.
– Entschuldigen Sie bitte, reden wir hier über die verab-schiedete Handwerksordnung oder über frühere Vor-schläge? Sie können sich doch nicht erst hier einbringenund mit uns gemeinsam um Änderungen ringen unddann genau diese hier angreifen.Ähnlich ist es mit der EU-Osterweiterung. Wir alle indiesem Hause haben sie gemeinsam beschlossen, Sie ha-ben sie in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft alswichtig, besonders mit Blick auf die Exporte, gepriesen,weil diese Erweiterung neue Chancen biete, aber hiernennen Sie die Konditionen, die Sie vorher alle kannten,schlecht für den deutschen Mittelstand. So können wirdoch nicht miteinander umgehen!
Ein weiterer Punkt ist die Steuerreform; auch hiersprechen Sie doppelzüngig. Zuerst schlagen Sie eineSteuersenkung vor, Frau Kollegin Wöhrl, dann sagenIhre eigenen Leute, auch der Finanzminister des LandesBayern, Herr Dr. Kurt Faltlhauser, so gehe es nicht, esmüsse auch an die Länderhaushalte gedacht werden– übrigens eine sehr vernünftige Anmerkung von ihm;wir müssen den historischen Tiefstand der deutschenSteuerquote bedenken und überlegen, wo und wie wirsenken –, und anschließend beklagen Sie, einschließlichdes Kollegen Brüderle – dessen Partei in dem Land, ausdem er kommt, der Steuerreform im Bundesrat zuge-stimmt hat –, das, was in der Folge geschieht.Dann macht Herr Michelbach hier eine Kurzinterven-tion und erläutert, welch schlimme Auswirkungen § 8 ades Körperschaftsteuergesetzes hat,
und muss sich von Rezzo Schlauch belehren lassen, dassseine Partei das im Bundesrat selber mitgetragen hat.
Herrschaften, hinter verschlossenen Türen Ja sagen, imBundesrat zustimmen und dann an den Stammtischenund hier im Parlament anders reden, das ist einfachheuchlerisch.
Wir sollten uns stattdessen über Probleme unterhal-ten, wie zum Beispiel über die Strukturkrise des deut-schen Bankensystems, die noch lange nicht durchgestan-den ist und die schwerwiegende Auswirkungen auf dieFinanzierung des deutschen Mittelstands hat, und da-rüber, was man konkret machen kann, um die Problemezu lösen. Dazu reicht keine – ich sage es einmal ganzoffen – Maulhurerei, vielmehr müssen wir überlegen,wie wir den Betrieben konkret helfen können. Darübersollten wir sprechen.
Entscheidend ist, welche Probleme mittelständischeUnternehmen, insbesondere kleine, heute haben – daskönnen wir alle, quer durch dieses Haus, an Beispielenaus unseren Wahlkreisen belegen –, wenn es darum geht,die notwendigen Finanzierungsmittel für Investitionenund den laufenden Geschäftsbetrieb zu beschaffen, vonder Finanzierung von Forschung und Entwicklung ganzzu schweigen. Darin liegt einer der Gründe, warum sichder exportorientierte Aufschwung im Moment zwar inden Bilanzen der Großbetriebe niederschlägt, aber nochimmer nicht bei den kleinen und mittleren Betrieben:Dort funktioniert die Finanzierung der Investitionennicht.
Jeder von uns kann aus seiner eigenen Erfahrung be-stätigen, was die Umfrage der Kreditanstalt für Wieder-aufbau aus diesem Frühjahr dokumentiert hat: Für43 Prozent der befragten Unternehmen ist die Kredit-aufnahme spürbar schwieriger geworden;
in den neuen Ländern sind es sogar 47 Prozent. Bei denkleinen Unternehmen ist es fast jedes zweite, das klagt.16 Prozent der Unternehmen – wichtige Träger der Wirt-schaft und der Beschäftigung, gerade in den Regionen –haben Probleme, überhaupt noch einen Kredit zu be-kommen.Die Ursachen dafür sind vielfältig. Sie werden vonden Banken oftmals auf das Stichwort Basel II reduziert,übrigens zu Unrecht. Im Gegenteil, die Bundesregierungund ihre Verhandlungsführer in Basel haben Ergebnisseerreicht – zum Teil gegen den Rest der Welt und in einergeduldigen Überzeugungsarbeit in Europa –, die die be-sonderen Finanzierungsbedingungen des Mittelstandsangemessen und sehr viel besser berücksichtigen, als esin den ursprünglichen Plänen vorgesehen war.
Man hat in internationalen Zeitungen wie der „Finan-cial Times“ und dem „Wall Street Journal“ nachlesenkönnen, dass die Welt das deutsche Wort Mittelstandmittlerweile buchstabieren gelernt hat. Es ist richtig undwichtig, dass die Kapitalmärkte nicht nur zur Finanzie-rung der großen multinationalen Konzerne da sind. DieKapitalmärkte müssen auch die Finanzierungen für diekleinen Unternehmen sicherstellen. Auf diesem Gebiethat gerade die Bundesregierung einen Durchbruch in derinternationalen Debatte erreicht.
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Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
– Ja. Reden wir einmal über die Praxis! Die heutige Situa-tion hat auch mit der Struktur des deutschen Banken-systems zu tun.
Wir müssen auch darüber offen reden, dass bei einemTeil der Großbanken der Mittelstand faktisch keine Kre-dite mehr bekommt. Das liegt nicht zuletzt daran, dassbei vielen dieser Großbanken das Geld knapp ist, weilsie es auf den internationalen Kapitalmärkten schlichtverzockt haben. Auch darüber muss man einmal offenmiteinander reden.
700 Milliarden US-Dollar sind allein durch die IT-Blase vernichtet worden. Wenn Sie einmal sorgfältig dieBilanzen der deutschen Großbanken durchgehen – leidersind es nicht nur die Großbanken –
und sich die Auswirkungen der Lateinamerikakrise, derAsienkrise und der Russlandkrise anschauen, dann kom-men Sie zu dem Schluss, dass massive Wertberichtigun-gen notwendig waren und dass sich die Banken immernoch nicht ganz von dieser Situation erholt haben.Schauen Sie sich einmal die Rates of Return und die in-ternationalen Ratings an!Man muss auch darüber reden, dass die öffentlicheFörderpolitik zum Teil eingesprungen ist, aber dass siedieses Problem allein nicht lösen kann, insbesondereweil die Banken risikobewusster geworden sind. Mankann dies vor dem Hintergrund ihrer Bilanzen auchnachvollziehen. Sie müssen versuchen, aus dieserschwierigen Situation herauszukommen. Manchmalwurde das Management ausgetauscht, aber manchmalnicht. Diejenigen Banken, die das Management nicht ge-wechselt haben, fordere ich an dieser Stelle auf, sich beiden großmäuligen Ratschlägen an die Adresse der Poli-tik etwas zu mäßigen.
Vor der eigenen Tür zu kehren und sich zu überlegen,was sie im vergangenen Jahrzehnt an Milliardensummender Shareholder, aber auch, was die Potenziale der deut-schen Volkswirtschaft angeht, in den Sand gesetzt haben,wäre wesentlich angemessener, als uns auf diversen Ver-bandstagungen gute Ratschläge zu erteilen.
Wir haben gemeinsam versucht – das sage ich alsVorsitzende des Unterausschusses ERP-Wirtschaftsplänedeutlich –, den Unternehmen wirksame Hilfen zu ge-währen und diese schwierige Situation, in der die Ban-ken risikobewusster geworden sind, einigermaßen in denGriff zu bekommen. Eine ganz neue Produktfamilie, dieinsbesondere berücksichtigt, dass deutsche Unterneh-men über geringeres Eigenkapital verfügen, soll geradekleinen und innovativen Unternehmen helfen, sichNachrangkapital neben den klassischen Krediten zu be-schaffen, damit sie in der Startphase und anschließend inder Wachstumsphase mehr Möglichkeiten haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre mir liebergewesen, diesen Punkt ausführlicher darzustellen. Aberaufgrund Ihrer wirklich billigen Polemik, die an dennützlichen Maßnahmen im Rahmen dieser Mittelstands-offensive kein gutes Haar gelassen hat – wir sollten ver-suchen, gemeinsam für den Mittelstand das Beste he-rauszuholen –, kann ich die positiven Seiten leider nichtausgiebig darstellen.
Es wäre wert, diese Maßnahmen dem Mittelstand undden kleinen Unternehmen bekannter zu machen und aufdie neuen Möglichkeiten hinzuweisen. Das wäre besser,als alles schlechtzureden.In der Tat ist Wirtschaftspolitik zur Hälfte Psycholo-gie. Sie leisten nur den Beitrag, alles schwarz zu malen.
Ich erteile das Wort Kollegen Hartmut Schauerte,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir reden über den Mittelstand, von dem alle sagen,dass er die wichtigste und unverzichtbarste Institutionist, wenn es darum geht, vernünftiges Wirtschaften zuermöglichen, Ertrag zu erzielen, Arbeitsplätze zu schaf-fen sowie Fortschritt und Nachhaltigkeit zu sichern.Deswegen bitte ich darum, einmal einen Moment inne-zuhalten und keine klein-kleine Betrachtung vorzuneh-men. Ich gestehe Ihnen in einer Reihe von Fällen guteAbsichten und guten Willen zu. Ich stelle fest, dass wireine Reihe von Maßnahmen mitgetragen haben und dasssie vernünftig waren, weil sie an dem einen oder anderenPunkt eine Fehlsteuerung, eine Fehlentwicklung besei-tigt haben. Das ist so; darüber brauchen wir uns dochnun wirklich nicht zu streiten.Die Frage ist: Reicht das? Ist dabei genügend heraus-gekommen? Können uns die Ergebnisse zufrieden stel-len, die wir nach sechs Jahren Ihrer Regierungskunst undnach anderthalb Jahren Regierungskunst von WolfgangClement erkennen können, dem Superminister, der, alsvor einem Jahr über diese Dinge diskutiert wurde, hierwar, weil er zum Aufbruch blasen wollte, und der amheutigen Tage, an dem Bilanz gezogen wird, nicht hierist?Ich darf in aller Ernsthaftigkeit auf ein paar Faktenhinweisen. Unser Ziel ist ja, in Deutschland Arbeits-
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Hartmut Schauerteplätze zu schaffen – und das mit einem effektiven, wir-kungsvollen Mittelstand.
Ein paar Zahlen: Wir haben im Vergleich zum Vorjahr134 000 Erwerbstätige weniger. Die Zahl der sozialver-sicherungspflichtig Beschäftigten ist im Vergleich zumVorjahr um 520 000 geringer. Die Zahl der offenen Stel-len ist im Vergleich zum Vorjahr um 91 000 geringer.Das Ergebnis ist also deprimierend.Jetzt muss man überlegen, wie wir aus diesem Trendherauskommen. Sie können behaupten, Sie hätten allesgemacht. Wenn man es jetzt so laufen lasse, dann werdesich die Entwicklung verbessern. Sie glauben es aberselber nicht! Sie wissen das.Ich will ein paar Maßnahmen ansprechen, die Sie an-gekündigt haben, bei denen Sie guter Hoffnung warenund die Sie beschlossen haben, und dann darauf hinwei-sen, wie sie gewirkt haben. Die Personal-Service-Agen-turen zum Beispiel, die vor kurzer Zeit eingerichtet wor-den sind, waren der große Renner zur Bewältigungvieler wichtiger Probleme.
Es wurden Beschäftigungseffekte in Höhe von 500 000Arbeitsplätzen angekündigt, davon 350 000 Volljobs peranno. Das war Ihr Hoffnungsansatz. Herausgekommenist in 2004 ein Beschäftigungseffekt von 7 700 Arbeits-plätzen.
Das Programm des Jobfloaters wurde mit großer Hoff-nung und gutem Willen beschlossen, weil es helfensollte. Angekündigte Beschäftigungseffekte: 120 000 Jobs.Bis heute führte dieses Programm zu 11 000 Volljobsund 1 000 Ausbildungsplätzen. Dafür wurden aber 837Millionen Euro ausgegeben.
In diesem Zusammenhang wurde auf die Firmen-gründungen hingewiesen. Ich hatte bei der letzten De-batte mit Herrn Müntefering – ich weiß nicht, ob er nochhier ist – einen kleinen Disput. Er hatte von 1,6 Millio-nen Neugründungen in einem Jahr gesprochen. Ich wartenoch auf eine präzise Antwort von ihm.Fakt ist: 1998 gab es 858 100 Firmenneugründungenund 704 000 Firmenabmeldungen. Saldo: 154 100 Neu-gründungen sind übrig geblieben. In 2003 gab es761 000 Neugründungen und 656 000 Abmeldungen.Saldo: 105 000. Arbeitsplatzrelevante Firmenneugrün-dungen in Deutschland sind also minimal. Das ist dochder Befund.Jetzt müssen wir überlegen: Ist alles richtig gemachtworden? Reicht das? – Ich sage: Nein! Sie haben durcheine Vielzahl von Maßnahmen, durch Ankündigungen,durch kontroverse Diskussionen, durch Streit, durchZeitverzögerung, durch klassische Fehler also, mindes-tens so viel neue Verunsicherung bewirkt, wie Sie an dereinen oder anderen Stelle sicherlich etwas Vernünftigesgemacht haben. Aber nennen Sie mir einige wenige ver-nünftige Dinge, die Sie gemacht haben und denen wirnicht zugestimmt haben! Sie werden keine finden. Ichkann Ihnen eine Maßnahme nennen, die wirklich funktio-niert hat: die Einführung des Minijobs mit einem Ver-dienst von 400 Euro pro Kopf. Das ist das einzige Ele-ment – das haben wir in den Kompromissverhandlungendurchgesetzt –, das wirklich weitergeführt hat. 7,4 Millio-nen neue Minijobs sind entstanden.
Das ist das einzige Programm, das wirklich gelungen istund das wir durchgesetzt haben. Ich will mich damitnicht brüsten; aber Sie sollten unsere Kritik ernst neh-men. Wir verstehen etwas vom Mittelstand. Wir wissen,was da fehlt. Wir sind da mehr zu Hause als Sie.Für den Mittelstand ist folgende momentane Entwick-lung desaströs: Clement darf nicht mehr; Clement kannnicht mehr.Der Bundeskanzler musste den Parteivorsitz abgeben.
Müntefering sollte den Parteivorsitz übernehmen, umRuhe, sprich: keine weiteren Veränderungen, in den Re-formprozess zu bringen. Das ist ein lebensgefährlichesSignal; es gibt weder Hoffnung noch Perspektive für denWeg nach vorn.Wenn Sie diesen gefährlichen, vermutlich aber richti-gen Eindruck nicht durch konkretes Handeln definitivbeseitigen, können Sie an den Einzelschräubchen dre-hen, so viel Sie wollen, dann können Sie auch die Kre-ditprogramme bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau sostark ausweiten, wie Sie wollen, Sie werden dennochkein neues Vertrauen schaffen, sodass neue Arbeitsplätzein Deutschland entstehen können und nachhaltig gewirt-schaftet werden kann.
Sie werden das Vertrauen nicht finden. Mittlerweilegeht doch Angst im Volk um. Das Einzige, was an Ihrerso genannten nachhaltigen Entschuldungspolitik nach-haltig ist, ist die Tatsache, dass Sie die Maastricht-Krite-rien nachhaltig verletzen. Wir müssen doch in dennächsten fünf bis sechs Jahren bei 40 Milliarden EuroNeuverschuldung mit weiteren massiven Verstößenrechnen. Wissen Sie, welche Ängste die Menschen ha-ben? Wir reden diese Ängste nicht groß. Die Menschenbefürchten, dass der Staatsbankrott droht, wenn wir soweitermachen.
– Entschuldigen Sie, stellen Sie sich vor, die Zinsen inDeutschland steigen um 1 Prozent – das ist eine ganzniedrige Marge. Das ist auch höchstwahrscheinlich.
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Hartmut Schauerte– Sie werden steigen. Sie wissen doch, was auf dem in-ternationalen Finanzmarkt los ist. Angesichts der Schul-den, die uns jetzt belasten, müssen wir bei 1 ProzentZinssteigerung in einem Jahr um die 10 bis 14 Milliar-den Euro zusätzliche Staatsausgaben tätigen. An diesenzusätzlichen Staatsausgaben werden Sie nichts ändernkönnen.Sie erlauben sich in dieser Situation den Stillstand undsagen: Wir brechen die Reformen ab. Die SPD-Wählersind nicht mehr bereit, weitere Reformen zu akzeptieren.Die SPD-Mitglieder fürchten sie. Münteferings Aufgabeist es, weitere Austritte zu verhindern und die SPD zustabilisieren. Das heißt konsequent gedacht: Nichts, wasschwierig ist oder wehtut, was aber vermutlich das einzigHilfreiche ist, wird mehr umgesetzt. In diese negative Si-tuation bringen Sie unser Land. Ich prophezeie Ihnen:Die Menschen werden Sie im Anschluss an Ihre Reden,auf welcher Veranstaltung auch immer – das ist jeden-falls bei mir so –, danach fragen, wie lange Herr Clementnoch im Amt bleibt.
Sie wissen, dass die Amtsdauer endlich ist.
Es ist ja nicht so, dass er alles richtig gemacht hat.Wir wissen alle, dass er das in Nordrhein-Westfalennicht gemacht hat und dass er es auch hier nicht macht.Wir hier haben ihn ja nie Superminister genannt. Er waraber der Einzige von Ihnen, der mit einer Reihe vonMaßnahmen zumindest versucht hat zu reformieren. Siehaben ihn aber nicht gelassen und das ist das Problem.Wer soll denn kommen? Wen wollen Sie denn bringen?Herrn Brandner?
Er ist doch Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz in die-sem Hause. Soll Herr Kollege Brandner den KollegenClement beerben? Ist das die Perspektive für den Mittel-stand?
Soll daraus neuer Mut für den Schritt nach vorn wach-sen? Es ist eine ausgesprochen unerträgliche Situation.Über einen Punkt haben Sie hier mehrfach diskutiert,auch der Kollege Michelbach hat ihn aufgegriffen. Ichwill daher auf § 8 a Körperschaftsteuergesetz einge-hen. Wir haben ihn zwar mitbeschlossen – Sie wissenselbst, dass in den Nacht-und-Nebel-Aktionen im Ver-mittlungsausschuss sehr viel nebenher gelaufen ist –,
aber heute konstatieren wir, dass das ein Fehler war.Denn ein sehr großer Teil der mittelständischen Unter-nehmen zahlt heute Steuern auf seine Zinszahlungen undder Unternehmer, obwohl er den Kredit für sein Unter-nehmen aufgenommen hat, haftet dafür persönlich. Soist die heutige Lage und wir helfen doch niemandem,wenn wir uns darüber streiten, wer an dem Fehler mitge-wirkt hat. Es ist doch einzig und allein vernünftig zu sa-gen: Wir haben einen Fehler gemacht und der wird soschnell wie möglich korrigiert, bevor er bilanzwirksamwird. In diesem Jahr muss der Fehler korrigiert werden,und zwar rückwirkend zum 1. Januar 2004. Das wäreeine konkrete Maßnahme. Sie können sich nicht mit demSatz „Ihr habt mitgewirkt“ herausreden. Wir erkennenheute, dass das, was wir beschlossen haben, Gift ist;also: Weg mit dem Gift!
Wenn das einträte, hätten wir endlich einen wirklichenmittelstandspolitischen Sprecher, Rezzo Schlauch. Jetztwissen die meisten von ihm immer noch nichts.
Kollege Schauerte, gestatten Sie eine Zwischenfrage,
die Ihre Redezeit verlängert? Die Kollegin Hendricks
möchte Sie etwas fragen.
Gerne. Ich danke auch für den liebevollen Hinweis,
Herr Präsident.
Herr Kollege Schauerte, sind Sie bereit, mit demHause zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht nur um dieFrage geht, ob wir das gemeinsam beschlossen haben?Das ist wirklich nicht der Punkt. Ich will aber den Vor-wurf zurückweisen, dass es das Ergebnis einer Nacht-und-Nebel-Aktion gewesen sei. Es hat Arbeitsgruppendes Finanzausschusses gegeben, an denen auch dieFinanzminister der B-Seite beteiligt waren. Ich selberhabe diese Arbeitsgruppe für die Regierung betreut.
Es gab einen Regierungsentwurf. Er ist gründlich undsorgfältig und nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktionberaten und im Verfahren auch geändert worden.
So ist beispielsweise die Freigrenze gegenüber dem ur-sprünglichen Regierungsentwurf erhöht worden.
Er ist dann in der geänderten Fassung von allen bewusstangenommen worden. Das will ich der guten Ordnunghalber noch einmal klarstellen und Sie bitten, das zurKenntnis zu nehmen.
Des Weiteren möchte ich Sie bitten, zur Kenntnis zunehmen, dass der Kritikpunkt, den Sie gerade angespro-chen haben – § 8 a Körperschaftsteuergesetz –, nämlich
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Dr. Barbara Hendricksder so genannte Rückgriff bei verbürgten Krediten, be-reits im Entwurf eines Anwendungsschreibens, das vonden obersten Finanzbehörden des Bundes und der Län-der, also einvernehmlich mit allen Ländern, erarbeitetworden ist
und zurzeit den Verbänden zur Stellungnahme vorliegt,schon geregelt ist. Dieser Entwurf liegt übrigens auchden Mitgliedern des Finanzausschusses des DeutschenBundestages vor. Er ist also auch der Unionsseite diesesHauses bekannt oder könnte es zumindest sein. WollenSie sich mit mir einverstanden erklären, dass Sie vor die-sem Parlament zukünftig keine Probleme mehr anspre-chen, die schon längst gelöst sind?
Frau Staatssekretärin Hendricks, Sie haben zwei Fra-
gen gestellt. Der Präsident hat sie zugelassen, also muss
ich auch zwei beantworten.
Ihre erste Frage lautete: Sind Sie nicht mit mir der
Meinung, dass das seinerzeit im Vermittlungsausschuss-
verfahren alles sehr sorgfältig beraten worden ist? Dass
ausgerechnet Sie diese Frage stellen, wundert mich
etwas, denn da Sie die Bundesregierung in dieser Ange-
legenheit betreut haben, dürften Sie sich an den pein-
lichen Vorfall erinnern, dass sich plötzlich herausstellte,
dass um 1 Milliarde Euro falsch gerechnet worden ist.
Es hat allergrößte Mühe gekostet, die entsprechenden
Korrekturen vorzunehmen. Die Verantwortung dafür lag
eindeutig bei Ihnen. Es war ein sehr hektisches Verfah-
ren, in dem auch Fehler passieren konnten. Daher müs-
sen Korrekturen ohne großes Lamento möglich sein.
Die Antwort auf Ihre zweite Frage: Natürlich kenne
ich den Brief. Er löst aber nur einen Teil des Problems,
und zwar den, der ausschließlich Bürgschaften betrifft.
Sie wissen, dass die weiter gehenden Forderungen ver-
nünftig und richtig sind, nämlich den Faktor 1,5 bezogen
auf das Eigenkapital deutlich zu erhöhen. Sonst ist es
eine unzulässige Beschränkung.
Dann greift ja diese Strafsteuer auf Zinsen; man zahlt
also Gewinnsteuer auf Zinsen, die man zahlt; das muss
man sich immer wieder klar machen. Es gibt auch noch
weitere Punkte, die einfach nicht passen.
Ich sage allerdings eindeutig: Ein Ziel haben wir ge-
nauso im Visier wie Sie, nämlich die eleganten Manipu-
lationen der großen Konzerne zu unterbinden. Diese sind
weltweit tätig und finanzieren Investitionen mit Kredi-
ten, die sie sich selber über irgendwelche Scheinfirmen
gegeben haben, um damit in Deutschland Steuern zu
sparen. Aber die mittelstandspolitischen Wirkungen Ih-
rer Maßnahmen sind absolut unerträglich. Korrigieren
Sie den Fehler!
Im Übrigen danke ich Ihnen für die Möglichkeit, das
nachzutragen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Brüderle, ich möchte Ihnen eine kurze Vorbemer-kung widmen. In meiner Fraktion ist die Frage aufge-kommen, was eigentlich mit Ihnen los ist. Sie haben einesechsminütige Rede zum Mittelstand gehalten, abernichts Konkretes zum Mittelstand gesagt, an das mansich erinnern könnte.
Ihre Rede gipfelte in einer unflätigen Beleidigung desMittelstandsbeauftragten der Bundesregierung und dannhaben Sie sich wieder gesetzt. Das war wirklich unter Ih-rer Form. Das hat auch nichts mit dem Pfälzer Humor zutun; denn in der Pfalz ist man nicht für Galligkeit, die Siehier im Parlament verbreitet haben, sondern für etwasanderes bekannt.
Jetzt zur Sache. Frau Wöhrl, ich kann Ihnen nicht denVorwurf ersparen, dass Sie die wirtschaftliche Lage ausparteipolitischem Kalkül schlechtreden. Wenn wir unsdie Situation einmal nüchtern anschauen, stellen wirfest: Wir kommen langsam – ich betone: langsam – auseiner schwierigen Wirtschaftskrise heraus. Das Wachs-tum beträgt derzeit 1,4 Prozentpunkte und wir könnenmehr schaffen.
Sie wissen genau, dass es in Deutschland dann zu einemAbbau der Arbeitslosigkeit kommt, wenn das Wachstumdie so genannte Beschäftigungsschwelle übersteigt, diederzeit bei etwa 1,8 Prozentpunkten liegt.
Die Beschäftigungsschwelle zu senken ist das zen-trale Reformwerk, das wir durch die Hartz-Gesetze unddie Agenda 2010 angepackt haben. Deswegen ist dieBlockade, die Sie jetzt bei Hartz, bei der Zusammenle-gung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, betreiben,so entscheidend. Offensichtlich wollen Sie gar nicht,dass das, was auch Sie selbst seit Jahren verkündet ha-ben – das Vorhaben, ein anderes soziales Transfersystemin Deutschland mit effektiv besseren Wirkungen auf den
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Fritz KuhnArbeitsmarkt zu schaffen –, jetzt endlich umgesetztwird.
Wie können Sie uns denn sonst erklären, dass Herr Kochdie Gemeinden zur Blockade dieses neuen Instrumentesaufruft? Ich meine: Er richtet damit großen Schaden an.
Wir sind also in einer Situation, in der wir – HerrSchauerte, mit dem, was Sie diesbezüglich gesagt haben,liegen Sie völlig falsch – weitere Reformen brauchen.Der Reformprozess muss weitergehen. Bisher gibt es dasneue Arbeitslosengeld II und bessere Finanzierungsbe-dingungen für den Mittelstand noch nicht. Es ist nochsehr viel zu tun.
Aber entscheidend ist Folgendes: Von Ihrer Seite die-ses Hauses werden nur Elendsszenarien beschrieben.
Dies verschlechtert die Stimmung in der Bevölkerung,
bei den Investoren und auch bei den Konsumenten, dieihr Geld nicht ausgeben, weil sie von Ihnen ständig hö-ren, wie elend und mies die Situation ist.
Deswegen sage ich Ihnen, Herr Schauerte – Sie haben javersucht, konkreter zu werden und nicht nur die Standort-arien zu singen,
wie es Frau Wöhrl getan hat –:
Wenn Ihnen daran liegt, dass es dem Mittelstand bessergeht, dann verweigern Sie sich den Reformen nichtmehr, wie Sie es gerade tun, sondern gehen Sie mit in dieOffensive, damit in Deutschland insgesamt mehr Refor-men durchgeführt werden können.Frau Wöhrl, ich will zwei Punkte nennen, auf die esjetzt ankommt: Erstes Beispiel. Sie reden immer überdas Thema Kohle. Das tun Sie eigentlich nur, damit Siedarüber schweigen können, dass Sie, wenn wir auch an-dere Subventionen abbauen wollen, auf der Bremse ste-hen. Das sind mittelstandsrelevante Fragen; denn für dieZukunft ist es entscheidend, welches Personal der Mit-telstand bekommt. Ich habe von Ihnen noch keine kon-krete Einlassung zu dem Vorschlag von BundeskanzlerSchröder gehört, die Eigenheimpauschale zu streichenund die dadurch frei werdenden Mittel bei Bund, Län-dern und Gemeinden für Bildung, Forschung und Wis-senschaft einzusetzen,
um die strukturelle Schwäche, die hier besteht, zu über-winden.
Dazu hört man von Ihnen nichts Konkretes. Sie redennur über das Thema Kohle. Aber wenn es zum Schwurkommen soll, gehen Sie in die Büsche und schreien lautherum. Aber Sie nehmen die Verantwortung, die Sie auf-grund Ihrer Rolle in den Ländern haben, nicht wahr.
Zweites Beispiel. Weil wir Grüne sehen, dass es imVerkehrsbereich, bei der Schiene und der Straße, zu we-nige Investitionen gibt, haben wir den Vorschlag ge-macht, die Entfernungspauschale zu halbieren und dieMittel, die dadurch frei werden, für Verkehrsinvestitio-nen zu verwenden. In allen Ländern wird darübergeklagt – übrigens geht das auch zulasten des Hand-werks –, dass zu wenig investiert wird, weil Koch undSteinbrück nicht nur Subventionen abgebaut, sondernauch bei den Investitionen in die Verkehrsinfrastrukturgekürzt haben.
Dazu habe ich von Ihnen noch nichts Konkretes gehört.Sie beklagen zwar, dass nicht investiert wird. Aber Siemachen die Wege, damit in Deutschland investiert wer-den kann, nicht frei, sondern betreiben Blockadepolitik.
Herr Schauerte, das müssen Sie sich hier anhören; dennes ist wichtig, dass wir an diesen beiden Stellen mehrtun. – Herr Kauder, was haben Sie für Sorgen? Warummachen Sie diese Bewegung?
– Aha, die Redezeit; ich verstehe. Wenn es wehtut, führtHerr Kauder die Redezeit desjenigen, der gerade spricht,ins Feld. So ist es.
Damit komme ich zum Schluss meiner Rede.
Sie haben nichts getan, um die Blockaden, die ich ange-sprochen habe, zu überwinden.
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Fritz KuhnWenn Sie ehrliche Mittelstandspolitik machen würden,Herr Kauder, dann müssten Sie Ihre Bremsblockade auf-geben und zusammen mit der Regierung die notwendi-gen Reformen anpacken. Die Chance dazu haben Sie.
Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger, FDP-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Kuhn, ich will mit Ihnen anfangen. Nach-dem Sie hier Konkretes eingefordert haben, haben Sieselber nicht viel Konkretes gesagt. Wenn Sie nur halb sogut handeln würden, wie der Kollege Brüderle heute hiergeredet hat, dann ginge es diesem Land entschieden bes-ser.
Ein ganz wichtiger Aspekt beim Thema Mittelstandist das Thema Bürokratie. Das wird immer wichtiger,immer deutlicher zeigt sich das. Es gibt eine Untersu-chung des Instituts für Mittelstandsforschung. Wir wis-sen, dass die bürokratischen Belastungen für die Wirt-schaft in diesem Lande pro Jahr 46 Milliarden Eurobetragen. Diese Belastungen sind insbesondere in denletzten fünf Jahren erheblich gestiegen, Herr Schlauch,und Sie wissen das. Sie haben vorher in der Antwort aufden Kollegen Michelbach gesagt: Wir haben uns bemühtund wir bemühen uns. Herr Kollege Schlauch, Sie wis-sen, was das heißt, wenn es in einem Zeugnis steht: Esheißt, Sie haben sich bemüht, es aber nicht erreicht.
Dieses Zeugnis, dass Sie sich selber ausstellen, ist füreine Regierung zu wenig und für unser Land katastro-phal. Deshalb müssen wir uns einmal anschauen, was46 Milliarden Euro bedeuten. Sie bedeuten, dass ein Ar-beitsplatz in einem Großbetrieb mit über 500 Mitarbei-tern jährlich mit circa 350 Euro Kosten belastet ist, einArbeitsplatz bei einem kleinen Unternehmen mit unter10 Mitarbeitern allerdings jährlich sogar mit circa4 300 Euro – nur aufgrund des Aufwands für Bürokratie!Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Auf-wand für Bürokratie ist unnötig und dreht den Mittel-ständlern in diesem Land die Luft ab.
– Das ist seriös, vom Institut für Mittelstandsforschung.
Das steht in einer Studie, die der Wirtschaftsminister inAuftrag gegeben hat; vielleicht unterhalten Sie sich ein-mal mit Herrn Clement.Es sind im Zusammenhang mit Bürokratie fünf zen-trale Bereiche zu nennen: Steuern und Abgaben, Sozial-versicherungsrecht, Arbeitsrecht, Statistiken und Um-weltschutz. Herr Schlauch, Sie haben hier allemöglichen Vorschläge vorgetragen. Aber es bleibt wie-der einmal dabei, dass es nur Vorschläge waren. Wir alsFDP-Bundestagsfraktion haben für jeden einzelnen Fall,den Sie angesprochen haben, einen Antrag vorgelegt. Je-den einzelnen Antrag, jeden Gesetzentwurf haben Sieabgelehnt.
Deswegen ist das, was Sie machen, Bürokratieabbau-Rhetorik, Herr Schlauch, und nicht Bürokratieabbau.
Kommen wir zum Thema Modellregionen. HerrClement hat direkt nach dem Regierungsantritt – Okto-ber 2002 – angekündigt: zunächst Bürokratieabbau.Dann hat er gemerkt, dass er bei Ihnen damit nichtdurchkommt, und gesagt: Richten wir Modellregionenein. – Innerhalb kürzester Zeit haben sich 38 Regionengefunden, die Initiativen ausgearbeitet und sich als Mo-dellregionen beworben haben. Was haben Sie daraus ge-macht? – Drei Testregionen eingesetzt! Die haben zwi-schenzeitlich tausend Vorschläge geliefert. Aus diesentausend Vorschlägen haben Sie 29 ausgewählt und eineneue Initiative der Bundesregierung angekündigt. Meinesehr verehrten Damen und Herren von Rot-Grün, wennSie in diesem Tempo mit dem Thema Bürokratieabbauweitermachen
und in diesem Tempo damit weitermachen, Vorschlägeaus der Wirtschaft aufzugreifen, dann haben Sie amEnde dieser Legislaturperiode mit dem Bürokratieabbaunoch nicht einmal angefangen.
Wir haben auch zum Thema Statistik einen Antragvorgelegt. 350 Bundesstatistiken werden jährlich er-stellt; dafür werden 500 Millionen Euro aufgewendet.Der Bundesrechnungshof hat das Statistische Bundesamtmehrfach wegen Verschwendung gerügt. Dabei sind dieKosten, die sich dadurch ergeben, dass die Unternehmendie Daten zuliefern müssen, noch nicht aufgeführt. Dasmuss abgestellt werden. Dafür haben wir einen Antragvorgelegt und dem können Sie heute zustimmen.
Deswegen kann ich nur sagen: Lassen Sie den voll-mundigen Ankündigungen zum Bürokratieabbau endlichTaten folgen. Wenn Sie selbst nichts zuwege bringen,stimmen Sie den Anträgen der FDP-Fraktion zu! Heutehaben Sie die Chance dazu.Vielen Dank.
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Birgit Homburger
Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir befinden uns in der Bundesrepublik Deutsch-land gegenwärtig in einer schwierigen wirtschaftlichenLage. Das ist ohne Zweifel wahr. Fest steht aber auch:Die Beiträge, die wir heute vonseiten der Oppositiongehört haben, werden nicht dazu beitragen, dieseschwierige wirtschaftliche Lage zu verbessern. Dasmuss hier einmal deutlich gesagt werden.
Ich muss mich schon sehr wundern, dass Sie offenbarnoch nicht einmal das Frühjahrsgutachten zur Kenntnisgenommen haben: Das Wachstum in Deutschland beliefsich im ersten Quartal 2004 im Vergleich zum Vorjahres-zeitraum auf 1,5 Prozent und lag damit glatt höher alsdas der Eurozone, das nur 1,3 Prozent betrug. Ich erin-nere mich noch, wie Sie in Ihren Beiträgen den Vorwurfinszeniert haben, wir seien Letzter in Europa. Diese Zei-ten sind vorbei. Das Wachstum reicht zwar noch nichtaus – das stimmt –, aber es geht aufwärts. Ich bitte Sie,zumindest diese Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen,wenn Sie schon nicht an die Prognosen glauben.
Auch Bundesbankpräsident Axel Weber sieht diedeutsche Wirtschaft auf dem Weg der Erholung. Erschätzt das Wachstum mit 1,7 Prozent ein und ist damitsogar noch optimistischer als die Bundesregierung undals wir. Das freut uns natürlich. Seine Einschätzung ver-dient hier zumindest Erwähnung.Es gibt weitere gute Konjunkturnachrichten. Die Be-fragung von Creditreform zur Mittelstandskonjunkturhat ganz deutlich gezeigt, dass der Anteil der mittelstän-dischen Unternehmen mit sehr guter bzw. guter Auf-trags- und Geschäftslage im Vergleich zum Vorjahr um11,4 Prozentpunkte auf 29,4 Prozent angewachsen ist.Ein solches Ergebnis bedeutet nicht, dass es keineSchwierigkeiten gibt, aber es zeigt, dass es einen Auf-wärtstrend gibt. Es gebietet die Seriosität, dies hier zu er-wähnen.
Ähnliche Entwicklungen sieht auch das StatistischeBundesamt bei der Binnenkonjunktur, Herr KollegeSchauerte. Das Statistische Bundesamt meldet für daserste Quartal 2004 eine Erhöhung der Zahl der Er-werbstätigen im Dienstleistungsbereich, insbesonderein den Bereichen Handel, Gastgewerbe und Verkehr. ImVergleich zum Vorjahr ist die Zahl der hier Beschäftigtenum 134 000 Personen gestiegen. Auch hier können Sieeinen entsprechenden Aufwärtstrend feststellen.Mir stellt sich an dieser Stelle nun die Frage, welcheAlternative Sie uns eigentlich anbieten. Wo in Ihren An-trägen, die wir heute beraten, spiegeln sich Ihre Sprüchezu mehr Wettbewerb und mehr Freiheit, Frau Wöhrl,eigentlich wider?
Ein gutes Beispiel hierzu haben Sie selbst genannt. Beider Überarbeitung der Handwerksordnung haben Sieversucht, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wirhätten uns hier noch mehr Freiheiten gewünscht – dasgestehe ich zu –, haben aber einen Kompromiss gefun-den, der, wie ich finde, sehr gut ist. Wir können in die-sem Bereich einen Gründungsboom feststellen. Wir un-terstützen so das unternehmerische Denken. Das ist allespositiv. Deswegen können Sie hier doch sagen, dass esrichtig war, dass wir das gemeinsam gemacht haben.
Die Bürgerinnen und Bürger draußen im Lande erwar-ten, dass wir etwas gemeinsam auf den Weg bekommen.Seien wir stolz darauf, dass uns das gemeinsam gelun-gen ist!Ein weiteres Beispiel, das einen kleineren Bereich be-trifft. Wir haben erreicht, dass Existenzgründer von Bei-tragszahlungen an die Industrie- und Handelskammernbzw. an die Handwerkskammern befreit sind, wenn ihrGewerbeertrag nicht höher ist als 25 000 Euro im Jahr.Das ist ein kleiner, aber wichtiger Beitrag für die Men-schen, die versuchen, unternehmerisches Denken in diePraxis umzusetzen.Ein weiteres solches Beispiel. Die Eintragung in dasHandelsregister muss beschleunigt werden. Fast 70 Pro-zent aller Handelsregistereintragungen in Deutschlanddauern länger als zwei Monate. Damit liegen wir deut-lich über dem europäischen Benchmark von einem Mo-nat. Den Gerichten soll deshalb gesetzlich vorgeschrie-ben werden, den Antragsteller innerhalb eines Monats ineiner das Verfahren fördernden Weise zu bescheiden.Damit wollen wir klar machen, dass wir dafür sorgenwollen, dass die Menschen schneller an den Markt gehenkönnen. Dieser Weg ist doch richtig. Sagen Sie deshalb,dass auch Sie das wollen und dass Sie mit uns diesenWeg gehen wollen.Schauen Sie sich heute im „Handelsblatt“ den Moni-tor zum Thema Ausbildung an. Dort steht die klare Aus-sage, dass wir auch denjenigen einen Weg ebnen müs-sen, die nicht so gut qualifiziert sind. Was haben wirgemacht? Schauen Sie sich das einmal an: Bereits seitdem 24. September 2003 gibt es eine Modernisierunghin zu Berufen mit zweijähriger Ausbildungsdauer, wiebeim Verkäufer, Handelsfachpacker, Maschinenführeroder Fahrradmonteur. Wir müssen mehr machen – darinstimme ich Ihnen zu –, aber dass wir diesen Weg gegan-gen sind und dass es bereits Gesetz geworden ist, müs-sen Sie doch anerkennen. Sprechen Sie das doch einmalaus und erkennen Sie an, dass nicht alles schwarz inschwarz erscheint, sondern dass es in Deutschland vorangeht. Das ist Teil der Wahrheit.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10039
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Christian Lange
Nun zu Ihnen, Herr Brüderle, und Ihren steuerpoliti-schen Äußerungen. Das, was Sie vorgetragen haben– das steht auch in Ihren Anträgen –, dass die Personen-gesellschaften gegenüber den Kapitalgesellschaften be-nachteiligt wären, ist ein alter Hut. Ich will es noch ein-mal sagen, auch wenn es mich die letzten Minutenmeiner Redezeit kostet: Man darf nicht auf den immerwieder bemühten Vergleich hereinfallen, Kapitalgesell-schaften zahlen nur 25 Prozent Körperschaftsteuer, Per-sonengesellschaften dagegen 45 Prozent Einkommen-steuer. Dieser Vergleich stimmt nicht.Warum stimmt er nicht? Erstens. Kapitalgesellschaf-ten müssen zusätzlich Gewerbesteuer bezahlen, was imDurchschnitt mit knapp 14 Prozent zu Buche schlägt.Also liegt die steuerliche Gesamtbelastung bei rund39 Prozent, etwa beim Handwerksmeister. Die könnendie Gewerbesteuer bei der Einkommensteuerschuld pau-schal verrechnen.Zweitens. Die Körperschaftsteuer von 25 Prozentwird vom ersten bis zum letzten Euro des Gewinns erho-ben, während die Einkommensteuer progressiv ausge-staltet ist. Bei der Personengesellschaft sind nur die Ge-sellschafter steuerpflichtig, aber nicht die Gesellschaftselbst. Das bedeutet, dass den Personenunternehmernwie jedem anderen Privaten auch der Grundfreibetragund andere Freibeträge, etwa wenn er Kinder hat, zuste-hen.Drittens. Was ist schließlich das Ergebnis dessen? Umim Jahr 2005 eine den Körperschaften, also den Aktien-gesellschaften, entsprechende durchschnittliche Gesamt-belastung von rund 39 Prozent zu erreichen, muss ein le-diger Handwerksmeister rund 130 000 Euro versteuern.Bei einem verheirateten Handwerksmeister sind es rund245 000 Euro. Dass dies nur 5 Prozent der Personenge-sellschaften in Deutschland sind, haben wir zu beklagen.Dass das Steuerrecht diese benachteiligt, stimmt abereinfach nicht. Behaupten Sie es hier also nicht. FindenSie den Weg zurück zur Wahrheit und damit zur Klarheitund damit zum Wirtschaftswachstum in Deutschland!Dazu fordere ich Sie auf.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Veronika Bellmann,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Staatssekretär, ich weiß nicht, auf welcherRhetorikschule Sie reden gelernt haben. Meine Groß-mutter hätte bei dem lauten Redeschwall, den Sie vonsich gegeben haben, gesagt: Wer schreit, hat Unrecht.
Herr Lange, ich will Ihnen gerne sagen, wo unsereVorschläge für die Mittelstandspolitik stehen. Sie stehenin unserem vorliegenden Antrag. Es sind genau 25 ander Zahl. Uns vorzuwerfen, dass wir Ihnen hier nichtsKonstruktives vorschlagen, ist wohl gründlich daneben-gegriffen.
Der KfW-Mittelstandsmonitor 2004 sagt aus: DieSchwäche des Mittelstandes hält das vierte Jahr in Folgean. Lediglich 12 Prozent der Mittelständler sind in derLage, zusätzliches Personal einzustellen. Damit befindetsich die Mittelstandskonjunktur im Schlepptau der Ge-samtwirtschaft mit entsprechender Wirkung auf Be-schäftigungsimpulse und Investitionen.
Es stellen sich die Fragen: Ist der Mittelstand in derKrise? Ist die Gesamtwirtschaft in der Krise? Ist dieWeltwirtschaft in der Krise? – Nein, die Politik dieserBundesregierung und die Staatsfinanzen sind in derKrise.
Ihre Laborversuche sind kläglich gescheitert und die po-litischen Rahmenbedingungen für den Mittelstand sindkatastrophal.Ich will die Steuer- und Abgabenpolitik näher be-leuchten und dabei insbesondere die Ausbildungsplatz-abgabe hervorheben. Statt die Berufsbildung durch eineVerkürzung der Ausbildungsdauer, durch eine modulareAusbildung, die an den Bedürfnissen der Wirtschaftorientiert ist, und durch die Schaffung neuer Ausbil-dungsberufe zu modernisieren, schaffen Sie ein Bürokra-tiemonster sondergleichen: 1 000 Arbeitsplätze ohneWertschöpfung, die die Steuerzahler und damit dieStaatsquote noch mehr belasten, als das ohnehin schonder Fall ist.Das Gleiche gilt bei Hartz IV. Ja, wir sind dafür, dieArbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzuführen.
Wichtig ist aber die Umsetzung. Sie ist wie bei allen an-deren Ihrer Gesetze schlampig. Die Bundesagentur fürArbeit verdient ihren Namen fast nicht mehr. Auch dortsind 40 000 neue Arbeitsplätze nötig, aber auch dort ent-steht keine Wertschöpfung.
Über allem schwebt das Haushaltsdebakel ohneglei-chen, zu dem das Maut-Desaster mit Milliardenlöchernnoch hinzukommt, was nicht ohne Wirkung auf die Mit-telstandspolitik bleibt.
– Herr Tauss, es ist schön, dass Sie meinen Namen mitt-lerweile kennen, aber Sie können mit Ihren unqualifi-zierten Zwischenrufen ruhig einmal aufhören.
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10040 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Veronika BellmannMaut-Desaster, Haushaltslöcher, Haushaltsdebakel –von all dem ist bei der Gemeinschaftsaufgabe der För-derung der regionalen Wirtschaftsstruktur nicht dieRede.Ich will nun einmal näher auf die Gemeinschaftsauf-gabe eingehen. Die Gemeinschaftsaufgabe ist das erfolg-reichste Instrument der Wirtschaftsförderung, mit relativgeringen Mitnahmeeffekten und hohen Arbeitsmarktef-fekten. 60 Prozent der GA-Summe werden an kleine undmittelständische Unternehmen mit 250 und weniger Ar-beitnehmern ausgezahlt. Eine Kürzung dort wäre des-halb auch eine Beschneidung der Handlungsmöglichkei-ten der Mittelständler.
Die Kürzung der GA-Mittel ist ein gesamtdeutschesSpiel mit dem Feuer, da die GA kein rein ostdeutschesFörderinstrument ist, sondern ein Bundesprogramm, dasjeder bedürftigen Region zugute kommen soll.Mit den Kürzungen der GA-Mittel schädigen Sie al-lerdings besonders den Aufbau Ost. Er wird an der wirk-samsten Stelle ausgebremst. Dazu gibt es parteiübergrei-fend Kritik. Ministerpräsident Platzeck, SPD, erklärt:Eine tragende Säule des Aufbau Ost ist gefährdet. –Bundesminister Stolpe sagt: Kürzen ist Unsinn. – MdBSchneider, SPD, warnt: Aufbau Ost wird sturmreif ge-schossen. – MdB Hettlich, Grüne, sagt: Das ist Zündelnam Solidarpakt, eine Taktik der Nadelstiche gegen dieOstförderung. Er ruft Herrn Clement dazu auf, als Bun-desminister für das ganze Land verantwortlich zu seinund nicht nur für sein Heimatland Nordrhein-Westfalen.
Der Verdacht, dass ein Vermeiden der Subventions-kürzungen bei der Steinkohle zulasten des Ostens geht,ist nicht von der Hand zu weisen. Die Steinkohleförde-rung wird bis 2012 verlängert. Die Steinkohleförderungwird von Kürzungen nach dem Koch/Steinbrück-Kon-zept, die auf 708 Millionen Euro festgelegt waren, aus-genommen. Die Steinkohleförderung sinkt langsamer alsursprünglich geplant, auch wenn sie verzögert ausge-zahlt wird. Das bedeutet für die Kohle ein Plus von630 Millionen Euro und entspricht genau der Summe,die bei den Verpflichtungsermächtigungen für die GAeingespart werden soll. CDU-Haushälter DietrichAustermann kritisiert deshalb zu Recht, dass der größteFehler der Regierung darin besteht, die Vergangenheitzulasten zukunftsgewandter Wirtschaftsförderung zufördern.
In der Öffentlichkeit aber werden diese Kürzungennicht mit dem Haushaltsdebakel, mit den Milliardenver-lusten aus dem Mautdesaster oder mit Wahlgeschenkenbegründet, sondern mit dem Koch/Steinbrück-Konzept.Meine sehr verehren Damen und Herren, eine Lüge wirdnicht wahrer, wenn man sie ständig wiederholt.
Das Koch/Steinbrück-Konzept muss jetzt von Kürzun-gen im Verkehrsetat bis hin zu den Kürzungen der Ver-pflichtungsermächtigung bei der GA für alles herhalten.Verstecken Sie sich mit Ihren schönen Reden nicht hinterden Wachstumsprognosen und Ihrer chaotischen Haus-haltspolitik, verstecken Sie sich nicht hinter einer mode-raten Subventionskürzung, die moderate Konsolidie-rungsbemühungen nachweist! Die Länder tragen dieseSubventionskürzungen aus dem Koch/Steinbrück-Papiernicht umsonst mit; sie stellen vielmehr auch in der Phaseeines Abbaus Planungssicherheit und Verlässlichkeit dar.Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Die Kürzungen nachKoch/Steinbrück reichen von 4 bis 12 Prozent; im Unter-schied dazu hat das BMWA vorgeschlagen, zwischen35 und 65 Prozent zu kürzen. In 2005 kommen nachKoch/Steinbrück 96 Prozent oder 201,06 Millionen Eurozur Auszahlung, nach BMWA 35 Prozent oder 73,5 Mil-lionen Euro. Die Differenz beträgt somit 128,1 Millio-nen Euro; das ist mehr, als die GA West ausmacht.
Das ist einfache Prozentrechnung. Ich bin gespannt,wie die Anfragen, die diesbezüglich im Ausschuss fürWirtschaft und Arbeit gestellt werden, beantwortet wer-den. Ich hoffe, dass bis zur Kabinettsentscheidung am23. Juni die verworrenen Kürzungsvorschläge desBMWA noch einmal geradegerückt werden. Es ist schonschlimm genug, dass die Verlässlichkeit der Politik wei-ter Schaden genommen hat. Ich hoffe auch, dass Sienach dem Grundsatz handeln: An der Investi-tionsförderung zu sparen ist wirtschaftlich unsinnig, dadadurch die Sozialabgaben langfristig steigen.Wenn wir wissen, dass die Großindustrie durchausmobil, der Mittelstand aber im wahrsten Sinne des Wor-tes bodenständig ist, dann müssen wir Investitionen auchbeim Mittelstand entsprechend honorieren:
durch eine Flexibilisierung von Arbeitsmarkt und So-zialpolitik, durch einen erleichterten Zutritt von Gering-qualifizierten zum Arbeitsmarkt und durch weitere Steu-erreformen.
Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit!
Ich komme zum Schluss. – Notwendig ist eine klareSituationsanalyse, und zwar offen und ehrlich, nichtblauäugig und bewusst geschönt, wie es die Bundesre-gierung oder Herr Brandner vorhin vorgetragen haben.Sie handeln nach dem Motto: Wenn ich die Augen nurlange genug geschlossen halte, dann wird mein Traumschon irgendwann Wirklichkeit werden. – Das kannnicht zutreffen. Wir brauchen eine Situationsanalyse,eine Zielbestimmung und eine Wegbeschreibung. Wirbrauchen wie im Auto ein Navigationssystem.
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Veronika Bellmann
Wenn Analyse, Zielbestimmung und Wegbeschreibungvorliegen, dann heißt es auch hier: Die Route wird be-rechnet. In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmungzu unserem Antrag.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Abgeordneteder PDS.Die aktuelle Steuerschätzung ist ein Offenbarungseidfür Herrn Eichel und seine völlig verfehlte Finanzpolitik.Doch es ist keine Kehrtwende der Bundesregierung zueiner vernünftigen, die Konjunktur belebenden Finanz-politik zu erkennen. Die Versuche des Kanzlers und sei-nes Außenministers, die Finanzpolitik zu ändern und dieKonjunktur anzukurbeln, sind offenbar gescheitert. DieLeidtragenden der bedingungslosen Fortsetzung dieserkonjunkturfeindlichen Politik sind unter anderem diekleinen und mittelständischen Unternehmen in unseremLand.
Herr Clement folgt willig dem Sparkurs des Finanzmi-nisters und hat als Wirtschaftsminister mit seinem Vor-schlag, die öffentlichen Investitionen für den Osten zukürzen, mindestens – ganz freundlich ausgedrückt – einSelbsttor geschossen. Gerade die kleinen und mittelstän-dischen Unternehmen sind auf öffentliche Fördermitteldringend angewiesen.Sie wissen – viele wissen es augenscheinlich auchnicht –, gerade im Osten sind in Anbetracht der gerin-gen Liquidität die Unternehmen ohne Fördermittel häu-fig vom Aus bedroht. Wer die GA-Mittel für den Ostenso dramatisch kürzen will, wie Herr Clement das in dieöffentliche Diskussion gebracht hat, der legt die Axt andie Wurzel des Aufbaus Ost. Herr Clement ist zwar nichthier, aber trotzdem sollte man ihm ins Stammbuchschreiben, dass er nicht mehr Ministerpräsident von Nord-rhein-Westfalen und auch nicht der Kohlebeauftragte derBundesregierung ist, sondern Verantwortung für ganzDeutschland trägt – und dazu gehört immer noch der Os-ten.
Der so genannte Aufholprozess Ost ist seit Mitte der90er-Jahre ins Stocken geraten. Der Abstand zwischenOst und West ist wieder größer geworden. 1997 betrugzum Beispiel die durchschnittliche Kreditquote, bezo-gen auf die Bilanzsumme, 66 Prozent; sie lag damit fastdoppelt so hoch wie bei westdeutschen Unternehmen.Wer in Anbetracht solcher Zahlen Vorschläge wie HerrClement macht, der hat die ostdeutschen Länder augen-scheinlich abgeschrieben. Das gehört angeprangert unddarf nicht hingenommen werden.
– Unterwegs sein alleine reicht nicht. Wer solche Vor-schläge macht, Herr Kollege Schmidt, reist nur, umTrostpflaster aufzukleben. Herr Clement hat mit diesemVorschlag einen Schaden angerichtet, der kaum wiedergutzumachen und auch mit einem Trostpflasterbesuchnicht zu korrigieren ist.Wir, die PDS, schlagen zur Stärkung des Mittelstan-des unter anderem vor: erstens ein Infrastrukturpro-gramm der Bundesregierung, das vor allem die Infra-struktur von Städten und Gemeinden stärkt und kleinenund mittelständischen Unternehmen Aufträge gibt, zwei-tens einen neuen Finanzierungsschlüssel für die Ge-meinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftsstruktur, derden Länderanteil von 50 Prozent auf 25 Prozent senkt. Inmeiner Heimatstadt Berlin ist es zum Beispiel schon garnicht mehr möglich, alle vom Bund zugestandenen Mit-tel der Gemeinschaftsaufgabe abzurufen, da das Landaufgrund seiner Haushaltsnotlage die Kofinanzierungnicht mehr bereitstellen kann.Ich darf aber auch auf positive Erfahrungen zum Bei-spiel der rot-roten Landesregierung in Schwerin mit ei-nem Arbeitsmarkt- und Strukturentwicklungsprogrammverweisen. Dieses Programm ist nämlich so angelegt,dass die Regionen selbst über die Fördermittelzuweisungentscheiden und dass sie dafür eigene Budgets haben.Ich glaube, das ist der richtige Weg. Ein anderes gutesrot-rotes Instrument sind Initiativfonds für finanzschwa-che Kommunen, die mit den Mitteln aus diesen FondsVoraussetzungen für die Ansiedlung von Unternehmenschaffen können. Ich bin mir sicher, dass es noch weiteregute Ideen gibt, die von der Bundesregierung einfach nuraufgegriffen, analysiert und umgesetzt werden müssen.Ich möchte noch auf einige Punkte der heutigen De-batte eingehen. Frau Kollegin Wöhrl hat zu Beginn derDebatte völlig richtig gesagt
– bekommen Sie keinen Schreck, ich zitiere Sie nur –,man solle den Faktor Arbeit von den Sozialabgaben ab-koppeln. Sie wissen, dass wir von der PDS schon seitlangem den Vorschlag unterbreitet haben, eine Wert-schöpfungsabgabe einzuführen. Wenn wir Frau Kolle-gin Wöhrl an unserer Seite wissen, dann sind wir da-rüber nicht enttäuscht, sondern freuen uns darüber.
Der Kollege Rezzo Schlauch hat die falsche Behaup-tung aufgestellt, dass alle in diesem Haus für die Zusam-menlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sind.Ich darf für uns klarstellen, dass die Zusammenlegung
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Dr. Gesine Lötzschvon Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ab dem 1. Januar2005 bedeuten wird, dass die Menschen im Osten vonnur noch 331 Euro leben müssen und die Menschen imWesten, die davon betroffen sind, von 345 Euro. Ich darfklarstellen, dass ein derartiges Verfahren niemals die Zu-stimmung der PDS finden wird. Wir als PDS-Abgeord-nete gehören diesem Hause bekanntlich an.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass diebesten Ideen nichts bringen, wenn die Bundesregierungnicht bereit ist, ihre Finanzpolitik zu ändern. Herr Eicheldrosselt mit seiner Finanzpolitik die Konjunktur undHerr Clement zwingt mit seinen Investitionskürzungs-vorschlägen den Mittelstand weiter in die Knie. Insofernkann man nicht von einer „Offensive für den Mittel-stand“ sprechen; der Antrag von SPD und Grünen gau-kelt dies leider nur vor.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Walter Hoffmann, SPD-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt,glaube ich, in diesem Hause einen breiten Konsens inder Einschätzung der Situation des Mittelstands bzw. derkleinen und mittleren Betriebe in unserem Lande. Allehaben betont, wie wichtig der Mittelstand ist, und dieStandorttreue besonders hervorgehoben. Ein Teil derRedner hat auch die beschäftigungspolitische Bedeutungdes Mittelstands angesprochen. Es sind beeindruckendeFakten, dass der Mittelstand 70 Prozent der Arbeitneh-mer und 83 Prozent der Auszubildenden beschäftigt. Erist, wie es so schön heißt, das zentrale Standbein für dieZukunft im erweiterten Europa und in einer globalisier-ten Welt.Da das so ist, tun wir gut daran, alles daranzusetzen,die Situation der kleinen und mittleren Betriebe zu ver-bessern. Darum streiten wir heute. Wir wollen, dassMenschen gerade in den kleinen und mittleren BetriebenBeschäftigung und Ausbildung finden, dass sich diefinanzielle Lage dieser Betriebe verbessert und wiederErträge eingefahren werden.Herr Schauerte, man kann darüber streiten, ob die bis-her erzielten Ergebnisse ausreichend sind.
– Sie meinen, dass dies nicht der Fall ist. Wir haben dazunaturgemäß eine etwas differenziertere und positivereEinstellung. Aber ich denke, es ist unstrittig, dass wir inden vergangenen Monaten und Jahren eine Fülle vonMaßnahmen ergriffen haben, um die Lage der mittlerenund kleinen Betriebe zu verbessern.Zu den bürokratischen Belastungen und Regulie-rungen ist schon vieles gesagt worden. Ich möchte dazunoch einige Anmerkungen machen. Wie wir alle wissen,bestehen die Belastungen für die KMUs nicht nur imSteuer- und Abgabenbereich, sondern auch in der Büro-kratie. Das hat die Kollegin Homburger von der FDP inden Mittelpunkt ihrer Ausführungen gestellt.Wenn wir die Lage der kleinen und mittleren Betriebeverbessern wollen, dann müssen wir zunächst einmalfeststellen, wodurch diese Lage gekennzeichnet ist. ZumMittelstand gehören der Friseur, der Dachdecker, derExistenzgründer im IT-Bereich, der Autozulieferer mitfast 500 Beschäftigten – auch er wird statistisch nochdem Mittelstand zugerechnet –, der Metzger, der Ma-schinenbauer, der Partyservicebetrieb und viele andere.In den jeweiligen Branchen und Sektoren gibt es unter-schiedliche Regelungen und Belastungen. Insofern ist esschwierig, zu verallgemeinern.Ich denke, es hilft uns auch nicht weiter – das istschon mehrfach festgestellt worden –, den Sachverhaltimmer wieder polemisch und schwarzmalerisch darzu-stellen. Mir ist zum Beispiel völlig schleierhaft, warumdie Kollegen von der FDP in ihrem Antrag eine großflä-chige Abschaffung statistischer Erhebungen fordern, ob-wohl wir wissen, dass wir zumindest auf einen Teil derErhebungen dringend angewiesen sind und wir mit demVersuch, sie abzuschaffen, auf den härtesten Widerstandstoßen würden, und zwar auch seitens der Politik. Dennwir brauchen eine vernünftige Datenerfassung, um dieentsprechende Gesetzgebung auf den Weg zu bringen.Ich will damit sagen, dass der Teufel im wahrsten Sinnedes Wortes im Detail steckt.Wir haben gehandelt – das ist nach unserer Auffas-sung auch unstrittig –; wir haben Maßnahmen entwickeltund sind jetzt dabei, diese konkret umzusetzen. Wir ha-ben schnell und unbürokratisch das Projekt „Innova-tionsregionen“ geplant und umgesetzt – und zwar inner-halb eines Jahres, Frau Homburger!Wir haben mithilfe der Innovationsregionen eineFülle von Vorschlägen erarbeitet und diese vor wenigenTagen noch einmal in einem Kabinettsbeschluss zusam-mengefasst, der jetzt zur Umsetzung kommt. Er enthält29 Vorschläge unter aktiver Beteiligung der Betroffenen.Das ist ein Prozess, der nicht von oben nach untendurchgesetzt, sondern mit den beteiligten Organisationenund den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern erarbeitetwird. Zu den Vorschlägen gehören unter anderem dieVerschlankung des Vergaberechts, die Modernisierungder Arbeitsstättenverordnung, die Reduzierung des Ver-waltungsaufwands im Arbeitsschutzbereich, elektroni-sche Verfahren bei Steuererklärungen und einfache Mel-deverfahren in der Sozialversicherung.In extrem kurzer Zeit haben wir eine Fülle von Vor-schlägen mit den Beteiligten entwickelt und auf den ge-setzgeberischen Weg gebracht. Jetzt befinden wir uns inder Umsetzungsphase. Herr Schauerte, Sie brauchenkeine Angst vor Ruhe und Stillstand in diesem Land zuhaben. Wir werden den bisherigen Prozess fortsetzen.Ich denke, der Problemdruck ist in der Tat so hoch, dasswir uns Stillstand und Ruhe im wahrsten Sinne des Wor-
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Walter Hoffmann
tes überhaupt nicht erlauben können. Machen Sie sichkeine Sorgen! Wir werden in unserem bewährten Stilweiter handwerklich solide und qualitativ hochwertigeArbeit leisten.
Wir werden also weiter Vorschläge sammeln und Maß-nahmen umsetzen.Ich finde es gut, dass Sie uns in Ihrem Antrag für dieModellregionen – schön, dass das auch einmal ge-schieht – ausdrücklich loben. Jetzt können Sie uns aufder Bundesratsebene weiterhelfen; denn ein Großteildessen, was wir vorgeschlagen haben, ist zustimmungs-pflichtig. Nehmen Sie entsprechend Einfluss auf dieBundesländer, in denen Sie etwas zu sagen haben!Ich möchte noch darauf hinweisen, dass ich in der Tatden Stil der Diskussion über die Mittelstandspolitik so-wie über Entbürokratisierung und Deregulierung zumTeil für kontraproduktiv halte. Es hilft uns nicht weiter,die Situation ständig schwarzmalerisch darzustellen. Ichmöchte damit die Probleme der kleinen und mittlerenBetriebe nicht klein reden; darum geht es mir überhauptnicht. Wenn wir aber Dynamik erzeugen und Menschenmotivieren wollen, Unternehmen zu gründen, Arbeits-plätze zu schaffen und Ausbildungsplätze zur Verfügungzu stellen, dann schaffen wir das nicht mit Schwarzmale-rei und depressiven Zustandsbeschreibungen.Das Institut für Mittelstandsforschung hat im letztenJahr – meine Kollegin von der FDP hat das vorhin ange-sprochen – eine breit angelegte Untersuchung über dieBelastung des Mittelstandes sowie über Deregulierungund Regulierung angestellt. Diese hat eine Fülle, wie ichfinde, sehr nachdenkenswerter Ergebnisse gezeitigt. EinErgebnis ist, dass die subjektiv empfundene Bürokratie-belastung der Unternehmen größer ist als die tatsächlichnachgewiesene. Ich wiederhole: Die subjektiv empfun-dene Bürokratiebelastung der Unternehmen ist größerals die tatsächlich nachgewiesene! Ich bitte, einmal da-rüber nachzudenken, wie das zustande kommen kannund wo die konkreten Ursachen dafür liegen. Wenn mandas tut, kommt man sehr schnell zu dem Schluss, dassdas an einer schwarzmalerischen Stimmungsmache liegt,die sich auf viele Mittelständler in diesem Land in derTat demotivierend auswirkt.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit!
Das sollten Sie bei der Formulierung Ihrer Anträge
berücksichtigen.
Deswegen appelliere ich an Sie noch einmal: Drama-
tisieren Sie die Lage nicht, sondern arbeiten Sie stattdes-
sen an der konkreten Umsetzung unserer Vorschläge
mit! Ein konkreter Vorschlag ist: Lassen Sie uns keine
überflüssigen Anträge mehr einbringen! Das wäre ein
großer Beitrag zum Abbau von Bürokratie.
Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!„Schönredner“ ist ein Begriff, der im Süden der Repu-blik stark verbreitet ist. Dieser Begriff trifft heute aufSie, Herr Schlauch, voll und ganz zu. Wenn ich das, wasHerr Kuhn ausgeführt hat, richtig verstanden habe, dannhat er zwar viel geredet, aber zum Mittelstand überhauptnichts gesagt.
Das Schlimme ist: Sie reden schön, Sie reden sich selbstetwas ein und Sie glauben das auch noch, was Sie sicheinreden.
In welcher Welt leben Sie denn?Die Lage des Mittelstandes war noch nie so katastro-phal wie zurzeit. Allein in den letzten zwei Jahren gab es80 000 Insolvenzen. Jeden Tag kommen weitere 100hinzu. Herr Hoffmann, das sind dreimal so viele Kon-kurse wie vor zehn Jahren und fünfmal so viele wie vor25 Jahren.
Die Unternehmen laufen in Scharen davon. Jeden Tagverlieren wir über 1 000 Arbeitsplätze an das Ausland.In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf Folgen-des hinweisen: Die – staatlich großzügig subventionier-ten – Ich-AGs graben den Steuern und Abgaben zahlen-den Meisterbetrieben zu guter Letzt das Wasser ab. DieBundesagentur für Arbeit muss in diesem Fall fast1 Milliarde Euro zur Verfügung stellen. Meine Damenund Herren von Rot-Grün, Sie setzen mit dieser verfehl-ten Politik weitere Zehntausende von Arbeits- und Aus-bildungsplätzen aufs Spiel. Deshalb fordere ich: Schaf-fen Sie die Ich-AGs sofort wieder ab. Eine solcheRegelung gibt es in der ganzen EU kein zweites Mal.Dänemark und Schweden haben das einmal ausprobiert.Auch sie haben Schiffbruch erlitten.
Seit Rot-Grün bei uns regiert, sind wir, Deutschland,nicht mehr die Lokomotive des europäischen Wirt-schaftszuges, sondern wir sitzen im Bremserhäuschenund werden zur Last für die wirtschaftliche Entwick-lung Europas.
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Ernst HinskenHerr Kollege Stiegler, nur noch Griechenland, Portugalund Spanien liegen hinter uns. Alle anderen sind vor uns.Fakt ist: In Deutschland sind – das kann nicht oft genuggesagt werden – die Nettolöhne einfach zu niedrig unddie Bruttoarbeitseinkommen zu hoch.
Wir sind zu teuer, wir sind zu bürokratisch und wir sindzu wenig innovativ.
Die Ursachen liegen auf der Hand: Sie haben denMittelstand vernachlässigt; Sie haben ihm unverkraft-bare Fesseln angelegt. Seit 1998 haben Sie einenKnüppel nach dem anderen aus dem Sack geholt. Ichrufe hier ins Gedächtnis: Lohnfortzahlungsgesetz ge-kippt, 630-DM-Regelung abgeschafft, Kündigungs-schutzschwelle angehoben und das Betriebsverfassungs-gesetz auf Mittel- und Kleinbetriebe ausgeweitet. ZumBeispiel kamen zu den Kosten von 6 Milliarden Euronoch 1,2 Milliarden Euro hinzu. Das ist ein Beschäfti-gungsprogramm für den DGB, aber nicht für die Bürgerunseres Landes.
Genauso wurde ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeitumgesetzt. Ergebnis: minus 250 000 Arbeitsplätze. DieBürokratie wurde ausgeweitet. Die Steuern wurden er-höht. Ich erinnere nur an die Einführung der Ökosteuer.Den Investitionshaushalt haben Sie gekürzt. Herr Minis-ter Stolpe, Sie sind dabei der Leidtragende – ich fühlemit Ihnen –, weil Sie kein Geld mehr haben, um die Bau-wirtschaft anzukurbeln. Jetzt kommen Sie von Rot-Grünnoch mit der Ausbildungsplatzabgabe und anderem.Sie wundern sich, dass bei uns in der BundesrepublikDeutschland nichts mehr läuft. Katzenjammer ist an derTagesordnung. Aber das kommt ja nicht von ungefähr.Es ist alles hausgemacht, wie meine VorrednerinnenFrau Bellmann und Frau Wöhrl bereits gesagt haben.Dem Macher Schröder unterläuft viel Murks. Er lässtden Mittelstand im Regen stehen. Uns muss quer durchdas ganze Parlament besonders berühren, dass der Mit-telstand von der Substanz lebt. Die Ertragslage hat sichdrastisch verschlechtert. Es muss doch alarmieren, dass35 Prozent der kleinen Unternehmen mit einem Umsatzunter 250 000 Euro überhaupt keinen Gewinn mehr ma-chen und dass nur ein Drittel der größeren Unternehmenmit einem Umsatz zwischen 5 Millionen Euro und50 Millionen Euro einen Gewinn erzielen.Die Eigenkapitaldecke wird immer dünner. Sie be-trägt im Schnitt höchstens 6 Prozent der Bilanzsumme.Mehr als ein Drittel der Betriebe weist in der Bilanz keinEigenkapital mehr aus. Bei kleineren Betrieben miteinem Umsatz bis 500 000 Euro sind es sogar mehr alsdie Hälfte. Dennoch sagen Sie: Mit dem Mittelstand gehtes aufwärts; es ist alles in Butter; wir werden die Pro-bleme meistern. Nein, Sie haben dem Mittelstand dasLeben schwer gemacht, Sie haben ihn vernichtet.
Ende 2003 befürchteten über zwei Drittel aller Fir-men mit weniger als 50 Beschäftigten und mehr als dieHälfte der Unternehmen mit über 50 Mitarbeitern für2004 noch schlechtere Finanzbedingungen. Frau Kolle-gin Wöhrl, Sie haben vorhin darauf zu Recht verwiesen;aber hier wird es nicht verstanden.
Die Botschaft ist noch nicht ganz angekommen.Das Wichtigste ist, dass wir den Mittelstand wiederstärken. Das ist das A und O. Durch die Stärkung desMittelstandes werden Wachstum und Beschäftigung ge-fördert. Vor allen Dingen deshalb müssen vernünftigeRahmenbedingungen geschaffen werden. Für einen Auf-schwung in Deutschland brauchen wir einen Befreiungs-schlag – ich möchte dazu sechs kurze Punkte vor-tragen –: erstens einen Steuerabbauplan für die nächstenfünf Jahre, zweitens echte Reformen zur Senkung derLohnzusatzkosten, drittens weniger Bürokratie, viertenseine Offensive für Investitionen, Innovationen und Exis-tenzgründungen, fünftens eine Flexibilisierung des Ar-beitsmarktes, sechstens längere Arbeitszeiten bei glei-chem Lohn.Mittelstand und Existenzgründer gehören wieder insZentrum der Wirtschaftspolitik. Dahin werden wir sieauch rücken, weil Sie das versäumt haben.
Wir brauchen mehr Freiraum für Selbstständigkeit. Seitdrei Jahren werden in Deutschland immer weniger Un-ternehmen gegründet. Herr Lange, was Sie gesagt haben,stimmt gar nicht. Wir haben auch beim Handwerk einganz großes Minus zu verzeichnen, nämlich den Verlustvon über 100 000 Arbeitsplätzen allein in diesem Jahr.
Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen:Der Selbstständigenanteil liegt bei uns in der Bundesre-publik Deutschland leider nur noch bei 10 Prozent. Inder EU liegt er noch bei 16 Prozent. Dieser Trend zueinem immer geringeren Anteil muss endlich umgekehrtwerden.Mittelständler gehen, auch was Arbeitszeit anbelangt,mit gutem Beispiel voran.
Die Jahresarbeitszeit ist bei ihnen um etwa 50 Prozenthöher als bei vielen ihrer Mitarbeiter. Sie packen an, so-dass es wieder aufwärts geht. Wir alle sind aufgefordert,
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Ernst Hinskendem Mittelstand endlich die Chance zu geben, sich wie-der so zu entfalten, wie er es verdient. Wenn er auf Sievon Rot-Grün setzt, ist er verlassen. Wir werden dafürsorgen, dass es wieder vernünftige Rahmenbedingungenfür den Mittelstand gibt und es wieder aufwärts geht, wieKollege Schauerte das vorhin gesagt hat.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeitauf der Drucksache 15/3221. Der Ausschuss empfiehltunter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die An-nahme des Antrags der Fraktionen der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/351 mitdem Titel „Offensive für den Mittelstand“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-gen? – Wer möchte sich der Stimme enthalten? – DieBeschlussempfehlung ist angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der CDU/CSU-Fraktion auf Druck-sache 15/349 mit dem Titel „Grundsätzliche Kehrtwendein der Wirtschaftspolitik statt neue Sonderregeln – Mit-telstand umfassend stärken“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Wer möchte sichder Stimme enthalten? – Auch diese Beschlussempfeh-lung ist mehrheitlich angenommen.Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss dieAblehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck-sache 15/357 mit dem Titel „Neue Chancen für den Mit-telstand – Rahmenbedingungen verbessern statt Förder-dschungel ausweiten“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Mit Mehrheit ist die Empfehlung ange-nommen.Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksa-che 15/752 mit dem Titel „Statistiken reduzieren – Un-ternehmen entlasten – Bürokratie abbauen“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich der Stimme? – Mit gleicherMehrheit ist auch diese Beschlussempfehlung angenom-men.Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Wirtschaftund Arbeit unter Buchstabe e seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 15/3221 die Ablehnung des An-trags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1134 mitdem Titel „Modellregionen für Deregulierung und Büro-kratieabbau“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich derStimme? – Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehr-heit des Hauses angenommen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und b so-wie die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf:5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten ArnoldVaatz, Werner Kuhn , Ulrich Adam, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUOstdeutschland eine Zukunft geben– Drucksache 15/3047 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussb) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zurÄnderung des Bundesnaturschutzgesetzes– Drucksache 15/776 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
– Drucksache 15/2956 –Berichterstattung:Abgeordnete Gabriele Lösekrug-MöllerCajus Julius CaesarUndine Kurth
Angelika BrunkhorstZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENNachhaltiges Wachstum in Ostdeutschland si-chern– Drucksache 15/3201 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten JoachimGünther , Eberhard Otto (Godern),Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDPOstdeutschland als Speerspitze des Wandels –Leitlinien eines Gesamtkonzepts für die neuenLänder– Drucksache 15/3202 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss
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Vizepräsident Dr. Norbert LammertAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten HorstFriedrich , Joachim Günther (Plauen),Eberhard Otto , weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDPKeine Kürzungen bei den Verkehrsprojektenin Ostdeutschland– Drucksache 15/3203 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache eindreiviertel Stunden vorgesehen. –Ich höre und sehe keinen Widerspruch dazu. Dann istdas so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst demKollegen Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion dasWort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In den letzten Wochen entstand in Deutschlandeine Debatte über den Aufbau Ost. So pauschalierendund abwertend man teilweise diese Debatte geführt hatund so verfehlt meines Erachtens auch die übereilteSchlussfolgerung ist, dass der Aufbau Ost gescheitertsei,
so bleibt aber doch festzuhalten, dass es zwar manchmalübertrieben war, wie man die Debatte geführt hat, esaber nötig war, dass sie geführt wurde.
Natürlich ist der Aufbau Ost nicht gescheitert. Wirdürften uns aber alle darin einig sein, dass er in enormenSchwierigkeiten steckt. Wir können nicht hinnehmen,dass die Stagnation in Ostdeutschland, die bereits etwasieben Jahre anhält, noch weitere sieben Jahre zu ertra-gen ist. Wir müssen hier umsteuern. Wir brauchen neuePerspektiven für Ostdeutschland. Es müssen Identifika-tionsmöglichkeiten mit Zielen geschaffen werden, dietatsächlich attraktiv und auch realisierbar sind. Im Au-genblick können wir bei der Regierung herzlich wenigdiesbezügliche Ansätze erkennen.
Meine Damen und Herren, wir sind uns natürlich da-rüber im Klaren, dass es immer Unterschiede zwischenden Regionen in Deutschland geben wird, dass sich dieLeistungsfähigkeit und die Entwicklungsgeschwindig-keit unterscheiden werden. Wir können aber nicht damiteinverstanden sein, dass in letzter Zeit keine Konvergenzmehr, sondern eine Divergenz zu verzeichnen ist. DieTatsache, dass der polnische Präsident Kwasniewskigestern, nachdem er zunächst auf Polnisch darauf hinge-wiesen hatte, wie sich die Lage in Polen entwickele unddass man 6 Prozent Wachstum habe, sich zum HerrnBundeskanzler umdrehte und ihm, damit er das auchmitbekomme, mit polnischem Einschlag auf Deutschsagte: „6 Prozent, Gerhard!“, stellt natürlich eine Abwat-schung der Politik der Bundesregierung dar.
Das zeigt insbesondere, dass Ostdeutschland mittler-weile in seiner Entwicklung gegenüber den östlichenNachbarstaaten zurückgefallen ist. Das ist ein ganz be-sonders deprimierender Zustand, weil wir eben, wie ge-sagt, in den ersten Jahren eine ganz andere Geschwin-digkeit vorgelegt hatten.Was ist festzustellen? Es gibt eine ganze Reihe vonstrukturellen Nachteilen in der Infrastruktur. Wir kön-nen nicht hinnehmen, dass diese Nachteile nicht unver-züglich aufgearbeitet werden. Wir können nicht hinneh-men, dass sie sich verfestigen und ein dauerhaftesHindernis im Konvergenzprozess bilden.Wir stellen fest, dass die Wirtschaftskraft in Ost-deutschland seit längerer Zeit auf einem Niveau vonzwei Dritteln der des Westens verharrt. Das ist viel zuwenig für den Aufwuchs von Unternehmenskapital, dasist zu wenig, um Kaufkraft selbst zu erzeugen, das ist zuwenig, um eine Konsolidierung der öffentlichen Finan-zen zu ermöglichen. Es sind zu wenig Arbeitsplätze ent-standen und die Anzahl der insolvenzgefährdeten Be-triebe nimmt leider zu. Der Herr Bundeskanzler wolltesich einmal am Abbau der Arbeitslosigkeit in Ost-deutschland messen lassen. Wir müssen heute leiderfeststellen, dass ein Abbau von Arbeitsmöglichkeiten inOstdeutschland eingetreten ist: Nicht die Arbeitslosig-keit ist verringert worden, sondern die Arbeitsplatz-dichte.
Das belastet nicht nur die Sozialsysteme und die Sozial-kassen, es belastet vor allen Dingen die betroffenenMenschen, die entweder abwandern oder resignieren. Esdarf nicht sein, dass die Politik den Menschen in Ost-deutschland solche Botschaften vermittelt.Die Unternehmenslandschaft in Ostdeutschlandwächst insgesamt zu langsam. Sie ist noch immer klein-teilig. Von einem wirklich starken Mittelstand, wie erdas Kennzeichen der wachstumsstarken westdeutschenLänder ist, können wir in Ostdeutschland bislang nurträumen. Die regionalen Wachstumszentren, über die wirfroh sind, verdanken wir in erster Linie der erfolgreichenAnsiedlungspolitik der Länder. Wir verdanken das aberauch beihilferechtlichen Sonderregelungen und besonde-ren Finanzierungsinstrumenten, zum Beispiel den EU-Strukturmitteln und den GA-Mitteln. Deshalb ist esumso unverständlicher, dass uns diese Finanzierungs-instrumente, wenn es nach der Regierung geht, künftignach und nach aus der Hand geschlagen werden sollen.Das werden wir nicht zulassen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10047
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Arnold VaatzMeine Damen und Herren, die entscheidende Frageist für uns: Wie kommen wir zu wettbewerbsfähigenArbeitsplätzen? Da haben bis jetzt alle Rezepte dieserBundesregierung völlig versagt.
– Auch die CDU/CSU-FDP-geführte Bundesregierunghat in diesem Bereich keine Lösung zustande gebracht;das ist leider wahr. – Aber weil das so ist, verlangen wirvon Ihnen jetzt: Schluss mit dem Aussitzen, Schluss mitder Illusion, man könne das Arbeitsvolumen durch Um-verteilung von Arbeit erhöhen, Schluss mit der Arroganzgegenüber all jenen, die sich, wie zum Beispiel Klausvon Dohnanyi, Gedanken machen, wie man die Situationwenden kann, Schluss mit der Arroganz, ein „Weiter so“zu wollen, wie es der heute vorliegende Koalitionsantragbeschreibt! Wir wollen ein Umsteuern, wie es zum Bei-spiel Klaus von Dohnanyi und Georg Milbradt detailge-nau vorgeschlagen haben.
Wir wollen wenigstens eine offene Diskussion darüber.Wir wollen nicht, dass eine Diskussion durch Besuchedes Bundeskanzlers in Schwerin mit der Bemerkung, essei ja alles in Butter, sofort unterbrochen und abgewürgtwird; denn so verfestigt sich die Stagnation.
Es ist bedauerlich, dass Sie bis jetzt keine konzeptio-nellen Vorstellungen haben, obwohl Sie aus Ihren eige-nen Reihen deutlich kritisiert werden: von Herrn Hacker,Herrn Schneider, Herrn Hilsberg; auch Herr Hettlich hatsich dazu geäußert. Aber offenbar ist Ihnen über dasKurshalten hinaus noch nichts eingefallen.Wenn Sie aber Kurs halten wollen, dann müssen Sieden Menschen auch erklären, was Kurshalten heißt.Beim Emissionshandel zum Beispiel bedeutet es, dassauch die neueren Festlegungen dazu führen werden, dassdie modernisierte Stromwirtschaft in Ostdeutschland dienoch vorzunehmende Modernisierung in Westdeutsch-land finanzieren wird. In Ostdeutschland stehen die mo-dernsten Kraftwerke, die es heute gibt, mit einem bereitsentsprechend niedrigen Emissionsvolumen. Deshalb istes technisch überhaupt nicht möglich, die Emissionen imgesetzlich vorgeschriebenen Maße weiter zu reduzieren.Die Stromwirtschaft Ost muss daher von den alten Kraft-werken West Zertifikate kaufen. Mit dem Verkauf dieserZertifikate können die Kraftwerke in Westdeutschlandihre eigene Modernisierung bezahlen. Das bedeutet, dieKraftwerke in Ostdeutschland bezahlen zuerst ihre ei-gene Modernisierung und dann auch noch die Moderni-sierung in Westdeutschland. So sieht der Aufbau Ost inSachen Emissionshandel aus!
Herr Kollege Vaatz, der Kollege Hilsberg würde Ih-
nen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Vaatz, sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass im gesamten Bereich des Na-
tionalen Allokationsplanes die Early-Action-Bemühun-
gen für den ostdeutschen Stromkonzern Vattenfall zu
100 Prozent umgesetzt wurden?
Nein, sie sind nicht zu 100 Prozent umgesetzt wor-den, sondern, soviel ich weiß – –
Ich habe gestern gehört, dass das gerade nicht so ist.
Aber umso besser. Wenn das so ist, werden wir sehen.Ich bin gerne bereit, mit den Kollegen noch einmal zureden; vielleicht sind sie ja zufrieden. Bis jetzt haben siemir das nicht signalisiert.Kommen wir zum Thema Verkehrswegeplanungs-beschleunigungsgesetz. Die Lücken in der Verkehrswe-geinfrastruktur in Ostdeutschland hätten wir mit Pla-nungsverfahren, die etwa zehn bis 25 Jahre dauern,schließen müssen, wenn wir nicht die Möglichkeit ge-habt hätten, das Verkehrswegeplanungsbeschleuni-gungsgesetz anzuwenden. Dieses Gesetz hat die Pla-nungszeiträume in Ostdeutschland erheblich verkürzt.Es hat uns dadurch viel Zeit und viel Geld gespart.Aber jetzt hören wir, dass die Verlängerung der Gel-tungsdauer dieses Gesetzes keineswegs gesichert ist.Oder bestreiten Sie auch das etwa? Vielleicht haben Sieebenfalls gestern Nacht den Beschluss gefasst, die Gel-tungsdauer dieses Gesetz zu verlängern.
Die Verlängerung der Geltungsdauer dieses Gesetzes istalso, wie gesagt, noch nicht beschlossen.
Das bedeutet, dass wir früher oder später in das alte bun-desrepublikanische Planungsrecht zurückfallen werden.Das wiederum bedeutet, dass wir viel Geld in die Ver-waltungsarbeit und in Gerichtsprozesse stecken müssen.
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10048 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Arnold VaatzDie Konsequenz ist, dass der Aufholprozess im Bereichdes Verkehrswegebaus weiter stagnieren wird.Zum Thema Strukturpolitik kündigt die Bundes-regierung an, dass sie sich bei der EU für das Fort-gelten der Strukturförderung der neuen Bundesländer alsZiel-1-Gebiete weiter einsetzen will und dass auch diebeihilferechtlichen Spielräume bis 2013 erhalten bleibensollen. Was passiert aber nun? Trotz zehn neuer Mit-gliedstaaten streitet die Bundesregierung vehement füreine Deckelung des EU-Haushalts bei 1 Prozent desBruttosozialprodukts. Die weitere Strukturförderung derZiel-1-Gebiete wird nicht mehr möglich sein, wenn Siebei dieser Haltung bleiben.All das scheint nicht richtig zusammenzupassen. Des-halb appellieren wir an Sie, Ihre bisherige Position zumAufbau Ost zu ändern. Die CDU/CSU-Fraktion hat ei-nen Antrag mit dem Titel „Ostdeutschland eine Zukunftgeben“ vorgelegt. Das ist der Gegenentwurf zu IhremKurshalten.
„Ostdeutschland eine Zukunft geben“ beinhaltet einelange Liste von konkreten Maßnahmen. Wir denken,dass wir wesentlich mehr Anstrengungen unternehmenmüssen, um die Herstellung von innovativen und markt-fähigen Produkten sowie den Ausbau der Dienstleistun-gen in Ostdeutschland zu fördern. Nur auf diese Weisekönnen neue Arbeitsplätze geschaffen werden.Wir erwarten von Ihnen, dass Sie mit den verkruste-ten Arbeitsmarktstrukturen aufräumen und dass Sie überdie Neuregelung des Kündigungsschutzes dazu beitra-gen,
dass Arbeitskräfte leichter eingestellt werden könnenund dass das Missverhältnis zwischen hohen Überstun-denvolumen und hohen Arbeitslosenzahlen nach undnach beseitigt wird.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Herr Präsident, noch eine Schlussbemerkung.
Wir erwarten von Ihnen, dass es eine geeignete Lohn-
findung gibt, damit der Niedriglohnsektor erschlossen
werden kann. Wir erwarten von Ihnen insgesamt mehr
Freiheit, was die Gestaltungsmöglichkeiten der ostdeut-
schen Landesregierungen angeht. Wir erwarten insbe-
sondere, dass es bei Ihrer Zusage bleibt, die Solidarpakt-
mittel in Höhe von 156 Milliarden Euro unangetastet zu
lassen.
Herr Kollege, es hilft alles nichts: Ihre Redezeit ist
abgelaufen.
Angesichts der heutigen Situation müssen wir be-
fürchten, dass das Streichkonzert hinsichtlich der GA-
Mittel den Solidarpakt allmählich aushöhlen wird
und uns die Planungsgrundlage für die Zukunft entzogen
wird. Genau das wollen wir vermeiden. Wenn Sie sich
unserer Position anschließen würden, wäre das genau die
richtige Botschaft für Ostdeutschland.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich weise noch einmal darauf hin, dass die Redezeitvom Präsidium nicht festgelegt, sondern nur verwaltetwird. Wenn die tatsächliche Redezeit im Verhältnis zuder angemeldeten Redezeit deutlich überschritten wird,trifft dies die nachfolgenden Redner der jeweiligen Frak-tion.Nun erteile ich dem Bundesminister Manfred Stolpedas Wort.
Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-kehr, Bau- und Wohnungswesen:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Vaatz, in einem Punkt stimme ich mit Ih-nen völlig überein: Die österliche Medienflaute wurdedurch Berichte über den Aufbau Ost beendet. Ich be-trachte es nicht als einen Schaden, dass dieses Themawieder ernsthaft diskutiert worden ist.
Allerdings haben wir dabei auch sehr viel Unsinn hörenmüssen.
Was mich am meisten verbittert hat, ist die ständige Wie-derholung der Aussage, dass seit 1990 über 1 BillionEuro in den Osten geflossen sind, ohne dabei zu berück-sichtigen, dass die reine Zuweisung von Mitteln in denOsten über diese 15 Jahre gerade einmal circa 150 Mil-liarden Euro umfasst. Alles Übrige, all das, was darüberhinausgeht, betrifft Leistungen und Rechtsverpflichtun-gen, die in ganz Deutschland gelten und auch an anderenStellen bezahlt worden sind.
Das Schlimme an solchen Aussagen ist ja, dass diesStimmungsmache ist und es spaltet. Das verunsichert
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10049
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Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpeund entmutigt die Menschen in Ostdeutschland. AberMut und Selbstbewusstsein sind neben der verlässlichenSolidarität aus ganz Deutschland das Wichtigste, was dieMenschen im Osten brauchen. Ein ganz wichtiger Fak-tor, der oft unterschätzt wird und nicht übersehen werdendarf, ist die psychologische Komponente. Entmutigen,verunsichern ist das Schlimmste, was wir machen kön-nen, um den Aufbau Ost zu verhindern.
Leipzig kam mit seiner Olympiabewerbung leidernicht in die nächste Runde. Aber der Löwenmut im Rah-men dieser Bewerbung und die breite Unterstützung die-ses Projektes quer durch ganz Deutschland haben ge-zeigt, dass man gemeinsam etwas bewegen kann, einenAufbruch erreichen kann. Ich glaube, das ist eine Hal-tung, die wir für den Aufbau Ost insgesamt brauchen.Dieser kann uns dann gelingen, wenn man sich so unter-hakt, wie es bei diesem Projekt gemacht worden ist.
Leider kommen auch immer wieder falsche Signale.Dies gilt zum Beispiel für die Sorge, ob der Aufbau Ostden Sparzwängen zum Opfer fällt. Alle wissen um dieNotwendigkeit der Konsolidierung. Die Vorschläge desVermittlungsausschusses zum Subventionsabbau wurdenvon allen getragen. Nun erleben wir eine Debatte, in derein Widerspruch zwischen Subventionsabbau und demAufbau Ost im Hinblick auf eventuelle Kürzungen imRahmen der Gemeinschaftsaufgabe auftaucht. Die GA„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ – dasmuss hier in aller Klarheit gesagt werden – ist eines dererfolgreichsten Förderinstrumente.
Die GA mobilisiert ganz gezielt wettbewerbsfähige In-vestitionen. Sie schafft Arbeitsplätze. Sie erhält Arbeits-plätze. Sie entwickelt wirtschaftliche Stärken. Sie hilftOstdeutschland und damit ganz Deutschland. Sie ist alsein Förderinstrument unverzichtbar.Deshalb ist es richtig, dass alle Ministerpräsidentender ostdeutschen Länder die Fortsetzung der GA for-dern.
Fortsetzen heißt, nicht scheibchenweise in die Bedeu-tungslosigkeit kürzen, sondern sichern und verstetigen,solange ein dringender Bedarf besteht. Ich unterstützediese Forderung ausdrücklich. Alle Menschen in Ost-deutschland erwarten dies. Die GA muss als wesentli-ches Element der Investitionsförderung in Ostdeutsch-land erhalten bleiben. Dieses Signal brauchen wir jetzt.Dazu ist mit der heutigen Beschlussfassung eine Chancegegeben.
Die Wirtschaftsförderung in den neuen Länderndarf nicht stillstehen. Wir brauchen Planungssicherheit,damit kein weiterer Schaden entsteht. Deshalb begrüßeich den Antrag der Koalitionsfraktionen, die das klar for-dern. Unsere Zukunft dürfen wir nicht durch Einsparun-gen an der falschen Stelle gefährden. Die eingeplantenMittel müssen vollständig freigegeben werden.Meine Damen und Herren, natürlich geht es demWirtschaftsminister nicht besser als dem Verkehrsminis-ter. Der Haushalt 2005 ist noch nicht beschlossen. Dienötigen Mittel sind noch nicht freigegeben. Wir könnennoch nicht ausgeben, was wir noch nicht haben. Ich gehejedoch davon aus, dass mit der Aufstellung des Haushal-tes für 2005 die Handlungsfähigkeit im Hinblick auf dieGA wiederhergestellt werden kann. Das ist unverzicht-bar. Das ist auch eine Bitte an alle, die hier mitdenkenund mithelfen.
Es bleibt dabei: Der Solidarpakt II gilt. Niemandstellt ihn infrage. Bis Ende 2019 stehen für den AufbauOst weitere 156 Milliarden Euro bereit. Darüber hinaushaben wir die europäische Strukturhilfe zur Verfügung.Länder und Bund sollten sich aber bald darauf verständi-gen, wie den auf europäischer Ebene drohenden Ausfäl-len begegnet werden kann.
Wir werden vonseiten der Regierung alles versuchen,um eine moderate Umstellung der europäischen Struk-turhilfe zu erreichen. Zumindest muss aber ein nationa-ler Ausgleich vorgesehen werden, und zwar gesichertdurch europäisches Beihilferecht.
Auf keinen Fall aber darf durch die Osterweiterungder Europäischen Union ein folgenschwerer Rückschlagfür den Aufbau Ost entstehen. Ähnliches gilt übrigensauch für andere benachteiligte Regionen in Deutschland,die ebenfalls auf Strukturhilfen aus Brüssel angewiesensind.Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, zusammen mitden Ländern den wirksamsten Einsatz der zur Verfügungstehenden Mittel zu vereinbaren. Jetzt, zur Halbzeit desAufbaus Ost, wenige Monate vor dem In-Kraft-Tretendes Solidarpaktes II, ist der richtige Zeitpunkt, die künf-tigen Schwerpunkte zu bestimmen. BundesministerClement und ich haben Praktiker der Wirtschaft und wis-senschaftliche Analytiker eingeladen, um ihre Vorstel-lungen zum Aufbau Ost zu hören. Ergebnisse sind zumSommer zu erwarten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischen-frage des Kollegen Kretschmer?Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-kehr, Bau- und Wohnungswesen:Lieber erst hinterher, da die Uhr weiterrennt.
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10050 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Die Uhr rennt natürlich nur dann weiter, wenn wir sie
nicht stoppen, was wir bei Zwischenfragen aber immer
tun.
Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen:
Noch wird heftig gestritten, aber Schwerpunkte zeich-
nen sich schon ab. Die Beschleunigung der Reindustria-
lisierung ist zwingend. Finanzierungswege für die Neu-
gründung und Bestandssicherung mittelständischer
Unternehmen müssen schneller gegangen werden kön-
nen. Die deutliche Verstärkung von Wissenschaft und
Forschung als Wirkungskräfte der Wirtschaft ist ein ent-
scheidender Hebel für den Aufbau Ost.
Schnelle Deregulierungen müssen als wirksame Erleich-
terungen für wirtschaftliches Wachstum geschaffen wer-
den. Ich hoffe auf überzeugende Ergebnisse.
Meine Damen und Herren, wir müssen aber nicht ab-
warten, bis die Stellungnahmen vorliegen. Wir haben
eine ganze Reihe von Instrumenten, von denen ich nur
zwei nennen möchte. So können zum Beispiel struktur-
schwache Regionen bei der Entfaltung ihrer spezifi-
schen Potenziale gezielt unterstützt werden. In sechs
ostdeutschen und zwölf westdeutschen Regionen läuft
das Projekt „Regionen aktiv“. Konzepte zur Entwick-
lung eines Gesamtraums werden durch EU-, Bundes-
und Länderförderung gestärkt.
Es gibt nach meiner Überzeugung in Deutschland
keine verlorene Region. Gemeinsam mit den Akteuren
vor Ort müssen wir die jeweiligen Stärken stärken. Stär-
ken zu stärken – darum geht es auch bei dem zweiten
Beispiel, das ich Ihnen nennen möchte, dem Angebot der
Bundesministerien für Wirtschaft, Wissenschaft, Land-
wirtschaft, Verkehr und Bau an die Länder. Wachstums-
kerne könnten durch den gebündelten Einsatz von För-
dermitteln schneller vorangebracht werden. Wir haben
die Verhandlungen mit den Ländern darüber aufgenom-
men, wie einzelne Förderprogramme auf der Basis der
zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel effizienter der
strategischen Entwicklung von Wachstumskernen und
Wachstumsbranchen dienen können. Hier kann die
Bundesförderung am effektivsten helfen, aber der Bund
– das soll hier ausdrücklich betont sein – wird keine ein-
seitigen Festlegungen treffen. Die Entscheidungen lie-
gen bei den Ländern.
Es sind die gemeinsam erarbeiteten Konzepte, die
Ostdeutschland voranbringen können: gründlich ge-
prüfte Konzepte, langfristig angelegte Konzepte mit dem
Ziel, Arbeit zu schaffen, Mut zu machen und Menschen
eine Perspektive zu geben. Die Leute schauen auf uns,
auch heute. Kommen nur Zank, Streit oder gar Injurien
zur Sprache oder – das wird von uns erwartet – wird ein
gesamtgesellschaftlicher Konsens deutlich, dem Osten
auf die eigenen Beine zu helfen? Letzteres ist erforder-
lich und wird erwartet.
Mit Verlaub: Der Aufbau Ost ist mehr als eine Olym-
piabewerbung. Je schneller und überzeugender der Auf-
bau Ost jedoch kommt, umso eher kann Deutschland
seine volle Kraft entfalten. Alle gemeinsam können es
schaffen: Bund, Länder, Kommunen, Wirtschaft, Wis-
senschaft und vor allem die Menschen in Deutschland,
im Osten mit ihrem Mut und im Westen mit ihrer Solida-
rität. Dann wird es gelingen und das muss nicht erst zum
Silvesterabend 2019 sein.
Ich danke Ihnen.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Kretschmer das Wort.
Herr Bundesminister, verzeihen Sie mir, dass ich Sie
beim Vorlesen Ihres Manuskripts gestört habe.
Natürlich können wir auch am Ende fragen.
Es geht ganz konkret um die europäische Struktur-
politik. Wir haben in diesem Plenum bisher nicht gehört,
dass die Bundesregierung, die SPD und die Grünen
bereit wären, das Geld, das bisher in die neuen Bundes-
länder und die strukturschwachen Regionen fließt, zu er-
setzen. Deswegen frage ich Sie: War das Ihre Privatmei-
nung, die Sie uns hier vorgetragen haben, oder wann hat
das Bundeskabinett darüber diskutiert, dass es auf jeden
Fall dazu kommen muss, dass die neuen Bundesländer,
wenn der Aufbau Ost nicht scheitern bzw. abrupt abge-
brochen werden soll, dieses Geld bekommen?
Herr Bundesminister, wir fragen uns bei Ihren An-
kündigungen immer wieder, ob man sich darauf verlas-
sen kann. Ich möchte als ein Beispiel, weil es in Ihrem
Haus ressortiert, das Osteuropazentrum für Wirtschaft
und Kultur nennen, wo wir, die Union, Ihnen die Hand
gereicht und gesagt haben: Wenn das Konzept stimmt,
machen wir mit. Seit über einem Jahr warten die Länder
und diejenigen, die die Konzepte geschrieben haben, auf
eine Antwort, auf eine Entscheidung. Sie kommen nicht
voran. Deswegen stelle ich die für die Strukturpolitik
wichtige Frage: Wie verlässlich war Ihre Aussage hier
und heute?
Zur Beantwortung, Herr Minister.Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-kehr, Bau- und Wohnungswesen:Herr Kretschmer, Sie wissen ganz genau, dass wir unsdiesbezüglich noch in einem Klärungsprozess befinden.Nicht umsonst haben sich die Ministerpräsidenten mitHerrn Monti getroffen und die Frage diskutiert. DieserProzess wird vermutlich noch ein paar Monate dauern.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10051
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Bundesminister Dr. h. c. Manfred StolpeIch habe meine Position hier klar geäußert. Ich binmir sicher, dass die Bundesregierung sie deckt. Vorsorg-lich biete ich Ihnen an, das im Protokoll nachzulesen.Ich bitte Sie aber auch, zur Kenntnis zu nehmen, dasswir mit Zittau Wort gehalten haben. Hier können Siesich eigentlich nicht beklagen. Wir machen auch bezüg-lich Leipzig weiter und werden alle angekündigten Maß-nahmen durchziehen. Das können Sie jederzeit nachprü-fen.
Ich erteile das Wort der Kollegin Cornelia Pieper,
FDP-Fraktion.
So ist es: Die Arbeit kommt, wenn Sie nicht mehr re-gieren, Herr Küster.
Herr Präsident! Wir haben die Rede von Bundesmi-nister Stolpe hier vernommen. Herr Bundesminister, ichkann nur sagen:
Man kann die Ankündigungspolitik der Bundesregie-rung einfach nicht mehr ertragen. Mit moralischen Ap-pellen und Psychologie sind die Menschen in Ost-deutschland zu Recht nicht mehr zufrieden zu stellen.
Es war der Bundeskanzler selbst, der mit Regierungs-antritt 1998 den Ostdeutschen versprochen hat, der Auf-bau Ost werde bei ihm Chefsache.
Sie haben sich 2002 über das Hochwasser gerettet, aberdie Arbeitslosigkeit und die Zahl der Firmenpleiten inOstdeutschland sind gestiegen. Das ist die Wahrheit. Siehaben die Menschen in den neuen Ländern verunsichert.Sie haben nicht Zuversicht vermittelt und auch keineneuen Chancen aufgezeigt. Bis heute, Herr Bundesmi-nister Stolpe, fehlt ein Gesamtkonzept für eine wirt-schaftliche Strategie in den neuen Bundesländern. Dieist nicht erkennbar. Deswegen meinen wir: Handeln Sieendlich!
Noch schlimmer, meine Damen und Herren von derRegierungskoalition, ist, dass Sie Ihrem eigenen Auf-bau-Ost-Minister selbst nicht viel zutrauen. Im Aprildieses Jahres habe ich von Herrn Stephan Hilsberg inder „Financial Times Deutschland“ gelesen: StolpesLeistungsbilanz als Ministerpräsident lässt nicht erken-nen, dass er die Kompetenz für den Aufbau Ost hat.Klaus von Dohnanyi wirft Herrn Stolpe fehlende Kon-zeption und Durchsetzungsfähigkeit vor. Das stärkt dochbezüglich des Aufbaus Ost nicht das Vertrauen der Men-schen im Osten Deutschlands in diese Bundesregierung.Das verunsichert die Menschen.
Sie, Herr Stolpe, machen den Menschen auch keinenMut, wenn ich lese, dass Sie erklären,
der Traum von einer schnellen Angleichung von Ost undWest müsse beerdigt werden. Dazu kann ich nur sagen:Die Menschen wissen, dass die Gleichwertigkeit derLebensverhältnisse in Deutschland nicht von heute aufmorgen hergestellt werden kann. Sie verlangen aber vonIhnen als Bundesregierung, dass Sie handeln und endlichauch die Vorschläge, die im Übrigen aus den neuen Bun-desländern gekommen sind, umsetzen.
Wissen Sie, was ich Ihnen noch mehr vorwerfe? Ichmeine den Umstand, dass im Chor der Ahnungslosenauch noch die Stimmen von SPD-Ministerpräsidenten,von Herrn Steinbrück aus Nordrhein-Westfalen und vonFrau Simonis, zu vernehmen sind. Ich kann zwar nichtunbedingt sagen, dass sie zu den kompetentesten Vertre-tern in Sachen Wirtschaftsaufschwung Ost gehören,
aber beide forderten – vielleicht darf ich Ihnen das miteiner ihrer Aussagen untersetzen –, die Messlatte für dieVerteilung der Mittel solle künftig nicht die Himmels-richtung, sondern die Bedürftigkeit sein. Sie wissenüberhaupt nicht, was los ist und wie die wirtschaftlicheSituation in den neuen Bundesländern ist. Seit 1998 hatdie Gründungsintensität dramatisch abgenommen. DieInsolvenzquote ist mit 20,5 Prozent doppelt so hoch wiein den alten Bundesländern. Die Arbeitslosenquote hatseit der deutschen Einheit ihren Höchststand erreicht undbeträgt fast 20 Prozent, in einigen Regionen sogar30 Prozent. Das ist eine dramatische Situation. Ich kannes einfach nicht mehr ertragen, dass SPD-Ministerpräsi-denten auf dem Rücken der Ostdeutschen schon jetzt ih-ren Wahlkampf für die Landtagswahlen im nächsten Jahrführen.
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10052 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Cornelia PieperNeuerdings bekommen sie auch tatkräftige Wahlkampf-unterstützung von Ihrem sonst so mutigen Bundeswirt-schaftsminister Clement.Herr Stolpe, ich habe Ihre Ausführungen mit großemInteresse verfolgt, was ich im Übrigen immer tue. Aberam 15. Mai dieses Jahres durften wir im „Tagesspiegel“lesen – hier bitte ich auch um eine Klarstellung des Bun-deswirtschaftsministeriums –, dass sich die neuen Bun-desländer in den kommenden drei Jahren auf drastischeKürzungen der Fördergelder für Investitionen einstellenmüssen. Allein für das Jahr 2005 will das Ministeriumvorläufig nur 35 Prozent der GA-Mittel freigeben. Dasbedeutet, dass es wirklich zu einem Abbruch Ost kommt,weil kommunale Straßenprojekte und private Investitio-nen nicht verwirklicht werden können und dadurch dieArbeitslosigkeit steigen wird. Hierzu verlange ich eineKlarstellung. Ich bzw. die FDP will wissen: In welchemUmfang werden Sie bei der GA kürzen? Oder werdenSie zuverlässig sein und die Mittel für die Gemein-schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt-schaftsstruktur“ auch weiterhin nicht kürzen?
Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, die Fehlleistungen der Bundesregierung, die stei-gende Verschuldung und die fehlenden Reformen, sinderkennbar und gehen auch zulasten der neuen Bundes-länder. Eine Steuerreform, die mittelstandsfeindlich ist,eine Gesundheitsreform, die die Lohnzusatzkosten in dieHöhe treibt, eine Erhöhung der Mineral- und Ökosteuer,die die Benzinpreise in Rekordhöhe treibt, die Erbschaft-steuer, die Vermögensteuer und die Ausbildungsplatz-steuer, durch die immer mehr Unternehmen in die Pleitegetrieben werden, das alles ist keine Politik, die denneuen Bundesländern hilft. Ich kann Sie nur zu einerKehrtwende auffordern.
Dennoch gibt es aus den neuen Bundesländern wirk-lich ermutigende Signale. Dort sind Wachstumskernebzw. Leuchttürme entstanden, die sich sehen lassen kön-nen und die auf die Initiative der Bundesländer selbstund der Menschen vor Ort zurückgeführt werden kön-nen.
So wurden in den ostdeutschen Ländern ermutigendeZeichen gesetzt: zum Beispiel durch die Halbleitertech-nik in Dresden, durch die Polymer-Chemie im DreieckBitterfeld-Halle-Leuna und durch den Biotechnologie-standort in Mitteldeutschland, der in ganz DeutschlandSpitze ist.
– Herr Stiegler, Sachsen-Anhalt und Sachsen haben imletzten Jahr Bundesratsinitiativen eingebracht, in denensie Modellregionen für die neuen Länder fordern. Dastun sie zu Recht; denn sie wollen die Aussetzung vonBundesrecht.
Wir sind gemeinsam mit den Ostdeutschen der Auf-fassung: Dadurch, dass die Bürokratie und die Verwal-tungsstrukturen 1990 eins zu eins auf die neuen Länderübertragen worden sind, wurden Investitionen und damitauch Arbeitsplätze verhindert. Deswegen wollen wirneue Wege gehen. Wir wollen zum Beispiel eine Locke-rung des Kündigungsschutzrechtes und flexiblere Aus-bildungsvergütungen,
damit die jungen Menschen nicht abwandern müssen,sondern in ihrer Heimat einen Arbeits- oder Ausbil-dungsplatz finden.
Klaus von Dohnanyi fordert mit seiner Kommission– Sie selbst haben ihn beauftragt –, dass im Osten einpragmatisch angepasster Flächentarifvertrag mit breitenÖffnungsklauseln zugelassen werden soll. Recht hat er!Handeln Sie endlich, machen Sie es doch!
Wir Liberale wollen, dass der Osten zum Reformmo-tor in Deutschland wird. Die Ostdeutschen zeichnen sichdurch eine hohe Bereitschaft aus, neue Wege auszupro-bieren und Leistungseinschnitte hinzunehmen, wenn da-durch der Arbeitsplatz erhalten bleibt. Sozial ist, was Ar-beit schafft; das ist für die Menschen dort wichtig undfür uns auch.
Wir brauchen einen differenzierten Blick auf die Re-gionen in Ostdeutschland: nicht die Gießkanne, sondernden Trichter für Förderprogramme.
Die Zeit ist überfällig für ein Gesamtkonzept und ich er-mahne die Bundesregierung noch einmal, eine solchewirtschaftspolitische Strategie vorzulegen.Wir schlagen vor: Erstens. Wir brauchen die Konzen-tration der Förderung auf gewerbliche Investitionen,insbesondere aber auf die wirtschaftsnahe Forschungund Entwicklung.
Der Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung liegt imOsten bei 16 Prozent, im Westen bei rund 23 Prozent.Der Anteil wertschöpfungsstarker Betriebe ist einfach zugering.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10053
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Cornelia PieperDer Anteil Ostdeutschlands an den gesamtdeutschenAufwendungen für Forschung und Entwicklung beträgtlediglich 6 Prozent. Deswegen brauchen wir – zweitens –die Konzentration auf Forschungsförderung. Wirschlagen vor, Leistungen für Forschung und Entwick-lung im Rahmen der Investitionsförderung stärker zu be-rücksichtigen und sich auf Wachstumskerne zu konzen-trieren.
Wir wollen die Vernetzung von Wissenschaft, von Hoch-schulen und außeruniversitären Forschungseinrichtun-gen, und Unternehmen, damit durch innovative Techno-logien vermehrt neue Produkte auf den Markt kommenund ostdeutsche Unternehmen exportfähig werden.
Die Exportquote liegt im Osten bei 25 Prozent, im Wes-ten dagegen bei 38 Prozent. Da muss ein Aufholprozessin Gang kommen.Drittens. Wir brauchen Risikokapital aus einem re-volvierenden Fonds für mittelständische Unternehmen,ähnlich dem ERP-Programm, dem Marshall-Plan. Wirwollen eine bessere Liquidität mittelständischer Unter-nehmen. Deswegen haben wir vorgeschlagen, bis zu ei-nem Umsatz von 2,5 Millionen Euro die Umsatzbesteue-rung von der Soll- auf die Ist-Besteuerung umzustellen.
Das würde dazu beitragen, dass die Liquidität von Un-ternehmen gestärkt wird und Arbeitsplätze gesichertwerden.Wir wollen – viertens – eine Regelung für die grenz-nahen Regionen in Ostdeutschland ähnlich dem bis1994 in Kraft gewesenen Zonenrandförderungsgesetz.Wir wollen – fünftens – eine Prioritätensetzung beider Infrastruktur. Herr Minister Stolpe, das ist Ihr Ver-antwortungsbereich. Es ist doch einfach nicht mehr hin-nehmbar,
dass wir nach 14 Jahren noch immer nur Brücken undTunnel in der Landschaft stehen sehen, wo der ICE vonNürnberg über Erfurt, Leipzig/Halle nach Berlin fahrensoll. Diese Strecke muss endlich ausgebaut werden.
Das ist nur ein konkretes Beispiel.
– Herr Matschie, machen Sie konkrete Vorschläge; Siehaben hier im Bundestag die Möglichkeit dazu. Schreienhilft nicht, hören Sie mir lieber zu – vielleicht lernen Siedadurch ja.Mein Kollege aus Sachsen erzählt mir von Demons-trationen, Streiks an der Grenze zu Osteuropa, Staus.Das Verkehrsaufkommen ist gewaltig gewachsen. Wirwollen, dass die Bundesregierung im Rahmen der EU-Osterweiterung dafür sorgt, dass die Fördermittel ausdem Strukturfonds vordringlich zum Ausbau der grenz-überschreitenden Verkehrsnetze im Osten Deutschlandseingesetzt werden.
Frau Kollegin, falls das nicht Ihr Schlusssatz gewesen
sein sollte – wofür er sich vorzüglich geeignet hätte –,
muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Re-
dezeit bereits zu Ende ist.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich finde es bedauer-
lich, dass hier im Hohen Hause, im Deutschen Bundes-
tag, so wenig Gelegenheit besteht, über die Probleme der
Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer zu
sprechen.
Machen Sie die neuen Länder doch endlich zur Speer-
spitze des Wandels, lassen Sie die Menschen unter Be-
weis stellen, was sie auf dem Kasten haben; dann wür-
den wir alle gewinnen.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Peter Hettlich,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wirhaben im Oktober letzten Jahres in diesem Hause überden Stand der deutschen Einheit debattiert. Damals habeich gesagt – dazu stehe ich auch heute noch –, dass dieEinheit in den Köpfen weit gediehen ist, sehr viel weiter,als es mancher Schwarzmaler noch immer beschwört.Aber ohne eine Angleichung der wirtschaftlichenVerhältnisse wird unsere Einheit nur unvollständig blei-ben. Die Lösung dieser Aufgabe ist von großer Bedeu-tung für ganz Deutschland, denn nur durch eine sichselbst tragende nachhaltige wirtschaftliche Entwicklungin Ostdeutschland können wir Spielräume für weiteredringend notwendige Investitionen in die Zukunft unse-res Landes schaffen.
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10054 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Peter HettlichWir haben in den letzten Wochen eine zum Teil unse-lige öffentliche Debatte über Transferleistungenzwischen West und Ost führen müssen. Ausgehendvon einem Artikel mit der reißerischen Überschrift„1 250 Milliarden Euro – Wofür?“ entstand eine Diskus-sion darüber, ob Ostdeutschland ein Fass ohne Boden seiund ob es sich überhaupt lohne, weiterhin in die neuenBundesländer zu investieren. Trauriger Höhepunkt waraus meiner Sicht die Behauptung, der Aufbau Ost sei ur-sächlich für den Absturz West. Umso bedenklicher warsie, da sie von Klaus von Dohnanyi stammte, der mit sei-nem Praktikerkreis Vorschläge für die weitere Entwick-lung in den neuen Bundesländern machen sollte.Diese Aussage war und ist so falsch wie töricht. HerrDohnanyi hätte als ehemaliger Hamburger Bürgermeis-ter wissen müssen, dass die Probleme des Westens ihrenUrsprung in der Zeit lange vor der Wiedervereinigunghaben und durch die Euphorie der frühen 90er-Jahre le-diglich übertüncht wurden.
Heute müssen wir für die Folgen einstehen. Dies aberOstdeutschland bzw. den Ostdeutschen vorzuwerfen istsachlich falsch und moralisch nicht zu rechtfertigen.
Eine hervorragende und ernst zu nehmende Analyseder Situation stellen dagegen der erste und zweite Fort-schrittsbericht wirtschaftswissenschaftlicher Instituteüber die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschlanddar. Letztmalig im November 2003 haben die beteiligtenInstitute eine nüchterne und kritische Bestandsaufnahmeder vergangenen Jahre vorgenommen. Die Analysen undLösungsansätze sind dergestalt, wie ich sie mir fürmeine tägliche Arbeit als Politiker wünsche, und ichkann sie auch ernst nehmen.Die Arbeitsgruppe Ost der Bundestagsfraktion Bünd-nis 90/Die Grünen hat sich in einen intensiven Dialogmit den Autoren begeben. In einem Positionspapier un-serer Fraktion hat sie bereits am 30. März Vorschlägevorgelegt, wie wir die künftige wirtschaftliche Entwick-lung Ostdeutschlands gestalten wollen:Förderungen nach dem Gießkannenprinzip sind wedersinnvoll noch vor dem Hintergrund der Haushaltspro-bleme von Bund, Ländern und Kommunen dauerhaftleistbar. Um den unterschiedlichen Entwicklungsbedin-gungen der Regionen Rechnung zu tragen, sehen wir da-her zwei Hauptaufgaben: einerseits die Stärkung der vor-handenen Wachstumsregionen und andererseits dieStabilisierung der anhaltend wirtschaftsschwachen Städteund ländlichen Regionen.Bündnis 90/Die Grünen plädierten bereits in der letz-ten Legislaturperiode für eine effizientere Förderung, diean den Stärken und Perspektiven der einzelnen Regionenansetzt. Von wirtschaftlich erstarkenden Regionen strah-len Effekte auf angrenzende strukturschwache Gebieteaus, die dort Entwicklungspotenziale stärken. Wir wol-len Zukunftstechnologien besonders in den Regionenfördern, in denen bereits Kerne neuer Industrien vor-handen sind. So schaffen wir am ehesten die Vorausset-zungen, dass einzelne Regionen langfristig unabhängigvon Transfers werden und eigenständige Entwicklungs-wege verfolgen.In den Kommunen, Landkreisen und Ländern musssich die Einsicht durchsetzen, dass eine erfolgreiche Ent-wicklung nur gemeinsam und nicht gegeneinander er-reicht werden kann. Dies bedeutet den Abschied von derKirchturmpolitik der vergangenen Jahre, die zum Teil zuerheblichen Fehlallokationen zum Beispiel bei der Er-schließung und der Vorhaltung von Gewerbe- und Indus-triegebieten, aber auch in der Wirtschaftsförderung ge-führt hat. Daher muss sich die Vergabe von Fördermittelnauch künftig an überregionalen und länderübergreifendenWirtschaftsstrukturen orientieren.Das zentrale Instrument der Wirtschaftsförderung so-wie der Förderung der wirtschaftsnahen Infrastruktur inden neuen Ländern ist die Gemeinschaftsaufgabe „Ver-besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die GA.Ihr Schwerpunkt liegt auf der Förderung überregionalerWirtschaftskreisläufe. Die GA ist ein effizientes, arbeits-platzerhaltendes und arbeitsplatzschaffendes Mittel mit einersehr hohen Zielgenauigkeit. Wir wollen, dass GA-Mittelstärker in Zukunftsbranchen sowie in Dienstleistungsberei-che fließen.Die von Wirtschaftsminister Clement angestoßeneDebatte über die Kürzung der GA-Mittel war in diesemZusammenhang nicht hilfreich. Aus diesem Grundehabe ich mich in der Öffentlichkeit ungewöhnlich scharfzu diesem Thema geäußert. Ich mache auch an dieserStelle deutlich: Mit uns wird eine weitere Kürzung nichtzu machen sein.
Im Zuge der Föderalismusdebatte wird die GA abervon Teilen der Kommissionsmitglieder infrage gestellt,übrigens auch von Ministerpräsident Stoiber. Dem wol-len wir entgegenwirken, auch im Hinblick auf die Verän-derungen in der EU-Strukturpolitik, die aus der EU-Er-weiterung resultieren.Wir wollen die Finanzausstattung der GA in denneuen Ländern im Rahmen der Vorgaben aus dem Soli-darpakt II verstärken. Statt die bis 2006 befristete Inves-titionszulage zu verlängern, schlagen wir vor, die GA zustärken, da wir sie für die bessere Maßnahme halten. DieInvestitionszulage in ihrer jetzigen Form bewirkt zuhohe Mitnahmeeffekte bei den Unternehmen und ist un-serer Meinung nach nicht zielgenau.Neue und sichere Arbeitsplätze entstehen vor allem inzukunftsträchtigen Wirtschafts- und Dienstleistungs-branchen. Die Hochschulen in den neuen Ländern müs-sen noch stärker als bisher auf die Zusammenarbeit mitder regionalen Wirtschaft setzen. Sie können zumSchließen der Unternehmenslücke im Osten beitragen,indem sich wirtschafts- und ingenieurwissenschaftlicheStudiengänge noch konsequenter an der Praxis orientie-
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Peter Hettlichren und indem sie junge Menschen gezielt auf ein selbst-ständiges Unternehmertum vorbereiten.Ich möchte an dieser Stelle die deutschen Banken aus-drücklich an ihre Mitverantwortung erinnern und daraufhinweisen, dass ihre restriktive Kreditvergabe vielen Un-ternehmensgründern den Start unnötig schwer bzw. un-möglich macht.
Damit werden die positiven Entwicklungen, die wirdurch die Gründung der Mittelstandsbank im letztenJahr angestoßen haben, konterkariert. Auch die Fragender Besicherung und der nach Auskunft Betroffener vielzu langen Bearbeitungsfristen müssen beantwortet wer-den. Ich bin der Meinung: Wenn sich hier nicht bald eineEntwicklung zum Besseren zeigt, dann müssen wir aufpolitischer Ebene entsprechend handeln.Die regionale Vernetzung von Forschung, Hochschu-len und Wirtschaft muss weiter vorangetrieben werden.Die wettbewerbliche Vergabe von Forschungsmitteln anRegionen, in denen Wissenschaft und Wirtschaft imRahmen innovativer Netzwerke kooperieren, hat sich alsein sehr wirksames Instrument erwiesen. So entwickelnsich Kerne, die eine regionale Dynamik entfalten und indenen zusätzliche Arbeitsplätze im Industrie- undDienstleistungsbereich entstehen. Der 1999 initiierteInno-Regio-Wettbewerb ist eine der wichtigsten Maß-nahmen zur Innovationsförderung in den neuen Ländernund muss daher erhalten, wenn nicht sogar gestärkt wer-den.
Die Förderung der technologischen Leistungsfähigkeitostdeutscher Unternehmen hat sich in den vergangenenJahren zu einem Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik ent-wickelt. Mit diesen Anreizen ist es gelungen, den Größen-nachteil ostdeutscher Unternehmen auszugleichen. In derForschungsintensität stehen ostdeutsche Firmen den west-deutschen Unternehmen kaum nach. Allerdings mangeltes an der Umsetzung der Forschungsergebnisse in markt-fähige Produkte. Auch hier möchte ich noch einmal aufdie zu lösenden Probleme in der Finanzierung derartigerInvestitionen verweisen.In den vergangenen Jahren ist viel Geld in den Aus-bau der technischen Infrastruktur Ostdeutschlands ge-flossen. Der Anschlussgrad für die Abwasserentsorgunghat das Niveau der alten Bundesländer erreicht und dieTelekommunikationsstruktur ist auf dem modernstenStand der Technik. Auch zukünftig wird der Aus- undNeubau von Verkehrswegen in den neuen Bundeslän-dern überproportional finanziert. Studien belegen aller-dings auch, dass der Ausbau der Verkehrsinfrastrukturallein nicht zu dem erhofften Entstehen neuer Arbeits-plätze führt.
Eine gute verkehrliche Anbindung von Regionen ist eineVoraussetzung für die Ansiedlung von Unternehmen, sieist aber nur ein Standortfaktor unter vielen.So genannte weiche Standortfaktoren sind mit dafürausschlaggebend, ob investiert wird. Sie werden geradefür die Unternehmen immer bedeutender, die hoch quali-fizierte und motivierte Mitarbeiter benötigen. Investitio-nen in die soziale Infrastruktur, in Bildung und Wissen-schaft, in Kinderbetreuung und Schulen, in Sport- undJugendeinrichtungen, in kulturelle Angebote und in dieinnerstädtische Lebensqualität sind mit entscheidend fürdie Ansiedlung neuer Betriebe.Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch einThema streifen, das in letzter Zeit ebenfalls das öffentli-che Interesse erregt hat, nämlich die Fehlverwendungder Solidarpaktmittel. Mir ist zwar bewusst, dass sichdie Länder in einer schwierigen Situation befinden, diesie zum Teil – ich denke zum Beispiel an die Leistungennach den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen derehemaligen DDR – nicht zu verantworten haben. Den-noch macht es keinen Sinn, einfach die Vorgaben zuignorieren und diese Mittel wie in Berlin zu 0 Prozentoder in Sachsen-Anhalt zu nur 1 Prozent zweckgerichtetzu verwenden. Es würde dadurch zu einer gesamtdeut-schen Diskussion kommen, die die Solidarität der altenBundesländer erheblich strapazieren könnte.Ich habe es schon bei vielen Gelegenheiten gesagt:Bündnis 90/Die Grünen stehen zum Solidarpakt II undauch zur Höhe der vereinbarten Solidarpaktmittel. Wirerwarten aber, dass die ostdeutschen Länder und ihreMinisterpräsidenten ihre Hausaufgaben machen undenergische Maßnahmen ergreifen, um künftige Fehlver-wendungen zu minimieren oder besser ganz zu vermei-den.
Aus meiner Sicht und auch aus der Sicht der Praxiswäre eigentlich Folgendes notwendig: Wir müssen dieVerwendung der Solidarpaktmittel längerfristig planen,das Parlament muss wirksame Kontrollmechanismen er-halten und wir müssen uns auch darüber unterhalten, obSanktionen notwendig sind. Hier stehen wir zwar vorverfassungsrechtlichen Problemen, aber wir sollten dasdiskutieren; denn es besteht dringender Handlungsbe-darf.In den vergangenen 14 Jahren ist in Ostdeutschlandviel Positives geschaffen worden, sowohl durch denFleiß und die Kreativität der Ostdeutschen als auchdurch die Solidarität der Bürgerinnen und Bürger ausden alten Bundesländern. Diese Solidarität ist für unsaber auch die Verpflichtung, Rechenschaft über unserTun abzulegen und uns auch künftig einem kritischenDialog zu stellen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat nun der Ministerpräsident des Freistaa-
tes Sachsen, Professor Milbradt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Viel Gutes ist gesagt worden. Wenn all das um-gesetzt würde, wäre ein Teil meiner heutigen Interven-tion schon erledigt.
Aber die bisherige Erfahrung ist, dass zwischen Redenund Handeln ein großer Unterschied besteht.
Herr Kollege Stolpe, ich hoffe nur, dass das, was Sie ge-sagt haben, mit den Herren Clement und Eichel abge-stimmt ist; denn sie haben etwas anderes verkündet.
Am Montag vergangener Woche war der Bundes-kanzler zum Richtfest der neuen Chipfabrik von AMD inDresden. Mit einer Investitionssumme von 2,4 Milliar-den Euro errichtet das amerikanische Unternehmen inDresden bereits sein zweites Halbleiterwerk. Insgesamtarbeiten in der Region Dresden 11 000 Menschen in derMikroelektronikindustrie. Damit ist Dresden innerhalbweniger Jahre zu den Top Fünf der internationalen Mi-krochipindustrie aufgestiegen,
Nummer eins in Europa. Das ist ein Beispiel, wie manbeim Aufbau Ost Erfolge erzielen kann.
– Vorsichtig! Ich bin für die Unterstützung der Bundes-regierung in diesen und vielen anderen Fällen ausdrück-lich dankbar.
Es gibt auch viele andere Erfolgsgeschichten beimAufbau Ost, zum Beispiel die Autoindustrie mit VW,BMW und Porsche in Sachsen, die optische Industrie inJena, die chemische Industrie in Sachsen-Anhalt undBrandenburg oder auch die Entwicklung des Tourismusin vielen Regionen in Mecklenburg-Vorpommern. Alldiese Erfolge wären ohne ein wichtiges Instrument derWirtschaftsförderung nicht möglich gewesen, die so ge-nannte Gemeinschaftsaufgabe.
Ausgerechnet hier will der Bundeswirtschaftsministerden Rotstift ansetzen.
– Was heißt denn hier: Stimmt nicht? Uns ist untersagtworden, weitere Zusagen zu machen.
Wir haben das entsprechende Schreiben vom Bundes-wirtschaftsminister im Haus.Die GA-Förderung ist bisher eindeutig das erfolg-reichste Instrument beim Wiederaufbau. Auch in demvon der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Fort-schrittsbericht wird eine Fortführung der GA-Förderungauf hohem Niveau gefordert. In Sachsen wurden da-durch seit 1990 über 18 000 Investitionen von Unterneh-men gefördert. Das heißt, seit 1990 wurden allein inSachsen mit einem GA-Volumen von 7,7 MilliardenEuro Investitionen von über 40 Milliarden Euro angesto-ßen. Dadurch wurden 224 000 neue Arbeitsplätze ge-schaffen und noch einmal so viele gesichert.Statt auf diesen Erfolgen weiter aufzubauen, statt die-ses Pflänzchen zu pflegen, riskiert die Bundesregierung,dass die Entwicklung abbricht.
Herr Kollege Stolpe, es kann doch nicht im Interesse derBundesregierung sein, dass dies eintritt. Auch Sie wollenwie wir alle, dass der Aufbau der Wirtschaft in Ost-deutschland weitergeht.Natürlich – jetzt komme ich zu den öffentlichen Äu-ßerungen – ist die Auszahlung der Barmittel in diesemund im nächsten Jahr gesichert. Das hat uns der Bundes-kanzler in Dresden bei AMD erklärt. Dazu sind Sie aberauch verpflichtet, Herr Müntefering.
Denn dabei geht es nur um die Abfinanzierung für die inder Vergangenheit eingegangenen Verpflichtungen. Esgibt schon seit Jahren keine freien Barmittel mehr.
Diese Mittel, Herr Müntefering, um beim Thema zu blei-ben, sind bereits gebunden. Für Unternehmen, die heuteneu investieren, stehen diese Barmittel gar nicht mehrzur Verfügung. Zwischen uns, die wir die Haushaltsthe-matik kennen, ist das sicher nicht strittig. Oder muss dieEinhaltung von Recht und Gesetz schon als besondereLeistung der Bundesregierung angesehen werden?
Um den Investoren für zukünftige Ansiedlungen – da-rüber reden wir – Fördermittel zusagen zu können, brau-chen wir Verpflichtungsermächtigungen, und zwar dieVerpflichtungsermächtigungen, die dieser Bundestag inden Bundeshaushalt 2004 geschrieben hat.
Genau diese sperren Sie.
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Dr. Ministerpräsident Georg Milbradt
Es geht nicht um den Bundeshaushalt des Jahres 2005.Es ist eine andere Diskussion, welche Verpflichtungser-mächtigungen dort hineinkommen. Es geht um die Ver-pflichtungsermächtigung dieses Jahres für die Jahre2005, 2006 und 2007. Darüber reden wir. Diese Mittelsind zumindest bis zur Stunde im Schnitt zu 45 Prozentgesperrt worden. Damit nehmen Sie uns den entschei-denden Handlungsspielraum, und das zu einem Zeit-punkt, in dem Investitionen in Sachsen und, wie ich ver-mute, auch in anderen Ländern vor der Tür stehen, wiraber auf der anderen Seite in neue Konkurrenz zu Ost-europa treten.
Sie setzen für Investoren das völlig falsche Signal.Als der Bundeskanzler in Dresden war, hat mich derVorstandsvorsitzende von AMD gefragt: Wird denn auchunsere Investition gefördert? Bekommen wir noch unserGeld? – Das sind doch die Fragen, die an uns gerichtetwerden. Für mich stellt sich die Frage: Wollen Sie, dassweitere Investitionen und Arbeitsplätze kommen, oderwollen Sie das nicht?
– Ich habe gesagt: Ja,
aber diese Mittel sind bisher vom Bund nicht freigege-ben worden. Ich habe das auf meine eigene Kappe ge-nommen, Herr Matschie,
weil ich mich bei einem solchen internationalen Publi-kum nicht für die Bundesregierung schämen wollte.
Das ist die Situation.
– Nein, ich habe zunächst einmal Vertrauen in die eigeneKraft.
Das Hauptproblem in Ostdeutschland ist der Mangelan industriellen Arbeitsplätzen. Deshalb ist mir dieEntscheidung vollkommen unverständlich. Sie wider-spricht allem, was bisher über die Parteigrenzen hinwegfür den Aufbau Ost galt. Deswegen noch einmal: Wirbrauchen von Ihnen, Herr Stolpe, und von der restlichenBundesregierung das Signal, dass alle Verpflichtungser-mächtigungen ab sofort freigegeben werden
und dass Sie auch im Bundeshaushalt des Jahres 2005ähnliche Verpflichtungsermächtigungen für die Jahre2006 bis 2008 ausbringen.
Dann kann es weitergehen. Ich kann doch nicht sagen:Der Bund zahlt im Augenblick nur ein Drittel. Der Bundweiß nicht, was er will. Da müssen wir noch einen Mo-nat warten, bis vielleicht wieder eine Haushaltsklausurstattgefunden hat. – Das ist Gift für die Investoren. DieseDiskussion sollte man erst gar nicht anfangen.
Sachsen – das will ich deutlich sagen – ist bereit, allezur Verfügung stehenden GA-Mittel zu finanzieren. Wirhaben Investoren und wir wollen sie nicht nach Ost-europa ziehen lassen. Sollte das eine oder andere Bun-desland im Osten keine Investoren haben oder nicht inder Lage sein, die GA-Mittel abzunehmen, so bin ich be-reit, diese abzunehmen.
Nun zu den Koch/Steinbrück-Vorschlägen, die vonder Bundesregierung als Begründung für eine eventuelleStreichung herangezogen werden. Das ist Unsinn. Rich-tig ist, dass sich die ostdeutschen Länder der gesamt-deutschen Solidarität nicht verschlossen haben und be-reit waren, auch in ihrem Bereich Kürzungen von4 Prozent pro Jahr zu akzeptieren. Aber 4 Prozent sindnicht 45 Prozent.
Der Bundesfinanzminister hat dem Bundeswirtschafts-minister eine Kürzungssumme aufgegeben, die auch dieSteinkohle umfasst. Weil er da nicht kürzen kann, kürzter im einzigen flexiblen Bereich und das ist die GA-För-derung. Das ist doch die Wahrheit.
– Natürlich! Sie können im Bereich der Steinkohle imAugenblick die Subventionen gar nicht kürzen, Sie kön-nen sie nur verschieben, weil die Rechtsbindung bis weitin das nächste Jahrzehnt reicht.
– Herr Benneter, ich will nicht die Mittel der Ruhrkohle-förderung, aber es wäre sicherlich im Sinne des Ruhrge-bietes besser, diese Gelder würden für die Ansiedlungzukunftsgerichteter Industrie verwendet statt für die Ab-wicklung der Vergangenheit.
Ich mache mir Sorgen um Ostdeutschland. Ich machemir auch Sorgen um ganz Deutschland, denn ich weiß,wenn der Osten nicht vorankommt, dann leidet ganzDeutschland. Ich kann – das will ich deutlich sagen – beider Bundesregierung und bei dem, was hier gesagtwurde, keine Strategie für den Aufbau Ost erkennen,
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Dr. Ministerpräsident Georg Milbradt
allenfalls das alte Lied: Fahren nach Sicht. Es geht nachdem Motto: Kommt Zeit, kommt Rat.
– Lassen Sie mich ausreden, Herr Matschie; Sie kom-men doch auch gleich zu Wort – Der für die Bundesre-gierung wenig erfreuliche Bericht zum Stand des Auf-baus Ost vom vergangenen Herbst – er wurde schonzitiert – wurde von der Bundesregierung nur mit einemAchselzucken zur Kenntnis genommen. Herr KollegeStolpe, wo bleibt die politische Antwort auf die nieder-schmetternde Analyse der Institute, dass im Zweifel nureine passive Sanierung übrig bleibt? Wissen Sie, waseine passive Sanierung ist? Sie können eine Region da-durch sanieren, dass Sie den Zähler vergrößern und dassdadurch das Pro-Kopf-Einkommen steigt. Sie könnendies aber auch dadurch erreichen, dass der Nenner sinkt.Das nennt sich passive Sanierung oder schlicht Abwan-derung.Ist das die Antwort der Bundesregierung hinsichtlichdes Aufbaus Ost? Das kann doch nicht richtig sein.Klaus von Dohnanyi, ich selbst und andere haben kon-krete Vorschläge vorgelegt, die alle ein und dieselbe For-derung in unterschiedlichen Nuancen umfassen: So wiebisher kann man nicht weiter vorgehen.
Wir brauchen für den zweiten Teil des Aufbaus Ost ei-nen neuen Anlauf und neue Regeln, aber nicht mehrGeld.
– Ich habe über das Geld geredet, das uns zugesagt wor-den ist. Eines werden Sie nicht hinbekommen, Herr Kol-lege, nämlich dass Sie bezogen auf den Aufbau Ost mitweniger Geld, das für Investitionen zur Verfügung ge-stellt wird, eine größere Wirkung erzielen können.
Ich werde zu einigen Punkten noch etwas ausführen.Auch die ostdeutschen Länder haben ihren Beitrag zurKürzung von Subventionen in einem anderen Bereichgeleistet. Die Investitionszulagen sind durch Beschluss-fassung des Bundestags im Frühjahr um drei Viertel ge-kürzt worden. Ich halte das für vertretbar. Auch das istein Beitrag zur inneren Solidarität.Der Aufbau Ost ist überall dort gelungen, wo derStaat direkt einwirken konnte und wo die ostdeutschenLänder und Kommunen wie auch der Bund selbst Ver-antwortung getragen haben. Das gilt zum Beispiel fürdas Gesundheitswesen, die Altenpflege, Schulen, Um-welt und Altlasten. Aber bei der zentralen Aufgabe derEntwicklung einer sich selbst tragenden Wirtschaftsent-wicklung im privaten Sektor kommen wir seit 1997 nichtmehr voran.
Wir haben erst 60 Prozent der Wirtschaftskraft desWestens erreicht und sind seit Beginn der rot-grünenBundesregierung auf diesem Stand stehengeblieben.Darüber haben wir zu diskutieren.Unser gemeinsames gesamtdeutsches Ziel muss dochsein, die hohen Transferzahlungen von West nach Ostzu reduzieren. Wir sind bereit, die Förderpraxis der ver-gangenen Jahre kritisch zu überprüfen. Wir müssen eineUmsteuerung bei der Förderung vornehmen, damitstarke industrielle Kerne und nachhaltig sichere Arbeits-plätze entstehen. Ich bin auch bereit, mich einer Diskus-sion über die Frage der Fehlverwendung von Mitteln zustellen. Aber Sie wissen aus den Berichten der Bundes-regierung, dass zumindest dem Freistaat Sachsen in die-ser Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden kann.Ich freue mich, dass Bundesminister Stolpe mittler-weile auf unser sächsisches Modell der Förderungindustrieller Wachstumspole – die so genannten Clus-ter – eingeschwenkt ist. Ich wiederhole: Es geht mirnicht um mehr Geld; wir möchten vielmehr das vorhan-dene Geld effektiver einsetzen. Angesicht sinkenderMittel brauchen wir eine abgestimmte industriepoliti-sche Förderstrategie.Die Unternehmen, die den Kern der Wachstumspolebilden, funktionieren als starke Lokomotiven. Diese Lo-komotiven ziehen eine Vielzahl von kleinen und mittel-ständischen Waggons nach sich, und zwar nicht nur imunmittelbaren räumlichen Umfeld, sondern weit in dasLand ausgreifend, wie man es in Sachsen insbesonderebei der Automobilzulieferindustrie sieht. Deshalb brau-chen wir auch ein leistungsfähiges Verkehrsnetz in denschwachen Regionen, um diese an die starken Regionenanzubinden.
Mit dem Aufbau ist es wie bei einem Rennwagen. Siekönnen einen Rennwagen doch nicht dadurch schnellermachen, dass Sie die Motorleistung drosseln. Natürlichmuss der Spritverbrauch sinken, aber darunter darf dieMotorleistung nicht leiden. Gefragt sind vielmehr Fein-tuning, eine bessere und genauere Einspritzung, einebessere Dynamik und möglicherweise auch ein bessererFahrer.
Wichtig ist, dass der Bund endlich den Korb 2 desSolidarpakts II gesetzlich fixiert; denn die GA-Mittelsind Teil des Solidarpakts.
Hätten wir diese gesetzlich fixiert, wäre die von HerrnClement angestoßene Diskussion über die Kürzung derGA-Mittel erst gar nicht möglich gewesen. Deswegenfordere ich Sie alle auf, möglichst schnell Klarheit beimKorb 2 des Solidarpaktes II bis 2019 zu schaffen. Dann
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Dr. Ministerpräsident Georg Milbradt
können wir uns solche Diskussionen wie die heutige er-sparen.
Ein Punkt ist mir noch besonders wichtig. Wir könn-ten beim Aufbau Ost viel mehr erreichen, wenn wirmehr Freiheiten hätten. 1990 haben wir in Ostdeutsch-land ein System übernommen, durch das im Westen Jahrfür Jahr viele Tausende industrielle Arbeitsplätze ver-schwinden. Mit diesem System West können Sie dochdie fehlenden Arbeitsplätze im Osten nicht schaffen. Mit„Weiter so wie bisher“, dem Inhalt des vorliegenden Koali-tionsantrages, werden wir weiter wie bisher hinterher-hinken. Meine Damen und Herren Abgeordneten derKoalitionsfraktionen aus dem Osten, wollen Sie das? Istdas der Auftrag Ihrer Wähler? Wie wollen Sie denn dieextrem hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland be-kämpfen? Was sagen Sie denjenigen, die abwandernwollen? Sicherlich nicht das, was in Ihrem Antrag steht,den Sie heute beschließen. Sie wissen doch ganz genau,dass dieser Antrag weiße Salbe ist und dass sich mit ihmdie Kernprobleme des Ostens nicht lösen lassen.
Deswegen appelliere ich an Sie: Diskutieren Sie dochmit uns, den Ländern, und meinetwegen auch mit denOppositionsfraktionen darüber, wie wir mehr Freiheitgeben können und wie wir aus den Mitteln mehr machenkönnen. Schauen wir doch einmal über den Tellerrandunserer Nation hinaus und sehen uns an, welche andereneuropäischen Länder Erfolge erzielt haben. Irland zumBeispiel hat sich in 30 Jahren durch eine gezielte Wirt-schaftspolitik, durch Zukunftsinvestitionen in Bildungund Unternehmen sowie durch flexible Strukturen voneinem der ärmsten zu einem der reicheren Länder derEU entwickelt.
– Doch, Herr Müntefering, genau darum geht es. Wirsollten uns an denjenigen Ländern in Europa orientieren,die Wachstum geschaffen haben,
und nicht an denjenigen Ländern, die seit Jahren so gutwie kein Wachstum mehr auf die Beine gebracht haben.
Geben Sie uns, den neuen Bundesländern, doch mehrFreiheit! Was würden Sie denn verlieren? – Gar nichts!
Es gibt doch nur zwei Möglichkeiten, wenn Sie unsmehr Freiheit geben: Wir haben entweder Erfolg oderMisserfolg. Im ersten Fall werden uns andere nacheifernund im letzten Fall werden wir die politischen Folgenselbst zu tragen haben.
Geben Sie uns die Freiheit, die Wachstumsregionen inanderen EU-Ländern haben, mit denen wir konkurrieren.Wir brauchen in Deutschland mehr Mut, mehr Kreativi-tät und eine größere Bereitschaft zum Experimentieren.Die Menschen in Ostdeutschland haben in den vergange-nen Jahren Großartiges geleistet.
Sie haben bewiesen, dass sie Mut, Kreativität und Be-reitschaft zum Wandel haben. Jetzt kommt es darauf an,dass der Staat ihnen die Türen öffnet und nicht ständigSteine in den Weg legt.
Danke sehr.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Christoph
Matschie, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte auf die Katastrophenstimmung, die Sie, FrauPieper und Herr Milbradt, hier verbreitet haben,
mit Sätzen antworten, die der Vorstandsvorsitzende derJenoptik AG dem „Stern“ gesagt hat:Ostdeutschland ist besser als sein Ruf. Ich glaube,wir Deutsche neigen dazu, den Standort schlecht zureden. Statt schnelle Urteile über den Aufbau Ostabzugeben, rate ich, abzuwarten, bis sich die guteInfrastruktur voll auswirkt.Recht hat der Mann! Das sage ich Ihnen, Frau Pieper.
Herr Milbradt, Sie haben hier über die Gemein-schaftsaufgabe gesprochen.
Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass dies unser wich-tigstes Wirtschaftsförderinstrument ist. Das hat auchHerr Stolpe hier deutlich gemacht. Ich bin dezidiert derAuffassung: Wir brauchen dieses Instrument auch in dennächsten Jahren beim Aufbau Ost, und zwar in dem bis-her zugesagten Umfang.
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Christoph MatschieAber die von Ihnen hier verbreitete Katastrophenstim-mung verschreckt Investoren und trägt nicht zum Auf-bau Ost bei, Herr Ministerpräsident.
Herr Milbradt, zum Mut, Forderungen zu stellen, ge-hört der Mut, über die Finanzierung der Umsetzung die-ser Forderung zu reden. Auch darüber müssen wir hierdiskutieren, Herr Milbradt.
Herr Kollege Matschie, darf Ihnen die Kollegin
Pieper eine Zwischenfrage stellen?
Einen kleinen Moment. Ich bin mit Herrn Milbradt
gleich fertig. Dann kommt Frau Pieper dran.
Herr Milbradt, jeder in diesem Haus und auch bei Ih-
nen weiß: Die Lage der öffentlichen Kassen ist äußerst
angespannt. Das gilt für den Bund, für die Länder und
für die Gemeinden.
Wenn man an einer bestimmten Stelle „Hier darf nicht
gekürzt werden“ sagt – diese Forderung unterstütze ich;
bei Bildung und Forschung darf ebenfalls nicht gekürzt
werden –,
dann muss man sagen, woher das Geld genommen wer-
den soll. Wir haben Vorschläge zum Subventionsabbau
gemacht.
Wir haben beispielsweise vorgeschlagen, die Eigen-
heimzulage abzuschaffen und das eingesparte Geld an
anderen Stellen sinnvoller zu investieren.
Als wir das taten, da saßen Sie auf der Bank der Blockie-
rer. Sie haben zu diesem Subventionsabbau Nein gesagt.
Angesichts dessen sollten Sie sich nicht hierhin stellen,
Forderungen erheben und ungedeckte Schecks ausstel-
len. Auch das gehört zur Wahrheit, Herr Milbradt.
Zu einer Zwischenfrage bekommt die Kollegin Pieper
das Wort.
Herr Kollege Matschie, Sie haben der Opposition vor-
geworfen, den Standort neue Bundesländer schlechtzure-
den, obwohl wir hier ganz konkrete Vorschläge gemacht
haben, wie wir den Aufbau Ost mit einer Gesamtstrate-
gie – Modellregionen etc. – voranbringen können. Wie
würden Sie die Äußerungen Ihrer Ministerpräsidenten
Steinbrück, Simonis usw. bezeichnen, die den Aufbau
Ost ständig schlechtreden und permanent fordern, die
Förderprogramme zu kürzen und aufzuhören, die För-
dermittel nach Himmelsrichtungen zu verteilen – was
noch nie stattgefunden hat?
Sehr geehrte Frau Kollegin, ich will hier noch einmalin aller Klarheit deutlich machen: Meine Position ist,dass diese Fördermöglichkeiten nicht beschnitten wer-den dürfen.
Diese Position habe ich auch gegenüber SPD-Minister-präsidenten deutlich gemacht. Sie wissen so gut wie ich,dass es in den Bundesländern unterschiedliche Interes-sen gibt. Die damit verbundenen Konflikte werden aus-getragen. Meine Position ist hier deutlich geworden.
Zu dieser Position stehe ich auch.Im Übrigen, Frau Pieper, sollten wir wirklich wahr-nehmen, dass der Aufbau in Ostdeutschland zwei Ge-sichter hat. Man muss sie beide sehen.
Man muss auf der einen Seite wahrnehmen: Es gibtheute in Ostdeutschland die modernsten Fabriken unddie neuesten Forschungslabore. Es gibt Städte, die wie-der zum Leben erwacht sind.
Das ist eine Aufbauleistung von Millionen Menschen inOstdeutschland, die so gewaltig ist, dass man davorwirklich Respekt haben muss.
Man darf nicht immer nur schwarz malen, wie Sie, HerrVaatz, es hier gemacht haben.Natürlich gibt es auch eine andere Seite. Wer auf-merksam durch Ostdeutschland fährt, der sieht diese an-dere Seite. Neben dem gelungenen Aufbau gibt es diebedrückende, hohe Arbeitslosigkeit.
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Christoph Matschie
In manchen Regionen liegt sie bei über 20 Prozent.
In diesen Regionen herrscht Angst, weil die jungenMenschen weggehen und weil die Alten allein zurück-bleiben. Natürlich gibt es das alles. Es gibt Regionen, indenen die Hoffnung langsam stirbt.
Aber, Herr Kollege Vaatz, wir müssen doch die Fragestellen: Wie kommen wir an dieser Stelle weiter?
Wir dürfen nicht nur das Problem beschreiben. Deshalbhaben wir auch heute konkrete Vorschläge dazu auf denTisch gelegt.
Ostdeutschland war und ist auf Unterstützung ange-wiesen. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen:Meine Erfahrung in den letzten Jahren war – ich teile siemit vielen Kolleginnen und Kollegen, auch aus den altenBundesländern –, dass eine großartige solidarische Leis-tung vollbracht worden ist, und zwar von den Ostdeut-schen, die den Mut gehabt haben, anzupacken, und vonden Westdeutschen, die mitgeholfen haben, dass dieseSolidarität finanziert werden kann.
Natürlich ist auch klar: Die Ungeduld wächst. Siewächst im Osten, weil es nicht schnell genug vorangeht.Sie wächst auch im Westen, weil da gefragt wird: Was istin den letzten Jahren passiert? Warum ist es nicht soschnell vorangegangen, wie wir alle uns das erhofft ha-ben? Deshalb müssen wir heute auch darüber diskutie-ren: Wie setzen wir die Mittel, die wir zur Verfügung ha-ben, möglichst effizient ein? Was machen wir aus denMöglichkeiten, die wir hier haben?Natürlich gehört dazu, auch den Mut zu haben, zu sa-gen: Wir müssen Mittel stärker auf Wachstumskerneund auf möglichst Erfolg versprechende Entwicklungenkonzentrieren. Sie haben einige davon beschrieben, dieübrigens in erheblichem Umfang mit Bundesgeld geför-dert worden sind. Diese Entwicklung soll auch weiterge-hen. Wenn junge Leute mobil sind – sie sind es nun ein-mal –, suchen sie ihre besten Chancen. Wir aber wollendoch, dass sie nicht aus Ostdeutschland nach München,nach Stuttgart oder nach Düsseldorf gehen, sondern dasssie in Dresden, in Leipzig oder in Jena bleiben, weil siedort die besten Möglichkeiten für sich sehen. Also müs-sen wir Wachstumskerne fördern.
Ich bin Manfred Stolpe für seine Initiative dankbar,der das Gespräch mit den Bundesländern aufgenommenhat, um zu klären, wie man die Möglichkeiten, die Bundund Länder haben, besser miteinander koordiniert, wieman Kräfte bündelt und auf solche Erfolg versprechen-den Entwicklungen konzentriert.Natürlich kommt es vor allem darauf an, Innovati-onskraft zu stärken. Das Bundesministerium für Bil-dung und Forschung hat in den letzten Jahren die Mittelfür die Innovationsförderung in den neuen Bundeslän-dern quasi verdoppelt – daran hat Edelgard Bulmahn ei-nen ganz großen Anteil –; hier ist eine gigantische Leis-tung vollbracht worden.
Jeder, der durchs Land fährt, erkennt: Das Geld ist gutangelegt. Das kann man überall sehen. Vor wenigen Ta-gen haben wir in Ilmenau ein neues Fraunhofer-Institutauf den Weg gebracht. Ich bin gestern in Hermsdorf ge-wesen und habe mir angeschaut, welche Früchte dieWachstumskerneförderung dort getragen hat. Man kanndas mit Händen greifen. Es wirkt. Das ist auch dieStärke, die wir in den nächsten Jahren gewinnen müssen.Wir müssen Innovations- und Wachstumskräfte stärken.Was sich in Ihrem Antrag wiederfindet – Löhne wei-ter runter, Niedriglohnsektor ausweiten –, das ist nichtder Weg in Ostdeutschland.
Schauen Sie sich doch mal um! Schon heute gibt es invielen Bereichen in Ostdeutschland Löhne, von denenich sage, dass sie unterhalb der Schamgrenze sind. In Er-furt beispielsweise gehen Menschen mit einem Brutto-stundenlohn von 3,30 Euro nach Hause. Von diesemLohn kann man nicht leben; man muss zusätzliche staat-liche Hilfe beantragen.
Deshalb sage ich Ihnen als Abgeordneter aus Ost-deutschland: Wir brauchen nicht über Niedriglöhne unddie Ausweitung des Niedriglohnsektors zu reden. Wirbrauchen eine Debatte über einen gesetzlichen Mindest-lohn. Wir brauchen Mindeststandards in Ostdeutsch-land, damit Menschen mit ihrer eigenen Hände Arbeitihren Lebensunterhalt verdienen können. Die Debatteüber Mindestlöhne ist die Debatte, die wir heute führenmüssen.
– Nein, das ist kein Quatsch, Frau Pieper.
Neun Länder in der Europäischen Union haben solcheMindestlohnregelungen eingeführt, weil sie erkannt ha-ben: Wir brauchen eine untere Grenze für die Lohnent-wicklung, damit Menschen am Ende auch von ihrerHände Arbeit leben können und nicht auf zusätzliche
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Christoph Matschiestaatliche Hilfe angewiesen sind. Für mich ist es aucheine Frage der Würde des Menschen,
ob man einen angemessenen Lohn für seiner Hände Ar-beit bekommt.
Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: DieEntwicklung in Ostdeutschland ist trotz aller Probleme – dasist meine feste Überzeugung – eine Erfolgsgeschichte,an der Millionen von Menschen mitgeschrieben haben.Lassen Sie uns deshalb im Deutschen Bundestag ge-meinsam dafür sorgen, dass diese Erfolgsgeschichte inden nächsten Jahren fortgeschrieben werden kann unddass wir auf diesem Weg möglichst alle mitnehmen.
Das Wort erhält nun die Kollegin Cornelia Behm,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Dass wir zum Thema „Zukunft Ostdeutsch-lands“ eine Kernzeitdebatte am Donnerstagvormittagführen, erfüllt mich durchaus mit Befriedigung,
zeigt es doch, dass dieses Thema wichtig ist. Ostdeutsch-land hat noch immer in besonderer Weise an den Folgender jüngsten Geschichte zu tragen. Es ist gut, dass dasParlament das ganz ernst nimmt.Die CDU/CSU bildet in ihrem Antrag „Ostdeutsch-land eine Zukunft geben“ ein weich gezeichnetes Bildder bisherigen Erfolge des Aufbaus Ost ab.
– Ja. – Ich bin weit davon entfernt, das Erreichte kleinzu-reden und dem Klischee des ewig unzufriedenen Ostlerszu entsprechen, doch die Bilanz, die dieser Antrag zieht,ist geschönt: kein Wort über die Deindustrialisierung, diewir im Osten erlebt haben, kein Wort über den Woh-nungsleerstand und den Verfall von Städten aufgrunddrastisch sinkender Bevölkerungszahl, kein Wort übervor sich hin rottende Industrie- und Gewerbebrachen
und über fehlgeplante überdimensionierte Infrastruktur,kein Wort über gigantische Fehlinvestitionen von För-dermitteln
und darüber, dass man vor 1990 Arbeitslosigkeit nurvom Erzählen kannte. Neben den vielen Erfolgen gehörtauch das zur Realität Ostdeutschlands. Es ist kein Wun-der, dass die CDU/CSU das in ihrem Antrag unerwähntlässt; denn wenn sie es erwähnen würde, müsste sie auchihre Verantwortung für gewaltige Fehlsteuerungen undFehlinvestitionen in den 90er-Jahren eingestehen.Die CDU/CSU fordert, fruchtlosen Debatten über Son-derwirtschaftszonen entgegenzutreten. Dem kann ich nurzustimmen. Allerdings frage ich mich, wo die Konsequenzbleibt. Wann hören Sie endlich auf, Sonderregelungen fürden Osten zu fordern, zum Beispiel im Planungs- undGenehmigungsrecht? Warum unterliegen Sie noch im-mer dem Irrglauben, liebe Kolleginnen und Kollegen,dass durch die Ausschaltung von Bürgerbeteiligung undVerbandsklagerechten Projekte schneller realisiert wer-den können?
Hier soll Demokratieabbau als Entbürokratisierung ver-kauft werden. Jawohl, so sehe ich das.
Deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf der CDU/CSU-geführten Bundesländer zur Streichung des Verbandskla-gerechtes für Naturschutzverbände ab. Aus denselbenGründen wird es mit uns auch keine Verlängerung derGeltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleuni-gungsgesetzes geben.Meine Damen und Herren, die CDU/CSU fordert, denKündigungsschutz in Ostdeutschland auszusetzen. Ichsehe nicht, dass es Ostdeutschland gut bekommenwürde, wenn beim Arbeitsrecht niedrigere Standards alsin Westdeutschland eingeführt würden. Ob die darausabgeleiteten vagen Arbeitsplatzerwartungen Realitätwerden, ist doch sehr zweifelhaft. Welche Zugewinne anArbeitsplätzen sind uns nicht schon von den Wirtschafts-forschungsinstituten durch Sozialabbau und Deregulie-rung des Arbeitsrechtes prognostiziert worden! Von die-sen Arbeitsplätzen haben wir bisher kaum welchegesehen. Real aber ist die Gefahr, dass mit zunehmen-dem Sozialabbau die Motivation und damit die Produkti-vität und Qualität der Arbeit sinken. Das wäre kein An-reiz, in den Standort Ost zu investieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die ostdeutscheWirtschaft stärken heißt die regionale Wirtschaft stär-ken. Ostdeutschland ist keineswegs ein homogenes Ge-bilde, sondern weist eine Vielfalt von Regionen mit je-weils typischer Ausprägung aus. Das Typische liegtnicht nur in der Wirtschaft, Infrastruktur, Kultur und Na-tur begründet, sondern auch in der Geschichte und Men-talität der Bevölkerung. Daran müssen sich regionaleEntwicklungskonzepte orientieren, die die jeweiligenWirtschaftspotenziale erschließen sollen.Auch die Lage an der Grenze zu den neu zur EU bei-getretenen Ländern Polen und Tschechien ist ein Kapi-tal, mit dem ostdeutsche Regionen wuchern können. Eintschechischer Kollege verglich unlängst die Euroregio-nen mit Ökosystemen: je größer die Artenvielfalt, destostabiler das System. In den Euroregionen hat die Zukunftam 1. Mai dieses Jahres begonnen.
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Cornelia BehmAngesichts der Debatte über Wachstumskerne ist esmir besonders wichtig, dass der ländliche Raum nichtabgehängt wird. Auch hier können Wachstumskerneidentifiziert werden; denn ländlicher Raum ist mehr alsnur Landwirtschaft. Im ländlichen Raum Industrien auf-zubauen, für die es dort weder die Rohstoffbasis nochdie Zulieferer noch die Absatzmärkte gibt, ist allerdingswenig erfolgversprechend. Industrie und Gewerbe müs-sen vor allem an das anknüpfen, was dort an Rohstoffen,Arbeitskräftepotenzial und Traditionen vorhanden ist.Wir setzen deshalb zum Beispiel auf den Anbau unddie Verarbeitung von nachwachsenden Rohstoffen.Das hat einen dreifachen Effekt: Nachwachsende Roh-stoffe können fossile Rohstoffe ersetzen – damit werdenRessourcen geschont –, sie haben in der Regel eine bes-sere Ökobilanz und sie schaffen zusätzliche Arbeit inDeutschland. Durch den Aufbau von Verarbeitungskapa-zitäten entstehen noch zusätzliche Arbeitsplätze, zumBeispiel im Anlagenbau.Ein weiteres Potenzial des ländlichen Raums stellt derwachsende Markt für Erholungsleistungen dar. In derDebatte um die wirtschaftliche Entwicklung im Ostengerät die Bedeutung kultureller Angebote und Einrich-tungen, von Kulturdenkmälern, sozialer Infrastrukturund Naturschätzen leicht aus dem Blickfeld.
Sie aber sind ein Kapital Ostdeutschlands, das es für dieEntwicklung des Landes zu nutzen gilt. Auf der Basisder Kulturdenkmäler und der Naturschätze gilt es denTourismus zu entwickeln. Sie sind aber auch Vorausset-zung dafür, dass die Menschen gerne hier leben bzw.hierher ziehen.Im Osten Deutschlands liegen ohne Zweifel die meis-ten strukturschwachen Regionen. Der Auftrag desGrundgesetzes ist eindeutig: Es fordert, gleichwertigeLebensbedingungen zu schaffen. Um diese in Ost undWest zu erreichen, bedarf es noch auf längere Sicht er-heblicher Anstrengungen. Helmut Kohl hat blühendeLandschaften versprochen; wir erinnern uns. Aber er hatan den wirklichen Bedürfnissen dieser Landschaftenvorbei regiert. Rot-Grün hat 1998 mit den Versprechun-gen für den Osten aufgehört. Aber Rot-Grün hat gehan-delt. Neben den Gemeinschaftsaufgaben wurden zahlrei-che innovations- und wirtschaftsfördernde Programmeinsbesondere für Ostdeutschland entwickelt. Auf diesemWeg werden wir weitergehen. Mit den Gesetzen zur Mo-dulation, zur Agrarreform und zum EEG sowie mit derMittelstandsoffensive geben wir nicht nur allen struktur-schwachen Regionen eine Entwicklungsperspektive,sondern – um im Bild zu bleiben – Ostdeutschland eineZukunft.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernward Müller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Matschie, Sie haben Ihren Vortrag vorhinin einer sehr aufgeregten – mir von Ihnen unbekann-ten –, gekünstelten Art dargeboten und gefragt, wie wirin den neuen Bundesländern weiterkommen können. DieAntwort ist leicht zu finden: Sie können sie in unseremAntrag oder in den Protokollen der heutigen Debatte le-sen. Wenn Sie aus diesen nicht nur Worte oder Passagen,die in Ihre Vorstellungswelt passen, herausnehmen, son-dern einmal das Ganze lesen – was ich hoffe –, werdenSie in dem, was heute von der Unionsfraktion und derOpposition in diesem Hause insgesamt gesagt wordenist, richtige Antworten finden, die Sie, wenn Sie sie auchnur zum Teil beherzigen, einen großen Schritt nach vornbringen werden.
Sie sprechen immer davon, wir würden die Situationin den neuen Bundesländern schlechtreden.
– Das ist nicht wahr. – Wer die Situation in den neuenBundesländern kennt, der muss erkennen, dass die Kon-zepte, die Sie in den letzten Jahren vorgeschlagen habenund die das Land voranbringen sollten, eben nicht grei-fen. Das betrifft nicht nur die Lage in den neuen Bundes-ländern, sondern die gesamte politische Situation. WasSie als Lösungen anbieten, sind keine Lösungen. Es ver-unsichert die Menschen und es macht Ihr politischesHandeln unglaubwürdig. Damit muss endlich Schlusssein.
Kollege Hettlich hat vorhin die unsägliche Debatteder letzten Wochen bewertet. Ich schließe mich dieserBewertung an. Es ist äußerst wichtig, immer zu wieder-holen: In den neuen Bundesländern hat es kurzzeitig ei-nen Aufschwung gegeben. Der Beginn war gut, aber dieFortsetzung – das ist das Entscheidende – hätte bessersein müssen.
Ministerpräsident Milbradt hat ausgeführt, dass dort,wo der Staat eingegriffen und Regie geführt hat, vielesgelungen ist. Die weichen Standortfaktoren sind vor-handen und wirken. Aber mich besorgt, dass es außer-halb dieser so genannten Wirtschaftszentren noch zuviele ungenutzte Flächen in den Gewerbegebieten aufdem flachen Land gibt. Es muss etwas getan werden, da-mit sich auch dort eine positive Entwicklung einstellt.Wir wollen doch, dass die Menschen in den neuen Bun-desländern bleiben, dass beispielsweise Thüringer inThüringen bleiben. Wir wollen, dass unsere Kinder inunseren Ländern eine gute Ausbildung genießen können,ihre Zukunft gestalten können und eine Perspektive ha-ben.
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Bernward Müller
Fast jeder Redner hat hier betont, die Menschen hät-ten sich engagiert. Das ist so. Die Herausforderungenwaren riesig; viele haben sich diesen Herausforderungengestellt und haben Mut bewiesen, indem sie den Wegvon einer staatlichen Wirtschaft zum Unternehmertumgegangen sind. Nun liegt es an uns, diesen Mut zu hono-rieren und diese Menschen zu unterstützen. Man solltedie Mittelständler nicht knebeln und ihnen Fesseln anle-gen, sondern man sollte ihnen Chancen eröffnen. Denje-nigen, die selbstständig werden wollen, sollte man einePerspektive eröffnen, damit sie Ideen aufgreifen undsich als Unternehmer betätigen können; denn nur Unter-nehmer können Arbeitsplätze schaffen.
Man muss wirklich feststellen, dass die Zeit wie imFluge vergeht. Den Aufbau Ost zur Chefsache zu ma-chen war eine Drohung für die Menschen in den neuenBundesländern. In der Zukunft wäre es besser, wenn dieverantwortlichen Minister der Bundesregierung nicht indiese Region fahren und nicht versuchen, dort die Ent-wicklung voranzubringen. Nur dann kann es weiterge-hen.Die Bundesregierung ist ihrer Aufgabe, für die neuenBundesländer Entscheidendes voranzubringen, so wie es1998 angekündigt wurde, in keiner Weise gerecht geworden.Ich will als Beispiel die ICE-Trasse Erfurt–Nürnbergnennen, die heute schon erwähnt wurde. Dieses Projekt istfür Thüringen – aber eben nicht nur für Thüringen – be-sonders wichtig. Das sind doch die Zeichen, die gesetztwerden müssen, damit Investoren ins Land kommen. Washat es für einen Schlingerkurs gegeben, als Sie die Ver-antwortung für dieses Projekt übernommen haben!
– Natürlich war das ein Schlingerkurs.
Erst musste alles geprüft werden. Dann haben die Grü-nen gesagt, das sei nicht wirtschaftlich. Die SPD wie-derum hat gesagt, die Strecke werde doch gebaut, abersie werde halt nicht so schnell gebaut.
– Für Sie mag das so sein. Aber für uns ist es ganz wich-tig.
Herr Kollege, achten Sie auf Ihre Redezeit. Sie müs-
sen jetzt schnell zum Schluss kommen.
Ich komme ganz schnell zum Schluss.
Es ist eine Katastrophe, wie Sie dieses Projekt voran-
bringen. Es herrscht Stillstand. Aber Stillstand ist Rück-
schritt. Auch wenn sich drei Bagger bewegen, so muss
man doch sagen: Es geht nichts voran, sondern es
herrscht Stillstand. Herr Matschie, ich sehe nicht, dass
diese Strecke unter Ihrer Verantwortung jemals fertig ge-
baut wird.
Ich gebe Ihnen folgende Empfehlung: Stellen Sie die
Weichen neu oder machen Sie Platz für eine neue Poli-
tik!
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried
Scheffler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wenn man hier teilweise dieReden hört, insbesondere die von Frau Pieper – HerrVaatz hat sich in seinen Eingangsbemerkungen ein biss-chen an die Realität herangepirscht –,
muss man denken, dass Sie ein bisschen blind durch dieLande stolzieren.Frau Pieper, gerade Ihr Ministerpräsident
teilt ja immer wieder in Presse, Funk und Fernsehen,aber auch dann, wenn er hier im Bundestag ist, mit, wieerfolgreich seine Politik ist. Dies ist sie insbesonderedann, wenn Bundesmittel ausgegeben werden. DieLeuchttürme, die Sie in Sachsen-Anhalt geschaffen ha-ben, beruhen auf Bundesmitteln.
Das war bis 1998 nicht so. Vielmehr sind gerade die Ak-zente, die zum Beispiel Bundesministerin EdelgardBulmahn gesetzt hat, erfolgreich und auch in Sachsenund Thüringen hochwirksam.Es gibt ja ein gewisses Maß an Übereinstimmung,zum einen was die positiven Dinge, zum anderen aberauch was die wirtschaftlichen Strukturdaten betrifft. Da-bei geht es um die Sicht auf den Arbeitsmarkt, aber auchum die Einschätzung und die Wahrnehmung in der Be-völkerung, dass der Weg der letzten Jahre durchaus er-folgreich war. Das können wir doch gar nicht abstreiten.Wir sagen in unserem Antrag doch ganz deutlich: EinWeiter-so wird es nicht geben. Aber das Bild eines gene-rellen Stillstandes der ostdeutschen Wirtschaft istschlichtweg falsch; Kollege Vaatz, darin stimme ich aus-drücklich mit Ihnen überein. Der Aufholprozess setztsich natürlich bei einem zu geringen Wachstum insbe-
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Siegfried Schefflersondere im industriellen Bereich fort. Der Strukturwan-del ist in allen neuen Ländern, von Rostock oder Rügenbis hinunter nach Zittau, sehr sichtbar. MinisterpräsidentMilbradt, aber insbesondere unser Kollege Matschie ausThüringen haben dies eindrucksvoll vorgetragen.
Gleichwohl vollzieht sich keine selbst tragende Ent-wicklung. Wir stimmen mit Ihnen auch darin überein,dass die finanzielle Abhängigkeit von Transfers ausWestdeutschland und die Abwanderung aus den neuenLändern nicht gut sind. Damit werden wir uns als ost-deutsche Landesgruppe in der SPD nicht zufrieden ge-ben. Hier geht es aber nicht nur um regionale Sorgen.Herr Matschie hat es teilweise schon angesprochen: DieEntwicklung in den neuen Ländern ist vielmehr in dieEntwicklung in ganz Deutschland eingebettet. Mit Angstund Hysterie, wie das in der Presse geschieht oder auchvon Ihnen immer wieder versucht wird – Frau Pieper,Sie haben das eindrucksvoll bestätigt –,
können wir nichts erreichen. Wir können doch nicht denungelegten Eiern im Hinblick auf die Haushaltsberatun-gen 2005 vorgreifen. Wir können uns hier zwar dieKöpfe über GA- und Infrastrukturmaßnahmen heiß re-den. Entscheidend ist letztendlich, was der DeutscheBundestag, wir als Parlamentarier mit unseren Haushäl-tern, im Hinblick auf den Haushalt 2005 oder jetzt dieGA 2004 entscheidet. Insofern sind für mich viele Dinge– auch Ihre Pressemitteilung gestern aus Weimar – unge-legte Eier, die nur dazu dienen, diesen Standort schlechtzu machen.
Ich sage Ihnen, dass eine differenzierte Stärken-und Schwächenanalyse, wie es Kollege Matschie hiervorgetragen hat, mit guten Vor-Ort-Kenntnissen – dennich und andere sind sehr viel im Lande unterwegs – eineGrundlage für neue Ansätze der Förderung schaffenkann. Deshalb beinhaltet unser Antrag nicht einfach einWeiter-so, sondern eine Neujustierung, wie das MinisterStolpe nicht erst in der heutigen Debatte, sondern schonin der Vergangenheit dargestellt hat. Diese Neujustie-rung ist sichtbar.Vorhin wurde die Verdoppelung der industrienahenForschung angesprochen. Diese ist in der Region Ber-lin-Brandenburg und auch in Mecklenburg-Vorpommernsichtbar, aber natürlich nicht in allen Regionen. Wirstimmen mit Ihnen darin überein, dass wir nach wie voreine bessere Infrastruktur und industrienahe Forschungbrauchen. Das können wir aber unter den gegenwärtigenBedingungen der Globalisierung nicht sofort erreichen.Noch ein Punkt: Angesichts der Bedingungen kurznach der Wende, in der Zeit, in der Sie – das wollen Sieheute nicht mehr wissen – eine Deindustrialisierungbewirkt haben, können wir doch nicht so tun, als ob garnichts zustande gekommen ist.
Die Europäische Union bestätigt der Bundesregierungund dem Deutschen Bundestag nach wie vor, dass min-destens zwei Drittel der finanziellen Engpässe auf dieDeindustrialisierung und die Fehler in der Zeit kurz nachder Wendezeit, zum Beispiel auf den überhitzten Bau-boom, zurückzuführen sind. Darunter haben wir nochheute zu leiden. Das blenden Sie vollkommen aus.Das blendet auch Ministerpräsident Milbradt aus.
Er blendet ebenfalls vollständig aus, dass er 2003, alsüber das Steuervergünstigungsabbaugesetz verhandeltwurde, auf der anderen Seite des Tisches saß und dieunionsregierten Länder vollkommene Blockadepolitikbetrieben. Wäre dem nicht so gewesen, hätten die Haus-hälter des Deutschen Bundestages und die Bundesregie-rung viel mehr Spielräume
in der Frage der Bildungs-, Forschungs- und Verkehrs-politik gehabt. Dann wäre es möglich gewesen, wesent-lich mehr für die Schiene, für die Straße und für die Was-serstraßen zu erreichen.
Diese Tatsachen dürfen Sie nicht ausblenden; darumbitte ich Sie wirklich.Frau Pieper und Herr Milbradt haben die Aspekte derArbeitsmarktpolitik in den Vordergrund gestellt. Siemüssen dann aber auch den Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern sagen, dass Sie nicht nur den Niedriglohn-sektor, sondern sogar schon die Schwellenlöhne von Ru-mänien, Bulgarien oder anderen Staaten durchsetzenwollen.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wol-len hinsichtlich des Kündigungsschutzes Änderungenvornehmen.
– Das sind keine Unterstellungen. Ich habe das aus IhrenAnträgen herausgelesen. – Diese Forderungen müssenwir von der SPD mit Nachdruck zurückweisen.
Wir können uns durchaus über Lohnergänzungsleis-tungen unterhalten. Ihre Ausführungen zum Arbeits-markt aber – ich sage das ganz deutlich – sind ein Skan-dal. Sie wollen – auch das unterstelle ich Ihnen – überden Umweg einer anderen Strukturpolitik in Ostdeutsch-land die Arbeitnehmerrechte praktisch in ganz Deutsch-land aushebeln. Dabei machen wir nicht mit.
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Siegfried SchefflerDeutschland, insbesondere Ostdeutschland, brauchtkonkurrenzfähige Arbeitsplätze – teilweise gibt es sieschon –, um international konkurrenzfähig zu sein. Vondieser internationalen Konkurrenzfähigkeit hat Mi-nisterpräsident Milbradt gesprochen. Der Solidarpakt IIreicht bis 2019 und wir als Landesgruppe Ost haben vonder Regierung GA-Mittel eingefordert. Unser Zeithori-zont reicht also bis 2019 und wir dürfen ihn durchSchlechtreden nicht verkürzen und so tun, als sei er be-reits 2009 oder 2010 zu Ende. Meines Erachtens sindIhre Vorschläge teilweise nicht nur arbeitsmarktpoli-tisch, sondern auch wirtschaftspolitisch unsinnig. IhreWirkung ist teilweise verheerend.Sie können dort, wo die Bundesmittel greifen unddurch Bundesmittel finanzierte Programme aufgelegtwerden – vorhin wurde das schon genannt –, eine ver-nünftige Landespolitik machen. Dazu müssen Sie dieKabinette, an denen Unions- oder FDP-Politiker betei-ligt sind, auffordern, die ihnen zur Verfügung gestelltenMittel sinnvoll einzusetzen.
Nehmen wir zum Beispiel die Verwendung der Regiona-lisierungsmittel in Sachsen-Anhalt. Sie können vor Ortsehen, wo die Mittel für den Ausbau der Verkehrsinfra-struktur angekommen sind.
Ich bitte darum, hier Ross und Reiter zu nennen. Wirmüssen klar sagen, wo die Ursachen liegen, und dürfennicht immer nur auf den Bund schauen. Die Verantwor-tung der Länder muss hier ganz deutlich angesprochenwerden.
– Frau Pieper, wir können uns gern über Fragen der Bil-dungs-, Forschungs-, Verkehrs- und Arbeitsmarktpolitikunterhalten. Wir beschreiten gerade in der Arbeitsmarkt-politik einen anderen Weg als Sie. Wir stellen unsereHartz-Gesetze Ihren Forderungen nach Lohnersatzleis-tungen entgegen. Ich denke, damit gehen wir den we-sentlich besseren Weg.
Sie können unserem Antrag mit ruhigem Gewissenzustimmen. Ihre Anträge müssen wir natürlich zurück-weisen.Vielen herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention, weil er persönlich ange-
sprochen wurde, der Kollege Vaatz.
Herr Kollege Scheffler, nach Ihrer Auffassung habe
ich mich allmählich an die Realität herangepirscht. Mit
„Realität“ nehmen Sie sicher auf die Zwischenfrage Ih-
res Kollegen Hilsberg Bezug. Dazu möchte ich Folgen-
des sagen: Die Aussage des Herrn Kollegen Hilsberg,
dass man sich mit einer Firma geeinigt habe, ist richtig.
Es geht aber nicht um die Einigung einer Regierung mit
einer Firma. Vielmehr hat die Regierung gleiches Recht
für alle zu schaffen.
In der augenblicklichen Situation werden die mittel-
deutsche Braunkohle und die mittelständischen Unter-
nehmen, die in Ostdeutschland unmittelbar nach der
Wende ihre Anlagen ertüchtigt haben und Emissionen
abgeben, nach wie vor benachteiligt;
denn noch ist das Referenzjahr bei der Bemessung für
die Early Actions das Jahr 1994 und nicht, wie wir for-
dern, das Jahr 1991. Im Benchmarking wird der techni-
sche Wirkungsgrad der Braunkohle gegenüber dem tech-
nischen Wirkungsgrad der Steinkohle nach wie vor
benachteiligt. Es ist nach wie vor richtig, was ich an-
fangs gesagt habe, dass nämlich die in Ostdeutschland
neu gegründeten Betriebe hinsichtlich ihrer Finanzie-
rung eine Doppelfunktion ausüben: Einerseits finanzie-
ren sie sich selbst, andererseits finanzieren sie die Erneu-
erung im Westen. Daran hat sich nichts geändert.
Herr Kollege Vaatz, Ihre Kurzintervention bezog sich
nicht auf meine Rede, sondern auf den Beitrag des Kol-
legen Hilsberg. Ich kann die Aussage des Kollegen
Hilsberg aber bestätigen; denn in dieser Woche haben
wir uns nach der entscheidenden Nachtsitzung, in der es
um die Ausgestaltung des Entwurfs ging, mit den Ver-
antwortlichen von Vattenfall unterhalten. Ich kann nur
bestätigen, dass zukünftig sowohl die Investitionen als
auch die Senkung der Emissionen Beachtung finden. In-
sofern muss ich das, was Sie hier vorgetragen haben, zu-
rückweisen; es entspricht nicht den Tatsachen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Kuhn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Ostdeutschland eine Zukunft geben“ – das ist die Über-schrift unseres Antrags. Das ist auch mit einer Visionverbunden. Diese Debatte heute wäre nicht zustande ge-kommen, wenn nicht die Oppositionsfraktionen signali-siert hätten, dass wir über Ostdeutschland reden müssen.
Die Menschen in der ehemaligen DDR haben mit derfriedlichen Revolution selbst das Tor für eine freiheitli-che Demokratie und ihre Zukunft aufgestoßen. Wir hat-ten viele Wegbegleiter und Wegbereiter. Mit Helmut
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Werner Kuhn
Kohl hatten wir einen Bundeskanzler, der diese histori-sche Aufgabe der Wiedervereinigung unseres Vaterlan-des ganz oben auf seiner Agenda stehen hatte.
Das steht im Gegensatz zu der Agenda 2010 des jetzigenBundeskanzlers, für den der Osten nur noch eine Margi-nalie ist. Man würde am liebsten gar nicht mehr darüberreden, wie die Entwicklung dort unter Rot-Grün letzt-endlich in die Grütt gefahren worden ist.
Bei 5 Millionen Arbeitslosen und einer flächende-ckenden Unterbeschäftigung von 20 Prozent in Ost-deutschland ist es zwingend notwendig, dass wir dieseDebatte führen. Wenn der Osten nicht wieder auf dieBeine kommt, wird die Wirtschaft in Deutschland derEntwicklung in Europa im wahrsten Sinne des Wortesweiter hinterherhinken. Wir brauchen uns nicht darüberzu ereifern, wer denn nun die Konzepte für die gerings-ten Steuersätze oder wer die besten Konzepte für dieFörderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Ost-deutschland hat. Die Fakten zeigen es eindeutig: Die Ge-meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“ ist eine zentrale Aufgabe. Minis-terpräsident Milbradt hat ganz klare Worte dazu gefun-den. Im Osten arbeiten wir mit dem European RecoveryProgram, weil wir 40 Jahre benachteiligt worden sind.
Jetzt werden wir durch diese Bundesregierung benach-teiligt. Von ursprünglich 750 Millionen Euro sind dieAusgaben für diese Aufgabe auf knapp 200 Millionen Eurogesenkt worden. Das können wir uns einfach nicht bie-ten lassen. Wie sollen wir denn unseren Investitions-standort fit machen? Wir brauchen die GA und die In-vestitionsförderung. Dafür brauchen wir auchLandesmittel. Wir müssen Einnahmen realisieren, umdiese Situation in den Griff bekommen zu können.
– Ja, Herr Stiegler, Sie sind natürlich ein ausgemachterExperte, der die Ostförderung in- und auswendig kennt.
Sie werden ja zu diesem Tagesordnungspunkt späternoch als Wunderwaffe Ihrer Partei eingesetzt.
Aber Sie müssen sich einmal anschauen, wie die Men-schen in den neuen Bundesländern auf ein Hoffnungssi-gnal warten.
Ich sage: Diese Bundesregierung ist nicht geeignet,ihnen dieses Signal zu geben. Da ich Herrn MatschiesProblembeschreibung und die vielen Fragen, die er ge-stellt hat, gehört habe und beobachtet habe, wie er dannmit Herrn Minister Stolpe in einen Dialog getreten ist,sage ich Ihnen: Sie verhalten sich nicht wie Koalitions-fraktionen, die eine Regierung tragen, bzw. wie ein Mi-nister für den Aufbau Ost. Das hat sich vielmehr ange-hört wie eine Selbsthilfegruppe, die einfach nur einmalüber dieses Thema reden will, die aber gar keine eigenenKonzepte hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es handeltsich um Verträge, die in Zukunft in keiner Weise geän-dert werden können. Bis 2012 sind wir in den Lasten derSteinkohleproduktion im Ruhrgebiet fest verwurzelt.Aber dort finden Wahlen statt.
In NRW wird es dann heißen, dass man diese Situationleider nicht ändern könne; aber dann werden bis zumJahre 2012 Förderungen in Milliardenhöhe zugesagt.
Genau das stand letztendlich auch auf der Agenda: Tau-sche Westkohle gegen Osthilfe. Dem wird unsere Frak-tion in dieser Form aber nicht zustimmen. Das könnenwir Ihnen versichern.
Insoweit ist die Sache in Ordnung.Mit der Strategie, die wir heute vorgelegt haben, ge-ben wir Ihnen einen Fingerzeig, wie Sie in Zukunft ar-beiten sollen. Ich nenne nur die Stichworte Clusterbil-dung und universitäre Forschung. Allerdings müssen wirauch die Kosten betrachten, die dadurch auf die Länderzukommen. Sie finanzieren Universitäten und betreibenProduktentwicklung und Produktionseinführung auf ei-nem möglichst hohen Niveau, damit dort auch gut aus-gebildete Arbeitskräfte wieder eine Zukunft haben.Wenn Sie es ernst meinen würden, Herr Scheffler,dann müssten Sie sagen: Jawohl, wir wollen den Brain-drain gemeinsam verhindern, damit der Zustand, dassdie gut ausgebildeten Leute vom Osten in den Westengehen, weil sie nur dort eine Zukunft haben, endlich ge-stoppt wird. Aber Sie führen eine Ausbildungsplatzab-gabe ein, die dazu führt, dass die Unternehmen Leuteausbilden müssen, obwohl überhaupt keine mehr dasind. So können wir Deutschland nicht fit für die Zu-kunft machen.
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Werner Kuhn
Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, wenn ge-sagt wird – das wurde vom Kollegen Hettlich auf sehrinteressante Weise dargestellt –, dass wir natürlichuniversitäre Forschung, Clusterbildung und Produkt-entwicklung brauchen, dass wir aber gerade auch für dieneuen Bundesländer ein System von Instituten und außer-universitärer Forschung ins Leben gerufen haben, zumBeispiel die Leibniz-Institute.
Dann wird gesagt: Jetzt führen wir eine Entflech-tungsdebatte.
Man denkt: Donnerwetter, jetzt wird endlich Bürokratieabgebaut; jetzt werden wir zum Zuge kommen. Abernein, Herr Kollege Scheffler, diese Entflechtungsdebattebedeutet nur, dass sich der Bund aus der Finanzierungder außeruniversitären Forschung zurückzieht
und sie den Ländern, die ohnehin kein Geld haben, aufdie Augen drückt. Dadurch wird sich die wirtschaftlicheEntwicklung in Deutschland zusätzlich verschlechtern.
Ich kann nur sagen: Herr Stolpe, wir brauchen eine kom-petente Administration. Das wissen wir auch aus unse-ren Regierungserfahrungen bis 1998. Es ist notwendig,dass es eine Stabsstelle, einen Staatssekretär und einenMinister gibt, der für den Aufbau Ost zuständig ist, da-mit nicht jeder vom Thema Eigenheimzulage bis zurVerwendung der GA-Mittel kreuz und quer quatschenkann. Eine halbe Abteilung in Herrn Stolpes Bundesmi-nisterium, eine halbe in Herrn Clements Ministeriumund eine halbe Stelle im Kanzleramt – das kann es nichtgewesen sein. Wir müssen den Aufbau Ost wirklich pro-fessionell angehen. Dass dies nicht geschieht, kritisiereich in dieser Debatte; denn der eine weiß nicht, was derandere tut.
Diese rot-grüne Bundesregierung – das muss ich hin-sichtlich des Aufbaus Ost sagen – ist eine Regierung dervertanen Chancen. Das stellt man fest, wenn man die Chan-cen beim Thema Hochtechnologie im Verkehrsbereich,insbesondere bezüglich der Magnetschwebebahn, Revuepassieren lässt oder wenn man den FlugzeugbaustandortDeutschland respektive neue Bundesländer unter dieLupe nimmt. Unser Herz tränt, wenn wir sehen, dass derA3XX und der A380 jetzt in Toulouse gebaut werden.Hier bestand die Möglichkeit, politisch Einfluss zu neh-men, damit wir in den neuen Bundesländern einen zu-sätzlichen Leuchtturm schaffen.
Ich kann kein privates Automobilunternehmen zwingen,dahin zu kommen und dort ein Werk zu errichten, es seidenn, man verhandelt taktisch so gut und so richtig, wieMinisterpräsident Milbradt das gemacht hat.
Die erste Aufgabe eines jeden Politikers – danach kön-nen Sie die Uhr stellen – ist Wirtschaftsförderung. Wennich meine Basis nicht in Ordnung kriege und meinenLeuten keine Zukunft geben kann, habe ich letztendlichüberhaupt keine Chance, Wirtschaftsentwicklung undAufschwung in den neuen Bundesländern zu bekom-men.Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Re-gierungskoalition, durch Ihre ganzen Regelwerke werdeich immer wieder an alte Zeiten erinnert: immer mehrDurchführungsbestimmungen, immer mehr Gesetzes-werke, immer mehr Initiativen zur Regulierung. Wirsind 1989 auf die Straße gegangen und haben gesagt:Freiheit statt Sozialismus. Und wir lassen uns von Ihnenden Sozialismus nicht durch die Hintertür wieder einfüh-ren.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Berliner Senator für Wirtschaft,
Arbeit und Frauen, Harald Wolf.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKuhn, ich finde es schon erstaunlich, mit welcher VerveSie und Ihre Fraktion in der Lage sind, über den AufbauOst zu reden und sich über die Bundesregierung zu em-pören, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass einGroßteil, eine Vielzahl der Probleme in Ostdeutschland,über die wir heute diskutieren, mit Fehlentscheidungenzusammenhängen, die unter der Bundesregierung Kohlgetroffen worden sind,
mit einer verfehlten Politik, die geglaubt hat, der AufbauOst lasse sich aus der Portokasse finanzieren, mit einerFörderung über Abschreibungen, die ganz wesentlichdazu beigetragen hat, dass Fehlinvestitionen in Betonstattgefunden haben und eben nicht in die Wachstums-kerne,
über die wir heute diskutieren.
Wenn wir heute über den Aufbau Ost diskutieren undüber die Realität in Ostdeutschland, dann ist es in der Tatso, Herr Matschie, dass es zwei Gesichter gibt: einerseitsdie Erfolge bei der Modernisierung und beim Aufbau derInfrastruktur, die Erfolge auch bei der Herausbildung in-ternational konkurrenzfähiger Wachstumskerne und in-ternational konkurrenzfähiger Regionen. Aber es gehört
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Senator Harald Wolf
andererseits genauso zur Wahrheit und zur Realität, dasswir nach wie vor eine gravierende Strukturschwächehaben – eine Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent – unddass wir eine anhaltend hohe Abwanderung vor allenDingen von jungen, gut ausgebildeten Menschen ausOstdeutschland haben. Wenn diese Entwicklung nichtgestoppt wird, wenn dieser Trend nicht aufgehaltenwird, wird er die positive Entwicklung überlagern unddann wird das Gefälle zwischen Ost und West wiedervertieft werden. Das ist das, worüber ich mir Sorgen ma-che, worüber wir reden müssen und wogegen wir Strate-gien entwickeln müssen. Ich glaube, es kann nicht in un-serem Interesse sein, eine Entwicklung zu haben, bei derder Osten vom Westen weiter abgekoppelt wird. Ichglaube, es ist im Interesse der gesamten Republik undnicht nur im Interesse des Ostens, dass in Ostdeutsch-land eine selbst tragende wirtschaftliche Entwicklungeingeleitet wird, durch die Ostdeutschland nicht aufTransfers und Subventionen in dem Maße, wie es zurzeitder Fall ist, angewiesen ist. Deshalb, glaube ich, ist esauch im Interesse des Westens und der westdeutschenBundesländer, sich intensiv mit den Fragen des Aufbausund der wirtschaftlichen Entwicklung im Osten ausei-nander zu setzen. Eine positive Entwicklung im Osten isteine Grundvoraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeitund Konkurrenzfähigkeit des Standortes Deutschlandinsgesamt.
Deshalb, glaube ich, brauchen wir in der Tat einenneuen Entwicklungsschub in Ostdeutschland, brauchenwir eine Neubestimmung der Politik in und für Ost-deutschland. Das heißt auch, dass wir für Ostdeutschlandweiterhin Sonderregelungen brauchen – wir haben jaschon jetzt Sonderregelungen – und dass wir weiterhineinen Standortvorteil für Ostdeutschland brauchen, weilOstdeutschland nur so entsprechend aufholen kann.Was wir allerdings nicht gebrauchen können, sindDiskussionen, wie sie in den letzten Wochen geführtwurden, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Zusagenüber Förderungen wie zum Beispiel der GA-Mittel ha-ben aufkommen lassen. Ich bin sehr froh darüber, dassMinister Stolpe heute von dieser Stelle aus eine Klarstel-lung hierzu getroffen hat und dass die Koalitionsfraktio-nen in ihrem Antrag eine klare Position beziehen. Ichhoffe, dass auch das Bundeskabinett in seiner Sitzungam 23. Juni endgültig eine klare Stellung beziehen wird.Denn wir brauchen Planungssicherheit und Verlässlich-keit. Das sind die Grundvoraussetzungen, wenn wir übereine Neuausrichtung und eine Kurskorrektur beim Auf-bau Ost diskutieren.Die Antwort auf die Forderung, wir müssten von derso genannten Gießkannenpolitik abkommen – das war inOstdeutschland in den letzten Jahren schon immer mehrder Fall –, kann nicht sein, dass wir auf das Wasser ver-zichten. Vielmehr muss der Fördermittelstrom gezieltereingesetzt werden. Darüber müssen wir eine Diskussionführen.
Heute besteht zwischen allen Fraktionen und allenParteien Übereinstimmung darüber, die Vergabe vonFördermitteln auf die Wachstumskerne zu konzentrie-ren. Meiner Meinung nach kann das aber nur ein Teil derAntwort sein. Wenn man sich von einer flächendecken-den Förderpolitik zurückzieht, die alle Regionen gleich-mäßig bedenkt, muss eine Perspektive für die Regionenin Ostdeutschland formuliert werden, die nicht zu denWachstumsregionen gehören. Wir müssen deutlich ma-chen, dass es sich nicht um einen ungeregelten Anpas-sungsprozess handelt, sondern dass es gleichzeitig eineRegionalplanung und -förderung geben wird, durch dieder Schrumpfungsprozess sozialverträglich gestaltetwird, und dass diesem gegebenenfalls sogar positiveElemente abgewonnen werden können. Das muss die an-dere Seite der Medaille sein, wenn wir die Investitions-förderung richtigerweise auf die Wachstumskerne kon-zentrieren wollen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen für Ost-deutschland auch weiterhin Sonderregelungen, zum Bei-spiel im Steuerrecht. Wir könnten zum Beispiel der noto-rischen Eigenkapitalschwäche von kleinen undmittleren Unternehmen in Ostdeutschland begegnen, in-dem wir die Verbreiterung der Eigenkapitalbasis durchNichtentnahme von Gewinnen steuerlich begünstigen.Das wäre, wie ich glaube, ein wichtiger Schritt zur Stär-kung der Basis von kleinen und mittelständischen Unter-nehmen in Ostdeutschland und damit von Ostdeutsch-land insgesamt.Wir müssen auch über regional begrenzte Sonderre-gelungen in den Grenzgebieten zu den neuen Beitritts-ländern der Europäischen Union nachdenken. Diesemüssten sowohl Regelungen zur Freizügigkeit als auchsteuerliche Vergünstigungen enthalten, damit die regio-nalen Kooperationsmöglichkeiten besser genutzt wer-den.Die Forderung nach einer Förderung von Wachstums-kernen basiert auf der Erkenntnis, dass OstdeutschlandsZukunft von der Entwicklung der modernen hoch pro-duktiven Sektoren in diesen Regionen abhängt. Dabeigeht es um Innovation und nicht um Niedriglohn. Sie,meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wissendoch, dass die Realität in den ostdeutschen Ländernheute bereits so aussieht, dass in einer Vielzahl von Be-trieben Billiglöhne gezahlt werden und dass es, wenn dieUnternehmen es wollen, häufig möglich ist, Arbeits-kräfte für unter 5 Euro pro Stunde zu beschäftigen undsie schnell zu feuern. Leider sind die Kräfte des Marktesoft stärker als Flächentarifverträge und leider oft auchstärker als die Gesetze. Trotz dieser Realität mit einembestehenden Niedriglohnsektor – ich finde, sie ist bekla-genswert – ist der Aufbau Ost nicht weiter vorangekom-men.
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,Sie wollen die schwierige Lage in Ostdeutschland dazunutzen, um Dumping, Niedriglöhne und Sozialabbau in
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Senator Harald Wolf
der gesamten Republik durchzusetzen. Dagegen mussman sich wehren. Das nutzt nämlich auch dem Ostennichts. Denn je niedrigere Einkommen in den Wachs-tumssektoren gezahlt werden, desto schwächer fällt dieNachfrage nach einfacher Arbeit aus und umso geringersind die Aussichten, Arbeitsplätze für gering Qualifi-zierte zu schaffen.
Ein Ausbau des Billiglohnbereichs nützt dem Ostennichts, sondern schadet ihm. Niedrige Löhne im Ostenverleiten die Menschen geradezu, in die Wachstumsre-gionen nach Westdeutschland zu gehen. Sie leiten damiteinen Teufelskreis ein. Das ist das Gegenteil von dem,was Ostdeutschland braucht.Meine Damen und Herren, es muss in Ostdeutschlandeinen Neuanfang geben. Angesichts der Schwierigkeitendes Strukturwandels brauchen wir dazu Realismus undvor allen Dingen einen langen Atem. Ich glaube, es wäreein großer Erfolg, wenn es uns gelingen würde, die wirt-schaftliche und soziale Lage in den nächsten zwei bisdrei Jahren zu stabilisieren und den Abwanderungspro-zess aus Ostdeutschland zu stoppen. Das wäre das Signaldafür, dass die Menschen in Ostdeutschland wieder Ver-trauen in ihre Zukunft, in ihr Land und in ihre Regiongefasst haben.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludwig Stiegler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
Ende dieser Debatte möchte ich für die SPD-Bundes-
tagsfraktion festhalten, dass wir, Ost und West, zusam-
mengehören. Wir feiern die Einheit und stehen auch im
Alltag dazu. Wir verwahren uns dagegen, dass Sie Ost
gegen West und umgekehrt aufhetzen.
Ich bin Manfred Stolpe dankbar, dass er immer wie-
der betont: Problemregionen gibt es in ganz Deutsch-
land. Wir lösen die Probleme in ganz Deutschland und
jagen die Menschen nicht gegeneinander. – Mit Ihren Ei-
fersüchteleien können Sie in den Wahlkreisen Punkte
machen. Die CSU in Bayern kann gegen den Osten
schimpfen und Sie können in den Wahlkreisen auf den
Westen schimpfen.
Geholfen ist damit aber niemandem. Lasst uns zusam-
men unser gesamtdeutsches Problem lösen.
Ich bin als Wessi für den Aufbau Ost zuständig und
betone für die SPD-Fraktion: Wir halten mit den Kolle-
ginnen und Kollegen der Landesgruppe Ost zusam-
men, aber auch mit denen, die im Ruhrgebiet oder an-
derswo Probleme haben. Es versucht hier niemand, sich
auf Kosten des anderen zu profilieren, weil wir nur ge-
meinsam Erfolg haben werden.
– Ja, das ist sehr richtig. Dann müssen Sie aber andere
Reden halten.
Herr Professor Milbradt, Ihre Rede hätte mich fröhli-
cher gestimmt,
wenn Sie deutlich gemacht hätten, dass vieles, was Sie
zu Hause – in Dresden, Leipzig und sonst wo – feiern,
zur Hälfte und mehr vom Bund finanziert wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
– Ja, Sie haben sich aber wie ein Kind bedankt, das dieZähne zusammenbeißt, wenn es Danke sagen oder sichentschuldigen muss. So sieht die Begeisterung hier aus.
Man muss einmal vergleichen, wie die Kolleginnen undKollegen aus dem Osten ihre Aufbauleistungen in denjeweiligen Ländern in den Wahlkämpfen zu Hause prei-sen und rühmen und wie sie nur noch Not und Elend se-hen, kaum dass sie die heimatlichen Gefilde verlassenhaben und in Berlin angekommen sind. Das grenzt anBewusstseinsspaltung. Hüten Sie sich!
Herr Milbradt, Sie sollten sich bei Herrn Stolpe fürdie Verkehrsinfrastruktur und bei Edelgard Bulmahn fürdie Forschung und Entwicklung bedanken. Gerade IhreHightechindustrie wäre ohne das wirklich engagierteEintreten von Edelgard Bulmahn gar nicht denkbar ge-wesen.
– Da könnt ihr ruhig lachen, ihr habt ihnen nichts gege-ben. Ihr habt Steuervergünstigungen für Grundstücks-spekulanten und Abschreibungskünstler finanziert und
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Ludwig Stiegleruns Schulden hinterlassen. Das war euer Aufbauwerk inden acht Jahren.
Meine Damen und Herren, wenn wir das zusammenmachen, dann sollen wir auch gemeinsam zu den Erfol-gen stehen. Ich halte für die SPD-Bundestagsfraktion amEnde fest: Wir, meine Fraktion und auch die Koalition,stehen zum Solidarpakt. Wer hier daran zweifelt, der re-det wider besseres Wissen und verunsichert die Men-schen unnötig.
Wir stehen zu diesem Solidarpakt.
Diese Koalition steht auch zur Gemeinschaftsauf-gabe.
– Seien Sie vorsichtig! – Es waren die Herren Minister-präsidenten, die sie vor Jahren einmal abschaffen woll-ten. Es waren diese Koalition und diese Bundestagsfrak-tion, die die Beschlüsse gefasst haben, dass die GAerhalten bleibt. So sieht die Situation aus. Das ist dieWahrheit.
Ich unterstütze Manfred Stolpe bei seinen Bemühun-gen zur Lösung der gegenwärtigen Probleme.
Sie sind weiß Gott seltsame Leute: Im Bundesrat verwei-gern Sie sich Maßnahmen für Steuermehreinnahmen,aber fordern pausenlos Mehrausgaben und dazu einenSparhaushalt. Das ist die Kubatur des Zirkels, die Siehier veranstalten. Wer daran glaubt, der gehört in diePsychiatrie, aber nicht hierher.
Nun hat aber Professor Milbradt in einem Punktdurchaus Recht: Wir haben derzeit bei der Abwicklungder GA Probleme. Da kneift es und daran müssen wir ar-beiten. Es ist das System der GA, dass die Mittel für dieZukunft gebunden werden und die Barmittel in jedemJahr ausgezahlt werden. Im Zuge des Koch/Steinbrück-Konzepts und auch anderer Dinge gibt es aber im Ver-hältnis zu den Barmitteln Probleme. Es wäre falsch, daszu leugnen. Ich sage Ihnen aber zu: Dieser Antrag be-deutet auch, dass wir uns bemühen, diese Probleme zulösen. Wir wollen nicht, dass Investitionen aufgrund die-ser Situation scheitern oder behindert werden. Dabeikönnen Sie sich auf unsere Unterstützung verlassen.
Helfen Sie uns mit Ihren Haushältern und in Ihren Län-dern! Helfen Sie uns auch dabei, ungerechtfertigte Sub-ventionen abzubauen! Dann brauchen wir nicht so sehrim Haushalt herumzukratzen.
Wir werden Manfred Stolpe und auch unsere Kolle-ginnen und Kollegen dabei unterstützen. Herr ProfessorMilbradt, ich hoffe, dass wir alsbald die notwendigeKlarheit schaffen. Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht.Diese Weisheit haben wir aber nicht erst von Ihnen ver-nommen, sondern von unserem Kollegen SiegfriedScheffler und auch von anderen Kollegen schon vor Wo-chen gehört. Auch Manfred Stolpe hat es allen, die eshören wollten, und auch denen, die es nicht hören woll-ten, gesagt.Wir haben aber auch unsere praktischen Aufgaben er-ledigt. Für die Probleme der vielen kleinen und mittlerenUnternehmen, die – aus welchen Gründen auch immer –mit ihrer Eigenkapitaldecke am Ende sind, hat dieseKoalition seit dem 1. März mit dem Programm Unter-nehmerkapital der KfW eine Antwort gefunden. Ichwar erst gestern mit Dr. Danckert bei Hunderten vonMittelständlern in Brandenburg und mit Uwe Küster inMagdeburg, wo wir die Programme vorgestellt haben.Damit wird diesen Unternehmen geholfen. Lassen Sieuns zusammen mit den Banken und der KfW dafür sor-gen, dass die Unternehmen wachsen können. Das leistenwir. Das ist mindestens genauso wirksam wie die GA.
Ich bedanke mich bei Manfred Stolpe für seinen Ein-satz, der weiß Gott nicht immer leicht ist. Das könnenauch Sie einmal anerkennen. Viele von Ihnen profitierendavon, dass er Ihnen hilft. Aber Sie sind ein undankbaresVolk; das muss man einmal sehen.
Wenn man laufend in die Hand, die einem Futter gibt,pickt, dann bekommt man irgendwann nichts mehr. Dassollten Sie zur Kenntnis nehmen.Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegenunserer Fraktion, dass wir die Einheit auch in der Koali-tion leben und zusammenhalten. Mit Mut und Zuver-sicht, nicht mit Ihren Jeremiaden, werden wir es schaf-fen.
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Jetzt müssen nur noch alle wissen, was eine Jeremiadeist. – Damit sind wir am Ende der Rednerliste.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/3047 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf des Bundesrates zur Änderung des Bundesnatur-schutzgesetzes auf Drucksache 15/776. Der Ausschussfür Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit emp-fiehlt auf Drucksache 15/2956, den Gesetzentwurf abzu-lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von CDU/CSUabgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Ge-schäftsordnung die weitere Beratung.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 15/3201, 15/3202 und 15/3203 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zu den Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte. Interfraktionell ist vereinbart,den Tagesordnungspunkt 26 a von der Tagesordnung ab-zusetzen. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.Dann ist so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 26 b bis 26 gsowie die Zusatzpunkte 6 a bis 6 g auf:26 b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung desSozialgerichtsgesetzes– Drucksache 15/2722 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Rechtsausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zurÄnderung des Futtermittelgesetzes– Drucksache 15/3170 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 14. Mai 2003 zwischen der Bun-desrepublik Deutschland und der RepublikPolen zur Vermeidung der Doppelbesteuerungauf dem Gebiet der Steuern vom Einkommenund vom Vermögen– Drucksache 15/3171 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschusse) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 8. Juli 2003 zwischen der Regie-rung der Bundesrepublik Deutschland undder mazedonischen Regierung über sozialeSicherheit– Drucksache 15/3172 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendf) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 14. Oktober 2003 überdie Beteiligung der Tschechischen Republik,der Republik Estland, der Republik Zypern,der Republik Lettland, der Republik Litauen,der Republik Ungarn, der Republik Malta,der Republik Polen, der Republik Slowenienund der Slowakischen Republik am Europäi-schen Wirtschaftsraum– Drucksache 15/3173 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
FinanzausschussAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungsweseng) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demFakultativprotokoll vom 25. Mai 2000 zumÜbereinkommen über die Rechte des Kindesbetreffend die Beteiligung von Kindern an be-waffneten Konflikten– Drucksache 15/3176 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Auswärtiger AusschussVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeZP 6a)Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines … Gesetzes zur Änderung derBundesnotarordnung– Drucksache 15/3147 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 7. April 2003 zwischen der Re-gierung der Bundesrepublik Deutschland undder Regierung der Tunesischen Republik überdie Zusammenarbeit bei der Bekämpfung vonStraftaten von erheblicher Bedeutung– Drucksache 15/3177 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Rechtsausschuss
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmerc) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde-rung von Wagniskapital– Drucksache 15/3189 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeitd) Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenKlimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUDen Tourismus stärken – Chancen der EU-Er-weiterung nutzen– Drucksache 15/3192 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
Auswärtiger AusschussInnenausschusRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten GabrieleLösekrug-Möller, Annette Faße, Brunhilde Irber,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENInternationale Richtlinien für biologische Viel-falt und Tourismusentwicklung zügig umset-zen– Drucksache 15/3219 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Tourismusf) Beratung des Antrags der Abgeordneten DirkNiebel, Rainer Brüderle, Daniel Bahr ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPVerschiebung des Zeitpunktes für das In-Kraft-Treten des Vierten Gesetzes für mo-derne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
auf den 1. Januar 2006
– Drucksache 15/3105 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussg) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungSelbstverpflichtungserklärung der DeutschenPost AG zur Erbringung bestimmter Post-dienstleistungen– Drucksache 15/3186 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagenan die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüssezu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/3176– Tagesordnungspunkt 26 g – soll zusätzlich an den Aus-schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowiean den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäreHilfe überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 27 abis 27 l sowie Zusatzpunkt 7. Es handelt sich um die Be-schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra-che vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 27 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Regelung von Rechtsfragen hinsichtlichder Rechtsstellung von Angehörigen der Bun-deswehr bei Kooperationen zwischen der Bun-deswehr und Wirtschaftsunternehmen sowiezur Änderung besoldungs- und wehrsoldrecht-licher Vorschriften– Drucksache 15/2944 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-gungsausschusses
– Drucksache 15/3124 –Berichterstattung:Abgeordnete Rolf KramerThomas KossendeyWir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungs-ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 15/3124, den Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung einstimmig angenommen worden.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Sie dürfen sich erheben, wennSie zustimmen wollen. – Stimmt jemand dagegen? –Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritterLesung einstimmig angenommen worden.
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10074 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerTagesordnungspunkt 27 b:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom9. September 2002 über die Vorrechte und Im-munitäten des Internationalen Strafgerichts-hofs– Drucksache 15/2723 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-gen Ausschusses
– Drucksache 15/3217 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Christoph ZöpelDr. Wolfgang BötschDr. Ludger VolmerHarald LeibrechtWir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-schuss empfiehlt auf Drucksache 15/3217, den Gesetz-entwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Auch dieserGesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden.Tagesordnungspunkt 27 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Protokoll vom 16. Mai 2003 zum Inter-nationalen Übereinkommen von 1992 über dieErrichtung eines Internationalen Fonds zurEntschädigung für Ölverschmutzungsschäden– Drucksache 15/2947 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 15/3215 –Berichterstattung:Abgeordnete Dirk ManzewskiDr. Günter KringsJerzy MontagRainer FunkeWir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 15/3215, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ichbitte Sie um das Handzeichen, wenn Sie dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen. – Gibt es Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Auch dieser Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,wenn Sie bei Ihrem eben geäußerten Abstimmungsver-halten bleiben wollen. – Gibt es Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mitden Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.Tagesordnungspunkt 27 d:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung von Vorschriften über die Ent-schädigung für Ölverschmutzungsschädendurch Seeschiffe– Drucksache 15/2949 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 15/3220 –Berichterstattung:Abgeordnete Dirk ManzewskiDr. Günter KringsJerzy MontagRainer FunkeWir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 15/3220, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Ich bitte Sie um das Handzeichen,wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Gibtes Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenom-men worden.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wennSie zustimmen wollen. – Gibt es Gegenstimmen? – Gibtes Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Le-sung einstimmig angenommen worden.Tagesordnungspunkt 27 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu derVerordnung der BundesregierungVerordnung zur Änderung der Versatzverord-nung und zur Zweiten Änderung der Deponie-verordnung– Drucksachen 15/2814, 15/2886 Nr. 1, 15/3141 –Berichterstattung:Abgeordnete Petra BierwirthTanja GönnerDr. Antje Vogel-SperlBirgit HomburgerDer Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck-sache 15/2814 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD,des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU beiEnthaltung der FDP angenommen.Wir kommen nun zu den diversen Beschlussempfeh-lungen des Petitionsausschusses.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10075
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Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerTagesordnungspunkt 27 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 117 zu Petitionen– Drucksache 15/3089 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 117 ist einstimmig ange-nommen worden.Tagesordnungspunkt 27 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 118 zu Petitionen– Drucksache 15/3090 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Auch Sammelübersicht 118 ist einstimmig ange-nommen worden.Tagesordnungspunkt 27 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 119 zu Petitionen– Drucksache 15/3091 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 119 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-tionsfraktionen angenommen worden.Tagesordnungspunkt 27 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 120 zu Petitionen– Drucksache 15/3092 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 120 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSUund FDP angenommen worden.Tagesordnungspunkt 27 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 121 zu Petitionen– Drucksache 15/3093 –Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen oder Ent-haltungen? – Sammelübersicht 121 ist mit den Stimmendes ganzen Hauses angenommen worden.Tagesordnungspunkt 27 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 122 zu Petitionen– Drucksache 15/3094 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 122 ist mit den Stimmen derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stim-men der CDU/CSU und der FDP angenommen.Tagesordnungspunkt 27 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 123 zu Petitionen– Drucksache 15/3095 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 123 ist angenommen worden,diesmal mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU.Wir kommen zu Zusatzpunkt 7:Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN und der FDPDen Rechtsweg in der Regulierung des Tele-kommunikationsmarktes ändern– Drucksache 15/3218 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig angenom-men worden.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und b sowieZusatzpunkte 8 und 9 auf:6. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an derInternationalen Sicherheitspräsenz im Ko-sovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfel-des für die Flüchtlingsrückkehr und zur mili-tärischen Absicherung der Friedensregelungfür das Kosovo auf der Grundlage der Resolu-tion 1244 des Sicherheitsrats der Ver-einten Nationen vom 10. Juni 1999 und desMilitärisch-Technischen Abkommens zwi-schen der Internationalen Sicherheitspräsenz
und den Regierungen der Bundesre-
publik Jugoslawien und der Republik Serbienvom 9. Juni 1999– Drucksachen 15/3175, 15/3235 –Berichterstattung:Abgeordnete Gert Weisskirchen
Dr. Friedbert PflügerDr. Ludger VolmerDr. Werner HoyerBericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 15/3236 –Berichterstattung:Abgeordnete Lothar Mark
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10076 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerHerbert FrankenhauserDietrich AustermannAntje HermenauJürgen Koppelinb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoyer, Daniel Bahr
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDPStatus des Kosovo als EU-Treuhandgebiet– Drucksache 15/2860 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten GernotErler, Gert Weisskirchen , RainerArnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD sowie der Abgeordneten WinfriedNachtwei, Dr. Ludger Volmer, Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENFortsetzung und Anpassung der Arbeit der In-ternationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo– Drucksache 15/3204 –ZP 9 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck,Christian Schmidt , weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSUDer Kosovopolitik eine Perspektive geben– Drucksache 15/3188 –Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-schusses werden wir später namentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstder Herr Bundesminister der Verteidigung, Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte zunächst zu einem aktuellen Vorgang im Zu-sammenhang mit der Berichterstattung in der heutigenAusgabe einer großen Boulevardzeitung Stellung neh-men. Wenn eine große Boulevardzeitung über Bilderfolternder deutscher Soldaten berichtet, die sie nichtkennt, die ihr nicht vorliegen und die es nach allem,was unsere Überprüfungen bis zur Stunde ergeben ha-ben, nicht gibt, dann entlarvt das diesen angeblichenEnthüllungsjournalismus.
Es ist unfair gegenüber unseren Soldaten, die imKosovo weiß Gott einen schweren Dienst leisten. Ichdanke ausdrücklich allen Medien, die sich an dieserKampagne nicht beteiligt oder sie richtig gestellt haben.
Allerdings kann ich mir eine Bemerkung gegenübereiner Kollegin aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktionnicht ersparen. Ich meine die Kollegin Oßwald, die mirpersönlich nicht bekannt ist und die offenbar auch nichtsmit Verteidigungspolitik zu tun hat. In der heutigen Aus-gabe der „FAZ“ heißt es dazu:Ohne nähere Angaben zu dem Fall machen zu kön-nen, äußerte sich die Bundestagsabgeordnete Oßwald
„zutiefst entsetzt und schockiert über das un-
menschliche Verhalten deutscher Soldaten“.
Die Folterbilder – die ihr nach Angaben ihres Bürosaber nicht vorlagen – seien eine „Kriegserklärungan die Grundwerte der Demokratie“.Das ist eine Unverschämtheit. Sie sollte sich bei den Sol-datinnen und Soldaten entschuldigen.
Ich möchte noch etwas zur Sache sagen. Es hat amDienstag einen Anruf im Ministerium gegeben, in demder Anrufer behauptete, er habe Bilder, die folterndedeutsche Soldaten zeigten. Die zweite Version war, erkenne jemanden, der solche Bilder habe. Die dritte Ver-sion war, ihm seien Bilder per E-Mails zugegangen,die er aber für eine Fälschung halte. Aufgefordert,diese E-Mails dem Führungsstab des Heeres zur Verfü-gung zu stellen, hat er sich nun eingelassen, er habediese E-Mails gelöscht.
Das ist die Basis, auf der diese ungeheuerlichen Vor-würfe erhoben werden. Dennoch habe ich nach dem ers-ten Anruf angeordnet, dass noch einmal alle Vorgesetz-ten der betreffenden Zeit befragt werden. Diese Prüfunghat bis zur Stunde nichts dergleichen ergeben und ich binsicher, dass sie auch nichts ergeben wird.
Herr Kollege Schmidt, ich brauche auch nicht IhreBelehrung, wie ich zu verfahren habe, zumal dann nicht,wenn ich Ihnen gestern in der Obleuterunde über diesenVorfall berichtet habe und Ihnen gesagt habe, was ichveranlasst habe.
So viel zu einer Berichterstattung über nicht vorhan-dene Bilder. Im Interesse unserer deutschen Soldatinnen
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Bundesminister Dr. Peter Struckund Soldaten sage ich: Sie haben es nicht verdient, indieser Weise diskreditiert zu werden.
Nun zum Thema Kosovo und zur Fortsetzung desMandates. Das Kosovo ist, wie wir alle Mitte März die-ses Jahres sehen konnten, noch sehr weit von einer sichselbst tragenden Stabilität entfernt. Eine weitere militäri-sche Unterstützung der politischen Bemühungen umFrieden und gesellschaftliche Normalisierung ist unver-zichtbar. Niemand kann ein Interesse daran haben, dassdas Kosovo ein failed state und damit zum Ausgangs-punkt organisierter Kriminalität und regionaler Destabi-lisierung wird. Es gibt zur konsequenten Unterstützungdes Kosovo sowie des gesamten Balkans auf dem Wegzurück nach Europa keine Alternative. Es bleibt – in an-deren Worten – eine politische Gestaltungsaufgabe vonhistorischer Dimension, der sich die internationale Ge-meinschaft und gerade wir Europäer uns weiterhin stel-len müssen.Die Gesamtbilanz der vergangenen fünf Jahre im Ko-sovo ist allerdings überwiegend positiv. Das dürfen wirtrotz der Ereignisse im März dieses Jahres nicht verges-sen. Der größte Teil der Flüchtlinge ist zurückgekehrt.Verwaltungsstrukturen wurden aufgebaut und Wahlenwerden durchgeführt. Allerdings ist das Risiko einer Es-kalation im Kosovo nach wie vor gegeben. Dadurchbleibt die weitere gesellschaftliche und politische Ent-wicklung massiv gefährdet. Nährboden für Gewalt sinddie nach wie vor unbefriedigenden wirtschaftlichen Be-dingungen, hohe Arbeitslosigkeit sowie insbesonderedie fortbestehenden interethnischen Spannungen.Die Unruhen im März haben teilweise Zweifel ge-weckt, ob der aktuell verfolgte politische Ansatz, wie erin der VN-Sicherheitsresolution 1244 festgeschriebenist, weiterhin richtig ist. Er lässt den künftigen Status desKosovo unter Betonung der territorialen Integrität Jugos-lawiens bewusst offen, definiert aber die inhaltlichen Vo-raussetzungen und Standards für eine mögliche spätereEntscheidung über den endgültigen Status. Ich möchtebetonen: Die Erfüllung gewisser demokratischer undrechtsstaatlicher Standards muss Voraussetzung für dieEröffnung der für das Jahr 2005 vorgesehenen Statusver-handlungen bleiben. Darin sind sich die Vereinten Natio-nen, die NATO und die Europäische Union einig.
KFOR, die Kosovo-Forces, sind integraler Teil eineslangfristig angelegten Konsolidierungskurses für dasKosovo unter Führung der Vereinten Nationen. DieKFOR-Kräfte sind unverzichtbar zur Gewährleistungeines sicheren Umfeldes und zur Unterstützung der imKosovo tätigen internationalen Organisationen. Das giltauch im Hinblick auf die im Oktober geplanten Wahlen.Aus den Unruhen im März müssen aber Konsequen-zen gezogen werden, national und international. Die Zu-sammenarbeit zwischen den zivil Handelnden und denmilitärisch Handelnden muss verbessert werden. Es istauch zwingend notwendig, die richtigen Schlussfolge-rungen für die Bundeswehr zu ziehen. Wir sind mit rund3 900 Soldatinnen und Soldaten der größte Truppenstel-ler im Kosovo und wir haben dementsprechend eine be-sondere Verantwortung.Zunächst möchte ich feststellen: Durch die rascheTruppenverstärkung im März mit über 2 000 Soldatenaufseiten von KFOR, darunter 600 Soldaten der Bundes-wehr aus Hagenow, ist es gelungen, die Situation zu be-ruhigen. Auch im Hinblick auf Presseveröffentlichungenwill ich hier noch einmal ausdrücklich sagen: Vorwürfe,die Bundeswehr habe die internationale Polizei im Stichgelassen, sind nachweislich falsch und eine Herabset-zung der Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten.
Unsere Soldatinnen und Soldaten haben Menschenle-ben gerettet in der Stadt Prizren, und zwar in der Kircheund im Kloster. Es ist uns nicht gelungen, das Verbren-nen der kirchlichen Gebäude zu verhindern. Aber es warwichtig, dass wir Menschenleben gerettet haben.
Die meisten Soldaten leisten einen hervorragendenDienst. Es ist ihrer Professionalität und Besonnenheit zuverdanken, dass die fragile Stabilität dort überhaupt Be-stand hat. Ich bin stolz auf das, was die Soldaten imDienst für den Frieden im Kosovo tun. Auch der Deut-sche Bundestag kann das sein.
Wir müssen trotzdem prüfen, was militärisch erfor-derlich ist. Klar ist, dass die Aufklärung durch Nachrich-tendienste nicht funktioniert hat. Alle wurden durch denUmfang der ausgebrochenen Gewalttaten überrascht,nicht nur die deutschen Soldaten, sondern auch die Part-nernationen bei KFOR. Dieser Mangel muss behobenwerden.Klar ist auch, dass unseren Soldaten Eskalationsein-dämmungsmöglichkeiten unterhalb der Schwelle desSchusswaffengebrauchs fehlen. Es ist für die Soldatenein nicht hinnehmbarer Umstand, dass die einzige Mög-lichkeit, bei einer Unruhe tätig zu werden, die Abgabevon Warnschüssen in die Luft ist, worauf die Demon-stranten mit Beifall reagieren. Damit sind die Möglich-keiten der Bundeswehr erschöpft. Das heißt, die Ein-dämmung ziviler Unruhen bleibt natürlich vordringlicheine Polizeiaufgabe; aber KFOR kann subsidiär gefor-dert sein, um Demonstranten auf Distanz zu halten undUnruhen zu kontrollieren.Ich bin der Meinung – das will ich ausdrücklich beto-nen –, dass der Einsatz von nicht letalen Wirkmitteln inmanchen Situationen unerlässlich erscheint, um massivezivile Unruhen kontrollieren zu können, ohne denGrundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verletzen. Ich bin
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Bundesminister Dr. Peter Struckdeshalb bestrebt, in Abstimmung mit den anderen Res-sorts – die Federführung liegt beim Auswärtigen Amt –die rechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz von sol-chen Mitteln, also von Reizgasen, durch die Bundeswehrzu schaffen.
Ich habe darüber hinaus angeordnet, die Anzahl derAusstattungssätze für riot control – Unruhekontrolle –,also Schild, Stock, Helm, Körperschutzausstattung,Flammen hemmender Schutzanzug, zu erhöhen, sodassdann alle operativen Einsatzkräfte der Bundeswehr imKosovo damit ausgestattet sind.Abschließend möchte ich betonen: Die Präsenz vonKFOR ist unabdingbar. Ich bedanke mich bei den Frak-tionen des Deutschen Bundestages, dass sie offenbareinen fraktionsübergreifenden Beschluss fassen. Daraufhaben die Soldatinnen und Soldaten einen Anspruch.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian
Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Herr Bundesminister, die Opposition erteilt Ih-nen keine Belehrungen – ab und zu ist es vielleicht not-wendig, dass die Opposition der Regierung Belehrungenerteilt –; allerdings bitte ich Sie darum, das umgekehrtauch nicht zu tun, vor allem bei einem so wichtigenThema.Bei diesen Nachrichten, die ich für falsch halte, fürdie es meines Erachtens keinen Grund gibt und die wohl,aus welchen interessierten Kreisen auch immer, zu einerVerleumdung der Bundeswehr beitragen sollen, mussman eines schon erwarten, nämlich Aufklärung. Eigent-lich wollte ich Ihnen dafür danken, dass Sie damit be-gonnen haben, die Dinge wirklich aufzuklären. Das istwichtig, gerade für die Bundeswehr. An der Bundeswehrdarf kein Makel bleiben. Es wird kein Makel an ihr blei-ben. Die Fürsorgepflicht von uns allen und von Ihnen,Herr Bundesminister der Verteidigung, muss dazu füh-ren – das muss ebenso klar sein –, dass diejenigen, diesolche Dinge bewusst in die Welt setzen, zur Rechen-schaft gezogen werden.
Ich frage mich schon, wie das sein kann. Man be-kommt Informationen, nach denen es sich bei diesemAnrufer um einen ehemaligen Bundeswehrsoldaten han-deln soll, der fünf Jahre lang irgendwelche Bilder ir-gendwo gespeichert hat. Wenn ich mich recht entsinne,ist ein Soldat dazu verpflichtet, solche Informationen,wenn er sie denn hat, sofort an seine Vorgesetzten zumelden. Er wird keine gehabt haben und daran wird esscheitern.So wie ich das sehe, ist das ganze Haus insofern einig.Wenn nun jemand einer falschen Information oder einerfalschen Interpretation aufsitzt, dann sollten wir dasnicht weiter vertiefen.
– Meine Kolleginnen und Kollegen, Sie alle sind langegenug in diesem Hause, um zu wissen, wie jemand, derim Umgang mit Medien vielleicht noch nicht die ganzgroße Erfahrung hat – –
– Ja. Also: Ende!Um eines möchte ich Sie doch bitten, nämlich dassSie von Ihrem Versuch ablassen, einen parteipolitischenStreit in diese Frage hineinzubringen, obwohl Sie dochdaran arbeiten sollten, dass das gesamte deutsche Parla-ment hinter den Soldaten steht, die im Kosovo einenschweren Dienst leisten. Sie sollten Ihre Taktik ändern.Was Sie hier versuchen, ist unwürdig.
In einem hat der Bundesminister natürlich – ich sage:natürlich – Recht. Es gibt keine Hasen auf dem Amsel-feld, die Bundeswehruniform tragen. Es gibt Soldaten,die auf dem Amselfeld und im Kosovo ihren Dienst tunund die sich nach fünf Jahren da und dort fragen: Wiegeht es voran? Was passiert jetzt eigentlich? Was ist un-ser Dienst?Dass die schrecklichen Ereignisse vom 17./18. Märzauch dazu führen müssen, den Kosovo in den Mittel-punkt der außenpolitischen und unserer parlamentari-schen Befassung zu stellen, ist wohl wahr. Es ist ein brü-chiger Friede zwischen den Ethnien. Es ist eigentlich nurein oberflächlicher Friede. Mehr wird KFOR auch nichtleisten können. Man wird fragen müssen, ob die Ausstat-tung in Ordnung war, ob die Ausrichtung in Ordnungwar und ob die Ausbildung ausreichend war. Der Bun-desminister hat einiges dazu gesagt. Wir nehmen gernzur Kenntnis, dass das Ausführungsgesetz zum Chemie-waffenübereinkommen nicht die Notwendigkeit betrifft,Tränengas einzusetzen, um Abstand zu halten.Die Frage, die uns alle bewegt, ist: Wie kann es sein,dass es in einem so gut überwachten und so stark mitNATO-Soldaten besetzten Landstrich gelingt – offen-sichtlich über Handys, über die sehr viele in der männli-chen Bevölkerung dort unten verfügen – einen im An-satz offensichtlich genau vorbereiteten Plan zuentwickeln, ohne dass dieser aufgedeckt wird?Soldaten können – so sagt das der ehemalige Verteidi-gungsminister Volker Rühe immer – für die Politik Zeitkaufen; sie können nicht das Problem lösen. Je längerdie Zeit ist, die die Politik braucht, um ein Problem zulösen oder zumindest zu mildern, umso schwieriger wirddie Rolle der Soldaten. An diesem Punkt stehen wir seitlängerem. Soldaten haben einen Anspruch darauf, zu er-
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Christian Schmidt
fahren, was ihr Auftrag ist und dass ihr Auftrag sinnvollist. Da ist die Politik gefragt, nicht das Militär. Ich willdas ganz ausdrücklich sagen. Hier liegt doch offensicht-lich das Problem im Zusammenhang mit dem Kosovo-Einsatz. Wir müssen verhindern, dass die Politik hier ineine Sackgasse hineinfährt.Standards vor Status – dieses Prinzip, das UNMIK,die zivile Administration der Vereinten Nationen, entwi-ckelt und zum Teil umgesetzt hat, führt leider dazu, dasszum Beispiel die Privatisierung von Staatsbetrieben, diefür die wirtschaftliche Entwicklung dieses Landstrichswichtig ist, so lange nicht stattfinden kann, wie die völ-kerrechtliche Statusfrage nicht geklärt ist. Sind diese Ge-biete Teil Serbien-Montenegros, sind sie autonom odersind sie unabhängig? Ich weiß sehr wohl, dass esschwierig ist, die Resolution 1244 weiterzuentwickeln.Dazu braucht man sehr viele Mitstreiter, auch solche, diein Moskau und in Belgrad sitzen. Ich weiß auch, dasssich die serbische Haltung nicht gerade günstig entwi-ckelt. Ich kann nur hoffen, dass die Wahlen in Belgradnicht dazu führen, dass noch extremere nationalistischePositionen im Präsidentenamt Fuß fassen.Trotzdem sind wir an einem Scheideweg angelangtund müssen von der Politik verlangen – das heißt vonder internationalen Ebene, aber auch von Ihnen, HerrBundesaußenminister, und von der Bundesregierung –,dass sie das bestehende Konzept fortentwickelt. Überwirtschaftliche, soziale und, wenn Sie so wollen, militä-rische Entwicklung muss dazu beigetragen werden, dassdieser Landstrich, der mit hehren Zielen und großemAufwand befriedet werden sollte, auch wirklich befrie-det wird. Dazu ist natürlich die Beteiligung der Betroffe-nen selbst notwendig.Ich möchte bei der Gelegenheit bei allem Respekt vorden wunderbaren Leistungen, die Bundeswehrsoldatendort beispielsweise bei CIMIC, der zivil-militärischenZusammenarbeit, erbringen, schon fragen, ob es derSinn des Bundeswehreinsatzes sein kann, Infrastrukturund Gebäude, die von anderen zerstört oder niederge-brannt wurden, wieder aufzubauen. Wir müssen uns fra-gen, wie wir es schaffen können, dass sich die Bevölke-rung vor Ort selbst verantwortlich fühlt, statt dieErsatzhandlungen durch KFOR- bzw. NATO-Truppenebenso zu beklatschen wie das Abgeben von Warnschüs-sen. Sie haben ja Ihren Eindruck beschrieben. So stehtauch beim Straßenbau der Pioniere der eine oder andeream Rande und klatscht Beifall. Es muss ihm gesagt wer-den: Du selbst bist für dein Land verantwortlich.Nachdem das multiethnische Konzept ein Stück weitgescheitert ist, müssen wir uns fragen, ob hier nicht einanderer Ansatz nötig ist als der jetzige, der schon schwergenug umzusetzen ist. Ist es also notwendig, serbischeEnklaven im kosovarischen Gebiet zu sichern und nachund nach auf eine Zusammenlegung dieser zu drängen?Solche Fragen kann die Bundeswehr nicht beantworten.Die Bundeswehr hat einen Anspruch darauf, dass ihreTätigkeit, die sie dort schon seit fünf Jahren ausübt, ge-würdigt wird. Das tun wir. Sie hat auch einen Anspruchdarauf, entsprechend ausgerüstet und ausgestattet zuwerden sowie rechtliche Handhaben zu erhalten, mit de-nen sie ihrem Auftrag nachkommen kann.Sie hat aber auch einen Anspruch darauf, dass wirnicht im Geiste auf das zehnjährige Jubiläum der Prä-senz der Bundeswehr im Kosovo hinarbeiten. Vielmehrmüssen wir und die Bundesregierung alles tun, damit diemilitärische Präsenz baldmöglichst beendet werden kannund es zu einer Konstituierung von Zivilstaatlichkeit – inwelchem Rahmen auch immer – von Wirtschafts- undSozialstrukturen kommt, die zukunftsträchtig sind. Hierliegt das eigentliche Problem.Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Joschka
Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mich bei allen Fraktionen bedanken, die dem
Antrag der Bundesregierung zustimmen werden. Bei den
zuständigen Ausschüssen möchte ich mich für die faire
und intensive Erörterung bedanken, die wir im Zusam-
menhang mit den Anträgen hatten.
Ich kann nur nochmals unterstreichen, dass die Präsenz
von KFOR und damit auch der deutschen Soldaten vor
Ort unverzichtbar ist. Ich warne aber aus Ehrlichkeits-
gründen davor, Kollege Schmidt, hier mit Zeithorizonten
zu spielen – sosehr ich das verstehe –, deren Einforde-
rung angesichts der Komplexität der Problematik, auch
und gerade im Kosovo politisch belastbare, sich selbst
tragende Lösungen zu erreichen, schlicht und einfach
nicht seriös ist. Das wissen Sie auch. Ich finde es über-
haupt nicht kritisierenswert, dass wir alles tun, um die
Dauer der Präsenz unserer Soldaten im Kosovo mög-
lichst kurz zu halten; aber angesichts der Problematik,
die ich Ihnen gleich erläutern werde, sind kurze Fristen
meines Erachtens irreal. Sollten sie sich dennoch als real
erweisen, wäre die Bundesregierung sehr froh; denn das
würde bedeuten, dass in dieser Region sehr schnell eine
sich selbst tragende, politisch stabile Situation entstünde,
was wir uns alle wünschen würden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Na gut.
Vielen Dank, Herr Minister, für Ihre Großzügigkeit.
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Jürgen KoppelinDarf ich Sie fragen, ob Sie nicht bei Ihrer Rede 1999selber mit solchen Zeitfenstern gespielt haben? WennSie die Rede nachlesen würden, würden Sie genau dasfinden, was Sie jetzt bei anderen kritisieren.
Na gut, ich werde sie nachlesen.
– Was soll ich dazu jetzt sagen? Ich werde sie nachlesen;das verspreche ich Ihnen.Aber da Sie 1999 ansprechen, Kollege Koppelin: Ichhabe, ehrlich gesagt, die Frage nicht verstanden;
das muss ich ganz ehrlich bekennen. Das kommt ja vor.Ich verstehe sie nicht, weil zwischen uns über das, wasich gerade gesagt habe, überhaupt kein Dissens besteht,zumindest im Auswärtigen Ausschuss nicht.
– Ich glaube, ich habe 1999 nicht nur eine Rede zum Ko-sovo gehalten.Mir geht es um etwas anderes, Herr Kollege Koppelin.Ich bin wirklich bemüht – missverstehen Sie das nicht –,zu verstehen, worauf Sie in diesem Punkt hinauswollen.Wir haben es doch heute noch immer mit den Auswir-kungen des Auseinanderbrechens Jugoslawiens 1991und gewisser politischer Entscheidungen damals zu tun.Gott sei Dank waren wir mit einer Intervention, mit ei-nem militärischen Eingreifen erfolgreich, wobei ich mirnicht sicher bin, ob die FDP dem wirklich immer zuge-stimmt hat. Zum Beispiel in Mazedonien haben wir überdie militärische und polizeiliche Stabilisierung heute inder Tat – hoffentlich bleibt das so – eine sich selbst tra-gende, stabile Situation erreicht.
Da gibt es einen engen Zusammenhang mit dem Ko-sovo. Die Problematik im Kosovo besteht doch auch in ei-ner gewissen Verknotungssituation. Durch das Auseinan-derbrechen Jugoslawiens sind eine ganze Fülle vonStabilisierungsaufgaben entstanden. Es gibt nur eine ein-zige strategische Lösung, die weder zu einem dauerhaftenEinfrieren der Konflikte – was meines Erachtens immernoch die zweitschlimmste Lösung wäre – noch zu einemÜbereinander-Herfallen – das wäre die schlimmste Lö-sung – führt. Die Situation in dieser Region ist auch da-durch bedingt, dass etwa die Balkankriege von 1912/13durch die großen europäischen Katastrophen eingefrorenwurden, auch durch die Folgen des Zweiten Weltkriegsund die Regierung unter Tito in Jugoslawien.Jetzt – man könnte fast sagen, nach einer 80-jährigenPhase des Einfrierens – sind dieselben Konflikte wiederaufgebrochen. Deswegen muss man bei der politischenLösung die nötige Geduld aufbringen. Das kann nur be-deuten, dass auch die gesamte Region des westlichenBalkans Teil des europäischen Integrationsprozesseswird; denn ansonsten wird wieder versucht werden, dieGrenzen entlang von Nationalismus und territorialenAnsprüchen durch furchtbare Gewalttaten mit der Waffezu ziehen. Das halte ich im 21. Jahrhundert für inakzep-tabel.
Unsere Soldaten leisten in dieser Region zusammenmit anderen meines Erachtens eine unverzichtbare Ar-beit. Herr Kollege Schmidt, Sie haben völlig Recht: DieSoldaten haben einen Anspruch auf eine politische Per-spektive. Die Ehrlichkeit gebietet aber zu sagen, dass esin dieser Region eine langfristige Perspektive ist. Ichfüge hinzu: leider. Denn um einen Konsens herzustellen,brauchen wir – ich verstehe die Forderung, aber es nütztnichts, über diese Tatsache hinwegzugehen – die interna-tionalen und die regionalen Partner. Deswegen führt imProzess der Standardimplementierung – ob man für Un-abhängigkeit, Europäisierung oder welchen Status auchimmer ist – kein Weg daran vorbei, dass die Bedingun-gen im Land dafür geschaffen werden müssen. Ohne diegesellschaftlichen und demokratischen Bedingungen,die Achtung der Minderheiten und eine ökonomischeEntwicklung wird meines Erachtens eine Statusentschei-dung, egal wie sie ausfallen wird, immer auf Sand oder,noch schlimmer, auf Illusionen gebaut sein.
Deswegen ist es von entscheidender Bedeutung – dasist die erste Antwort –, dass wir mit diesem Prozessvorankommen. Wir müssen die Verwirklichung derStandards auf jeden Fall verbessern. Die Ereignisse vom17./18. März sind ein schwerer Rückschlag. Manbraucht gar nicht darum herumzureden.Der UN-Sondergesandte Harri Holkeri ist vor weni-gen Tagen aus gesundheitlichen Gründen zurückgetre-ten. Wir schulden ihm für seine Arbeit und seinen uner-müdlichen Einsatz in schwierigen Zeiten großen Dank.
Jetzt muss über seine Nachfolge entschieden werden.Diese Entscheidung, die vor uns liegt, muss meines Er-achtens unter dem Gesichtspunkt einer möglichst effek-tiven Verwirklichung der Standards getroffen werden.Die zweite Antwort. Das Jahr 2004 ist fast zur Hälftevorbei. Die Debatten über die Statusfrage haben in deninternationalen Gremien begonnen. In dieser Frage brau-chen wir einen Konsens. Der Dialog zwischen Pristinaund Belgrad muss Teil der Verwirklichung der Standardssein; denn jede Statusfrage bedingt letztendlich die Ein-beziehung der Konfliktparteien am Boden. Das heißt,ohne die Mehrheit im Kosovo, also ohne die Kosovaren,wird es nicht gehen. Pristina und auf der anderen SeiteBelgrad werden hier von entscheidender Bedeutungsein.Es wird aber auch darum gehen, einen Konsens im Si-cherheitsrat zu erreichen. Das wird nicht auf Zuruf des
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Bundesminister Joseph FischerDeutschen Bundestages geschehen. Es ist kein Geheim-nis – auch darauf sollte man einmal hinweisen –, dassRussland die Entwicklung unter dem Gesichtspunktensieht, welche Konsequenzen sich für die Unruhezonenim Kaukasus ergeben. Dort ist die Situation aufgrunddes Eskalationspotenzials noch dramatischer. Die Status-frage ist also extrem schwierig zu beantworten. Ichstimme Ihnen aber zu, dass sie beantwortet werdenmuss. Die Antwort wird meines Erachtens aber nur per-spektivisch sein. Es wird nicht so sein, dass morgen dieUnabhängigkeit ausgerufen wird oder dass das Kosovounter serbische Kontrolle gerät. Ich glaube, beides wirdnicht passieren.Wir müssen und werden auf verschiedenen Ebenenpolitisch agieren. Die Bundesregierung hat im Rahmender Kontaktgruppe, der Europäischen Union, der NATOund des Sicherheitsrates alles getan und wird weiterhinalles tun, um diese Perspektive voranzubringen.Ich wiederhole: Die Entwicklung hängt auch von derPerspektive der Nachbarstaaten ab. Die Forderung nachUnabhängigkeit für das Kosovo ist kurzschlüssig. Esstellt sich die Frage, ob diese Unabhängigkeit eine stabi-lisierende oder eher eine destabilisierende Perspektivefür die Region bedeutet. Solange nicht zweifelsfrei aus-geschlossen werden kann, dass daraus etwa eine Desta-bilisierung Mazedoniens hervorgeht, halte ich Überle-gungen in dieser Richtung nicht nur für nicht geeignet,sondern sogar auch für gefährlich. Ich bitte alle, die sol-che Überlegungen anstellen, sich dieser Konsequenzenbewusst zu sein.
Wir werden meines Erachtens an der qualitativen Sta-tusverbesserung nicht vorbeikommen. Die notwendigePersonalentscheidung ist jetzt zu treffen. Wir werdendann zusammen mit den Konfliktparteien am Bodenunter Einbeziehung der Interessen von Mazedonien,Bulgarien, Rumänien, Serbien und Albanien einen ent-sprechenden Statusansatz entwickeln müssen. Dies mussim Rahmen der Kontaktgruppe unter Berücksichtigungder Frage geschehen, ob auf der Grundlage der UN-Resolution 1244 ein neuer Konsens erarbeitet werdenkann. Ich füge hinzu, dass es sich dabei nicht um einekurzfristige Perspektive handelt.Herr Schmidt, ich versichere Ihnen: Wir wären heil-froh – das sollte nicht Gegenstand einer parteipolitischenKontroverse sein –, wenn wir auf einem Weg wie in Ma-zedonien wären. Dort können wir überwiegend zu einerPolizeimission übergehen. Aber ich glaube, das wird imKosovo wesentlich zu früh sein. Ich wäre froh, wenn wirwie in Mazedonien sagen könnten: Das Assoziationsab-kommen, das der Stabilisierung dient, ist unter Dach undFach; der Weg nach Europa und in die euro-transatlanti-schen Strukturen wird energisch beschritten. Ich mussleider hinzufügen, dass wir noch nicht ganz so weit sind.Auch wenn es schmerzhaft sein mag: Bis zu einer Än-derung des Bewusstseins und bis – da spielt Belgrad eineentscheidende Rolle – eine neue Form von konstruktivenBeziehungen zwischen der Mehrheit und der Minderheitim Kosovo gefunden wird – das bedeutet die Einbezie-hung Serbiens; denn daran lehnt sich die serbische Min-derheit im Wesentlichen an –, so lange wird eine starkeSicherheitspräsenz unverzichtbar für eine politische Lö-sung sein. Deswegen möchte ich mich im Namen derBundesregierung nochmals bei allen, die unserem An-trag zustimmen werden, bedanken.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Stinner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Auch wir, die FDP-Fraktion, werden heute derVerlängerung des KFOR-Mandates zustimmen. Auchaus unserer Sicht ist gegenwärtig eine weitere militäri-sche Präsenz im Kosovo unabdingbar. Deshalb stimmenwir heute mit dem gesamten übrigen Hause zu.
Das, was am 17. März dieses Jahres im Kosovo pas-siert ist, bedauern wir sehr stark. Wir bedauern insbeson-dere, dass es deutschen Soldaten nicht gelungen ist, dieAusschreitungen dort zu verhindern. Wir haben ja insge-samt vier Regelwerke, die die Arbeit der Soldaten dortbestimmen. Wir haben das UN-Mandat, die Befassungim Bundestag von 1999, die Rules of Engagement derNATO und deutsche Ausführungsbestimmungen, ge-nannt: Taschenkarte. Speziell nach den Ereignissen vomMärz dieses Jahres zeigt sich aus unserer Sicht sehr deut-lich, dass offensichtlich nur zwischen den ersten drei Re-gelwerken eine Kongruenz besteht. Einschränkungen fürdeutsche Soldaten bestehen insofern, als sie teilweise ge-hindert werden, Dinge zu tun, die eigentlich im Rahmenihres Auftrages notwendig wären.Ich bitte die Bundesregierung ganz herzlich, im Inte-resse des Auftrages, aber auch unserer Soldaten für zu-sätzliche Klarheit zu sorgen. Es darf nicht passieren,dass unsere Soldaten am Pranger stehen, weil eventuellAusführungsbestimmungen unterschiedlich interpretiertwerden und entsprechende Anregungen nicht gegebenwerden können. Deshalb muss hier mehr Klarheit ge-schaffen werden.
Besonders deutlich wird hier und heute: Das Kosovobraucht nicht nur eine militärische Präsenz. Das Kosovobraucht vor allen Dingen eine politische Perspektive.
Uns allen ist klar: Die drei allgemein diskutierten Optio-nen, unmittelbare Unabhängigkeit, Rückkehr zu Serbienoder aber Kantonalisierung, was Desintegration bedeu-tet, sind in Wahrheit keine wirklichen Optionen fürdieses Land. Die unausgesprochene Option Nummervier, nämlich „Weiter so wie bisher“, ist nach unserem
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Dr. Rainer StinnerDafürhalten auch keine Option, die dieses Land weiter-bringt und verdient.Deshalb sagen wir: Wir brauchen eine politische Per-spektive. Wir brauchen sie jetzt, in diesen Monaten, umklar zu machen, wohin der Weg führen soll.
Wir als FDP haben diesbezüglich einen eigenständigenAntrag mit einer klaren politischen Aussage, mit einerpolitischen Vision gestellt, nämlich mit einer EU-Treu-handschaft für das Kosovo. Das ist ein eindeutiges poli-tisches und europäisches Signal für diese Region.
Es ist natürlich unbestritten: Standards müssen erweitertund verbessert werden; das ist keine Frage. Unbestrittenist ebenfalls: Wir müssen mit allen zur Verfügung ste-henden zivilgesellschaftlichen Methoden dafür sorgen,dass im Kosovo ein Zusammenleben zwischen Serbenund Kosovaren albanischer Nationalität möglich ist.Aber wir brauchen eine politische Perspektive und dielautet: Europa.Unser Vorschlag hat eine ganze Reihe von konkretenVorteilen:Erstens. Wir beweisen damit, dass wir unsere Sonn-tagsreden, die sich damit befassen, wie wichtig diese Re-gion für uns strategisch ist, ernst nehmen.Zweitens. Wir nehmen unsere eigene, selbst gesetzteeuropäische Sicherheitsstrategie ernst, die auch dazuAussagen trifft.Drittens. Wir zeigen der Welt, dass wir als EuropäerVerantwortung für diese europäische Region überneh-men. Dieser Vorschlag, Herr BundesaußenministerFischer, ist eine komplementäre Strategie zu dem Thes-saloniki-Programm. Er ergänzt das Thessaloniki-Pro-gramm für den westlichen Balkan und ist deshalb wich-tig.Wir sind der Meinung, dass durch ein gleichmäßigesHeranführen der gesamten Region an Europa die nochbestehenden ethnischen, nationalen und religiösen Kon-flikte zunehmend weniger bedeutsam werden. Das istunsere Hoffnung. Dass es möglich ist, haben wir übri-gens in Westeuropa gezeigt, das müssen wir auch inSüdosteuropa durchsetzen.
Nur durch die klare politische Perspektive können In-vestoren, die bitter nötig sind, gewonnen werden. Last,but not least: Diese Perspektive ist aus unserer Sichtauch für Serbien der heute einzig gangbare Weg nachvorn.Wir wissen, es gibt Widerstände. Bei jeder Neuerunggibt es Widerstände, das ist völlig klar. Aber wir brau-chen hier und heute ein politisches Signal. Setzen wirgemeinsam ein zweifaches Signal. Machen wir erstensdeutlich, dass der Deutsche Bundestag bereit ist, weiter-hin für militärische Präsenz zu sorgen, indem er Solda-ten schickt und finanzielle Mittel einsetzt. Das ist not-wendig und wichtig. Das zweite Signal muss einepolitische Botschaft sein. Wir müssen deutlich machen,dass Europa treuhänderisch für diese Region tätig wirdund wir dort eine Europäisierung wollen.Wir alle wissen, dass militärische Mittel langfristigPolitik nicht ersetzen können, sie können sie nur ergän-zen. Deshalb bitte ich Sie: Lassen Sie von diesem Tageine starke Botschaft für das Kosovo und die gesamteRegion ausgehen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!Wir sind uns in zwei Dingen einig: Erstens, die interna-tionalen Sicherheitspräsenzen im Kosovo sind dringenderforderlich und, zweitens, die Lage im Kosovo ist nichtso, wie wir sie uns wünschen. Die Situation ist nicht ru-hig und stabil, sondern äußerst brüchig; wir sind weitvon dem Ziel selbsttragender demokratischer Strukturenund der Gewährleistung eines friedlichen Umfeldes fürdie Menschen entfernt.Wir sind uns darüber hinaus einig, dass die Status-frage gelöst werden muss. Dafür haben wir allerdingskeine Lösung anzubieten, die dem dringenden Hand-lungsbedarf entspricht. Deshalb werden wir uns darübernoch ein wenig länger unterhalten müssen. Ich denke,das ist wichtig.Vorhin wurde gesagt, dass alle von den Ereignissendes 17. und 18. März überrascht waren. Ich wunderemich über diese Überraschung. Selbst eine Organisationwie die International Crisis Group hat kurz nach dem18. März gesagt: Wir waren überrascht. Einen Monatspäter hat sie jedoch einen Bericht vorgelegt, der lauterIndizien für Anspannungen und wachsende Konflikteenthalten hat.Eine Gruppe, die sich Urgent Anthropology nennt– warum sie sich so nennt, weiß ich nicht –, hat vor denUnruhen in den schwierigen Gebieten des Kosovo eineUmfrage durchgeführt. Als Ergebnis der Umfrage wurdeein tiefer Hass in der Bevölkerung konstatiert. Wir müs-sen daraus eine Lehre ziehen: Wir müssen ein Frühwarn-system aufbauen. Ein solches gibt es zum Beispiel inMazedonien. Das ist eine zivile Ebene, auf der die NGOsauf der Grundlage ihrer Kontakte versuchen, bestimmteEntwicklungen sehr schnell zu erkennen. Wir müssenaber natürlich auch entsprechend politisch handeln.Minister Struck hat gesagt, dass von der militärischenSeite reagiert wird. Das ist gut, das unterstützen wir.Bezüglich des Mandats müssen noch einmal die Rules ofEngagement geprüft werden. Wir brauchen darüber hi-naus natürlich – jetzt bin ich wieder bei den Informatio-nen – eine wesentlich bessere Verknüpfung all derer, die
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Uta ZapfInformationen liefern können, um das Frühwarnsystemauch nach allen Seiten absichern zu können.Das genügt aber noch nicht, es kann nicht genügen.Der Grundsatz „Lessons learnt“ besagt mehr.Es ist schon auf die „Standards before status“-Proble-matik hingewiesen worden. Diese Problematik ist einerder Gründe dafür, warum es dort zu keiner Konfliktlö-sung kommt.Das hängt aber auch noch mit anderen Dingen wiezum Beispiel der verheerenden wirtschaftlichen Situa-tion zusammen. Die wirtschaftliche Situation ist in derTat desolat. Innerhalb des Kosovo erfolgt eine Abwan-derung in die Städte. Dort gibt es keine wirtschaftlicheEntwicklung, sondern eher einen Rückschritt. Aus derungelösten Statusfrage folgt zum Beispiel die Unmög-lichkeit, Privatisierungen durchzuführen. Die Privatisie-rung ist gescheitert. Weil die Statusfrage nicht gelöst istund keine Privatisierung stattfinden kann, gibt es keineInvestoren. Das wiederum führt zum Rückgang derWirtschaft.Das Bruttosozialprodukt im Kosovo besteht zu50 Prozent aus internationaler Hilfe. 30 Prozent werdenvon Auslandsalbanern erwirtschaftet, die wir im Übrigenimmer wieder abschieben und in ihre Heimat zurück-schicken, obwohl sie zur wirtschaftlichen Stabilisierungdes Kosovo beitragen. Auch darüber müssen wir viel-leicht einmal nachdenken. Nur 20 Prozent des Bruttoso-zialprodukts werden im Land erwirtschaftet und nur4 Prozent der Importe können von der eigenen Wirt-schaft finanziert werden. Das ist eine desolate Situation.Die Bevölkerung dort ist jung. Die Arbeitslosenquoteliegt bei 50 Prozent und jedes Jahr drängen 20 000 bis40 000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. DasGanze ist also ein Pulverfass, sodass dort hinsichtlichder sozialen und der wirtschaftlichen Entwicklungschnell etwas geschehen muss.Es gibt einen Verfall bei Bildung und Ausbildung bishin zum wachsenden Analphabetentum. Die Internatio-nal Crisis Group hat in ihrem Bericht geschrieben: Wirmüssen aufpassen, dass das nicht die Westbank Europaswird.
Wir müssen das ernst nehmen und dürfen die Lösung derStatusfrage, mit der sich ja alle schon beschäftigt haben,nicht wieder beiseite schieben. Herr Außenminister, ichweiß, dass es nicht einfach ist, aber wir müssen dieseStatusfrage so schnell wie möglich lösen.Dazu einige Zitate von Politikern aus Serbien: In demSatz von Herrn Draskovic „Kosovo ist unser Jerusalem“ist eine nationale Verhärtung zu spüren, die einen politi-schen Ansatz nur sehr schwer möglich macht. HerrZivkovic hat vor einigen Monaten vermutet, dass jungeSerben bereit seien, für das Kosovo zur Waffe zu grei-fen. Das ist auch ein alarmierendes Signal. Ich würdeversuchen, ein solches Signal ernst zu nehmen und dieProbleme schneller zu bewältigen, als die hier gezogeneLinie das erwarten lässt.Herr Stinner, was Sie über das „Nach Europa holen“sagen, klingt gut.
Ich klatsche noch nicht, denn der Teufel steckt, wie im-mer, im Detail. Nicht nur zu dem, was Herr Außenminis-ter Fischer in Bezug auf Russland und die Schwierigkei-ten bei der Veränderung der Sicherheitsratsresolution1244 angedeutet hat, sondern auch zu vielen anderenFragen müssen an dieser Stelle noch einmal Überlegun-gen angestellt werden. Der politische Prozess steht in derTat auf dem Prüfstand. Wir müssen aber auch ein biss-chen schneller machen, weil der Balkan brennt.Ich teile im Übrigen nicht ganz die Ansicht von Au-ßenminister Fischer hinsichtlich der Auswirkungen derUnabhängigkeit auf Mazedonien. Ich glaube eher, dassMazedonien sich insbesondere nach den Präsident-schaftswahlen und nachdem sich erwiesen hat, welchepolitische Position die Ahmeti-Partei einnimmt, in ei-nem sehr guten, rationalen Stabilisierungsprozess befin-det. Die Umsetzung der Ohrid-Modelle wird sehr ernstgenommen. Deshalb glaube ich nicht, dass man sichgern ein Problemkind einhandeln würde oder dass die al-banischen Gebiete zu Mazedonien streben würden. Al-lerdings müssen wir natürlich alle Möglichkeiten imAuge behalten, wo neue Konflikte entstehen könnten.Ich kann hierfür keine Lösung anbieten, glaube aber,dass auch Ihre Lösung nicht perfekt ist.Ich finde, wir alle sollten uns in sehr naher Zukunftgemeinsam und ernsthaft mit der Frage beschäftigen,welche Initiativen von uns bzw. der BundesrepublikDeutschland ausgehen müssen und können; denn auchwir könnten den Sicherheitsrat auf die Notwendigkeithinweisen, die Resolution 1244 zu verändern. Das heißt,dass wir die europäische Perspektive nicht aus den Au-gen lassen, dass wir vielmehr, was die Beteiligung ande-rer an diesem Prozess betrifft, die europäische Realitäteinbeziehen. Europa allein wird ihn wahrscheinlich nichtschultern können.Danke.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Freiherr zuGuttenberg.Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg
:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Bundesminister Struck, seit eben liegt mirdie Pressemitteilung der Kollegin Oßwald vor, aus derich Ihnen vorlese:Ich bin zutiefst entsetzt und schockiert über die an-geblichen Bilder von Folterungen seitens deutscherSoldaten im Kosovo.
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Karl-Theodor Freiherr von und zu GuttenbergNun lese ich Ihnen das entsprechende Zitat aus der„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vor; denn dort heißtes, dass sich die Bundestagsabgeordnete Oßwaldzutiefst entsetzt und schockiert über das unmensch-liche Verhalten deutscher Soldatengeäußert habe.Herr Bundesminister, das wurde von der „FAZ“schlechterdings falsch zitiert.
Die Kollegin Oßwald spricht sich schockiert über die an-geblichen Bilder und nicht über das unmenschliche Ver-halten deutscher Soldaten aus. Das ist ein falsches Zitat.Daher darf ich Sie, Herr Bundesminister, bitten, Ihre Äu-ßerungen zurückzunehmen.
Der Vollständigkeit halber und um wieder etwas Ruhein die Debatte zu bringen, sage ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dass auch wir die Verlängerung derPräsenz unserer deutschen Soldaten im Kosovo für un-verzichtbar halten, allerdings ebenso die jährlicheÜberprüfung dieses Mandates, auch um Tendenzenentgegenzuwirken, dass wir uns – wie es aus berufenemMunde hieß – möglicherweise erneut fünf Jahre lang imKosovo einlullen lassen. Genau deswegen halten wirdiese Überprüfung für notwendig.
Wir müssen dem Eindruck entgegenwirken, mit Wor-ten wie „Hoffnung“ und anderen Ausdrücken, die hof-fentlich keine Phrasen sind, die offensichtlichen Dilem-mata im Kosovo lediglich zu kaschieren. Damit gebenwir unseren Soldaten noch keine Perspektive. Herr Bun-desaußenminister, es ist richtig, dass es wahrscheinlichnicht gelingen wird, kurze Zeiträume anzusetzen. Trotz-dem müssen wir unseren Soldaten eine Perspektive bie-ten, damit sie im Kosovo vertrauensvoll arbeiten kön-nen.
Ferner ist es richtig, dass unsere Soldaten dorthin ge-schickt werden, damit es zu einer politischen Lösungkommt. Aber sie selbst sind nicht die politische Lösung.An einer solchen politischen Lösung – Kollege Stinnerhat das angesprochen – müssen wir und muss insbeson-dere die Bundesregierung arbeiten. Das erfordert einsubstanzielles Konzept. Das, was wir heute in dieserHinsicht gehört haben, war allerdings reichlich dünn.
Wir brauchen ein schlüssiges Konzept, das den gesamtenBalkan umfasst. Hier fordere ich die Bundesregierungauf, sich stärker als bisher für die Entwicklung eines sol-chen Ansatzes einzusetzen, damit auch hier der Gefahrder Einlullung begegnet werden kann.Im Hinblick auf die Erfüllung der teilweise bereits ge-nannten Standards bedarf es einer gezielteren, kohären-ten Zusammenarbeit aller beteiligten Kräfte. Das habenSie, Herr Bundesminister der Verteidigung, angespro-chen. Sie haben aber nicht gesagt, wie das geschehensoll. Selbstverständlich brauchen wir in Absprache mitunseren Partnern auch eine Reform und Stärkung des eu-ropäischen Pfeilers der UNMIK, der bisher nicht derstärkste war, und eine Beschleunigung der Entschei-dungsprozesse im Kosovo.Auch ist dem von Christian Schwarz-Schilling entwi-ckelten Ansatz einer integrativen Streitbeilegung in Süd-osteuropa, der auf lokaler, das heißt gemeindlicherEbene ansetzt, durchaus Beachtung zu schenken.
Herr Bundesaußenminister, machen Sie Ihren Ein-fluss geltend, um der Kontaktgruppe, die Sie benannt ha-ben, den Weg zu bereiten. Einer Kontaktgruppe, die überden eigentlichen Kontakt hinaus auch konsens- und ko-ordinierungsfähig ist. Einer Kontaktgruppe, die ebenauch Russland mit ins Boot nimmt. Sie haben die ent-sprechenden Anbindungen gelobt, von daher müssen wirRussland auch lösungsorientiert beteiligen.
Stichwort: Europäisierung. Natürlich mag es hilfreichsein, sich der Europäisierung anzunehmen. Aber mit derBegrifflichkeit allein ist es eben nicht getan. Wir dürfenüber die reine Europäisierung hinaus nicht vergessen,dass wir im Kosovo auch noch auf andere Partner ange-wiesen sein werden. So schön und gut Europäisierung ist– ich glaube, wir können dankbar sein, dass wir weiter-hin Partner auch außerhalb der europäischen Grenzenhaben wie die Vereinigten Staaten, die uns dort unter dieArme greifen und uns bei unserem europäischen Pro-blem helfen.
Wir haben im Vorfeld der Ausschreitungen im Märzein eklatantes Versagen der Aufklärung zu beklagen.Sorgen Sie vonseiten der Bundesregierung mit IhrenPartnern bitte dafür, dass die Aufklärungskomponentehinreichend vernetzt, effizient und letztlich auch entspre-chend verstärkt wird,
damit solche Dinge nicht mehr vorkommen können.Herr Bundesaußenminister, setzen Sie Ihr politischesGewicht ein, damit wir zu einer gezielten Zusammenar-beit unter Zugrundelegung erfüllbarer Standards kom-men und uns letztlich – so wie Sie es richtig geschilderthaben – der Statusfrage annähern.Herzlichen Dank.
Der Herr Verteidigungsminister hat sich zu einerKurzintervention gemeldet. Bitte schön, Herr Minister.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich nehme Bezug auf
den Beitrag des Kollegen Guttenberg. Ich habe aus der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitiert. Das Zitat lau-
tete: Sie – Kollegin Oßwald – sei zutiefst entsetzt und
schockiert „über das unmenschliche Verhalten deutscher
Soldaten“. Sie haben gerade erklärt, sie habe in ihrer
Presseerklärung gesagt, sie sei entsetzt über die angebli-
chen Folterbilder.
Zunächst einmal hätte ich erwartet, dass die Kollegin,
die ja irgendwo hier im Hause sein muss, hierher kommt
und selbst klarstellt, dass sie über Bilder redet, die es
überhaupt nicht gibt.
Das Zweite: Ich kann ja verstehen, dass man als junge
Abgeordnete solche Fehler mal macht. Aber es geht hier
darum, klarzustellen, dass man nicht anfangen kann,
über angebliche Bilder, die man selbst nicht gesehen hat,
herumzuräsonieren und deutsche Soldaten anzugreifen.
Darum geht es hier. Sie soll sich entschuldigen; dann ist
die Sache erledigt.
Herr Kollege Guttenberg, bitte.
Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg
:
Herr Bundesminister, ich darf Sie schon bitten, zur
Kenntnis zu nehmen, dass die „Frankfurter Allgemeine
Zeitung“ die Kollegin Oßwald falsch zitiert hat.
Hier handelt es sich um ein falsches Zitat. Die Frau Kol-
legin Oßwald hat es – laut ihrem Zitat – konkret offen
gelassen. Ich bleibe dabei: So wie Sie es gebracht haben,
haben auch Sie selbst die Frau Kollegin Oßwald falsch
zitiert.
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zuweilen sind alle Augen auf den Papst gerichtet. Aberdie wenigsten Botschaften des Papstes finden Gehör,selbst die richtigen nicht. Deshalb möchte ich heute indieser Debatte Papst Johannes Paul II. zitieren. Er sagte:Das 20. Jahrhundert hinterlässt uns als Erbschaftvor allem eine Mahnung: Kriege sind häufig Ursa-chen weiterer Kriege, weil sie tiefe Hassgefühlenähren, Unrechtssituationen schaffen sowie dieWürde und Rechte der Menschen mit Füßen treten.Sie lösen im Allgemeinen die Probleme nicht, umderetwillen sie geführt werden. Daher stellen siesich, außer dass sie schreckliche Schäden anrichten,auch noch als nutzlos heraus.So weit der Papst.
Die PDS im Bundestag findet: Wo der Papst Rechthat, da hat er Recht.
Das trifft auch mit Blick auf den Kosovokrieg zu. Wirwaren dagegen und wir bleiben dagegen.Ich möchte Sie daran erinnern: Der im Frühjahr 1999begonnene Krieg der NATO war ein Angriffskrieg. Erwurde unter Bruch des Völkerrechts geführt. Er hatdazu beigetragen, dass sich in der Alltagssprache dasschlimme Wort vom Kollateralschaden etabliert hat. Pro-bleme gelöst hat dieser Krieg aber nicht.Für die Bundesrepublik stellte das Kosovomandateine tief greifende Zäsur dar. Erstmals nach 1945 wur-den deutsche Soldaten in einen Krieg geschickt, durchRot-Grün und als Vorboten einer Strategie, die auf welt-weite militärische Einsätze zielt. Das werden wir heuteauch im Nachhinein nicht legitimieren.
Übrigens: Wir werden auch die windigen Wendungennicht vergessen, mit denen der damalige Verteidigungs-minister Scharping versuchte, den Krieg zu begründen.Wer dagegen war, wurde von Bundeskanzler Schröderganz schnell als „fünfte Kolonne Moskaus“ diffamiert.Scharping stolperte derweil, die Probleme auf dem Bal-kan sind allerdings geblieben.
Es gibt Parallelen bei den Auslandseinsätzen derBundeswehr. Auf diese Parallelen möchte ich hinweisen:Erstens. Der Marschbefehl war sehr schnell erteilt.Meist wird er ebenso flink erweitert und verlängert. Wasfehlt, ist ein glaubwürdiges Ausstiegsszenario. Ich ver-mute inzwischen, dass es keines gibt. Jedenfalls ist mirkeines bekannt.
Die Bundesregierung hat auch heute in dieser Debattenicht den Versuch unternommen, ein solches vorzulegen,weder für den Balkan noch für Afghanistan.
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Petra Pau
Zweitens. Die nutzlosen und, wie der Papst meint,schädlichen Kriege verschlingen horrende Summen. Al-lein der NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien verschlang15 Milliarden Euro. Er richtete Schäden von etwa50 Milliarden Euro an. Die Stationierung der Truppen imKosovo hat bislang 30 bis 35 Milliarden Euro gekostet.Das macht zusammen insgesamt 100 Milliarden Euro.Sagen Sie mir, wann und wo auf dem Balkan100 Milliarden Euro in zivile und humanitäre Projekteinvestiert wurden!
Sie werden es nicht können, weil das Pendel der aktuel-len Politik immer mehr zugunsten des Militärs aus-schlägt.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Siegfried Helias, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es geht im Kosovo nicht nur um Standards undStatus, es geht vor allem um die Menschen.
Vorrangig geht es um die Menschen, die in diesem Ge-biet leben und die eine Existenzgrundlage und eine Le-bensperspektive so bitter benötigen. Insofern kann ichden Ausführungen des Kollegen Rainer Stinner voll-kommen zustimmen.
Es geht aber auch darum, den Menschen, die von derinternationalen Gemeinschaft in das Kosovo entsandtwurden, um beim Wiederaufbau zu helfen, das Gefühlzu geben, dass ihre Arbeit erfolgreich ist. Dazu gehörtallerdings ein schlüssiges politisches Konzept. Ein sol-ches ist weit und breit nicht zu sehen.Wir müssen gegenwärtig nicht nur einen Stillstand inder Entwicklung feststellen; Die Menschen im Kosovobefinden sich in einer unheilvollen Abwärtsspirale.Denn auch fünf Jahre nach dem Krieg ist die Lage völligdesolat: humanitär, wirtschaftlich und politisch. Dasführt zu einem beständigen Prestigeverlust der interna-tionalen Gemeinschaft, die mit ihren Konzepten für dasKosovo schlichtweg versagt hat. Allein im Rahmen desStabilitätspaktes für Südosteuropa wurden rund 2 Mil-liarden Euro in den Wiederaufbau investiert oder – bes-ser gesagt – verpulvert. Die Arbeitslosigkeit in Höhe vonweit über 50 Prozent – das wurde von der Kollegin UtaZapf bereits angesprochen – ist ein dramatischer Beweisfür die Erfolglosigkeit aller bisherigen Bemühungen.Meine Damen und Herren, die unklaren politischenVorgaben behindern die Verbesserung der ökonomi-schen Situation in mehrfacher Hinsicht. Wie der Kol-lege Christian Schmidt sagt – Kollege Stinner und UtaZapf haben sich dem angeschlossen –, ist es nicht nureine Frage des allgemeinen Status. Hinzu kommt, dasssich ausländische Investoren rar machen, solange sie einstaatliches Provisorium vor Augen haben.Die Privatisierung der so genannten volkseigenen Be-triebe kann nicht anlaufen, solange eine gesetzliche Re-gelung der Ersatzansprüche von Alteigentümern aus-steht. Erschwerend kommt noch hinzu, dass sich dieUNMIK hat einfallen lassen, dass potenzielle Investorenbei der Übernahme von Unternehmen für die Altschul-den haften müssen. Wer will bei diesem Zustand über-haupt noch investieren? Ohne Eigenstaatlichkeit kanndas Kosovo außerdem keine Kredite aufnehmen, um In-frastrukturen aufzubauen.Aufgrund dessen hat sich im Kosovo eine allenfallslabile Dienstleistungsgesellschaft entwickelt, die ohnedie hohe internationale Personalpräsenz nicht lebensfä-hig wäre. Produzierendes Gewerbe gibt es aufgrund derbeschriebenen Lage so gut wie gar nicht. Ein Blick aufdie Ein- und Ausfuhrzahlen führt zu einer weiteren Er-nüchterung. So exportierte das Kosovo im Jahre 2002Waren im Wert von 27 Millionen Euro und importierteim selben Zeitraum Güter im Wert von fast1 Milliarde Euro.Die UNMIK ist bei wichtigen Reformen kaum vo-rangekommen. Steuerrecht, Handelsrecht sowie dasVollstreckungs- und Prozessrecht – alles Meilensteinefür eine wirtschaftliche Entwicklung – hinken dem west-europäischen Standard immer noch hinterher. Hier mussmeiner Auffassung nach ein Umdenken beginnen. Wirmüssen die Ursachen der wirtschaftlichen Misere undnicht die Symptome bekämpfen.Konkret: Zum einen müssen endlich Anreize geschaf-fen werden, um die Arbeit der kosovarischen Selbstver-waltung zu dynamisieren und die Arbeit der internationa-len Organisationen zu professionalisieren. Geberländer,wie etwa Deutschland, können ihre weitere Unterstüt-zung auf das so genannte State Building fokussieren –eine unabdingbare Voraussetzung für ausländische Di-rektinvestitionen im Kosovo.Zum anderen darf sich die Neuausrichtung der Ent-wicklungszusammenarbeit nicht auf das Kosovo be-schränken, sondern muss auch an die Adresse Serbiensgerichtet werden. Denkbar wäre beispielsweise die Ein-richtung eines Ausgleichsfonds, mit dessen Hilfe manSerben entschädigt, die ihr Eigentum in mehrheitlich al-banisch bewohnten Gebieten zurücklassen mussten.Zur Stabilisierung der Region benötigen wir klarepolitische Vorgaben und Konzepte. Dies ist in erster Li-nie eine Aufgabe der Bundesregierung. Die CDU/CSU
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Siegfried Heliaswird sie bei diesen Anstrengungen unterstützen, damitdie Menschen im Kosovo eine klare Perspektive haben.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Inter-
nationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo, Drucksache
15/3235. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/3175 anzunehmen. Es ist namentliche
Abstimmung verlangt. Zu dieser Abstimmung liegen mir
39 persönliche Erklärungen nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung – von Kolleginnen und Kollegen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie vom Kol-
legen Jürgen Koppelin – vor.1) Ich bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu-
nehmen. – Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das
ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ich habe gerade gehört, dass an der Urne, die sich
oben rechts bei der Tür „Enthaltung“ befindet, eine
Schriftführerin der SPD fehlt.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.2)
Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte die Kol-
leginnen und Kollegen, ihre Plätze einzunehmen, damit
wir mit den Abstimmungen fortfahren können.
Tagesordnungspunkt 6 b: Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 15/2860 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Zusatzpunkt 8: Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/3204 mit dem Titel „Fortsetzung und
Anpassung der Arbeit der Internationalen Sicherheits-
präsenz im Kosovo“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Zusatzpunkt 9: Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3188 mit
dem Titel „Der Kosovopolitik eine Perspektive geben“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthal-
tung der FDP abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatzpunkt 10
auf:
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich
Austermann, Friedrich Merz, Steffen Kampeter,
1) Anlagen 2 und 3
2) Ergebnis Seite 10090
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Umkehr in der Finanz- und Haushaltspolitik –
Haushaltssicherungsgesetz und Nachtrags-
haushalt jetzt
– Drucksache 15/3096 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Rexrodt, Jürgen Koppelin, Otto
Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Nachtragshaushalt und Haushaltssicherungs-
gesetz zur Korrektur der Bundesfinanzen not-
wendig
– Drucksache 15/3216 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-schäftigen uns heute mit einem Antrag der Union, derein totales Umsteuern in der Finanz- und Haushaltspoli-tik fordert. Wenn man sich die Lage im Land ansieht,dann stellt man fest, dass dies auch nötig ist. Das Landbefindet sich in der schwierigsten Finanz-, Haushalts-und Arbeitsmarktkrise seit 1949. Die Verantwortung da-für trägt die rot-grüne Bundesregierung.
Das ist eindeutig zu belegen. Die Daten des Jahres1998 wiesen alle in eine positive Richtung – was dazuführte, dass der damalige Kanzlerkandidat der SPD
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Dietrich Austermanndavon sprach, dies sei sein Aufschwung –, währendheute alle signifikanten Daten in die falsche Richtungzeigen. Wir haben seit drei Jahren eine Stagnation undin diesem Jahr ein Kümmerwachstum. Wenn man sichdie Situation in den Ländern ansieht, die uns umgeben,dann stellt man fest, dass dort die Wirtschaft brummt.Nur die deutsche Regierung hat Watte in den Ohren.Das Problem liegt darin, dass seit Jahren eine Ver-trauen zerstörende Politik gemacht wird,
jeden Tag eine wesentliche Fehlentscheidung,
was dazu führt, dass Investoren und Konsumenten nichtmehr wissen, wohin die Entwicklung geht. Das spiegeltsich auch in den Steuereinnahmen wider. Es ist abernicht so – wie man denken könnte –, dass die Steuerein-nahmen sinken; tatsächlich verharren sie auf einem um15 Milliarden Euro höheren Niveau als 1998. Sie steigenlediglich nicht in dem Maße an, wie es der Finanzminis-ter in seiner euphorischen Schätzung unterstellt hat.Offensichtlich liegt es also nicht an den Einnahmen, son-dern an den Ausgaben, wenn die Regierung die Pro-bleme nicht in den Griff bekommt.
Infolge der falschen Erwartungen haben die Datenschon bei der Aufstellung des Haushalts für dieses Jahrim Sommer 2003 nicht gestimmt. Es wurden eindeutigSchätzungen unterstellt, die mit der Realität nichts zutun haben.
Bei den Ausgaben gab es zu pessimistische und bei denEinnahmen zu optimistische Erwartungen. Das ganzeZahlengerüst, das spätestens zu Beginn dieses Jahres zu-sammengebrochen ist, hätte dazu führen müssen, dassman eine Remedur macht und gleichzeitig dafür sorgt,dass man den Haushalt der Situation anpasst, in der wiruns tatsächlich befinden. Nichts von dem hat der HerrBundesfinanzminister getan, obwohl im Vermittlungs-ausschuss, Herr Eichel, ganz andere Daten gesetzt wor-den sind. Da ist beispielsweise das Thema Hartz IV auffrühestens den 1. Januar 2005 verschoben worden.
Man hätte den Haushalt anpassen müssen. Noch vieleandere Entwicklungen, die im Februar 2004 erkennbarwaren, als hier in dritter Lesung entschieden wurde, sindvon Ihnen bei der Haushaltsaufstellung nicht berücksich-tigt worden. Das hat mit Haushaltswahrheit, Haushalts-klarheit und Haushaltsvollständigkeit nichts zu tun.
Lassen Sie mich demonstrieren, in welcher Situationwir uns tatsächlich befinden, und die Situation vor derSteuerschätzung der Situation nach der Steuerschätzunggegenüberstellen. Im Vergleich mit den vorangegange-nen Steuerschätzungen ist erkennbar, dass die aktuelleSteuerschätzung gegenüber den Erwartungen um60 Milliarden Euro zurückgeblieben ist. Davon entfälltein Minus von 40 Milliarden Euro auf den Bund, einMinus von 20 Milliarden Euro auf die Länder und Ge-meinden. Das heißt, zwei Drittel der Einbußen sind beimBund zu verzeichnen.Wenn ich allerdings davon ausgehe, dass der Finanz-minister mit dem Haushalt für dieses Jahr eine mittelfris-tige Planung bis zum Jahr 2008 vorgelegt hat, dann mussich heute feststellen, dass er eine Lücke in der Größen-ordnung von 67 Milliarden Euro in den nächsten Jahrenhat, die bis heute nicht ausgeglichen ist.
Das Loch ist damit fast doppelt so groß wie die Abwei-chungen, die gegenüber den bisherigen Steuerschätzun-gen zu verzeichnen waren. Das hat natürlich dramatischeKonsequenzen.Im Jahr 2004 fehlen im Haushalt 15 Milliarden Euro.Die Kollegin Scheel von den Grünen spricht von18 Milliarden Euro, der Finanzminister von 10 Milliar-den Euro und ist wieder dabei, den Haushalt zu schönen.Nun wird man sicherlich sagen, es müsse verstärktgespart werden werden, aber die Opposition werde dasmöglicherweise nicht mittragen. Ich will Ihnen dabei einbisschen auf die Sprünge helfen und konkrete Zahlennennen. Dieser Bundesfinanzminister ist als „eisernerHans“ angetreten – wir haben aber gleich festgestellt,dass die Rüstung schon am ersten Tag zu rosten begon-nen hat –; dann wurde er durch die UMTS-Milliarden,für die er auch nichts konnte, zum Hans im Glück. Heuteist er ein Hans Guckindieluft; er lässt die Dinge laufen.Dieser Finanzminister sagt immer wieder „Wenn nur dieböse Opposition sparen würde!“ und betont, eigentlichhabe er ja gespart.Ich darf die Zahlen, die der Kollege Koppelin genannthat, noch einmal aufgreifen. In der Zeit von 1998 biszum Ende dieses Jahres wird Finanzminister Eichel neueSchulden in Höhe von 190 Milliarden Euro aufgenom-men haben.
Das bedeutet in den Folgejahren eine zusätzliche Zinsbe-lastung in Höhe von 9,5 Milliarden Euro. Das entsprichtdem Gegenwert aller Infrastrukturprojekte, die im Bun-deshaushalt vorgesehen sind. Diese Summe wird fürZinsen verschleudert, weil eine hemmungslose Schul-denpolitik betrieben worden ist.
Manch einer kann sich noch erinnern, dass der Bun-desfinanzminister vor der Wahl 2002 davon sprach, dieOpposition genieße gerne das süße Gift der Verschul-dung. Angesichts seiner eigenen Politik müsste er
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Dietrich Austermanneigentlich von dem süßen Gift der Schulden völlig be-trunken sein.
Er verstößt dieses Jahr zum dritten Mal und im nächstenJahr zum vierten Mal gegen die Maastricht-Kriterien.Die Stabilitätskriterien werden nicht einzuhalten sein;die Maastricht-relevanten Defizite sind offenkundig. Da-ran hat der Bund – das habe ich anhand der Zahlen deut-lich gemacht – den wesentlichen Anteil.Es wird immer wieder auf den nationalen Stabili-tätspakt verwiesen. Dieser Stabilitätspakt macht Vorga-ben hinsichtlich der Schuldenaufnahme von Bund, Län-dern und Gemeinden. Der Bund wollte sich auf45 Prozent der Schulden der drei Ebenen beschränken;inzwischen trägt er zwei Drittel davon. Insofern ist alleinder Bund für den Verstoß gegen den nationalen Stabili-tätspakt verantwortlich.
Ich möchte noch darauf eingehen, dass mein Nach-redner, Herr Eichel, uns wahrscheinlich vorhalten wird,wir hätten ihn am Sparen gehindert.
In diesem Zusammenhang kommt – wie das Ungeheuervon Loch Ness – immer wieder das Thema Eigenheim-zulage zur Sprache. Herr Eichel, sind Sie bereit, denAnwesenden heute mitzuteilen, dass wir im Vermitt-lungsausschuss gemeinsam beschlossen haben, dieEigenheimzulage um 30 Prozent zu reduzieren, nunmehraber die von Ihnen genannten Beträge – der eine nennt10 Milliarden; der Bundeskanzler nennt 8,5 Milliardenund auch Sie nennen nicht die tatsächliche Zahl – nichtverfügbar sind? Es ist nicht mehr Geld verfügbar als derBetrag, der durch die Reduktion zusammenkommt; essei denn, man greift in die Verträge mit den Häuslebau-ern ein. Dies aber wollen wir nicht.Ähnlich verhält es sich bei der Entfernungspauschale.Sie musste erhöht werden, weil Sie die Ökosteuer erho-ben haben und die Pendler nicht über Gebühr benachtei-ligt werden sollten. Jetzt wollen Sie ihnen einen Teil derEntfernungspauschale wieder wegnehmen, sodass esdoch zu der Belastung der Pendler durch die Ökosteuerkommt. Ist das gerecht? Dass wir zögern, einem solchenVorhaben zuzustimmen, kann uns, glaube ich, niemandvorwerfen.Wir haben die Koch/Steinbrück-Vorschläge gemein-sam beschlossen. Was aber haben Sie gemacht? Nach-dem der Beschluss gemeinsam gefasst wurde, haben Siedem Haushaltsausschuss eine Regelung vorgelegt, in derdie Kohle ausgespart wurde. Sie haben Ihre Hand dazugereicht, dass dem Bergbau in den Jahren 2006 bis 2013zusätzliche 17 Milliarden Euro zufließen. Wir sind da-für, die Kohlereviere dem Strukturwandel anzupassenund dem Bergbau dabei zu helfen. Angesichts der Ent-wicklung des Weltmarktpreises frage ich mich aber, obZahlungen in diesem Umfang tatsächlich notwendigsind.
Ich frage mich vor allen Dingen, ob es in dieser Lagedazu kommen muss, dass die Kohleförderung sogar an-gehoben wird, sodass es statt der bisherigen degressivenLinie auf einmal zu einer Stabilisierung auf hohemNiveau kommt.Sie schlagen an anderer Stelle Einsparungen vor undkündigen an, dass etwas für die Forschung und andereBereiche getan werden muss. Ich wiederhole: Im Haus-haltsausschuss sollten heute zusätzliche Kohlesubventio-nen in Höhe von 17 Milliarden Euro in den Jahren 2006bis 2013 beschlossen werden. Wir haben das Gott seiDank vertagt. Ich hoffe, dass die rot-grüne Koalition indiesem Fall noch zur Einsicht kommt.
Sie haben noch weitere Vorschläge vorgebracht, dievom Schnittblumenprivileg über die Baumschulen biszum Katzenfutter reichten. Das waren alles Peanuts imVergleich zu dem, was für die Kohle herausgeschmissenwird.Sie haben weitere Maßnahmen getroffen, deren Dra-matik heute noch nicht zu erkennen ist. Wir sollen mitIhnen gemeinsam eine Änderung hinsichtlich der Ge-meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“ beschließen, die der Bundeswirt-schaftsminister anstrebt, und zwar deshalb, weil er beider Kohle aus dem Vollen schöpft. Das Ergebnis ist, dassin diesem Jahr auf Verpflichtungsermächtigungen in derGrößenordnung von 264 Millionen Euro nicht zurückge-griffen werden kann. Das hat zur Folge, dass die neuenund die alten Bundesländer Mittel für die Wirtschaftsför-derung in gleicher Höhe nicht zur Verfügung stellen. Al-les zusammen macht das etwa 50 Prozent der Mittel fürdie regionale Wirtschaftsförderung aus. Das bedeutet,dass Investitionen in Höhe von 2,6 Milliarden Euro vorallen Dingen in den neuen Bundesländern, aber auch instrukturschwachen Gebieten in den alten Bundesländern,zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, nicht getätigt wer-den können, weil Sie die Mittel für die regionale Wirt-schaftsförderung zugunsten anderer Projekte dramatischzusammenstreichen. Dass wir dies nicht mitmachen, istziemlich klar.
So können wir jeden Punkt genau begründen, an demwir gesagt haben: So nicht und vor allen Dingen nichtmit uns!Sie haben des Weiteren die schlechte wirtschaftlicheLage mit dem Zusammenbruch des Konsums begründet.Aber wer macht denn den Konsum? Es ist doch unbe-streitbar, dass wesentliche Teile der wirtschaftlichenEntwicklung unseres Landes von den politischen Rah-menbedingungen abhängen; das ist doch eindeutig. Obman einen Zickzackkurs fährt – Agenda Zickzack – oderob man klare Bedingungen schafft, damit Investoren in-vestieren und Konsumenten konsumieren, das ist dieFrage, ob man Vertrauen in die künftige Entwicklung
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10090 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Dietrich Austermannja: 574 Edelgard BulmahnMarco BülowGabriele GronebergAchim GroßmannDr. h.c. Susanne KastnerUlrich Kelberenthalten: 1JaSPDDr. Lale AkgünGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Sören BartolSabine BätzingUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergHans-Werner BertlPetra BierwirthLothar Binding
Kurt BodewigGerd Friedrich BollmannKlaus BrandnerWilli BraseDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinKarl DillerMartin DörmannPeter DreßenElvira Drobinski-WeißDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelMarga ElserGernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagLilo Friedrich
Iris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacKarl-Hermann Haack
Hans-Joachim HackerBettina HagedornAlfred HartenbachMichael Hartmann
Nina HauerHubertus HeilReinhold HemkerRolf HempelmannGustav HerzogPetra HeßMonika HeubaumGisela HilbrechtGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergGerd HöferWalter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeLothar IbrüggerBrunhilde IrberRenate JägerJann-Peter JanssenKlaus KirschnerHans-Ulrich KloseAstrid KlugDr. Heinz Köhler
Walter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerDr. Hans-Ulrich KrügerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Christine LehderWaltraud LehnDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter LohmannGabriele Lösekrug-MöllerErika LotzDr. Christine Lucyganein: 7 Ulla Burchardt Wolfgang Grotthaus Hans-Peter Kemperschafft. Insofern beeinflusstfalsch macht – sie zerstörtwie ein Trampel im KonsuHandeln der Menschen in De
Gesetze, belasten den Ka-er Steuererhöhungen. Frau Aussicht, die kommendeHolstein zu verlieren – ichf, im März nächsten Jahresen Carstensen die Hand zur CDU/CSU)nderen und macht deshalbhlag. So soll unter anderemerden, um den Eingangs-Januar 2005 zu senken. Je-eue Irritation, die dazu bei- nicht mehr wissen, wo esder Feststellung begonnen,ten Finanz-, Haushalts- undefinden. Aus dieser krisen-Bernhard Brinkmann
Hans-Günter Bruckmannhaften Situation kommen wirtatsächlich umsteuern. Wir msensturz machen, einen Nachhaltsbegleitgesetz verabschieSparen beginnen, zum Beispiden Verfügungsmitteln undWir müssen übrigens auch bsofort umsteuern. Aber mit dgierung und insbesondere mnister ist das leider nicht zu mVielen Dank.
. Susanne Kastner:anzminister das Wort gebe,gesordnungspunkt 6 a underinnen und Schriftführernmentlichen Abstimmungng des Auswärtigen Aus-Bundesregierung auf Fort-gung an der Internationalenvo bekannt. Abgegebeneestimmt 574, mit Nein ha-n 1. Der Antrag ist damitKlaus-Werner JonasJohannes KahrsUlrich Kasparick
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10091
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkCaren MarksChristoph MatschieHilde MattheisMarkus MeckelUlrike MehlPetra-Evelyne MerkelUlrike MertenAngelika MertensUrsula MoggMichael Müller
Christian Müller
Gesine MulthauptDr. Rolf MützenichVolker Neumann
Dietmar NietanDr. Erika OberHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeKarin Rehbock-ZureichGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterReinhold RobbeRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Gerhard RübenkönigOrtwin RundeMarlene Rupprecht
Thomas SauerAnton SchaafAxel Schäfer
Gudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten SchneiderWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserWilfried SchreckOttmar SchreinerBrigitte Schulte
Reinhard Schultz
Swen Schulz
Dr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesHans-Jürgen UhlRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerUte Vogt
Dr. Marlies VolkmerHans Georg WagnerHedi WegenerAndreas WeigelReinhard Weis
Petra WeisGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerJochen WeltDr. Rainer WendLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelAndrea WickleinJürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenWaltraud Wolff
Heidi WrightUta ZapfManfred Helmut ZöllmerCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerOtto BernhardtDr. Rolf BietmannClemens BinningerRenate BlankPeter BleserAntje BlumenthalDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepeHelge BraunMonika BrüningGeorg BrunnhuberVerena ButalikakisHartmut Büttner
Cajus Julius CaesarPeter H. Carstensen
Gitta ConnemannLeo DautzenbergHubert DeittertAlbert DeßAlexander DobrindtVera DominkeThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Georg FahrenschonIlse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisRoland GewaltEberhard GiengerGeorg GirischMichael GlosRalf GöbelDr. Reinhard GöhnerTanja GönnerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldKurt-Dieter GrillReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundKarl-Theodor Freiherr vonund zu GuttenbergOlav GuttingHolger-Heinrich HaibachGerda HasselfeldtKlaus-Jürgen HedrichHelmut HeiderichUrsula HeinenSiegfried HeliasUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenPeter HintzeRobert HochbaumKlaus HofbauerJoachim HörsterHubert HüppeDr. Peter JahrDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbSteffen KampeterIrmgard KarwatzkiBernhard Kaster
Volker KauderGerlinde KaupaEckart von KlaedenJürgen KlimkeJulia KlöcknerKristina Köhler
Manfred KolbeHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGünther KrichbaumGünter KringsDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesWerner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertHelmut LampBarbara LanzingerKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus W. Lippold
Patricia LipsDr. Michael LutherDorothee MantelStephan Mayer
Dr. Conny Mayer
Dr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela Merkel
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10092 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerFriedrich MerzLaurenz Meyer
Doris Meyer
Maria MichalkHans MichelbachKlaus MinkelMarlene MortlerStefan Müller
Bernward Müller
Bernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianHorst SeehoferKurt SegnerMatthias SehlingMarion SeibHeinz SeiffertBernd SiebertJoseph Fischer
Katrin Göring-EckardtAnja HajdukWinfried HermannAntje HermenauPeter HettlichUlrike HöfkenThilo HoppeMichaele HustedtKlaus HauptUlrich HeinrichBirgit HomburgerDr. Werner HoyerMichael KauchDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinSibylle LaurischkDr. Gerd MüllerHildegard MüllerBernd Neumann
Henry NitzscheMichaela NollClaudia NolteGünter NookeDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldMelanie OßwaldRita PawelskiDr. Peter PaziorekUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzDaniela RaabThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Katherina ReicheKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberHannelore RoedelFranz-Xaver RomerHeinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseKurt J. RossmanithDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian von StettenGero StorjohannAndreas StormMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenAntje TillmannEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarko WanderwitzPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschMatthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlElke WülfingWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerWilli ZylajewBÜNDNIS 90/DIEGRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderMatthias BerningerGrietje BettinAlexander BondeEkin DeligözDr. Thea DückertJutta Dümpe-KrügerFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellFritz KuhnRenate KünastUndine Kurth
Markus KurthDr. Reinhard LoskeAnna LührmannJerzy MontagKerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsFriedrich OstendorffSimone ProbstClaudia Roth
Krista SagerChristine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Petra SelgUrsula SowaRainder SteenblockSilke Stokar von NeufornJürgen TrittinMarianne TritzHubert UlrichDr. Antje Vogel-SperlDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerJosef Philip WinklerMargareta Wolf
FDPDaniel Bahr
Rainer BrüderleErnst BurgbacherHelga DaubJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherDr. Christel Happach-KasanChristoph Hartmann
Harald LeibrechtIna LenkeMarkus LöningDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Eberhard Otto
Detlef ParrCornelia PieperGisela PiltzDr. Andreas PinkwartDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerCarl-Ludwig ThieleDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingFraktionslose AbgeordneteMartin HohmannNeinCDU/CSUDr. Wolf BauerWolfgang Börnsen
Herbert FrankenhauserWilly Wimmer
BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHans-Christian StröbeleFraktionslose AbgeordneteDr. Gesine LötzschPetra PauEnthaltenCDU/CSUManfred Carstens
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10093
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerNun hat das Wort der Bundesminister der Finanzen,Hans Eichel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In der Tat bleibt Ihnen – das werden Sie gleichnoch merken – nichts erspart. Richtig ist, dass wir in ei-ner ausgesprochen schwierigen Finanz- und Haushalts-lage sind, gar keine Frage.
Aber, Herr Austermann, es bleibt dabei: Die höchsteZahl an Arbeitslosen nach der Wiedervereinigung,knapp unter 5 Millionen, gab es in Ihrer Regierungszeit.
– Das hören Sie nicht gerne. – Die höchste Nettoneuver-schuldung, rund 40 Milliarden Euro, gab es ebenfalls inIhrer Regierungszeit, und das bei einem niedrigerenBruttoinlandsprodukt als heute. Das wollen wir wenigs-tens festhalten.
Das erleichtert natürlich nicht die Lösung der Probleme,die wir zweifelsfrei vor uns haben.
Eine Umkehr in der Finanz- und Haushaltspolitikmacht – nichts anderes bedeutet das, was Sie uns vor-exerziert haben – in der Tat keinen Sinn; denn das hieße,so viele Schulden zu machen wie nie zuvor. Wir wollenin diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass der An-stieg der gesamtstaatlichen Verschuldung von 40 auf60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts das Ergebnis IhrerPolitik war. Keine Umkehr heißt dann auch, dass eskeine Rückkehr zu den Schattenhaushalten gibt. Damithaben wir mit dem Haushalt 1999 Schluss gemacht.
Es ist unbestritten: Die Lage ist nicht einfach. Das be-trifft aber nicht nur uns, sondern auch viele andere. IhreBeschreibung lautete: Rundherum brummt die Wirt-schaft, nur in Deutschland nicht. In Deutschland hat eseine erfreuliche Aufwärtskorrektur gegeben. Aber wahrist: Sie ist nur exportgetragen. Wahr ist auch, dass dieNiederlande, unser Nachbar, eine viel schwierigere Wirt-schaftslage haben. Wahr ist außerdem, dass die Wirt-schaftslage in Italien eher schwieriger als bei uns ist.Also ist auch diese Beschreibung verkehrt. Wahr istauch, dass das Haushaltsdefizit der Hälfte aller Staatender Eurozone in laufender Rechnung oberhalb von3 Prozent liegt.
Auch das ist keine erfreuliche Entwicklung. Es zeigtaber, dass Sie keine Berechtigung haben, unsere Pro-bleme – bei allen Schwierigkeiten, die wir haben – alsbinnengemacht darzustellen, wie Sie es immer wiederversuchen.
Wir sind – das war das Ziel unserer Arbeit; es ist si-cherlich nicht allein durch unsere Arbeit, aber auch nichtohne sie geschehen – aus der Stagnation heraus. Wir ha-ben ein Wirtschaftswachstum. Es ist höher als gedacht.Aber man muss ebenso klar sagen: Die 0,4 Prozent imersten Quartal im Vergleich mit dem Vorquartal oder die1,5 Prozent im Vergleich mit dem Vorjahresquartal sindfragil; denn sie sind – ich wiederhole – ausschließlichexportgetragen.
Die Entwicklung in der Binnennachfrage ist nach wievor nicht erfreulich. Der klassische Weg „erst Export, dannInvestitionen, dann Binnennachfrage“ hat bisher nichtfunktioniert. Davon wird auch die Finanz- und Haushalts-politik, die ich zu machen habe, bestimmt. Das heißt, wirwerden alles unterlassen müssen – das gilt unverändert –,was den Aufschwung beeinträchtigen könnte. Ich denke,dass Christian Schütte in seinem gestrigen Kommentarin der „Financial Times Deutschland“ dazu genau dasRichtige gesagt hat:Die deutsche Finanzpolitik ist gut beraten, im Mo-ment ähnlich vorsichtig zu agieren, statt gleich dieersten Zeichen des Aufschwungs für ein Austeri-tätsprogramm zu nutzen.
Wir haben noch nicht den Punkt eines konjunkturel-len Aufschwungs erreicht – ich sage das mit aller Klar-heit; viele vertreten mit Recht diese Auffassung –, vondem an man härter konsolidieren muss, wenn man imAbschwung Defizite hat hinnehmen müssen. Ich wieder-hole: Diesen Punkt haben wir noch nicht erreicht. Dafürist der Aufschwung in der Tat zu fragil.Der Vollzug des Bundeshaushalts 2004 wird im We-sentlichen durch die konjunkturelle Entwicklung geprägt,die langsam an Fahrt gewinnt. Die Mai-Steuerschätzungzeigt – Sie haben es erwähnt – eine Mindereinnahme von8,3 Milliarden Euro. Aufgrund des im Vermittlungsver-fahren vereinbarten nicht vollständigen Vorziehens derSteuerreform haben wir auf der einen Seite zwar mehrGeld zur Verfügung; auf der anderen Seite haben wir füralle Folgejahre wegen des nicht beherzten Abbaus vonSteuersubventionen Geld verloren. Dafür sind Sie ver-antwortlich.
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10094 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Bundesminister Hans EichelAuch auf der Ausgabenseite hinterlässt die nach wievor nicht starke Konjunktur ihre Spuren. Das heißt, wirwerden bei der Arbeitslosenhilfe zusätzlich Geld drauf-legen müssen, während der Zuschuss für die Bundes-agentur für Arbeit nach allem, was wir erkennen können,aufrechterhalten werden kann; sie wird keinen höherenZuschuss benötigen.
Der Bundesbankgewinn ist weitaus niedriger ausge-fallen als von der Bundesbank selbst erwartet und vonuns entsprechend veranschlagt. Heute gibt es keineMöglichkeit, die Nettokreditaufnahme zuverlässig zuprognostizieren. Wie ich deutlich gemacht habe, schätzeich das Risiko gegenwärtig auf 10 bis 11 MilliardenEuro.Ich will bei dieser Gelegenheit aber auch darauf hinwei-sen – das gehört zu den Aspekten, die ich jetzt nicht weiterbewerten will –, dass wir, was die Steuereinnahmen be-trifft, per 30. April bisher nicht die prognostizierten Min-dereinnahmen haben; vielmehr befinden wir uns sehr ge-nau im Plan der Novembersteuerschätzung, allerdingsmit erheblichen Schwankungen über die Monate, was ei-nen natürlich außerordentlich vorsichtig machen muss.Deswegen bleibe ich vorsichtshalber bei dem, was dieSteuerschätzer gesagt haben.Ich weise aber darauf hin, dass es nicht unbedingt derWeisheit letzter Schluss sein muss. Ich erinnere an das Endedes vergangenen Jahres. Herr Austermann, sechs Wochenvor Toresschluss haben Sie sich negativ um 12 MilliardenEuro verschätzt. Ich selbst habe mich sechs Wochen vorToresschluss ebenfalls negativ verschätzt, und zwar um5 Milliarden Euro. Es macht im Moment also wenigSinn, über einen Nachtragshaushalt zu reden. Vernünfti-ger ist es, wie im vergangenen Jahr die Entwicklung ge-nau zu beobachten und eine Entscheidung nach der Som-merpause zu treffen.
Angesichts der konjunkturellen Situation, in der wiruns befinden, bin ich strikt gegen eine hektische Ver-schärfung der Sparmaßnahmen, was eine zusätzlichehaushaltswirtschaftliche Sperre oder ein Haushaltssiche-rungsgesetz bedeuten würde.
– Wir haben es nicht. Sie müssen genau darauf schauen,Herr Kampeter, was wir seit 1999 – auf die Zahlenkomme ich gleich noch zurück – mit der Konsolidierunggeleistet haben. Die Wahrheit ist, dass wir in den letztenzehn Jahren den Anteil des Haushalts am Bruttoinlands-produkt von 13,5 Prozent auf 12,1 Prozent zurückgefah-ren haben. Das heißt, die Konsolidierung hat auf derAusgabenseite stattgefunden.Sie vollführen mit Ihren Zahlen Taschenspielertricks,Herr Austermann.
Der Haushalt 1998 – wir haben das hier oft diskutiert;Sie wissen es – respektive der von Ihnen vorgelegte Ent-wurf 1999 enthielt doch gar nicht die ganze Wahrheit.Die Postunterstützungskassen waren nicht darin enthal-ten. Die Hilfen für die Not leidenden Länder Saarlandoder Bremen waren nicht darin enthalten. Es war über-haupt kein vollständiger Haushalt. Das können Sie nichtmit einem Haushalt vergleichen, der alles ausweist, wasan staatlichen Leistungen erbracht werden muss, wie dasunser Haushalt tut.
Wir werden hart zu tun haben. Es wird alles geleistetwerden, und zwar in Solidarität aller Kabinettskollegen.
Wir werden sowohl die 2 Milliarden Euro, um die ichden Rentenzuschuss gern gesenkt hätte, im Haushalt er-wirtschaften als auch die Beschlüsse, die zu Koch/Steinbrück gefasst worden sind, umsetzen, was nichtheißen muss, dass das genau an den vorgesehenen Stel-len geschieht. Ich muss jetzt nicht über den Subventions-begriff streiten. Wichtig ist der finanzielle Ertrag derMaßnahmen. Das wird sicherlich genau so kommen wiegeplant.
Deswegen wird es kein Haushaltssicherungsgesetzgeben. Herr Austermann, Sie fordern ein solches Gesetz.Es wäre schön, wenn Sie auch einmal sagen würden, wasSie damit meinen, damit die Menschen im Lande auchpräzise wissen, was das heißt.
Ich weiß – Sie wissen es auch –, wie viel Geld wirden Menschen im Zuge der Gesundheitsreform inzwi-schen weggenommen haben. Ich weiß – Sie wissen esauch –, welche Einschränkungen wir im Zuge der Ren-tenreform – wenn ich mich recht erinnere, haben Sie dasalles abgelehnt – kurz-, mittel- und langfristig vorge-nommen haben. Ich weiß, dass wir jetzt an einem Punktsind, an dem wir nicht immer nur auf die Kleinen schla-gen dürfen.
Stellen Sie sich nicht immer vor Ihre Klientel, sondernsorgen Sie dafür, dass sie richtig dabei ist! Ich erinnerean das Thema „Gesundheitsreform und Anbieterseite“;da gibt es in Ihren Reihen ganz ähnliche Vorbehalte.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10095
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Bundesminister Hans EichelDer Kurs, den wir in 1999 eingeleitet haben, hat dazugeführt – –
– Herr Koppelin, es ist doch ganz einfach zu beschrei-ben: Wenn wir den Kurs nicht eingeleitet hätten, hättenwir jetzt jedes Jahr mindestens 20 Milliarden Euro mehrSchulden.
Was ist nicht passiert? Was ist nicht eingetreten?
Die niedrigste Verschuldung fiel in meine Amtszeit,nämlich 1,2 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt im Jahr2000, 24 Milliarden Euro.
Eine niedrige Verschuldung des Bundeshaushalts gab esauch noch in 2001. Im vergangenen Jahr waren wir bei3,9 Prozent und 82 Milliarden Euro.
Warum? Die Antwort ist einfach: Es hat leider – das isttraurig – drei Jahre lang Stagnation gegeben, nicht nurbei uns,
aber eben auch bei uns, mit der Folge, dass die Steuer-einnahmen nicht in der erwarteten Höhe geflossen sind,mit der Folge, dass wir für den Arbeitsmarkt mehr habenausgeben müssen.
Noch einmal: 20 Milliarden Euro mehr Schulden wä-ren es ohne den Konsolidierungskurs, den wir 1999 ein-geleitet haben.
Schauen Sie sich die Entwicklung der Zahlen an; da-rin liegt die Heuchelei, die Sie betreiben.
Sie sagen, die Einnahmen flössen doch; wir hätten gegen-über 1999 15 Milliarden Euro Steuereinnahmen mehr.Das ist exakt die Ökosteuer. Anderenfalls hätten wir umzwei Prozentpunkte höhere Rentenversicherungsbei-träge.
Ansonsten sind die Ausgaben im Bundeshaushalt gefal-len. Das ist der Konsolidierungskurs.
Deswegen kommen Sie mit Ihrer Argumentation ganzgewiss nicht durch.Die Bundesregierung wird ihren finanz- und wirt-schaftspolitischen Kurs durchhalten.
Die eingeleiteten Reformmaßnahmen brauchen natür-lich Zeit, um Wirkung zu entfalten. Die langfristig ange-legte Konsolidierungspolitik wird dazu beitragen.Eines ist klar: Wachstum und Konsolidierung gehörenuntrennbar zusammen. Es ist richtig: Es gibt kein nach-haltiges Wachstum ohne solide Staatsfinanzen.
Aber ebenso richtig ist: Es gibt keine Konsolidierung derStaatsfinanzen ohne wirtschaftliches Wachstum.
Deswegen haben wir all die Maßnahmen eingeleitet, diemit der Agenda 2010 verbunden sind. Mal haben Siemitgemacht; mal – das ist das Traurige bei dieser Veran-staltung – haben Sie auch wieder nur torpediert.
Nun, meine Damen und Herren, eine letzte Bemer-kung zum Vertrag von Maastricht: Selbstverständlichwerden wir alles daransetzen, die Maastricht-Kriterienim Jahre 2005 wieder einzuhalten. Ich habe gesagt: Ichkann angesichts der Steuerschätzung nicht garantieren,dass wir das bei der Haushaltsaufstellung schon leistenkönnen. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass wir,wenn Sie Ihrer Verantwortung im Bundesrat nur annä-hernd nachgekommen wären, über diese Frage gar nichtzu reden brauchten.
Meine Vorschläge, wie man die Staatshaushalte in Ord-nung bringen kann, lehnen Sie ja regelmäßig gegen dieInteressen der Kommunen und der Länder ab.
– Das ist eine spannende Frage. Fragen Sie einmal HerrnKoch, ob er den Abbau von Steuersubventionen füreine Steuererhöhung hält. Bei den Koch/Steinbrück-Vor-schlägen war genau das Gegenteil der Fall.
Fragen Sie einmal den Sachverständigenrat, ob er denAbbau von Steuersubventionen für Steuererhöhungen
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10096 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Bundesminister Hans Eichelhält. Fragen Sie einmal die Bundesbank, ob sie den Ab-bau von Steuersubventionen für Steuererhöhungen hält.Mir hat Professor Wiegard gerade noch einmal aus-drücklich erklärt: Es gibt ökonomisch keinen Unter-schied zwischen der Kürzung von Finanzhilfen und demAbbau von Steuervergünstigungen.
Meine Damen und Herren, da fängt es dann ja auf bei-den Seiten an. Was Sie tun, Herr Austermann, ist nunwirklich der Gipfel der Heuchelei.
– Nein, das sage ich so. – Man kann über Ihren Vor-schlag, die Kohlesubventionen noch weiter zu kürzen,reden. Das würde ich vorher aber gerne einmal schwarzauf weiß sehen.
Wir fahren übrigens die Förderung von 28 auf 16 Millio-nen Tonnen im Jahre 2012 herunter, und zwar ohne dassbetriebsbedingte Kündigungen notwendig werden. Aberwas geschah im letzten Dezember im Vermittlungsver-fahren? Herr Stoiber ließ verlauten: Wenn auch nur eineinziger Cent bei den Subventionen für die Landwirt-schaft weggenommen wird – also ein Bereich, der garnicht zustimmungspflichtig ist –, ist das ganze Vermitt-lungsverfahren von vornherein als gescheitert anzuse-hen. Das war Ihre Vorgehensweise. Sie sollten also ein-mal über Ihre eigene politische Glaubwürdigkeit indiesem Punkt nachdenken.
Nehmen wir jetzt einmal das Gesetz zum Abbau vonSteuervergünstigungen. Ich habe, wie es die Mehrheitdes Bundestages dann beschlossen hat, einen nachhalti-gen Abbau von Steuersubventionen in Höhe von 15,6Milliarden Euro vorgeschlagen. Nachdem dieses Gesetzdurch den Bundesrat gegangen war, sind gerade einmal2,4 Milliarden Euro übrig geblieben. Mit anderen Wor-ten: Es geht im Zusammenhang mit Ihrer Blockade desGesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen imBundesrat um 13 Milliarden Euro, die dem Staatshaus-halt nicht zur Verfügung stehen.
Es darf nicht mehr so weitergehen, dass wir Vorschlägemachen, die auch zur Sanierung der Länder- und Kom-munalhaushalte beitragen, und Sie sie blockieren. Essind nämlich keine Lösungen für die Probleme in diesemföderalen Staat mehr möglich, wenn nicht alle ihrer Ver-antwortung nachkommen, und zwar im Bundestag undim Bundesrat.
Aber erst blockieren, anschließend die Folgen beweinenund dabei uns die Schuld zuschieben ist der Heucheleizu viel. Das müssen wir uns nicht gefallen lassen. Daslassen wir uns auch nicht gefallen, meine Damen undHerren.
Das Wort hat der Kollege Otto Fricke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Ich habe das Gefühl, ich bin hier im falschenFilm.
„Same procedure as every year“: Hans Eichel in derRolle des James, der deutsche Wähler in der Rolle vonMiss Sophie und ein Tigerkopf im Sinne einer 3-Pro-zent-Hürde mit einem stolpernden Finanzminister.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien wir doch ein-mal ehrlich: Was hier passiert, ist ritualisiert. Es ist bisins Detail und bis hin zu den ewigen Zwischenrufen ritu-alisiert. Zum Thema Sparen: Sparen Sie sich doch, HerrTauss, einmal Ihre ewigen Zwischenrufe. Das wäre auchfür uns ein großer Beitrag.
Ich will gerne zugestehen, Herr Eichel, dass Sie ver-suchen, in eine Richtung zu gehen, die dem Haushalthilft. Aber Sie setzen sich doch gar nicht mehr durch. Siehaben um sich herum Ihre Freunde versammelt – manch-mal redet man von Parteifreunden; das ist noch vielschlimmer –, die Ihnen regelmäßig die Beine weghauen.
Das können Sie anhand des Rentenzuschusses in Höhevon 2 Milliarden Euro – Sie haben dieses Thema ja an-gesprochen – ganz deutlich sehen. Sie sind weg. Da stelltsich die Frage, wie wir das vor dem Hintergrund derNeuverschuldung bewerten sollen und ob die 2 Milliar-den Euro nicht eher in einen Nachtragshaushalt gehören,auch wenn Sie behaupten, Sie könnten sie durch allge-meine Einsparungen irgendwie wieder hereinholen.Das beste Beispiel hat ja der Hilfsökonom JoschkaFischer abgegeben.
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Otto FrickeWas sich Joschka Fischer mit seinem Spruch, mit derAskese sei es jetzt genug, nicht nur in Bezug auf seinePerson, sondern auch in Bezug auf den Haushalt erlaubthat,
erzeugt bei den Bürgern einen bestimmten Reflex; undgenau der ist das Problem. Der Bürger meint nämlich,wir müssten gar nicht sparen; denn manchmal kann erdie Zusammenhänge der Milliarden von Schulden, diewir uns hier regelmäßig an die Köpfe werfen, nicht mehrerkennen. Sobald ein Politiker – gerade der Vizekanz-ler – sagt, wir müssten nicht mehr so sehr sparen, sagtder Bürger: Siehst du, das habe ich doch gewusst! Es istgar nicht nötig, und wenn doch, muss es ja nicht michkleinen Mann treffen.Herr Minister, Sie haben die Niederlande als Beispielangeführt. Es stimmt: Nachdem Herr Zalm Sie heftigstkritisiert hat, hat er selber einmal die 3-Prozent-Hürdegerissen. Aber hier kommt jetzt der große Unterschied:Die Niederländer versuchen die drei wesentlichen Pro-bleme – Sozialausgaben, Zinsen, Arbeitslosigkeit – inden Griff zu bekommen; die Arbeitslosigkeit haben siebereits in den Griff bekommen. Die Lösung ist nicht eineAgenda 2010, sondern es sind harte Einschnitte.
Von solchen harten Einschnitten ist von der Regierungs-seite nichts mehr zu hören, auch nicht vonseiten der da-zugehörigen Fraktionen.Hier liegt der wesentliche Unterschied zu einer voraus-schauenden Finanzpolitik. Sie selber haben gesagt: DieSchulden von heute sind die Steuern von morgen. – Dasbedeutet doch, dass wir im Moment dabei sind, jedesJahr Steuererhöhungen für unsere Kinder zu beschlie-ßen. Das kann man einfach nicht verantworten.
Was kann man dagegen machen? Wir könnten einmalmit dem Fahrrad – früher sind Sie ja noch gerne Fahrradgefahren – in die Niederlande fahren, mit Herrn Zalm re-den und uns die Situation dort anschauen. Ich sehe hierneben der Regierung auch die Gewerkschaftsvertreter.Ich sage ganz bewusst, dass ich es für richtig halte, dasses Abgeordnete gibt, die Mitglied in einer Gewerkschaftsind. Aber wichtig wäre, einmal mit den Gewerkschaftenzu reden und das zu erreichen, was in anderen Ländernerreicht wird, nämlich dass man beschließt, dass es keineweiteren Lohnerhöhungen gibt. Wir werden in diesemJahr wieder erleben, dass Lohnerhöhungen von 3 oder4 Prozent beschlossen werden, immer mit der Begrün-dung, dass die jeweiligen Unternehmen doch so gut ver-dienen. Das kann nicht der Sinn des Ganzen sein.
Ich habe manchmal das Gefühl, wir machen jetzt den-selben Fehler, den wir bei der Rente und im Zusammen-hang mit dem Demographiewandel gemacht haben: Wiralle wissen, was am Ende rechnerisch herauskommt,aber alle tun so, als könnte man durch das Verstellen ei-nes kleinen Schräubchens um größere Veränderungenherumkommen. Sie haben im Moment die Verantwor-tung; Sie sind diejenigen, die deutlich zeigen müssen,wohin der Weg geht.Jetzt zur Frage eines Nachtragshaushalts. HerrEichel, Sie haben gesagt, wir wüssten es schließlichnoch nicht so genau.
Ich gebe Ihnen Recht: Wir wissen es noch nicht genau.Das ist übrigens auch der Grund, warum die FDP ihrenAntrag erst nach der Steuerschätzung eingebracht hat.Wir wissen es nur ungefähr. Wir wissen, dass es ummehrere Milliarden geht, die uns zusätzlich fehlen wer-den. Wir kennen die Problematik von Hartz IV, die Pro-blematik bei der Kindererziehung der unter Dreijährigenund die Rentenproblematik, die Problematik im Zusam-menhang mit der Schwankungsreserve usw. Wäre esdeshalb nicht ehrlicher, jetzt einen Nachtragshaushaltaufzustellen, in dem dargestellt wird, dass es nicht soläuft, wie Sie es sich vorgestellt haben? Wenn sich dannletztendlich zeigt, Herr Eichel, dass es besser gelaufenist als erwartet, dann brauchten Sie sich am Ende diesesJahres nicht mit dem Nachtragshaushalt hinter dem ei-gentlichen Haushalt zu verstecken, sondern könnten an-hand dieses Nachtragshaushalts zeigen, dass es aufwärtsgeht.
Was Sie jetzt machen, wird am Ende zu Folgendemführen: Sie werden – jetzt kehre ich zu dem Bild des„Dinner for One“ zurück – nicht mit Miss Sophie dieTreppe hinaufgehen, sondern Sie werden vom Wähler ander untersten Stufe stehen gelassen werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Kollege Fricke, Sie sind, wenn ich richtig infor-miert bin, erst seit zwei Jahren im Bundestag. Deswegenist Ihnen in den letzten zehn Jahren so manche Plänkeleiim Haushaltsausschuss entgangen. Aber wenn Sie dasBeispiel der Niederlande bemühen, möchte ich deutlichsagen: Die Niederlande haben in den 90er-Jahren ange-fangen, ihr Strukturproblem Arbeitsmarkt zu lösen. Dahat hier noch Herr Kohl regiert, unterstützt von HerrnGerhardt, und da ist nichts passiert – um das einmal aufden Punkt zu bringen.
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Antje HermenauHerr Austermann, wir sitzen uns im Ausschuss jetztschon seit zehn Jahren gegenüber. Ich könnte eigentlicherwarten, dass wir mit der Situation etwas aufrichtigerumgehen, als Sie es hier getan haben.
Ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie andeuten, dassaufgrund der durch die Wahl des Herrn Köhler seitSonntag veränderten Situation und damit eines in gewis-ser Weise veränderten politischen Vorgehens der Unionjetzt die ersten Angebote bezüglich einer vernünftigenund notwendigen Zusammenarbeit im Bereich der Fi-nanzpolitik in der Bundesrepublik Deutschland kom-men. Stattdessen haben Sie hier ein buchhalterischesKlein-Klein bemüht in der Hoffnung, dass das als Fi-nanzdebatte durchgeht.
Die wirklich dramatischen Zahlen haben Sie ausgespart.Seit 10 Jahren streiten wir darüber. In dieser Zeit habenwir drei Finanzminister und zwei Regierungen erlebt.Herr Austermann, Sie wissen so gut wie ich: Seit30 Jahren sind die Strukturprobleme in Deutschland an-gehäuft worden. Das haben alle Parteien gemacht; wirhaben das schon ausdiskutiert. Allein die Ausgaben fürZinsen und Alterssicherung machen 140 Milliarden Euroim Jahr aus. Das sind mehr als 60 Prozent des Bundes-haushalts.
Wenn Sie noch die Ausgaben für Investitionen und Ver-teidigung hinzunehmen, dann haben Sie in etwa das, wasaus Steuereinnahmen finanziert werden kann. Ich wie-derhole: Ausgaben für Zinsen, Rentenzuschuss, Investi-tionen und Ausgaben für Verteidigung können wir unsaus den Steuereinnahmen leisten. Was wir uns nicht leis-ten können, sind Ausgaben für Bildung, Arbeitsmarktpo-litik, Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Außenpolitik,für Bau und teilweise Verkehr.
Das heißt für mich, dass diese Republik schon sehr langeüber ihre Verhältnisse lebt, und zwar in allen Bereichen.Nun hat Ihr Kollege Stoiber – er steht der Unionsfrak-tion politisch sehr nahe – deutlich gemacht, er wäre damitzufrieden, wenn alle Haushalte in der BundesrepublikDeutschland um 5 Prozent gekürzt würden. Wir hattenschon im letzten Jahr die so genannte Rasenmäherdiskus-sion. Erste Erfahrungen mit dem Koch/Steinbrück-Papier – dieses Papier bedeutet eine Art Rasenmäherüber alle Subventionen – haben gezeigt: Wenn man eine5-prozentige Kürzung aller Ausgaben durchführt, dannverhindert man, dass in der Politik Entscheidungen ge-troffen werden. Man zementiert die bestehenden Verhält-nisse. Das kann nicht gut sein.
Nachdem in dieser Debatte deutlich geworden ist,dass die Verhältnisse, wie sie jetzt sind, nicht zukunfts-tauglich sind, kann man keine finanzpolitischen Vor-schläge machen, die diese falschen Verhältnisse zemen-tieren. Das ist verkehrt. Deswegen kommt eine 5-pro-zentige Haushaltssperre jetzt nicht mehr infrage. DenZeitpunkt dafür haben Sie verpasst. Im letzten Jahr hättees die Möglichkeit gegeben, dass Bundestag und Bun-desrat gemeinsam eine finanzpolitische Vollbremsunghingelegt hätten – dann hätten solche Vorschläge viel-leicht etwas gebracht –, wenn im Paket mitbeschlossenworden wäre, welche Strukturreformen Bund und Län-der, Unionsfraktion und Koalitionsfraktionen gemein-sam anpacken.Aber das ist nicht passiert. Stattdessen haben Sie esvorgezogen, auf eine Palme hochzuklettern und jeden ein-zelnen Vorschlag zum Abbau von Steuersubventionenals Steuererhöhung zu diffamieren.
Sie streben doch immer die Regierungsübernahme an.Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie in einigen Jahrendann vielleicht von der Palme wieder herunterkletternmüssen? Es würde für Sie sehr unbequem. Wenn Sienämlich später versuchen müssten, den Abbau von Steu-ersubventionen durchzusetzen, dann müssten Sie der Be-völkerung erklären, dass es sich dabei nicht um eineSteuererhöhung handelt.
Es langweilt so ungemein,
immer wieder dasselbe von Ihnen zu hören, obwohl Siedoch genau wissen, wie schwierig die Lage inzwischenist. Sie finden eigentlich eine günstige Situation vor, diees in Deutschland noch nicht gegeben hat. Es gibt ein öf-fentliches Problembewusstsein. Die Umfragen zeigen,dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung der Meinungsind, dass wir sparen müssen und dass es ganz offen-sichtlich ist, dass es nicht mehr so weitergeht. Die Be-völkerung stellt generell die Struktur der BundesrepublikDeutschland infrage. Das kann man aus den Umfragenerkennen.Anstatt die Gelegenheit zu nutzen und eine entspre-chende Diskussion öffentlich zu führen, kommt Ihnennichts anderes in den Sinn, als jede einzelne Maßnahmein der Hoffnung zu diffamieren, mithilfe einer ArtSonthofen-Strategie die Regierung an die Wand fahrenzu lassen. Sie haben aber nicht bedacht – so kommt esmir jedenfalls vor –, was Sie, die Sie vor Kraft kaumnoch laufen können, in zwei Jahren übernehmen würden.
Ein zerstörtes Land? Was haben Sie sich dabei gedacht?Wie wollen Sie von dieser Blockadepolitik, die fast
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Antje Hermenauschon verfassungswidrig ist, wieder wegkommen? DieseFragen haben Sie sich offensichtlich nicht gestellt.Sie hätten noch jetzt eine Chance gehabt, Vorschlägezu machen.
Es gab für ein paar Tage die Möglichkeit, über mehrereStrukturreformen zu diskutieren und zu entscheiden.Am Beispiel Niederlande – Herr Fricke hat es erwähnt –wird deutlich, wie viele Jahre es dauert, bis Strukturre-formen greifen. Dass die Ergebnisse der Agenda 2010 indiesem Jahr noch nicht zu pflücken sind, ist jedem klar,der ein bisschen von der Sache versteht. Das heißt, esmuss jetzt entschieden werden, was in den nächsten Jah-ren passieren soll. Da verweigern Sie sich wahrschein-lich noch die nächsten zwei Jahre.
Wir werden uns noch mehrere solcher Debatten anhörenmüssen, Herr Fricke. Es wird sich wohl nichts ändern.Schade!
Aus Machtinstinkt spielen Sie mit der Zukunft derMenschen. Sie sitzen in der Machtfalle. Sie haben imBundesrat eine Nebenregierung gebildet, weil Sie gerneein bisschen Macht haben wollen. Jetzt sitzen Sie in derFalle. Auf der einen Seite fordern Sie ein Haushaltssi-cherungsgesetz,
auf der anderen Seite blockieren Sie jeden einzelnenSchritt im Bundesrat. Im Haushaltsbegleitgesetz 2004sind viele zustimmungspflichtige Einzelheiten enthalten.Sie hätten die Möglichkeit gehabt zuzustimmen. Wahr-scheinlich wird man ein Haushaltsbegleitgesetz 2005machen müssen. Sie wissen, wie ich darüber denke. DasEntscheidende an dieser Sache ist: Sie werden wiederblockieren; es wird wieder keinen Schritt vorangehen.Deswegen kann ich Ihren Antrag einfach nicht ernst neh-men.
Das Wort hat die Kollegin Ilse Aigner, CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Wir haben uns mehrfach anhörenmüssen, dass wir im Bundesrat oder wo auch immer diegroßen Blockierer seien.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es selten eine so kon-struktive Opposition gegeben hat.
Was wir alles in der letzten Zeit mitgetragen haben! Ichvergleiche das einmal mit 1996 – zu dieser Zeit war ichzwar noch nicht im Bundestag, aber immerhin schon imLandtag –, mit den Petersberger Beschlüssen. Da habenMinisterpräsident Schröder, Ministerpräsident Eichel undnoch ein paar bekannte Persönlichkeiten – Lafontainewar, glaube ich, auch dabei –
alles blockiert. Von Ihnen lasse ich mir nichts vorwerfen.Wir sind sehr konstruktiv.
Aber nun zum Tagesordnungspunkt. Sie haben bei derSteuerschätzung wieder ein Debakel erlebt.
Sie hatten, was allein den Bundeshaushalt anbetrifft, einenEinbruch von über 8 Milliarden Euro zu verzeichnen.Dies ist eine enorme Größenordnung. Nebenbei bemerkt:Das ist der komplette Haushalt des Forschungs- und Bil-dungshaushaltes. Dieser Haushalt umfasst 8,3 MilliardenEuro; nur um Ihnen einmal aufzuzeigen, was Ihnendurch die Lappen gegangen ist.Man muss sich fragen, warum das so ist. Sie gebenden Steuerschätzern Vorgaben, wie hoch das Wachstumvoraussichtlich wird. Das ist die Grundlage der Berech-nung. Seit mindestens drei Jahren prognostizieren Sie je-des Jahr ein wesentlich höheres Wachstum, als es danntatsächlich ist.
Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel aus dem Jahr 2002.In der Steuerschätzung von Mai 2002 haben Sie für dasJahr 2003 ein Wachstum von nominal 3,9 Prozent pro-gnostiziert. Wir hatten letztes Jahr ein Minuswachstumvon 0,1 Prozent; nur um einmal die Größenordnungenaufzuzeigen. Dass das zu keiner vernünftigen Haushalts-politik führen kann, ist offensichtlich.Es ist zu fragen, warum wir jetzt und nicht erst im No-vember, also fünf bis sechs Wochen vor Ende des Haus-haltsjahres, so wie es letztes Jahr geschehen ist, einenNachtragshaushalt fordern. Sehr geehrter Herr Minis-ter Eichel, Sie haben gesagt, Sie hätten sich im letztenJahr um 5 Milliarden Euro verschätzt. Sechs Wochen vordem Jahresende ist es ziemlich einfach, sich lediglichum diese Summe zu verschätzen. Aber zu Beginn desJahres hatten Sie sich um 20 Milliarden Euro verrechnet.
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Ilse AignerDas ist eine ganz andere Größenordnung. Sie brauchendem Kollegen Austermann nicht zu sagen, er habe sichum 12 Milliarden Euro verrechnet – abgesehen davon,dass das nicht stimmt.Zu der Frage, warum wir jetzt einen Nachtragshaus-halt fordern. Ich nenne ein weiteres Beispiel, weil es füreinen normalen Menschen schwer ist, zu begreifen, wasein solcher Haushalt im Einzelnen bedeutet. Man stellesich einmal einen Menschen mit einem Jahreseinkom-men von ungefähr 22 000 Euro vor. Dummerweise sindseine 22 000 Euro schon komplett durch Zinsen, Miete,Versicherungen, Benzin und was sonst noch im täglichenLeben benötigt wird, verplant. Er hat damit gerechnet,zukünftige Ausgaben über eine Lohnsteigerung mitzufi-nanzieren. Sie ist leider nicht eingetreten; im Mai desJahres weiß er das. Dann hat er eine Erbschaft in be-trächtlicher Größenordnung eingeplant. Das sind IhreRisiken, die Sie im Haushalt stehen haben. Diese Erb-schaft ist dummerweise auch nicht ausgezahlt worden.Das alles weiß er im Mai. Stellen Sie sich vor, dieserMensch sagt dann: Jetzt mache ich noch keine Neuauf-lage meiner Planung; das mache ich erst im November.Dann ist es zwar schon zu spät; aber das ist ja egal. Ichmache einfach die Augen zu und riskiere es.
Dass jemand in einem normalen Privathaushalt so vor-geht, ist überhaupt nicht vorstellbar.
Ich möchte ein paar Dinge Revue passieren lassen;denn Sie sagen ja, vor 1998 sei alles ganz fürchterlichund schlimm gewesen. Ich nenne Ihnen einmal den Fi-nanzierungssaldo von 1998, der meiner Meinung nachschon damals zu hoch war: Er betrug 199828,9 Milliarden Euro. In Ihrem Bericht steht für das Jahr2003 ein Finanzierungssaldo von 44 Milliarden Euro.Ich kann nur zitieren, was in Ihrem Bericht stand. DieDefizitquote nach den Maastricht-Kriterien betrug 19981,7 Prozent und liegt jetzt bei 3,9 Prozent. Was noch vielschlimmer ist: Die Investitionsquote lag 1998 bei12,5 Prozent. Sie liegt jetzt bei unter 10 Prozent, näm-lich bei 9,6 Prozent.Sehr geehrter Herr Eichel, da wir schon bei denInvestitionen sind: Ich kann mich noch gut daran erin-nern, dass Kanzler Schröder gesagt hat, er wolle die In-vestitionen in Bildung und Forschung verdoppeln.
Hier die nackten Zahlen aus dem Haushalt
– wir können ja einmal schauen –: 1998 wurden imEinzelplan 30 Investitionen in Höhe von 2,65 MilliardenEuro ausgewiesen. Im Jahr 2004 sind im Einzelplan 302,18 Milliarden Euro ausgewiesen.
Eine Verdoppelung ergäbe nach meiner Rechnung im-mer noch eine Zahl über 5 Milliarden. Selbst wenn ichdie Suppenküchen – oder wie Sie das Ganztagsschulpro-gramm sonst auch immer bezeichnen möchten –
hinzurechne, sind wir noch immer weit von einer Ver-doppelung der Investitionen entfernt.
Im selben Zeitraum haben Sie die Fördermittel fürHochschulbaumaßnahmen – im Rahmen der Gemein-schaftsaufgabe ist das Ihre Aufgabe – um 135 MillionenEuro gekürzt. Stattdessen investieren Sie Geld in Pro-gramme, die Sie überhaupt nichts angehen, die allein dieLänder etwas angehen. Das halte ich für prinzipiellfalsch.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Vom Herrn Tauss doch immer. Herr Kollege Tauss,
bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Frau Kollegin Aigner, würden Sie konstatieren,
dass sich der Haushalt des Bundesministeriums für Bil-
dung und Forschung seit 1998 um 30 Prozent erhöht hat,
dass der Ansatz für die Hochschulbauförderung erheb-
lich über dem von Ihnen verantworteten Ansatz von
1998 liegt und dass die Kürzungen des Freistaates Bay-
ern im Bereich Bildung und Forschung dem Ausmaß an
Kürzungen entsprechen, die Sie während Ihrer Regie-
rungszeit im Bundeshaushalt vorgenommen haben, aber
nicht in Korrespondenz mit dem stehen, was wir in den
vergangenen Jahren in diesem Bereich geleistet haben?
Sehr geehrter Herr Tauss, die Istausgaben für Hoch-schulbaumaßnahmen betrugen 1998 920 MillionenEuro. Heute betragen sie 925 Millionen. Das ist eine we-sentliche Steigerung um 5 Millionen. Sie können das imHaushalt nachlesen, ich kann es Ihnen aber auch zeigen.
– Sie haben mich gefragt, wie es ausschaut. So ist es. Ichhabe von den investiven Maßnahmen gesprochen. Esgibt einen Unterschied – das sollten Sie sich einmal
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Ilse Aigneranschauen – zwischen investiven und konsumtiven Maß-nahmen.
Herr Tauss, ich muss Sie leider darüber aufklären. Siewollten – das haben Sie schriftlich festgehalten – dieFördermittel für investive Maßnahmen verdoppeln. Esist ein Unterschied, ob ich die Mittel von 2,65 MilliardenEuro auf 5,3 Milliarden Euro erhöhe oder auf2,18 Milliarden Euro – so ist es ausgewiesen – kürze.
Jetzt komme ich zu meiner Rede zurück.
– Ich habe leider nicht genügend Zeit, um alles zu sagen,was mir auf dem Herzen liegt. Interessant ist für michnach wie vor, dass alle anderen EU-Länder an uns vor-beiziehen. Dafür sind angeblich die makroökonomi-schen Bedingungen veranwortlich: 9. November, Welt-wirtschaft, Globalisierung, Fixschuld und was weiß ichsonst noch.Früher sagte der damalige MinisterpräsidentSchröder, er müsse Bundeskanzler werden, um die ma-kroökonomischen Bedingungen auf Bundesebene än-dern zu können. Jetzt sind die makroökonomischen Be-dingungen irgendwo anders schuld. Ich glaube, es liegtan der Person, die hier regiert. Das einzig Richtige wäre,aufzuhören zu regieren, damit das Land wieder vorwärtskommt.Danke schön.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Elke Ferner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Sie haben uns, wie üblich, einen Schau-
fensterantrag vorgelegt. Wir erleben das in jeder Haus-
haltsausschusssitzung.
– Lieber Kollege Kampeter, Sie müssen sich schon ein-
mal die Wahrheit anhören. Sie haben im Bundesrat alles
Mögliche blockiert: Steuervergünstigungsabbaugesetz,
Haushaltsbegleitgesetz; Sie haben es geschafft, die Ge-
meindefinanzreform zulasten der Kommunen zu verwäs-
sern.
Auf der anderen Seite gibt es aus Ihren Reihen di-
verse Vorschläge: von Herrn Merz dieses komische Bier-
deckelkonzept; die Kopfprämien; andere wollen das
Kindergeld erhöhen usw. Ihr stellvertretender Fraktions-
vorsitzender Horst Seehofer addiert die Belastung bei
Umsetzung dieser Vorschläge auf eine Summe von
102 Milliarden Euro. Wie passt das denn zusammen?
Erst planen Sie 102 Milliarden Euro zusätzliche Belas-
tungen für den Bundeshaushalt und jetzt verlangen Sie
ein Haushaltssicherungsgesetz. Was Sie hier treiben, ist
einfach nicht mehr wahr.
Der Bayerische Ministerpräsident will eine Global-
kürzung von 5 Prozent auf alles. Ich will an ein paar
Beispielen deutlich machen, was das heißt.
– 5 Prozent weniger Diäten wäre weniger schlimm, lie-
ber Kollege Fricke, als 5 Prozent weniger im Haushalt
für Gesundheit und Soziale Sicherung. Dort müssten
nämlich 4 Milliarden Euro eingespart werden, was eine
Erhöhung um 0,4 Beitragspunkte oder Rentenkürzungen
bedeuten würde. Das wäre nämlich das Ergebnis einer
solchen Operation. Wenn Sie das möchten, können Sie
das gerne der staunenden Bevölkerung sagen. Wir möch-
ten das auf alle Fälle nicht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Fricke?
Ja.
Frau Kollegin Ferner, wollen Sie mit Ihrer Äußerung
sagen, dass überall gespart werden muss, nur nicht bei
den Rentnern?
Ich weiß nicht, in welcher Welt Sie im letzten halbenJahr gelebt haben, Herr Kollege Fricke, aber wir habenden Rentnern und Rentnerinnen in dieser Republik – dasist immerhin die Generation, die unserer Generation einedeutlich bessere Ausbildung ermöglicht hat, als unsereEltern sie genießen konnten, die dieses Land aufgebauthaben – eine ganze Menge zugemutet, damit wir für de-ren Enkelkinder und Töchter das finanzieren können,was die Frau Kollegin Aigner vorhin als „Suppenkü-chen“ diskreditiert hat, nämlich Ganztagsschulen flä-chendeckend einzurichten.Ich bin der Auffassung,
dass zum jetzigen Zeitpunkt eine zusätzliche Belastungder Rentner und Rentnerinnen nicht möglich ist. Dashalte ich nicht für akzeptabel. Insbesondere unter den
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Elke Fernerälteren Frauen gibt es viele, die nur über eine sehr kleineRente verfügen
und Mühe haben, bis zum Monatsende mit ihrem Geldüber die Runden zu kommen.Die CDU/CSU hat nicht nur in der Rentenpolitik,sondern beispielsweise auch bei der Gesundheitsreformihre Klientel geschont, aber auf der anderen Seite einePraxisgebühr eingeführt, wie wir sie nicht wollten. Dieseist ein Ding der Union.
Die Union hat ebenso die Privatisierung des Zahnersat-zes und höhere Zuzahlungen zu verantworten. Das trifftwiederum insbesondere ältere Menschen, die öfter zumArzt müssen, vielleicht auch dauerhaft Medikamentenehmen müssen, härter als unsereins.
Deshalb glaube ich, dass eine zusätzliche Belastung derRentner und Rentnerinnen derzeit nicht möglich ist.
– Das freut mich. Ich danke Ihnen auch, dass Sie mir dieGelegenheit gegeben haben, diese Ausführungen zu ma-chen.Ich könnte noch das Beispiel Wirtschaftshaushalt an-führen. Hier müssten Einschneidungen bei Arbeitsbe-schaffungsmaßnahmen und der aktiven Arbeitsmarktpo-litik erfolgen. Das wird Ihre Kolleginnen und Kollegenim Osten des Landes mit Sicherheit sehr freuen.
Sie ziehen immer gleich die Steinkohlehilfe zu Rate.
– Dazu muss ich Ihnen eines sagen, liebe Frau KolleginAigner. Es waren Ihr Kanzler Kohl, Ihr Minister Waigelund Ihr Wirtschaftsminister Rexrodt, die 1997 die Höheder Kohlebeihilfen bis einschließlich 2005 festgelegt ha-ben. Das waren nicht wir, das waren Sie.
– Degressiv, natürlich. Bei der Degression wird es auchbleiben.
Was aber bedeutet das für die Menschen vor Ort – ichkomme aus einer Bergbauregion –,
die nicht mit einer Steinzeittechnologie, sondern miteiner hoch modernen Technologie leben wollen? DieCDU in Nordrhein-Westfalen will ja nicht wirklich einenTotalabbau der Steinkohlesubventionen.
– Mit Steinkohle kann man aber niemanden totschießen,lieber Herr Kollege Fricke.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage: des Kollegen Kampeter?
Sehr gerne.
Frau Kollegin Ferner, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass in der gestrigen Beratung des Landtages
Nordrhein-Westfalen die CDU-Landtagsfraktion vorge-
schlagen hat, die Kohlesubventionen zugunsten von Zu-
kunftsinvestitionen in Bildung und Forschung im Ver-
gleich zum Regierungsentwurf zu halbieren? Sind Sie
bereit, diesem Vorschlag der CDU-Landtagsfraktion auf
Bundesebene zu folgen?
Nein, ich bin nicht dazu bereit, Herr KollegeKampeter.
Vorhin ist die Entwicklung der Kohlepreise auf denWeltmärkten angesprochen worden. Ich glaube, es warHerr Austermann. Ich habe beispielsweise von dem Um-weltminister des Landes Niedersachsen – FDP – gele-sen, der sogar vorgeschlagen hat, alle bestehenden Ze-chen offen zu halten und keine einzige mehr zuschließen.Ich glaube nicht, dass nur Ausgaben in Bildung undForschung Zukunftsinvestitionen sind. In Nordrhein-Westfalen gibt es beispielsweise noch einige Zulieferbe-triebe. Sie werden in Nordrhein-Westfalen wahrschein-lich auch einige Kraftwerksbauer haben.
All das hängt damit zusammen. Zu Ihrem Zwischenruf,Herr Fricke, dazu brauche man keine deutsche Stein-kohle, kann ich nur sagen: Die deutsche Stahlindustriewäre im Moment heilfroh, wenn sie deutsche Kokskohlezu vernünftigen Preisen beziehen könnte
und sie nicht zu Preisen, die deutlich über den deutschenFörderkosten liegen, auf den Spotmärkten einkaufenmüsste.
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Elke FernerIch möchte noch ein Beispiel für Ihre Unseriosität an-führen. Sie haben in Ihrem Antrag die Einnahmen undAusgaben der Jahre 1998 und 2003 gegenübergestellt.Da vergleichen Sie aber wirklich Äpfel mit Birnen; dennSie haben sich nicht die bereinigten Ausgaben angese-hen. Allein die Rentenversicherungszuschüsse sind umfast 29 Milliarden Euro höher als im Jahr 1998.
– Ja, und während Ihrer Regierungszeit sind sie von denVersicherten über Beiträge gezahlt worden. Wenn mandiese Summe auf die Beiträge umlegt, entspricht dieseiner Beitragserhöhung von knapp 3 Prozentpunkten. Dasbedeutet also Rentenversicherungsbeiträge von knapp22,5 Prozent statt 19,5 Prozent bzw. – andersherum aus-gedrückt – eine zusätzliche Belastung für Unternehmenund Versicherte in Höhe von je 14,5 Milliarden Euro.Wenn das Ihre Politik ist, kann ich nur sagen: ProstMahlzeit!
Ich möchte Ihnen noch einen letzten Beweis für die„Seriosität“ der CDU-Finanzpolitik geben.
Man muss sich nur einmal ansehen, was die „grandiose“Landesregierung des Saarlandes geschafft hat.
In den Jahren 2000 bis 2004 hat der Bund dem Saarlandeine Teilentschuldung von knapp 2 Milliarden Euro zu-kommen lassen.
Aber der Schuldenstand des Landes, werter HerrKampeter, wird Ende dieses Jahres über 1,1 MilliardenEuro höher sein als im Jahr 1999. Das ist CDU-Finanz-politik. Sie unterscheiden sich leider in keiner Hinsichtvon Ihren Kollegen im Saarland.Daher muss ich sagen: Ihre Anträge sind Showan-träge, wie Sie sie immer schon eingebracht haben. Wirwerden sie ablehnen. Natürlich werden wir sie noch imAusschuss beraten, aber sie helfen diesem Land über-haupt nicht weiter. Sie sollten sich lieber mit konstrukti-ven Vorschlägen beteiligen,
anstatt alles nur mies zu machen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufDrucksachen 15/3096 und 15/3216 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sinddie Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-ordnung des Gentechnikrechts– Drucksache 15/3088 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
RechtsausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für. Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft
zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENWahlfreiheit für die Landwirte durch Reinheitdes Saatgutes sicherstellen– Drucksachen 15/2972, 15/3209 –Berichterstattung:Abgordnete Gabriele Hiller-OhmHelmut HeiderichUlrike HöfkenDr. Christel Happach-KasanNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin Renate Künast.Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge-ordnete! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Waswir brauchen, ist Sicherheit – Sicherheit für unsere Bäu-erinnen und Bauern; denn sie müssen wissen, was auf ih-ren Feldern los ist, und sie müssen entscheiden können,welche Chancen sie nutzen wollen und welche nicht.Das ist meines Erachtens keine ideologische Frage, son-dern schlicht und einfach eine Frage der wirtschaftlichenExistenz. Genau deshalb bringen wir den Entwurf einesGesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts ein.Hierbei geht es nicht nur darum, EU-Recht in materiellesRecht umzusetzen, sondern es geht auch um den Schutzvon gentechnikfreiem Anbau.
An dieser Stelle will ich nicht verhehlen, dass es An-lass gibt, die Europäische Kommission zu kritisieren,weil sie aufgrund des Drucks, der auf sie ausgeübt wurde,in Bereichen, die dringend geregelt gehören, einige
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Bundesministerin Renate KünastFragen offen gelassen hat. Wir sehen – auch das gehörtzum Thema Sicherheit für die Landwirtschaft –, dass esderzeit wohl 33 gentechnikfreie Regionen und Land-kreise in Deutschland gibt und weitere in Gründung sind.Was beweist das? Das beweist, dass sich die Landwirtesehr intensiv mit diesem Thema beschäftigen und dass esBäuerinnen und Bauern gibt, für die in der gentechnik-freien Landwirtschaft große Einkommensvorteile lie-gen.
– In Sachen Show kennt sich Ihr Guido ja aus.
Wahrscheinlich sind seine Schuhe mit der aufgeklebtenZahl 18 – er träumt heute noch davon, dieses Ziel einesTages zu erreichen; aber es wird wohl nicht gelingen – ineinem Heimatmuseum in einer gentechnikfreien Zoneuntergebracht. Da stehen sie auch gut.
Es ist doch klar, dass die Landwirte die gentechnik-freie Landwirtschaft wollen. Denn sie sehen darin Ein-kommensvorteile und Standortvorteile, übrigens auch imHinblick auf den internationalen Markt. Vergessen Sienicht: Gerade in den USA haben die Landwirte so vielDruck gemacht, dass das Thema Weizen erst einmal fal-len gelassen wurde.
Meine Damen und Herren, was wir wollen, ist Trans-parenz und Planungssicherheit, deshalb das Gentechnik-gesetz, das man angesichts der Auseinandersetzungquasi als „das Gesetz, das Frieden auf den Feldernschafft“ bezeichnen kann.
Ich möchte auf vier Punkte eingehen: die Abstandsre-geln – die im Sinne einer Vorsorgepflicht zur guten fach-lichen Praxis gehören –, die Haftungsfragen, ein für allezugängliches Standortregister und eine unabhängige Be-gleitforschung.Bei dem Ersten ist doch eines klar: Wir brauchen Re-geln für die Vorsorge, detaillierte Regeln für eine gutefachliche Praxis. Ich halte es für einen normalen Ansatz,zu sagen, dass, wer anbaut, sich auch Gedanken machenmuss, wie er Auswirkungen auf die Felder, auf das Ei-gentum, auf die Ernte seiner bäuerlichen Nachbarn ver-hindern kann.
Für mich ist klar: Wir können und wollen Verunreini-gungen nicht dulden.Zum Zweiten: Bei den Haftungsfragen ist für michganz klar: Wer Schäden verursacht, wer wesentliche Be-einträchtigungen beim Gewerbe, beim Unternehmen ei-nes anderen verursacht, muss dafür zahlen. Deshalb istauch klar: Wer sich für die Agrogentechnik entscheidet,muss dafür sorgen, dass Nachbarn keinen Schaden ha-ben. Ich sage auch für die weitere Diskussion in dennächsten Tagen und Wochen: Ich denke gar nicht daran,die Folgekosten auf den Rücken der Steuerzahler abzu-wälzen.
Gucken wir uns einmal Sachsen-Anhalt an: Dort hat dieLandesregierung mit viel Pomp einen 300-Hektar-An-bauversuch gestartet, mit 240 000 Euro Steuergeldernfür einen Haftungsfonds. Ich dachte immer, die Länderhaben zu wenig Geld. Wo haben sie es denn plötzlichher? Der Haftungsfonds wird am Ende nur denjenigennützen, die die Gentechnik verwenden. Tatsächlich sollder Fonds dazu dienen, Landwirte „einzukaufen“, diediese Agrogentechnik aussäen sollen. Wenn man diesenHaftungsfonds von Sachsen-Anhalt übrigens auf diebundesweite Mais-Anbaufläche umrechnet, wäre daseine Haftungssumme von 1,3 Milliarden Euro; das kannman sich in diesen Tagen auf der Zunge zergehen lassen.Da muss ich einmal all die, die im Bundesrat die Mei-nung unterstützen, wir bräuchten einen solchen Fonds,fragen: Wo bleiben eigentlich Ihre Forderungen nachSubventionsabbau? Gerade eben haben wir hier docheloquente Forderungen zum Subventionsabbau gehört.Dann kann man einen solchen Haftungsfonds allerdingsnicht unterstützen.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heiderich?
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft:
Ja.
Frau Ministerin, da Sie eben die Vorschläge des Bun-desrates angesprochen haben, darf ich Sie fragen: Ist Ih-nen bekannt, dass dieser Vorschlag eines Haftungsfondsmeines Wissens von den SPD-geführten BundesländernMecklenburg-Vorpommern, Berlin, Rheinland-Pfalz undBremen unterstützt worden ist, dass das keinesfalls einVorschlag aus unserer Richtung ist, wie Sie öfter öffent-lich betonen?Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft:Herr Heiderich, Ihre Formulierung war für mein juris-tisches Herz schon hinreichend präzise: Sie haben „un-terstützt“ gesagt. Trotzdem kommt der Vorschlag aus Ih-rer Richtung. Er wird von Sachsen-Anhalt verfolgt, dieuns zeigen wollen, wie es an der Stelle geht. Wo Sie
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Bundesministerin Renate Künastmich aber gerade auf den Haftungsfonds ansprechen,muss ich sagen: Ich sehe natürlich auch mit einiger Ver-wunderung, dass hier ein Fonds vorgeschlagen wird,nicht mit einer gesetzlichen Regelung, sondern mit einerEntschließung, in der es heißt: Die Hersteller sollen ei-nen angemessenen Beitrag leisten. Welchen, war manwohl zu feige zu sagen. Den Rest soll der Bund zahlen.Ich diskutiere gerne mit Ihnen über einen Haftungs-fonds, wenn die Länder ihn selber zahlen. Aber ich gebedafür kein Geld aus. Vielleicht tun es die reichen Länder.
Ich habe zwei Punkte angesprochen. Der dritte ist dasStandortregister. Ein öffentlich zugängliches Standort-register ist unabdingbar; das sagt auch das europäischeRecht. Ich habe an dieser Stelle kein Verständnis für denFDP-Antrag, in dem es heißt: „Einsicht nur bei konkretbegründeten Vorhaben“. Nach dem europäischen Rechtbrauchen wir ein Standortregister schon deshalb, um dieBegleitforschung überhaupt zu ermöglichen: Man kanngemeinhin nur forschen, wenn man weiß, was wo ist undvon wo wohin fliegt. Das Standortregister soll für dieBauern ein Anknüpfungspunkt für eine Auskunft sein,um auf dieser Basis zum Beispiel Schadensersatz gel-tend zu machen.Ich verstehe nicht, warum Sie Einsicht nur bei kon-kret begründeten Vorhaben gewähren wollen. Nach mei-nem Verständnis haben Menschen ein Recht auf Infor-mation. Ich dachte bisher immer, dass das dieBürgerrechtspartei FDP auch so sieht und sich dafür ein-setzt.
Ich möchte keine Politik des Misstrauens. Genau diesewird gefördert, allen voran durch einen FDP-Landesmi-nister aus Sachsen-Anhalt.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage: der Kollegin Happach-Kasan?
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft:
Gerne.
Frau Ministerin, teilen Sie die Einschätzung, dassdenjenigen, die Begleitforschung durchführen wollen,die Sicherheit gegeben werden muss, dass die Versuchenicht zerstört werden? In welcher Weise wollen Sie dassicherstellen?Frau Ministerin, inwieweit haben Sie sich von denZerstörungen bei Freisetzungsversuchen in Sachsen-An-halt distanziert, bei denen Weizenpflanzen herausgeris-sen und Felder zertrampelt wurden? Was haben Sie dafürgetan, dass so etwas in Zukunft nicht mehr geschieht?Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft:Frau Kollegin, zu Ihrer Frage, wie die Felder ge-schützt werden. Auch die FDP achtet in den Sitzungender Föderalismuskommission sehr darauf, wer welcheAufgaben hat. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass dasPolizeirecht Länderaufgabe ist. Die Bundesregierung hatnicht vor, das an sich zu ziehen.
Zu Ihrer Frage, inwieweit ich mich distanziere. Ichbin lange Zeit im politischen Geschäft. Schon zu Beginnder 80er-Jahre habe ich gelernt, dass ich mich nicht vonanderen distanziere, ich distanziere mich höchstens vonmeinen eigenen Äußerungen. Dazu habe ich in diesemFall aber keinen Anlass.Sie haben mich nicht gefragt, ob ich mich von demfehlgeschlagenen Anbauversuch insgesamt distanziere.Wie hätte ich auf eine solche Frage antworten sollen?Die eine Seite wollte alles geheim halten. Die Nachbarnhaben sich auf das Grundgesetz und auf ihr Recht auf Ei-gentum, ihren eingerichteten Betrieb, berufen und woll-ten eine Vereinbarung treffen, die die Bauern außen vorlässt. Ich distanziere mich von keiner der beiden Seiten.Zu Ihrer Frage, wie man die Forschung sicherstellt:Auch Forschung kann nicht unter der Käseglocke statt-finden. Derjenige, der im Forschungsbereich tätig ist,muss mit den Regeln leben, die es in einem demokrati-schen Land gibt, und ist gut beraten, den öffentlichenDiskurs zu diesem Thema offen und ehrlich zu führen.Vielleicht wäre man gut beraten gewesen, wenn manmit einem solchen Großanbauversuch nicht ohne Wis-sen der Nachbarbauern begonnen hätte, wie es aus ideo-logischen Gründen der Fall gewesen ist. So etwas führtso weit, dass noch nicht einmal der bayerische Ministersagen kann, wo solche Versuche in Bayern stattfinden.Auch Minister Sklenar aus Thüringen weiß nicht mehr.
Man sollte sich, wenn man in diesem Bereich forscht, in-telligenter anstellen, vor allem da man weiß, dass dieserBereich in der Gesellschaft umstritten ist. Es wissen alle,welche Auswirkungen das hat. Diese Aufgabe kann ichHerrn Katzek nicht auch noch abnehmen.Zum vierten für mich wichtigen Punkt, der Begleit-forschung. Begleitforschung, die diesen Namen auchverdient, heißt für mich, dass man nicht nur diejenigenversammelt, die sowieso dafür sind, sondern dass manalle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt,auch unabhängige, dass man alle Fragen von der mögli-chen gesundheitlichen Folge für Mensch und Tier bis hinzu Auswirkungen auf Biodiversität seriös erforscht unddass man die Diskussion – das kennen wir aus anderenZusammenhängen – nicht zu eng führt. Wir bauen einentsprechendes Programm auf.
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Bundesministerin Renate KünastZu der von den CDU/CSU- und FDP-regierten Län-dern begonnenen Blockade im Bundesrat liest man in ei-nigen Zeitungen Berichte über all die Auswirkungen undfindet Formulierungen wie „Krieg auf den Dörfern“ oder„Bauernkriege“. Das sind nur einige Überschriften. Ichsage Ihnen klar: Was wir brauchen, ist das Gegenteil,nämlich Planungssicherheit. Das ist noch milde ausge-drückt. Das, was hier unter Federführung von Sachsen-Anhalt angezettelt wurde, ist Chaos.
– Sehen Sie sich doch einmal die Diskussionen in IhrenWahlkreisen an. Der Bauernverband, der das ursprüng-lich mitmachen wollte, fordert jetzt selber, dass die Bau-ern endlich Auskunft bekommen. Daran sehen Sie, wasSie verursacht haben. Ich weiß nicht, wo Sie stehen.Aber ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass Ihre Inte-ressen mit den Interessen des Bauernverbandes und da-mit möglicherweise den Interessen der Bauern relativwenig zu tun haben.Wir stehen auf alle Fälle eindeutig dafür, dass es Haf-tungsregeln statt einer ungerechten Kostenverteilunggibt. Wir brauchen Abstandsregeln statt misstrauischesBeäugen an den Grundstücksgrenzen. Wir brauchenStandortregister statt Geheimniskrämerei und wir wolleneine umfangreiche Begleitforschung, statt die Ergebnisseder Wissenschaft dem Zufall zu überlassen.
Das alles dient am Ende der Sicherheit der Bäuerinnenund Bauern und dem Schutz der Gesundheit der Men-schen und der Umwelt.Wir brauchen eine zügige Umsetzung dieses Geset-zes. Deshalb erwarte ich von der Opposition – das sageich ganz klar –, dass Sie Ihre doppelzüngige Politik indiesem Bereich aufgeben. Einmal tun Sie so, als schütz-ten Sie die Bauern, dann reiten Sie wieder mit eifrigemGalopp durch die Säle. Versuchen Sie nicht, an dieserStelle zu blockieren. Ich sage Ihnen voraus: Gelingenwird es Ihnen sowieso nicht.
Das Wort hat die Kollegin Gerda Hasselfeldt, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Ich habe aufmerksam zugehört und hatte die Er-wartung, dass wir endlich einmal die Chance für eine derschwierigen Angelegenheit angemessene sachliche Aus-einandersetzung mit dem Thema Grüne Gentechnik ha-ben. Ich bin leider wieder enttäuscht worden.Wenn Sie sich die Verlautbarungen der verschiedenenRegierungsmitglieder in den letzten Wochen und Mona-ten zum Thema Grüne Gentechnik vor Augen halten undwenn Sie die Ankündigungen und die tatsächlichen Ge-setzestexte gegenüberstellen, dann wird deutlich: DieDiskussionsgrundlage zur Grünen Gentechnik, die von-seiten der Regierung geboten wird, ist an Widersprüch-lichkeit und vor allem an Scheinheiligkeit nicht mehr zuüberbieten.
Ich will Ihnen das auch begründen: Es ist von den Er-probungsanbauten in einigen Ländern – übrigens nichtnur unionsregierte, sondern auch SPD-regierte Länder –gesprochen worden. Sie werden von der Ministerin inübelster Weise kritisiert und an den Pranger gestellt.Tatsache ist erstens, dass der Bundeskanzler höchst-persönlich im Jahre 2000 bei der EXPO groß angelegtebundesweite Erprobungsanbauten angekündigt hat. Tat-sache ist auch, dass wir bis heute auf die Umsetzung die-ser Ankündigung warten.Zweitens. Tatsache ist, dass die Regierungen der Mit-gliedstaaten in den EU-Koexistenzleitlinien aufgefor-dert werden, derartige Erprobungsanbauten durchzufüh-ren. Die Bundesrepublik Deutschland hat dies bishernicht getan, obwohl völlig unumstritten ist, dass derar-tige Erprobungsanbauten notwendig und sinnvoll sind,um Erfahrungen im Miteinander und Nebeneinander un-terschiedlicher Anbauformen, in der so genannten Ko-existenz, zu sammeln.Drittens ist Tatsache – auch dies wird von der Regie-rung verschwiegen –, dass das Bundessortenamt, einedem Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernäh-rung und Landwirtschaft unterstehende Bundesbehörde,die entsprechende Maissorte unabhängig davon zum An-bau genehmigt hat, wann, von wem und wo sie angebautwird.Viertens ist Tatsache, dass vom Robert-Koch-Insti-tut – einem Institut, das dem Bundesgesundheitsministe-rium untersteht – die Genehmigung zur Inverkehrbrin-gung erteilt wird.Meine Damen und Herren, wenn Sie sich all das an-schauen, dann erkennen Sie, dass hier nichts anderes ge-tan wird, als auf einer völlig sauberen rechtlichen Basisdas zu vollziehen, was möglich und notwendig ist, umdie Erfahrungen dafür zu sammeln, mit der Grünen Gen-technik wirklich verantwortungsvoll umzugehen, undum eine richtige und fundierte rechtliche Grundlage zuschaffen.
Ich sage: Wenn dies endlich so getan wird – die Bun-desregierung hatte sich bislang verweigert –, dann sollteman das nicht kritisieren. Man sollte die Leute, die dieVerantwortung dafür haben, nicht an den Pranger stellen,sondern man sollte sie unterstützen. Man sollte dankbardafür sein, dass dies in die Hand genommen wird.
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Gerda HasselfeldtNun zu den Fragen der Geheimhaltung. Frau Minis-terin, ein Stück weit tragen Sie selber die Verantwortungdafür – und zwar ganz gewaltig –, dass Sie die Beschädi-gungen an den Feldern toleriert, sich nicht davon distan-ziert und sie nicht kritisiert haben.
Sagen Sie bitte: Warum haben Sie eigentlich so lange ge-braucht, um die EU-Freisetzungsrichtlinie umzuset-zen? Die Freisetzungsrichtlinie, die mit diesem Gesetzumgesetzt wird und in der das Standortregister und dieMeldepflicht verankert sind, weil sie EU-rechtlich vor-geschrieben sind, ist im Frühjahr 2001 verabschiedetworden. Heute sind wir im Frühjahr 2004, Frau Minister.Drei Jahre haben Sie nichts gemacht, und jetzt beklagenSie sich, dass die rechtlichen Grundlagen dafür fehlen.
Die Frist für die Umsetzung – das wäre Oktober 2002gewesen – ist sogar schon abgelaufen.
Wenn Sie die Richtlinie rechtzeitig umgesetzt hätten,hätten wir heute eine Meldepflicht, die Standortregister,Transparenz und keine Geheimhaltung, die Sie immerbeklagen.
Nun will ich zu den Widersprüchen im Gesetzentwurfselber ein paar Sätze sagen. In Ihrem eigenen Gesetzent-wurf schreiben Sie in § 1, dass der Zweck dieses Gesetzunter anderem die Förderung der Grünen Gentechnikist.
Die einzelnen Vorschriften gestalten Sie jedoch mit einerüberbordenden Bürokratie und mit Haftungsregeln aus,die dazu führen, dass das Ganze behindert, wenn nichtsogar verhindert wird. Das heißt, Sie machen das pureGegenteil von dem, was Sie in § 1 erklären.
Das ist natürlich ganz praktisch, weil Sie dann gegen-über Wissenschaftlern und in Sonntagsreden den § 1 zi-tieren können. Auch können Sie den Bundeskanzler zi-tieren, der das Jahr 2004 zum Jahr der Innovation ausge-rufen hat. In diesem Jahr der Innovation aber werden derForschungsetat gekürzt und durch ein Gesetz wie diesesdie Grundlage für Forschung und Entwicklung im eige-nen Land nicht verbessert, sondern verschlechtert.Ich wünsche mir sehr, dass wir diese Diskussion mitSachargumenten und mit wissenschaftlichen Erkenntnis-sen, die uns allen vorliegen, führen. Ich wünsche mir,dass das Ganze ohne ideologische Verblendung stattfin-det.
Ich wünsche mir auch, dass der Beitrag der GrünenGentechnik für Gesundheit, Ernährung, Landwirtschaftund Umwelt, der unumstritten ist, nicht nur bei uns, son-dern auch in der Dritten Welt einbezogen wird. Eskommt nicht von ungefähr, dass die FAO, die UN-Orga-nisation für Landwirtschaft und Ernährung, erst in denletzten Wochen in ihrem Bericht deutlich machte, wel-chen positiven Beitrag die Grüne Gentechnik geradeauch für die Landwirtschaft in der Dritten Welt leistenkann und leisten wird.
Natürlich will ich, dass auch die kritischen Bemer-kungen in diese Diskussion einfließen. Aber sie müssenalle einfließen und abgewogen werden. Uns geht es nichtdarum, dass die Grüne Gentechnik die ökologische unddie konventionelle Landwirtschaft oder die klassischePflanzenzüchtung ersetzt, sondern wir wollen eine sinn-volle Ergänzung der bisherigen Anbauformen erreichen.
Daraus resultieren die Anforderungen an dieses Ge-setz, erstens Koexistenz aller Anbauformen, zweitensechte Wahlfreiheit für die Verbraucher und die Land-wirte, drittens keine überflüssige Bürokratie und viertenswirkliche Rechtssicherheit.
Rechtssicherheit und Planungssicherheit, Frau Minis-ter, taugen nicht nur als Überschrift, sondern sie müssentatsächlich für die Verbraucher, die Landwirte, die Pro-duzenten, die Wissenschaftler und für alle gelten, die aufdiesem Feld arbeiten. Sie alle brauchen dringend Pla-nungs- und Rechtssicherheit.Dem wird der Gesetzentwurf, mit Verlaub, nicht ge-recht. Mit diesem Gesetzentwurf ist ein Aufblähen derBürokratie verbunden. Es wird zu mehr Verunsicherungund damit zu keiner Rechtssicherheit kommen. Die Haf-tungsregelungen sind willkürlich.
Es wird nicht gefördert, sondern behindert und verhin-dert. Deshalb muss der Gesetzentwurf zwingend nachge-bessert werden,
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Gerda Hasselfeldtinsbesondere in den Fragen der Bürokratie und der Haf-tung sowie bei der Möglichkeit, den Probeanbau nichtnur zuzulassen, sondern auch wissenschaftlich zu beglei-ten.
Es ist schon interessant: Als der Gesetzentwurf vor ei-nigen Monaten im Kabinett eingebracht und öffentlichdiskutiert wurde, las man in der Zeitung „Die Zeit“ in ei-nem Artikel über diesen Gesetzentwurf – ich zitiere –:… mit bürokratischen Bremsmanövern allein lässtsich die Zukunft nicht gewinnen.Ich glaube, treffender kann man dieses Gesetz nicht cha-rakterisieren.Lassen Sie uns doch gemeinsam daran arbeiten, dasswir die Bürokratie in diesem Gesetz und die Brems-klötze beseitigen und die Grundlage dafür schaffen, an-hand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die wir ha-ben, unter Berücksichtigung aller Argumente dafür unddagegen eine sinnvolle Regelung zu finden, auf derenGrundlage wir die Chancen, die die Grüne Gentechnikfür die Gesundheit und die Ernährung der Menschen, fürdie Landwirte, für die wirtschaftliche Entwicklung undfür die Innovation in unserem Land bietet, wirklich sinn-voll nutzen können.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege René Röspel, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir beobachten in Fragen der Gentechnologieeine große Verunsicherung. Zum einen lehnen vieleMenschen gentechnisch veränderte Lebensmittel ab undfragen daher, warum die unerwünschten gentechnischveränderten Pflanzen in den Anbau kommen sollen; zumanderen sind aber auch die Bäuerinnen und Bauern ver-unsichert, da sie, selbst wenn sie selber nicht auf dieneuartigen Saatgutangebote zugehen wollen, durch Pol-lenflug, Aussamung und Vermischung bei Ernte undTransport davon betroffen sein könnten.Das ist ein Zitat aus einem der vielen Schreiben, diewir dieser Tage bekommen. Ich wollte heute nicht überIdeologie sprechen. Das ist Aufgabe der CDU/CSU undder FDP.
Das ist kein Schreiben von einer ökoradikalen Splitter-gruppe, sondern dieses Schreiben haben die westfäli-schen Bundestagsabgeordneten vom Präses der Evange-lischen Kirche von Westfalen, Alfred Buß, erhalten.
Er hat den Beschluss der Landessynode aus dem letztenJahr beigefügt, der seinen Gipfel darin findet, auf demAckerland der Kirche keinen Anbau gentechnisch verän-derter Pflanzen zuzulassen.
Ich halte diesen Beschluss für richtig, denn auchmeine Skepsis bleibt. Die gentechnische Veränderungvon Pflanzen ist ein Eingriff in die Evolution, dessenAuswirkungen wir nur sehr schwer beurteilen können,vor allem, wenn wir zum Beispiel ein Gen aus einemBodenbakterium ausbauen und in eine höhere Pflanzeübertragen. Das ist ein Prozess, der in der Natur wahr-scheinlich nie vorkommen wird. Wenn er vorgekommenist oder vorkommt, dann ist das unproblematisch, weil essich um einen Einzelfall handelt. Wenn aber Myriadenvon gezielt veränderten Pflanzen auf einem Feld stehen,dann hat das eine vollkommen andere Qualität. Wir wis-sen letztlich nicht, was über die Jahre betrachtet an Pro-blemen entstehen kann.Es gibt eine ganze Reihe von Argumenten der Befür-worter der Grünen Gentechnik. Die tauschen wir regel-mäßig aus: Hilfe bei der Bekämpfung des Welthungers,höhere Ernteerträge, weniger Chemieeinsatz und Schäd-lingsbefall usw.
All diese Argumente sind weder endgültig belegt nochendgültig widerlegt.Ähnlich ist es mit den Argumenten der Gegner oderSkeptiker: größere Abhängigkeit von Konzernen, Schaf-fung von Resistenzen bei Schädlingen, Schädigung vonNützlingen, Auskreuzungen in die Umwelt, reduzierteErnteerträge usw. Auch diese Argumente sind wederendgültig belegt noch widerlegt. Das heißt, es findet dasübliche Spiel statt, dass Sie mir Ihre Gutachten oder wis-senschaftlichen Arbeiten vorlegen, die ich auseinandernehme, und umgekehrt.In allen Fällen gibt es mehr oder weniger gute Hin-weise, die ich einfach zur Kenntnis nehme. Aber was isteigentlich schlimmer? Wenn die Befürworter in einigenJahren mehr Recht bekommen oder wenn die GegnerRecht behalten? Was ist denn, wenn die Skeptiker inzehn oder 20 Jahren Recht bekommen,
es aber dann schon zu spät ist, weil sich freigesetztePflanzen nicht mehr zurückholen lassen, weil bäuerlicheStrukturen zusammengebrochen sind oder weil altherge-brachtes Saatgut verloren gegangen ist?
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René RöspelVor diesem Hintergrund sehe ich übrigens auch denErprobungsanbau von gentechnisch verändertemMais auf 300 Hektar in 30 Betrieben in Sachsen-Anhalt,Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thü-ringen, Sachsen und Baden-Württemberg als sehr kri-tisch an. Ich halte es für falsch und unklug, dass dieStandorte nicht mindestens für Landwirte transparent ge-macht werden. Frau Künast hat das angedeutet. In eini-gen der genannten Länder gibt es nämlich Regionen, ins-gesamt 33, in denen die Bauern ausdrücklichgentechnikfrei produzieren wollen. Ich hoffe, dass keinFreisetzungsversuch in deren Nähe stattfindet, weil siedann nämlich in Schwierigkeiten kommen.Ich halte es geradezu für fatal, wenn die CDU/CSU inihrem Antrag auf Drucksache 15/2822 fordert, umge-hend einen großflächigen Erprobungsanbau in Deutsch-land zu starten. Sie sind offenbar nicht in der Lage, zuerkennen, dass wir nicht über die notwendigen Kapazitä-ten für eine vernünftige Begleitforschung zu einem groß-flächigen Anbau verfügen. Sie wollen gleich mit der Türins Haus fallen und Fakten schaffen. Wenn dies nicht zu-trifft, dann müssten Sie das in Ihrem Antrag besser er-klären.Insofern ist es richtig und verantwortungsvoll, mit derGentechnologie vorsichtig voranzugehen. Genau diesenWeg verfolgen wir mit dem Gesetzentwurf der rot-grü-nen Bundesregierung. Wir haben darauf zu reagieren,dass die EU-Kommission die Freisetzung gentechnischveränderter Pflanzen neuerdings genehmigt, und wirmüssen europäisches Recht in deutsches Recht umset-zen. Unser Ziel ist es, den Verbrauchern echte Wahlfrei-heit zu ermöglichen, und wir wollen eine Koexistenzzwischen den verschiedenen Anbauformen schaffen.
Eine zentrale Rolle spielt sicherlich die Haftungsfrage.Wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen, dass wirin diesem Punkt keine absolute Gerechtigkeit herstellenkönnen. Entweder schützt man die Landwirte, die Gen-technik nutzen wollen – das ist offenbar die Intention derOpposition –, oder man legt den Schwerpunkt auf denSchutz derjenigen, die auf Gentechnik verzichten wol-len.
Eine solche Entscheidungslage ist aber im täglichenLeben nicht unüblich.Lassen Sie mich das an einem simplen Beispiel ausdem berühmten täglichen Leben verdeutlichen. Ein Hun-dehalter geht mit seinem Hund spazieren. Der Hund istgut ausgebildet und hat einen friedlichen Charakter. Erhat noch nie Probleme gemacht und er ist angeleint.Trotzdem springt er ein Kind an und zerreißt dessenHose. Nach deutschem Recht muss der Hundehalter dieHose ersetzen, obwohl ihn eigentlich keine Schuld trifft.Er hat sich nämlich an alle Regeln gehalten, die ihm auf-erlegt sind. Eigentlich ist das ungerecht. Es hat abernichts mit willkürlicher Rechtsprechung zu tun; viel un-gerechter wäre es nämlich, das Kind auf seiner zerrisse-nen Hose sitzen zu lassen und den Schaden nicht zu er-setzen.
Das deutsche Recht entscheidet sich für den Schutzdes Opfers und die Hilfe für den Geschädigten.
Wir wollen dieses Prinzip auch auf die Gentechnik aufdem Acker übertragen. Ein Landwirt wird sich frei ent-scheiden können, ob er gentechnisch veränderte Pflan-zen anbaut oder auf Gentechnik verzichtet. Wenn aberein Landwirt, der gentechnikfrei anbauen will, auf seinerErnte sitzen bleibt, weil vom Gentechnikbauern nebenandie Gentechnikpflanzen in einem Maße „herüberge-weht“ sind, dass er seine Ernte nicht mehr als gentech-nikfrei verkaufen kann, dann muss dieser Bauer seinenSchaden ersetzt bekommen.In dieser Frage besteht ein wesentlicher Unterschiedzwischen Regierung und Opposition. Die FDP fordert inihrem Antrag auf Drucksache 15/2979: „Es haften nurdie Landwirte, die die Koexistenzregeln nicht konse-quent einhalten.“ Dieser Vorschlag bedeutet: Wenn derGentechnikbauer alle Regeln befolgt, dann bleibt dergentechnikfreie Bauer auf seiner verunreinigten Erntesitzen. Bezogen auf mein Beispiel aus dem alltäglichenLeben bedeutet das: Wenn der Hundehalter alle Regelnbefolgt, dann bleibt das Kind auf der zerrissenen Hosesitzen.
Wir wollen das nicht.
Rot-Grün will, dass es dabei bleibt, dass der Hundehalterdem Kind eine neue Hose kauft. Wir wollen auch, dassder Schaden des Bauern, der gentechnikfrei produzierenwill, ersetzt wird.
Am Anfang meiner Rede zitierte ich den Brief desPräses der Evangelischen Kirche von Westfalen, der dieUnsicherheit auch der Landwirte schilderte. Wir wollenmit unserem Gesetzentwurf die Wahlfreiheit der Ver-braucher stärken und auch die geschilderte Unsicherheitder Landwirte abbauen. Der Anbau gentechnisch verän-derter Pflanzen darf nicht zum Nachteil derer geschehen,die darauf verzichten wollen. Ich bin überzeugt, dass dieLandwirte und die Verbraucher merken werden, werwirklich an ihrer Seite steht.Den FDP-Abgeordneten wünsche ich, dass sie keinenHunden begegnen, die ihre Hosen zerbeißen.
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10110 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel Happach-
Kasan, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zu Ihrer Beruhigung, Herr Röspel: Mein Hund beißtnicht. Insofern besteht keine Gefahr.
Zu Ihren Ausführungen will ich eines anmerken: IhrBegriff von Natur schließt menschliche Kreativität aus.
Ihrem Begriff von Natur zufolge befänden wir uns nochimmer in der Steinzeit.
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Erdbeeren, die Siemorgen oder übermorgen essen werden, aus Unterartengezüchtet sind, die aus Südamerika und aus Europastammen! Sie sind völlig unnatürlich und hätten ohneden Menschen nie eine Chance gehabt, zusammenzu-kommen.
Ich möchte nun zu meiner eigentlichen Rede kom-men. Im Kampf gegen Hunger und Unterernährungsetzt die FAO auf den Einsatz der Grünen Gentechnik.Generaldirektor Jacques Diouf fordert eine Genfor-schung, die sich an den Bedürfnissen der Kleinbauern inAsien und Afrika ausrichtet. Die Züchtung des GoldenenReises ist ein Beispiel dafür, dass dies gelingen kann.
Die Bundesregierung bremst dagegen die Grüne Gen-technik aus.
Deutschland wird damit seiner globalen Aufgabe nichtgerecht.
Im Glaubenskampf um die Grüne Gentechnik sind dieGefechtsfelder abgesteckt und die Fronten verhärtet. DieVernunft ist auf der Strecke geblieben.
Verantwortlich dafür sind die grünen Minister, insbeson-dere Frau Künast, und ein Bundeskanzler, der sie gewäh-ren lässt. Das spiegelt sich im Entwurf eines Gesetzesder Bundesregierung zur Novellierung des Gentechnik-gesetzes wider. Die Grüne Gentechnik soll verhindertwerden. Die Leidtragenden dieser Politik sind jungeMenschen, die abwandern werden, Menschen in denneuen Bundesländern, die auf diese Zukunftstechnologiegesetzt haben, und Menschen in den ländlichen Räumen,die neue Einkommensalternativen brauchen, und dies al-les, damit die grüne Illusion vom Museumsbauernhof er-halten bleibt. Das will die FDP verhindern.
Die Ministerin – wir alle haben es gehört – wäschtihre Hände in Unschuld, wenn es um die Zerstörung vonFreisetzungsversuchen geht, obwohl gerade ihre Politikund ihre Äußerungen der Nährboden sind, der die Zer-störung von Freisetzungsversuchen tatsächlich möglichgemacht hat.
– Frau Ausschussvorsitzende, informieren Sie sich ein-mal über agrarische Tatbestände! Dann können Sie beisolchen Fragen besser mitreden.
Der Vorfall in Sachsen-Anhalt steht für die Zerrissen-heit in Deutschland, wenn es um die Bewertung der Pro-dukte der Grünen Gentechnik geht.
Ministerin Bulmahn, SPD, begrüßt das Anbauprogrammder Bundesländer für Bt-Mais, Ministerin Künast lehntes ab.Es ist gute Tradition, dass wir im Deutschen Bundes-tag nicht entscheiden, was die Verbraucherinnen undVerbraucher morgens zum Frühstück essen.
Sie haben Wahlfreiheit.
Der Deutsche Bundestag entscheidet ausschließlich,welchen Kriterien neue Produkte genügen müssen.
Daher ist es völlig unerheblich, welche UmfragewerteProdukte der Grünen Gentechnik erzielen. UlrichBahnsen titelte in der „Zeit“: „Greenpeace weiß, wasKunden wünschen müssen“. Ich füge hinzu: nicht, wassie wünschen. Nicht Wahlfreiheit ist somit das Ziel IhrerPolitik und von Greenpeace, sondern Bevormundung.
Die eine Voraussetzung für Wahlfreiheit ist die Kenn-zeichnung. Sie ist geregelt. Die andere Voraussetzungist das Angebot von Produkten aus gentechnisch verän-derten und anderen Pflanzen. Das wird kommen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10111
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Dr. Christel Happach-KasanEntgegen den Sprüchen von Ministerin Künast sindgentechnisch veränderte Pflanzen sicherer als andere;denn sie sind mehr geprüft.
Auch die viel zitierte britische Studie Farm Scale Evalua-tion hat kein wirklich neues Ergebnis erbracht. Das Un-krautmanagement entscheidet über die Biodiversität aufdem Acker; das wissen Landwirte seit Jahrzehnten. OhneWildkräuter gibt es auch keine Insekten. Das ist Mittelstu-fenbiologie. Es gibt keine besondere Gefährdung der Bio-diversität durch Pflanzen, die mit einer bestimmten Me-thode gezüchtet wurden. Das ist im Übrigen ein Ergebnisder Studie zur Technikfolgenabschätzung aus dem Jahre1993.Vor diesem Hintergrund ist die durch EU-Vorgabennotwendige Novellierung des Gentechnikgesetzes einelösbare Aufgabe. Die Regierung ist daran gescheitert,weil sie den grünen Ministern Künast und Trittin dasFeld überlassen hat. Es ist ein Verhinderungsgesetzherausgekommen. Kanzler Schröder hat klein beigege-ben. Seine Innovationsinitiative ist reif für die Tonne.Die Haftungsregelung geht am Kern jeder gerechtenHaftung vorbei. Wir müssen den schützen, der sich kor-rekt verhält, und zwar unabhängig davon, was er anbaut,ob es sich nun um gentechnisch veränderte Pflanzenhandelt oder nicht. Die im Gesetz vorgesehene gesamt-schuldnerische Haftung leistet dies nicht, weil sie auchdem die Haftung für Schäden aufbürdet, der sie nichtverursacht hat. Das ist ungerecht. Mit Bürokratie – Kol-legin Hasselfeldt hat das schon gesagt – lässt sich Zu-kunft nicht gewinnen.Der Jahresbericht der FAO hat deutlich gemacht, dassdie Grüne Gentechnik den Entwicklungsländern Chan-cen bietet. 4 Millionen Kleinbauern pflanzen in Chinaerfolgreich Bt-Baumwolle an, so Professor Saedler, Di-rektor am Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung.2 Cent kostet die Produktion eines Antigens in der trans-genen Banane, 100 Euro mit herkömmlichen Methoden.Das wollen Sie verhindern? Diese Chancen wollen Sieden Entwicklungsländern wirklich verwehren?
Ich fordere Sie auf, sich im Interesse der Menschen,die nicht so reich sind wie wir, die in Gesellschaften le-ben, denen es nicht so gut geht, mehr für eine solcheWissenschaftstechnologie einzusetzen und Entwicklun-gen möglich zu machen, die wir gerade bei uns inDeutschland brauchen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich finde es gut, dass wir nun auch anlässlich der Bera-tung dieses Gesetzentwurfs – er ist schon seit Anfangdes Jahres in der Welt – über die einzelnen Probleme imZusammenhang mit der Gentechnik reden. Wir tun dasja schon länger. Die Diskussionen in der Öffentlichkeitwerden von diesem Thema beherrscht. Jetzt treten wir indas Gesetzgebungsverfahren ein. Ich wünsche mir, dassdieses Verfahren kurz und knapp ist und, wenn es mög-lich ist, liebe Frau Hasselfeldt und sehr geehrte FrauHappach-Kasan, ohne diese ständigen Ausfälle, die dochniemanden weiterbringen,
abläuft, damit die Grundsätze der Europäischen Union,nämlich Koexistenz und Wahlfreiheit, tatsächlich einge-halten werden.
Ich habe bei Ihnen manchmal das Gefühl, dass Siesich eigentlich mehr als die Sprecherinnen von Großun-ternehmen – noch nicht einmal von mittelständischenUnternehmen hier bei uns – verstehen, die mit allerGewalt irgendwelche genveränderten Pflanzen in denMarkt drücken wollen.
Frau Happach-Kasan, wir sollten über diese Phase jetztendlich einmal hinwegkommen und uns die Frage stellen:Was ist eigentlich der Grund für die heutige Unsicherheitim Zusammenhang mit der Gentechnik? Ich hätte michwirklich gefreut, wenn dazu ein bisschen mehr gesagtworden wäre, auch von Ihnen; schließlich mahne ich dasnicht zum ersten Mal an. Die Antwort kann doch nurlauten: Genveränderte Nahrungsmittel müssten für denMenschen mehr oder Besseres bringen. Nur das wäreeine Rechtfertigung, sonst gar nichts.Diese Nachweise gibt es aber nicht. Vielmehr habenwir noch immer ein, wie wir Juristen es nennen, „non li-quet“. Es ist also nicht klar, ob diese Nahrungsmittelschaden und Gefährdungen verursachen oder nicht.Diese Unsicherheit wird natürlich auch dadurch genährt,dass Gutachten wie das im Zusammenhang mit der Zu-lassung des Bt-Mais darauf hinweisen, dass es in be-stimmten Bereichen gerade für Tiere sehr wohl Pro-bleme und Gefährdungen geben könnte. DieseGutachten werden von Ihnen entweder geleugnet oderheruntergespielt. So kommen wir nicht weiter.
Sie haben vorhin schon einmal von Produkten undProdukthaftung geredet. Würde man dem folgen, wasSie in Bezug auf genveränderte Pflanzen oder genverän-dertes Saatgut sagen, dann würde heute – das müsstenwir vielleicht auch einmal sehen – nicht eine weniger
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Dr. Herta Däubler-Gmelinoder nur gleichermaßen begutachtete Komponente einesFahrzeugs auf den Markt gebracht. Auf diesem Gebietwerden viel mehr Gutachten und sehr viel mehr Haftungvorausgesetzt. Das ist eines der Probleme, die wir in derAnhörung natürlich nochmals prüfen werden. Auf diemöchte ich Sie hier jetzt ein weiteres Mal ganz offiziellaufmerksam machen.Wir alle wissen: Die Verbraucher haben Bedenkenund sie wollen keine genveränderten Nahrungsmittel.Das EU-Recht besagt – es ist verbindlich –: Es bestehtkein Zwang; es soll Wahlfreiheit geben. Auch deswe-gen haben wir uns mit großem Nachdruck für klareKennzeichnungsregelungen nicht nur bei Lebensmit-teln – da gibt es sie seit dem 19. April –, sondern auchbei Saatgut eingesetzt.Was entdecke ich da bei Ihnen und bei den Kollegin-nen und Kollegen der CDU/CSU? Frau Hasselfeldt hatzuvor von „Scheinheiligkeit und Heuchelei“ gesprochen.
Frau Hasselfeldt, ich fände es eigentlich sehr gut, wennSie diese Begriffe einmal auf diejenigen anwendeten,auf die sie zutreffen, nämlich auf sich selber,
und wenn Sie sagten: Wir sind der Meinung, dass dietechnische Nachweisgrenze beim Saatgut erreicht wer-den soll. – Wir werden nachher sehr genau aufpassen,wie Sie sich bei der Abstimmung über den heute berate-nen Antrag verhalten werden.
Wir haben ihn auch eingebracht, um endlich einmal inder Öffentlichkeit klarzustellen, wer hier von Scheinhei-ligkeit und von Heuchelei redet und wer sie praktiziert.
Sie wissen nämlich ganz genau, dass auch Bauern, dieauf Sie zählen, heute von Ihnen erwarten, dass Klarheitund Wahrheit durchgesetzt werden. Wahlfreiheit fängtbei der Kennzeichnung an.
Das geht übrigens bei der Frage der Koexistenz wei-ter. Koexistenz – ein Landwirt kann genverändert undein anderer kann konventionell oder biologisch an-bauen – ist ebenfalls ein Rechtsbegriff der EuropäischenUnion. Deswegen hätten wir es übrigens sehr gern gese-hen, Frau Ministerin, wenn die Koexistenz und die Haf-tungsregelungen europarechtlich verankert worden wä-ren. Auch das Europäische Parlament hat das gefordert.Das haben wir nun nicht.Um jetzt noch einmal zu dem Kapitel „Heuchelei undScheinheiligkeit“ zurückzukommen: Es ist mehr als är-gerlich, dass Sie immer dann, wenn es darum geht, dieKoexistenz rechtlich abzusichern – es bleibt gar nichtsanderes übrig, als dies nationalstaatlich zu tun –,
von Bürokratie, von was weiß ich, von anderen üblenDingen reden. Man kann Koexistenz nicht anders alsdurch klare Haftungsregelungen und durch Verantwort-lichkeiten absichern.
Sie haben völlig Recht: Wir alle wollen, dass Land-wirte zwar für die gute fachliche Praxis haften, dass aberdie Erzeuger für den Rest haften. Deswegen sind wir derMeinung, dass sich jeder Landwirt, der genverändertePflanzen anbauen will, vorher – das Gesetz lässt dasauch zu – vom Erzeuger haftungsrechtlich freistellen las-sen soll. Ich werde in allen Diskussionen mit Landwirtenüber solche Dinge darauf hinweisen. Ich wäre Ihnendankbar, wenn auch Sie das täten.Noch einmal zum Kapitel „Heuchelei und Scheinhei-ligkeit“: Gott sei Dank können bei uns alle über das In-ternet den Bericht der FAO lesen, liebe Frau Happach-Kasan, auf den Sie sich berufen haben. Darin steht nicht,dass das, was bei uns in den Industrieländern passiert,von der FAO gewünscht wird. Bei uns geht es um Soja.Bei uns geht es um Mais. Bei uns geht es also um Vieh-futter. Das bringt Geld. Dieses Verfahren nützt den Men-schen in den Least Developed Countries aber überhauptnichts.
Denen würde es etwas nützen, wenn zum Beispiel gen-veränderte Pflanzen entwickelt würden, die salzresistentsind, die Wasserarmut verkraften können, also für Dürre-gebiete geeignet wären.
Darum geht es aber überhaupt nicht. Auf diese Potenzia-lität verweist die FAO.Jetzt höre ich gerade, das würde jemand verhindern.
Seien Sie doch so freundlich und informieren Sie sichvor solchen Zwischenrufen erst einmal über den Sach-verhalt! Das verhindert überhaupt niemand!
Das bringt aber kein Geld. Deswegen setzen gerade Sievon der FDP sich nicht dafür ein. – Das ist der Ärger.Das ist einer der Punkte, die uns das Leben hier soschwer machen.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? –
Bitte.
Frau Däubler-Gmelin, Sie erinnern sich vielleicht da-
ran, dass wir schon einmal über das Thema „Goldener
Reis“ diskutiert haben. Wir haben dabei gemeinsam fest-
gestellt, dass die Forscher Potrykus und Beyer es immer-
hin erreicht haben, dass 70 Lizenzen aufgegeben worden
sind, dass diese Sorte an das Reisforschungsinstitut
übergeben worden ist, sodass daraus Sorten entwickelt
werden können, die für die verschiedenen Standorte ge-
eignet sind. Stimmen Sie mir darin zu, dass dies ein Weg
ist, auf dem wir den Entwicklungsländern helfen kön-
nen, ihre Ernährungslage zu verbessern, und somit
auch den Menschen dort helfen können?
Ernährung ist doch die Voraussetzung dafür, dass Men-
schen Bildung erreichen und bessere Zukunftschancen
gewinnen können.
Was Bildung und Verteilungsgerechtigkeit angeht, ja.
Ich würde niemandem – auch Ihnen nicht, Frau
Happach-Kasan – den Willen absprechen, zu erreichen,
dass die Menschen in den Least Developed Countries
bessere Chancen haben. Das geht aber nur durch Markt-
öffnung. Das geht durch Wissenstransfer. Das geht nicht
dadurch, dass bei uns Soja und vor allem Mais genverän-
dert als Viehfutter auf den Markt gedrückt werden. Sie
wissen ganz genau, dass der Vitamin-A-Reis nicht bes-
ser ist – er ist vielleicht anders, aber nicht besser – als
sehr viele Standortpflanzen, die es in der Natur heute
schon gibt. Ich will die Diskussion über diesen Punkt mit
Ihnen gern fortsetzen. Ich hätte Sie aber auch gern an der
Seite, wenn wir den Landwirten sagen: Das ist etwas, bei
dem ihr sehr sorgfältig aufpassen müsst, damit ihr haf-
tungsrechtlich nicht in die Falle von bestimmten Erzeu-
gern geht.
Wenn Sie sich nachher dazu durchringen würden
– das ist meine letzte Bitte, gerade an die FDP-Fraktion –,
wenigstens bei der Frage der Kennzeichnung des Saat-
guts zu sagen: „Jawohl, wir wollen die Wahlfreiheit
durch eine offene und ehrliche Kennzeichnung unterstüt-
zen“, dann fände ich das großartig. Ich fürchte, Sie wer-
den das nicht tun. Das finde ich bedauerlich.
Lassen Sie mich noch einen letzten Satz anfügen: Die
heutige Diskussion ist noch in einem anderen Sinn hoch-
interessant; wir führen sie ja zum vierten oder fünften
Male in der einen oder anderen Weise. Sie zeigt nämlich,
dass Sie gar nicht die Absicht hatten, in irgendeiner
Weise konstruktiv dazu beizutragen,
dass vernünftige Haftungsregelungen für die Gentechnik
durchgesetzt werden. Falls das wirklich so sein sollte
– ich bin sehr gespannt, ob ich von Herrn Heiderich et-
was anderes höre –, dann wenden Sie auch hier die Stra-
tegie an, die Sie in letzter Zeit sehr häufig benutzen, das
heißt: Sie setzen voll auf Blockade. Ich kann Ihnen nur
sagen, das ist kein guter Weg. Blockieren wird nicht ho-
noriert.
Es steht außer Frage, dass wir haftungsrechtliche Rege-
lungen für die Gentechnik im Sinne der Verbraucher und
der Landwirte finden müssen. Das sind wir ihnen schul-
dig und das verlangen auch die europäischen Richtli-
nien. Wenn Sie aber glauben, hier durch Blockieren ir-
gendetwas verhindern zu können, dann sage ich Ihnen
schon jetzt, dass wir das nicht zulassen werden.
Ich werbe deshalb um Ihre konstruktive Mitarbeit, aber
sage Ihnen zugleich sehr deutlich, dass wir nicht bereit
sind, uns an irgendeiner Blockadestrategie zu beteiligen.
Danke schön.
Letzter Redner ist der Kollege Helmut Heiderich,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!Lassen Sie mich zunächst einmal feststellen, dass dieFrist für die Umsetzung der europäischen Vorschriftenzur Nutzung der Gentechnik in der Landwirtschaft be-reits im Herbst 2002 abgelaufen ist. Lassen Sie michauch feststellen, dass es gerade die internen Streitereienzwischen den Ministern im Bundeskabinett waren, diedafür gesorgt haben, dass das Gesetz nicht rechtzeitigdem Bundestag zugeleitet wurde. Aufgrund dieser Ver-zögerungen geraten Sie nun unter den Druck von Brüsselund wir in die Gefahr, von Brüsseler Entscheidungenüberrollt zu werden. Deshalb wäre es richtig, dass wiruns zusammenzutun, um die Dinge in der Sache gemein-sam zügig voranzubringen. Ich wundere mich dann aberschon über die Tiraden, die ich von der Frau Ministerinvorhin an dieser Stelle gehört habe. Sie haben offensicht-lich überhaupt nicht die Absicht, in irgendeiner Weisepolitisch hier im Plenum zu kooperieren. Sie wollenspalten sowie die Öffentlichkeit verunsichern und in dieIrre leiten.
Sie wollen damit im Endeffekt nicht, dass wir zu Ent-scheidungen kommen, die der Sicherheit dienen.
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Helmut HeiderichIch komme nachher, Frau Däubler-Gmelin, auch nocheinmal auf die Frage der Blockade zurück.
Zunächst möchte ich aber herausstellen, dass Sieselbst, Frau Ministerin, und alle, die an Ihrer Seite agie-ren, sich ein ums andere Mal in Widersprüche verstri-cken. In Brüssel haben Sie im Zusammenhang mit derErteilung der Importgenehmigung für amerikanischenBt-11-Mais nicht mehr als ein unentschlossenes „Ichweiß nicht“ herausgebracht. Kaum waren Sie zu Hause,haben Sie lautstark von einer Fehlentscheidung und demdamit verbundenen Risiko gesprochen. Da ist es dochkein Wunder, Frau Ministerin, dass Ihnen KommissarByrne vor wenigen Tagen in einem Interview im Berli-ner „Tagesspiegel“ ins Stammbuch geschrieben hat, dasser Ihre Kritik nicht verstehe. Ich zitiere einmal wörtlich,was da steht:Die Ministerin war selbst Mitglied des Agrarminis-terrats, der im vergangenen Herbst für die neue Ge-setzgebung gestimmt hat. Sie hat diese Regelunggewollt, nun sollte sie sich auch daran halten.Verehrte Frau Künast, es wäre hilfreich, wenn Sie sichhierzu einmal in Ihren Reden äußern würden.
Ebenso hat es die Bundesregierung trotz der langenAnlaufzeit nicht geschafft, dafür zu sorgen, dass im eige-nen Land die notwendigen praktischen Erfahrungen fürdie Detailregelungen dieses Gesetzes gesammelt wur-den. Ich will es noch einmal sagen: Es war der Bundes-kanzler selbst, der bereits im Sommer 2000 einen groß-flächigen Erprobungsanbau zugesagt und dienotwendigen Regularien mit den Beteiligten unter-schriftsreif ausgehandelt hat. Jetzt frage ich mich, wa-rum die entsprechende Begleitforschung damals möglichwar, heute aber nicht möglich sein soll.Ich zitiere einmal, meine verehrten Kolleginnen undKollegen:Ziel des Forschungsprogramms ist, zusätzlicheErkenntnisse über die Umweltauswirkungen desgroßflächigen Anbaus gentechnisch veränderterlandwirtschaftlicher Nutzpflanzen unter Praxisbe-dingungen zu gewinnen. Daher sollte der Anbauschwerpunktmäßig in landwirtschaftlichen Betrie-ben durchgeführt werden.Dann geht es weiter:Die Bundesregierung– jetzt ist sie verschwunden –
– ich bitte zuzuhören! –trägt die Kosten für das Forschungsprogramm. DieUnternehmen der Grünen Gentechnik stellen die er-forderlichen Anbauflächen sowie das Saatgut zurVerfügung.Das war Ihr Bundeskanzler, Ihre Regierung, die dasschon im Jahre 2000 so vorgelegt haben. Heute sind Sieum Längen hinter den damaligen Stand und die damalserreichten Positionen zurückgefallen. Sie blockieren dieweitere Entwicklung in Deutschland, nicht die Opposi-tion.
Ständig bringen Sie hier Argumente, die weitere Ver-unsicherung, aber keinen Schritt nach vorn bedeuten.Auf der einen Seite erklären Sie, die Gentechnologiemüsse noch weiter erforscht werden. Auch FrauDäubler-Gmelin hat das eben wieder vorgetragen. DieZulassungsverfahren seien nicht ausreichend, obwohlSie auf diesem Gebiet nun wirklich so umfassend wis-senschaftlich prüfen wie an keiner anderen Stelle desLebensmittelrechtes sonst. Auf der anderen Seite unter-bindet Frau Ministerin höchstpersönlich ein Forschungs-projekt nach dem anderen, ganz gleich, ob Spitzenfor-schung oder Begleitforschung. Wie passt daszusammen?
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage zulas-
sen?
Lassen Sie mich den Gedanken noch zu Ende brin-
gen. Ich komme gleich auf die Zwischenfrage zurück.
Auf der einen Seite reden Sie immer davon, man
wolle Monopole internationaler Konzerne verhindern,
auf der anderen Seite blockieren Sie gerade für unsere
Pflanzenzüchter und für unsere Forscher jeden Fort-
schritt und nehmen ihnen damit die Chance, gegenüber
anderen wettbewerbsfähig zu werden.
Jetzt kann die Zwischenfrage gestellt werden.
Frau Kollegin Höfken, wenn Sie mögen, dürfen Sie
jetzt.
Sehr geehrter Kollege Heiderich, ich finde, Sie redenum den heißen Brei herum. Wir möchten doch von Ihneneine Antwort auf die Frage haben, wie Sie den Schutzdes Eigentums bei nicht Gentechnikpflanzen anbauen-den Bauern gewährleisten möchten und welche ArtSchutz des Eigentums dieser Betriebe Sie konkret ergrei-fen wollen. Wir gehen doch beide davon aus, dass na-hezu 100 Prozent der deutschen Betriebe keine gentech-nisch veränderten Pflanzen anbauen wollen.Die zweite Frage ist, wie Sie die Wahlfreiheit derVerbraucher im Hinblick auf gentechnikfreie Produktelangfristig und sicher gewährleisten wollen und welche
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Ulrike Höfkenkonkreten Maßnahmen Sie in diesem Zusammenhangfür notwendig halten.
Liebe Frau Kollegin, wenn Sie mir ausreichend Zeit
gewähren, um auf Ihre umfassende Frage umfassend zu
antworten, will ich das gerne tun.
Was die Frage der Kennzeichnung angeht, sind Sie
heute hier an der falschen Stelle. Über die Frage der
Kennzeichnung haben wir vor Wochen in diesem Hause
entschieden und die entsprechenden gesetzlichen Vor-
schriften geschaffen.
Diese Kennzeichnungsvorschriften haben wir damals
sehr konstruktiv umgesetzt. Sie haben uns öffentlich
Blockade vorgeworfen; daran war kein Wort wahr.
– Wenn Sie mich ausreden lassen würden. – Wir haben
bereits im Jahre 2001 in diesem Hause einen Antrag ein-
gebracht, in dem wir die Kennzeichnung gefordert ha-
ben, um Wahlfreiheit für den Verbraucher zu schaffen.
Da waren Sie von solchen Gedanken noch meilenweit
entfernt.
CSU]: Ihr wollt doch etwas ganz anderes!
Dann sagt das doch! – Ulrike Höfken [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir warten auf die
Antwort!)
Die Möglichkeit der Zwischenfrage soll die Chance
eröffnen, dem Redner über die Gedanken, die er vorbe-
reitet hat und vorträgt, hinaus Fragen zu stellen, die vom
Redner beantwortet werden können. Wenn dies aller-
dings zu polyphonen Stellungnahmen aus der Fraktion
des Fragestellers und aus der Fraktion des Redners führt,
ist der Zweck dieses Instruments ziemlich eindrucksvoll
ad absurdum geführt.
Darf ich noch die zweite Hälfte der Frage beantwor-
ten?
Ja.
Frau Kollegin, was die Wahlfreiheit für die Land-wirte angeht, so will ich sagen: Wir werden dezidierteStellungnahmen zu diesem Gesetz einbringen. Über denBundesrat ist schon ein ganzes Paket von Stellungnah-men abgegeben worden. Es ist unser Ziel – ich werdedas gleich noch einmal betonen –, dass wir den Landwir-ten Wahlfreiheit für ihre Entscheidung gewähren. JederLandwirt soll heute und morgen frei entscheiden kön-nen, ob er aus betriebswirtschaftlichen Gründen dieMöglichkeiten der Biotechnologie nutzen will odernicht. Das ist unsere Position.
Ich wehre mich daher gegen jegliche Diffamierung, diean dieser Stelle gegen uns gerichtet wird.Ich möchte gern noch ein paar Punkte zum Thema Er-probungsanbau ansprechen, über den vorhin diskutiertwurde. Frau Künast, Sie selbst haben sieben gentech-nisch veränderte Bt-Mais-Sorten per Vorabgenehmigungim Februar und März dieses Jahres zugelassen. Damithaben Sie den Erprobungsanbau überhaupt erst möglichgemacht. Trotzdem kommt von Ihrer Seite eine Tiradegegen die Bundesländer, die die von Ihnen zur Verfü-gung gestellten Sorten nutzen.
Das ist schlicht und einfach scheinheilig und falsch.
Ich will noch einen zweiten Punkt ansprechen. Wieder Deutsche Bauernverband in den letzten Tagen mitge-teilt hat, ist Ihr Ministerium gebeten worden, dass IhreBundeseinrichtungen die Begleitforschung an diesen29 Standorten übernehmen.
Wenn Sie das in die Wege geleitet hätten, dann hättenSie nicht nur von Anfang an sämtliche 29 Standorte ge-kannt. Sie hätten sogar jeden Tag das weitere Verfahrenverfolgen können. Dass Sie diese Bitte abgelehnt haben,
zeigt wiederum, dass Sie an dem Fortschritt, den HerrSchröder schon im Jahr 2000 haben wollte, nicht interes-siert sind. Sie wollen spalten und verunsichern.
Sie wollen – jetzt benutze ich Ihren Ausdruck von vor-hin – Chaos in der öffentlichen Diskussion.
Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen, umden Sie sich vorhin herumgemogelt haben.
Wir alle sollten einmal gemeinsam öffentlich feststellen,dass die Zerstörung von rechtmäßig ausgewiesenenVersuchs- und Erprobungsfeldern keine heroische Tat
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Helmut Heiderichunerschrockener Kämpfer ist, sondern schlicht und ein-fach eine kriminelle Handlung. Das ist die Wahrheit. Dassollten wir einmal öffentlich feststellen.
Für uns sind die Ziele dieses Gesetzes klar. Ich habeeben schon gesagt, dass wir die Wahlfreiheit für dieLandwirte wollen. Wir wollen außerdem die Stärkungder Forschung, und zwar nicht nur hinter verschlossenenLabortüren, sondern auch bei der Anwendung und Pro-duktorientierung. Damit bekommen unsere Pflanzen-schützer die Chance – ich habe es vorhin schon einmalgesagt –, den weltweiten Akteuren Paroli bieten zu kön-nen.Wir wollen außerdem, Frau Dr. Däubler-Gmelin, diebisherige gute wissenschaftliche Position unserer Uni-versitäten, unserer Institute und unserer Forschungsein-richtungen auf dem Gebiet der Gentechnik vor allem fürdie Zukunftschancen der Dritten Welt nutzen.
Der FAO-Bericht hat nahezu wörtlich das wiederholt,was wir vor einem halben Jahr in dem Antrag „Ver-antwortung für die Sicherung der Welternährung über-nehmen – Chancen der Grünen Gentechnik nutzen“ ge-fordert haben. Wir haben damals genau dasvorgetragen, was Sie, Frau Dr. Däubler-Gmelin, ebenzitiert haben.
Es geht nicht um Forschung für die Cash Crops, sondernum Forschung für die Produkte, die der Dritten Welt nut-zen. Das können wir mit unseren Instituten leisten.
Wir wollen Deutschland als Innovationsstandort. Wirwollen ihn deshalb mit den Regeln, die dieses Gesetzenthält, nicht blockieren. Wir wollen vielmehr Innova-tion möglich machen.Schönen Dank.
Herr Kollege Herzog, ich bitte um Nachsicht. Da derRedner das Rednerpult erst nach Überschreiten der ange-meldeten Redezeit verlassen hat, sah ich keine Möglich-keit mehr, durch das Zulassen einer Zwischenfrage dieRedezeit zu verlängern.Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-fes auf Drucksache 15/3088 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazuanderweitige Vorschläge? – Das ist offenkundig nichtder Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaft auf Drucksache 15/3209 zu dem Antrag derFraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünenmit dem Titel „Wahlfreiheit für die Landwirte durchReinheit des Saatgutes sicherstellen“.
– Ich stelle ja fest, wie abgestimmt wird. – Der Aus-schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2972anzunehmen. Jetzt wird es spannend: Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlungmit der Mehrheit des Hauses angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Betriebsprämien-durchführungsgesetzes– Drucksache 15/3046 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaft
– Drucksache 15/3223 –Berichterstattung:Abgeordnete Waltraud Wolff
Peter BleserFriedrich OstendorffHans-Michael Goldmannb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungErnährungs- und agrarpolitischer Bericht2004 der Bundesregierung– Drucksache 15/2457 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazuhöre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich möchte zu Beginn meiner Rede einigeWorte zum Gedenken an unseren so plötzlich und uner-wartet verstorbenen Kollegen Matthias Weisheit aus-sprechen. Ich bin der Auffassung: Über die Fraktions-grenzen hinweg wurde Matthias Weisheit wegen seineroffenen und ehrlichen Art und seines ausgleichendenCharakters geschätzt. Seine Fachkompetenz und sein un-ermüdlicher Einsatz waren unter anderem Gründe dafür,dass ihm die SPD-Bundestagsfraktion das Vertrauen fürdie verantwortungsvolle Position des agrar- und verbrau-cherpolitischen Sprechers entgegengebracht hat. Durchsein großes fachliches Engagement hat MatthiasWeisheit sehr viel Anerkennung bei Politikern, in denBerufsverbänden und auch bei den Praktikern erworben.Wir verabschieden heute das Betriebsprämiendurch-führungsgesetz und bringen damit die EU-Agrarreformeinen ganz entscheidenden Schritt nach vorn. Ich weißganz sicher, dass Matthias Weisheit diese zukunftsorien-tierte Reform als das zentrale Thema dieser Legislatur-periode betrachtet hat.
Deshalb wünsche ich mir, dass wir, die Abgeordneten al-ler Parteien, eine gute Regelung erzielen, auf die auchMatthias stolz sein würde.
Meine Damen und Herren, diese Woche wird der Ver-mittlungsausschuss tagen und die Reform der gemein-samen Agrarpolitik behandeln. Wir stehen an einem his-torischen Punkt. Uns muss heute bewusst sein, dass mitdiesen Reformpaketen die größte Veränderung in derAgrarpolitik der Nachkriegszeit beschlossen wird. ImWesentlichen wird der Übergang der produktionsbezo-genen Prämien hin zu einer einheitlichen Flächenprämiegeregelt. Außerdem wird die Produktion stärker an um-welt- und tierschutzrechtliche Standards gekoppelt. Diesist natürlich auch im Sinne aller Verbraucherinnen undVerbraucher.Ich hoffe zutiefst, dass sich der Bundesrat und dieBundesregierung auf einen gangbaren Weg einigen. DieZeichen stehen eigentlich nicht schlecht. In der Vergan-genheit konnte durch die konstruktive Zusammenarbeitdes Sonderausschusses Landwirtschaft beim Bundesratbereits eine weit reichende Lösung gefunden werden.Das erarbeitete Kombinationsmodell steht bei derMehrheit der Bundesländer nicht infrage. Ich setze da-rauf, dass sich Bund und Länder bezüglich eines zeitli-chen Übergangs zu einer einheitlichen Flächenprämie ei-nigen können.An dieser Stelle will ich ganz deutlich sagen, dassnicht alle unionsregierten Bundesländer den Vorschlagdes Bundesrates, die Umlegung der Prämie vom Betriebauf die Fläche nach hinten zu verschieben, begrüßen.Die Agrarministerin meines Bundeslandes Sachsen-Anhalt, Frau Wernicke, hat geradezu davor gewarnt, an-gesichts knapper werdender EU-Mittel im Agrarhaushaltdie Verschiebung des so genannten Gleitfluges vorzu-nehmen. Ich teile ihre Auffassung. Ich meine, dass derAufschub insbesondere wachstumsfähige Betriebe eherbehindert als unterstützt.Sachsen-Anhalt kritisiert weiter, dass der Bundesratdie Milchprämie nicht sukzessive auf die Fläche umle-gen will. Auch wir Bundespolitiker wollen die Milchprä-mie eigentlich in den so genannten Gleitflug einbezie-hen. Wünschenswert wäre, dass nicht nur Sachsen-Anhalt, sondern auch andere Bundesländer die Gefahrensehen, die eine Verzögerung für entwicklungsfähigeMilchviehbetriebe mit sich bringt. Ich möchte die Da-men und Herren des Bundesrates von hier aus auffor-dern, Vernunft walten zu lassen und die GAP-Reformnicht zu blockieren.Wir diskutieren heute nicht nur über die Reform dergemeinsamen Agrarpolitik, sondern auch über denAgrarbericht 2004. Wenn ich mir die Ergebnisse desdiesjährigen Agrarberichts ansehe, wird eines ganz klar:Die Agrarreform ist mehr als notwendig. Es ist sogardringend erforderlich, dass landwirtschaftliche Produk-tion endlich unternehmerischer Freiheit unterliegt.
Nur ein Unternehmer, der sich den tatsächlichen Markt-gegebenheiten anpassen kann, hat reale Chancen. Nunwird es möglich sein, Prämiengelder in neue Betriebs-zweige zu investieren. In Zukunft ist also verstärkt un-ternehmerisches Kalkül gefragt.Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf dasErneuerbare-Energien-Gesetz verweisen, das wir am2. April dieses Jahres hier verabschiedet haben. Auchdiesbezüglich richtet sich mein Appell ganz entschiedenan die Länder: Man muss mit der Blockadepolitik aufhö-ren! Natürlich können Sie das Gesetz im Bundesrat ver-zögern. Aber warum? Welchen Sinn hat Ihr Handeln andieser Stelle? Blockieren um der Blockade willen, ob-wohl Sie wissen, dass – kurioserweise – auch Ihre Kolle-ginnen und Kollegen in den Länderparlamenten bei-spielsweise auf eine gute Regelung bezüglich derBiomasseverwertung warten?
Dennoch hat die CDU/CSU-dominierte Mehrheit imBundesrat das Gesetz zurückgewiesen. Verhindern kön-nen Sie es allerdings nicht. Was passiert aber? WelcheKonsequenz müssen wir ziehen? Die Landwirte müssenlänger auf den Bau ihrer Biogasanlagen warten. Die In-vestitionen, die wir so dringend benötigen, verzögern Sieauf sinnlose Weise.Noch einmal zurück zur GAP-Reform. Wichtig ist,dass wir ab 2005 eine selbstbestimmte landwirtschaftli-che Produktion ermöglichen. Die Betriebe müssen imRahmen der Agrarreform die Möglichkeit haben, sichneue, sinnvolle Einkommensquellen zu sichern. DerÜbergangsprozess der Prämiengestaltung wird natür-lich für niemanden – das wissen wir alle hier im Hause –ein Zuckerschlecken. Deshalb ist es unsere erste undwichtigste Pflicht und Schuldigkeit, alle, aber auchwirklich alle Chancen zu eröffnen, die unseren Bauern
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Waltraud Wolff
auch in Zukunft ein einträgliches Wirtschaften ermögli-chen.Deshalb möchte ich Sie von der Opposition ganz ein-dringlich bitten: Geben Sie sich einen Ruck und lassenSie uns dieses Gesetz heute gemeinsam verabschieden!Danke schön.
Das Wort hat nun der Kollege Albert Deß, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir debattieren heute über einen Gesetzentwurf,
der ein weiteres Beispiel für die plan- und ziellose Arbeit
dieser rot-grünen Bundesregierung – besser gesagt:
Nachbesserungsregierung – ist. Sinnvoller wäre es ge-
wesen, die EU-Agrarreformbeschlüsse vom Juni 2003
und April 2004 in einem Gesetzgebungsgang umzuset-
zen. Wir diskutieren heute also über die Änderung eines
Gesetzes, das noch gar nicht in Kraft ist.
Sinnvoll wäre es natürlich auch, in den Änderungsge-
setzentwurf die vom Bundesrat geforderten Verbesserun-
gen aufzunehmen, die jetzt Gegenstand des Vermitt-
lungsverfahrens sind. Die Bundesregierung weist auf
den von der EU vorgegebenen Umsetzungstermin
– 1. August 2004 – hin. Den Zeitdruck hätte sie vermei-
den können, wenn sie die Änderungswünsche des Bun-
desrates im vorliegenden Gesetzentwurf berücksichtigt
hätte, nämlich die lineare Kürzung der Prämien beim
Aufbau der nationalen Reserve für Härtefälle und Neu-
einsteiger um nur 1 Prozent statt 1,5 Prozent, die be-
triebsindividuelle Gewährung der Milchprämie bis 2013
statt 2007,
den Beginn der Abschmelzung der Direktzahlungen in
eine einheitliche regionale Flächenprämie erst ab 2010
statt ab 2007,
die Streichung der Einvernehmensregelung zugunsten
des Bundesumweltministeriums und
keine nationale Verschärfung von Bewirtschaftungsstan-
dards im Rahmen von Cross Compliance. Wenn sie auf
diese Vorschläge eingegangen wäre, könnten wir dem
Gesetz zustimmen.
Ich bin auch der Meinung, dass beim vorliegenden
Änderungsgesetzentwurf zu Hopfen und Tabak die In-
teressen der Hopfen- und Tabakanbauer nicht entspre-
chend berücksichtigt worden sind.
Beim Hopfen ist zwar erreicht worden, dass die Erzeu-
gergemeinschaften weiterhin gewisse Prämienanteile er-
halten, aber die bayerischen Hopfenanbauer werden
trotzdem pro Hektar 60 Euro verlieren. Bei den Tabak-
anbauern wird es zu einer Existenzgefährdung vieler Be-
triebe kommen.
Wir reden heute auch über den Agrarbericht der Bun-
desregierung. Es ist schon bezeichnend, dass die Ein-
kommen der deutschen Bauern um 20 Prozent rück-
läufig sind und auch im laufenden Wirtschaftsjahr mit
weiteren dramatischen Einkommenseinbrüchen gerech-
net werden muss.
Ich hätte beinahe gesagt: Nun meldet sich der Kollege
Carstensen zu der vereinbarten Zwischenfrage.
Beabsichtigen Sie, eine solche Zwischenfrage zuzu-
lassen, Herr Kollege Deß?
Herr Präsident, es wäre eine Unterstellung gewesen,
wenn Sie das gesagt hätten.
Darum war es gut, dass Sie es nicht getan haben.
Dann ist es gut, dass ich es nicht gesagt habe.
Offenkundig wünscht der Redner, diese Zwischen-
frage zuzulassen. Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Präsident, ich lasse normalerweise mit mir nichts
vereinbaren.
Ich bin im Moment etwas unsicher: Darf ich die Frage
stellen, die ich gerne stellen möchte, Herr Präsident?
Ja gerne, zumal sonst der Eindruck entstehen könnte,
wir hätten auch den Inhalt der Frage miteinander verein-
bart.
Das würde ich gern einmal mit Ihnen machen. Esdient uns allen, wenn jemand etwas von Landwirtschaftversteht.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10119
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Peter H. Carstensen
Herr Kollege Deß, können Sie sagen, ob das der sei-nerzeit von der Frau Künast erwartete Künast-Effektist?
Ich habe bereits kurz nach Beginn der Regierungszeitvon Frau Künast als Bundeslandwirtschaftsministerin ineiner Rede angedeutet, dass die Agrarpolitik, die siekonzipiert und in ersten Überlegungen dargestellt hat,dazu führt, dass in den nächsten Jahren mit massivstenEinkommensverlusten in der deutschen Landwirtschaftzu rechnen ist. Ich habe damals auch ein internes Papierder Arbeitsgruppe Landwirtschaft der SPD zitiert, indem berechnet worden ist, dass die Auswirkungen dieserAgrarpolitik im Jahre 2003 zu Einkommensverlusten inder deutschen Landwirtschaft von circa 3 Milliarden DMführen. Genau das ist eingetroffen. Ich kann Ihre Fragealso mit Ja beantworten.
Ich möchte den Rest meiner Redezeit nutzen, ein paarpersönliche Worte zu sagen. Wenn am 13. Juni ein ent-sprechendes Wahlergebnis zustande kommt, ist diesmeine letzte Rede hier im Deutschen Bundestag.
Ich darf seit fast 14 Jahren Mitglied dieses HohenHauses sein und möchte einige Worte des Dankes aus-sprechen. Als Erstes möchte ich mich bei den bayeri-schen Wählerinnen und Wählern bedanken, die immerwieder mit großer Mehrheit CSU gewählt haben,
und bei den Delegierten der CSU, die mich viermal mitgroßer Mehrheit auf die Liste gesetzt haben.
– Es kommen alle dran.
Ich möchte mich auch bei der CSU-Landesgruppe be-danken, lieber Peter Ramsauer, in der ich in diesen14 Jahren gut aufgehoben war und in der die Agrarpoli-tik, die wir uns vorgestellt haben, immer Unterstützunggefunden hat. Ich möchte mich auch bei der CDU/CSU-Fraktion bedanken. Die stellvertretende Vorsitzende,Frau Hasselmann, ist ja hier.
– Frau Hasselfeldt, Entschuldigung. Dieser Fehler ist un-verzeihlich. Frau Hasselfeldt, liebe Gerda, ich weiß ge-nau, wie du heißt. Das war ein Versprecher.
Ich möchte mich recht herzlich bei dir bedanken, dass dudich als stellvertretende Fraktionsvorsitzende massiv fürdie Anliegen der bäuerlichen Landwirtschaft einsetzt.
Ich möchte mich auch bei allen Mitgliedern des Aus-schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaft bedanken, die ich in den letzten 14 Jahren er-leben durfte. Zwei von ihnen möchte ich namentlichnennen, und zwar Peter Harry Carstensen und PeterBleser, die seit 1990 ununterbrochen dabei sind, PeterHarry Carstensen sogar schon etwas länger.
Ich möchte mich aber auch bei der Gegenseite bedan-ken. Wenn Matthias Weisheit heute hier wäre, hätte ichmich bei ihm auf das Herzlichste bedankt. Ich habe mitihm über zehn Jahre lang hervorragend zusammenarbei-ten dürfen. Welche Wertschätzung er bei uns erfahrenhat, sieht man auch daran, dass viele Mitglieder derCDU/CSU-Fraktion bei seiner Trauerfeier anwesendwaren.
Ich möchte mich bei Gerald Thalheim bedanken, mitdem ich auch seit 1990 sehr gut zusammenarbeite. Zwi-schen uns ist hoher gegenseitiger Respekt vorhanden.Bedanken möchte ich mich auch bei der FDP. Ich nenneUlrich Heinrich deswegen stellvertretend, weil auch erab 1990 dabei war und mit uns zusammen gearbeitet hat.Ich wünsche mir, dass die Interessen der bäuerlichenLandwirtschaft in Deutschland in diesem Hause vertretenwerden und dass wir uns für die bäuerlichen Familien ein-setzen. Denn ich bin der Meinung, dass die bäuerlichenFamilien Leistungsträger in unserer Gesellschaft sind.Sie sind nicht, wie es manchmal dargestellt wird, eineBürde, sondern Leistungsträger.Ich möchte mir abschließend noch wünschen, dassman damit aufhört, unsere Bauern von früh bis abendsdurch staatliche Reglementierungen zu bevormunden.Sie haben ihren Beruf erlernt und wissen, wie man dasLand bewirtschaftet. Ich behaupte, dass wir in Deutsch-land eine der in Mitteleuropa und weltweit nachhaltigs-ten Landwirtschaften haben. Manchmal kommt es miraber so vor, als behandelte man die Landwirte so wie ei-nen Autofahrer, auf dessen Beifahrersitz ein Polizist un-unterbrochen darauf achtet, ob er die Verkehrsregeln ein-hält.Geben Sie unserer Landwirtschaft und unseren Bau-ern die Luft zum Atmen. Unsere Bauern werden auch inZukunft wertvolle Nahrungsmittel für unsere Verbrau-cherinnen und Verbraucher produzieren. Im Interesseunserer Verbraucherinnen und Verbraucher wünsche ichmir, dass wir nicht in eine Situation geraten, in der wirvom Ausland so abhängig werden, wie wir es zurzeitbeim Stahl sind, und höchste Preise zahlen müssen.
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Albert DeßDenn die Verbraucher müssten eine hohe Zeche zahlen,wenn wir in Zukunft keine heimische Landwirtschaftmehr hätten.Ich wünsche Ihnen allen alles Gute und hoffe, dassich, wenn ich gewählt werde, die einen oder anderen vonIhnen auch einmal in Brüssel oder Straßburg begrüßenkann.Danke schön.
Herr Kollege Deß, da wir den viel beschworenen
Wählerwillen bekanntlich leider erst dann ganz genau
kennen, wenn die Stimmen am jeweiligen Wahlabend
ausgezählt sind, wissen wir alle nicht genau, ob dies tat-
sächlich Ihre letzte Rede im Deutschen Bundestag war.
Falls dies so gewesen sein sollte, möchte ich Ihnen auch
im Namen des Präsidiums herzlich für Ihre langjährige
Arbeit im Deutschen Bundestag danken, verbunden mit
dem Hinweis, dass Sie sich in einem anderen Parlament
vermutlich noch sehnsüchtig an die Großzügigkeit die-
ses Präsidiums bei der Bemessung der Redezeiten zu-
rückerinnern werden.
Nun erteile ich der Kollegin Ulrike Höfken für
Bündnis 90/Die Grünen das Wort, die ohne die Aussicht
auf Wechsel in ein anderes Parlament mit vier Minuten
Redezeit auskommen muss.
Ich möchte mich zunächst einmal den Worten meinerKollegin Waltraud Wolff über Matthias Weisheit an-schließen. Wir werden ihn auf jeden Fall in Erinnerungbehalten und oft, gerade in solchen Situationen wieheute, an ihn denken.Lieber Albert Deß, du hast dich zwar nicht von unsverabschiedet, wir werden uns aber von dir verabschie-den; so nachtragend sind wir nicht: Wir hoffen, dass duin Brüssel keinen weiteren Unsinn machst.
Sehr verehrte Damen und Herren, jetzt zum eigentli-chen Thema, der Agrarreform. Mit dem zweiten Paketist nun ein weiterer Meilenstein gesetzt worden. Die Re-formen bei Tabak, Hopfen, Oliven und Baumwolle füh-ren die Agrarreform weiter, die die unsinnige Förderungvon Produktionsmengen beendet und Agrarmittel imSinne der Marktwirtschaft, der Unterstützung gesell-schaftlicher Leistungen der Landwirtschaft und der För-derung ländlicher Räume gerechter und besser einsetzt.Der Beschluss ist ein konsequenter Schritt im Rahmender Vorbereitung der nächsten WTO-Runde und einwichtiges Signal, um die Glaubwürdigkeit der EU ge-genüber den Entwicklungsländern zu stärken.Der Tabak ist im Übrigen ein gutes Beispiel für dieNotwendigkeit der Reformen. Die Tabakmarktordnungumfasst immerhin 1 Milliarde Euro. Deutschland zahlt250 Millionen Euro in diese Marktordnung ein; davonfließt ein Bruchteil, nämlich 20 Millionen Euro, zurück.Nun sagen gerade wir Grüne: Wir müssen in Europasolidarisch sein; das ist nun einmal die tragende SäuleEuropas. Aber diese Zahlungen sind nahezu kontrapro-duktiv – das gilt für viele Elemente der bisherigenAgrarpolitik –: Gerade beim Tabak kann es schon ausgesundheitspolitischen Erwägungen nicht sein, dass ei-nerseits durch Rauchen verursachte Krankheitskosten zutragen und im Jahr mehr als 110 000 Tote durch Rauchenzu beklagen sind, gleichzeitig der Tabakanbau aber ge-fördert wird.
Mit den Übergangsphasen bis 2009 – wir werden da-rüber diskutieren – verbleibt den Landwirten genügendZeit für die Umstellung, auch in den Tabakregionen. Wirwissen natürlich – das müssen sich alle immer wiedergegenwärtig machen –, dass das bisherige Fördersystemschlichtweg politisch gewollt war. Wir haben das zwarimmer kritisiert, aber man muss auch sehen: Für die Än-derung der Politik brauchen wir die Unterstützung derLandwirtschaft und die Unterstützung der entsprechendenRegionen, damit sie diesen gravierenden Systemwechselschaffen können. Noch einmal bezogen auf das BeispielTabak: Allein in Rheinland-Pfalz bauen rund250 Bauern auf 2 040 Hektar Tabak an. Nun muss klarsein: Ab 2010 ist die Konkurrenzfähigkeit auf dem Welt-markt nicht mehr gegeben. Aber – auch das ist beispiel-haft gemeint – mit den Umstrukturierungsmitteln sind dieMöglichkeiten der Entwicklung für die ländlichen Regio-nen gegeben und damit auch die Möglichkeit der Anpas-sung im Bereich der Arbeitsplätze.Um noch einmal auf den Hopfen zu kommen: Minis-ter Miller hat ja gerade diesen Entscheid gelobt; auch ichsehe, dass das eine gute Entscheidung ist. Wir haben ausBayern ein positives Signal erfahren; darum ist es umsomerkwürdiger, dass Sie, meine Damen und Herren vonder Opposition, beim Hopfen Hü! sagen und bei der Um-setzung der GAP-II-Beschlüsse schon wieder Hott! IhrBlockade- und Oppositionsfanatismus gefährdet die not-wendigen Reformen, genauso wie Rauchen die Gesund-heit gefährdet.
Gerade der Agrarbericht macht im Übrigen deutlich,dass die bisherige EU-Agrarpolitik weder den Betriebennoch den Landwirten noch den ländlichen Räumen Per-spektiven für die Zukunft bietet.Albert Deß, auch wenn das deine letzte Rede hierwar: Das, was du da gesagt hast, war Blödsinn;
denn die Berechnungen, die du aufgestellt hast, gründensich auf irgendeine Haushaltsfiktion, die niemals Reali-tät geworden ist. Man muss diese Aussage von Albert
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Ulrike HöfkenDeß also als Unterstützung dafür ansehen, dass wir mitden Reformen zurande kommen müssen.Meine Schlussbemerkung: Ich hoffe, dass wir morgenin der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses eineEinigung finden werden hinsichtlich der Lösungen derProbleme, die wir bei der Umsetzung der Systeme imBereich Milch, im Bereich der Schaf- und Ziegenhal-tung, im Bereich der Mutterkuhhaltung und bei der Aus-gestaltung der Cross-Compliance-Lösungen natürlichhaben.
Frau Kollegin!
Ich will aber auch ganz klar sagen: Um nach vorne zu
kommen, brauchen wir jetzt eine Rahmengesetzgebung
und klare Beschlüsse für die Zukunft, damit sich die
Wirtschaft darauf einstellen kann. Alles andere wäre
Chaos.
Danke schön.
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Michael
Goldmann, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Auch die Gedanken der FDP-Fraktion und derKollegen, die hier sind, sind bei Matthias Weisheit. Wirhaben vorgestern an der Trauerfeier teilnehmen können.Ich will sehr ausdrücklich betonen, dass wir in der Ar-beitsphase, die jetzt vor uns liegt, Matthias Weisheit si-cherlich intensiv vermissen werden. Wir werden uns da-rum bemühen, in Verantwortung und in Sachlichkeit denGeist, den er in seiner Arbeit immer zum Ausdruck ge-bracht hat, nämlich den Geist der Zusammenarbeit, zurealisieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute stehen dreiagrarpolitische Themen auf der Tagesordnung. Dasmacht deutlich, welche besondere Bedeutung der Agrar-bereich und der ländliche Raum insgesamt in der politi-schen Arbeit hat. Die Grüne Gentechnik, über die wirschon vorhin gesprochen haben, sehen wir Liberale alseine zusätzliche Chance, um zum Beispiel den negativenTendenzen, die im Agrarbericht deutlich werden, entge-genzutreten. Ich glaube, dass sich mit der Grünen Gen-technik Chancen ergeben, die wir nutzen können, damitder Agrarbericht für unsere unternehmerischen Land-wirte nicht so negativ ausfällt, wie er ausgefallen ist, unddamit die Situation für die landwirtschaftlichen Betriebeund für die Ernährungswirtschaft insgesamt ein Stückgestärkt werden kann.
Wir werden heute Abend noch über das Tierarznei-mittelgesetz reden. Auch dabei möchte ich betonen,dass wir größten Wert darauf legen, ein Gesetz auf denWeg zu bringen, das der Fachlichkeit in diesem BereichRechnung trägt. Tierärzte wissen, was sie zu tun haben;Bauern wissen, was sie zu tun haben. Dafür braucht esnicht den Gesetzgeber, der bis ins kleinste Detail hineindie Dinge regelt und einen bürokratischen Moloch auf-baut. Das kann nicht die Lösung sein. Wir haben schonjetzt viel zu viel Bürokratie in diesem Bereich.
Lassen Sie mich auch noch etwas zum Bereich EU-Agrarreform sagen. Frau Wolff, ich finde es wohltuend,wie Sie hier Ihre Ausführungen vorgetragen haben. Siewissen, dass wir in dieser Hinsicht viel Konsens mit-einander haben. Es kann aber nicht angehen, dass vorherdie Ausschussvorsitzende Roth in ihrer Rede – anschei-nend mit Ihrer Unterstützung, Frau Wolff – den Opposi-tionsfraktionen Scheinheiligkeit und Heuchelei vorhält.Die Ausführungen von Frau Minister Künast haben michgerade im Hinblick auf die morgige Arbeitsnotwendig-keit – wir müssen die EU-Agrarreform gemeinsam aufden Weg bringen – sehr enttäuscht.
Wir sind bereit, in vielfältiger Form Perspektiven in Zu-sammenarbeit zu entwickeln. Wir nehmen aber nichthin, dass man uns hier Scheinheiligkeit und Heucheleivorhält und damit im Grunde genommen die Möglich-keit der Zusammenarbeit zerstört. Das wollen wir nicht.Lassen Sie mich, weil es hier angesprochen wordenist, sehr konkret sagen, wie wir das Thema EU-Agrarre-form angehen wollen. Wir sind stolz darauf, dass UlrichHeinrich, der aus der Kulturlandschaft Baden-Württem-bergs kommt, die Kulturlandschaftsprämie erfundenhat. Als ich vorgestern zur Trauerfeier nach Friedrichs-hafen flog, habe ich diese Kulturlandschaft aus der Höhebetrachtet. Ich habe dabei wieder das tiefe Empfindengehabt, dass wir auf dem richtigen Weg sind, wenn wirdie Landwirte in der Kulturlandschaft Deutschlands er-halten und stützen. Deswegen sind wir für die Flächen-prämie.
Wir sind für die Flächenprämie, weil sie dazu beiträgt,dass der Landwirt unternehmerische Möglichkeiten anden Standorten entwickelt, an denen es in Deutschlandnotwendig ist.Wir sind auch dafür, dass flexible Regelungen zumGrünlanderhaltungsgebot auf den Weg gebracht wer-den. Es gibt überhaupt keine Frage: Cross Compliancekann nur eins zu eins umgesetzt werden und keinen Deutdarüber hinausgehen. Wir dürfen keine zusätzlichen na-tionalen Belastungen für unsere landwirtschaftlichen Be-triebe und unsere Bauern auf den Weg bringen.
Eine Studie des Ifo-Instituts hat ganz besonders deut-lich gemacht, dass wir gerade beim Agrardiesel und
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Hans-Michael Goldmannaufgrund der Ökosteuer Wettbewerbsverzerrungenzum Nachteil der deutschen Landwirte im internationa-len Wettbewerb haben. Genau das wollen wir nicht.
Wir wollen, dass unsere tüchtigen Landwirte ihre Fähig-keiten entwickeln und voranbringen können. Ich sageklipp und klar: Eine einvernehmliche Regelung mitHerrn Trittin ist auf dem jetzigen Stand nicht mit uns zumachen – Ende der Durchsage.
Ich kann für mich erklären: Ich werde mich keinen Deutbewegen.Wir könnten uns vorstellen, im Bereich der MilchNachbesserungen zu erreichen. Ich sage allerdings auch:Ich könnte mir eine Linie der Vernunft, der Mitte, diesich möglicherweise zwischen 2007 und 2013 einpendelt– man könnte die beiden Zahlen auch zusammenzählenund durch zwei teilen –, als eine gute Lösung vorstellen.Es macht keinen Sinn, der Holzhammermethode vonRot-Grün zu folgen. Es macht aus meiner Sicht aberauch keinen Sinn, der Linie zu folgen, die die CDU/CSUin besonderer Weise vorträgt, nämlich erst 2013 denGleitflug einzuleiten. Wir halten das nicht für vernünf-tig, um die deutsche Landwirtschaft im internationalenWettbewerb zu stärken.
– Kollege Carstensen, mir sind die besonderen Problemeder Milchwirtschaft bestens bekannt. Wie Sie wissen,komme ich aus einer Region, in der es relativ vieleMilchbauern gibt. Ich war gestern bei einem landwirt-schaftlichen Betrieb in der Nähe von Bautzen, dessenlandwirtschaftliche Fläche nebenbei bemerkt 8 400 Hek-tar groß ist. Dieser wird durch die auf verschiedenenEbenen auf den Weg gebrachte Milchregelung ganz ein-deutig leiden; das ist überhaupt keine Frage.Ich denke aber auch: Wenn wir das Jahr 2010 imAuge behalten und dafür sorgen, möglichst schnell zu ei-ner gut ausgestatteten Grünlandprämie zu kommen,dann werden wir diese Probleme auffangen können.
– Lieber Kollege Carstensen, ich orientiere mich im Hin-terkopf manchmal durchaus auch an den Beschlüssender CDU/CSU und erinnere nur an Husum. In diesemSinne wünsche ich uns eine Lösung der Probleme, diefür die Landwirtschaft anstehen.Ich bin sehr entschieden der Auffassung: Wenn wirzusammenarbeiten, werden wir für den ländlichen Raumund für die Landwirtschaft viel erhalten können. In die-sem Sinne sehen wir uns morgen früh um 9 Uhr wieder,um dann diese Arbeit anzugehen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun die Kollegin Jella Teuchner, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Auch ich darfmich zunächst bei Albert Deß dafür bedanken, dass wirtrotz unterschiedlicher Auffassung in der Sache immeroffen, fair und ehrlich im Ausschuss miteinander ge-kämpft haben und gut miteinander ausgekommen sind.Lieber Albert, von daher wünsche ich dir für die Zukunftalles Gute. Wir kommen ja beide aus Ostbayern: Ich bingespannt, wie du versuchen wirst, die Brüsseler Be-schlüsse oder Richtlinien in der Öffentlichkeit darzustel-len, und welche Diskussion wir dann führen werden,wenn wir uns zukünftig irgendwo in Ostbayern treffenwerden. Auf diese Diskussionen freue ich mich schon.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist ganz klar,dass die Landwirte in Deutschland gute Lebensmittelproduzieren.
Das 2003 veröffentlichte Ergebnis des Lebensmittelmo-nitorings für das Jahr 2001 hat gezeigt, dass der weitüberwiegende Teil der Lebensmittel keine oder nur sehrgeringe Spuren von unerwünschten Stoffen enthält.Überschreitungen der Höchstwerte wurden lediglich in2,2 Prozent der Proben gefunden. Dieses Ergebnisspricht für die Qualität der Lebensmittel, die unsereLandwirte produzieren.
Dieses Ergebnis spricht aber auch dafür, dass wir mitunserer Politik für sichere Lebensmittel auf dem richti-gen Weg sind und auf diesem richtigen Weg fortfahrenmüssen. Die Landwirte produzieren nicht nur gute Le-bensmittel, sie erbringen auch wichtige Leistungen fürdie Allgemeinheit. Gleichzeitig stellen die Verbrauche-rinnen und Verbraucher hohe Erwartungen sowohl an dieProduktqualität als auch an den Herstellungsprozess.Diese Leistungen werden am Markt jedoch leider nichthonoriert. Im Gegenteil: Der Agrarbericht zeigt deutlich,dass es neben der Witterung gerade die schwachenMärkte waren, die den Landwirten die Bilanz verhagelthaben.Wir aber wollen, dass die Landwirte den Anforde-rungen auch in Zukunft gerecht werden können. Dasheißt, wir müssen die Agrarförderung fortsetzen und aufeine zukunftsfähige Basis stellen. Mit der EU-Agrar-reform und der nationalen Umsetzung erreichen wir diesbestimmt.
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Jella TeuchnerIn der letzten Woche haben viele Landwirte gegen dieniedrigen Milchpreise protestiert. Die Schuldigen warenschnell ausgemacht: Der Lebensmittelhandel, insbeson-dere die Discounter, verschleudern die Milch als Lock-vogelangebot. Es ist richtig: Unter Einstandspreis dürfenLebensmittel nicht verkauft werden. Das Problem istaber, dass wir zu viel Milch haben. Erst ein Überangebotan Milch schafft die Voraussetzungen für diesen Preis-wettbewerb auf dem Rücken der Bauern. Hier müssenwir ansetzen und den Bauern die Möglichkeit geben, aufMarktentwicklungen zu reagieren.Wir brauchen eine Agrarpolitik, die nicht mehr dieProduktion von Überschüssen fördert; denn eine solcheAgrarförderung wird nicht mehr akzeptiert. Darüber hi-naus sollen sich die Landwirte am Markt und nicht ander Förderung ausrichten. Förderung gibt es dafür, dassdie Landwirte Leistungen erbringen, die uns allen wich-tig sind, die aber am Markt nicht honoriert werden. Des-wegen ist es richtig, die Prämien von der Produktion zuentkoppeln. Es ist auch richtig, sie an die Einhaltung derVorschriften zur Lebensmittelsicherheit und zum Tier-und Umweltschutz zu binden.Auf fast 30 Prozent der landwirtschaftlich genutztenFläche wurden 2001 Agrarumweltmaßnahmen geför-dert. Die Tendenz ist steigend. Der Flächenanteil desökologischen Landbaus ist im Jahre 2002 auf4,1 Prozent angestiegen. Dies zeigt, dass der Einsatz füreine besonders umweltfreundliche Landbewirtschaftungauch bei den Landwirten eine hohe Akzeptanz genießt.Wir wollen aber auch hier noch besser werden. Wir set-zen das Bundesprogramm „Ökologischer Landbau“ fort,weil die Ökobetriebe die Betriebe sind, die imWirtschaftsjahr 2002 und 2003 am besten abgeschnittenhaben. Der ökologische Landbau kann für noch mehrLandwirte auch eine ökonomische Chance sein. Diesewerden wir ihnen geben.
Die Lebensmittel aus dem ökologischen Landbausind seit der Einführung des Biosiegels aus keinem Su-permarkt mehr wegzudenken. Es war also richtig, ein ge-meinsames Siegel einzuführen, das auch vom Einzelhan-del akzeptiert wird. Es zeigt sich, dass sich überbesondere Qualität – auch über die Prozessqualität – amMarkt durchaus höhere Preise durchsetzen lassen. Es istallerdings wichtig, dass die Verbraucherinnen und Ver-braucher die Qualität der Produkte nachvollziehen kön-nen. Dazu gehört eine verständliche und verlässlicheKennzeichnung. Dazu gehört aber auch eine Ernäh-rungsberatung, die verloren gegangenes Wissen um Er-nährung und Lebensmittel wieder aufbaut. Dazu gehörtaußerdem eine offene Kommunikation zwischen Her-stellern und Kunden. Wir wollen deshalb weiterhin einVerbraucherinformationsgesetz, weil nur Vertrauen indie Qualität höhere Preise ermöglichen kann.Die Landwirte sollen ihre Produktion am Markt aus-richten; das ist heute schon mehrfach angesprochen wor-den. Dazu bedarf es zum einen einer Agrarpolitik, dienicht die möglichst hohe Produktion von bestimmtenProdukten fördert, zum anderen Verbraucher, die auf Ba-sis verlässlicher Informationen die Qualität honorieren.Beides ist meiner Meinung nach möglich. Es bedarf ei-ner Agrarpolitik, die die Qualität stärkt und das Ver-trauen in die Landwirtschaft sicherstellt. Die EU-Agrar-reform hat die richtigen Weichen gestellt. Es liegt alsoan uns, die darin liegenden Chancen zu nutzen.Gerade die Union hat schon bei der Agenda 2000 denUntergang der deutschen Landwirtschaft heraufbe-schworen. Leider machen Sie dies jetzt wieder. Ihre Vor-schläge sind leider inhaltlich nicht so ausgestaltet, dasssie verwertet werden können. Sie versuchen lediglich, zublockieren und nach Möglichkeit wenig zu ändern, ob-wohl Sie wissen, dass die derzeitige Agrarpolitik vomSteuerzahler infrage gestellt wird und in der WTO nichtmehr lange durchsetzbar bleibt.Helfen Sie mit, die Chancen der Agrarreform zu nut-zen! Hören Sie auf, weiterhin zu blockieren! Viele Land-wirte haben schon erkannt, dass eine Fortsetzung derbisherigen Agrarpolitik nicht funktionieren kann. Ichhoffe, Sie zeigen sich hier einmal etwas lernfähiger.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun die Kollegin
Gitta Connemann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1996 gabes in meinem Heimatkreis noch annähernd 2 700 land-wirtschaftliche Betriebe. Inzwischen hat davon mehr alsein Drittel aufgegeben. Wir liegen damit im traurigenTrend des Betriebssterbens. Davon sind Bauernfami-lien, Arbeitnehmer, Dörfer und Kulturlandschaften be-troffen. Höfe verfallen, Flächen liegen brach und dieTalfahrt geht weiter. In den kommenden Jahren werdenetwa weitere 40 Prozent der noch verbliebenen Betriebeaufgeben. Jede Betriebsaufgabe ist ein Schicksalsschlag;denn Bauer und Landwirt zu sein ist nicht Beruf, son-dern Berufung. Aber vielen bleibt nur dieser Ausweg;denn sie stehen bereits jetzt mit dem Rücken zur Wand.
Die deutschen Bauernfamilien haben damit gelebt,ideologisch geächtet zu werden, aber sie können nichtmehr mit einem Einkommen leben, das sich seit Jahrenim freien Fall befindet, und zwar ohne Aussicht auf Bes-serung, ganz im Gegenteil – so der Agrarbericht derBundesregierung.
Bei der Vorlage dieses Berichts hat die Ministerin vondramatischen Zahlen gesprochen, eine aus meiner Sichtnoch geschönte Bezeichnung für den erneuten Einbruch.Frau Kollegin Teuchner, wir reden die Landwirtschaft
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Gitta Connemannnicht kaputt, es geht ihr einfach hundsmiserabelschlecht.
Ein Landwirt erzielt zurzeit für seine Arbeitskraftdurchschnittlich nur noch 1 540 Euro brutto, 1 540 Eurofür Lebensunterhalt, soziale Sicherung, für Verzinsungdes Eigenkapitals und notwendige Zukunftsinvestitio-nen. Damit verdient er als Betriebsinhaber ein Drittelweniger als jeder gewerbliche Arbeiter, und das mit wei-ter sinkender Tendenz. Ich bin mir sicher, dass eine sol-che Einkommensentwicklung in allen anderen Wirt-schaftsbereichen zu einem Massenaufschrei in dieserRepublik geführt hätte.
Und hier? Ein großes Schweigen. Dabei muss gerade dieBundesregierung handeln, wenn schon nicht aus Verant-wortung für die deutsche Landwirtschaft, dann aber bitteschön infolge eines gesetzlichen Auftrages.Nach § 1 Landwirtschaftsgesetz ist die Bundesregie-rung nämlich verpflichtet, durch politische Maßnahmeneine Teilnahme der Landwirtschaft an der allgemeinenEinkommensentwicklung sicherzustellen.
Dieses Ziel ist bei mehr als 80 Prozent der Betriebe ver-fehlt, und zwar deutlich. Damit ist die Bundesregierungverpflichtet, politisch zu helfen, und sie könnte einigestun.
Sicher trägt sie keine Verantwortung für Ernteausfälle,aber ihre Politik hat zu einem Anstieg der Produktions-kosten geführt, der in Europa einmalig ist, Frau KolleginHöfken. Dies zeigt sich schon am Beispiel Agrardiesel.Die Steuerbelastung deutscher Landwirte ist um einVielfaches höher als die ihrer europäischen Nachbarn, inder Spitze 25-mal so hoch. Nationale Alleingänge wiezum Beispiel im Bereich von Immissionsschutz undUmweltverträglichkeitsprüfung führen zu weiterenWettbewerbsnachteilen. So gelten kleinste Betriebe inDeutschland als Betriebe im Sinne des Bundes-Immis-sions-Schutzgesetzes. Ein Landwirt, der seinen Betrieberweitern will, hat sich damit Anforderungen zu stellen,als plane er den Bau eines Chemiewerks.
Diese Liste ließe sich fortführen. Ich nenne hier nurpraxisfremde Regelungen wie die Bestandsbuchverord-nung oder die Viehverkehrsverordnung. Dies alles kostetnicht nur Zeit und Nerven, sondern auch Geld, das denBauern fehlt, was sie im europäischen Wettbewerb zu-rückwirft. Vor diesem Hintergrund ist es ein Schlag insGesicht, wenn die Ministerin erklärt, dass sich die deut-schen Bauern mehr am Markt orientieren müssen.
Wie denn, bitte schön? Leider droht aber nach demAgrarbericht noch mehr Gängelung seitens der Bundes-regierung. Da erscheinen die Pläne zur Verbesserung derHaltung von Mastkaninchen noch harmlos. Anders istdies schon bei dem geplanten Ackerbauverbot in Über-schwemmungsgebieten. Auf einen Streich würden circa900 000 Hektar kalt enteignet.Der nun vorliegende Entwurf zur Novelle der Dünge-verordnung ist an Regelungsdichte kaum zu überbieten.Auf den Landwirt kommt damit ein noch nie gewesenesMaß an Aufzeichnungspflichten zu. Verstöße gegendiese Pflichten lösen nicht nur die Sanktionen nach derDüngeverordnungen aus, im Rahmen der nationalenUmsetzung von Cross Compliance würde dies auch zueiner Kürzung der Prämie führen. Im Rahmen der natio-nalen Umsetzung von Cross Compliance würde diesauch zu einer Kürzung der Prämien führen. Eine solcheMehrfachbestrafung ist in allen anderen Bereichen un-denkbar, aber in der Landwirtschaft ist sie wie immermöglich.
Die Liste der Grausamkeiten ließe sich fortsetzen.Meine Damen und Herren von der Koalition, es ist mirunbegreiflich, warum Sie immer weiter draufsattelnmüssen und damit unseren Betrieben schaden. ÄndernSie Ihre Politik und machen Sie damit die deutscheLandwirtschaft wettbewerbsfähig! Dann kann sie auchin Konkurrenz zu unseren neuen Nachbarn treten. Dennvon dieser Seite wird der Wettbewerb deutlich zuneh-men. Unsere Agrarexporte in die neuen Beitrittsländersinken, während die Importe aus diesen Ländern in 2003um 15 Prozent gestiegen sind.In dem härter werdenden Wettbewerb sind den Bei-trittsländern zahlreiche Ausnahmeregelungen einge-räumt worden. Das ist bedenklich. Jedes fünfte Ei, daszurzeit in Tschechien produziert wird, stammt aus Be-trieben, die den EU-Standards im Tierschutz nicht genü-gen.
Dem hat die Ministerin zugestimmt. Voraussetzung füreinen fairen Wettbewerb sind aber gleiche Standards fürHygiene, Umwelt und Tierschutz. Es gibt also viel zutun. Ohne entsprechende Maßnahmen sind unsere Bau-ern hilflos.Die Ministerin hat vor kurzem gesagt, dass sie unserebäuerlichen Betriebe wieder in die Mitte der Gesell-schaft holen will. Dies wollen und können unsere Be-triebe selbst schaffen. Aber dann geben Sie ihnen bitteauch die Chance dazu. Das setzt eine Änderung Ihrer Po-litik voraus. Es geht nicht darum, zu verordnen, sondernzu gestalten, und zwar gemeinsam.
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Gitta ConnemannLassen Sie uns doch einen Agrarvertrag mit und zu-gunsten der Landwirtschaft und damit auch zugunstenunseres Landes abschließen! Denn die Landwirtschaftbetrifft in existenzieller Weise die langfristige Lebens-qualität aller Bürgerinnen und Bürger. Lassen Sie unsunseren Bauern wieder eine Perspektive geben! Wir vonder CDU/CSU sind dazu bereit.Vielen Dank.
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentari-
sche Staatssekretär Matthias Berninger das Wort.
Ma
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als un-
längst der chinesische Ministerpräsident Deutschland
besuchte, reiste er zunächst nach Bayern. Im Bild war
ein stolz wie ein Honigkuchenpferd grinsender bayeri-
scher Ministerpräsident zu sehen,
der mit dem chinesischen Besucher einen Bauernhof be-
sucht und dort eine Biogasanlage des Herrn Pellmeyer
besichtigt hat. Diese Biogasanlage ist vorbildlich und
Herr Pellmeyer ist uns allen als einer der Vorkämpfer für
das Erneuerbare-Energien-Gesetz gut bekannt.
Ich weiß auch, warum Sie sich so aufregen. Dieses
Gesetz, das vielen Landwirten in Deutschland ein zu-
sätzliches Einkommen bringen und dafür sorgen soll,
dass mit dem entsprechenden Know-how der Landwirt-
schaft die neuen Energieträger CO2-neutral mobilisiertwerden, wird von der Union im Bundesrat in schamloser
Weise blockiert.
Herr Staatssekretär, darf Ihnen der Kollege
Carstensen eine Zwischenfrage stellen?
Ma
Selbstverständlich.
Herr Staatssekretär, habe ich damals in dem „Spie-
gel“-Bericht richtig gelesen, dass es auch in Amerika
Leute gab, die wie Honigkuchenpferde grinsten, als Sie
dort die dicken Kinder besichtigt haben?
Ma
Wir kennen Peter Harry Carstensen. Weil er angegrif-fen wurde, versucht er jetzt, unter die Gürtellinie zu zie-len. Lenken wir aber nicht von dem entscheidendenPunkt ab, lieber Herr Kollege, dass Sie eine wesentlicheneue Einkommensquelle für die Landwirte in Deutsch-land blockieren. Der Kollege Deß muss sich künftignicht mehr auf seine Hände setzen; denn er trägt – daswissen wir aus privaten Gesprächen – eine solche Re-form durchaus mit.
Lassen Sie mich eines festhalten: Frau Bundesminis-terin Künast wird in der nächsten Sitzungswoche eineRegierungserklärung zum Thema Kinder und Ernährungabgeben. Es handelt sich dabei um ein ernst zu nehmen-des Problem.
Wenn immer mehr 11-jährige, 12-jährige oder 13-jährigeKinder an Altersdiabetes erkranken, dann ist es diesesThema wert, dass sich die Bundesregierung damit be-schäftigt.
Wenn der gute Herr Kollege Carstensen meint, er müssesich in dieser, wie ich finde, unflätigen Weise über ent-sprechende Berichte aufregen, dann soll er das machen.Aber ein solcher Stil lässt uns sicherlich nicht zu Freun-den werden.
Zurück zum Agrarbericht. Im vergangenen Jahrmachte sich ein weiterer Vorbote der Klimaveränderungbemerkbar. Es war ein Jahr absoluter Trockenheit. Ge-rade die Landwirtschaft ist von den Witterungsbedin-gungen abhängig. Die extreme Trockenheit hat die Erntein vielen Regionen verdorren lassen und zu erheblichenEinnahmeausfällen geführt.Frau Connemann hat angegeben, dass die Einkommender Landwirte kontinuierlich gesunken seien. Sie wis-sen es besser, werte Kollegin. 2001/2002 sind die Ein-kommen der Landwirte erheblich gewachsen.
– Stimmt, auf niedrigstem Niveau. Allerdings waren Sieda noch an der Regierung.
Deshalb sollten Sie lieber ganz still sein.Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Folgendeshinweisen: Wenn wir über Durchschnittszahlen reden,dann müssen wir auch bedenken, dass die Einkommen in
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10126 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Parl. Staatssekretär Matthias Berningerder Landwirtschaft höchst ungleich verteilt sind. Einigenlandwirtschaftlichen Betrieben geht es noch schlechter,als es die Durchschnittszahlen zum Ausdruck bringen,während andere Betriebe relativ gut dastehen. Hier gehtes darum, mit der Reform der Agrarpolitik allen Land-wirten eine Chance zu geben und Ungerechtigkeiten beider Verteilung von Agrarsubventionen zu nivellieren.Aber auch diese Reform blockieren Sie im Bundesrat.
Wir werden der Landwirtschaft künftig Bedingungenschaffen, die sie marktnäher produzieren lässt. Es wirdkeine Silomaisprämien mehr geben, die dazu führen,dass die Bauern in bestimmten Regionen Mais anbauen,obwohl der Boden den Anbau von anderen Pflanzen bes-ser zuließe. Wir werden die Landwirte von vielen Bevor-mundungen im Zusammenhang mit der Subventionie-rung erlösen und ihnen mehr Freiheit geben. Dasunterstützt die FDP ebenso wie die Regierungsfraktio-nen. Das wird übrigens auch – das ist spannend – voneiner Mehrheit der Länder mitgetragen.Auffällig ist: Während hier ein Zerrbild der Landwirt-schaft gezeichnet wird – man behauptet, dass alles denBach hinuntergehe –, trägt die Mehrheit der Länder imBundesrat regelmäßig die Beschlüsse des DeutschenBundestages mit. Ich erinnere nur daran, dass wir uns imDezember letzten Jahres auf eine Stärkung der ländli-chen Räume verständigen und neue Fördergrundsätzebei der Gemeinschaftsaufgabe verabschieden konnten.Besonders leise sind Sie, wenn die unionsgeführten Bun-desländer die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgabe„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut-zes“ fordern. Wenn diese abgeschafft wird, dann wirdgerade das Einkommen der Kleinbauern ganz massivden Bach hinuntergehen. Auch hier wünsche ich mir vonIhnen mehr Mut.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Inder ersten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zurReform der Marktordnung in den Bereichen Hopfen,Tabak und Oliven hat Herr Weisheit zum letzten Malhier geredet. Wir haben auf dem Weg zu seiner Beerdi-gung mitbekommen, dass Matthias Weisheit in einerHopfenregion lebt. Alle haben gesagt, dass er jemandgewesen ist, der sich intensiv mit den Landwirten aus-einander gesetzt hat und dem die Familienbetriebe be-sonders am Herzen gelegen haben. Darin sind wir unsalle sicherlich einig. In seiner letzten Rede, die er in die-sem Hause gehalten hat, hat er gesagt, dass unsere Re-form von den Bauern in seiner Region mitgetragenwerde und dass sie ihnen eine Perspektive gebe. Die Re-form ist also gar nicht so schlecht, wie hier immer getanwird. Im Gegenteil: Sie gibt den Bauern eine langfristigePerspektive. Ich bin stolz darauf, dass die Bundesrepu-blik Deutschland eine Mehrheit in Europa für die Ab-schaffung der Tabaksubventionen gewinnen konnte unddass wir künftig auf sozialverträgliche Art und Weise dieländlichen Räume unterstützen, statt den Anbau von Ta-bak zu fördern, dessen Konsum zu erheblichen Gesund-heitsgefährdungen führt.
Die Güte unserer Agrarpolitik wird nicht durch dieMiesmacherei der CDU/CSU beeinträchtigt, sonderndurch die gemeinsam von Bundestag und Bundesrat ge-tragenen Beschlüsse und die Mehrheitsbeschlüsse, diewir auf europäischer Ebene durchsetzen, unter Beweisgestellt. Auch der Deutsche Bauernverband gibt gegen-über den Landesbauernverbänden immer mehr zu, dassdie Reform kommen wird. Die einzigen ewig gestrigenBlockierer sitzen hier und werden demnächst teilweiseauch im Europaparlament vertreten sein.Ich danke Ihnen herzlich.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Peter Jahr für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Staatssekretär Berninger, Ihr Vorwurf, dieCDU/CSU und die Liberalen blockierten die gemein-same Reform der Agrarpolitik, geht völlig am Themavorbei.
Sie haben einen engen Zeitplan vorgegeben. Wir und dieBundesländer sind bereit, die Verhandlungen im Ver-mittlungsausschuss unter Einhaltung dieses Zeitplanszum Erfolg zu führen und eine gemeinsame Agrarreformzu beschließen und durchzusetzen. Natürlich machensolche Äußerungen wie diejenigen, die Sie eben ge-macht haben, die Sache nicht leichter. Aber wir stehennatürlich dazu, dass man eine Reform, die man begon-nen hat, auch zu Ende bringen muss. Bitte werfen Sieuns nicht vor, dass wir nicht bereit sind, Verantwortungfür die deutsche Landwirtschaft zu übernehmen. Wir tundas, auch wenn es uns bei Ihren Vorgaben manchmalschwer fällt.Bei vielen Gesetzen von Rot-Grün haben wir immerwieder das Problem, dass nur die Überschrift gut ist,aber nicht der Inhalt. Ich mag den Agrarbericht, denn erenthält Zahlen und an denen kann man sich nicht so ein-fach vorbeimogeln. Wenn der Haushalt die in Zahlen ge-gossene Politik einer Regierung darstellt, dann ist derAgrarbericht der Bundesregierung eine Art Zwischen-prüfung. Wenn man den vorliegenden Bericht von seinenlyrischen Elementen befreit, dann stellt man fest, dassder Inhalt wenig schmeichelhaft ist. Das Positive stehtnur im Text und lässt sich zahlenmäßig nicht nachwei-sen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10127
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Dr. Peter JahrDie Kollegin Connemann hat schon darauf hingewie-sen, dass der Gewinn pro Arbeitskraft in den letzten Jah-ren immer weiter gesunken ist. Das durchschnittlicheEinkommen der Betriebe beträgt zurzeit ungefähr20 000 Euro im Jahr. Das entspricht 1 667 Euro im Mo-nat. Diese Rechnung kann man natürlich fortführen:Zieht man diesem Bruttowert noch die Sozialkosten ab,dann kommt man auf einen Nettowert von circa1 200 Euro im Monat. Irgendwann landen wir bei einemNettolohn von 5 Euro pro Stunde.Diese Zahl sagt manchen nicht viel. Allerdings fragenmich viele Landwirte: Braucht man bei solch einem Ein-kommensniveau überhaupt noch einen Minister? 5 Europro Stunde: Sieht so eine erfolgreiche Agrarwende aus?Das nächste Beispiel ist die so genannte Vergleichs-rechnung im Agrarbericht. Ich finde in jedem Agrarbe-richt den Abschnitt „Vergleichsrechnung nach § 4 Land-wirtschaftsgesetz“ ziemlich interessant. Manche mögenschon vergessen haben: Nach § 4 des Landwirtschaftsge-setzes ist ein Vergleich der Einkommenssituation mit an-deren Wirtschaftszweigen vorzunehmen. Die Ergebnissesind zahlenmäßig so vernichtend, dass die Bundesregie-rung einfach feststellt – ich zitiere aus Seite 33 diesesBerichts –:Die Vergleichsrechnung nach dem LwG ist heutekaum noch aussagefähig. Gewerbliche Arbeitneh-mer- und Tarifgruppen, die mit landwirtschaftlichenUnternehmen uneingeschränkt vergleichbar sind,gibt es nicht.
Das ist also eine Problemlösung à la Rot-Grün: Wenndas Ergebnis zahlenmäßig nicht stimmt, dann wird eseinfach wegredigiert.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, in der Tatarbeiten viele Landwirte de facto unter Mindestlohn.Nur noch 17 Prozent der Betriebe erreichen eine denVergleichsansätzen entsprechende Faktorenentlohnung.Noch ein drittes Beispiel. Abstand verhilft manchmalzu neuem Weitblick. Auf Seite 41 dieses Berichts steht –das erscheint mir sehr hilfreich –:Als makroökonomischer Indikator für die Einkom-mensentwicklung in der Landwirtschaft der EU-Mitgliedstaaten wird u. a. die Nettowertschöpfungje Arbeitskraft verwendet.Aus diesem Zahlenmaterial gehen zwei interessante Tat-sachen hervor. Erstens. Deutschland nimmt Platz neun inder Europäischen Union der 15 ein, das heißt, wie mittler-weile überall, hinteres Mittelfeld. Man könnte bezogenauf Ihre Agrarpolitik auch sagen: Die Drei ist die Eins deskleinen Mannes. Zweitens. Deutschland ist im Jahr 2003in der Landwirtschaft bei der Nettowertschöpfung von1995 angelangt. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, das heißt doch schlicht und ergreifend: Ihre Agrar-politik, Ihre „berühmte“ Agrarwende, hat die deutscheLandwirtschaft in das Jahr 1995 zurückgebombt.
– Angesichts des Kampfes gegen die Bürokratie, gegendie Verwaltungsvorschriften und gegen andere rot-grüneSegnungen, den unsere Landwirte täglich bestehen müs-sen, kommt es manchmal zu kriegsähnlichen Erschei-nungen.
Ich wiederhole: Gesetzeslyrik kann schön sein; aberdie Zahlen sprechen halt eine andere Sprache.
Diese Zahlen habe ich mir nicht ausgedacht, sondern siestehen in Ihrem Agrarbericht. Fakt ist: Seit 1995 hat sichfür die deutschen Landwirte nichts bewegt.
Was ist zu tun? Erstens. Frau Ministerin, Herr Staats-sekretär, nehmen Sie sich eine kurze Auszeit und lesenSie sich nochmals Ihren eigenen Ernährungs- und Agrar-bericht durch!
Zweitens. Fühlen Sie sich, zumal im Teilbereich Land-wirtschaft, endlich als Wirtschaftsministerium, das in ei-ner gemeinsamen europäischen Agrarpolitik agiert!
Drittens. Beseitigen Sie jegliche Wettbewerbsverzerrun-gen innerhalb der Europäischen Union!
Denn Wettbewerbsverzerrungen bringen den Landwirtendirekte Einkommenseinbußen.Noch einfacher: Setzen Sie alle EU-Richtlinien einszu eins um
und verzichten Sie auf das deutsche Sahnehäubchen!
Schaffen Sie endlich Wettbewerbsgleichheit und lassenSie die Landwirte endlich etwas unternehmen: frei, aner-kannt, ohne Wettbewerbsverzerrungen! Wenn es um diedeutsche Landwirtschaft und wenn es um die deutschenBäuerinnen und Bauern geht, werden wir Sie, wenn essein muss, unterstützen.Schlussbemerkung: Wenn der agrarpolitische Berichteine politische Zwischenprüfung darstellt, dann sind Sie,meine Damen und Herren von Rot-Grün, glatt durchge-fallen. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie auch dasExamen vermasseln. Der Termin der Abschlussprüfungsteht übrigens schon fest: die Bundestagswahl 2006.
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10128 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Dr. Peter JahrIch danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen einge-
brachten Gesetzentwurf zur Änderung des Betriebsprämi-
endurchführungsgesetzes auf Drucksache 15/3046. Der
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/3223, den Ge-
setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit Mehr-
heit angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich vom Platz zu er-
heben. – Wer stimmt gegen den Gesetzentwurf? – Wer
möchte sich der Stimme enthalten? – Damit ist der Ge-
setzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 b: Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 15/2457 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. – Darüber besteht offensichtlich Einvernehmen.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
– zu dem Antrag der Abgeordneten Erich G.
Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Für ein höheres Liberalisierungsniveau
beim Welthandel mit Dienstleistungen –
GATS-Verhandlungen zügig voranbringen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Dirk Niebel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Internationale Rechtssicherheit und trans-
parente Regeln für den Dienstleistungshan-
del – GATS-Verhandlungen voranbringen
– Drucksachen 15/1008, 15/1010, 15/3101 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
zu dem Antrag der Abgeordneten
Erich G. Fritz, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef
Laumann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Doha-Verhandlungen nach dem Scheitern von
Cancun konstruktiv und zügig voranbringen
– Drucksachen 15/1567, 15/3222 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Thomas Rachel, Günter Nooke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Qualitätssicherung im Bildungswesen und kul-
turelle Vielfalt bei GATS-Verhandlungen ga-
rantieren
– Drucksachen 15/1095, 15/1844 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Ulla Burchardt
Thomas Rachel
Ursula Sowa
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit hat in seine
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3222 den An-
trag der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/1931 mit dem
Titel „Doha-Runde bis 2005 zum Erfolg führen – Mehr
Entwicklung, Armutsbekämpfung und Wohlstand durch
Freihandel“ einbezogen. Über diesen Antrag soll jetzt
ebenfalls abschließend beraten werden. – Ich sehe, dass
Sie damit einverstanden sind. Dann ist so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann haben wir das so verein-
bart.
Ich eröffne die Aussprache. Die Kollegin Skarpelis-
Sperk, die diese Debattenrunde für die SPD-Fraktion be-
ginnen sollte, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Erich Fritz für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätteheute gern auf Frau Skarpelis-Sperk geantwortet.Cancun, die WTO-Ministerkonferenz, deren Schei-tern allseits beklagt worden ist, liegt etwa ein halbes Jahrzurück. Mittlerweile hat man den Eindruck: Es war viel-leicht doch nicht nur ein Scheitern; es haben sich einigeneue Entwicklungen ergeben. Die Entwicklungsländersind organisationsfähig und artikulationsfähig geworden.Der Zeitablauf hat dazu geführt, dass an vielen Stellenein Nachdenken über die Frage eingesetzt hat, ob mandie Tagesordnung in der Weise überfrachtet halten muss,wie das der Fall war, ob es Dinge gibt, auf die man sichkonzentrieren kann, und ob man in den Bereichen, diedas Scheitern vor allem verursacht haben, zum Beispielim Agrarbereich, weiterkommen kann.
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Erich G. FritzJetzt stellen wir fest: Es kommt Bewegung in dieWTO-Verhandlungen. Nach der Enttäuschung sind jetztwieder ein Stück Aufbruch und der Wille, gemeinsamweiterzukommen, zu spüren. Wirklich substanzielleFortschritte gibt es natürlich noch nicht, aber die GenferVerhandlungen haben gezeigt, dass an vielen StellenBeiträge geliefert werden. Die Europäer haben sich invielen Punkten bewegt und die USA haben deutlich si-gnalisiert, dass sie zumindest an einer Fortsetzung dermultilateralen Verhandlungen interessiert sind und da-ran, dass man in Doha zum Erfolg kommt. Das war janicht immer klar, gab es doch nach den Verhandlungenin Cancun deutliche Anzeichen dafür, dass man den Wegüber bilaterale Verhandlungen einschlägt, weil dieser at-traktiver zu sein schien. Tatsächlich gibt es Bemühungenum weitere bilaterale Abkommen, nicht nur vonseitender USA mit südamerikanischen Staaten, sondern zumBeispiel auch vonseiten Australiens mit südostasiati-schen Staaten.Zum aktuellen Optimismus hat insbesondere die EU-Initiative vom 9. Mai beigetragen. Sie beinhaltet eindeutliches Signal für den Abbau von Agrarexportsub-ventionen.
– Ja, aber die hätte das auch akzeptiert. Ich denke an einesehr interessante Anhörung, Frau Kollegin, die heuteMorgen von der CDU/CSU-Fraktion zu dieser Fragedurchgeführt wurde. Hier beschäftigte man sich auch mitder fehlenden Kohärenz zwischen Entwicklungs- undAgrarpolitik.
Es wurde ganz klar, dass diese ein Haupthindernis fürFortschritte ist. Zugleich darf man nicht übersehen, dassbei einem allgemeinen Abbau von Subventionen nichtnur bei uns, sondern auch in manchen Entwicklungslän-dern neue Verwerfungen entstehen. Deshalb muss mannatürlich sehr sorgfältig mit solchen Forderungen umge-hen.
Die Singapur-Themen haben sich als ein Hindernisfür Fortschritte herausgestellt. Mittlerweile sind die Eu-ropäer zu der Überzeugung gekommen, dass man dieSingapur-Themen auf Handelserleichterungen und Re-form der Zollverfahren reduzieren kann. Das ist gut so,denn die Hoffnung der Europäer, man könne sich fürKompromisse bei den ursprünglichen Themen ein sub-stanzielles Entgegenkommen anderer Staaten einhan-deln, hat sich als Illusion erwiesen. In Wirklichkeit gehtes also in den übrig gebliebenen Punkten nicht mehr umKompensationsgeschäfte, sondern darum, welche Vorbe-dingungen für eine sich organisierende Dritte Welt, dieman wahrnehmen und ernst nehmen muss, erfüllt wer-den können. Hier müssen Lösungen gefunden werden.Bei den GATS-Verhandlungen in Genf hat sich in derZwischenzeit nichts bewegt. Das ist auch nicht verwun-derlich, denn alle wissen, dass die Bereitschaft vielerLänder, sich in den anderen in Doha vereinbarten Berei-chen zu bewegen, ausschließlich davon abhängt, ob sichbei den entscheidenden Fragen wie Agrarsubventionenund Marktzugang vorher etwas tut. Da bestehen guteChancen. Immerhin hat Herr Zoellick angekündigt, dassauch die Vereinigten Staaten über die Frage der Subven-tionen, der Lebensmittelhilfe und der damit verbundenenStützung der eigenen Märkte sprechen werden.Ob sich in den USA im Wahljahr etwas bewegenlässt, werden wir sehen.
Es gibt immerhin Signale, dass es so viel Entgegenkom-men gibt, dass im Juli in Genf der Prozess weitergehtund im nächsten Jahr, wenn die Kommission neu bestelltist und die USA gewählt haben, die Verhandlungen er-folgreich vorangebracht werden können und auf einerder nächsten Ministerkonferenzen ein, wenn auch abge-specktes, Ergebnis vorliegen wird. Durch weiteren Ab-bau von Zöllen und weitere Liberalisierung rücken danndie Wohlfahrtsgewinne, die wir uns alle aus diesen Ver-handlungen erhoffen, in greifbare Nähe.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hatin letzter Zeit den Abgeordneten regelmäßige Berichteüber den Stand der Verhandlungen zukommen lassen.Dafür bedanken wir uns ausdrücklich. Wir sind aller-dings der Meinung, dass das das Mindeste ist, was sietun kann. Wir würden uns darüber freuen, wenn die frü-her geübte Praxis regelmäßiger Konsultationen der Re-gierung mit den Parlamentsberichterstattern wieder auf-genommen würde. Eines ist ganz klar: Es ist unsereAufgabe, über die bestehenden Netzwerke dazu beizu-tragen, dass ein positives Klima für die weiteren Gesprä-che entsteht. Das können Sie nicht alleine. Deshalb tunSie bitte diesen Schritt, auch wenn er ein wenig Arbeitbereitet.Es gibt also keinen Grund zum Pessimismus. Viel-mehr gibt es Ansatzpunkte für einen neuen Optimismus.Wir hoffen auch im Sinne der Entwicklung unserer Wirt-schaft, dass die nächsten Verhandlungen erfolgreich seinwerden.Vielen Dank.
Das Präsidium bedankt sich für die punktgenaue Ein-haltung der Redezeit.
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Gudrun Kopp fürdie FDP-Fraktion.
Das kann gar nicht falsch sein.
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10130 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Gudrun KoppHerr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Da-men! Es ist auch in diesem Haus noch notwendig, daraufhinzuweisen, dass Marktöffnung und Liberalisierung desWelthandels zu mehr Wohlstand, mehr Bildung, mehrGesundheitsvorsorge und insgesamt besseren Lebens-verhältnissen weltweit führen.
Dies ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Globalisierungbirgt, bei aller Skepsis und bei allen negativen Seiten,aus Sicht der Liberalen eindeutig mehr Chancen als Risi-ken. Wir sollten diese Chancen unbedingt nutzen.Der Kollege Fritz sprach eben davon, dass wir seit derDoha-Konferenz im vergangenen September in Cancunnicht sehr viel weitergekommen seien. Trotzdem be-zeichnen Sie die Entwicklung als positiv. Ich denke, dassim Augenblick auf allen zu beratenden Themenfelderndie Politik der kleinen Schritte angesagt ist. Das ist auchgut so. Wir kommen voran, wenn auch nicht mit der gro-ßen Agenda, die wir uns vorgenommen haben. Sei’sdrum, es wird vorangehen. Ich glaube allerdings nicht,dass es vor den Wahlen in den USA zu irgendwelchenErgebnissen kommen wird; so lange werden wir leiderabwarten müssen.Wir haben auf der Tagesordnung unter anderem denWelthandel mit Dienstleistungen, die so genanntenGATS-Verhandlungen. Wenn man sich einmal anschaut,um welche Daten und Fakten es dabei geht, kann manerkennen, wie wichtig der gesamte Bereich ist. Gemäßder Zahlungsbilanzstatistik der Deutschen Bank standenim Jahr 2002 den Erlösen aus dem Dienstleistungsexport inHöhe von 110 Milliarden Euro Ausgaben für Dienstleis-tungsimporte in Höhe von 140 Milliarden Euro gegenüber.Zwei Drittel der deutschen Direktinvestitionsbestände imAusland entfallen auf die Dienstleistungsbereiche. 1,6 Mil-lionen Mitarbeiter erwirtschaften in 21 000 Dienstleistungs-niederlassungen deutscher Unternehmen einen Umsatz von640 Milliarden Euro im Jahr. Es geht also um eine riesen-große Branche, die es zu liberalisieren gilt.Nun geht es uns Liberalen – ich glaube, da sind wiruns in diesem Haus auch einig – darum, dass für mehrinternationale Rechtssicherheit, Transparenz und fairereChancen für die Entwicklungsländer gesorgt wird. Dabeiist es absolut notwendig, die Parlamente enger einzubin-den.
Dies ist unabdingbar. Aber ich weiß auch, dass geradebeim Thema Dienstleistungen in diesem Haus, insbeson-dere bei Rot-Grün, Vorbehalte und Ängste bestehen unddie Tendenz, bestimmte Bereiche immer weiter abzu-schotten. Deswegen verweise ich noch einmal darauf,dass die Verpflichtungen in den GATS-Abkommen nurauf bereits privatisierte, unstreitige Dienstleistungen zie-len. Darüber ist zu verhandeln. Es geht nicht darum, inhoheitliche Aufgaben einzugreifen, und auch nicht umEingriffe ins Einreise- oder Arbeitsgenehmigungsrechtoder gar ins Tarifrecht. Ich betone ausdrücklich, dass esum eine notwendige Öffnung in bestimmten Bereichengeht, und zwar unter Wahrung der hoheitlichen Kompe-tenzen, und nicht darum, –
Frau Kollegin!
– Dienstleistungsbereiche quasi einem ungehinderten
Austausch zu öffnen.
Ich wünsche mir, dass die Anträge der FDP-Bundes-
tagsfraktion von diesem Haus positiv beschieden werden
und dass die Doha-Runde recht bald erfolgreich abge-
schlossen werden kann.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Michaele Hustedt
für Bündnis 90/Die Grünen, die ich um Nachsicht dafür
bitte, dass sie nicht schon vorher das Wort bekommen
hat. Das kann hoffentlich durch einen leichten Zuschlag
bei der Redezeit kompensiert werden.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir allesind besorgt über das Scheitern von Cancun und wün-schen uns natürlich einen Neuanfang für die Welthan-delskonferenz. Es gibt aus meiner Sicht keine Alterna-tive für ein multilaterales System. Wir als ExportnationNummer eins haben ein Interesse daran, nicht nur bilate-rale und regional gültige Verträge abzuschließen, diedazu führen würden, dass unsere Handelsbeziehungen,wie man so schön sagt, einem Teller Spaghetti gleichen.Aber auch die Entwicklungsländer haben in einem mul-tilateralen System bessere Chancen, ihre Interessendurchzusetzen, als im Falle von bilateralen Verträgen.Nicht zuletzt gilt: Multilaterale Verhandlungen sindtransparenter und damit demokratischer als bilateraleVerträge. Deswegen wünschen auch wir, dass der Fadenvon Cancun wieder aufgenommen wird und dass es eineFortsetzung der Welthandelskonferenz gibt.Man muss fragen: Woran ist Cancun gescheitert? Waswar das Problem? Meine Einschätzung ist – da gehe ichmit Ihnen, wenn ich Sie richtig verstanden habe, einiger-maßen konform –, dass die Entwicklungsländer nichtmehr die armen Länder sind, die nur „Bitte, bitte“ sagen.Das Kräfteverhältnis hat sich ein Stück verschoben. DieEntwicklungsländer besitzen einen Anteil am Welthan-del von 30 Prozent. Deswegen wollen sie mitreden unddurchsetzen, dass diese Runde, wie versprochen, zu ei-nem echten Benefit für sie wird.
Mit Blick auf die vorliegenden Anträge muss ich aufdrei Fehler aufmerksam machen, die gemacht wurden.Die FDP spricht in ihrem Antrag davon, dass auch nach
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Michaele Hustedtdem Scheitern von Cancun die Singapur-Themen ganzoben stehen sollen und dass eine Diskussion darüber mitVehemenz eingefordert werden soll. Diese Haltung wirdaber von mehr als 100 Staaten nicht akzeptiert, was eineder Ursachen für das Scheitern von Cancun war. Dassman auf der einen Seite sagt, man wünsche sich, dass dieWTO-Verhandlungen wieder in Gang kommen, und aufder anderen Seite davon spricht, die Singapur-Themendürften nicht aufgegeben werden, ist nach meiner An-sicht ein Fehler.Hinzu kommt, dass die FDP in ihrem Antrag wiedereinmal viel zu schematisch argumentiert – das gilt auchfür Ihre Rede, Frau Kopp –, dass eine Öffnung derMärkte immer positiv ist. Inzwischen sind wir in derweltweiten Debatte viel weiter. Selbst die Weltbank undder IWF räumen ein, dass es die asiatischen Tigerstaatenrichtig gemacht haben. Teilweise haben sie ihre Märktegeöffnet und teilweise haben sie sie unter Beachtung ih-rer eigenen wirtschaftlichen Interessen geschützt. Derrichtige Weg ist die schrittweise Öffnung zum Weltmarktund nicht der Weg, den Sie vorschlagen und der früherArgentinien aufgedrängt wurde. Für Argentinien führtedieser Weg ins Verderben.Noch eine Bemerkung zum Antrag der CDU/CSU.Herr Fritz, ich freue mich, dass Sie Gespräche mit IhrenKollegen aus dem Agrarausschuss führen. Das ist alle-mal nötig. Im Ausschuss haben Ihre Kollegen den Vor-schlag der EU eindeutig abgelehnt. Die Agrarlobby hatnicht eingesehen – damit bin ich bei einem weiteren Feh-ler, einem Fehler, den Europa auf der WTO-Konferenzgemacht hat –, dass wir tatsächlich bereit sein müssen,den Entwicklungsländern Zugeständnisse zu machen.Ich weiß, Sie sehen das anders. Dem entgegne ich: DieKollegen, die vor mir gesprochen haben, hätten bei denGesprächen dabei sein müssen, um sich dementspre-chend äußern zu können.Die EU hat jetzt ein gutes Angebot gemacht. Sie hatsehr deutlich gesagt, dass sie das Auslaufen aller Agrar-subventionen akzeptiert, dass im Rahmen der Singapur-Themen nur noch Verhandlungen über Handelserleichte-rungen aufzunehmen sind und dass den bedürftigen Ent-wicklungsländern zugestanden wird, dass sie im Rah-men dieser Runde keinerlei Zollsenkungen vornehmenmüssen. Das ist ein sehr guter Vorschlag. Dass Frank-reich so heftig dagegen protestiert, bestätigt mich in mei-ner Auffassung, dass es ein ambitionierter Vorschlag ist.Es ist ein echtes Angebot – das haben wir Grünen schonvor Cancun gefordert –, mit dem die EU auf dem richti-gen Weg ist. Die Bundesregierung hat sehr eindeutig die-sen Schritt der EU-Kommission gefordert und unter-stützt ihn. Ich hoffe, dass diese Chance genutzt wird.Unter dem Scheitern von Cancun – das ist das eigent-liche Thema unserer heutigen Debatte – haben dieGATS-Verhandlungen gelitten, die im März zwar wiederaufgenommen wurden, die aber noch keine große Dyna-mik entfaltet haben, weil alles von materiellen Verhand-lungsfortschritten auf dem Agrarsektor abhängig ge-macht wird. Bei den GATS-Verhandlungen wird es keineFortschritte geben, wenn es nicht vonseiten der entwi-ckelten Industrienationen auf WTO-Ebene bei denAgrarverhandlungen echte Angebote gibt.Ich möchte für uns Grüne sehr deutlich machen, dassdie Liberalisierung von Dienstleistungen für uns alsExportnation natürlich ein wichtiger Schritt ist, wir unsdavon Chancen versprechen und wir deswegen dieseVerhandlungen unterstützen. Es gibt allerdings ein paarAusnahmen, über die wir im Bundestag schon mehrmalsdiskutiert haben. Dazu gehören die Themen Wasser, Bil-dung, Gesundheit und Kultur. Hierzu haben wir im Bun-destag schon einige Anträge verabschiedet.Abschließend exemplarisch zum Thema Kultur, weildas in einigen vorliegenden Anträgen eine Rolle spielt.Die CDU/CSU hat einen Antrag zur Qualitätssicherungim Bildungswesen und zu kultureller Vielfalt gestellt. ImGrunde haben Sie unseren Antrag fast wortwörtlich ab-geschrieben. Damals haben Sie unseren Antrag abge-lehnt. Sie haben gesagt, dass das eine Überschätzung desThemas in der Öffentlichkeit bedeute.
Wir freuen uns, dass Sie sich inzwischen ein Stück weitbewegt haben.Kultur ist ein Lebenselixier unserer Gesellschaft. DieErfolge des deutschen Films zeigen, dass es wichtig ist,die eigene Geschichte zu erzählen. Sie zeigen auch, dassdie Vielfalt in der Europäischen Union erhalten bleibenund man nicht riskieren sollte, dass alles plattgemachtwird und es auch in Europa zu einer „Hollywoodisie-rung“ kommt. Deswegen ist die Förderung, die Finanzie-rung von Kultur durch uns kein Subventionstatbestand.Wir möchten, dass das auch so bleibt. Wir wissen, dieEU hat hierzu keine Angebote gemacht. Ich möchte ganzklar sagen: Diese und andere Bereiche sind für uns imRahmen von GATS nicht verhandelbar.Danke schön.
Frau Kollegin Hustedt, ich hoffe, wir beide sind jetzt
quitt
und Sie bitten mich nicht bei jeder weiteren Debatte,
später aufgerufen zu werden, um auf diese Weise die Re-
dezeit verlängert zu bekommen.
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die
Kollegin Marion Seib das Wort für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Gestern haben die verehrten Kollegen von Rot-Grünim Ausschuss für Bildung und Forschung mit Begeiste-rung über die UN-Weltdekade „Bildung für nachhaltigeEntwicklung“ diskutiert. Dabei geht es um eine
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Marion Seibmöglichst weltumspannende Einbringung von politischkorrekten Zielen wie dem Nachhaltigkeitsprinzip in alleEbenen der Bildung.Die Frage sei erlaubt: Würden Sie private Bildungs-programme aus Nicht-EU-Ländern, die dieses Ziel be-fördern, in Deutschland zulassen oder ablehnen? Oder:Würden Sie deutsche Bildungsprogramme, die diesesZiel verfolgen, am Export hindern? Bildungsdienstleis-tungen sind in das GATS-Abkommen als einer vonzwölf Dienstleistungssektoren einbezogen worden. Öf-fentliche Bildungsdienstleistungen sind aber von denEU-Forderungen nicht erfasst.Das hat endlich auch die SPD verstanden. Deshalbbegrüßen Sie in Ihrem zweiten Antrag, dass die Europäi-sche Union in ihrer Verhandlungsposition die BereicheBildung, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen vonden Liberalisierungsverhandlungen ausgenommen hat.Dies ist dem ersten Antrag Ihrer Fraktion noch nicht zuentnehmen. Bildung und der Handel mit Bildung sind,wie sich am Beispiel der USA zeigt, ein bedeutsamervolkswirtschaftlicher Faktor.
Allein die Vereinigten Staaten erwirtschaften jährlichrund 10 Milliarden Dollar in diesem Bereich.Wichtig ist, dass bewährte Strukturen der öffentlichenBildungs- und Kulturförderung in Deutschland durchGATS nicht infrage gestellt werden.
Im Bildungsbereich ist die Verantwortung des Staatesbesonders groß. Bildung gehört zu den Kernaufgaben ei-ner demokratischen Gemeinschaft und darf nicht aus-schließlich kommerziellen Gesichtspunkten untergeord-net werden. Die Struktur des öffentlich finanziertenBildungssystems in Deutschland darf deshalb nicht ge-nerell zur Disposition gestellt werden, auch nicht durcheine Subventionsabbaudiskussion.Das kann aber nicht bedeuten, dass wir ausländischeBildungsanbieter subventionieren. Die Regeln zur Inlän-derbehandlung gemäß Art. XII des GATS-Vertrages dür-fen deshalb nicht so ausgelegt werden, dass eine gene-relle Verpflichtung zur staatlichen Subventionierungauch privater Anbieter entsteht. Die staatliche Finanzie-rung von Bildungs- und Kultureinrichtungen in Deutsch-land darf keine Subventionsansprüche ausländischer An-bieter erzwingen.Ausländische Bildungsanbieter sind uns aber sehrwillkommen. Sie tragen zu mehr Wettbewerb zwischenden Bildungsanbietern und damit zu mehr Leistungsori-entierung und zur Qualitätssteigerung bei. Das Gleichemuss auch für die Kultur gelten. Die von den Bundeslän-dern wahrgenommene Kulturhoheit darf durch dasGATS-Abkommen nicht beeinträchtigt werden.Da ich gerade über die Länder spreche: Ich vermisseauch in Ihrem neuen Antrag eine Aussage zur Rolle derLänder. Diese hätten etwas mehr Aufmerksamkeit vonIhnen verdient. Bildung ist und bleibt überwiegend Auf-gabe der Länder.Hinter GATS verbergen sich für die Bildungseinrich-tungen nicht nur Risiken, sondern auch erheblicheChancen im In- und Ausland. Beispielsweise gibt esüber 16 000 Kooperationsvereinbarungen zwischendeutschen Hochschulen und ausländischen Einrichtun-gen. Ich bin zuversichtlich, dass diese Entwicklung an-halten und sich intensivieren wird.Durch den Bologna-Prozess entsteht ein europäischerHochschulraum, der sich vor der Konkurrenz aus denVereinigten Staaten, Australien oder anderen Ländernnicht zu verstecken braucht. Der Bologna-Prozess hat imHochschulbereich eine gewaltige Dynamik entwickelt.Die Chancen, die sich durch ihn ergeben, gilt es auch inden GATS-Verhandlungen umzusetzen und durch neueRegelungen zu nutzen. Wir müssen dafür sorgen, dassdie Liberalisierungsverhandlungen so transparent wiemöglich gestaltet werden. Dazu gehört, dem DeutschenBundestag mit seinen Fachausschüssen und den Bundes-ländern im Vorfeld der weiteren Verhandlungsstufen imRahmen des GATS Planungsstand, Veränderungen undweitere Liberalisierungsangebote umfassend und recht-zeitig zur Beratung vorzulegen.
Ich appelliere an Sie, keine Ängste zu schüren. Wozudas führt, haben wir bereits in Cancun erlebt. Wir kön-nen uns der Globalisierung unserer Welt nicht entziehen.Der einmal begonnene Weg ist nicht mehr umkehrbar.Unsere Aufgabe ist es, unsere kulturellen und bildungs-politischen Besonderheiten in diese Entwicklung einzu-bringen und abzusichern. Lassen Sie uns diesen Weg ge-meinsam gehen.Besten Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/3101. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages derFraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1008 mitdem Titel „Für ein höheres Liberalisierungsniveau beimWelthandel mit Dienstleistungen – GATS-Verhandlun-gen zügig voranbringen“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheitangenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss dieAblehnung des Antrages der Fraktion der FDP aufDrucksache 15/1010 mit dem Titel „InternationaleRechtssicherheit und transparente Regeln für denDienstleistungshandel – GATS-Verhandlungen voran-bringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch diese Be-schlussempfehlung ist mit der Mehrheit des Hauses an-genommen.Tagesordnungspunkt 10 b: Beschlussempfehlung desAusschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache
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Vizepräsident Dr. Norbert Lammert15/3222. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe aseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antra-ges der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1567mit dem Titel „Doha-Verhandlungen nach dem Scheiternvon Cancun konstruktiv und zügig voranbringen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrages der FDP-Fraktion auf Drucksache15/1931 mit dem Titel „Doha-Runde bis 2005 zum Er-folg führen – Mehr Entwicklung, Armutsbekämpfungund Wohlstand durch Freihandel“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mitden Stimmen der Koalition gegen die Stimmen derOpposition angenommen.Tagesordnungspunkt 10 c: Beschlussempfehlung desAusschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung auf Drucksache 15/1844 zum Antrag derCDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 15/1095 mit demTitel „Qualitätssicherung im Bildungswesen und kultu-relle Vielfalt bei GATS-Verhandlungen garantieren“.Der Ausschuss empfiehlt, diesen Antrag abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Mit gleicherMehrheit ist diese Beschlussempfehlung angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher,Gisela Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPPassagierdatensammlungen und Datenschutz-rechte – EU-Abkommen mit den VereinigtenStaaten von Amerika– Drucksachen 15/2761, 15/3120 –Berichterstattung:Abgeordnete Frank Hofmann
Beatrix PhilippSilke Stokar von NeufornErnst BurgbacherNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist fürdiese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobeidie FDP fünf Minuten erhalten soll. Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist das so vereinbart.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Parlamentarischen Staatssekretär RudolfKörper.F
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von einembin ich überzeugt: Der internationale Terrorismus kannnur gemeinsam von der internationalen Staatengemein-schaft erfolgreich bekämpft werden. Aufklärung im Vor-feld ist dabei unsere stärkste Waffe. Ein entscheidenderAspekt der vorbeugenden Terrorismusbekämpfung isteben der Austausch von Daten, um möglichen Attentä-tern von vornherein auf die Spur zu kommen und sie da-ran zu hindern, terroristische Anschläge zu begehen.Vor diesem Hintergrund ist auch das Verlangen der US-Behörden zu sehen, bereits vor dem Start eines Passagier-flugzeuges in Richtung der Vereinigten Staaten von Ame-rika Zugriff auf Buchungsdaten der Passagiere zu erhal-ten. Auch auf EU-Ebene sind unter dem Aspekt derGrenzkontrolle mit der Einigung des Rates auf eineRichtlinie zur Verpflichtung von Fluggesellschaften, be-stimmte Passagierdaten vorab zu übermitteln, bereitserste Schritte getan worden. Dabei dürfen selbstver-ständlich Datenschutz und Bürgerrechte nicht außerAcht bleiben.
– Hören Sie doch einmal zu! – Das Lösungspaket derKommission – davon bin auch ich überzeugt – berück-sichtigt ebendiese von mir erwähnten Rechte. FrauStokar, ich möchte auch sagen: Es ist ausgewogen.Die Bundesregierung hat deshalb im Außenminister-rat am 17. Mai dieses Jahres wie alle anderen EU-Mit-gliedstaaten dem von der Europäischen Kommissionausgehandelten Abkommen zugestimmt. Ebenso hat dieKommission zwischenzeitlich ihren Beschluss zur An-gemessenheitsfeststellung in Bezug auf die Verarbeitungder so genannten PNR-Daten durch die US-Zoll- undGrenzkontrollbehörden gefasst.Meine Bewertung entspricht der aus unserer Debattevom 1. April dieses Jahres: Der gefundene Kompromissist eindeutig dem Status quo vorzuziehen.
Er entspricht in vielen Punkten dem Anliegen des Antra-ges, das die Bundesregierung durchaus teilt, oder kommtdiesem, Herr Burgbacher, zumindest sehr nah. Entschei-dend ist, dass die Bürgerrechte mit Abschluss des Passa-gierdatenabkommens deutlich besser geschützt werden,als dies für USA-Reisende bisher der Fall war.
Der rechtliche Ausgangspunkt ist klar: Das Bundes-datenschutzgesetz verlangt für Datenübermittlungen indas nicht europäische Ausland ein angemessenes Daten-schutzniveau; es verlangt keine Gleichwertigkeit. DieKommission hat in ihren Verhandlungen mit den USAhinsichtlich der Behandlung dieser Daten Zusagen erhal-ten, die unter Berücksichtigung des transatlantischen In-teresses an einem verbesserten Informationsaustauschein angemessenes Datenschutzniveau gewährleisten.Wenn teilweise der Eindruck erweckt wird, die Kom-mission habe einseitig den Wünschen der USA nachge-geben, ist dies schlichtweg unzutreffend. Auch die USAhaben im Laufe der Verhandlungen Zugeständnisse ge-macht. Hierbei sind zu nennen: die enge Beschränkungdes Verwendungszwecks – Herr Burgbacher, auch das ist
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Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körpervon Ihnen eingefordert worden – auf die Bekämpfungdes Terrorismus und insbesondere der internationalen or-ganisierten Kriminalität, die erhebliche Verkürzung derSpeicherungsdauer – auch das ist auf dem Verhandlungs-wege erzielt worden –, der Verzicht auf bestimmte sen-sible Daten sowie – auch das darf nicht vergessen wer-den – die Einrichtung eines förmlichen Beschwerdever-fahrens. Positiv zu bewerten ist auch, dass die Vereinig-ten Staaten von Amerika einer fortlaufenden jährlichenEvaluierung unter Beteiligung von EU-Datenschutzbe-auftragten zugestimmt haben.Wer für die Ablehnung des erreichten Ergebnisseseintritt, muss realistische Alternativen benennen. Genaudas – das muss ich doch noch einmal sagen, HerrBurgbacher – leistet der von Ihnen eingebrachte Antragaber nicht. Die Passagiere mit Reiseziel USA erwartenjedoch nicht nur eine Problembeschreibung, sondernauch eine tatsächliche Verbesserung der bisherigen, un-befriedigenden Situation.Sie sehen es nicht als Überraschung an, dass ich ausder Sicht der Bundesregierung die Empfehlung abgebe,diesen Antrag abzulehnen.
Ich biete jedoch weiterhin ausdrücklich den konstrukti-ven Dialog über das an, was inhaltlich vereinbart wordenist, und über die Befürchtungen, die Ihrerseits hier undda artikuliert worden sind, die sich in der Praxis jedochnicht so darstellen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix Philipp für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sel-ten genug der Fall – das habe ich schon einmal gesagt –,dass Herr Körper bzw. die Bundesregierung und wir unsso einig sind. Aber in diesem Fall ist das so, weil es ver-nünftig ist. Deswegen haben wir auch gar keine Schwie-rigkeiten, das zum Ausdruck zu bringen.
Wir sind uns darin einig – ich denke, das trifft auch fürdie FDP zu –, dass nur eine gemeinsame Bekämpfungdes Terrorismus sinnvoll ist. Auch müsste es die Mei-nung der FDP sein – das denke jedenfalls ich –, dassdazu Aufklärung im Vorfeld nötig ist.
Herr Burgbacher, zu dieser Aufklärung im Vorfeld gehört,dass Daten ausgetauscht werden, zumal es sich – daraufkomme ich gleich noch im Einzelnen zu sprechen – umsolche Daten handelt, die jeder auch bisher schon immerund ganz selbstverständlich abgegeben hat.Es mutet schon ein wenig seltsam an, dass wir hierdarüber streiten, ob Fluggesellschaften, die Amerika an-fliegen, Daten, die jeder Fluggast seit jeher angegebenhat, an die amerikanischen Zoll- und Grenzschutzbehör-den weitergeben dürfen, wenn zeitgleich, also in diesenStunden, in den USA nach sieben al-Qaida-Mitgliederngesucht wird und der Justizminister Ashcroft gestern vorklaren und aktuellen Gefahren für Großereignisse in die-sem Sommer gewarnt hat.Auch der bayerische Innenminister – Herr Burgbacher,das haben auch Sie sicherlich zur Kenntnis genommen –hat diese Warnungen nicht nur sehr ernst genommen,sondern auch von Warnungen an die deutsche Adressegesprochen. Das heißt, dass wir uns in einem nichtneuen, aber doch sehr ernsten Abwägungsprozess befin-den: zwischen dem, was an Prävention in Bezug auf dieTerrorismusbekämpfung zu leisten ist, und dem Daten-schutz und den Bürgerrechten, die, wie Sie eben richti-gerweise gesagt haben, zweifellos nicht außen vor blei-ben dürfen.Herr Staatssekretär Körper hat eben schon darauf hin-gewiesen, dass der jetzt gefundene Kompromiss einedeutliche Verbesserung ist, weil die Vereinigten Staatenfür die Erteilung der Landeerlaubnis seit März letztenJahres den unmittelbaren Zugriff auf die Buchungssys-teme der betroffenen Fluggesellschaft verlangt haben. Erist ihnen – das wissen Sie alle –, ohne dass es eineRechtsgrundlage oder konkrete Absprachen gegebenhat, gewährt worden.Wäre das Abkommen, wie von der FDP beantragt, ge-stoppt worden, wäre dieser regelungslose Zustand – dasfinde ich jedenfalls sehr logisch – erhalten geblieben. Ichsage noch einmal, weil ja fürchterliche Szenarien be-schrieben wurden: Es handelt sich um völlig normaleund übliche Angaben, die für die Buchung eines Flug-tickets auch von Ihnen, Herr Burgbacher, von mir und al-len anderen erforderlich sind und die jeder Reisendeganz selbstverständlich angibt. Dazu gehören zum Bei-spiel: Name, Adresse, Abflugdaten und Rechnungsan-schrift.
Hinzu kommen Daten, die die Fluggesellschaft braucht,
wie – das würde ich mir zum Beispiel wünschen – dieSitzplatznummer. Wenn, wie unlängst in Düsseldorf,Seuchengefahren bestehen, wäre es sehr interessant zuwissen, wer wo gesessen hat bzw. wer neben demjeni-gen, der infektiös angekommen ist, gesessen hat.
Das können wir im Moment nicht nachvollziehen. Viel-leicht wäre es ja eine Anregung, dies demnächst zu re-geln. Zu diesen Daten gehören auch die Nummer desFlugscheins und so spektakuläre Angaben wie die Num-mern der Gepäckanhänger. Wie gesagt, jeder kann sich
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Beatrix Philippdie 34 Daten, die gar nicht insgesamt erhoben werden,anschauen. Dann wird er die Aufregung, die hier zumTeil erzeugt wird, überhaupt nicht verstehen.Nun geht es noch um so genannte sensible Daten, diesofort gelöscht werden sollen. Das sind Daten, die garnicht erhoben werden, sondern die der Fluggast von sichaus gerne kundtut, weil es vielleicht während des Flugeswichtig werden kann:
wenn er behindert ist, wenn er besonderes Essen bevor-zugt. Wer keine E-Mail-Adresse hat, braucht keine anzu-geben; wer bar bezahlt hat, gibt keine Bankverbindungan usw. Ich will das nicht weiter vertiefen.Wie gesagt: Es ist ein Kompromiss. Sieben Punktescheinen mir besonders wichtig, weil sie eine deutlicheVerbesserung sind: Ich nenne erstens: eine ausdrücklicheZweckbindung an die Bekämpfung des Terrorismus undvon damit im Zusammenhang stehenden Straftaten so-wie an die Bekämpfung schwerer, länderübergreifenderStraftaten. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, weil Siemich das letzte Mal gefragt haben, habe ich natürlichaufmerksam gelesen, wie Sie sich geäußert haben. Ge-genüber der „Tagesschau“ haben Sie erklärt:Abermillionen Daten landen künftig in amerikani-schen Behörden, wo wir überhaupt nicht wissen,was damit gemacht wird.Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie die Verpflichtungs-erklärung, von der wir eben gesprochen haben, über-haupt lesen konnten.Zweitens. Die Speicherfristen wurden auf drei Jahreund sechs Monate verkürzt. Wenn wir von Prävention imBereich von Terrorismus reden, müssen wir zugestehen,dass das eine absolut akzeptable Zeit ist.Drittens. Für Fälle des Datenmissbrauchs durch Mit-arbeiter der zuständigen US-Behörden sind in der Ver-pflichtung strenge Sanktionen – von Entlassung bis hinzu Freiheitsstrafen – vorgesehen; auch das ist ein Ver-handlungsergebnis.Viertens. Bis zur Einführung des Filter-und-Push-Systems ist die sofortige Löschung der sensiblen Datenzugesagt; darauf habe ich eben schon hingewiesen.Fünftens. Die Beschwerdemöglichkeit der Passagieredurch ihren nationalen Datenschützer oder direkt bei derUS-Zoll- und Grenzschutzbehörde ist ein weiteres Ver-handlungsergebnis.Sechstens. Die jährliche gemeinsame Überprüfungder Umsetzung der Verpflichtung in den USA durch einEU-Team ist vereinbart.Siebtens. Die Festschreibung des Grundsatzes der Ge-genseitigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil der Verein-barung. Da zeigt sich deutlich, dass es den Amerikanernum ernsthafte und gemeinsame Terrorismusbekämpfunggeht, so wie der Herr Staatssekretär das eingangs er-wähnt hat.
Nun stellt sich wirklich ernsthaft die Frage, welcheskonkrete Ziel diejenigen verfolgen, die auch diesemKompromiss nicht zustimmen können; das ist mir nichterkennbar. Die Übermittlungsmethode hat sich schließ-lich geändert: weg von Pull, hin zu Push. Ich bin opti-mistisch, dass die Fluggesellschaften das sehr schnellumsetzen werden, da die Verbesserung des Übermitt-lungsverfahrens auch in ihrem eigenen Interesse liegt.Meine sehr geehrten Damen und Herren, in einemzweiten Schritt strebt die EU-Kommission die Daten-übertragung durch eine zentrale Einrichtung der EU an.Auch diesen Schritt halte ich für richtig, weil er dieDatenübermittlung in einen hoheitlichen Zusammen-hang stellt, bei dem sich die Partner auf Augenhöhe, wiedas heute so schön heißt, begegnen werden. Weiterhin– wir haben das gestern in einem anderen Zusammen-hang, im Rahmen einer Anhörung, besprochen – wird eseinen weltweiten Standard für die Fluggastdatenüber-mittlung geben; die Initiative der ICAO, die auf einheit-liche Datenschutzstandards abzielt, stellt auch im Inte-resse unserer Luftverkehrswirtschaft einen Schritt zumehr Sicherheit in der Zukunft dar.Auch das finde ich richtig: Wir haben zur Kenntnisgenommen, dass es sich bei diesem Kompromiss umeine zunächst auf dreieinhalb Jahre befristete Zwischen-lösung handelt.Schließlich noch etwas ganz Praktisches: Diejenigen,die glauben, dass sie mit einer Nichtanerkennung diesesKompromisses die deutschen Fluggäste schützen, erwei-sen ihnen in Wahrheit einen Bärendienst. Denn die Da-ten werden sie angeben müssen: Wenn sie das nicht hiertun – bei der Buchung ihres Fluges, im Reisebüro oderwo auch immer –, dann werden sie sich an einer langenSchlange bei der Einreise anstellen und dort ihre Datenabgeben müssen. Dass ihnen Letzteres angenehmer ist,kann ich mir nicht vorstellen.
Ferner gibt es, wie Sie wissen, eine privilegierte Behand-lung von EU-Bürgern, trotz der heftigen Bemühungenvon Rot-Grün, Frau Stokar, Sand ins Getriebe zustreuen.Ich kann nur wiederholen, was ich bei der letzten De-batte bereits ausgeführt habe: Wir haben den Daten-schutz der USA überhaupt nicht zu bewerten. Es warschon immer so, dass die Besucher eines Landes sichden Gesetzen des Gastlandes unterzuordnen hatten.Deswegen haben sie die entsprechenden Einreisebestim-mungen zu akzeptieren.
– Sehr richtig, Herr Winkler, und diese Angemessenheitist zweifellos gegeben. Ich weiß nicht, ob es Ihnen mög-lich war, einmal genau zu schauen, wie dieser Kompro-miss hinsichtlich der 34 Daten, auf die wir uns beziehen,aussieht.
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Beatrix PhilippUnsere heutige Debatte kann sich also nur auf die aufeuropäischer Seite rechtmäßig zu erhebenden und zuübermittelnden Daten beziehen.
Ich weise noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass derDatenschutz kein Selbstzweck ist, sondern es, wie HerrWinkler eben richtigerweise gesagt hat, um eine Verhält-nismäßigkeitsabwägung geht. Diese hat hier stattgefun-den.Selbst der Bundesbeauftragte für den Datenschutzsagt, dass wir hier in Deutschland im Augenblick einederartige Normenvielfalt, ein solches Durcheinander imBereich des Datenschutzes haben, dass er die Zahl derRegelungen deutlich reduzieren möchte – eine Hausauf-gabe für die nächsten Jahre, denke ich einmal – und eineReform für dringend notwendig hält. Ich denke also,dass auch im Bereich des Datenschutzes weniger oftmehr wäre.
Meine Damen und Herren, es bleibt Ihr Problem, wieSie die unterschiedlichen Abstimmungen im Europäi-schen Parlament und hier im Deutschen Bundestag untereine Mütze bekommen.
Jedenfalls werden Sie sich damit in nächster Zeit sicher-lich ausführlich auseinander setzen müssen.
Zum Abschluss möchte ich mich gerne noch an HerrnBurgbacher wenden – vielleicht kann er gleich in seinerRede darauf eingehen –: Ich habe natürlich auch auf derHomepage der FDP nachgeschaut. Dort heißt es:Die EU-Kommission und die EU-Außenministerhaben den Ausverkauf der Bürgerrechte in Europaeingeläutet.Herr Burgbacher, es ist mir völlig schleierhaft, wie Siediese Aussage vor dem Hintergrund des eben hier er-wähnten Kompromisses aufrechterhalten können. Ichmeine, dass der Wert der Europäischen Gemeinschaft– nach dem Prinzip „Gemeinsam sind wir stark!“ –durch die Verhandlungsleistung der EU-Kommissioneindrucksvoll bewiesen wurde.Ich möchte mich im Namen der CDU/CSU-Fraktionausdrücklich dafür bedanken, dass es zu diesem Kom-promiss gekommen ist. Ich wünsche mir, dass es weiteregemeinsam erzielte Ergebnisse bei solchen internationa-len Verhandlungen gibt, und bedauere natürlich aus-drücklich, dass wir aus sachlichen Gründen dem Antragder FDP nicht zustimmen können.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar,Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich binnach wie vor der FDP durchaus dankbar, dass sie diesenAntrag in den Deutschen Bundestag eingebracht hat. Ichmöchte das auch begründen. Das, was ich besonders kri-tisiere, ist das Verfahren. Ohne den Antrag der FDP hät-ten wir nicht die geringste Chance gehabt, über diesesThema, das von großem öffentlichen Interesse in denMedien gewesen ist, hier im Deutschen Bundestag oderim Innenausschuss überhaupt zu diskutieren. Höchstensdie ganz fleißigen Abgeordneten,
die die Berichte der EU-Kommission von vorne bis hin-ten durchlesen – ich weiß, dass das niemand schaffenkann –, hätten irgendwann im Nachhinein bemerkt, dasses dieses Abkommen gegeben hat.An Frau Philipp gerichtet möchte ich sagen: IhreHoffnung, dass es hier in irgendeiner Weise zu unter-schiedlichem Abstimmungsverhalten bei Rot-Grünkommt, ist völlig unbegründet. Wir haben Unterschiedein der inhaltlichen Bewertung dieses Abkommens – dasist in den Redebeiträgen hier und auch in der Diskussionim Innenausschuss deutlich geworden –, aber auch dieFDP wird mittlerweile festgestellt haben, dass es heuteeigentlich gar nicht mehr um die Frage geht, ob wir ih-rem Antrag zustimmen oder nicht. Der Antrag hat sicherledigt, weil man gehandelt hat.Ich möchte in meiner Kritik hier noch etwas zu demVerfahrensverlauf sagen. Am 17. Mai hat der Rat derAußenminister den Vertragstext angenommen. Ich per-sönlich kann noch nicht einmal eine Kritik an unseremBundesinnenminister anbringen; denn wie gesagt warenes die Außenminister, die dem Vertragstext zugestimmthaben. Im Zuge dieses Verfahrens hat das EuropäischeParlament mit einem Mehrheitsbeschluss die Kritik andiesem Verfahren noch einmal inhaltlich begründet undsehr kluge Änderungsanträge gemacht. In diesen Ände-rungsanträgen hat es noch einmal deutlich gemacht, dasses zwischen dem berechtigten Sicherheitsinteresse derUSA und dem Datenschutz einen besseren Kompromisshätte geben können.Dies war eine Mehrheitsentscheidung des Europäi-schen Parlaments, das ein Gutachtenverfahren ange-strengt hat, um die Frage zu stellen, ob das Abkommenmit EG-Recht, also mit dem europäischen Datenschutz-recht, vereinbar ist. Ich meine, es wäre im Sinne einerbürgerfreundlichen Politik gewesen, wenn die Außen-und die Innenminister einfach abgewartet, den Mehr-heitsbeschluss des Europäischen Parlaments respektiertund dieses Gutachtenverfahren zugelassen hätten. Dannmüssten wir uns hier und heute nicht über die Angemes-senheit und Rechtmäßigkeit dieses Abkommens unter-halten.
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Silke Stokar von Neuforn
Wir sind jetzt in der Situation, dass das EuropäischeParlament regelrecht ausgebootet ist. Das EuropäischeParlament müsste nämlich innerhalb von zwei Monatennach dem Beschluss des Rates eine Überprüfung vordem Europäischen Gerichtshof beantragen. Dies gingenur noch mit einer Sondersitzung, weil das EuropäischeParlament erst am 19. Juli 2004, dann also in neuer Zu-sammensetzung, wieder zusammentritt. Ich möchte hierauch sagen, dass ich die Position der Grünen im Europäi-schen Parlament, die sich im Moment für die Einberu-fung einer außerordentlichen Sitzung des Rechtsaus-schusses einsetzen, ausdrücklich unterstütze.
Ich weiß, dass auch Europaabgeordnete der Liberalenan unserer Seite sind.Es gibt in diesem europäischen Verfahren ein ganzklares Demokratiedefizit. Ich denke, es würde ein gutesBild abgeben, wenn die Regierungskommission – siekann das entscheiden, weil es noch keine europäischeVerfassung gibt – bereit wäre, eine solche Überprüfungzuzulassen. Ich kritisiere, dass der Vertragstext im Wis-sen um die Auseinandersetzungen im Europäischen Par-lament in dieser Eile unterzeichnet worden ist
und wir als Parlamentarier dadurch handlungsunfähiggeworden sind. Ich denke, dass wir alle ein Interesse da-ran haben sollten, die europäische Innen- und Rechtspo-litik wieder stärker an nationale Parlamente und an dasEuropäische Parlament zu koppeln. Dann müssten wirhier auch nicht solche Auseinandersetzungen über Ver-fahren führen.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor wenigen Wochen hat die EU-Kommission einen
Vertrag mit den USA vereinbart. Demnach werden von
Passagieren, die die Vereinigten Staaten an- oder über-
fliegen, 30 und mehr persönliche Daten übermittelt. Das
hat meines Erachtens weder etwas mit Bürgerrechten
noch mit Datenschutz zu tun.
Die USA wollen den gläsernen Bürger oder Reisen-
den und die EU-Kommission ist ihnen dabei zu Diens-
ten. Es geht um den größten Datendeal der Neuzeit. Die
PDS lehnt dies ab. Die Verhandlungen zwischen der EU-
Kommission und den USA liefen schon länger und sie
waren von Anfang an umstritten. Das EU-Parlament hat
vor den Folgen eines solchen Vertrages gewarnt und mit
Mehrheit beschlossen, vor dem Europäischen Gerichts-
hof dagegen zu klagen.
Umso unglaublicher – wenn es denn stimmt – finde
ich das, was im „Spiegel“ steht, nämlich dass Bundesin-
nenminister Schily schon vorab, auch vor den Kompro-
missverhandlungen, ebendiesem Datendeal zugestimmt
hat und dass der Bundesaußenminister, wie von meiner
Vorrednerin beschrieben, hier Tatsachen geschaffen hat.
Deshalb finde ich auch: Das Problem ist eine echte Chef-
sache. Entweder haben die beiden Minister eigenmächtig
gehandelt – dann ist es höchste Zeit für ein Kanzlerwort –
oder aber sie haben in Absprache agiert; dann steht die
gesamte rot-grüne Regierung am Pranger. Liebe Kolle-
gin Stokar von Neuforn, dann hilft auch das „einerseits“
oder „andererseits“ nichts, weil die Tatsachen auch
durch Regierungsmitglieder der Bundesrepublik ge-
schaffen wurden.
Nun komme ich zu den Versuchen, den Datenschutz-
bruch zu verharmlosen. Die USA hätten sich verpflich-
tet, heißt es, die Daten nur drei Jahre zu speichern und
dann zu löschen. Ich finde, wer im Internetzeitalter und
angesichts anhaltender Wortbrüche an solche Verspre-
chen glaubt, der glaubt wirklich an den Weihnachts-
mann. Außerdem hätten sich die USA verpflichtet, die
EU zu informieren, falls sie gesammelte Daten an Dritte
weitergeben. Das ist aber nichts anderes als ein Freibrief
zum internationalen und geschäftstüchtigen Handel mit
persönlichen Daten von Bürgerinnen und Bürgern. Man
muss dieses Geschäft lediglich anzeigen – als ginge es
um die Eröffnung einer neuen Imbissbude. Wir reden
hier aber nicht über Würstchen oder Döner, sondern es
geht um ein verbrieftes Grundrecht, das der informatio-
nellen Selbstbestimmung. Deshalb hat die FDP-Fraktion
Recht, wenn sie hier im Bundestag mit ihrem Antrag die
gelbe Karte gezeigt hat. Ich gebe für die PDS noch die
rote Karte dazu.
Dass die Opposition zur Rechten mit Ausnahme der
FDP mit all dem kein Problem hat, wird niemanden ver-
wundern. Ginge es nach Ihnen, dann gäbe es keinen Da-
tenschutz mehr, das Demonstrationsrecht wäre längst
kastriert und wir bekämen einen Überwachungsstaat
neuer Prägung. Wenn es dafür eines Beleges bedurft
hätte, so wurde er im Zuge der Einwanderungsdebatte
geliefert. CDU und CSU haben aus einer Zuwande-
rungs- und Asyldebatte inzwischen eine Polizei- und Ge-
heimdienstdebatte gemacht.
Das hilft der Bundesrepublik nicht und das vergiftet das
gesellschaftliche Klima. Das hat auch nichts mit einer
modern verfassten Europäischen Union zu tun. Ich sage
Ihnen: Das hilft Ihnen auch nicht im notwendigen
Kampf gegen den Terror.
Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann, SPD-Frak-tion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Man könnte nach der letzten
Rede sprachlos sein, aber ich bin es nicht geworden. Ich
möchte mich auch nicht mehr auf das beziehen, was wir
im Ausschuss und in der ersten Lesung besprochen ha-
ben. Mir geht es um einen anderen Punkt, nämlich um
den Hintergrund.
Die Auseinandersetzung, die wir führen, ist eigentlich
eine Auseinandersetzung um unterschiedliche Philoso-
phien im Bereich der Sicherheit und des Datenschutzes.
Als wir im Dezember des letzten Jahres gelesen haben,
was mit den Daten passieren soll, da ging es mir wie vie-
len anderen so, dass wir wenig Verständnis dafür hatten.
Die Frage war: Warum sollen meine Daten an die USA
weitergegeben werden? Das ist aber nur unsere Sicht-
weise.
Herr Burgbacher, versetzen Sie sich einmal in die
Lage der US-Amerikaner und beziehen Sie deren kultu-
rellen Hintergrund und deren Befürchtungen ein: Sie
werden feststellen, dass das Verhandlungsergebnis – auch
wenn es nicht mein und sicherlich auch nicht Ihr Wunsch-
ergebnis ist – der Kompromiss von autarken Staaten und
Staatengemeinschaften ist. Inhaltlich finden sich darin
unsere Grundzüge von Sicherheitsphilosophie und Da-
tenschutzrecht wieder. Es ist nicht mein Wunschergeb-
nis, aber es ist ein realistisches Ergebnis, das aus meiner
Sicht den Datenschutz angemessen einbezieht.
Ich wünsche und hoffe, dass sich in Zukunft die EU
und das Heimatschutzministerium der USA in Konflikt-
fällen zusammensetzen, so wie es vorgesehen ist, um im
beiderseitigen Einverständnis zu besseren Lösungen zu
kommen. Der Weg dafür ist vorgezeichnet. Es wird ein
internationales Abkommen geben. Wir müssen darauf
hinarbeiten, dass wir mit diesem internationalen Abkom-
men weiterkommen, und dabei unsere Interessen und
unsere Datenschutz- und Sicherheitsphilosophie vertre-
ten.
Ihr Antrag hat bei uns durchaus zu mehr Sensibilität
geführt, aber wir können mit dem Ergebnis der EU-
Kommission durchaus gut leben – genauso wie die Flug-
gesellschaften und die Passagiere damit leben können –,
weil es Rechtssicherheit gibt. Was die internationalen
Standards betrifft, werden wir in Zukunft mitarbeiten
und aufpassen, dass sich unsere Sicherheitsphilosophien
darin wiederfinden.
Herzlichen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ernst
Burgbacher, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Lieber Kollege Hofmann, ich möchte mich bei Ih-nen ausdrücklich für die nachdenklichen Worte bedan-ken. Frau Kollegin Philipp hat vorhin gesagt, es handelesich um einen Abwägungsprozess. Es ist wirklich einAbwägungsprozess. Wir alle haben das Interesse, Terro-rismus zu bekämpfen. Darin sind wir uns alle in diesemHause einig. Aber wir von der FDP wehren uns dagegen,dass unter dem Deckmantel der TerrorismusbekämpfungDatenschutz und Persönlichkeitsrechte geschleift wer-den. Das werden wir nicht mitmachen.
Liebe Kollegin Philipp, Sie haben sich stets daraufbezogen, was für die Zukunft geplant ist. Wir halten unsan das, was im Augenblick vereinbart ist. Mit dieser Lö-sung können wir nicht leben, um das klar zu sagen, so-wohl aus inhaltlichen als auch formalen Gründen.Die EU-Kommission hat gegen den Widerstand desEuropäischen Parlaments diese Angemessenheitsent-scheidung in Verbindung mit dem „light agreement“ ge-troffen. Wir wollen den Abschluss eines internationa-len Übereinkommens mit klar festgelegtenGrundsätzen, das auf Gegenseitigkeit beruht. Was in dieeine Richtung gilt, muss in die andere Richtung genausogelten.
Sie wissen doch ganz genau, dass es Vorbehalte vonallen Seiten gab. Die EU-Kommission selbst hat im Juni2002 Vorbehalte geäußert. Auf eine Kleine Anfrage mei-ner Fraktion hat die Bundesregierung im Januar geant-wortet – ich zitiere –:Im Hinblick auf den Datenschutz schließt sich dieBundesregierung der Bewertung durch die Europäi-sche Kommission an. Die Europäische Kommis-sion hat im Juni 2002 zum Online-Zugriff auf PNR-Daten festgestellt, dass die entsprechende Ver-pflichtung der Fluggesellschaften mit den infolgeder EG-Datenschutzrichtlinie 96/46/EG erlassenenDatenschutzgesetzen der EU-Mitgliedstaaten inWiderspruch stehen kann.
Das war ein Stand, den wir nachvollziehen können.Dann ging alles ganz schnell. Der deutsche Innenminis-ter hatte nichts anderes zu tun, als ohne Befragung desParlaments und gegen den Widerstand der eigenen Koa-lition nach Brüssel zu gehen und zu sagen: Wir tragen al-les mit. – Das kann nicht unsere Politik sein.
Sie wissen, dass das Europäische Parlament den Ge-richtshof angerufen hat und diese Entscheidung auch be-stätigt wurde. Meine Damen und Herren von den Grü-nen, der Tiefpunkt des Ganzen war aber, dass dann dergrüne Außenminister am 17. Mai den Beschluss der EU-Außenminister mitgetragen und damit Tatsachen ge-schaffen hat. Damit müssen Sie sich schon auseinandersetzen.
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Ernst BurgbacherSelbstverständlich unterstützen wir, dass Daten abge-glichen werden. Wir fordern aber, dass der Grundsatzder Zweckbindung und der Grundsatz der Verhältnis-mäßigkeit beachtet werden. Deshalb, Frau KolleginPhilipp, bringen wir unsere eigenen Ansprüche ein. Ichwar in den USA. Wir haben eine Woche lang Gesprächemit Vertretern der Homeland Security geführt. Dortkannte gar niemand die Datenschutzbeauftragten, die esoffensichtlich gibt. Wir müssen uns doch mit den Reali-täten vertraut machen und nicht immer sagen: Vielleichtso, vielleicht anders.
Wir sind zu jedem konstruktiven Dialog bereit, aberwir werden immer darauf achten, dass auch bei der Ter-rorismusbekämpfung Persönlichkeitsrechte und Daten-schutz gewahrt werden. Das entspricht übrigens derMeinung des neu gewählten Datenschutzbeauftragten,Herrn Schaar, der genau dies im Innenausschuss geäu-ßert hat.Lassen Sie mich noch einen anderen Punkt anspre-chen. Frau Stokar hat schon in der Beratung im Aus-schuss zum Ausdruck gebracht, dass ihre Fraktion diePosition der FDP unterstützt. Aber nachher werden Siegegen unseren Antrag stimmen. Eine solche Politik kannman nicht mittragen.
Sie lehnen unseren Antrag ab, Ihr SpitzenkandidatCohn-Bendit stimmt im Europäischen Parlament wiederanders. Das ist Schizophrenie! Ich hoffe nur, dass derWähler erkennt, dass eine solche Partei schlichtwegnicht wählbar ist, und dem am 13. Juni Rechnung trägt.
Die Wähler haben nichts davon, dass Ankündigungengemacht werden. Sie haben nur dann etwas davon, wenndiese auch umgesetzt werden.Beim Zuwanderungsgesetz machen Sie derzeit exaktdasselbe.
Die nächste Kostprobe werden wir morgen früh in die-sem Hohen Hause erleben: Wir haben einen Gesetzent-wurf eingebracht, mit dem wir einen Volksentscheid zureuropäischen Verfassung – eine Forderung, die die Grü-nen immer wieder erhoben haben – anmahnen. Das bera-ten wir morgen erneut und Sie werden den Gesetzent-wurf wieder ablehnen.Die Materie ist aber viel zu ernst, um ein Spiel damitzu treiben, wie es die Grünen tun. Ich bin sicher, Siewerden von den Wählern dafür die Quittung bekommen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses auf Drucksache 15/3120 zu dem Antrag der
FDP mit dem Titel „Passagierdatensammlungen und
Datenschutzrechte – EU-Abkommen mit den Vereinig-
ten Staaten von Amerika“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 15/2761 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der
CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP und der Abge-
ordneten der PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
– Drucksache 15/3174 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Florian Pronold, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich begrüße den von der Bundesregierung er-arbeiteten Gesetzentwurf zur Verbesserung des Anleger-schutzes.
Wir schaffen es damit, das Vertrauen in die Märkte wie-der zu stärken und den Missbrauch zu bekämpfen.
– Ja, wir unterstützen ihn, keine Sorge. Ich nehme an,Sie tun das auch.
– Das ist schön.Ich möchte insbesondere darauf hinweisen, dass wirmit dem Gesetzentwurf eine Prospektpflicht für den sogenannten grauen Kapitalmarkt einführen, der in derVergangenheit dadurch aufgefallen ist, dass es einen er-heblichen Missbrauch gegeben hat, dass sehr hohe Scha-densummen entstanden sind und dass viele Anleger To-talverluste erlitten haben. Schätzungen zufolge sind inden vergangenen Jahren zwischen 1 Milliarde und30 Milliarden Euro vernichtet worden.
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Florian PronoldDer graue Markt ist bisher nicht reguliert worden. Mitder Prospektpflicht, die mit dem Gesetzentwurf einge-führt wird, werden dem Anleger mehr Informationen zurVerfügung gestellt. Dadurch können bessere Anlageent-scheidungen getroffen werden. Insgesamt wird die Be-weislage für den Anleger im Falle von Schadenersatz-prozessen verbessert. Neu ist auch die Erfassung vonTreuhandvermögen und Unternehmensbeteiligungen– einschließlich Immobilienfonds – durch die Prospekt-pflicht.Die Anlageformen auf dem grauen Kapitalmarkt sindnicht per se illegal. Es werden viele sinnvolle Vorhabenfinanziert, zum Beispiel in den Bereichen Umweltschutzund Windkraft, und auch für die Kapitalbeschaffungkleinerer und mittlerer Unternehmen spielt dieser Markteine Rolle.Aber leider gibt es auch viele unseriöse Anbieter.Deshalb hoffe ich – auch aus eigener Erfahrung mit derCSU – auf die Zustimmung der CSU zu dem Gesetzent-wurf. Denn wie wir kürzlich den Medien entnommen ha-ben, hat die bayerische Kultusministerin MonikaHohlmeier im Zusammenhang mit der WABAG-Affäre
auf dem grauen Kapitalmarkt selber einen Schaden inHöhe von 27 000 Euro erlitten. Dieser Verlust ist ihr sin-nigerweise unter Beihilfe ihres Bruders, Max Strauß,entstanden.
Es ist wichtig, solche Formen von Anlagebetrug an die-ser Stelle gemeinsam zu bekämpfen. Ich muss allerdingseinräumen, dass selbst unser Gesetz nicht vollständigvor solchen Formen des Anlagebetrugs schützen kann,durch den Tausende von Anlegern um rund150 Millionen Euro geprellt worden sind.Gleichwohl stellt unser Gesetzentwurf einen gerech-ten Interessenausgleich zwischen den Anlegern und denAnbietern von Produkten auf dem grauen Markt dar. Diegeplante Genehmigungsfrist von 20 Tagen, die für An-bieter gilt, bevor sie ihren Prospekt auf den Markt brin-gen können, ist angemessen, weil es sich im Regelfallum langfristige Anlageentscheidungen handelt. Die imGesetzentwurf enthaltenen Regelungen stellen auchkeine Belastung für diejenigen Anbieter dar, die keineschwarzen Schafe sind. Damit mich die Frau Präsidentinnicht rügt, füge ich hinzu, dass ich mit schwarzen Scha-fen natürlich nicht den ehemaligen CSU-Ortsvorsitzen-den Max Strauß gemeint habe.Zudem sind bestimmte Anlageformen, für die bereitsein hinreichender Schutz besteht, generell von der Pros-pektpflicht ausgenommen. Dazu gehören Versicherungs-und Genossenschaftsprodukte sowie Produkte von Kre-ditinstituten, die der Aufsicht nach dem Kreditwesenge-setz unterliegen. Des Weiteren sind alle Produkte, dieunter eine Bagatellgrenze fallen, und Angebote ausge-nommen, die nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmtsind.Mit unserem Gesetzentwurf setzen wir die EU-Markt-missbrauchsrichtlinie, die der Bekämpfung von Insi-derhandel und Marktmissbrauch dient, in nationalesRecht um. Hervorzuheben ist, dass Personen, die beruf-lich für Dritte Finanzanalysen erstellen, zukünftig Inte-ressenkonflikte offen legen müssen. Der Gesetzentwurflässt im Falle von Journalisten, die im Bereich desFinanzmarktes tätig sind, Spielraum für eine entspre-chende Selbstregulierung. Wir wissen anhand von vielenBeispielen aus der Vergangenheit, dass gerade Journalis-tinnen und Journalisten durch MarktmanipulationenSchindluder getrieben haben, mit entsprechenden Emp-fehlungen Geschäfte gemacht und Gewinne selbst einge-sackt haben. Bisher war in Europa nur der Insiderhandelverboten. Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie, dieauch Kursmanipulationen sanktioniert, wird eine ein-heitliche, europaweite Regelung geschaffen. Die Bun-desregierung hat hier durch das Vierte Finanzmarktför-derungsgesetz bereits wertvolle Vorarbeiten geleistet.Die Marktmissbrauchsrichtlinie ist bis zum 12. Oktober2004 in nationales Recht umzusetzen. Das werden wirauch machen. Damit werden wir gleichzeitig drei wei-tere Richtlinien und eine Verordnung umsetzen.
Unser Gesetzentwurf ist gut und findet breite Zustim-mung bei vielen Verbänden. Deswegen appelliere ich anSie: Tun Sie mit uns gemeinsam etwas dafür, um dieschwarzen Schafe zu bekämpfen, die grauen Märkte tro-ckenzulegen und die weißen Westen zu stärken.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Stefan Müller, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Da nur noch eine sehr überschaubare Anzahl von Kolle-ginnen und Kollegen anwesend ist, kann man ruhig aucheinmal über schwarze Schafe philosophieren, wenn-gleich ich unterstelle, dass das Gesetz nicht speziell füreinzelne Personen aus dem Freistaat Bayern gemachtworden ist.In der Tat – hierin bin ich mit dem Kollegen Pronoldausnahmsweise einig – gibt es noch immer Anlagebetrü-ger, die jedes Jahr einen enormen wirtschaftlichen Scha-den anrichten. Wenn man sich anschaut, welchen Scha-den so genannte schwarze Schafe oder windigeGeschäftemacher in den letzten Jahren angerichtet ha-ben, dann stellt man fest, dass wir Handlungsbedarf ha-ben. Insofern begrüßen wir grundsätzlich jeden Ansatz,der dazu dient, den Anlegerschutz weiter zu verbessern.Auch meiner Fraktion ist es ein wesentliches Anliegen,hier tätig zu werden. Wir unterstützen jede Maßnahme,die geeignet ist, windigen Geschäftemachern das Hand-werk zu legen.
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Stefan Müller
Aber natürlich ist es unsere Aufgabe, klare und ver-lässliche Rahmenbedingungen zu setzen. Das gilt so-wohl für den Anleger- und Verbraucherschutz als auchfür die berechtigten Anliegen der Finanzwirtschaft. Un-ser gemeinsames Ziel muss es doch sein – wir haben imvergangenen Jahr das eine oder andere hier vorange-bracht –, die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes imAllgemeinen und die Wettbewerbsfähigkeit der Finanz-dienstleister im Besonderen zu stärken.Gut gemeinter Anlegerschutz darf in der letztenKonsequenz aber nicht dazu führen, dass sinnvolle Kapi-talmarktgeschäfte verhindert werden. Ich meine damitinsbesondere Kapitalmarktgeschäfte, die im europäi-schen Ausland völlig selbstverständlich getätigt werdenkönnen, bei uns aber nicht möglich sind.
Andernfalls werden deutsche Kapitalanleger gezwun-gen, ihr Geld legal ins Ausland zu transferieren und dortanzulegen, und Finanzdienstleistungsunternehmen ausDeutschland werden gezwungen, im Ausland entspre-chende Produkte aufzulegen. Das kann nicht im Sinnedeutscher Finanzmarktpolitik sein.
Wir müssen also bei jeder Reform des Anlegerschut-zes noch stärker als bisher mit Augenmaß vorgehen. Wirmüssen vor allem das Leitbild des mündigen Anlegerswalten lassen, der durchaus imstande ist, selbst zu ent-scheiden, was für ihn gut und richtig ist.
Insofern ist natürlich zu berücksichtigen, welcher Nut-zen einerseits und welche Kosten andererseits durchneue gesetzliche Regelungen entstehen.Übermäßige administrative Auflagen müssen insge-samt vermieden werden und jede neue Regelung mussauf ihre Sinnhaftigkeit hin überprüft werden. Wir müs-sen dabei schon berücksichtigen, dass es gerade dieFinanzdienstleistungsbranche in Deutschland ist, die wiekeine andere Branche reglementiert und reguliert wird.Allein die deutsche Kreditwirtschaft muss jedes Jahr nurfür die Erfüllung von Kontroll- und Meldevorschriften1 Milliarde Euro ausgeben. Diese Zahl haben wir schondes Öfteren gehört, auch im vergangenen Jahr, als wirüber die Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschlandgesprochen haben.Wir dürfen bei alledem nicht vergessen, dass es letzt-lich die Verbraucher und die Anleger sind, die dieseKosten tragen müssen; insofern haben wir durchaus un-ser Augenmerk darauf zu richten.
Übermäßige Haftungsregeln schaden der Wettbe-werbs- und Leistungsfähigkeit des Finanzplatzes ge-nauso wie ein zu oberflächliches Haftungsregime. Dasgilt selbstverständlich sowohl für die Wirtschaft als auchfür die Anleger. Das heißt, wir brauchen einen leistungs-fähigen Finanzplatz, damit Anlegern und Verbraucherngute und attraktive Anlagemöglichkeiten überhaupt an-geboten werden können.Mit dem nunmehr vorliegenden Gesetzentwurf wirdunter anderem die EU-Marktmissbrauchsrichtlinieumgesetzt. Ich möchte im Zusammenhang mit der Um-setzung dieser EU-Richtlinie eines deutlich festhalten:Ich halte es schon für wichtig, dass es bei der Umsetzungvon Rechtsetzungsakten der EU nicht zu strengeren Re-geln als in den anderen europäischen Ländern kommt,weil Regeln, die im Inland schärfer als im europäischenAusland sind, der Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplat-zes Deutschland selbstverständlich Schaden zufügen.Schaut man sich diesen Gesetzentwurf an, hat manden Eindruck, dass das Prinzip, dass in Deutschlandkeine schärferen Regeln gelten sollen und dass die natio-nale Umsetzung von EU-Richtlinien nicht mit zusätzli-chen Regelungen befrachtet werden soll, an der einenoder anderen Stelle nicht eingehalten worden ist. AlsBeispiel möchte ich die weit reichenden Kompetenz-erweiterungen der Bundesanstalt für Finanzdienstleis-tungsaufsicht nennen. Die Eingriffs- und Auskunftsbe-fugnisse der BaFin werden insgesamt deutlich erweitert,ohne dass das in der EU-Marktmissbrauchsrichtlinieausdrücklich so gefordert worden wäre. Das gilt insbe-sondere für den neuen § 4 des Wertpapierhandelsgeset-zes. In der Begründung des Gesetzentwurfs ist von einerGeneralbefugnisnorm die Rede. Man könnte bei genaue-rem Hinsehen auch den Eindruck gewinnen, dass es sichdabei um eine Art „Die-BaFin-darf-alles-Vorschrift“handelt.
Ähnliches gilt im Übrigen im Hinblick auf die Viel-zahl von Ermächtigungsgrundlagen für Rechtsverord-nungen. Auch da wird die Möglichkeit, Rechtsverord-nungen umzusetzen, vom Bundesfinanzministeriumdirekt an die BaFin delegiert. Das erscheint vor demHintergrund europäischer Vorgaben vielleicht dann sinn-voll, wenn eine zeitnahe Umsetzung erfolgen muss. Wasaber nicht passieren darf, ist, dass die BaFin über dieUmsetzung von EU-Richtlinien hinaus die Möglichkeitbekommt, diese Rechtsverordnungen einseitig auf denWeg zu bringen.
Über diese Themen müssen wir im weiteren gesetz-geberischen Verfahren reden. Insgesamt darf sich dieBaFin eben nicht nur als Regulierer und als Aufseherverstehen; vielmehr muss sie sich auch als Partner derFinanzdienstleister verstehen.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion – das möchte ichnoch einmal betonen – setzt sich auch weiterhin für eineVerbesserung des Anlegerschutzes und eine Fortent-wicklung des Finanzplatzes ein. In diesem Sinne, HerrKollege Pronold, werden wir uns an der Beratung diesesGesetzentwurfs selbstverständlich konstruktiv beteili-gen.
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Das Wort hat der Kollege Hubert Ulrich, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wie eben bereits gesagt wurde, reden wir heuteüber das Anlegerschutzverbesserungsgesetz. Dieses Ge-setz dient der sinnvollen Weiterentwicklung der Funktio-nalität des Finanzplatzes Deutschland. An dieser Stellewill ich die Gelegenheit ergreifen, noch einmal auf dieBedeutung des Finanzplatzes Deutschland hinzuwei-sen, weil das in diesen Zusammenhängen immer einbisschen aus dem Blickwinkel gerät.Dabei muss man sich zwei wesentliche Eckwerte vorAugen führen. Man muss sich klar machen, dass die Fi-nanzbranche in Deutschland rund 1,5 Millionen Arbeits-plätze zur Verfügung stellt – im Vergleich beispielsweisezu 1 Million Arbeitsplätzen in der auch sehr wichtigenAutomobilindustrie. Die Wertschöpfung der Finanz-branche, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, beträgtrund 4,6 Prozent – im Vergleich zu 3 Prozent in der Au-tomobilindustrie. Das macht deutlich: Die positive Ent-wicklung des Finanzplatzes Deutschland ist ein bedeu-tender Baustein zur Stärkung der bundesdeutschenWirtschaft.Natürlich bedeutet ein gesunder Finanzplatz Deutsch-land – darüber muss man reden – auch eine gute Kapi-talausstattung unserer Unternehmen. Die Diskussionüber die zu geringe Eigenkapitalausstattung insbeson-dere unserer bundesdeutschen kleinen und mittleren Un-ternehmen ist bekannt. Gerade vor dem Hintergrund derZurückhaltung der deutschen Banken bei der Vergabevon Krediten an diese Unternehmen, und zwar eher derPrivatbanken als der Sparkassen und Genossenschafts-banken, gewinnt der freie Kapitalmarkt in Deutschlandimmer größere Bedeutung. Ein gut funktionierenderKapitalmarkt bedeutet ein Mehr an Wirtschaftskraft, einMehr an Arbeitsplätzen, automatisch dann auch einMehr an Wohlstand.Das Anlegerschutzverbesserungsgesetz ist praktischeine Weiterentwicklung des von der rot-grünen Bundes-regierung auf den Weg gebrachten Vierten Finanzmarkt-förderungsgesetzes. Dieses Vierte Finanzmarktförde-rungsgesetz – das sollte die Opposition einmal zurKenntnis nehmen; auch das wird von Ihnen immer gernbeiseite gewischt – war einer der wirklich großen Er-folge der rot-grünen Bundesregierung, was von allenSeiten, insbesondere auch von der Fachwelt, anerkanntwurde.
Das heute zur Debatte stehende Anlegerschutzverbes-serungsgesetz ist auch ein bedeutender Teil des imFebruar 2003 vorgestellten Zehnpunkteprogramms derBundesregierung zur Verbesserung der Unternehmensin-tegrität und zur Stärkung des Anlegerschutzes. Zu einemfunktionierenden Finanzplatz gehört natürlich ein gutesInstrumentarium zu dessen Kontrolle.Was hier zur Debatte steht, ist im Wesentlichen eineUmsetzung der eben bereits erwähnten Marktmiss-brauchsrichtlinie der Europäischen Union. Ein wichtigerPunkt ist der Insiderhandel. Man muss sich klar ma-chen: Die Insiderhandelstraftatbestände werden in Zu-kunft so verschärft, dass bereits der Versuch des Insider-handels strafbar ist. Vor allem nimmt der Gesetzgeberdas Umfeld eines Unternehmens ebenfalls mit in denBlick, um auch dort die Dinge ans Tageslicht zu bringen.Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Marktmanipula-tion. Bisher muss den entsprechenden Leuten der Ver-such der Marktmanipulation nachgewiesen werden. InZukunft soll bereits die reine Tatsache genügen, dass derMarkt manipuliert war, um strafrechtliche Ermittlungengegen den entsprechenden Personenkreis einleiten zukönnen.Die Offenlegungspflichten werden auf alle die Per-sonenkreise ausgeweitet, die beruflich Finanzanalysenerstellen oder weitergeben; hiervon sind auch Journalis-ten betroffen.Die Prospektpflicht wird auf die Produkte des sogenannten grauen Kapitalmarktes erweitert. DieseProspekte werden – das ist auch eine Neuerung – von derBaFin geprüft.In Zukunft wird die BaFin auch die Prospekte des all-gemeinen Kapitalmarktes prüfen. Hierfür sind die Jahre2008 bis 2013 ins Auge gefasst.
Heute kontrolliert hier noch die Deutsche Börse. Wichtigfür diese Prüfungen – das wurde eben bereits angespro-chen – ist die Prüfdauer. Im Gesetzentwurf steht zurzeit,dass der BaFin ein konkreter Prüfungszeitraum von un-gefähr 20 Tagen vorgegeben werden soll; diese Frist istaber fließend. Das bedeutet allerdings für die Emittentenkeine Rechtssicherheit. Bei anderen Wertpapieren liegtheute die Genehmigungsfiktion bei zehn Tagen. Geneh-migungsfiktion bedeutet in diesem Zusammenhang, dassdas Produkt, wenn nach zehn Tagen keine Ablehnung er-folgt ist, als genehmigt gilt. Über die Aufnahme einersolchen Zehntagefrist in den Gesetzentwurf für Pros-pekte des grauen Kapitalmarkts sollte man meiner Mei-nung nach nachdenken.
Alle diese Dinge – diesen Punkt möchte ich abschlie-ßend noch einmal ansprechen – brauchen natürlich aucheine Kontrolle durch die entsprechenden Staatsanwalt-schaften.
Es ist ein großes Defizit, dass es immer noch nicht ge-lungen ist, eine zentrale Schwerpunktstaatsanwalt-schaft in der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen.Hier sind insbesondere die unionsgeführten Länder inder Pflicht, weil sie bis heute verhindert haben, dass einesolche zentrale Schwerpunktstaatsanwaltschaft geschaf-
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Hubert Ulrichfen wird. Ich appelliere noch einmal an Sie, darüberernsthaft nachzudenken. Die Skandale der Vergangen-heit auch in Deutschland – ich erinnere an Flow-Tex,Comroad und EM-TV – geben genug Anlass, über einesolche Institution nachzudenken.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Mein Schlusssatz: Der Gesetzentwurf stellt insgesamt
einen gelungenen Kompromiss zwischen den Forderun-
gen nach Freiheit des Marktes und dem dringend gebote-
nen Schutz der Anleger vor Marktmissbrauch dar.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDP-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf des Anle-gerschutzverbesserungsgesetzes versucht die Bundesre-gierung einen Spagat zwischen Anlegerschutz und Über-regulierung. Der Schwerpunkt des Gesetzentwurfes liegtin der Umsetzung der europäischen Marktmissbrauchs-richtlinie, die bis Oktober umgesetzt werden muss. Beider Umsetzung zeigt sich jedoch wieder der Hang vonRot-Grün, die deutschen Bürger zu bevormunden, dennder Gesetzentwurf geht deutlich über die Vorgaben derMarktmissbrauchsrichtlinie hinaus.
Das Gesetz enthält im Grundsatz gute Ideen. Der Ver-such, das gebeutelte Anlegervertrauen zu stärken, istrichtig. Die Anleger haben den Kurssturz an den Aktien-märkten nach dem Platzen der New-Economy-Blase im-mer noch nicht verdaut. Außerdem haben Bilanzmanipu-lationen von Unternehmen wie Enron, Worldcom in denUSA, aber auch Unternehmen des Neuen Marktes wieComroad und Flow-Tex Spuren im Vertrauen der Anle-ger hinterlassen. Die FDP begrüßt und unterstützt alleVersuche, dieses verloren gegangene Vertrauen wiederzu stärken.Ein besseres Insiderrecht ist notwendig, um Insider-geschäfte an den Kapitalmärkten einzudämmen und sodie Anleger zu schützen. Es kann nicht sein, dass sichUnternehmensführer auf Kosten von Kleinanlegern dieTaschen füllen. Allerdings schießt der Gesetzentwurf derBundesregierung hier über das Ziel der Marktmiss-brauchsrichtlinie hinaus.
Er sieht eine flächendeckende Sanktionierung des uner-laubten Umgangs mit Insiderinformationen vor, obwohldieses von der Richtlinie nicht gefordert wird. So soll eszum Beispiel in Zukunft auf die Eignung der Informa-tion zu erheblicher Kursbeeinflussung überhaupt nichtmehr ankommen, sondern es soll genügen, dass ein ver-ständiger Anleger die Information bei seiner Anlageent-scheidung berücksichtigen würde.Auch bei der Überwachung und Verfolgung vonVerstößen geht der Gesetzentwurf deutlich über dieVorgaben hinaus. So sollen Wertpapierdienstleistungs-unternehmen und Kreditinstitute zur Anzeige von Ver-dachtsfällen an die BaFin verpflichtet werden. Die Ba-Fin wiederum soll zur Strafanzeige bei derStaatsanwaltschaft verpflichtet werden. So entwickeltsich die BaFin aber zu einer Art Strafverfolgungsbe-hörde. Da sie aber schon jetzt überlastet ist, ist zu be-fürchten, dass damit zusätzliche Probleme entstehen undauch das Vertrauen der beaufsichtigten Institute in denUmgang mit ihr nicht unbedingt gestärkt wird.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ne-ben einer Verschärfung des Insiderrechtes ist im Gesetz-entwurf die Einführung einer Prospektpflicht für nichtin Wertpapieren verbriefte Unternehmensbeteiligungenvorgesehen. Das ist ein Schwerpunkt des so genanntengrauen Kapitalmarktes, der damit schärfer reguliert wer-den soll. Nach der Statistik des Finanzministeriums hates am grauen Kapitalmarkt allein im Jahr 2002 über15 000 Betrugsfälle gegeben. Laut Kriminalstatistik sol-len allein durch Anlagebetrug Schäden in Höhe von über220 Millionen Euro entstanden sein; die Dunkelzifferdürfte höher liegen.Aber gerade Kleinanleger sind die Dummen. Ihr Ver-trauen muss wieder gewonnen werden. Die Schritte, diedazu unternommen werden, begrüßen wir.
Deshalb begrüßen wir auch die Prospektpflicht für nichtin Wertpapieren verbriefte Unternehmensbeteiligungen.Herr Ulrich, Sie haben es angesprochen: In der Ver-gangenheit haben wir gerade im Bereich des Finanz-marktes Wert darauf gelegt, möglichst übereinstimmend,sachgerecht und ohne Parteipolitik zu Ergebnissen zukommen.
Wir setzen uns bei den Beratungen weiter dafür ein;denn es ist gut, dass ein so wichtiger Bereich nicht in dasparteipolitische Gezänk gerät, sondern so sachlich be-handelt wird, dass am Ende ein Kompromiss stehenkann, der von allen getragen wird und durch den Pro-bleme ausgeräumt werden können. Wir werden uns beiden Beratungen des Gesetzes in dieser Form verhaltenund freuen uns auf eine Zusammenarbeit.Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Simone Violka, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Unser europäischesHaus nimmt immer mehr Gestalt an. Das zeigt nicht nurdie erfolgte Aufnahme von zehn neuen Ländern in un-sere Gemeinschaft, sondern auch die Gesetzesharmoni-sierung auf vielen Gebieten.Heute beschäftigen wir uns mit einem Gesetzentwurf,der unter anderem die EU-Marktmissbrauchsrichtlinieauch in Deutschland umsetzt.
Damit wird der Finanzplatz Deutschland weiter ge-stärkt, was sich neben einem erhöhten Anlegerschutzauch auf Wachstum und Beschäftigung auswirkt. Dennwenn Anlegerinnen und Anleger sich sicher fühlen, dannsind sie vermehrt bereit, ihr Kapital wieder verstärkt inunsere Wirtschaft zu investieren. Leider werden sie auchhier bei uns durch internationale, aber ebenso durch nati-onale Missbrauchsvorfälle verunsichert. Daher ist esnotwendig, die Transparenz im Kapitalmarkt weiter zuerhöhen. Damit kann der Schutz vor unzulässigenMarktpraktiken weiter verbessert werden. Das hat natür-lich auch positive Auswirkungen auf unsere Marktinte-grität und Markteffizienz.Mit dem Anlegerschutzverbesserungsgesetz leistenwir unseren Beitrag zu einem europaweiten Standard zurBekämpfung von Insiderhandel und Marktmissbrauch.
– Ich habe kein Problem, darüber hinauszugehen, wennunsere Anlegerinnen und Anleger dadurch besser ge-schützt werden.
In einem enger zusammenrückenden Europa ist dasein unerlässlicher Faktor einer umfassenden Miss-brauchsbekämpfung und des Schutzes der Anlegerinnenund Anleger.Unerlässlich ist in diesem Zusammenhang die auch imGesetzentwurf aufgeführte Prospektpflicht für Produkteim so genannten grauen Kapitalmarkt in Verbindung miteiner entsprechenden Haftung. Viele Anlegerinnen undAnleger fühlen sich aufgrund der Entwicklung am Kapi-talmarkt in den letzten Jahren tief verunsichert.
Es ist selbstverständlich, dass Bürgerinnen und Bürger,die ihr Geld am Kapitalmarkt einsetzen, auch dem Ri-siko von negativen Kursentwicklungen ausgesetzt sind.Das ist den meisten auch durchaus bewusst. Aber natür-lich muss sich jeder, der sein Geld in diesen Kreislaufeinbringt, der Seriosität des Produktes sicher sein kön-nen. Es ist im Interesse der Anlegerinnen und Anleger,aber auch aller ehrlichen Anbieter im Markt, dass derMarktzugang für schwarze Schafe wesentlich verschärftund damit wesentlich schwerer wird.
Das erhöht auch die Funktionsfähigkeit des Kapital-marktes. Denn der so genannte graue Markt beinhaltetTeile des Kapitalmarktes, die nicht unter den Wertpa-pierbegriff fallen. Das sind zum Beispiel Unternehmer-beteiligungen, die nicht börsennotiert sind. Bisher gab esin diesem Bereich nur unzureichende verbindliche Rege-lungen und kaum Produkttransparenz. Daher war hierdie Gefahr finanzieller Schäden bis hin zum Totalverlustbesonders hoch. Herr Thiele und Herr Pronold haben be-reits ausführlich auf Fallzahlen und die Höhe der Ver-luste hingewiesen.Gerade für kleine und mittlere Unternehmen ist dieseForm der Kapitalbeschaffung besonders interessant.Daher ist es in beidseitigem Interesse, wenn hier Verbes-serungen geschaffen werden können. Ich bin mir sicher,dass eine wesentliche Verbesserung des Anlegerschutzesin diesem Bereich solide Unternehmen für Investorennoch attraktiver macht. Ich bin mir deshalb so sicher,weil ich selbst aus einem Unternehmen stamme, in demsich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Investorenund damit als Mitgesellschafter erfolgreich betätigen.Hätten wir 1996 hinsichtlich der Finanzierung nichtdiese Entscheidung getroffen, würde es die Union Werk-zeugmaschinen GmbH heute nicht mehr geben.
Natürlich war diese Entscheidung nicht ohne Risiko.Aber wenn man den nötigen Einblick in ein Unterneh-men hat und sicher sein kann, dass alle Zahlen in korrek-ter Weise vorliegen, kann man sein persönliches Risikobesser einschätzen und eine fundierte Entscheidung tref-fen. Ich denke, dass eine solche Kapitalbeschaffungdurchaus akzeptabel und unterstützenswert ist und dasssolide Unternehmen nicht durch Betrüger in ein schlech-tes Licht gerückt werden dürfen.
Das gelingt aber nur durch einen umfassendenSchutz, unter anderem durch eine Prospektpflicht, undeine wesentliche Verbesserung der rechtlichen Aufsicht.Ich kann nicht ganz nachvollziehen – dieser Punkt istschon angesprochen worden –, dass bemängelt wird, dieAufsicht sei zu intensiv; denn jeder Unternehmer in die-sem Land, der korrekt handelt, hat keine intensive Unter-suchung zu befürchten.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir EU-Vorgaben um. Wir reagieren aber auch in geeigneterWeise auf eine lange Reihe von Unternehmensskandalenim In- und Ausland. Wir müssen die Krise an den
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10145
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Simone ViolkaFinanzmärkten überwinden und die Rahmenbedingun-gen des Finanzplatzes Deutschland weiter verbessern.Davon profitieren alle Seiten.Ich freue mich, wenn auch vonseiten der Oppositiongesagt wird, dass wir gemeinsam dieses Ziel erreichenkönnen. Dass das möglich ist, haben wir in der letztenFinanzausschusssitzung gemerkt, als aus einem Ent-schließungsantrag von Rot-Grün plötzlich ein von allenFraktionen getragener Antrag zum Thema Girokontowurde.
Ich wünsche mir hier das gleiche Ergebnis wie bei die-sem Antrag.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Leo
Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Im Deutschen Bundestagherrscht in zwei Punkten weitgehende Einigkeit. Zum ei-nen stimmen wir darin überein, dass der FinanzplatzDeutschland gute und flexible Rahmenbedingungen be-nötigt, um seine volkswirtschaftlich wichtige Rolle erfül-len zu können. Zum anderen sind wir uns alle bewusst,dass die Integration der europäischen Finanzmärkteweiter voranschreiten muss, wenn wir die potenziellenVorteile der Wirtschafts- und Währungsunion voll nutzenwollen.
Vor diesem Hintergrund hat die CDU/CSU-Fraktionim Deutschen Bundestag von Anfang an die jüngstenInitiativen der Europäischen Kommission – Stichwort isthier der Aktionsplan Finanzdienstleistungen, abgekürztFSAP – unterstützt. Auch das Zehnpunkteprogramm derBundesregierung wurde und wird kritisch, aber sehrkonstruktiv von uns begleitet. Es ist damit vor allem derUnion zu verdanken, dass sich Deutschland zu einem at-traktiven Finanzplatz entwickelt hat und noch weiter ent-wickeln wird.
Damit diese Entwicklung anhält, müssen wir auchweiterhin genau die Details der von uns angestrebten ge-setzlichen Regelungen prüfen. Dies gilt auch dann, wennein Gesetzentwurf im Großen und Ganzen in die richtigeRichtung geht, wie dies beim Anlegerschutzverbesse-rungsgesetz ohne Zweifel der Fall ist.Zunächst zur Gesamtbetrachtung. Die Flexibilisierungder Zusammensetzung des Börsenrates ist uneinge-schränkt zu begrüßen. Die Änderungen im Wertpapier-handelsgesetz setzen weitgehend die Vorgaben der euro-päischen Marktmissbrauchsrichtlinie um. Zudem schafftdie Einbeziehung des so genannten grauen Kapitalmark-tes in die Regelungen des Verkaufsprospektgesetzes si-cherlich ein höheres Maß an Transparenz und damit mehrAnlegerschutz und Markteffizienz.Beim Einbezug des grauen Kapitalmarktes in dasVerkaufsprospektgesetz fällt vor allem die Regelung in§ 8 i Abs. 2 auf. Dieser räumt der Bundesanstalt für Fi-nanzdienstleistungsaufsicht, der BaFin, 20 Tage zur Prü-fung von Prospekten ein, die sich auf öffentlich angebo-tene, nicht in Wertpapieren verbriefte Anteile beziehen.Nach Ablauf von 20 Tagen gilt keine Genehmigungsfik-tion. Für Verkaufsprospekte, die sich auf Wertpapierebeziehen, gilt hingegen nach maximal zehn Tagen derProspekt als genehmigt, wenn sich die BaFin bis dahinnicht gegenteilig geäußert hat.Die in der Gesetzesbegründung gegebene Erklärung,dass Produkte des grauen Kapitalmarktes komplexerseien als andere, kann mit Blick auf die Vielzahl indivi-dueller Wertpapiere nicht überzeugen. Wir sollten In-vestmentformen jenseits der Wertpapiere nicht stigmati-sieren. Ein funktionsfähiger grauer Kapitalmarkt stelltheutzutage trotz der vielleicht etwas unglücklichen Be-zeichnung einen wichtigen Bestandteil eines guten Fi-nanzplatzes dar. Wir sollten hier seriöse Anbieter nichtschlechter behandeln als solche in anderen Finanzmarkt-segmenten.
Weiterhin sollte ein Bestandsschutz respektive eineÜbergangsfrist für Angebote gefunden werden, derenPlatzierung bereits läuft. Anderenfalls könnten Unter-brechungen im Vertrieb unnötigerweise ganze Fonds-konzepte gefährden.
Im Bereich des Wertpapierhandelsgesetzes sind vorallem folgende Kritikpunkte zu nennen – auf einigewurde schon hingewiesen –: Dies betrifft die Befugnisseder BaFin im geplanten § 4 Abs. 2 – Einschränkung vonHandelsaktivitäten im Einzelfall – und Abs. 3 des Wert-papierhandelsgesetzes, wonach vorgesehen ist, dass imGrunde genommen jedermann mitwirken soll, wenn dieBaFin etwas untersucht. Das müsste darauf beschränktwerden, dass nur dann eine Mitwirkung vorgesehenwird, wenn es der Funktionsfähigkeit des Marktes dient.Verordnungsermächtigungen der BaFin und des BMFsind auf Fälle einzugrenzen, die den fachlichen Level IIbeinhalten und nicht darüber hinausgehen, also auf Fälle,für die die Fachleute der Ministerialbürokratie der ein-zelnen europäischen Länder Normen entwickelt haben.Diese müssen so umgesetzt werden, dass sie den Vorga-ben der EU entsprechen und nicht darüber hinausgehen.
Sonst werden nämlich europäische Harmonisierungsbe-strebungen durch die nationale Gesetzgebung und Nor-mensetzung wiederum konterkariert. Das gilt auch füreinzelne Punkte des so genannten Insiderhandels, für In-siderinformationen. Dort gibt es schon bisher einen gro-ßen Chinese Wall zwischen dem Investmentbanking und
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Leo Dautzenbergden Anlagestrategen. Diese Bereiche sind ja schon ge-trennt. Wir sollten diese Situation nicht durch zusätzli-che Normen so erschweren, dass internationale Normendes europäischen Marktes konterkariert werden.
Weitere Einzelpunkte sollten noch geschliffen wer-den, insbesondere wenn es um die Definition von„Marktpraxis“ geht. Da muss die BaFin die Definitionenübernehmen, die sich auf dem Markt bewährt haben.Ich bin zuversichtlich, dass wir uns hinsichtlich dergenannten Punkte weitgehend einigen werden. Die Rah-menbedingungen am Finanzplatz Deutschland würdenso weiter verbessert. Die CDU/CSU-Fraktion wirdhierzu ihren Beitrag leisten.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 15/3174 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Gradistanac, Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard
Schewe-Gerigk, Volker Beck , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Kinder und Jugendliche wirksam vor sexuel-
ler Gewalt und Ausbeutung schützen
– Drucksache 15/3211 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. – Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Renate Gradistanac, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Jahr 2003stellte die Kriminalpolizei im Kreis Calw 68 Fälle sexu-eller Ausbeutung von Kindern fest. Im Landkreis Freu-denstadt waren davon 28 Kinder betroffen. Die Aufklä-rungsquote der Polizei liegt in beiden Landkreisen bei 80bzw. 90 Prozent. Allein in meiner ländlichen Region imSchwarzwald sind im vergangenen Jahr 96 Kinder Opfersexueller Gewalt geworden. Bundesweit – das ist immerwieder einmal thematisiert worden – sind circa20 000 Kinder davon betroffen. Wir wissen aber, dassdie Dunkelziffer ungleich höher ist.Wenn ich auf die letzten zehn Jahre zurückblicke, fälltmir auf, dass nur ganz selten sensibel mit diesem Themaumgegangen wurde. Entweder versucht man, es zu ver-harmlosen, oder es wird unangemessen und reißerischdarüber berichtet. Nicht selten ist die Berichterstattungauch nicht auf der Höhe der aktuellen Gesetzeslage.Der Aktionsplan der Bundesregierung zum Schutzvon Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt undAusbeutung ist beispielhaft,
weil er ressortübergreifend ist und ein nachhaltiges Ge-samtkonzept verfolgt. Er hat vier zentrale Ziele: denstrafrechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichenweiterzuentwickeln, den Opferschutz und die Präventionzu stärken, die internationale Strafverfolgung und dieZusammenarbeit sicherzustellen sowie die Vernetzungder Hilfs- und Beratungsangebote zu fördern.Durch den Aktionsplan, der erst am 29. Januar 2003verabschiedet wurde, wurde bis heute viel auf den Weggebracht:
Das Sexualstrafrecht wurde verschärft, Lücken wurdengeschlossen, vor allem, wenn es um die Bekämpfung se-xueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sowie ge-gen Menschen mit Behinderungen geht. In diesem Zu-sammenhang ist es mir besonders wichtig, daran zuerinnern, dass ein neuer Straftatbestand für Kinder-pornographie geschaffen wurde, durch den insbeson-dere geschlossene Tätergruppen im Bereich des Internetsverfolgt werden können.
Außerdem gilt – das ist leider nicht überall bekannt –:Wer sich kinderpornographische Schriften beschafft odersie besitzt, wird bestraft, und zwar stärker als in der Ver-gangenheit.Bei der jüngst verabschiedeten Opferrechtsreformwurden die Rechte der Opfer in wesentlichen Punktengestärkt. Das Ziel, Mehrfachvernehmungen zu vermei-den, ist weitgehend erreicht worden. Die Opfer werdenstärker am Verfahren beteiligt.Für mich als Politikerin ist es wichtig und selbstver-ständlich, dass die Täter angemessen bestraft werden.Mein und unser aller politisches Ziel ist es – dafür arbei-ten wir –, dass in Zukunft weniger Kinder Opfer sexuel-ler Gewalt werden.
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Renate Gradistanac
Das Kindeswohl hat dabei für mich und für uns alleoberste Priorität. Es bedarf noch enormer Anstrengun-gen im Bereich der Prävention. „Hinsehen. Handeln.Helfen!“ – mit diesem einprägsamen Motto hat das Bun-desfamilienministerium am 20. April dieses Jahres einePräventionskampagne gestartet. Ein Kampagnenbus ver-anstaltet 18 Aktionstage vor Ort. Bürgerinnen und Bür-ger können sich informieren. Die Beratungseinrichtun-gen haben die Möglichkeit, ihre Arbeit umfassenddarzustellen. Eingerichtet wurden außerdem eine Inter-netseite und ein Servicetelefon; eine Broschüre mit demTitel „Mutig fragen – besonnen handeln“ wurde aufge-legt.
Zum Handeln und zur Zivilcourage fordert auch dieInformationskampagne gegen die sexuelle Ausbeutungvon Kindern im Tourismus von Terre des Hommes auf,die ebenfalls vom Bundesministerium unterstützt wird.An dieser Stelle gratuliere ich ausdrücklich und ganzherzlich dem Kinderhilfswerk zu einer hohen Auszeich-nung für die beste „langfristige PR-Strategie“, die unteranderem den Inflightspot „Toys“, die Internetplattform„www.child-hood.com“ und den Spot „Words“ umfasst.Die Internetplattform wurde bisher von Menschen aus82 Ländern genutzt. Das ist doch ein schöner Erfolg.
Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir die SPD-geführte Bundesregierung bei der Umsetzung desAktionsplans unterstützen. Es gilt, diesen im Zusam-menhang mit allen Beteiligten stetig weiterzuentwi-ckeln. Meine Vorstellung, unsere Vorstellung – ichglaube, in diesem Hause sind wir uns diesbezüglich ei-nig – von einer kindgerechten Welt und von einer kin-derfreundlichen Gesellschaft beinhaltet, dass sich Kin-der und Jugendliche auf Erwachsene verlassen könnenmüssen. Sie sind darauf angewiesen, ihnen zu vertrauen.Zwei Drittel der sexuellen Gewalthandlungen gegenKinder werden im familiären Umfeld begangen. Einnicht unbeachtlicher Teil der Taten wird auch im Rah-men medizinisch-therapeutischer Abhängigkeitsver-hältnisse verübt oder durch Personen, die Kinder undJugendliche haupt- oder ehrenamtlich betreuen. Von po-tenziellen Sexualstraftätern ist bekannt, dass sie sichganz bewusst auch Arbeit in solchen Feldern suchen, dieihnen den Zugang zu Kindern und Jugendlichen ermög-lichen. Hier sind insbesondere alle Organisationen undInstitutionen gefordert, die für das Wohl der Kinder Ver-antwortung tragen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterbrauchen dringend Handlungsanleitungen und intensiveSchulungen, um sexuelle Ausbeutung überhaupt erken-nen zu können und um geeignete Ansprechpartner undAnsprechpartnerinnen zu sein.Anonym, vertraulich und kostenlos können Kinderund Jugendliche in Not bei bundesweit 95 Kinder- undJugendtelefonen anrufen. Diese werden und wurdenauch unglaublich oft genutzt: Mit 7 Millionen Anrufenim Jahr 2003 ist das Kinder- und Jugendtelefon zu einerder meistgenutzten Anlaufstellen junger Menschen ge-worden. Deshalb müssen diese Telefone – das ist eineForderung aus unserem Antrag – weiter ausgebaut undgefördert werden.
Wichtig ist uns in diesem Zusammenhang, dass dieBundesregierung bei den Ländern dafür eintritt, zusätzli-chen Fortbildungsbedarf bei der Polizei, aber auch ins-besondere im Bereich der Justiz zu prüfen. Gerade dieseBitte wird immer wieder an uns Abgeordnete herange-tragen.Außerdem müssen auch die 14- bis 18-Jährigen vorpornographischen Abbildungen strafrechtlich geschütztwerden. Das heißt, das Schutzalter muss heraufgesetztwerden. Ein solcher strafrechtlicher Schutz wird durchdie Ratifizierung des Fakultativprotokolls zu dem Über-einkommen über die Rechte des Kindes betreffend denVerkauf von Kindern, die Kinderprostitution und dieKinderpornographie erreicht. Die Bundesregierung be-reitet diese derzeit vor.Ganz besonderer Sorgfalt bedarf die Arbeit für die se-xuell ausgebeuteten Kinder im Grenzbereich vonDeutschland, Tschechien und Polen. Es geht hierbeium ein grenzübergreifendes Problem, das nur in Zusam-menarbeit zwischen den Ländern gelöst werden kann.Hierfür wurde eine trilaterale Arbeitsgruppe eingerich-tet. Die zusätzliche Aufnahme Österreichs halten wirfür sinnvoll und prüfenswert.Außerdem sehe ich – sehen wir – Aus- und Fortbil-dungsbedarf beim Auswärtigen Amt. Das Thema „sexu-elle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen“ musshier ein dauerhafter Bestandteil des Programms werden.Zusätzlich ist eine Handreichung für den Einsatz bei dendeutschen Auslandsvertretungen notwendig. Die The-matik der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Ju-gendlichen muss in die Lageberichte der Länder dauer-haft integriert werden.
– Danke für den Applaus. – Davon versprechen wir unseine größere Sensibilität für die Kinder in Not.In den Schattenberichten von ECPAT und Terre desFemmes zum CEDAW-Bericht der Bundesregierungwird kritisiert, dass es sich bei der sexuellen Ausbeutungvon Kindern durch Deutsche im Ausland bisher nicht umein Delikt aus dem Katalog der organisierten Krimi-nalität handelt. Somit stehen den Ermittlern keineerweiterten Ermittlungsbefugnisse, Sonderzuständigkei-ten und Zeuginnenschutzprogramme zur Verfügung. Wirfordern die Bundesregierung auf, eine Aufnahme in denKatalog der organisierten Kriminalität zu prüfen.
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Renate GradistanacUm die sexuelle Ausbeutung von Kindern im Touris-mus effektiver bekämpfen zu können – das passt dazu;deshalb füge ich es hinzu –, ist der Einsatz von weiterenVerbindungsbeamten in den Herkunftsländern zu prüfen.Auch hier geht die Bitte an die Bundesregierung, diesenPrüfauftrag zu unterstützen.
Wir – ich spreche hier auch als SPD-Tourismuspoliti-kerin – erwarten, dass sich die deutsche Tourismusbran-che an ihren Verhaltenskodex erinnert und ihn endlichSchritt für Schritt erkennbar umsetzt.So kann auch diese Branche ihrer Verantwortung ge-recht werden und dabei helfen, Kinder und Jugendlichevor sexueller Ausbeutung zu schützen. „Gemeinsam ak-tiv für eine gewaltfreie Zukunft der Kinder“, so steht esim Flyer „Kleine Seelen, große Gefahr...“. Wir hättenuns gewünscht, dass ihn viel mehr Menschen kennen ler-nen. Ich meine – damit schließe ich –: Angesichts derzunehmenden Unverfrorenheit der Täter setze ich – da-für bitte ich um Unterstützung – auch auf praktizierte Zi-vilcourage.
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Ich glaube, in der Zielsetzung des Antrags, deruns heute vorliegt, sind wir uns alle einig. WelchesThema kann für uns wichtiger sein als der Schutz unse-rer Kinder? Wer, wenn nicht wir, sollte sich für die Kin-der einsetzen, um dafür zu sorgen, dass ihr Schutz ver-bessert wird und sie wirklich geschützt werden?Ich persönlich – ich glaube, alle anderen auch – emp-finde es als unerträglich, dass heute noch – die Kolleginhat es gerade gesagt – fast 16 000 Kinder Opfer sexuel-len Missbrauchs werden. Die Dunkelziffer – auch darinsind wir uns einig – ist sehr viel höher. Das kann nichtsein und darf auch nicht sein, schon gar nicht, wenn wirsehen, dass die Fälle von schwerem sexuellen Miss-brauch sogar um fast 5 Prozent zugenommen haben. Dasmacht deutlich, dass das, was bisher getan wurde, nichtausreicht und wir eine ganze Menge mehr tun müssen.
Deshalb sage ich ganz deutlich: In der Zielsetzungsind wir uns einig. Auch wir wollen den strafrechtlichenSchutz von Kindern und Jugendlichen verbessern undweiterentwickeln, Prävention und Opferschutz stärken,die Hilfs- und Beratungsangebote vernetzen und – wasauch Sie als vierten Aspekt genannt haben – die interna-tionale Zusammenarbeit in diesem Bereich fördern.Aber in der Vorgehensweise sind wir unterschiedli-cher Meinung. Ich bin schon darüber erstaunt, diesenAntrag zum jetzigen Zeitpunkt auf dem Tisch zu haben,weil ich auch persönlich betroffen bin. Denn Sie erin-nern sich vielleicht, werte Frau Kollegin, dass ich bereitsim Jahre 2001 einen Antrag zu genau diesem Thema ein-gereicht habe. Die Forderungen, die Sie heute stellen,waren in diesem Antrag in ähnlicher Weise formuliert.Wenn ich mich recht erinnere – ich habe noch einmal insProtokoll gesehen –, haben Sie ihn seinerzeit abgelehnt,weil der Antrag in vielen Punkten überholt gewesen sei,
da Sie schon viel aufgearbeitet hätten,
und da die Regierungskoalition durch Ihre Anträgeschon in viel größerem Umfang tätig geworden sei.
Heute stehen – ich könnte es Ihnen an einigen Punk-ten aufzeigen – fast genau dieselben Forderungen wiederauf dem Papier. Man könnte fast meinen, wir hätten dreiwichtige Jahre zum Schutze unserer Kinder verpasst. Eswäre mir wichtig gewesen, wenn wir diese drei Jahreschon an der einen oder anderen Stelle genutzt hätten,um unsere Kinder zu schützen.
Auf einige Punkte Ihres Antrags möchte ich michkurz beziehen. Sie sagen, dass der Nationale Aktions-plan weiterentwickelt werden muss. Das haben wir be-reits 2001 gefordert.
– Lassen Sie mich doch ausreden. – Wir wollten ein ver-nünftiges Konzept, um ihn umzusetzen. Wir haben ge-sagt, dass wir dieses Thema angehen müssen. Nun sinddrei Jahre vergangen, in denen es gute, aber nicht ausrei-chende Entwicklungen gab. Das geben Sie ja selbst zu.Insofern müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass wiran diesem Punkt weiterarbeiten.Sie erwähnen in Ihrem Antrag den Wunsch nach ei-nem Ausbau der Kinder- und Jugendtelefone. Das istvollkommen richtig. Sie schreiben, dass es derzeit95 dieser Telefone gibt und dass es viel mehr werdenmüssen. Auch an dieser Stelle möchte ich nur daran erin-nern, dass es 1998 bereits 80 solcher Telefone gab. Von1998 bis jetzt sind also lediglich 15 Telefone hinzuge-kommen. Das ist zu wenig. Wir müssen gemeinsam da-für sorgen, dass es mehr werden. Das kann nicht sein.Sie loben und begrüßen, dass die Bundesregierungdas Informationszentrum zu Kindesmissbrauch undKindesvernachlässigung fördert und es an das Deut-sche Jugendinstitut angegliedert hat. Das finde ich toll.Sie loben dafür die Bundesregierung. Aber auch dieseLeistung wurde bereits im Januar 1998 erbracht. Inso-fern freuen wir uns, dass Sie auch die Leistung der altenBundesregierung in Ihrem neuen Antrag lobend erwäh-nen.
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Ingrid FischbachWir nehmen es zur Kenntnis und ich denke, das ist auchder richtige Weg: dass wir gemeinsam nach vorn gehen,und wenn gute Dinge geleistet worden sind, darf man sieauch beim Namen nennen.
Gut finde ich – das ist neu in Ihrem Antrag –, dass Sieauf die berufsethischen Standards hinweisen und auchhier einen Verhaltenskodex fordern; das ist neu und dasist richtig. Denn wir wissen, dass Menschen, die Kindermissbrauchen, sich gerade im Familienumfeld aufhaltenoder in Bereichen, wo sie Kontakt mit jungen Menschenhaben, ein entsprechendes Arbeitsfeld suchen. Hier aufeinen Verhaltenskodex hinzuwirken, berufsethischeStandards zu benennen finde ich sehr gut. Das ist begrü-ßenswert, das kann man nur unterstützen. An dieserStelle kann man auch sagen, dass das, was die deutscheTourismusbranche mit ihrem Verhaltenskodex auf denWeg gebracht hat, begrüßenswert und unterstützenswertist. Es ist wichtig, deutlich zu machen, was da eigentlichpassiert, und zu sensibilisieren; dahin müssen wir kom-men: dass es in die Köpfe geht. Wir unterstützen diesesAnliegen auf jeden Fall.Internationale Zusammenarbeit kann nur gestärktwerden; es ist nicht ein deutsches Problem. Wir müssennatürlich mit den Nachbarstaaten in Europa und weltweitdieses Thema angehen; insofern begrüßen wir auch, dassDeutschland im Juli den Vorsitz der Ostseeratskoopera-tion übernimmt. Wir werden in den Beratungen – wirbefinden uns ja jetzt in der ersten Lesung – natürlichwissen wollen: Welche Visionen haben Sie dafür, welcheKonzepte verfolgen Sie, welche Strategien will Deutsch-land unter seinem Vorsitz umsetzen und wo sollen wirhin?Was ich allerdings in Ihrem Antrag ein wenig ver-misse, ist eine stärkere Begleitung der Opfer, das heißtder Kinder, die Opfer geworden sind. Ich glaube nicht,dass es ausreicht, auf die Bundesländer einzuwirken,dass sie entsprechende Mittel zur Verfügung stellen, umdie Beratungsstellen aufrechtzuerhalten – im Sinne vonKonnexität müsste es eigentlich so sein, dass der BundMittel zur Verfügung stellt, um diese Projekte wirklichvor Ort weiterführen zu können, um den Opfern Hilfe zugeben.Ganz zum Schluss ein Satz – darauf geht meine Kolle-gin Noll gleich noch ein –: Sie haben deutlich gemacht,Kollegin Gradistanac, wie sich der Täterkreis zuneh-mend verändert. Wir kommen nicht umhin, konsequenterstrafrechtliche Schritte einzuleiten und zu gehen.
Was Sie machen, reicht nicht aus. Ich wünschte mirschon an der einen oder anderen Stelle eine konsequen-tere, präzisere Vorgehensweise, etwa wenn es um dienachträgliche Sicherungsverwahrung geht, –
Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?
Sie wollten zum Schluss kommen.
– um die Überwachung der Telekommunikation oder
die DNA-Analyse. Das ist der letzte Punkt: Ich wünschte
mir eine konsequentere Anwendungsweise. Sie haben
uns an Ihrer Seite, aber bitte nicht nur weich formulie-
ren, sondern auch Tacheles reden; dann sind wir dabei.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bekämpfung von sexueller Gewalt und Ausbeutung
ist eine Aufgabe, der wir uns kontinuierlich und mit gro-
ßem Engagement stellen müssen und auch stellen. Sexu-
elle Gewalt und Ausbeutung von Kindern und Jugendli-
chen sind brutal, sie sind monströs, nicht nur schlimm,
sondern ein Verbrechen. Aber – genau das ist die He-
rausforderung für uns Politiker – wir müssen es einfach
schaffen, an dieses Thema nicht nur emotional heranzu-
gehen, sondern vor allem rational und differenziert, um
unsere Ziele überhaupt effektiv erreichen zu können. Es
gibt kein einfaches Patentrezept zum Schutz der Kinder
und es gibt auch keine einfachen Lösungen zur Bekämp-
fung solcher Gewalt gegen Kinder. Auch die Antworten,
die wir darauf geben können, sind komplex; sie sind
nicht einfach: Es gibt ein ganzes Sammelsurium von
Handlungsansätzen und Instrumenten, die wir anwenden
müssen und die wir vor allem aufeinander abgestimmt
zum Einsatz bringen müssen.
Genau an diesem Punkt nimmt die rot-grüne Koali-
tion auch mit diesem Antrag heute diese Aufgabe wahr.
Unsere Kernbotschaft ist: Wir haben eine ganze Menge
dazu gemacht, wir sind gerade dabei, möglichst niedrig-
schwellig eine ganze Reihe von Maßnahmen in Gang zu
bringen, und werden es auch in Zukunft energisch ange-
hen.
Frau Fischbach, jetzt würde ich gerne zu Ihnen etwas
sagen. Was haben Sie in den drei Jahren gemacht? Wir
haben das Strafrecht verschärft. Wir haben es sehr hart
verschärft. Meine Kollegin Gradistanac ist schon darauf
eingegangen. Wir haben eine ganz deutliche Verschär-
fung, nur leider ohne Ihre Stimme. Wir haben zum Bei-
spiel auch noch im Jahre 2000 zum ersten Mal ein Ge-
setz in den Deutschen Bundestag eingebracht, das die
Rechte der Kinder als subjektive Rechte im Grundge-
setz verankert und in dem wir das Recht auf gewaltfreie
Erziehung eingeführt haben,
nur leider ohne Ihre Zustimmung. Dennoch möchte ich
jetzt genau auf dieses Beispiel eingehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der KolleginFischbach?
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Nur zu.
Liebe Kollegin Deligöz, ich weiß nicht, zum wie viel-
ten Male ich das jetzt wiederhole,
weil Sie immer eine verkürzte Sichtweise der Abstim-
mung wiedergeben. Ich frage Sie: Ist es Ihnen noch in
Erinnerung, dass Sie damals die Abstimmung zur ge-
waltfreien Erziehung verbunden haben mit Änderungen
im Unterhaltsrecht und dass wir hier im Bundestag nicht
über die einzelnen Punkte abstimmen konnten, sondern
nur über das Gesamtpaket? Wir haben also gar nicht im
Einzelnen über die gewaltfreie Erziehung abgestimmt,
sondern haben darüber in Kombination mit Unterhalts-
rechtsänderungen, bei denen wir erhebliche Bedenken
hatten, abgestimmt. Ist Ihnen das noch bekannt?
Frau Fischbach, ich freue mich richtig, dass Sie mirdiese Frage stellen. Ich war damals dabei und war eineder Hauptverhandlerinnen. Von daher kenne ich die Rei-henfolge der Ereignisse ganz genau. Ich bin damals fürmeine Fraktion durch alle Fraktionen gegangen, weil ichdie Meinung vertreten habe, dass es wichtig wäre, dasswir hier im Bundestag eine einstimmige Meinung zu die-sem Thema haben, weil es eine sehr hohe symbolischeBedeutung hat und weil das ein Signal nach außen gewe-sen wäre, das ich für sehr wichtig gehalten habe. An Ih-ren Rechtspolitikern – ich gebe zu, nicht an Ihnen per-sönlich – bin ich gescheitert: Sie wollten keinsubjektives Recht, sie wollten es nicht in diesem Para-graphen, sondern im allgemeinen Teil, möglichst unbe-stimmt und ohne Rechtskonsequenzen.
Das war der Punkt, an dem wir gesagt haben: Schnitt!Wir nehmen das, was wir machen, ernst – wenn wir esnicht ernst nehmen, dann machen wir es erst gar nicht.Deshalb ist dieses Gesetz dort, wo es jetzt steht, und esist sehr wirksam. Dazu komme ich noch.
Zweitens – ich bin noch nicht fertig – zum Hucke-packgesetz: Ja, es war noch eine Unterhaltsrechtsklauseldabei. Diese Klausel ist zu einem Zeitpunkt in das Ge-setz gekommen, zu dem wir bereits wussten, dass ein-deutig von Ihrer Fraktion beschieden worden ist, dassSie sowieso nicht mitmachen.
Diese Klausel zum Unterhaltsrecht besagte nichts ande-res, als dass ein Anspruch auf das gesamte Kindergeldbesteht, wenn Kinder bei einem Elternteil leben und derandere Elternteil keinen oder zu wenig Unterhalt zahlt.Wenn keine Unterhaltszahlungen erfolgen, soll das Kin-dergeld dorthin, wo die Kinder leben.
Wenn Sie dagegen sind, dann erklären Sie das einmalden Müttern, die alleine ihre Kinder erziehen. Genau da-gegen haben Sie gestimmt, gegen nichts anderes.
Jetzt bin ich am Ende meiner Antwort.Wir haben dieses Recht im Jahr 2000 vereinbart. Ichmöchte Ihnen sagen, warum es wichtig war, nicht nurdas Gesetz zu verändern, sondern auch eine Kampagnedazu durchzuführen. Unsere Kampagne hat dazu ge-führt, dass ein Paradigmenwechsel in diesem Land ein-geleitet wurde. 80 Prozent der Eltern in diesem Land be-scheinigen, dass sie darüber erfahren haben, underklären, dass sie in Zukunft von alleine darauf verzich-ten wollen, Gewalt in der Erziehung anzuwenden. Nocheine Zahl: Noch im Jahre 1992 war eine Ohrfeige völliglegitim, völlig normal. Heute sagen die meisten Eltern,nämlich 86 Prozent: Nein, darauf will ich verzichten.Lediglich 14 Prozent können das noch vertreten. ImJahre 1992 meinten 41 Prozent der Eltern, ein Kind mitdem Stock zu schlagen sei doch kein großes Problem,das sei ein Teil der Erziehung. Heute sind es nur noch5 Prozent. Das ist das Ergebnis unserer Kampagne, dieich als wirklich erfolgreich bezeichne.
Nichts anderes zählt; denn eines wissen wir: Gewalterzeugt Gewalt. Dagegen müssen wir uns auflehnen. Wirmüssen diesen Teufelskreis durchbrechen. Es geht umden Schutz unserer Kinder; es geht um unsere Kinderund um nichts anderes. Deshalb gibt es auch heute wie-der nicht nur eine Gesetzesänderung – diese haben wirhinter uns gebracht –, sondern auch einen Aktionsplan,eine Kampagne, um die Eltern, um die Kinder, um dieMenschen, um unsere Gesellschaft zu erreichen. Es gehtdabei um Prävention, um Intervention und natürlichauch um Aufklärung.Noch ein Punkt: die Verschärfung des Strafrechts.Ja, die Verschärfung ist an diesem Punkt berechtigt. Nur,mit Strafrecht alleine schrecken Sie keinen Täter ab;denn die Täter wissen alle schon, dass es verboten ist,und tun es trotzdem.Eine große Dunkelziffer der Täter kommt aus demNahbereich des Kindes. Es sind die Familienmitglieder– Tanten und Onkel – und die Nachbarn. Sie wissen,dass das verboten ist, es schreckt sie aber nicht ab. Ge-rade deshalb ist es wichtig, möglichst niedrigschwelligAngebote zu machen, die Eltern zu ermutigen und dieOffenheit zu wecken, zu diesem Telefon zu greifen. Esreicht nicht aus, dass diese Telefone existieren. Es mussauch die Aufmunterung geben, sie zu benutzen.
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Ekin Deligöz
Es geht darum, national und international zu handelnund nicht nur darüber zu reden.Es geht um eine gesellschaftliche Sensibilität. Wirwissen, dass die Dunkelziffer hoch ist. Deshalb fordernwir vonseiten der Grünen gerade an der deutsch-tsche-chischen Grenze, aber nicht nur dort, auch eine For-schung in diesem Bereich, um genau das zu durchbre-chen. Wir wollen eine Forschung, die uns gesicherteErkenntnisse zur Argumentation und zum Handeln gibt.Wir wollen mit diesen Erkenntnissen weg von der reinenSkandalisierung und Emotionalisierung hin zu Wegen,durch die wir unsere Kinder schützen.Eines möchte ich noch einmal betonen: Die Zukunftunserer Kinder ist die Zukunft unserer Gesellschaft.
Wenn wir es nicht schaffen, die Gewalt zu durchbrechen,dann wird das auf unsere Gesellschaft zurückschlagen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Klaus Haupt, FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sexuelle Ausbeutung und Gewalt gegen Kinder gehört
zu den abscheulichsten Verbrechen auf dieser Welt. Kin-
derprostitution, Kinderhandel und Kinderpornographie
sind ein gigantisches verbrecherisches Geschäft gewor-
den. UNICEF schätzt den Umsatz weltweit auf 6 Mil-
liarden Euro jährlich. 2 Millionen Kinder weltweit sind
von Kinderprostitution betroffen. Das heißt, 3 000 Kin-
der werden täglich neue Opfer sexueller Gewalt.
Als damaliger Vorsitzender der Kinderkommission
habe ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen an der
Konferenz in Yokahama teilgenommen. Dort wurde ei-
nes sehr deutlich: Das Problem der sexuellen Ausbeu-
tung ist sowohl in den armen als auch in den reichen
Ländern ein zunehmendes Übel. Man schätzt, dass sich
jährlich 10 000 Deutsche an Kindern im Ausland sexuell
vergehen. In Deutschland kommen jährlich etwa
20 000 Fälle vor Gericht, bei denen Kinder Opfer sexu-
eller Gewalt sind. Die Dunkelziffer liegt nach Schätzun-
gen sechsmal so hoch. Sexuelle Ausbeutung, Gewalt und
Missbrauch fügen Kindern schwersten Schaden an Leib
und Seele zu. Die seelischen und womöglich auch kör-
perlichen Narben bleiben lebenslang bestehen. Das
Grundvertrauen der betroffenen Kinder in andere Men-
schen wird zerstört.
Deshalb begrüßt die FDP-Fraktion den vorliegenden
Antrag grundsätzlich. Sexuelle Gewalt gegen Kinder
darf kein Tabuthema sein. Es muss immer wieder in das
öffentliche Bewusstsein gerufen werden.
Dazu dient auch die heutige Debatte. Sie ist ein gemein-
sames Anliegen aller Fraktionen des Deutschen Bundes-
tages und wir sollten auch über einen gemeinsamen An-
trag nachdenken, um die Bedeutung des Anliegens zu
unterstreichen.
Die stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit ist
ein wichtiger Aspekt. Viele Missbrauchsfälle könnten
verhindert werden, wenn sexuelle Übergriffe nicht über-
sehen und bagatellisiert, sondern wahrgenommen und
angezeigt würden. Das Problem ist nie weit weg, es ist
überall. Meist stammen die Täter aus der Familie oder
dem engeren Bekanntenkreis. Hier ist jeder Einzelne ge-
fragt. Die Gesellschaft darf nicht wegsehen, wenn es um
sexuelle Gewalt gegen Kinder geht.
Nationales Handeln allein ist nicht ausreichend. In-
nerhalb der Europäischen Union und auch weltweit muss
die Zusammenarbeit zur Bekämpfung der sexuellen
Ausbeutung von Kindern intensiviert werden. Besonders
im Bereich der Kinderpornographie ist es notwendig, zu
einem die Landesgrenzen überschreitenden, wirksamen
europaweiten Rechtsstandard zu kommen.
In diesem Zusammenhang hat sich das Internet nicht
nur als Segen, sondern eben auch als Fluch erwiesen: Per
Mausklick sind hunderttausend einschlägige Adressen
und Hunderte von Webseiten täglich abrufbar – und das
im Schutze der Anonymität, die solche Perversionen be-
günstigt. Deshalb muss das Problem auf allen Ebenen
energisch angegangen und müssen wirksame Strategien
international angelegt werden; denn das schmutzige Ge-
schäft mit Kindersex ist grenzüberschreitend. Der Miss-
brauch der Schwächsten der Gesellschaft, der Kinder, ist
ein Verbrechen an der Zukunft unserer Gesellschaft und
an der Menschheit.
Danke.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Michaela Noll, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Alle meine Vorredner hatten das Glück, schonvorher Mitglieder des Bundestages zu sein. Was will ichdamit sagen? Sie haben bereits von meiner KolleginIngrid Fischbach gehört – ich glaube, sie hat es wirklichdezidiert dargelegt –, dass wir das, was Sie jetzt hier for-dern, bereits vor Jahren gefordert haben und Sie unsereAnträge immer abgelehnt haben. Die 16 000 Fälle von
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Michaela NollKindesmissbrauch jährlich, die die Kollegin Fischbacherwähnt hat, zwingen uns, weiter zu handeln.Tatsache ist, dass immer mehr Pädophile gezielt Chat-rooms nutzen, um minderjährige Opfer anzusprechen.Mein Kollege Klaus Haupt hat auch schon von den Kin-derpornos gesprochen. Diese dürfen nicht verharmlostwerden.Ich komme gerade aus einem Gespräch mit Strafvoll-zugsbediensteten. Wenn man mit ihnen gesprochen hat,dann weiß man, was draußen los ist. Sie haben mir klippund klar gesagt: Die Zahl der gefährlichen, gewaltberei-ten und behandlungsresistenten Strafgefangenen steigtjährlich. Das geht zulasten der Kinder. Die Opfer leidenunter schwerwiegenden Folgen für Seele und Körper.Kollege Haupt hat auch richtig dargestellt – ichglaube, das sehen wir alle so –, dass dies zunehmend zueinem grenzüberschreitenden Problem wird; denn Kin-derprostitution macht an Grenzen nicht Halt. Obwohlder Besitz von Kinderpornographie und deren Austauschim Internet seit dem 1. April schärfer bestraft wird, be-steht meiner Meinung nach nach wie vor die Gefahr,dass die Machenschaften der Triebtäter in der virtuellenWelt meistens ungestraft bleiben.Deshalb sage ich an diesem Punkt: Dieser Antraggeht in die richtige Richtung, denn ohne eine umfas-sende internationale Zusammenarbeit aller Länderwerden wir nichts erreichen. Es ist auch richtig, dass sichinternationale Organisationen mit dieser Problematik be-fassen; denn sexuelle Ausbeutung von Kindern findeteben nicht nur in Deutschland statt. Aber um das wirk-sam zu bekämpfen, müssen alle betroffenen Länder dieStrafverfolgungsmöglichkeiten verbessern. Trotzdem:Diese Forderungen sind nicht neu. Das waren unsereForderungen.Sehr geehrte Frau Kollegin Gradistanac, ich kann Ih-nen eine kritische Bemerkung zu Ihrem Antrag leidernicht ersparen; denn das gerade in Kraft getretene Gesetzzur angeblich umfassenden Verschärfung im Sexual-strafrecht ist halbherzig und unzureichend. Da ich inallen Debatten zur Verschärfung des Sexualstrafrechts,zur Opferrechtsreform, zum Opferschutzgesetz und zurnachträglichen Sicherungsverwahrung für die Schwa-chen dieser Gesellschaft gekämpft habe, glaube ichschon, dass ich dies gut beurteilen kann.In vielen Punkten haben Sie sich mit wichtigen Maß-nahmen zurückgehalten. Kindesmissbrauch und vor al-lem sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Perso-nen bleiben Vergehen und werden nicht als Verbrechengeahndet. Was heißt das für einen Nichtjuristen? DerVersuch ist nicht strafbar. Das aber haben wir gefordert.Das gleiche Problem stellt sich bei der Überwachungdes Fernmeldeverkehrs, die für die vielen Fälle vonKindesmissbrauch und der Verbreitung von Kinderpor-nographie wichtig wäre. Auch da haben Sie uns nicht zu-gestimmt, geschweige denn die Zulässigkeit der DNA-Analyse unterstützt. Viele wissen aus der Presse, dassdie DNA-Analyse wesentlich dazu beigetragen hat, dassviele Täter überführt werden konnten.In Ihrem Antrag steht, massiv traumatisierte Kindersollen dabei unterstützt werden, eigene Interessen wahr-zunehmen, damit sie Subjekte des Geschehens werden.Liebe Kollegin Deligöz, als ich das in dem Antrag gele-sen habe, war ich – gelinde gesagt – sehr enttäuscht undbetroffen. Für diejenigen, die es noch nicht wissen: Ichhabe für das Mainzer Modell im Strafverfahren ge-kämpft. Opferschutz heißt für die CDU/CSU-Fraktion,sich am Wohl des Kindes zu orientieren. Für alle die, dienicht wissen, was das Mainzer Modell beinhaltet, sageich: Es geht darum, dass kindliche Opfer im Strafverfah-ren sich in einem gesonderten Raum mit dem Vorsitzen-den befinden und eben nicht nur in eine Kamera spre-chen müssen. Das hat etwas mit Kindeswohl zu tun.
Ich habe es noch einmal erklärt, weil dieses Mal dieFamilienpolitiker hier sitzen. Mein Appell an die Fami-lienpolitiker geht dahin, hin und wieder Einfluss aufRechtspolitiker zu nehmen, damit diese ihr Herz und ih-ren Verstand für die Kinder öffnen.
In diesem Punkt haben Sie leider kein deutliches Signalfür kindlichen Opferschutz im Strafverfahren gesetzt.In Bezug auf die grenzüberschreitenden Maßnahmen– ich muss Sie einmal direkt ansprechen – rate ich Ihnen,über die Grenze zu schauen, was Österreich gemachthat. Österreich hat das Mainzer Modell bereits einge-führt. Können wir uns nicht vielleicht einmal daran an-nähern?Das Gleiche betrifft die nachträgliche Sicherungs-verwahrung. Kollege Ströbele ist leider nicht mehr hier.Mit dem habe ich an diesem Punkt heftig gestritten. Wirwollten genau das tun, was notwendig ist, nämlich dieBevölkerung und vor allem die Kinder vor hochgefährli-chen Gewaltverbrechern schützen. Wir haben Sie an die-ser Stelle mehrfach zum gesetzgeberischen Handeln auf-gefordert. Was haben wir dazu von den Rechtspolitikerngehört? – Es sei Ländersache. Dann kam die Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts. Da haben Sie sichein bisschen bewegt.Die Anhörung dazu im Rechtsausschuss hat ergeben,dass der Regierungsentwurf viele kritische Punkte ent-hält, die geklärt werden müssen. Was heißt daswiederum? – Das heißt, dass das Zeitfenster, das dasBundesverfassungsgericht vorgegeben hat, nämlich der30. September, vielleicht nicht eingehalten werden kann.Was das heißt, muss ich Ihnen, glaube ich, nicht erklä-ren. Das heißt, dass die hochgefährlichen Kinderschän-der, die jetzt einsitzen, dann rausgelassen werden. Dasswir viel Zeit verloren haben, müssen Sie sich selber an-lasten. Ich glaube, gut gemeinte Kampagnen allein nüt-zen nichts, wenn der Gesetzgeber selbst diese Wertungnicht ernsthaft ausspricht.Fazit: Ihre gut gemeinten Forderungen in dem Antragbeinhalten die Ziele, Projekte und weltweite Standardszu entwickeln, zu fördern, Maßnahmen zu prüfen, aberSie fordern nicht eine einzige konkrete gesetzliche Rege-lung. Dennoch: Ich mache Ihnen ein Angebot. Es ist ein
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Michaela Nollgutes Signal, aber damit allein ist es nicht getan. LassenSie mit uns gemeinsam den guten Ansätzen Taten fol-gen. Es liegt jetzt an Ihnen.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3211 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Abweichend von der
Tagesordnung soll die Vorlage jedoch nicht an den Haus-
haltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Lietz, Anita Schäfer , Christa Reichard
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Frauen und Familien in der Bundeswehr stär-
ken und fördern
– Drucksache 15/3049 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Ursula Lietz, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am11. Januar 2000 hat der Europäische Gerichtshof inseinem Grundsatzurteil die Bundesrepublik aufgefor-dert, alle Bereiche und Teilstreitkräfte der Bundeswehrfür Frauen grundsätzlich zu öffnen. Mit der Überarbei-tung unter anderem des Grundgesetzes haben wir in die-sem Hohen Hause die rechtlichen Grundlagen dafür ge-schaffen und dem somit zugestimmt.Seitdem hat sich eine beachtliche Anzahl von jungenFrauen für die Bundeswehr entschieden. Diese Soldatin-nen tun dort sehr selbstbewusst und sehr zielsicher ihrenDienst. Es ist eine gute Gelegenheit, ihnen an dieserStelle dafür ganz herzlich zu danken.
Um die Bedingungen für Frauen und Soldatenfami-lien den neuen Gegebenheiten anzupassen, hat die Frak-tion der CDU/CSU den Antrag mit dem Titel „Frauenund Familien in der Bundeswehr stärken und fördern“gestellt, der im Vorfeld mit betroffenen Frauen abgespro-chen worden ist und von Frauen des Bundeswehrverban-des unterstützt wird.Zurzeit dienen immerhin 9 800 Frauen als Soldatin-nen in der Bundeswehr. Knapp 700 sind bereits Offiziereund 4 900 sind Unteroffiziere. Das sind insgesamt5 Prozent aller Zeit- und Berufssoldaten. Nach den Er-fahrungen verbündeter Armeen wissen wir, dass damitzu rechnen ist, dass sich der Anteil weiblicher Soldatenbei circa 10 Prozent stabilisieren könnte. Wenn wir da-von ausgehen, dass dies so sein wird, dann müssen ei-nige Konsequenzen gezogen werden, die ich Ihnen hiergerne darstellen möchte.Der Verteidigungsminister ist aufgefordert, dreiein-halb Jahre nach Öffnung der Bundeswehr für Frauenendlich ein Gesetz für deren Gleichstellung zu schaffen.
Ankündigungen haben wir mittlerweile genug gehört.Schwierigkeiten scheint es im Verhältnis zwischen demFamilienministerium und dem Verteidigungsministeriumzu geben. Fakten sind bis jetzt keine geschaffen worden.Dass so etwas möglich und nötig ist, zeigen in vor-bildlicher Weise andere Streitkräfte. Ich möchte hier inbesonderer Weise die Niederlande erwähnen. EinGleichstellungsgesetz allein reicht jedoch nicht aus.Folgende Punkte, die unsere besondere Aufmerksam-keit brauchen, möchte ich Ihnen im Einzelnen vorstel-len: Aufstiegsmöglichkeiten und Beförderungschancenmüssen für Männer und Frauen in der Bundeswehr glei-chermaßen vorhanden und attraktiv sein. Das hört sichzwar banal an und sicherlich wird Ihnen jeder versi-chern, dass dies der Fall ist, aber es ist leider nicht so.Das werden Sie feststellen, wenn Sie mit Soldatinnensprechen. Deshalb sollten in der Nachwuchsgewinnungund in der Wehrdienstberatung verstärkt erfahrene Sol-datinnen eingesetzt werden.Teilzeitarbeit für Soldatinnen und Soldaten ist spe-ziell während der Elternzeit oder der Pflege von Ange-hörigen zu ermöglichen. Das ist möglich und wird inanderen Ländern bereits so gehandhabt. Ich bin demWehrbeauftragten, Herrn Dr. Penner, sehr dankbar dafür,dass er in der Vergangenheit im Ausschuss immer wie-der bestätigt hat, dass dies möglich ist.
In Zukunft wird es eine steigende Zahl von Soldaten-ehen geben. Damit meine ich Ehen, in denen beide Ehe-partner bei der Bundeswehr dienen. Dem ist unsererseitsmit einer entsprechenden Entwicklung der Bedingungenzugunsten einer familienfreundlichen Ausgestaltung desDienstes Rechnung zu tragen. Die Personalplanung derBundeswehr sollte hierbei die notwendige Flexibilitätzeigen. Dazu gehört selbstverständlich – es ist kaum zu
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Ursula Lietzglauben, aber derzeit ist das noch nicht selbstverständ-lich –, dass bei einer Inlandsverwendung beide Ehepart-ner möglichst am selben Standort eingesetzt werden.Auch das gehört zur Familienfreundlichkeit.Wenn die Politik in allen Bereichen der Gesellschaftfür mehr Familienfreundlichkeit und damit für mehrKinder plädiert, die wir uns alle für die Zukunft wün-schen, dann muss das auch für die Bundeswehr gelten.Denn sie ist ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft.
Dazu gehört auch, dass Eltern von Kleinkindern nichtgleichzeitig in Auslandseinsätze geschickt werden. Dasist derzeit nicht sicher. Dass Alleinerziehende mit klei-nen Kindern den Einsatz in anderen Ländern auf einenspäteren Zeitpunkt verlegen können sollten, ist wohlauch selbstverständlich.Kinderbetreuung zu organisieren ist ebenfalls eineAufgabe des Arbeitgebers Bundeswehr. Das muss nichtheißen, dass die Bundeswehr in jeder Kaserne eigeneKindergärten einrichtet. Aber zumindest die Koopera-tion mit kommunalen Einrichtungen – deren Schließun-gen zum Teil bereits diskutiert wird, weil es zu wenigKinder gibt – wie auch mit konfessionellen Einrichtun-gen – ich bin mir sicher, dass sich die Kirchen sehrschnell für die Bundeswehr öffnen würden – mit einerbestimmten Anzahl von Plätzen für Bundeswehrkinderbei möglicherweise flexibleren Öffnungszeiten, die zuverhandeln sind, ist kein unüberwindbares Problem.In dem Zusammenhang erwähne ich noch einmal diezügige und schon seit längerer Zeit angekündigte Ver-kürzung der Einsatzdauer auf vier Monate. Ich wäredankbar, wenn der Herr Verteidigungsminister diese An-kündigung endlich in die Tat umsetzen würde. Auseinem Papier geht hervor, dass dies im Rahmen der Ver-teidigungspolitischen Richtlinien vorgesehen ist. Diesewerden allerdings bis 2010 umgesetzt. So lange könnenunsere Familien nicht warten, denke ich.
Des Weiteren ist die Einrichtung von 31 Familienbe-treuungszentren mit fünf hauptamtlichen Beschäftigten– darunter sollte immer eine Frau sein – angekündigtworden. 19 davon sind bis jetzt verwirklicht worden. Ichhoffe sehr, dass mit der Reduzierung der Zahl der Solda-ten nicht auch die Zahl der Familienbetreuungszentrenreduziert wird. Denn deren Notwendigkeit richtet sichnach den Einsatzkonditionen im Ausland und nicht nachder Anzahl der Soldaten in der Bundeswehr.
Wir müssen insofern auch weiterhin darauf achten, dassdie Familienbetreuungszentren errichtet werden.Ich möchte Sie alle sehr herzlich darum bitten, sichmit dafür einzusetzen, dass neben den hauptamtlichenMitarbeitern auch auf die Erfahrung von Ehrenamt-lichen – meist Soldatenfrauen – zurückgegriffen wird.Ich möchte in diesem Zusammenhang das wunderschöneProjekt „Von Frau zu Frau“ in Coesfeld erwähnen, indem sich erfahrene Soldatenfrauen um Frauen kümmern,deren Männer zum ersten Mal im Ausland eingesetztwerden und die damit noch Probleme haben.Zur Familienfreundlichkeit gehört aber viel mehr alsdas Angebot von Teilzeitarbeit und Kindergartenplätzen.Wir möchten, dass sich qualifizierte junge Frauen wei-terhin für den Dienst in der Bundeswehr entscheiden. Sienehmen für uns Aufgaben wahr, die dem Frieden und derFreiheit der Bundesrepublik Deutschland dienen. Sieverteidigen uns und unsere Verbündeten. Ich denke, fürdiese Soldatenfamilien, Soldaten und Soldatinnen müs-sen wir unsere Hausaufgaben machen.
Ich weiß, dass wir uns in diesem Bereich nicht in al-len Punkten mit anderen Nationen vergleichen können.Die USA oder andere befreundete Nationen haben wirk-lich nachahmenswerte Modelle. Wir müssen uns dage-gen noch immer auf die Anforderungen weltweiter Ein-sätze einstellen, weil wir erst seit einigen Jahren überentsprechende Erfahrungen verfügen. Finanzielle Inves-titionen sind auf jeden Fall notwendig. Aber sie werdensich in Grenzen halten und werden überschaubar sein.Wer mehr Kinderfreundlichkeit in unserer Gesellschafteinfordert, sollte nicht nur entsprechende Sonntagsredenhalten, sondern auch konkret etwas dafür tun.
Lassen Sie mich noch ganz kurz ein Wort zu den Aus-landseinsätzen und den Konsequenzen sagen, die fürdie Bundeswehr daraus zu ziehen sind. Die Bundeswehrwar früher eine reine Verteidigungsarmee. Sie alle wis-sen, dass das nicht mehr der Fall ist. Heute ist sie zu ei-ner weltweit einsatzfähigen Interventions- und Krisen-präventionsarmee geworden. Wir haben die weltweitenAuslandseinsätze der Bundeswehr immer gemeinsambeschlossen. – Herr Nachtwei, Sie schütteln den Kopf.Auch ich wünsche mir ein Weißbuch, in dem die deut-schen Interessen im Hinblick auf Auslandseinsätze einbisschen deutlicher formuliert sind. Das steht leider nochimmer aus.
Nachdem wir gemeinsam beschlossen haben, unsereSoldatinnen und Soldaten in weltweite Auslandseinsätzezu schicken, würde ich mich sehr freuen, wenn wir auchgemeinsam die Rahmenbedingungen verabschieden wür-den. Es wäre gut, wenn wir alle hinter unseren Soldatenstehen. Damit meine ich nicht nur die bestmögliche tech-nische Ausrüstung, die eigentlich selbstverständlich seinsollte – hier gibt es ja gelegentlich Kritik –, sondern auchdie sozialen Rahmenbedingungen. Es gibt Studien ei-nes Instituts der Bundeswehr, die klar besagen, dass esentscheidenden Einfluss auf den Einsatz hat, wenn dieSoldaten nicht wissen, ob ihre Familien gut versorgt sind.Wenn sie sorgenfrei, beruhigt und motiviert in den Ein-satz gehen können, dann ist das für sie selber angeneh-mer und – das behaupte ich einmal – möglicherweise
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Ursula Lietzkostengünstiger, weil sie nicht aus der einen oder ande-ren Not heraus früher nach Hause fahren wollen und imEinsatz nicht falsch reagieren.Für mich ist wichtig, festzuhalten, dass Frauen in derBundeswehr die Chancen bekommen, die sie erwarten,und dass Soldatenfamilien genauso wie Alleinerzie-hende das Gefühl haben, dass sie uns am Herzen liegen,dass wir uns um sie kümmern. Dazu sollten wir alle be-reit sein. Dieses Ziel verfolgt der heute von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebrachte Antrag. DieSchritte, mit denen wir dieses Ziel erreichen können,habe ich Ihnen aufgezeigt. Ich würde mich – ich wieder-hole das ausdrücklich – über einen gemeinsamen Be-schluss betreffend diese Themen freuen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Petra Heß, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Lietz, es fehlt heute bei diesem wichtigen Thema
an Präsenz.
Sie ist aber nicht aus mangelndem Interesse, sondern
aufgrund der mangelnden Substanz Ihres Antrages dürf-
tig. Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Stärkung
und zur Förderung von Frauen und Familien in der Bun-
deswehr entspricht im Wesentlichen den Anliegen und
den Initiativen, die das Bundesministerium der Verteidi-
gung seit langem verfolgt und in vielen Bereichen be-
reits umgesetzt hat. Unsere Soldatinnen erfahren inner-
halb der Bundeswehr nicht nur eine gute Aufnahme,
sondern auch eine sehr große Akzeptanz. Sie sind hoch
qualifiziert und motiviert und zeichnen sich durch
Engagement und Leistungsbereitschaft aus. Ich möchte
in diesem Zusammenhang ein ganz praktisches Beispiel
nennen. Die Jahrgangsbesten der Marineschule Mürwik
waren im vorletzten und im letzten Jahr Frauen.
Wie mir in vielen Gesprächen versichert wurde, hat
sich mit dem Eintritt von Frauen in die Bundeswehr ge-
rade die Motivation ihrer männlichen Kameraden er-
höht, die durch die sehr guten Leistungen der Soldatin-
nen angespornt werden, es ihnen gleichzutun. Auch der
bekanntermaßen manchmal etwas raue Umgangston in-
nerhalb der Bundeswehr hat sich seit der Öffnung für
Frauen sehr zum Positiven gewendet. Natürlich gibt es
wie im zivilen Bereich auch in der Bundeswehr noch Be-
darf, die Integration von Frauen weiter zu verbessern.
Daran arbeiten wir.
Das geplante Gesetz zur Durchsetzung der Gleich-
stellung für Soldatinnen und Soldaten, dessen Ent-
wurf sich zurzeit in der Ressortabstimmung befindet,
zeigt dies eindrucksvoll. Wir werden den Gesetzentwurf
– ich komme damit auf Ihre Frage zurück – noch in die-
sem Jahr einbringen, damit das Gesetz 2005 in Kraft tre-
ten kann.
Ihr Vorwurf, die Bundesregierung belasse es diesbezüg-
lich bei Ankündigungen, ist somit schlichtweg falsch.
Das Soldatengleichstellungsgesetz wird unseren Sol-
datinnen und Soldaten einen gesetzlichen Anspruch an
die Hand geben, den Angehörige im zivilen Bereich be-
reits seit Jahren durch das Frauenfördergesetz und das
Bundesgleichstellungsgesetz genießen. Die Integration
von Frauen in die Bundeswehr wird somit weiter voran-
getrieben werden.
Besonders hervorheben möchte ich hierbei, dass im
Gesetz künftig festgeschrieben sein wird, dass eine
Unterrepräsentierung von Frauen dann vorliegt, wenn
ihr Anteil in den einzelnen Streitkräften unter 15 Prozent
und im Sanitätsdienst unter 50 Prozent liegt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Gut.
Für die Praxis ist relevant, dass Bewerberinnen beigleicher Leistung, bei gleicher Eignung und bei gleicherBefähigung wie ihre männlichen Bewerber bevorzugteingestellt werden, wenn in ihrem Bereich nicht die er-forderlichen 15 bzw. 50 Prozent erreicht werden.Das Gleiche gilt für den beruflichen Aufstieg vonSoldatinnen und Soldaten. Ist auch hier die entspre-chende Quote nicht erreicht, werden Soldatinnen gegen-über ihren männlichen Kameraden bei gleicher Qualifi-kation bevorzugt. Das Gleichstellungsgesetz schafftkünftig auch die Möglichkeit zur Teilzeitbeschäftigungvon Soldatinnen und Soldaten mit Familienpflichten.Damit wird ein Meilenstein für die Durchsetzung derGleichstellung und die Verbesserung der Vereinbarkeitvon Familie und Dienst in den Streitkräften erreicht.
Betrachtet man diese und weitere Regelungen im ge-planten Gesetz, lässt sich feststellen, dass mit diesemGesetzentwurf die Gleichstellung von Frauen und Män-nern in der Bundeswehr konsequent vorangetriebenwird.Wie ernst der CDU/CSU die Forderungen in ihremAntrag wirklich sind, kann sie dieses Jahr unter Beweisstellen, indem sie zusammen mit der Regierungskoalition
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Petra Heßdas Gesetz zur Durchsetzung der Gleichstellung vonSoldatinnen und Soldaten verabschiedet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,hinsichtlich der Forderung in Ihrem Antrag, künftigmehr Soldatinnen in den Nachwuchsgewinnungszen-tren und mehr Frauen als Wehrdienstberaterinnen ein-zusetzen, kann ich Ihnen sagen, dass diese Entwicklungbereits eingesetzt hat – für mich ist das ein ganz natürli-cher Prozess – und sich in Zukunft noch verstärken wird.
– Sie müssten vielleicht einmal in die Nachwuchsgewin-nungszentren oder in die Wehrdienstberatungszentrengehen.
Seit nunmehr 1991 verrichten Frauen ihren Dienst inder Bundeswehr. Wir sind froh darüber, dass sich immermehr Frauen für den Dienst in der Bundeswehr entschei-den. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass der Anteil derFrauen an der Gesamtgröße der Bundeswehr zurzeit beigerade einmal 5 Prozent liegt.
Es ist momentan also gar nicht so leicht, eine entspre-chend hohe Anzahl erfahrener Soldatinnen für dieseDienstposten zu finden. Aber ich bin mir sicher, dasssich dies in den nächsten Jahren wirklich sichtbar verän-dern wird.Die Bundeswehr hat im Übrigen ein ureigenes Inte-resse daran, Soldatinnen im Bereich der Nachwuchsge-winnung einzusetzen,
um gerade weiblichen Interessenten den Einstieg in dieBundeswehr zu erleichtern.
– Da stimme ich Ihnen zu.Probleme gibt es, wenn Alleinerziehende mit kleinenKindern in den Einsatz sollen. Ich denke, dem kommtman mit der momentan gängigen Praxis entgegen, Al-leinerziehende auf Wunsch von Auslandseinsätzen frei-zustellen.
– Das haben Nachfragen ergeben.Ihre Forderungen zu den Maßnahmen für spezielleKinderbetreuungsangebote sind meines Erachtens sehrunspezifisch. Gerade hier gibt es sehr unterschiedlicheAuffassungen darüber, was gut für Kinder ist, was denSoldatinnen und Soldaten zuzumuten ist und wie dieAusgestaltung im Einzelnen aussehen könnte. Der Be-darf wird derzeit abgefragt. Wenn ich eines nicht will– ich glaube, das wollen auch Sie nicht –, dann das, dasses zukünftig eine Kasernierung von Kindern in Bundes-wehrstandorten gibt.
Es wird deshalb keine Lex Bundeswehr geben. Andieser Stelle ist nach wie vor eine enge Zusammenarbeitmit den Kommunen gefordert und gefragt. Die Bundes-regierung hat ihrerseits gehandelt und ein Milliardenpro-gramm für die Kommunen aufgelegt, welches eineGanztagsbetreuung in Kindertagesstätten und Schulenkünftig erleichtern und in einigen Regionen ermöglichenwird.Jedem Kommunalpolitiker ist klar, dass die Bereit-stellung von Kindertagesstättenplätzen die Attraktivitäteines Bundeswehrstandortes erhöht. An dieser Stellekönnte man eine ganze Anzahl positiver Beispiele, ins-besondere aus den neuen Bundesländern, anführen. Aberauch Kooperationen an großen Bundeswehrstandortenhaben sich bewährt.Es bleibt festzustellen: Ganztagsbetreuung, Kinderta-gesstätten sind und bleiben Ländersache. Der Bund kannund wird die Betreuungsreform auch künftig begleitenund unterstützen.Wie überholt der Antrag der CDU/CSU zur Stärkungund Förderung von Frauen und Familien in der Bundes-wehr ist, zeigt sich einmal mehr an der Forderung nachEinrichtung von 31 Familienbetreuungszentren. Wersich wirklich ernsthaft mit der Materie befasst, weiß,dass es diese Familienbetreuungszentren bereits gibt,
einige mitunter seit zwei Jahren. Einige arbeiten im Mo-ment noch ehrenamtlich. Bis zum Jahresende sollendiese 31 Familienbetreuungszentren aber mit hauptamt-lichem Personal besetzt werden.
Zurzeit wird der STAN erstellt, der dazu erforderlich ist.Ich bin mir sicher, dass wir am 31. Dezember ein sehrgutes Resümee werden ziehen können. Unser gemeinsa-mes Ziel sollte hierbei sein, dass in jedem der Familien-betreuungszentren ein Dienstposten durch eine Frau zubesetzen ist.Davon, welch hervorragende Arbeit in den Familien-betreuungszentren geleistet wird, konnte ich mich beimehreren Besuchen vor Ort – wie Sie offensichtlichauch – überzeugen. Wir hatten zum Beispiel vor einigenMonaten Angehörige von im Ausland stationierten Sol-daten und Soldatinnen als Gäste im Kanzleramt bzw. imBundestag. Diese Angehörigen haben uns bestätigt, dassdie Familienbetreuungszentren wirklich eine ausgespro-chen gute Arbeit leisten. Ich möchte die Gelegenheitnutzen, mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
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Petra Heßdie dort ihren Dienst tun, vor allem bei den ehrenamtli-chen Mitarbeiterinnen, die oftmals Soldatenfrauen sind– Sie haben es vorhin schon erwähnt –, ganz herzlich zubedanken; denn sie leisten dort eine ausgezeichnete undfachlich sehr qualifizierte Arbeit.
Die Forderung in Ihrem Antrag nach geeigneten Maß-nahmen zur Förderung der Akzeptanz von Soldatinnenund Soldaten mit Kindern ist zu unspezifisch
und wirkt ein bisschen konzeptionslos.
Die Berücksichtigung von so genannten Soldaten-ehen erfolgt in der Bundeswehr bereits weitestgehend.Es ist gängige Praxis, dass Verheiratete ihren Dienst ge-meinsam an einem Standort leisten können bzw. eineentsprechende Versetzung erfolgt, wenn es der Wunschbeider ist.
Des Weiteren ist die Forderung nach einem Berichtüber den Stand der Integration der Soldatinnen in derBundeswehr nicht mehr aktuell. Das Sozialwissenschaft-liche Institut der Bundeswehr – Sie wissen das – hat be-reits einen Auftrag vom Bundesverteidigungsministe-rium erhalten.
Die entsprechenden Fragebögen sind entworfen worden.Sie werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt versandt.
Diese Befragung findet also zurzeit statt.Mit der Verkürzung der Einsatzdauer von sechs aufvier Monate ist das Verteidigungsministerium den Be-dürfnissen der Soldatinnen und Soldaten entgegenge-kommen.
Dementsprechend gut wird diese Änderung von derTruppe angenommen. Diese Änderung erfolgt nochnicht überall, denn sie wird schrittweise umgesetzt.Die kürzeren Stehzeiten – das können Sie sicherlichnachvollziehen – bedeuten aber eine enorme Kraftan-strengung für die Bundeswehr. Gerade auch für unsereeinheimischen Truppen, die die Einsätze vorbereiten, istdas eine enorme Kraftanstrengung. Ein großer Rückhaltsind hierbei unsere Wehrpflichtigen, die nach ihrerAusbildung in großem Umfang für eben diese Einsatz-vorbereitung eingesetzt werden. Würde die Bundeswehrnicht über dieses große Potenzial verfügen, könnten un-sere jetzigen Auslandseinsätze in diesem Umfang nichtfortgeführt werden.
Ganz abgesehen davon sind es gerade unsere Wehr-pflichtigen gewesen, die bei den Hochwasserkatastro-phen in den letzten Jahren Großartiges geleistet haben.
Ich bitte daher alle Kolleginnen und Kollegen in diesemHause, dies auch in der aktuellen Debatte über die Wehr-pflicht zu bedenken.Die intensive Beschäftigung mit dem Antrag derCDU/CSU-Fraktion bestätigte leider den Eindruck, dersich mir schon bei der ersten Lektüre aufdrängte. Daherlautet mein Fazit: Hier wurde ein Antrag hervorgekramt,
der bereits seit Monaten, vielleicht schon seit Jahren inirgendeiner Schublade schlummerte; denn viele Feststel-lungen und Forderungen sind inzwischen wirklich über-holt.
Dabei ist das Thema von einer enormen Bedeutung, diekeineswegs unterschätzt werden darf. Ich komme nichtumhin, festzustellen,
dass der Antrag der Union dieser Bedeutung nicht ge-recht wird.
Erlauben Sie mir am Ende eine ganz persönliche Be-merkung. Ich finde es insgesamt äußerst bedauerlich,dass ein so brandaktuelles Thema dermaßen altbackenaufgearbeitet wurde.
Eine Erörterung der im Antrag enthaltenen Vorschlägeals Denkanstöße halte ich somit für nicht erforderlich.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion.
Liebe Kollegin, ich schätze Sie wirklich sehr, aberbitte kritisieren Sie nicht andere Anträge, wenn Sie
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Ina Lenkeeinerseits zugestehen, dass das Thema brandaktuell ist,aber andererseits dazu noch nichts vorgelegt haben. Indiesem Punkt möchte ich die CDU/CSU jetzt einmal inSchutz nehmen.
Meine Damen und Herren, ich begrüße die Initiativeder CDU/CSU-Fraktion zur Stärkung und Förderungvon Frauen und Familien in der Bundeswehr; denn derAntrag – das wissen Sie – greift nicht nur Diagnosen ausdem aktuellen Bericht des Wehrbeauftragten auf, son-dern vor allem auch Ergebnisse aus der Kleinen Anfrageder FDP-Bundestagsfraktion zur Situation von Frauen inder Bundeswehr.
Die Antworten der Bundesregierung auf unsere An-frage zeigen, dass es die gläsernen Decken, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen,für Frauen beim beruflichen Aufstieg auch in der Bun-deswehr gibt. Erinnern Sie sich: Seit 1975 werdenFrauen als Ärztinnen, Zahnärztinnen, Apothekerinnenund Veterinärinnen eingestellt. In der Laufbahn der Offi-ziere des Sanitätsdienstes gibt es aber, obwohl sie seit1975 für Frauen geöffnet ist, nur fünf Soldatinnen mitder Besoldungsstufe A16 und höher, dagegen gibt es245 männliche Soldaten in den Besoldungsstufen A16und höher.Derzeit sieht es nicht so aus, als würde sich dieser Zu-stand ändern: Im Bereich der Nachwuchsgewinnung undder Ansprache junger Menschen für die Bundeswehr– das ist vonseiten der CDU/CSU ja auch zum Ausdruckgekommen – spielen Frauen nämlich keine Rolle. Ichfordere die Bundesregierung auf – hier sitzt ja auch derStaatssekretär –, umgehend eine Lösung für dieses Pro-blem zu finden. Ich weiß, dass es lange dauert, bevorman im Rahmen der Nachwuchsgewinnung vor jungenLeuten sprechen darf, aber es gibt sicherlich eine Mög-lichkeit, Frauen schneller zu qualifizieren und sie imRahmen der Nachwuchsgewinnung einzusetzen.
Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Berufgewinnen für Soldatinnen und Soldaten immer grö-ßere Bedeutung.Das sage nicht ich, sondern das hat der Wehrbeauf-tragte des Deutschen Bundestages gesagt.
Er sagt weiter, die Truppe warte auf strukturelle Verbes-serungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Lei-der muss er dazu feststellen, dass der Bundesverteidi-gungsminister konkrete Konsequenzen aus denherrschenden Missständen nicht gezogen hat.Meine Kolleginnen und Kollegen, selbst die Bundes-regierung hat mittlerweile bemerkt, dass die Karrierechan-cen von Frauen in der Truppe nicht so gut sind, wie sieeigentlich sein sollten. Und siehe da: Schon steht einGleichstellungsgesetz vor der Tür. Aus Sicht der FDPwill ich Ihnen sagen: Quoten werden weder der besonde-ren Situation der Bundeswehr noch den Interessen derSoldatinnen gerecht. Unsere Soldatinnen – auch ich habediesbezüglich persönliche Gespräche geführt – wollennach dem Grundsatz von Eignung, Befähigung und Leis-tung behandelt werden.
Sie wollen nicht bevorzugt werden. Sie wollen nur, dassspezielle Situationen, zum Beispiel der Fall, dass sieKinder haben, berücksichtigt werden.Die FDP – das kündige ich hier schon an – wird in ei-nem eigenen Antrag aufzeigen, wie wir uns vorstellen,dass Soldatinnen und auch Soldaten in der Bundeswehr,die Familienarbeit übernehmen, unterstützt werden. Wirwollen, dass die Bundeswehr für Frauen ein attraktiverArbeitgeber wird. Das ist sie bis heute nicht. In einigenwenigen Jahren – das wissen wir beide, Herr Nachtwei,der Sie als einziger Grüner hier sitzen – wird die Bun-deswehr nämlich eine Berufsarmee sein, die mit Wirt-schaft und öffentlichem Dienst um Arbeitskräfte konkur-rieren muss. Die FDP im Deutschen Bundestag hat mitals erste Partei Soldatinnen in der Truppe gefordert.
Gerade haben Sie, liebe Kollegin von der SPD, ge-sagt, was Sie alles Tolles machen wollen. Denken Sieeinmal an die früheren Diskussionen: Die SPD hat sichbis zum Schluss dagegen gewehrt, dass Frauen als Sol-datinnen in der Bundeswehr zugelassen werden. Erst alses das Urteil vom Europäischen Gerichtshof gab, habenSie sich bequemt, etwas zu machen.
Es steht also fest: Liberale waren wieder einmal an derSpitze der Bewegung.Zur Bundesregierung sage ich Folgendes: Sie mussnoch stark daran arbeiten, dass endlich etwas für Frauenin der Bundeswehr geschieht und ihnen gemäß ihrer Eig-nung, Befähigung und Leistung Aufstiegsmöglichkeitenin der Bundeswehr eröffnet werden. Liebe Kolleginnenund Kollegen von der SPD und den Grünen, tun Sie et-was und warten Sie nicht auf die Bundesregierung, diesich dafür seit Monaten und Jahren Zeit lässt.
Die Rede der Kollegin Marianne Tritz vom Bündnis 90/Die Grünen soll zu Protokoll gegeben werden.1) – Gut,wir nehmen sie zu Protokoll.Ich schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/3049 an die in der Tagesordnung aufge-1) Anlage 5
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solmsführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 19 a bis19 c:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe,Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENUnterstützung der neuen Regierung Boliviensbei der demokratischen Stabilisierung desLandes– Drucksache 15/2975 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten PeterWeiß , Dr. Christian Ruck,Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUChance zum demokratischen Neubeginn inHaiti unterstützen– Drucksache 15/2746 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Weiß
, Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf
Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUNach der Neuwahl in Argentinien: Entwick-lungszusammenarbeit mit Argentinien undUruguay zielgerichtet fortführen– Drucksachen 15/1015, 15/2706 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Sascha RaabePeter Weiß
Hans-Christian StröbeleMarkus LöningDie Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zuProtokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re-den der Kolleginnen und Kollegen Karin Kortmann vonder SPD-Fraktion, Peter Weiß von der CDU/CSU-Frak-tion, Kerstin Müller, Staatsministerin im AuswärtigenAmt, und Harald Leibrecht von der FDP-Fraktion.1) EineAussprache findet also nicht statt.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 15/2975 und 15/2746 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungauf Drucksache 15/2706 zu dem Antrag der Fraktion derCDU/CSU mit dem Titel „Nach der Neuwahl in Argenti-nien: Entwicklungszusammenarbeit mit Argentinien undUruguay zielgerichtet fortführen“. Der Ausschuss emp-fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1015 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
ter und der Fraktion der CDU/CSUDas gemeinsame historische Erbe für die Zu-kunft bewahren– Drucksache 15/2819 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung über die Maß-nahmen zur Förderung der Kulturarbeit ge-mäß § 96 Bundesvertriebenengesetz in denJahren 2001 und 2002– Drucksache 15/2967 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Erwin Marschewski von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Eine eigenartige Furcht geht offenbar bei Rot-Grün um: die Furcht vor den Landsmannschaften der1) Anlage 6
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Erwin Marschewski
Vertriebenen und der Flüchtlinge, vor denen aus Ost-preußen, Schlesien, dem Sudetenland, Pommern oderanderswo.
– Die Reaktion zeigt es ja. – Was ich bei Ihnen sehe, istkeine feine Dosierung. Es ist Unverständnis, zumindestSkepsis, im Ergebnis Ablehnung.Dabei ist doch das Recht auf die Heimat ein Men-schenrecht.
Dabei sind und bleiben Vertreibungen großes Unrecht.Dabei ist kulturelle Besinnung, ist Austausch Verständi-gungspolitik im umfassenden Sinne, weil Austauschund Verständigung historische Vergewisserung verlan-gen und eben nicht Verdrängung, meine Damen undHerren.Wenn dies nun richtig ist, warum dann die Ablehnungder Bundesregierung gegenüber denjenigen, die für diesalles stehen, eben die Vertriebenen, die Flüchtlinge undderen Verbände, die seit der Vertreibung an die jahrhun-dertealte Kultur und Geschichte erinnern, die – ich warim Französischen Dom selbst dabei – Kants „Kritik derreinen Vernunft“ oder „Kritik der Urteilskraft“ wiederaktuell machen oder die bei Hauptmanns „Weber“ oderEichendorffs „Oh Täler weit, oh Höhen“ ihre HeimatSchlesien nicht vergessen? Warum diese Ablehnung,warum diese Negierung?
Nur ein Zitat aus der „Konzeption zur Erforschungund Präsentation deutscher Kultur und Geschichte imöstlichen Europa“ der Bundesregierung, die alles zumNachteil der Vertriebenen und Flüchtlinge verändert hat:In dem Bericht heißt es – hören Sie gut zu –, der Kultur-austausch und die Aufarbeitung der Siedlungs- und Kul-turgeschichte dürfe nicht „Domäne einzelner Interessen-gruppen der Vertriebenenverbände sein“. Schon dieWortwahl stößt bei mir auf Ablehnung.
– Ich komme aus dem Bereich des Sports. Ich muss Siefragen: Würden Sie einen Sportverein oder eine Sportbe-wegung genauso gängeln? So darf man nicht mit denMenschen umgehen, die in diesem Bereich jahrzehnte-lang segensreich gewirkt haben.
Erst recht auf Ablehnung stößt die Folgerung, näm-lich der Versuch von Rot-Grün, den Einfluss der Vertrie-benenverbände auf die bundesgeförderte Kulturarbeitweitgehend auszuschalten und somit die Autonomie zubeeinträchtigen. Meine Damen und Herren von der SPD,alle Landsmannschaften, aber auch die Menschen in denehemals deutschen Gebieten haben mir dies gesagt. Ichmeine, was Sie machen, ist falsch; denn Sie verzichtenauf den Sachverstand derer, die sehr lange das deutscheKulturerbe im Bewusstsein gehalten haben. Das ist nichtrichtig.
Die Vertriebenen haben in ihrer Stuttgarter Erklärungauf Rache und Vergeltung verzichtet. Deswegen sage ichIhnen – ich muss es jetzt etwas härter ausdrücken –: Ihrso genanntes Erforschungspräsentationskonzept ist eineDemontage des Wirkens von 2 Millionen Flüchtlingen,Vertriebenen, Spätaussiedlern und deren 21 Landsmann-schaften innerhalb des Bundes der Vertriebenen.
– Herr Kollege, alle 21 Vertriebenenverbände – ich warin Oberschlesien und Schlesien – bestätigen mir das. Sieerheben den Vorwurf, dass der Bundeskanzler, wenn ernach Schlesien kommt, lieber in die Kneipe nach ne-benan geht, anstatt mit den Menschen dort zu sprechen.Das ist das Problem.
Wir müssen uns der Menschen annehmen, wie es zumBeispiel der polnische Staatspräsident in Litauen oderanderswo tut. Das wäre richtig.
Sie haben viel gekürzt im Bereich der Kulturreferen-ten, im Bereich der institutionellen Förderung und imBereich der grenzüberschreitenden Arbeit, was für michdas Maß übervoll macht. Auch die Erinnerungen an Le-bens- und Herkunftsstätten großer Deutscher aus Kunst,Literatur und Wissenschaft aus den früheren ostdeut-schen Regionen werden kaum noch gefördert. Nebenden bereits genannten Kant und Hauptmann denke ich andie Ostpreußen Herder, E. T. A. Hoffmann, ErnstWichert, Lovis Corinth, Käthe Kollwitz, um nur ein paarKünstler aus der Heimat meiner Eltern zu nennen, wodoch gerade die Erinnerung, das Gedächtnis und das ak-tuelle Sich-Auseinander-Setzen mit diesen großen Deut-schen Bewusstsein schafft, auch Verbindung in neuerpolitisch-europäischer Beziehung.So nicht, meine Damen und Herren von Rot-Grün!Sie werden es nicht schaffen, die Vertriebenen und dieJahrhunderte alte deutsche Kultur in Ost- und Südosteu-ropa in die Museen zu verbannen. Vertriebenenkultur-arbeit bedeutet eben nicht bloße Erinnerungsarbeit. Sieist vielmehr aktuelle Suche nach den Wurzeln und Kon-tinuitäten unserer Nationalgeschichte. Darüber hinaus istsie gesetzliche Verpflichtung. § 96 des Bundesvertriebe-nengesetzes besagt dies ausdrücklich. Ich hoffe, dass Siezumindest lesen können.
– Hören Sie zu und machen Sie nicht so unqualifizierteZwischenrufe, lieber Herr Kollege.
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Erwin Marschewski
Ich zitiere aus § 96:... das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in demBewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, desgesamten deutschen Volkes und des Auslandes zuerhalten ...
– Dann müssen Sie sich danach richten und daraus dieKonsequenzen ziehen. Vielleicht tun Sie es persönlich.Aber die Bundesregierung tut es nicht. Sie wissen, dasist hochrangiges Recht. Sie wissen, Herr KollegeDr. Küster, dass es Inhalt des Einigungsvertrages ist.Deswegen entspricht es nicht dem Wesensgehalt dieserVorschrift, die Förderung um 40 Prozent auf nur noch15 Millionen Euro weitgehend zusammenzustreichen,was Sie leider tun.Dies wollen wir ändern. Deswegen haben wir eineneue Konzeption unterbreitet. Wir wollen die Erhaltungund Weiterentwicklung ostdeutscher Kultur. Wir wollendie Heimatvertriebenen mit einbeziehen und wir wollenvor allem weg vom rot-grünen Zentralismus wieder hinzur dezentralen Förderung.
Ich verspreche schon jetzt den Vertriebenen undFlüchtlingen, dass wir, wenn wir dann in zwei Jahren dieRegierung übernehmen, die Politik der rot-grünen Bun-desregierung umkehren und sie wieder vom Kopfe aufdie Füße stellen.
– Sie haben wirklich überhaupt keine Kenntnis; deswe-gen, Herr Kollege Küster, mein Einwand gegen diesenhochqualifizierten Zuruf Ihres Kollegen.
Kulturelles Schaffen und dessen Teilhabe sind zutiefstHandeln in Freiheit, die es zu beachten gilt, was mir beiVertriebenen und Flüchtlingen besonders leicht fällt;denn sie sind Brücken und Botschafter für Aussöhnungund Verständigung. Nicht zuletzt meine gerade ange-sprochene Reise nach Schlesien und Oberschlesien hatmir dies noch einmal in aller Breite deutlich gemacht.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Antje Vollmer vom Bündnis 90/Die
Grünen hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Deswegen
ändere ich jetzt entsprechend die Reihenfolge.
1) Anlage 7
Das Wort hat die Staatsministerin Christina Weiss.
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-desregierung legt den Bericht über die Maßnahmen zurFörderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesvertrie-benengesetz zu einem Zeitpunkt vor, der gerade für diehiervon angesprochenen Menschen und Regionen vonhistorischer Bedeutung ist. Unsere ostmitteleuropäi-schen Nachbarn kehren nach Europa zurück, das sie– ihrem eigenen Selbstverständnis nach – nie verlassenhaben. Sie entdecken es neu und sie entdecken es für unsneu. Nach und nach erkennen wir wieder, was uns einstverbunden hat. Wenn wir uns bewusst machen und wennwir bereit sind, sowohl die vergessenen Schätze als auchdie verbrannten Trümmer zu heben, dann werden wir dieFrage beantworten können, wo Europa aufhört, nämlichdort, wo die Grenzen unserer gemeinsamen geschichtli-chen Erfahrung verlaufen.
Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestagim Jahr 2000 die Konzeption zur Erforschung und Prä-sentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichenEuropa zugeleitet. Damit wurde die Grundlage geschaf-fen, deutsche Kulturtraditionen im östlichen Europa zubewahren und auch zu pflegen. Wir haben natürlich eingroßes Interesse daran, die vielfältige Kulturarbeit inerster Linie zu professionalisieren und effizienter zu ge-stalten.
Zudem soll sie nicht im Verborgenen geschehen. Siebraucht eine breite Öffentlichkeit und sie muss diesebreite Öffentlichkeit erreichen. Dabei wird von einemaufrichtigen Geschichts- und Kulturverständnis ausge-gangen, das weder die historischen Belastungen aus-klammert noch die unterschiedlichen nationalen und re-gionalen Traditionen vernachlässigt.Die Neukonzeption hat im Berichtszeitraum zu er-freulichen Ergebnissen geführt.
– Das hörte sich etwas anders an. – Zunächst einmalkonnte im Berichtszeitraum das finanzielle Niveau ge-halten werden. Das ist keine Selbstverständlichkeit indiesen Zeiten. Mein Haus hat es zudem ermöglicht, dasssich einige Einrichtungen zu wirklich renommierten wis-senschaftlichen Institutionen entwickeln konnten.
Ich denke etwa an die früheren Kulturwerke, die nun alsInstitute für Kultur und Geschichte der Deutschen inNordosteuropa, in Lüneburg, und in Südosteuropa, inMünchen, als universitäre An-Institute mit einer wirk-lich wichtigen Multiplikatorenfunktion wirken können.Sie folgen damit dem Vorbild des Oldenburger Bundes-instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im
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Staatsministerin Dr. Christina Weissöstlichen Europa, das in Kooperation mit der UniversitätOldenburg von Anfang an den grenzübergreifenden wis-senschaftlichen Dialog zur Grundlage seiner Arbeit ge-macht hat.Die von uns geförderten Stiftungslehrstühle für Ge-schichte an den Universitäten Stuttgart und Erfurt sowiefür Kunstgeschichte in Leipzig haben sich inzwischenetabliert. Vor zwei Jahren konnte zudem im Rahmen derinternationalen Kooperation in Olmütz, in Tschechien,ein Stiftungslehrstuhl für deutsch-mährische Literaturge-schichte entstehen. Außerdem wurde in diesen Tagen einvergleichbares Vorhaben an der Universität Klausenburgin Rumänien aus der Taufe gehoben.Ich will nicht unerwähnt lassen, dass die Museen zuden historischen deutschen Ost- und Siedlungsgebieteneine ganz hervorragende Arbeit leisten, wenn es darumgeht, das Bewusstsein für das kulturelle Erbe wach zuhalten. Besonders bemerkenswert ist in dieser Hinsicht,dass es mit der deutschen Einheit gelungen ist, zusätzli-che Einrichtungen in den neuen Bundesländern zu eröff-nen.
Die Kooperation mit Partnerinstitutionen in Ost-mitteleuropa ist mittlerweile für alle Museen zur Selbst-verständlichkeit geworden. Sie funktioniert sehr gut undist dort anerkannt. Auch die Arbeit der Kulturreferentenin den Landesmuseen hat sich bewährt. Sie gestalten Be-gleitprogramme zu den Aktivitäten der jeweiligen Mu-seen und entwickeln eigene Initiativen speziell zur kultu-rellen Breitenarbeit. Zur Verbreitung von Kenntnissenüber deutsche Kultur und Geschichte im östlichenEuropa soll auch das Deutsche Kulturforum östlichesEuropa mit Sitz in Potsdam beitragen, das seit 2002 in-stitutionell vom Bund gefördert wird und sich bislangdurch große Aktivitäten – Vorträge, Tagungen, Ausstel-lungen und Publikationen – hervortat.Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen wir, wasfür den Erhalt von Kulturdenkmälern getan wird, dievon deutscher Kultur und Geschichte im östlichenEuropa zeugen. Hier zeichnet sich eine sehr gute, engeKooperation mit den örtlichen Institutionen der Denk-malpflege ab, die wir finanziell unterstützen, deren Un-terstützung wir aber auch brauchen.Ich bin fest davon überzeugt, dass die neue Konzep-tion zur Erforschung und Präsentation deutscher Kulturund Geschichte im östlichen Europa einen wesentlichenBeitrag zur Verständigung zwischen Deutschland undseinen östlichen Nachbarn leistet.
Wir wissen alle, dass das wichtig, notwendig und funda-mental ist. Das wird sich im Übrigen auch in dendeutsch-polnischen Kulturbegegnungen im nächstenJahr zeigen, die wir derzeit vorbereiten. ÄhnlicheKulturbegegnungen sind mit Ungarn, Tschechienund den baltischen Staaten geplant, die ebenfalls gemäߧ 96 BVFG gefördert werden.Um ihre Zukunft in Vielfalt geeint zu gestalten, müs-sen sich die Völker Europas ihrer Geschichte erinnern,der gemeinsamen und der trennenden. Deshalb bin ichsehr froh darüber, dass die Kulturminister aus sechs Län-dern noch vor der EU-Erweiterung damit begonnen ha-ben, ein europäisches Netzwerk für Zwangsmigrationund Vertreibung zu knüpfen. Es gibt in allen VölkernEuropas vielfältige Varianten des Leidens. Dieses Netz-werk soll die vielen Geschichtswerkstätten, Museen, Ar-chive und Denkmäler in ganz Europa miteinander ver-binden. Wir wollen auf interessengeleitete Aktionen miteiner aufrichtigen europäischen Initiative antworten unddamit verdeutlichen, dass es nicht reicht, das nationaleGedenken zu organisieren, sondern dass wir die europäi-sche Forschung zu diesem Thema voranbringen müssen.Wir behandeln heute auch den Antrag der CDU/CSU-Fraktion „Das gemeinsame historisches Erbe … bewah-ren“. Wenn Sie meine Ausführungen und den Bericht zurKenntnis nehmen, dann sehen Sie, meine Damen undHerren von der CDU/CSU, dass Ihr Antrag einer kon-struktiven Grundlage entbehrt.Die Bundesregierung nimmt ihre Verpflichtungensehr ernst.
Mit ihrer konzeptionellen Arbeit sichert sie den Erfolgfür eine Modernisierung und für eine Zukunftsorientie-rung im Geist der europäischen Verständigung. Sie wirddies auch künftig tun.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Otto
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es istdoch immer wieder eine Freude, unserer Staatsministerinzuzuhören.
Sie versteht es in vorbildlicher Weise, schwierige, trau-rige Sachverhalte mit glänzenden Worten zu ummänteln.Ich möchte Ihnen ausdrücklich zubilligen, dass es schönist, Ihnen zuzuhören; mit der Wirklichkeit hat das aberleider nicht immer viel zu tun.
Ich möchte Ihnen eingangs zwei Zahlen entgegenhal-ten. Zahlen sind etwas objektiver als schöne Beschrei-bungen. Im Jahre 1998 hatte der Bundeshaushalt für dieMittel im Zusammenhang mit § 96 BVFG noch umge-rechnet 22 Millionen Euro im Ansatz, die auch umge-
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Hans-Joachim Otto
setzt wurden. Im Jahre 2004 betragen diese Titel nurnoch 15,7 Millionen Euro. In einer Zeit, in der andereHaushaltspositionen dramatisch gestiegen sind, gibt esin diesem Bereich Kürzungen um rund 30 Prozent.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Frak-tion, ich verstehe, dass Sie vorhin aufgeregt den Ausfüh-rungen von Herrn Marschewski gefolgt sind und diesjetzt auch bei meiner Rede tun, aber das hat natürlichseinen Grund. Mir fällt auf, mit welcher AggressivitätSie in diesen Bereich hineingehen.
– Machen Sie nur so weiter! Ich glaube, das disqualifi-ziert Sie. Wir ringen hier um Lösungen für einen wichti-gen Bereich der Kultur und Sie machen solche Äußerun-gen. Das finde ich nicht gut.
Die Konzeption der Bundesregierung aus demJahre 2000 sollte eine Neuausrichtung der Kultur-arbeit bewirken. Es gab sicherlich gute Ansätze – daskönnen wir feststellen –: Straffung der institutionellenFörderung, Orientierung an einem Regionalprinzip, in-ternationale Kooperation und kulturelle Breitenarbeit.Das sind Leitlinien, die im Grunde gut klingen. Der Be-richt zeigt aber, dass es lediglich bei Ansätzen blieb. In-stitutionelle Straffung und Regionalisierung haben oft zueiner Zentralisierung musealer Darstellung geführt, zahl-reichen kleinen Einrichtungen wurde die Förderung ge-strichen und Zentralmuseen wurden ausgebaut. DemGrundsatz der kulturellen Breitenarbeit entspricht diesnicht. Ich plädiere für eine intensive Zusammenarbeitzwischen allen Einrichtungen, zum Beispiel durch Wan-derausstellungen. Wenn nämlich die Kulturpflege einegesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, sollte auch die ge-samte Gesellschaft Zugang zur Kultur haben.Im Zusammenhang mit dem angesprochenen Regio-nalprinzip möchte ich das völlige Fehlen eines Museumsfür die russlanddeutsche Kultur ansprechen. Eine ent-sprechende Einrichtung würde nicht nur eine bestehendeLücke in der derzeitigen Kulturpflege schließen, sondernsich mit Sicherheit auch positiv auf die Integration vonSpätaussiedlern auswirken.
Die Kulturpflege muss in einem europäischenKontext gesehen werden. Nur so wird es uns langfristiggelingen, geschichtliche Tabus und Vorurteile, die es lei-der gibt, abzubauen. Jugendaustausch an der Schnitt-stelle zur auswärtigen Kulturpolitik und gemeinschaftli-che wissenschaftliche Forschung mit unseren Nachbarnsind daher unerlässlich und werden von den Verbändenbefürwortet.Was die Bundesregierung in ihrer Konzeption ausdem Jahre 2000 als Neuorientierung verkauft, ist – daserweist sich in der Praxis leider immer deutlicher – imGrunde eine reine Etatkürzung. Ich will an dieser Stelle,liebe Frau Dr. Weiss, ausdrücklich sagen, dass IhreWorte sehr viel sensibler sind als die Ihres VorgängersNaumann, der hier in einer Weise über die Vertriebenen-kultur hergezogen ist, dass es einen schaudern konnte.Aber er war der Begründer einer Entwicklung, der Sieleider nichts entgegensetzen konnten. Die Kürzungenschreiten fort. In diesem Bereich ist gekürzt worden wiein kaum einem anderen im Haushalt des Bundes. Deswe-gen kann ich nur sagen, dass Ihren schönen Worten jetztwirklich Taten folgen müssen.
Das sind wir gerade in einem zusammenwachsendenEuropa auch der Integrationsleistung, die die Vertriebe-nen in den letzten Jahren gezeigt haben, schuldig.Ich möchte ausdrücklich sagen: Es hat Zeiten gege-ben, in denen wir als FDP-Fraktion manche Äußerungenaus diesem Bereich mit Skepsis betrachtet haben. FrauSteinbach, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen,ist nicht anwesend. Ich möchte betonen: Es hat in denletzten Jahren politische Veränderungen gegeben, die aufAussöhnung und Brückenbau – Herr Marschewski hat esschon angesprochen – gesetzt haben. Ich meine, wir alsBundestag sollten die Aussöhnungs- und Integrations-leistung der Vertriebenen honorieren.
Herr Kollege Otto, denken Sie bitte an die Redezeit.
Deswegen ist mein letzter Satz ein Appell an die Kol-
legen von der SPD und von den Grünen, dass wir uns
aus den alten Schützengräben lösen, unsere Aufgaben
nach § 96 Bundesvertriebenengesetz wahrnehmen und
gemeinsam mehr als diese Geplänkel, die es hier gele-
gentlich gegeben hat, erreichen. Es ist eine Aufgabe der
Zukunft, dieses kulturelle Erbe zu pflegen. Es geht nicht
nur um die betroffenen Menschen, sondern es geht auch
um ein kulturelles Erbe, das bewahrt werden muss.
In diesem Sinne möchte ich darum bitten, dass der
Antrag der CDU/CSU in aufgeschlossener und fairer
Weise behandelt wird. Vielleicht kommen wir dann auf
diesem Feld ein bisschen weiter.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Hilbrecht von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Otto, Sie wissen, dass wir im Kulturaus-schuss immer sehr ernsthaft und qualifiziert diskutieren.Ich bin der Ansicht, das werden wir sicherlich auch überdiesen Antrag tun. Aber lassen Sie mich eines bittegleich klarstellen: Wir sind weder gegen die Pflege desKulturgutes der Vertriebenen noch sind wir gegen die
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Gisela HilbrechtKulturarbeit, die die Vertriebenen leisten. Auch wollenwir niemanden aus der geförderten Kulturarbeit drängen.Im Gegenteil, wir halten es für eine wichtige Auf-gabe, die kulturellen Leistungen, die in den Vertrei-bungsgebieten auch von Deutschen erbracht wurden– Herr Marschewski hat wichtige Namen genannt –, zuwürdigen und sie im gemeinsamen Gedächtnis zu erhal-ten. Denn dieses Kulturgut ist Zeugnis eines wichtigenTeils unserer deutschen und auch unserer europäischenGeschichte. In diesem Punkt sind wir uns, denke ich, alleeinig.
Genau deshalb nehmen wir unseren gesetzlichen Auf-trag, der uns in § 96 des Bundesvertriebenengesetzesaufgegeben ist, sehr ernst. Ich gehe so weit zu sagen:Erst, seitdem wir diese Kulturförderung vor vier Jahrenauf eine neue Grundlage gestellt haben, werden wir un-serer Verpflichtung wirklich gerecht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, denken wir bitteeinmal an Folgendes:
– Lassen Sie mich bitte weiterreden. – Wir mussten imWesentlichen aus zwei Gründen umsteuern – Herr Otto,Sie waren damals dabei; auch Sie saßen im Kulturaus-schuss –: Erstens haben sich die Rahmenbedingungen– ich denke, das bestreitet niemand – seit Anfang der90er-Jahre grundlegend verändert, und zwar nicht nurdie haushaltspolitischen Bedingungen, sondern vor al-lem auch die außenpolitischen. Durch letztere sind ganzneue Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Koo-peration entstanden. Das wird doch niemand bestreiten.
– Hören Sie mir doch weiter zu.
Zweitens hat es im Bereich der geförderten Kulturar-beit über die Jahre hinweg Entwicklungen gegeben, diesowohl ihre Qualität als auch ihre Effizienz grundsätz-lich infrage stellten. Ich erinnere Sie daran: 1997 – da-mals waren Herr Marschewski und ich Mitglieder desInnenausschusses – hat der Bundesrechnungshof Dop-pelförderungen und Mittelverschwendung beanstandet.Den Kolleginnen und Kollegen, die nicht dabei waren,möchte ich das in Erinnerung rufen. Er hat die damaligeBundesregierung – zuständig war damals InnenministerKanther – aufgefordert, eine grundlegende Umorientie-rung und Straffung dieser Förderung vorzunehmen. Aufall diese Notwendigkeiten haben wir mit unserer neuenKonzeption reagiert. Sie wurde gründlich vorbereitetund ausführlich beraten. Damals, im Oktober 1999, fandin unserem Ausschuss eine große Anhörung statt, zu derauch die betroffenen Verbände eingeladen waren.Der Bericht der Bundesregierung, der heute zur Bera-tung vorliegt, befasst sich mit der – ich will betonen: be-hutsamen – Umsetzung dieser Neukonzeption. Hierwurde nichts über das Knie gebrochen. Wir alle wissen:Auch heute ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen.Aber ich denke, dieses Ergebnis kann sich nach vier Jah-ren sehen lassen. Ganz besonders freut mich, dass ich je-denfalls in meiner Region merke, dass dieses Konzept inder Zwischenzeit bei vielen Verbänden zunehmend aufAkzeptanz stößt.Da passt es eigentlich gar nicht ins Bild, dass dieCDU/CSU-Fraktion einen Antrag vorlegt, mit dem siedas Rad einfach wieder zurückdrehen will:
zurück zu der Förderpraxis, die vom Bundesrechnungs-hof kritisiert wurde. Zugleich fordert sie aber eine stär-kere Zukunftsorientierung. Genau das wollen wir mitunserem Konzept erreichen. Ich denke, auch darüberwurde schon gesprochen. Es geht um den grenzüber-schreitenden Austausch mit unseren osteuropäischenNachbarländern. Das zieht sich wie ein roter Fadendurch die geförderte Kulturarbeit und das kann man imBericht der Bundesregierung anhand zahlreicher Bei-spiele nachlesen.Schwerpunkt ist die gemeinsame Aufarbeitung desgemeinsamen kulturellen Erbes als Teil unserer europäi-schen Geschichte; das ist der wichtigste Pfeiler für einefriedliche und gutnachbarliche Zukunft. Liebe Kollegin-nen und Kollegen, die Neukonzeption ist ein Erfolg: DiePflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlingehat eine neue Qualität gewonnen, die weit höheren An-sprüchen gerecht wird und – ich denke – wirklich zeitge-mäß ist. Das, was der Unionsantrag will, passt nicht zu-sammen: Er fordert eine auf die Zukunft gerichteteFörderung, will aber gleichzeitig die alten, überlebtenStrukturen wiederherstellen; ich denke, die Zeiten sindlängst darüber hinweggegangen.Zum Schluss noch: Ich kann mich eigentlich des Ein-drucks nicht erwehren, dass wir diesen Antrag schlichtdem Kalender zu verdanken haben: Pfingsten steht näm-lich mit seinen zahlreichen Treffen der Landsmann-schaften vor der Tür und da scheint es angesagt zu sein,nicht das, was wir von den Landsmannschaften heute alspositive Akzeptanz unserer Kulturarbeit leisten, hervor-zuheben, sondern das Rad wieder ein Stück zurückzu-drehen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Sehling vonder CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10165
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegin-
nen und Kollegen! Wohl wir alle empfinden den Beitritt
unserer unmittelbaren Nachbarstaaten zur Europäischen
Union als Rückkehr nach Europa. Unter ihnen sind auch
Länder, in denen lange Zeit Deutsche lebten, die in ihnen
über Jahrhunderte Heimatrecht erwarben, diese Länder
aber 1945/46 durch Flucht und Vertreibung verlassen
mussten. Fast 15 Millionen Menschen haben nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren, aber
sie haben wenigstens ihr geistiges Fluchtgepäck mit-
nehmen können: ihre Kultur, ihre Eigenart, ihr hand-
werkliches und technisches Können, ihr Brauchtum und
ihren Dialekt.
Die Bundesregierung will die Kulturarbeit der Ver-
treibungsgebiete heute ins Museum verbannen, sie bes-
tenfalls als Aufgabe der Heimatvertriebenen selbst ver-
stehen, aber bitte ja nicht ihrer Landsmannschaften oder
sonstigen Verbände. Ich halte das für einen Riesenfehler.
Die Kultur der Vertreibungsgebiete ist – das ist vorher zu
Recht gesagt worden – Teil der Kultur aller Deutschen
und sie ist auch Teil der Kultur aller Europäer.
Das ist nicht nur so, weil es im Gesetz steht und im Eini-
gungsvertrag ausdrücklich bestätigt wurde, das ist auch
sachlich so: Hat etwa Gerhart Hauptmanns „Die Weber“,
die Geschichte vom Weberaufstand von 1844 im Zeital-
ter der industriellen Revolution, nicht gesamtdeutsche
wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung?
Steht sein Drama nicht auch für die Industriegeschichte
ganz Europas? Hat der im böhmischen Eger geborene
Balthasar Neumann nicht Architekturgeschichte weit
über die Grenzen seiner engeren Heimat hinaus ge-
schrieben? Und gehört nicht Franz Kafkas literarisches
Erbe ebenso zur böhmischen Wirklichkeit wie zum jü-
disch-deutschen Kulturerbe Prags, jener Stadt, in deren
Mauern 1348 die erste deutschsprachige Universität er-
richtet wurde? Das kulturelle Erbe der Vertreibungsge-
biete sollte deshalb heute als europäisches Kulturerbe
verstanden und weiterentwickelt werden
– ich freue mich, Herr Kollege Kubatschka, dass Sie mir
zustimmen; vielleicht finden wir eine Einigung –, ohne
dass wir Deutschen die Verantwortung für die Pflege und
Weiterentwicklung dieses Erbes von uns weisen. Zu
Recht werden deshalb von den Bundesländern derzeit la-
gerübergreifend Überlegungen angestellt, die Europäi-
sche Union auf ihre neue Verantwortung für die Kultur-
pflege dieser Vertreibungsräume hinzuweisen und auch
finanziell in Anspruch zu nehmen.
An die Bundesregierung aber muss sich heute unser
Appell – von CDU und CSU – richten, den eigenständi-
gen Wert der Kulturpflege der Vertreibungsgebiete end-
lich anzuerkennen. Die jetzt schon mehrfach zitierte so
genannte Neukonzeption aus dem Jahre 2000 hat unter
dem Vorwand der Professionalisierung zu einer Ent-
menschlichung dieser Kulturarbeit geführt, zu einer ge-
wollten Musealisierung. Die Tausenden, die in der
Breitenarbeit bis heute ehrenamtlich in privaten Heimat-
stuben, in Heimatarchiven und kleinen Vereinsmuseen
die Erinnerung an die alte Heimat und ihre kulturellen
Eigenheiten wachhalten, leisten in Wahrheit vorbildli-
ches bürgerschaftliches Kulturengagement.
Diese soziokulturelle Breitenarbeit – es ist nicht die
einzige, aber es ist auch eine – muss endlich anerkannt
und ideell, aber auch materiell gefördert werden und darf
nicht länger politisch ins Abseits gedrängt werden.
Sehr verehrte Damen und Herren, leisten wir doch
jetzt, da aus Altersgründen immer weniger Menschen
diese praktische Kulturarbeit leisten können, eine ge-
meinsame Anstrengung. Die Opposition bietet Ihnen Zu-
sammenarbeit an bei einer Neukonzeption der Neukon-
zeption, bei der fachlichen Überprüfung der Wirkungen
dieser Maßnahme aus dem Jahr 2000 und bei der Suche
nach einer Neuregelung, die die jetzigen Hauptaktiven in
dieser Arbeit, die Heimatvertriebenen selbst und ihre
Nachkommen, wieder aktiv in diese Arbeit mit einbe-
zieht.
Danke.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 15/2819 und 15/2967 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten JuliaKlöckner, Peter H. Carstensen ,Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUDreizehntes Gesetz zur Änderung des Arznei-mittelgesetzes für Tierärzte und Landwirtepraxisgerecht und verbraucherfreundlich ge-stalten– Drucksache 15/3112 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale SicherungNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin das Wort der Kollegin Julia Klöckner von derCDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Vor dreieinhalb Monaten habe ich mich schon einmal
hier in diesem Plenum an Sie wegen der dringend not-
wendigen Novellierung des Tierarzneimittelrechtes ge-
wandt. Über ein Jahr ist es mittlerweile her, dass wir im
Ausschuss darüber debattiert hatten.
Damals war ich sehr hoffnungsfroh; denn die Einsich-
ten in der Debatte waren doch sehr klug. Ich war sehr
überrascht, dass wir mit den Vertretern der Grünen und
der SPD Einvernehmlichkeit erzielen konnten. Seiner-
zeit hatte gerade die CDU/CSU-Fraktion – auch auf-
grund des Antrages von Bayern im Bundesrat – im Sinne
des Verbraucherschutzes und im Sinne des Tierschut-
zes die Notwendigkeit der Erarbeitung einer sachgerech-
ten und vor allen Dingen praktikablen Lösung unterstri-
chen. Wir hatten angemahnt, praktikabel vorzugehen.
Wir haben eine Zusammenarbeit ausdrücklich angebo-
ten. Ich danke hier auch den Berichterstattern der ande-
ren Parteien für die Bereitschaft und für die anfängliche
Initiative dazu.
Ich danke deshalb auch dem Kollegen Goldmann,
dem Kollegen Priesmeier und dem Kollegen Ostendorff.
In der Haut der letzten beiden möchte ich natürlich nicht
stecken. Manchmal wünscht man sich sicherlich auch an
Ihrer Stelle, man würde die Regierung nicht stellen,
wenn einem untersagt wird, miteinander zu arbeiten.
– Es tut mir sehr Leid, aber das wurde eben abgelehnt; so
war es leider.
– Sie waren leider nicht dabei, Sie können das aber gerne
im Protokoll nachlesen. Auch wenn es schmerzhaft ist,
muss man das zur Kenntnis nehmen. Ich danke dennoch
für die anfänglichen Initiativen.
– Das ist so ein bisschen das schlechte Gewissen.
Meine Herren, seien Sie doch Kavaliere.
Weil das dann leider ins Stocken geriet und weil letzt-lich den Tierhaltern, den Tierärzten, aber auch den Tie-ren nicht geholfen war, mussten wir dann das Heft in dieHand nehmen. Das haben wir getan und einen entspre-chenden Antrag vorgelegt.
– Wir haben einen Antrag vorgelegt, vielleicht solltenSie ihn einmal durchlesen.Leider warten wir seit langem vergeblich auf den Ge-setzentwurf, der durchaus von Frau Ministerin Künastangekündigt wurde und der eigentlich kurz vor der Ver-abschiedung stehen sollte. Es kommt aber nichts.
– Vielleicht schreiben sie gerade an dem Antrag. – Siemüssen bedenken, es geht hier nicht um eine Spielerei.Es geht darum, dass Tiere leiden, dass Tierärzte unprak-tikabel arbeiten müssen, dass Tierhalter schikaniert wer-den und dass letztlich überhaupt keinem geholfen ist. Sokönnen wir nicht miteinander umgehen. Wir erkennendoch wirklich alle, dass diese Dinge so nicht praktikabelsind. Ich denke, es ist nicht lauter, das so auf die langeBank zu schieben.
Ich bitte Sie daher, den Ball, den wir Ihnen jetzt zuspie-len, auch aufzunehmen
und endlich mit vereinten Kräften an einer konstruktivenLösung zu arbeiten. Ganz klar feststeht: Wir halten anden vorrangigen Zielen – zum einen dem Verbraucher-schutz und zum anderem dem Tierschutz – fest und wirsind ihnen auch heute noch verpflichtet. Ich glaube, hiergibt es zwischen uns keinen Dissens, sondern einenKonsens.Dieser verbesserte Verbraucher- und Tierschutz istmit dem jetzigen Arzneimittelgesetz nicht zu erreichenund nicht vereinbar. Sie erinnern sich noch an die Aussa-gen der Sachverständigen. Ich denke, Anhörungen wer-den nicht aus Spaß durchgeführt und sind nicht dazu da,dass sich Sachverständige auf lange Wege nach Berlinmachen. Die Ergebnisse von Anhörungen sollte manernst nehmen und in Gesetzesentwürfe und Anträge ein-arbeiten. Wir haben das im Gegensatz zu Ihnen getan.Bisher liegt kein Antrag von Ihnen vor.
– Herr Kollege Ostendorff, ich weiß nicht, ob Sie überden Ablauf des parlamentarischen Verfahrens Bescheidwissen. Ich kann nicht in Ihre Köpfe schauen und ichkann auch nicht nachsehen, was in Ihren Schublädenliegt und Sie nicht rausholen. Wir würden gerne sehen,was vorliegt.
– Wir werden nichts finden, das ist das Tragische. – Wirhaben einen Antrag vorgelegt. Erst dann, wenn etwasvorliegt, kann man auch darüber debattieren.
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Julia KlöcknerDie Folge – –
Entschuldigung, Frau Klöckner. Meine Herren – es
sind ja so wenige und Herr Ostendorff kommt nachher
noch zu Wort – : Halten Sie sich ein wenig zurück und
lassen Sie Frau Klöckner ihre Rede halten. – Bitte schön.
Das ist eben das schlechte Gewissen. Ich weiß, es tutweh, wenn man selbst nichts zu bieten hat und anderehaben etwas vorgelegt.
Sehen Sie das doch einfach mal im Sinne derjenigen, diees betrifft.Wir sagen ganz klar: Ein zentrales Problem ist dermangelnde Tierschutz. Ein anderes zentrales Problem– das haben Sie damals auch gesagt; es steht imProtokoll – ist die 7-Tage-Regelung. Ich weiß nicht,welches Tier sich mit seiner Krankheit plötzlich an dieRegelung der Beamten hält und sagt: Okay, sieben Tagesind herum, also ist auch meine Krankheit überstanden.Wer das glaubt und annimmt, dass Praktiker damit um-gehen können, der war noch nie im Stall und der hat sichnoch nie mit der Klientel befasst, die er hier vertretensoll.
Um zu verhindern, gegen das Gesetz zu verstoßen,müsste der Tierarzt, wenn er sich daran hielte, wie esjetzt geregelt ist, jedem kranken Tier einen persönlichenKrankenbesuch abstatten und eine Diagnose mit Be-handlungsanweisung aussprechen, bevor der Tierhalterdie nötige Behandlung durchführen darf. Solange leidetdas Tier eben. Würde der Tierarzt dann noch vor undnach jedem Stallbesuch durch die Hygieneschleuse ge-führt, geduscht und umgekleidet, um nicht mehr Krank-heiten zu verschleppen als zu bekämpfen, dann wäre die-ses Unterfangen endgültig undurchführbar.Das Ergebnis – der Tierschutz steht im Grundgesetz –wäre eine himmelschreiende Tierquälerei. Wir müssenschon versuchen, verschiedene Ziele unter einen Hut zubringen und nicht immer neu zu definieren. Einmal– wenn wir zum Beispiel über die Legehennenverord-nung und die Größe von Ställen reden – ist Ihnen derTierschutz sehr wichtig und steht ganz oben und hierspielt der Tierschutz auf einmal keine Rolle mehr. Ichbitte hier doch um Stringenz und einen roten Faden.
Die Abschaffung der 7-Tage-Regelung ist aber nochlängst nicht alles. Wenn durch das Arzneimittelgesetzmehr Verbraucherschutz erbracht werden soll ohne Tier-quälerei – wir müssen eben Behandlungen untersagen,damit ein Tierarzt und ein Tierhalter nicht das Gesetzübertreten; das muss man sich einmal vorstellen – zuverursachen, dann müssen wir folgende Punkte, die auchin unserem Antrag stehen, beherzigen:Erstens. Um einer etwaigen Vorratshaltung von Tier-arzneien in den landwirtschaftlichen Betrieben vorzu-beugen und eine einfache, aber effiziente Überwachunggewährleisten zu können, brauchen wir statt der 7-Tage-Regelung, die sehr willkürlich ist – das sagen wir hierexplizit –, tierärztliche Behandlungspläne als ein ge-eignetes Instrument. Eine reine Veränderung der zeitli-chen Anforderungen wäre nicht akzeptabel, da einestarre Frist – egal, wie lang sie auch ist – der Vielfalt derTiererkrankungen und deren Verläufe nicht gerecht wer-den kann.Zweitens fordern wir: Durch eine entsprechende Er-gänzung des bisherigen Voraussetzungskataloges für dieAbgabe von Tierarzneimitteln muss der Behandlungs-plan als neuer zentraler Begriff und als Bedingung fürdie Arzneimittelabgabe in den Mittelpunkt der tierärztli-chen Betreuung treten.
Drittens. Die Menge der an den Tierhalter abzugeben-den Arzneimittel richtet sich zum einen nach der festge-legten Anwendungsdauer für das zum Zeitpunkt der Un-tersuchung als behandlungswürdig eingestufte Tier undzum anderen – das ist ganz wichtig – nach dem Stand dertierärztlichen Wissenschaft. Die Tierärzte haben ihrenBeruf nicht in einem kurzen Abendkurs erlernt.Kollege Priesmeier, ich schätze Sie und Ihr Wissenals Tierarzt sehr. Sie selbst wissen, dass Tierärzte auf-grund ihrer Erfahrungen nicht immer in einem Hand-buch nachschlagen müssen. Deshalb ist es sehr wichtig,dass hier der Stand der tierärztlichen Wissenschaft eineRolle spielt.
Diese Regelung führt zu einer Vermeidung der Ab-gabe von Arzneimitteln für noch nicht erkrankte Tiere,wie sie unter der bestehenden 7-Tage-Regelung häufigpraktiziert wird. Das heißt, der Behandlungsplan istwichtig. Es ist klar, dass der Tierarzt nicht willkürlichhandeln kann. Der Tierarzt muss einen Bestand vor Au-gen haben, ihn prüfen und dann sagen, wie zu behandelnist.Ganz entscheidend für uns ist, dass zwischen den Ge-sellschafts- und Sporttieren sowie den Lebensmittel lie-fernden Tieren eine Grenze gezogen wird.
– Das stellt hier aber ein Problem dar. Reden Sie mal mitTierhaltern und Tierärzten. Dann werden Sie feststellen,dass diese Zuordnung nicht gewährleistet ist. – Eine
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Julia KlöcknerBegriffsbestimmung der Lebensmittel lieferndenTiere ist erforderlich, da sich in der Praxis eine Zuord-nung bestimmter Tiere und die damit verbundene Arz-neimittelabgabe als sehr schwierig erwiesen hat. Es istschon sinnvoll, bei der Behandlung von Tieren abzuwä-gen, was sie an Medikamenten bekommen, wenn diesenachher verzehrt werden sollen. Das ist der Unterschiedzu einem Hamster, den ich nicht vorhabe zu verzehren.Bei uns Menschen geht es ausschließlich darum, wie wirSchmerzen lindern und Krankheiten behandeln. Das istfür uns wichtig. Warum müssen wir Tierärzten und Tier-haltern unnötig Steine in den Weg legen?Um eine bedarfsgerechte Abgabe von Tierarzneimit-teln zu gewährleisten, ist auch zu prüfen, ob es den Tier-ärzten künftig ermöglicht werden kann, Arzneien ausfertigen Gebinden umzufüllen, fachgerecht neu zu ver-packen und an den Tierhalter abzugeben.
– Referentenentwurf hin oder her, aber ich habe nochkeine Drucksache gesehen. Auch ich könnte jetzt aus-führen, welche Papiere wir schon vorbereitet haben. Wirmöchten gerne etwas auf dem Tisch liegen sehen. ImMoment werden wir nur hingehalten.
Die ganze Zeit wird gesagt, dass dieser Antrag derUnion zur Unzeit kommt. Wenn Dinge geregelt werdenmüssen, dann gibt es keine Unzeit. Wir hatten schonJahre Zeit, etwas zu machen. Wenn man sich bei der Er-arbeitung des Referentenentwurfs nicht einig war unddeshalb nichts vorliegt, dann ist das nicht unser Problem.Wir nehmen uns dieser Sache an. Das, was in unseremAntrag steht, können Sie gerne übernehmen.Es kann nicht sein, dass für die Behandlung eineskleinen Hamsters eine große Arzneimittelpackung ab-gegeben wird, die normalerweise für die Behandlung ei-ner Kuh oder eines Schweins nötig ist. Das ist aus öko-nomischen und ökologischen Gründen nicht sinnvoll.Bisher ist es so, dass der Tierhalter selbst bei Kleinsttie-ren die Großpackung abnehmen muss, aber den Restnicht mehr verwerten darf und kann. Es gibt keinenGrund, nicht unseren Vorschlägen zuzustimmen. Es gilt,die Tierärzte aus der Grauzone herauszuführen. Es gehtnicht darum, irgendwelche Hygienevorschriften nichtmehr einzuhalten. Das ist nicht der Fall. Wir müssen unsdarüber einig werden, wie das Ganze später im Geset-zestext formuliert wird.Im Verlauf der Arbeit an dieser Novelle habe ich michmit anderen Kollegen der Unionsfraktion wiederholt mitVertretern aller beteiligten Kreise zusammengesetzt. ImVerlauf der Gespräche zeigte sich schnell, dass die Inte-ressen der Länder, der Tierärzte und der Tierhalter si-cherlich nicht einfach unter einen Hut zu bekommensind. Aber ich bin mir sicher, dass wir eine einvernehm-liche Lösung vorgelegt und Ihnen einen verwertbarenLösungsansatz an die Hand gegeben haben.Wir sind weiterhin daran interessiert, mit Ihnen zu-sammen an einer praktikablen Lösung zu arbeiten. An-fangs war der gemeinsame Wille vorhanden, fraktions-übergreifend zusammenzuarbeiten. Warum das nichtmehr möglich war, möchte ich jetzt nicht erwähnen. Dasist Fakt. Diejenigen, die nicht mit dabei waren, könnendarüber gerne den Kopf schütteln. Aber das ist nun ein-mal so. Mir tut es um die Kollegen Leid, die bereit wa-ren, mit uns zusammenzuarbeiten. Wir bieten Ihnen einegute Vorlage. Erlauben Sie mir, an Ihre politische Ver-nunft zu appellieren. Es gibt keinen Grund, diesem An-trag nicht zuzustimmen. Über alle Punkte hatten wirschon einmal Einvernehmen erzielt. Sie haben Ihr Ein-vernehmen leider zurückgezogen.Ich verstehe auch nicht, warum die Ministerin nichtda ist.
– Wie ich sehe, ist Herr Berninger etwas verspätet hinzu-gekommen. Ich denke, er wird den Antrag lesen und ihnweiterreichen, damit er als gute Grundlage dienen kann.Stimmen Sie zu! Es gibt keinen Grund, dagegen zu sein.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, es nützt wenig, wenn hier Sperrfeuer geschossenwird. In der Diskussion über den Referentenentwurf, derbereits seit Oktober vorliegt,
ist in den letzten Monaten vieles weiterentwickelt wor-den.
– Über die Zeitschiene kann man sich unterhalten. Diebeteiligten Verbände haben vorgetragen, dass man sichgerne auf eine gemeinsame Position einigen wollte. Daserfordert naturgemäß Zeit. Die Zeit haben wir den Ver-bänden eingeräumt. Mittlerweile liegt dort eine gemein-same Position vor.
Es hat erhebliche Diskussionen im Hintergrund gegeben,die noch lange nicht abgeschlossen sind. In dem Zusam-menhang ist Ihr Antrag heute, verehrte Kolleginnen undKollegen von der CDU/CSU, weder zeitgemäß nochpassend.In der Analyse des Problems sind wir uns im Wesent-lichen einig, auch nach der Anhörung im letzten Juni.
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Dr. Wilhelm PriesmeierDie gemeinsame Position, die hier im Verlauf der Dis-kussionen gefunden worden ist, trägt auch noch. Wennman meint, aus nahe liegenden Gründen – das mag beiIhnen aus einem gewissen Populismus resultieren – jetzteinen Antrag stellen zu müssen, dann ist das wenigzweckdienlich.Ich glaube, alle Beteiligten sind daran interessiert,eine praxisnahe und vernünftige Regelung zu finden.
Gerade Sie, verehrte Frau Kollegin Klöckner, haben inden letzten Monaten auch in den Gesprächen mit derLänderebene gemerkt, wo dort die Befindlichkeiten lie-gen und dass es nicht ganz so einfach ist, ein einfachesKonzept in einem Antrag zu formulieren, das hinterherauch noch juristisch tragen und eine einfache Regelungenthalten soll, damit alle Beteiligten zufrieden sind.Die anfängliche Forderung, die 7-Tage-Frist ersatz-los zu streichen, findet auf der Länderebene überhauptkeinen Wiederhall.
Bei der Anhörung zum Referentenentwurf im BMVELwurde von zehn anwesenden Ländern, mindestens abervon acht, signalisiert, dass sie mit der Streichung mit Si-cherheit nicht einverstanden sind. Auch das Instrumenta-rium, das Sie auf den Tisch gelegt haben, ist ein durchausanerkennenswerter Diskussionsansatz. Das InstrumentBehandlungsplan ist schon bei den Beratungen zur elftenNovelle diskutiert worden, dann aber nicht zum Tragengekommen.
Die Ursache für das eigentliche Problem und für denHandlungsdruck, den man vor der elften Novelle ver-spürt hat, liegt in der mangelnden Kontrolle und in denSchwächen des bisherigen Kontrollsystems. Da kann ichals jemand, der davon direkt betroffen ist, zumindest imAugenblick auf der Länderebene keine wesentliche Ver-besserung erkennen.Weder sind die personellen Ressourcen vorhanden,um eine effiziente Kontrolle zu gewährleisten, noch dasdafür notwendige Instrumentarium. Auch ist die Bereit-schaft dazu in vielen Bereichen nicht vorhanden. Die ge-genwärtige Situation mit all den Schwierigkeiten, diewir im Augenblick mit der Umsetzung bzw. der Rechts-wirklichkeit der elften Novelle haben, hält einige Bun-desländer davon ab, intensiv zu kontrollieren. In Bayernsind vor der Landtagswahl keine Kontrollen erfolgt.
Warum wohl? Die Frage ist berechtigterweise zu stellen.Auch das von Bayern auf den Tisch gelegte Instrumenta-rium des Behandlungsplans ist wieder aus den Diskus-sionen verschwunden. Das ist heute kein Thema mehr.
Kein Bundesland fühlt sich bemüßigt, in diesem Zusam-menhang die im Referentenentwurf unter Umständen ge-währte Möglichkeit einer eigenständigen Regelung indem Bereich umzusetzen. Darum drückt man sich. Ausdiesem Grunde ist es vernünftig, unter Umständen andem Instrument des Behandlungsplanes weiterzuarbei-ten und dieses weiterzuentwickeln. Im Referentenent-wurf ist der Behandlungsplan als eine Möglichkeit vor-gesehen, eine Ausnahme von der 7-Tage-Regelung unterder Maßgabe zuzulassen, dass das für einen ganz be-stimmten Indikationenkatalog von Erkrankungen gilt.Das sind in der Hauptsache Bestandserkrankungen.
Herr Kollege Priesmeier, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Klöckner?
Aber selbstverständlich.
Bitte schön, Frau Klöckner.
Herr Kollege Priesmeier, was mich und sicherlich
auch die Tierhalter und Tierärzte interessiert, ist die
Frage, wann ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, aus dem
hervorgeht, welche Richtung eingeschlagen werden soll.
Es reicht nicht, festzustellen, was alles nicht möglich ist.
Wir müssen vielmehr wissen, welche Möglichkeiten be-
stehen. Dafür sind wir als Politiker schließlich an dem
Verfahren beteiligt. Ich möchte konkret wissen, wann die
Betroffenen endlich aufatmen können.
Ich gehe davon aus, dass die Beratungen in absehba-rer Zeit so weit gediehen sind,
dass ein entsprechender Gesetzentwurf vorgelegt werdenkann, der auch beratungsfähig ist.
– Zurzeit kann ich Ihnen keinen konkreten Zeitpunktnennen, aber ich gehe davon aus, dass im Ministeriumfleißig daran gearbeitet wird. Der Gesetzentwurf wirdeine entsprechende Qualität haben.
Das würde ich nicht in Abrede stellen.In diesem Zusammenhang wird von verschiedeneninteressierten Seiten unter Umständen ein Popanz aufge-baut. Sie kennen vielleicht den gemeinsamen offenenBrief der vier beteiligten Verbände, den ich in dieser Si-tuation für wenig zweckdienlich halte. Damit wird einepolitische Linie verfolgt, die offensichtlich auf Profilie-rung ausgelegt und der Diskussion wenig förderlich ist.
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Dr. Wilhelm PriesmeierIch glaube, wir sollten wieder zur Sachlichkeit zurück-kehren
und unter dieser Maßgabe versuchen, eine Lösung zufinden. Dazu sind wir auch bereit.
Mein Gesprächsangebot in diesem Zusammenhanggilt weiterhin. Ich habe vorhin mit Freude zur Kenntnisgenommen, dass auch Ihr Angebot weiter gilt. Insofernsind die besten Voraussetzungen gegeben, um eine ver-nünftige Lösung zu finden, die auch auf die Befindlich-keiten der Länder abstellt. Denn was nützt uns ein Ge-setz, das im Bundestag beschlossen wird, aberanschließend im Bundesrat keinen Bestand hat?
– Sie wissen genau, verehrter Kollege Goldmann, dassdie Einschätzung des richtigen Instrumentariums in die-sem Zusammenhang nicht davon abhängig ist, von wel-chem politischen Lager die Landesregierungen derzeitgestellt werden.
Das ist eine klare Erkenntnis; das wissen Sie so gut wieich.
– Nicht nur NRW. Ich habe in den vergangenen Wochenund Monaten mit den Vertretern der Länder in derLAGV gesprochen, und zwar nicht nur aus NRW oderBayern, sondern unter anderem auch aus Baden-Württemberg und meinem Heimatland Niedersachsen,das bekanntlich von dieser Problematik in besondererWeise betroffen ist. Es gibt durchaus einen vernünftigenAnsatz, der kompromissfähig ist. Ich bin bereit, auchweiterhin an einer konstruktiven Lösung zu arbeiten, dieauch langfristig tragbar ist und länger Bestand hat alsdas, was uns mit der Elften Novelle des Arzneimittelge-setzes vorgelegt worden ist.Dabei nützt es nichts, sich gegenseitig die Schuld zu-zuweisen. Denn wie jeder weiß, ist die Elfte Novelle mit16 : 0 im Bundesrat beschlossen worden. Der Bundesre-gierung bzw. dem BMVEL die Schuld daran zuzuweisenist weder korrekt noch fair.
Denn sie haben weitere wesentliche Erschwernisse, dieunter Umständen in die Elfte Novelle Eingang gefundenhätten, verhindert.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich nicht, alte Ka-mellen aufzuwärmen.
Meines Erachtens sind die in Ihrem Antrag enthaltenenForderungen bereits in wesentlichen Teilen Bestandteildes Referentenentwurfs.
Das Umverpacken wird dort einwandfrei eingeräumt.Das ist auch unbestritten.
– Das ist in Ordnung. Wenn Sie dem zustimmen, dannverfolgen wir wieder eine gemeinsame Linie, die sichwahrscheinlich auch als tragfähig erweisen wird.Ich appelliere an Sie, wieder auf den Boden des Kon-senses zurückzukehren und gemeinsame Gespräche zuführen. Ich sehe in diesem Zusammenhang keine Alter-native, wenn wir sinnvoll gestalten wollen. Das Angebotder Fraktionen von SPD und – das nehme ich an – Grü-nen, in einem konstruktiven Dialog zu einer Lösung zukommen, gilt auf jeden Fall weiter.Ein Modell, das ich auch auf der Länderebene fürkompromiss- und konsensfähig halte, könnte sich wiefolgt darstellen: Der Behandlungsplan wird zur Grund-lage gemacht, um Ausnahmen von der 7-Tage-Regelungzuzulassen. Darüber hinaus sollte ein Expertengremiumgeschaffen werden, das Leitlinien zur Anwendung vonAntibiotika und Voraussetzungen für Ausnahmen vonder Siebentageregelung definiert. Das soll kein statischerProzess per Verordnung sein. Vielmehr soll dieses Gre-mium, besetzt mit Fachleuten und Praktikern, ein dyna-misches Instrument sein, mit dessen Hilfe man letztend-lich in der Lage ist, den Stand der tierärztlichenWissenschaft zu definieren. Ich glaube, dass diese Lö-sung bei allen Kolleginnen und Kollegen konsensfähigist, sofern ich das als Tierarzt beurteilen kann. Das kön-nen Sie vielleicht nicht so gut, Herr Kollege Goldmann.Ich gehe davon aus, dass Sie nicht mehr so stark im täg-lichen Dialog mit den Kollegen involviert sind wie ich.Ich appelliere an Sie, die gemeinsame Linie nicht aufDauer zu verlassen, wie Sie das in Ihrem Antrag bereitstun. Wir sollten weiterhin versuchen, gemeinsam zu ei-ner vernünftigen Lösung zu kommen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Soungerecht ist die Welt: Mein Vorredner hat zwölf Minu-
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Hans-Michael Goldmannten hier herumgeblubbert und nichts gesagt, während ichleider nur drei Minuten habe.
Die Sache ist eigentlich ganz einfach. WilhelmPriesmeier, bei dir ist es immer das Gleiche: In populisti-schen Botschaften bist du allererste Sahne. Du plusterstdich zum Tierschutzbeauftragten auf und lässt seit ge-raumer Zeit ein Arzneimittelgesetz gelten, von dem duals Praktiker genau weißt, dass sich jeder, der dieses Ge-setz befolgt, am Tierschutz sowie an den Interessen derBauern und im Grunde genommen auch der Tierärztevergeht.
Die Tiere sind aufgrund dieses Gesetzes – um in derAgrarsprache zu bleiben – traurig und beschissen dran.Die Bauern leiden darunter. Es kostet sie eine MengeGeld. Aber es kommt nichts dabei herum.
– Herr Kollege, Sie haben keine Ahnung davon. Sie ha-ben wahrscheinlich noch nie bei einem Tier gestanden.
– Im Schreien sind Sie ziemlich gut. Wahrscheinlich sit-zen Sie deshalb in der ersten Reihe. Manche sitzen dortwegen ihrer guten fachlichen Qualität. Aber das, was Sieeben von sich gegeben haben, war nur in der Lautstärkeüberzeugend. Sie sollten einmal zuhören.
Ich finde es beeindruckend, welche Rolle Sie hier spie-len. Ich bin todsicher, dass Sie kein einziges Mal in denAntrag der CDU/CSU hineingeschaut haben.
Ich kann Ihnen nur sagen: Dieser Antrag ist allerersteSahne.
Das weiß auch Kollege Priesmeier genau.Herr Küster, Sie brauchen nicht noch die Hände anden Mund zu legen, um einen Trichter zu bilden. Ich ver-stehe auch so alles bestens, was Sie sagen, oder – bessergesagt – es kommt akustisch einiges bei mir an.
– Frau Hiller-Ohm, ich verstehe euch nicht. Zuerst woll-tet ihr doch gar nicht reden. Dann habt ihr dafür gesorgt,dass diese Debatte in die Nachtstunden verschoben wird,damit nicht auffällt, dass ihr im Grunde genommen seitanderthalb Jahren eurer Verpflichtung nicht nachkommt.
Entschuldigen Sie, aber der Redner hat das Wort.
Herr Küster, wenn Sie meinen, dass Sie sich weiterdisqualifizieren müssen, dann bitte. Ich fände es aberbesser, wenn wir unsere Auseinandersetzung auf privaterEbene fortsetzen würden. Dann bräuchten Sie auch nichtmehr so zu schreien.
Wenn Sie informiert sind, dann wissen Sie, dass alle,vor allen Dingen Herr Kollege Priesmeier von IhrerFraktion, Herr Küster, und Herr Kollege Ostendorff, inder Ausschussanhörung erklärt haben, dass dieses Ge-setz dringend verbessert werden müsse. Daraufhin habenFrau Klöckner und ich gemeinsam einen Brief aufgesetzt– wir hatten den Auftrag dafür – und versucht, die Unter-schriften von Herrn Priesmeier und Herrn Ostendorff fürdiesen Brief zu bekommen. Doch leider sind HerrOstendorff und Herr Priesmeier vom Ministerium vorherangerufen worden, woraufhin sie nicht mehr unterschrei-ben durften, obwohl wir alle uns einig waren, dass es indieser Frage Verbesserungsbedarf gibt.
Daraufhin sind wir einen eigenen Weg gegangen. Ge-nau so ist es, Herr Kollege. Das kann ich Ihnen auch be-legen.
Wenn Sie nachschauen, werden Sie feststellen, dass wireinen eigenen Antrag eingebracht haben. Dank der her-vorragenden Arbeit von Frau Julia Klöckner hat auch dieCDU/CSU einen eigenen Antrag eingebracht.
– Sie hat nicht bei mir abgeschrieben. Wie du genauweißt, ist meiner nämlich etwas kürzer; aber in den In-halten stimmen wir sehr wohl weitestgehend überein.Im Grunde genommen wisst ihr beide ganz genau,dass es, wenn ihr nur dürftet, ein Leichtes wäre, den par-lamentarischen Mut aufzubringen und zu sagen: Jawohl,wir wissen, dass das derzeitige Arzneimittelgesetz fürdie in der Praxis Tätigen verbessert werden muss. Eswurde völlig zu Recht bemerkt, dass dieses Gesetz da-mals mit den Stimmen des ganzen Hauses auf den Weggebracht worden ist. Heute wissen aber alle, dass beidem Zustandekommen dieses Gesetzes einige wenigegravierende Fehler passiert sind. Diese Fehler könnteman mit ein bisschen gutem Willen zum Wohle der Bau-ern, der Tierärzte und vor allen Dingen der Tiere, HerrTierschutzbeauftragter, beseitigen – wenn man es nurwollte. Kollege Priesmeier weiß hundertprozentig, dasses dort Probleme gibt. Das sagen ihm nämlich seine Kol-legen, wenn er mit ihnen spricht.
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Herr Kollege Goldmann, bitte.
Ich komme zum Schluss.
In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen: Lieber
Kollege Priesmeier, wenn du als praktizierender Tierarzt
mit einer pharmakologischen Ausbildung, der auch Fort-
bildungen absolviert hat, wirklich der Meinung bist, dass
wir eine Kommission brauchen, um hoch qualifizierten
Tierärzten zu sagen, was sie mit den Bauern zu tun und
zu lassen haben, dann kann ich nur sagen: Du hast dein
Studienziel verfehlt. Wir wollen, dass es im Ausschuss
zu einer Lösung kommt. Legt in der nächsten Sitzung
euren Referentenentwurf auf den Tisch! Kein Thema,
wir setzen uns zusammen und innerhalb von einer
Stunde ist die Sache erledigt, wenn ihr nur wollt oder,
besser gesagt, wenn ihr dürft.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Friedrich Ostendorff vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Mich erstaunt schon, was ich hier in Berlin
alles lerne: dass der Bauer Ostendorff und auch der Tier-
arzt Priesmeier vom Ministerium ferngesteuert sind.
Ich habe heute Abend eine ganz neue Erkenntnis gewon-
nen. Das hat schon einen gewissen Unterhaltungswert.
Aber wir wollen uns darauf gar nicht weiter einlassen;
denn diesem Thema gebührt Sachlichkeit.
Die Behandlung von erkrankten Tieren mit Arznei-
mitteln ist ein sensibler Bereich mit direktem Bezug zum
Tier- und Verbraucherschutz. Alle arzneimittelrechtli-
chen und tiergesundheitlichen Maßnahmen in diesem
Tätigkeitsfeld müssen also mit Blick auf Verbraucher-
schutz und Tierschutz abgewogen werden.
Wir haben uns interfraktionell viele Male getroffen,
um eine einvernehmliche Regelung zu erarbeiten. Frau
Klöckner hat das ja gerade bestätigt. Umso mehr er-
staunt es uns, Frau Klöckner, dass die Opposition in ih-
rem Antrag zum Arzneimittelgesetz für Tierärzte und
Landwirte fordert, dass verbraucherschutzpolitische
Herzstück der Elften Arzneimittelgesetzesnovelle, die so
genannte 7-Tage-Regelung zur Befristung der Abgabe
von Arzneimitteln, vor allem von Antibiotika, an Tier-
halter einfach zu streichen.
Frau Klöckner, dafür haben wir überhaupt kein Ver-
ständnis. Beim Umgang mit Tierarzneimitteln ist eine
verantwortungsvolle Vorgehensweise sowohl vom Tier-
arzt als auch vom Tierhalter essenziell. Für Tierärzte gilt
dies in besonderem Maße, da sie – als Ausnahme vom
Apothekenmonopol – das Dispensierrecht haben. Das
heißt, dass Tierärzte Arzneimittel direkt abgeben dürfen.
Am Beispiel des Schweinemastskandals 2001 – ich
erinnere an die vielen mit den Autobahntierärzten ver-
bundenen Skandale – wurde uns allen doch deutlich,
dass es immer wieder Missbrauchsfälle gegeben hat. Die
darauf folgende Ländergesetzesinitiative, die in der Elf-
ten AMG-Novelle mündete, führte zu einer deutlichen
Verschärfung der Vorschriften über den Verkehr mit
Tierarzneimitteln. Ich denke, daran sollte sich Herr
Carstensen erinnern.
Die Elften AMG-Novelle wurde vom Bundesrat ein-
stimmig verabschiedet. Auch die maßgeblichen Ver-
bände waren einverstanden.
Herr Kollege Ostendorff – –
Ich möchte keine Fragen zulassen.
Keine Zwischenfragen. Gut.
Ich möchte gerne fertig werden.
– Ich sage Ihnen auch, warum. Dieses Thema eignet sichmeiner Meinung nach nicht für dieses Spielchen. Dazuist es viel zu ernst.
Mit diesem Gesetz und insbesondere der 7-Tage-Re-gelung wurde ein Fortschritt für den Verbraucherschutzerreicht, da die Regelungen entscheidend zur Minimie-rung des Arzneimittelbestandes beim Tierhalter beige-tragen haben. Eine restriktive Anwendung von Antibio-tika ist auch ein wichtiger Beitrag zur Beschränkung derAusbreitung der Antibiotikaresistenz. So wird mögli-chem Missbrauch durch klare Verbotsnormen entgegen-gewirkt. Nicht zuletzt ist die enge Bindung der Arnzei-mittelanwendung an die tierärztliche Untersuchung auchein Beitrag zum Tierschutz.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004 10173
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Friedrich Ostendorff
Dies alles will die Opposition durch die vollständigeStreichung der 7-Tage-Regelung offenkundig aufs Spielsetzen.
Die in dem Antrag genannten Voraussetzungen, die andie Stelle der 7-Tage-Regelung treten sollen, sind alsKriterien zur Befristung der Abgabe ungeeignet.
Was die Opposition will, würde im Ergebnis dazu füh-ren, dass für jede Krankheit Arzneimittel in unbegrenz-ter Menge abgegeben werden können, da eine Kopplungan bestimmte Behandlungsarten keinerlei Kontrolle er-möglicht.
Vermeintlich praxisgerecht zu sein, Frau Klöckner, hatdort seine Grenzen, wo die Belange des Verbraucher-schutzes berührt sind, und das ist hier eindeutig der Fall.
Zu dem in der Presseerklärung der CDU/CSU geäu-ßerten Vorwurf, die Bundesregierung sei nicht tätig ge-worden, um bestimmten Schwierigkeiten bei der An-wendung der Vorschriften der Elften AMG-Novelleabzuhelfen, ist festzustellen:
Das BMVEL hat unter Wahrung der 7-Tage-Regelungfür Antibiotika – das ist die einzig richtige Deutung –längst einen Entwurf zur Änderung des Arzneimittelge-setzes erarbeitet, der eine Flexibilisierung bestimmterVerkehrsregelungen enthält, und intensiv mit den Län-dern und den Verbänden, aber auch mit den Fraktionen– Sie haben es selbst bestätigt – diskutiert.
Dies erfolgte allerdings erst nach eingehender Prüfungder Frage, ob die vonseiten der Praktiker und der Bauernherangetragenen Anliegen fachlich gerechtfertigt undmit dem Verbraucherschutz vereinbar sind.Ergebnis ist eine fachlich konsistente Regelung, diebei bestimmten Krankheiten, bei denen dies sinnvoll ist,eine Ausnahme von der 7-Tage-Regelung – 31 Tage –vorsieht.
Damit ist den Hinweisen aus der Praxis präzise Rech-nung getragen worden. Gleichzeitig wird gewährleistet,dass die zuvor skizzierten Ziele der Elften AMG-Novelle erreicht werden.Zu den übrigen Punkten des CDU/CSU-Antrags: Beinäherem Hinsehen zeigt sich, dass es sich um Themenhandelt, die erstens entweder bereits im Entwurf desBMVEL enthalten sind oder zweitens nur im Rahmender EU geregelt werden können
oder drittens gar nichts im Arzneimittelgesetz zu suchenhaben. Der im Antrag eine so wichtige Rolle spielendeBegriff der Behandlung ist in der Verordnung über tier-ärztliche Hausapotheken geregelt; berücksichtigt werdenneben der Einzeltierbehandlung längst auch die Behand-lung von Tierbeständen.
Dies alles ist also nichts Neues. Im Übrigen waren sechsder neun Punkte des Antrags bereits wortgleich im An-trag der FDP,
den der VEL-Ausschuss gerade abgelehnt hat.Das alles heißt schlussfolgernd: Dieser Antrag kannnur abgelehnt werden.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/3112 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlos-sen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten LotharMark, Ute Kumpf, Dr. Christine Lucyga, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-ChristianStröbele, Dr. Ludger Volmer, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENIntensivierung der Beziehungen zwischen derEuropäischen Union, Lateinamerika und derKaribik– Drucksache 15/3205 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDie Reden hierzu sollen zu Protokoll genommen wer-den. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Lothar
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10174 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Mai 2004
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsMark, SPD, Claudia Nolte, CDU/CSU, Thilo Hoppe,Bündnis 90/Die Grünen, und Dr. Claudia Winterstein,FDP.1)Da eine Aussprache nicht stattgefunden hat, braucheich sie auch nicht zu schließen.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/3205 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 28. Mai 2004, 9 Uhr,ein.Die Sitzung ist geschlossen.