Protokoll:
15100

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 15

  • date_rangeSitzungsnummer: 100

  • date_rangeDatum: 25. März 2004

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:10 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 15/100 Abgabe einer Erklärung durch den Bun- deskanzler: Deutschland 2010: Unser Weg zu neuer Stärke Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Franz Müntefering SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . Peter Rauen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle FDP . . . . . . . . . . . . . Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Glos CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Ludwig Stiegler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . land braucht Klarheit bei der Ver- kehrsinfrastruktur (Drucksache 15/2603) . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen – zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Mitteilung der Kommission Ausbau des transeuropäischen Verkehrsnetzes: Neue Formen der Finanzierung interoperabler elektronischer Mautsysteme Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und 8902 A 8912 D 8920 C 8924 B 8925 B 8927 B 8929 B 8934 A 8938 B 8952 D Deutscher B Stenografisc 100. Si Berlin, Donnerstag, I n h a Gratulation zum 60. Geburtstag des Abgeord- neten Wilhelm Josef Sebastian und zum 50. Geburtstag der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benennung der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg) als stellvertretendes Mitglied im Parlamentarischen Beirat für nachhal- tige Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 7 g . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: 8901 A/D 8901 A 8901 B 8901 D 8901 D Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Gerhardt FDP . . . . . . . . . . . . . 8940 A 8941 D undestag her Bericht tzung den 25. März 2004 l t : Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laurenz Meyer (Hamm) CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicolette Kressl SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau fraktionslos . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. Lippold (Of- fenbach), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Deutsch- 8943 D 8944 C 8946 C 8949 B 8950 B des Rates über die allgemein Einführung und die Interoper bilität elektronischer Mautsy teme in der Gemeinschaft e a- s- II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 – zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 1999/62/EG über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Ver- kehrswege durch schwere Nutz- fahrzeuge (Drucksachen 15/1153 Nr. 2.33, 15/1547 Nr. 2.128, 15/2588) . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Renate Blank, Volkmar Uwe Vogel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Planungs- und Finanzie- rungssicherheit für die ICE-Stre- cken ABS/NBS Nürnberg–Erfurt (Verkehrsprojekt „Deutsche Ein- heit“ Nr. 8.1) und Erfurt–Leipzig/ Halle (Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nr. 8.2) schaffen (Drucksache 15/2653) . . . . . . . . . . . . . d) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Bericht zum Ausbau der Schie- nenwege 2003 (Drucksache 15/2323) . . . . . . . . . . . . . e) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Straßenbaubericht 2003 (Drucksache 15/2456) . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung eisen- bahnrechtlicher Vorschriften (Drucksache 15/2743) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gesamtverkehrskonzept Südbaden – Bündelung von Schiene und Straße im Rheingraben (Drucksache 15/2470) . . . . . . . . . . . . . . . . Eduard Oswald CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . 8953 A 8953 A 8953 B 8953 B 8953 B 8953 C 8953 C 8955 C Horst Friedrich (Bayreuth) FDP . . . . . . . . . . Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Grund CDU/CSU . . . . . . . . . . . Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Faße SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . Reinhard Weis (Stendal) SPD . . . . . . . . . . . . Manfred Grund CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . Karin Rehbock-Zureich SPD . . . . . . . . . . . . Renate Blank CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Renate Blank CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Danckert SPD . . . . . . . . . . . . . . . . Iris Gleicke SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Grund CDU/CSU . . . . . . . . . . . Renate Blank CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Zusatzabkommen vom 15. Oktober 2003 zu dem Ab- kommen vom 4. Oktober 1954 zwi- schen der Bundesrepublik Deutsch- land und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteue- rung auf dem Gebiet der Erbschaft- steuern (Drucksache 15/2721) . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung der im De- zember 2002 vorgenommenen Ände- rungen des Internationalen Überein- kommens von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und des Internationalen Codes für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen (Drucksache 15/2700) . . . . . . . . . . . . . 8958 A 8960 A 8960 B 8963 A 8964 A 8964 C 8964 D 8967 A 8967 B 8968 D 8969 D 8971 B 8971 D 8972 A 8972 C 8973 B 8973 D 8974 C 8976 C 8976 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 III Tagesordnungspunkt 17: a) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Übereinkommen vom 19. August 2002 zwischen den Ver- tragsstaaten des Übereinkommens zur Gründung einer Europäischen Weltraumorganisation und der Eu- ropäischen Weltraumorganisation über den Schutz und den Austausch geheimhaltungsbedürftiger Infor- mationen (Drucksachen 15/2545, 15/2692) . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl der Arbeit- nehmervertreter in den Aufsichtsrat (Drucksachen 15/2542, 15/2739) . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Mit- teilung der Kommission an den Rat Förderung der Privatwirtschaft im Mittelmeerraum (inkl. 13769/03 ADD 1 – Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen: Ausführ- liche Folgenabschätzung) (Drucksachen 15/1948 Nr. 1.40, 15/2204) Tagesordnungspunkt 5: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes über die parla- mentarische Beteiligung bei der Ent- scheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Aus- land (Parlamentsbeteiligungsgesetz) (Drucksache 15/2742) . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Jörg van Essen, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei Aus- landseinsätzen der Bundeswehr (Auslandseinsätzemitwirkungsge- setz) (Drucksache 15/1985) . . . . . . . . . . . . . Gernot Erler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckart von Klaeden CDU/CSU . . . . . . . . . . . Dr. Dieter Wiefelspütz SPD . . . . . . . . . . . Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8976 D 8977 A 8977 B 8977 C 8977 C 8977 D 8979 D 8981 C 8982 A Eckart von Klaeden CDU/CSU . . . . . . . . Jörg van Essen FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Bartels SPD . . . . . . . . . . . . . Ronald Pofalla CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zum Schutz der Bevölke- rung vor schweren Wiederholungsta- ten durch nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsver- wahrung (Drucksache 15/2576) . . . . . . . . . . . . . . . . Ronald Pofalla CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ Jörg van Essen FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: 60. Tagung der Menschenrechts- kommission der Vereinten Natio- nen – eine Chance für die Men- schenrechte (Drucksache 15/2755) . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Hermann Gröhe, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und der Fraktion der FDP: Stärkung der Menschenrechte in der interna- tionalen Politik – zur 60. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen (Drucksache 15/2741) . . . . . . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der 8982 C 8983 D 8985 C 8988 A 8989 D 8990 D 8992 B 8992 B 8993 D 8995 C 8996 B 8997 D 8999 B 8999 D 9002 A 9003 A 9003 A IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 Fraktionen der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Stärkung der Menschenrechte in Afghanistan (Drucksachen 15/2168, 15/2740). . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Auschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für eine Reform und Stärkung der Menschenrechtskommission (Drucksachen 15/2174, 15/2509). . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Hermann Gröhe, Dr. Egon Jüttner, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU so- wie der Abgeordneten Rainer Funke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und der Fraktion der FDP: Den Frie- densprozess im Sudan unterstützen (Drucksachen 15/2152, 15/2715) . . . . f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für die Einhaltung der grund- legenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay (Drucksachen 15/2175, 15/2768) . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay (Drucksache 15/2756) . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Gröhe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Christa Nickels BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Funke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) SPD . . . . . . . . . Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9003 B 9003 B 9003 C 9003 C 9003 D 9003 D 9005 C 9007 A 9008 A 9009 A 9010 C Claudia Roth, Menschenrechts- beauftragte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Haibach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Große Anfrage der Abgeordneten Johannes Singhammer, Klaus Hofbauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Klarstellung der Auswir- kungen der EU-Osterweiterung (Drucksache 15/2438) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Hofbauer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Türk FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Scheuer CDU/CSU . . . . . . . . . . Veronika Bellmann CDU/CSU . . . . . . . . . . . Jörg Vogelsänger SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn CDU/CSU . . . . . . . . Dr. Michael Fuchs CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Anna Lührmann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kretschmer CDU/CSU . . . . . . . Andreas Scheuer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . Anna Lührmann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Engelbert Wistuba SPD . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: a) Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Christel Humme, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ausbau von Förderungsangeboten für Kinder in vielfältigen Formen als zentraler Beitrag öffentlicher Mitverantwortung für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kin- dern (Drucksache 15/2580) . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Klaus Haupt, Ina Lenke, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der FDP: Faire Chancen für jedes Kind – Für eine 9011 B 9012 C 9014 C 9014 C 9016 A 9017 C 9018 D 9019 C 9020 D 9023 A 9023 D 9024 B 9026 A 9026 C 9027 D 9028 B 9028 D 9030 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 V bessere Bildung, Erziehung und Be- treuung von Anfang an (Drucksache 15/2697) . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Ingrid Fischbach, Maria Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ausbau und Förderung der Tagespflege als Form der Kin- derbetreuung in der Bundesrepublik Deutschland (Drucksache 15/2651) . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Frauen und Männer beim Wiedereinstieg in den Beruf fördern (Drucksache 15/1983) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Mülltrennung vereinfachen – Haushalte entlasten (Drucksache 15/2193) . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Homburger FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Bierwirth SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tanja Gönner CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Antje Vogel-Sperl BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd Friedrich Bollmann SPD . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Carola Reimann, Walter Schöler, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Antje Hermenau, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Qualitätssicherung des deutschen Forschungssystems (Drucksache 15/2665) . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Helge Braun, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ressortforschung des Bundes effizienter gestalten und evaluieren (Drucksache 15/1981) . . . . . . . . . . . . . 9030 C 9030 D 9030 D 9031 A 9031 B 9032 B 9033 C 9036 A 9037 B 9038 B 9038 C Tagesordnungspunkt 12: Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Wolfgang Schäuble, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 35 und 87 a) (Drucksache 15/2649) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Gründung einer Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA-Er- richtungsgesetz) (Drucksache 15/2720) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Hermann Gröhe, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU: Die Berliner Afghanistankonferenz – eine neue Chance für mehr Kohärenz und Koordinierung beim Wiederaufbau (Drucksache 15/2578) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Fort- setzung des Engagements der Bundes- regierung für den Wiederaufbau- und Stabilisierungsprozess in Afghanistan (Drucksache 15/2757) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe CDU/CSU . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der FDP: Initiative des Europäischen Parlaments, des Eu- ropäischen Rates und der UNO zur Förderung des Sports nachhaltig unter- stützen (Drucksache 15/2418) . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9038 D 9039 A 9039 B 9039 B 9039 C 9041 D 9042 C 9043 A VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: 60. Tagung der Menschenrechts- kommission der Vereinten Nationen – eine Chance für die Menschenrechte (Tagesord- nungspunkt 7) Petra Pau fraktionslos . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Ausbau von Förderungsangeboten für Kinder in vielfältigen Formen als zen- traler Beitrag öffentlicher Mitverant- wortung für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern – Faire Chancen für jedes Kind – Für eine bessere Bildung, Erziehung und Betreuung von Anfang an – Ausbau und Förderung der Tagespflege als Form der Kinderbetreuung in der Bundesrepublik Deutschland – Frauen und Männer beim Wiederein- stieg in den Beruf fördern (Tagesordnungspunkt 9 a und b) Kerstin Griese SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rita Streb-Hesse SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anton Schaaf SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Eichhorn CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Fischbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . Rita Pawelski CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Haupt FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Qualitätssicherung des deutschen For- schungssystems – Ressortforschung des Bundes effizien- ter gestalten und evaluieren (Tagesordnungspunkt 11 a und b) Dr. Carola Reimann SPD . . . . . . . . . . . . . . . Helge Braun CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9043 B 9044 A 9046 A 9046 C 9047 C 9049 A 9050 A 9051 A 9052 B 9053 A 9054 B 9055 D Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Flach FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 35 und 87 a) (Ta- gesordnungspunkt 12) Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . . . . . . Jürgen Herrmann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) CDU/CSU . . . . . . Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau fraktionslos . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Gründung einer Bundesanstalt für Immobilienaufga- ben (BImA-Errichtungsgesetz) (Tagesord- nungspunkt 13) Bernhard Brinkmann (Hildesheim) SPD . . . Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU . . . . . . . Antje Hermenau BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Günter Rexrodt FDP . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Die Berliner Afghanistan-Konferenz – eine neue Chance für mehr Kohärenz und Koordinierung beim Wiederaufbau – Fortsetzung des Engagements der Bun- desregierung für den Wiederaufbau- und Stabilisierungsprozess in Afghanis- tan (Tagesordnungspunkt 14, Zusatztagesord- nungspunkt 5) Detlef Dzembritzki SPD . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Leibrecht FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 9058 C 9059 B 9060 A 9060 D 9062 A 9063 B 9064 C 9065 B 9065 D 9066 C 9068 A 9070 A 9071 B 9072 B 9074 D 9075 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 VII Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Initiative des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rates und der UNO zur Förderunng des Sports nach- haltig unterstützen (Tagesordnungspunkt 15) Axel Schäfer (Bochum) SPD . . . . . . . . . . . . . Peter Letzgus CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Riegert CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . Winfried Hermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlef Parr FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9076 A 9078 A 9079 B 9080 B 9081 B 9082 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 8901 (A) (C) (B) (D) 100. Si Berlin, Donnerstag, Beginn: 9
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    1) Anlage 8 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9043 (A) (C) (B) (D) schenrechte allzu oft auf der Strecke bleiben. Das erfah- ren wir aus Afghanistan, aus dem Irak und aus Guanta- Bildung, Erziehung und Betreuung von Kin- dern aggressiven Politik der USA geprägt, bei der die Men- trag öffentlicher Mitverantwortung für die Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: 60. Tagung der Men- schenrechtskommission der Vereinten Natio- nen – eine Chance für die Menschenrechte (Ta- gesordnungspunkt 7) Petra Pau (fraktionslos): Vor eineinhalb Wochen fand in Genf die 60. Sitzung der UN-Menschenrechts- kommission statt. Ich will die Debatte hier aufgreifen und kurz auf die Rede von Bundesaußenminister Fischer eingehen. Ich stimme Ihnen durchaus zu, denn Sie haben betont: Wir können nur dann erfolgreich sein, wenn wir den internationalen Terrorismus mit menschen- rechtlichen Mitteln bekämpfen – nicht ohne oder gar gegen sie. Dies ist eine Frage unserer eigenen Glaubwürdigkeit. Darin stimmt die PDS im Bundestag mit Ihnen, Herr Außenminister, völlig überein. Wir wissen jedoch, dass Sie über Ansprüche und nicht über die Wirklichkeit ge- sprochen haben. Diese wird nicht zuletzt von einer Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Andres, Gerd SPD 25.03.2004 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 25.03.2004 Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 25.03.2004 Dautzenberg, Leo CDU/CSU 25.03.2004 Hartnagel, Anke SPD 25.03.2004 Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25.03.2004 Löning, Markus FDP 25.03.2004 Riemann-Hanewinckel, Christel SPD 25.03.2004 Simm, Erika SPD 25.03.2004 Spahn, Jens CDU/CSU 25.03.2004 Wolf (Frankfurt), Margareta BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25.03.2004 Anlagen zum Stenografischen Bericht namo. Es ist auch kein Versehen, dass es auch die USA sind, die sich einer von der UNO eingesetzten Recht- sprechung bei den Menschenrechten entziehen. Herr Fischer, Sie haben das in Ihrer Genfer Rede diplomatisch übersprungen. Ich will das hier nachholen; denn die USA sind mit ihrer aktuellen Politik Teil des Problems. Außenminister Fischer hat sich des Weiteren gegen jedwede Diskriminierung gewandt, „sei es Diskriminie- rung von Kindern, Frauen oder aufgrund von religiöser, ethnischer oder nationaler Zugehörigkeit …“ Auch das ist richtig. Deshalb möchte ich an ein Versprechen von Rot-Grün erinnern: Sie wollten seit langem ein Antidis- krimierungsgesetz verabschieden. Die PDS ist gern be- reit, dabei zu helfen, zumal wir seit der vorigen Wahlpe- riode einen entsprechenden Entwurf parat haben. Ich sage das auch mit Blick auf aktuelle Debatten; sei es die so genannte Kopftuchdebatte oder der anhaltende Streit um ein Zuwanderungsgesetz. Diskriminierungen sind keine Altlasten aus der Dritten Welt: Sie finden auch hier immer wieder geistige Nahrung und sie finden vor allem auch praktisch statt. Herr Außenminister, Sie haben sich gegen spezifische Menschenrechtsverletzungen gewandt, insbesondere ge- gen solche, die Frauen und Kinder betreffen. Man braucht nur die wiederkehrenden Berichte von Amnesty International zu lesen, um zu wissen: Das Leid ist groß. Hierzulande ist aber noch immer nichtstaatliche, geschlechtsspezifische Verfolgung kein anerkannter Asylgrund. Zudem harren noch immer Teile der UN- Kinderrechtskonvention der Ratifizierung durch die Bundesrepublik Deutschland. Sie wissen, wovon ich spreche; denn Bündnis 90/Die Grünen hat das früher selbst beklagt. Ich teile die Erwartungen, die Sie in die Antisemitis- muskonferenz der OSZE Ende April in Berlin setzen. Wir haben erst vor wenigen Monaten hier im Bundestag über den grassierenden Antisemitismus in Deutschland debattiert. Wir alle wissen: Er ist kein deutsches Phäno- men. Umso mehr komme ich aus aktuellem Anlass auf mein Eingangszitat zurück: Der internationale Terrorismus kann nur mit men- schenrechtlichen Mitteln erfolgreich bekämpft wer- den – nicht ohne oder gar gegen sie. Das gilt für alle Regionen und für alle Zeiten. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Ausbau von Förderungsangeboten für Kin- der in vielfältigen Formen als zentraler Bei- 9044 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) – Faire Chancen für jedes Kind – Für eine bessere Bildung, Erziehung und Betreuung von Anfang an – Ausbau und Förderung der Tagespflege als Form der Kinderbetreuung in der Bundes- republik Deutschland – Frauen und Männer beim Wiedereinstieg in den Beruf fördern (Tagesordnungspunkt 9 a bis d) Kerstin Griese (SPD): Heute Morgen habe ich im Radio den Satz gehört: „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine erschöpfte Frau“. Wir, die Sozialdemo- kratinnen und Sozialdemokraten, meinen: Das soll nicht mehr so sein. Es soll viel mehr erfolgreiche Frauen ge- ben, aber natürlich auch erfolgreiche Männer. Aber hin- ter ihnen soll nicht eine erschöpfte Frau stehen, sondern sie sollen gemeinsam Kinder erziehen und berufstätig sein können. Das ist unsere Vorstellung einer zukunftsfä- higen Gesellschaft: dass Frauen und Männer gleicherma- ßen ihre gute Bildung anwenden, erwerbstätig sein, im Berufsleben erfolgreich sein und selbstverständlich Kin- der haben können; sie sollen beides gut und mit einem guten Gewissen miteinander vereinbaren können. Deshalb sollte es in Zukunft eigentlich heißen: „Hin- ter jeder erfolgreichen Frau steckt eine gute Kinderbe- treuung.“ Eine Umfrage hat ergeben, dass 70 bis 80 Prozent der Frauen, die ein Kind oder mehrere Kinder haben und die deswegen zu Hause bleiben, gerne arbeiten gehen wür- den. Das zeigt uns ganz deutlich: Wir müssen mehr tun, um Frauen zu ermöglichen, mit Kindern berufstätig zu sein. Wir müssen mehr tun, um Männern zu ermögli- chen, mehr Zeit für ihre Kinder zu haben. Ich bin sehr froh, dass es inzwischen einigermaßen Übereinstim- mung darin gibt, dass wir mehr in Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern investieren müssen. Diese Übereinstimmung gibt es zumindest bei den hier vorlie- genden Anträgen. Heute Morgen war allerdings von der Opposition nichts davon zu hören, wie wichtig mehr In- vestitionen für Kinder für die Zukunft unseres Landes sind. Zu häufig wird das Thema ideologisch verbrämt. Immer wieder gibt es gerade bei den Konservativen Vor- urteile gegen Kinderbetreuung. Ich bin sehr dankbar, dass der Bundeskanzler heute Morgen in seiner Regierungserklärung deutlich gemacht hat, welchen zentralen Stellenwert dieses Thema für die Zukunft unseres Landes hat. Ich bin sehr froh, dass er gesagt hat, dass Kinder eigentlich ein Synonym für Zu- kunft und Zuversicht sind, und dass das, was wir in der Regierungskoalition tun, die Zukunftschancen von Kin- dern und Jugendlichen verbessern soll und verbessern wird. Dabei steht – da sind wir uns sicherlich alle einig – das Wohl des Kindes im Mittelpunkt. Längst sind die Zeiten vorbei, wo man einen Blumentopf damit gewin- nen konnte, Kinderbetreuungseinrichtungen zu verteu- feln oder gar von „Rabenmüttern“, die ihre Kinder „ab- geben“ zu sprechen. Das können zum Beispiel unsere französischen Nachbarinnen sowieso nicht verstehen; das Wort „Rabenmutter“ gibt es in anderen Sprachen noch nicht einmal. Wir alle wissen spätestens seit den Studien der OECD, dass Kinderbetreuung vor allem gut ist für die Kinder, dass soziale Integration ermöglicht wird, dass Bildungschancen verbessert werden und dass das auch gut ist für die Eltern. Gerade für die Eltern be- deutet es, dass sie erwerbstätig sein können, dass sie Fa- milie und Berufstätigkeit verbinden können. Die CDU/CSU fordert in ihrem Antrag zum Wieder- einstieg in den Beruf Dinge, die wir eigentlich größten- teils schon längst machen. Das zeigt wieder einmal, wie sehr Sie eigentlich der Realität hinterherhinken. Es ist gut und schön, dass Sie feststellen, dass der Anteil der gut ausgebildeten weiblichen Arbeitskräfte steigt und dass der Bedarf an gut ausgebildeten und motivierten Frauen steigt. Das ist die Grundlage für den Beschluss der Bundesregierung gemeinsam mit den Spitzenverbän- den der deutschen Wirtschaft, um die Chancengleichheit gerade in der Wirtschaft zu steigern. Diese Erkenntnis ist also nicht neu, allein Ihnen fehlt die Glaubwürdigkeit, auch tatsächlich etwas zu tun, um Veränderungen herbei- zuführen; denn sie haben in den 80er- und 90er-Jahren keine nennenswerten Initiativen oder gar Erfolge auf- weisen können. Wir haben zum Beispiel mit der neuen Elternzeit Möglichkeiten geschaffen, die die Vereinbarkeit von Fa- milie und Beruf ganz deutlich verbessern. Wir wollen dabei auch die Beteiligung der Männer an der Familien- und Erziehungsarbeit stärken. Ich weiß, dass das immer noch ein Manko ist und dass nur etwa zwei Prozent der Männer tatsächlich Elternzeit nehmen. Da müssen die Männer besser werden. Da müssen auch Wirtschaft, Un- ternehmen und Arbeitgeber besser werden, indem sie Familienarbeit als einen wichtigen Teil des Lebens aner- kennen und indem sie auch in den Betrieben und den Unternehmen ein Klima schaffen, in dem mehr Männer Elternzeit nehmen können und nehmen werden. Wir ha- ben den gesetzlichen Anspruch auf Teilzeitarbeit wäh- rend der Elternzeit verbessert; die zulässige Wochen- stundenzahl bei Teilzeitarbeit wurde auf 30 Stunden angehoben. Das unterstützt auch die ebenfalls neu einge- führte gemeinsame Elternzeit von Müttern und Vätern. Gemeinsame Zeiten bedeuten, gemeinsam mehr Zeit für die Familie zu haben. Das war uns wichtig. Die CDU/CSU fordert maßgeschneiderte Konzepte in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft zu entwickeln, da- mit die Frauen nach einer Familienphase wieder besser in den Beruf einsteigen können. Auch hier gilt: schön gedacht, aber wir machen es schon! Unter dem Dach der „Allianz für Familie“ sind Initiativen des Bundesminis- teriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für eine bessere Balance von Familie und Arbeitswelt ge- bündelt. Starke Partner aus Wirtschaft, Verbänden und Politik setzen sich öffentlich und beispielhaft für eine Unternehmenskultur und Arbeitswelt ein, die für alle Beteiligten Gewinn bringt. Die lokalen Bündnisse für Familie sind Zusammenschlüsse beispielsweise von Stadträten, Verwaltung, Unternehmen, Kammern, Ge- werkschaften, Kirchengemeinden, Vereinen, Wohlfahrts- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9045 (A) (C) (B) (D) verbänden und Initiativen auf lokaler Ebene, die sich für mehr Familienfreundlichkeit einsetzen. Ich bin froh, dass es inzwischen etwa 30 Bündnisse von Nord- bis Süddeutschland, von West- bis Ostdeutschland gibt, die sich dieser Initiative angeschlossen haben. Unsere Reformen am Arbeitsmarkt sind ein wichtiger Fortschritt, um gerade Frauen den Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen. Damit werden die Jobcenter dazu verpflichtet, Familien mit Kindern bei der Suche nach geeigneten Beschäftigungsmöglichkeiten und Betreu- ungsmöglichkeiten zu helfen. Es wird eine passgenauere Vermittlung ermöglicht; die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erhält bei der Beratung und Vermittlung in den Jobcentern eine besondere Bedeutung. Das ist ein wichtiger Paradigmenwechsel; denn bislang galten ge- rade die Alleinerziehenden – in den meisten Fällen allein erziehende Frauen –, als nicht erwerbsfähig, weil sie sich um die Kinderbetreuung kümmern mussten. Mit den Re- formen am Arbeitsmarkt erhalten auch diese Frauen – durch die Arbeitsvermittlung, die Beratung und die Weiterqualifizierung – eine Chance, Familie und Beruf zu vereinbaren. Ich finde es immer sehr interessant, wenn die CDU/ CSU von Wahlfreiheit von Frauen und Männern spricht. Denn gerade das, was die SPD und die Grünen in der Bundesregierung machen, bedeutet, die Wahlfreiheit zu verbessern. Nur mit einer qualitativ guten Kinderbetreu- ung, mit Wahlmöglichkeiten zwischen Tagesmüttern und Einrichtungen, mit dem guten Gewissen, dass die Kinder auch gut betreut und gefördert werden, ist diese Wahl- freiheit möglich. Wahlfreiheit heißt heutzutage eben nicht, den Frauen ein Haushaltsgeld zu zahlen, damit sie zu Hause bleiben. Abgesehen davon ist die CDU/CSU bis heute die Antwort schuldig geblieben, wie sie dieses Haushaltsgeld eigentlich finanzieren will, mit dem Sie die Frauen davon abhalten will, erwerbstätig zu sein. Im Mittelpunkt unseres Konzeptes stehen große In- vestitionen in die Infrastruktur der Kinderbetreuung, steht die Bereitstellung eines flexiblen Angebots für Kinder unter drei Jahren. Das wollen wir, um den Kin- dern etwas Gutes zu tun und um die Wahlfreiheit von Frauen und Männern zu fördern, sich entscheiden zu können, entweder zwischen Familie und Beruf oder für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das werden immer mehr junge Frauen und Männer wollen. Dazu brauchen wir eine bedarfsgerechte Angebots- struktur, wir brauchen gute Qualität, zeitliche Flexibili- tät, wir brauchen bezahlbare und vielfältige Angebote für Kinder, halbtags und ganztags, in kommunalen Ein- richtungen, in denen der Wohlfahrtspflege, durch Tages- mütter, in bürgerschaftlicher Initiative oder auch über kommerzielle Dienstleister. Ich bin der festen Überzeu- gung, dass wir auch da die Wirtschaft und die Unterneh- men noch stärker in die Verantwortung nehmen müssen. Denn auch Kinderbetreuung und Dienstleistungen, die mehr Frauen Erwerbstätigkeit ermöglichen, werden in Zukunft einen größeren Markt haben und vermehrt nach- gefragt werden. Ich finde es gut, dass wir uns gemeinsam für den Aus- bau der Kinderbetreuung einsetzen. Es gibt aber auch Unterschiede: Die FDP meint, dass der Bund am Ende der Föderalismusdebatte, in der wir uns gerade befinden, die Zuständigkeit für die Kinderbetreuung haben wird. Ich denke, es ist auch eine gute Chance, ob wir nicht an einer dezentralen Lösung und an den speziellen Mög- lichkeiten und Chancen der Gemeinden vor Ort festhal- ten. Sehr wohl ist es aber die Verantwortung des Bundes, die Kommunen zu stärken, damit sie ihren Aufgaben wirklich gerecht werden können. Da kann ich nur sagen, dass vonseiten der Opposition gerade im Vermittlungs- ausschuss viele Steine in den Weg gelegt wurden. Wenn es nicht die Verwässerung der Gemeindefinanzreform durch die Opposition gegeben hätte, wenn es nicht die Veränderungen von Hartz IV im Vermittlungsausschuss gäbe, dann wären wir jetzt auch in dieser Frage schon weiter. Sie wissen, dass die Zusage der Ministerin Renate Schmidt und die Zusage des Bundeskanzlers steht: Wir werden die Kommunen entlasten, damit sie 1,5 Milliarden Euro in bessere Betreuung für Kinder un- ter drei Jahren investieren können. Das ist eine gute Nachricht und ein ganz wichtiger Bereich, wenn wir in Deutschland zukunftsfähiger und zuversichtlicher wer- den wollen. Zum Schluss gehe ich noch auf den internationalen Vergleich ein; denn wir wissen inzwischen alle, dass in den Ländern, die eine höhere Geburtenrate als Deutsch- land haben auch die Frauenerwerbsquote höher ist und dass in diesen Ländern die Kinderbetreuung besser ist. Wir sind zwar in Deutschland Spitzenklasse, was die fi- nanziellen Transfers an Kinder und Familien angeht, aber wir sind am Ende der Tabelle, wenn es um die In- frastruktur für Kinder geht. Dabei wissen wir inzwischen alle: Gute Betreuung ist die Voraussetzung für mehr Kin- der. Beispielsweise liegt die Geburtenrate in Dänemark bei 1,74 – 100 Frauen bekommen also im Durchschnitt 174 Kinder –, in Deutschland aber bei 1,29. Gleichzeitig sind in Dänemark 72 Prozent der Frauen berufstätig, in Deutschland aber nur 58 Prozent. Norwegen, Dänemark und Schweden sind die Länder, in denen fast drei Viertel der Frauen arbeiten und mehr Kinder bekommen als in Deutschland. In den südeuropäischen Ländern wie Spa- nien und Griechenland dagegen bleiben die Frauen öfter zu Hause als in Deutschland, bekommen aber auch we- niger Kinder. Das zeigt sehr deutlich, wo wir stehen und was wir verändern müssen. In diesem Sinne appelliere ich an alle Fraktionen, nach einem guten und vor allem auch nach einem schnellen Weg zu suchen, damit wir die Kinderbetreuung gerade für die Kleinsten ausbauen kön- nen. „Auf den Anfang kommt es an“ – dieses wichtige und richtige Motto unserer Politik will ich ausdrücklich un- terstützen: Gerade in die Kleinsten müssen wir mehr in- vestieren – mehr Ideen und Kreativität, aber auch finan- zielle Mittel –, damit die Kinderbetreuung besser wird. Ich bitte Sie deshalb: Lassen Sie uns einmal parteipoliti- sche und föderale Diskussionen überwinden und ge- meinsam an einer Kraftanstrengung arbeiten, damit wir die Kinderbetreuung ausbauen können. Wir haben damit einen Anfang gemacht: Unser Programm mit einem Um- fang von 4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen und 4,5 Millarden Euro in den nächsten Jahren für die 9046 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) Betreuung der unter Dreijährigen bedeuten eine wichtige Weichenstellung in der Politik. Es ist ein Zeichen für Zu- kunftsfähigkeit und für Zuversicht. Rita Streb-Hesse (SPD): Die heutige Debatte über die Dringlichkeit frühkindlicher Förderung, die Notwen- digkeit der Bereitstellung eines bedarfsgerechten öffent- lichen Angebots und einer Verbesserung der Qualität zeigt, dass mit dem Schock aus PISA, IGLU und zahlrei- chen anderen Untersuchungen vieles in Bewegung ge- kommen ist. Die Richtung ist gut – auch und insbeson- dere für das Gelingen von Integration. Spätestens seit PISA ist mehr als deutlich geworden, dass wir uns in der Bundesrepublik immer noch schwer tun, soziale Herkunft und Bildung zusammenzubringen. Kinder und Jugendliche ausländischer Herkunft sind da- bei doppelt benachteiligt: zum einen durch die überwie- gende Herkunft aus bildungsfernen Familien, zum An- dern durch migrationsspezifische Probleme. Die Folgen sind bekannt: häufige Zurückstellung bei Schulbeginn, überproportionaler Haupt- und Sonderschulbesuch, Schulabbruch, nicht ausreichende Schulabschlüsse und damit wenig Chancen für eine berufliche Qualifizierung. Auch hier ist der Anfang entscheidend. Eine konse- quente altersgerechte Elementarförderung als Funda- ment für den Bildungserfolg und von Chancengleichheit aller Kinder muss mehr als bisher die Situation von Migrationskindern und ihren Eltern berücksichtigen. Bund, Länder und Kommunen haben dazu mittlerweile richtige und wichtige Maßnahmen auf den Weg ge- bracht, unter anderem zur Sprachförderung vor Schulbe- ginn und zur Förderung der mehrsprachigen Entwick- lung und interkulturellen Bildung in den Kindergärten. All dies korrespondiert mit der von der Bundesregierung angeschobenen „Nationalen Qualitätsinitiative im Sys- tem der Tageseinrichtungen für Kinder“, die sich als ei- nen Schwerpunkt die Arbeit mit Migrantenkindern und ihren Eltern setzt. Erste Erfolge sind schon erkennbar. Der Anteil am Kindergartenbesuch steigt, wenn auch regional unter- schiedlich. Die Ursachen dafür sind zum Teil fehlende Angebote, zum Teil hohe Elternbeiträge. Mehr und mehr werden Angebote genutzt, die wie das Projekt Hippy eine gemeinsame Sprachförderung für Mütter und Kin- der ermöglichen. Aber nicht nur ein Kindergartenplatz wird von Eltern mit Migrationshintergrund stärker als bislang vermutet nachgefragt, sondern auch weitere Betreuungsmöglich- keiten. Die erfreulichen Zahlen aus meiner Heimatstadt Frankfurt sind dafür ein guter Beleg: Bei einem Anteil ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an der Ge- samteinwohnerzahl von 27 Prozent liegt der Anteil ihrer Kinder in allen Einrichtungen zur Kindertagesbetreuung bei mittlerweile 40 Prozent. Und bei den Angeboten zur Kleinkinderbetreuung, dem Fokus unserer heutigen Debatte, hat uns der Ausbau mit dem Ziel, jährlich 200 weitere Plätze zu schaffen, bereits begonnen. Und auch hier findet sich der hohe Prozentsatz von 40 Pro- zent. Diese Zahlen lassen darüber hinaus die Schlussfolge- rung zu, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Kind auch in Familien mit Migrationshintergrund an Bedeutung gewinnt. Viele ausländische Mütter sind wie ihre deut- schen Geschlechtsgenossinnen wegen des niedrigen Ein- kommens des Mannes auf eine Erwerbstätigkeit ange- wiesen. Andere wollen arbeiten, insbesondere schon bei uns geborene und/oder hier aufgewachsene Frauen, die gute Schul- und Ausbildungsabschlüsse haben. So unter- stützen auch hier Strukturveränderungen den Weg einer gleichberechtigten Teilhabe. Dieser kurze Ein- bzw. Ausblick verdeutlicht, dass gute öffentliche Betreuungsangebote mit früher Förde- rung ebenso unabdingbare Voraussetzungen für einen er- folgreichen Integrationsprozess sind. Sie leisten einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit, verbessern die Zu- kunftschancen von Kindern und stärken die Erziehungs- kompetenz der Eltern. Sie sind darüber hinaus eine Mög- lichkeit, Kinder mit Migrationshintergrund und ihre Eltern in der Auseinandersetzung mit neuen Lebensbe- dingungen und kulturellen Einflüssen zu unterstützen. Die Richtung ist eine gute – gut für die Kinder, gut für die Eltern, gut für die Wirtschaft und gut für die Gesell- schaft – sie ist gut für das Heute und die Zukunft unseres Landes. Caren Marks (SPD): Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehört zu den vorrangigen familienpolitischen Zielen der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode. Die SPD legt dabei den Schwerpunkt auf den Ausbau qualitativ hochwertiger, bedarfsdeckender und zeitlich flexibler Bildungs- und Betreuungsangebote. Besonders das Angebot der Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren soll in den alten Bundesländern erweitert und in den neuen Bundesländern auf seinem hohen Stand erhal- ten bzw. weiterentwickelt werden. Deutschland weist auf dem Gebiet der Kinderbetreu- ung einen strukturellen Rückstand im Vergleich zu ande- ren westeuropäischen Staaten auf. Der Ausbau von Betreuungsangeboten besitzt für die gesellschaftliche Entwicklung eine herausragende Be- deutung. So stärken Betreuungsangebote den sozialen Zusammenhalt und gewährleisten Eltern die Vereinbar- keit von Familie und Beruf. Durch ein besseres Betreu- ungsangebot wird der „bestausgebildetsten Frauengene- ration aller Zeiten“ im stärkeren Maß als bisher ermöglicht, erwerbstätig zu sein. Betreuungsangebote verbessern die Innovationsfahigkeit von Gesellschaft und Wirtschaft. Aus bildungspolitischer Sicht bringt der Ausbau eines vielfältigen und flexiblen Betreuungsangebotes erhebli- che Vorteile. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Kinder vor allem in den ersten Lebensjahren über ein enormes Lernpotenzial verfugen, welches für die Entwicklung kognitiver, motorischer und sprachlicher Gewandtheit und sozialer Kompetenz besser genutzt werden sollte. Bildung und Erziehung dürfen also nicht erst in der Schule beginnen. Die frühzeitige Förderung von Kindern wirkt sich positiv auf den weiteren Weg in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9047 (A) (C) (B) (D) Schule und Ausbildung aus und sichert damit Lebens- chancen. Andererseits werden durch unzureichende För- derung von Kindern in dieser Altersgruppe die Weichen für Benachteiligung gestellt. So weisen Kinder im Vor- schulalter zunehmend erhebliche Entwicklungsstörun- gen im Bereich Motorik, Sprache und Sozialverhalten auf. In frühkindliche Bildung zu investieren ist weit günstiger, als für Folgen der Versäumnisse aufzukom- men. Die jahrelange Vernachlässigung der frühkindlichen Förderung hat zu dem traurigen Ergebnis gefuhrt, dass Kinder aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Familien deutlich geringere Bildungschancen haben als andere Gleichaltrige. Die negativen Konsequenzen wir- ken ein Leben lang. Auch die Ergebnisse der PISA-Studie haben uns ein- dringlich vor Augen geführt, dass hier in puncto Chan- cengerechtigkeit ein erheblicher Nachholbedarf an bil- dungspolitischen Maßnahmen besteht. Diese Situation ist wesentlich auf die eklatante Vernachlässigung dieses Bereichs durch die damalige CDU/CSU-FDP-Regierung zurückzufuhren. 16 Jahre lang wurde die gesellschafts-, sozial- und wirtschaftspolitische Bedeutung der qualita- tiven und quantitativen Kinderbetreuung in ihrer Regie- rungszeit ignoriert, meine Damen und Herren von der Opposition. In Abstimmung und Kooperation mit den Ländern und Kommunen, Spitzenverbänden der freien Wohl- fahrtspflege und der Wirtschaft sowie anderen gesell- schaftlichen Gruppen treiben wir den an Kriterien orien- tierten bedarfsgerechten Ausbau qualifizierter Angebote voran. Dabei setzen wir auf den Ausbau der Qualitätssi- cherung, Qualifizierung der Fachkräfte, die frühzeitige Integration und spezifische Förderung von Kindern und auf Bildungs- und Erziehungspartnerschaften und El- ternbefähigung. Wir setzen dabei nicht nur auf Einrichtungen, sondern auch auf die individuelle Betreuung durch Tagesmütter und -väter. Damit verbreitern wir das Betreuungsange- bot. Maßnahmen der Qualifizierung von Tagespflegeper- sonen und Regelungen bezüglich ihrer sozialen Siche- rung führen zu einer Aufwertung der Tagespflege. Der Antrag der FDP-Fraktion zur Umsetzung des In- vestitionsprogramms „Zukunft, Bildung und Betreuung“ zielt auf wirkliche Veränderungen ab und ist grundsätz- lich in dieser Zielrichtung zu befürworten. Leider diffe- renziert er nicht die Zuständigkeit von Bund und Kom- munen für den Betreuungsausbau und unterstellt, dass letztlich der Bund am Ende der Föderalismusdebatte die Zuständigkeit für die Kinderbetreuung haben wird. Auch die Forderung, die Kinderbetreuung den freien Kräften der Marktwirtschaft zu überlassen, kann nicht geteilt werden. Die Union macht mit ihrem Antrag deutlich, dass sie nicht wirklich an einem deutlichen Ausbau von Kinder- betreuungsangeboten interessiert ist. In ihrem Alibi-An- trag fordert sie, dass der Bund den Kommunen alle Mehrkosten durch den Ausbau der Kinderbetreuung er- statten soll. Die Kommunen sollen damit aus der Pflicht entlassen werden, für ein bedarfsdeckendes Angebot zu sorgen. Eine solche Forderung ist vollkommen unrealis- tisch und nicht haltbar. Der Ausbau einer qualifizierten Tagesbetreuung für Kinder ist eine gemeinsame Aufgabe von Staat, Wirt- schaft und Gesellschaft. Um die Rahmenbedingungen für mehr Kinder- und Familienfreundlichkeit vor Ort zu schaffen, hat die Bundesregierung die Initiative „Lokale Bündnisse für Familien“ ins Leben gerufen. Die Zukunft unserer Kinder muss in unser aller Interesse liegen. Die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, unserer Ge- sellschaft hängt davon ab, wie wir unsere Kinder be- treuen, bilden und ausbilden. Unser Land wird mit unse- ren Reformen kinder- und familienfreundlicher. Bildung und Betreuung sind nicht das Sahnehäubchen, sie sind die Basis für unsere Zukunft, für unsere Innovationsfä- higkeit, für unsere Wirtschaftskraft, für unseren Sozial- staat und für unseren Anspruch auf Chancengerechtig- keit. Anton Schaaf (SPD): Die Erziehung, Bildung und Betreuung unserer Kinder ist eine wichtige Investition in die Zukunft. Bei der Versorgung mit Betreuungsplätzen ist Deutschland (West) eines der Schlusslichter in Europa. Wir liegen, was die Geburtenrate angeht, mit 1,29 Geburten pro Frau oder 8,5 Geburten pro 1 000 Einwohner auf dem letzten Platz in Europa. Deutschland ist bei den familienergänzenden Betreu- ungsmöglichkeiten fast ein Entwicklungsland. Eine Ver- besserung der Balance von Familie und Arbeitswelt bringt nicht nur für Männer und Frauen wichtige Vor- teile, sondern auch für unsere Volkswirtschaft, für die Unternehmen, für die Bevölkerungsentwicklung und für die Stabilität der sozialen Sicherung. Der zu erwartende Nutzen bei einem Ausbau der Kinderbetreuung ist weit höher als die entstehenden Kosten. Ein zuverlässiges Betreuungsangebot für Kinder un- ter drei Jahren ist nicht nur für Eltern und Unternehmen wichtig, sondern ist auch für die Kommunen ein bedeu- tender Faktor, um sich im kommunalen Wettbewerb zu behaupten. Zum einen ist die Attraktivität einer Kom- mune zunehmend auch vom bestehenden Betreuungs- und Schulangebot abhängig – nur wo ein solches Ange- bot vorliegt, fühlen sich junge Familien wohl. Zum an- deren kann es für die Kommunen nur von Vorteil sein, wenn sie in die Bildung von Kindern etwas investieren. Es ist keineswegs Zufall, dass in Ländern, wo der Bil- dungsstand höher ist, auch die Betreuungsquote für Kleinkinder viel höher liegt als bei uns – so in Frank- reich und Finnland. Aktuelle Studien und Gutachten belegen, dass eine fa- milienbewusste Politik auch ökonomisch Sinn macht. Vor allem auf das Potenzial gut ausgebildeter Frauen kann die Wirtschaft angesichts des Fachkräftemangels schon heute – trotz hoher Arbeitslosigkeit – nicht mehr verzichten. Eine familienorientierte Personalpolitik hält jüngere Beschäftigte – vor allem junge Frauen und damit auch ihr Know-how – im Betrieb und spart Kosten für die Personalgewinnung. Auch unsere Volkswirtschaft 9048 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) kann es sich mittelfristig kaum mehr leisten, ihre wich- tigsten Ressourcen und Potenziale – die Arbeitskräfte und ihre Leistungsfähigkeit, ihre Kreativität und ihr Engagement – für die Steigerung von Wachstum und In- novation ungenutzt zu lassen. Die Vereinbarkeit von Be- rufs- und Privatleben, die bislang vor allem als indivi- duelles Problem angesehen wurde, muss auch als ökonomische Chance begriffen werden. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat den volkswirtschaftlichen Nutzen der Kindertagesein- richtungen in Zürich untersucht. Aus volkswirtschaftli- cher Sicht fließen pro investierten Franken rund 4 Fran- ken an die Gesellschaft zurück. Das DIW-Gutachten hat diesen Effekt in einem Beispiel durchgerechnet: Würden 1 000 Akademikerinnen mit einem Kind im Krippenalter durch den Ausbau der Kinderbetreuung eine Erwerbstä- tigkeit aufnehmen, würden sie 8,1 Millionen Euro Ein- kommensteuer und 10,4 Millionen Euro Sozialversiche- rungsbeiträge zusätzlich erbringen. Dem stehen Kosten der öffentlichen Hand für das Ganztagesangebot in Höhe von 9 bis 10 Millionen Euro gegenüber. Schließlich ent- steht ein Nutzen dadurch, dass die Spanne der Erwerbs- tätigkeit erweitert wird und die Zahl der Erwerbstätigen steigt. Familien erreichen dann über die gesamte Le- bensspanne ein höheres erzielbares Einkommen. Von einem bedarfsgerechten Ausbau der Kinderbe- treuung profitiert auch jene Gruppe, die bislang wegen auch mangelnder Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kin- der auf Sozialhilfe angewiesen war. Dies betrifft vor al- lem allein erziehende Frauen. Die Expertise ermittelt mögliche Einsparungen für die Kommunen von rund 800 Millionen Euro für den Fall, das alle allein Erzie- henden mit nur einem Kind unter dreizehn Jahren eine Berufstätigkeit aufnehmen. Wir haben uns das Ziel gesetzt, noch in diesem Jahr- zehnt bei der Kinderbetreuung endlich westeuropäisches Niveau zu erreichen! Die Finanzierung der Tagesbetreuung ist in erster Li- nie die Aufgabe der kommunalen Gebietskörperschaf- ten. Schon seit 1991 stehen nach dem Kinder- und Ju- gendhilfegesetz die Kommunen in der Pflicht ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen in Tageseinrichtun- gen vorzuhalten. Wir wissen allerdings, dass der Ausbau der Betreuung im Westen, sowie der Erhalt des Stan- dards im Osten mit erheblichen finanziellen Aufwendun- gen verbunden ist. Deshalb müssen die Kommunen in ihrer Finanzkraft nachhaltig gestärkt werden. Der Bund wird den Kommunen dabei helfen, dieser Aufgabe nach- zukommen, ein bedarfsgerechtes und qualitätsorientier- tes Angebot zu schaffen. Mit jährlich 1,5 Milliarden Euro können die Kommunen ab 2005 bereits bestehende Angebote ausbauen oder eine neue Betreuungsstruktur schaffen. Nun gilt es, mit den Ländern sicherzustellen, dass die Mittel bei den Kommunen tatsächlich ankom- men und die Kommunen sich dieser wichtigen Aufgabe auch wirklich stellen. Mit unserer Initiative zum Ausbau der Betreuungsan- gebote für Kinder unter drei Jahren leisten wir einen wichtigen Beitrag, jungen Müttern und Vätern die Ver- einbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie zu ermögli- chen. Dabei wollen wir ein möglichst vielfältiges Ange- bot aufbauen. Die tatsächlichen Bedürfnisse sind der Orientierungspunkt, dazu gehört gerade auch die Einbe- ziehung der Tagespflege. Dort, wo Einrichtungen in ländlichen Gebieten nicht zu erreichen sind oder bei un- gewöhnlichen Arbeitszeiten – wie beispielsweise Schichtarbeit – kann die Tagespflege eine sinnvolle Al- ternative sein. Bis vor kurzem haben wir noch darüber gestritten, ob Kinderbetreuung in einem größeren Umfang überhaupt erforderlich sei. Gegen einen Ausbau wurden beängsti- gend konservative und rückwärtsgerichtete Argumente ins Feld geführt. Besonders emotional wurde die Diskus- sion, als es um die Betreuung der Kleinsten ging – der Kinder unter drei Jahren. Hierzu wurden gar Untersu- chungen herangezogen, die Beweisen sollten, dass die Betreuung von kleinen Kindern außerhalb der Familie schädlich sei; und Frauen, die ihre Aufgabe nicht haupt- sächlich in der Betreuung ihrer Kinder sehen, unverant- wortlich handelten und ihren Familien und der Gesell- schaft insgesamt großen Schaden zufügen würden. Da ist Gott sei Dank auf allen Seiten Einsicht in die ökonomische und gesellschaftliche Notwendigkeit ein- gekehrt. Zu Recht wird beklagt, dass über eine Million Kinder von der Sozialhilfe lebt. Wer hier klagt und nicht gleich- zeitig dazu beiträgt, dass die Eltern dieser Kinder er- werbstätig sein können, ohne dass die Betreuung und die Erziehung ihrer Kinder vernachlässigt werden, handelt heuchlerisch. In Hartz IV ist bereits geregelt, dass Arbeitssuchen- den für ihr Kind vor einer möglichen Arbeitsaufnahme ein geeigneter Betreuungsplatz zur Verfügung stehen soll. Kann eine Frau beispielsweise nicht arbeiten, weil es an Kinderbetreuung mangelt, muss der zuständige Fallmanager auch bei diesem Problem Hilfe leisten. Da- mit er das tun kann, müssen wir aber die entsprechende Anzahl von Plätzen einrichten. Es gilt die notwendigen Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu schaffen. Besonders froh bin ich darüber, dass wir nun über die Grenzen der Fraktionen hinweg eine große Übereinstim- mung haben – auch was die Rolle der Tagespflege bei der Betreuung von Kindern angeht. Deshalb freue ich mich, dass die Familienministerin, Renate Schmidt, die Bedeutung der Tagespflege für den Ausbau der Kinder- betreuung deutlich hervorgehoben hat. Der Antrag der FDP geht hier einen Schritt zu weit und ist nicht bis zum Ende gedacht. Er enthält – wie ori- ginell – mal wieder den Ruf nach einer Privatisierung – diesmal sogar als Selbstzweck. Im Antrag heißt es: „Die Privatisierung kommunaler Kindertageseinrichtungen sollte Ziel sein.“ Unsere Initiative ist gesellschaftliche und ökonomi- sche Innovation; und in keinem anderen Bereich wie Bil- dung, Erziehung und Betreuung gilt mehr: Mehr Investi- tion und Innovation ist mehr Gerechtigkeit. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9049 (A) (C) (B) (D) Maria Eichhorn (CDU/CSU): Familien mit Kindern bilden die Grundlage für eine langfristig stabile wirt- schaftliche und soziale Entwicklung unserer Gesell- schaft. Deswegen hat die Frau Ministerin Recht, wenn sie in dieser Woche vor den wirtschaftlichen Folgen des Geburtenrückgangs gewarnt hat. Die Warnung allein tut es jedoch nicht. Die Geburtenrate in Deutschland sinkt seit Jahren. Sie liegt heute bei 1,3 und damit im europäischen Vergleich im unteren Drittel. Junge Leute wollen Kinder. Warum aber verwirklichen sie ihren Kinderwunsch nicht? – Kin- der zu haben ist heute leider ein Armutsrisiko geworden. Gegenwärtig erhalten 1,1 Millionen Kinder und Jugend- liche unter 18 Jahren Sozialhilfe. Hinzu kommt, dass sich Eltern täglich neu mit dem Problem auseinander- setzen müssen, Familie und Erwerbstätigkeit miteinan- der zu vereinbaren. In Ländern mit relativ hoher Geburtenrate, etwa in Frankreich mit einer Rate von 1,9, gibt es nicht nur gute Kinderbetreuungsmöglichkeiten, sondern auch eine in- tensive finanzielle Förderung von Familien. Im Jahr 1996, während unserer Regierungszeit, wurde der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz festge- schrieben. Dennoch fehlen nach wie vor, vor allem in Ballungsräumen, Kindergartenplätze. Nach der neues- ten Länderübersicht von November 2003 liegen SPD-re- gierte Bundesländer am Ende der Skala. Beispiel Schles- wig-Holstein: Der Versorgungsgrad ab 3 Jahre bis zur Einschulung liegt bei 91 Prozent. Es handelt sich aber überwiegend nur um Halbtagsplätze mit vier bis fünf Stunden Betreuung. Dagegen liegt der Versorgungsgrad in Bayern bei 98,6 Prozent; davon ein Drittel Ganztags- plätze und weitere 45 Prozent der Plätze mit sechs bis acht Stunden Betreuung. Wenn die SPD und die Grünen uns immer wieder glauben machen wollen, wie gut die Situation bei den von ihnen geführten Ländern und wie schlecht diese bei den unionsregierten Ländern sei, dann möchte ich sie auffordern, die Statistik nachzulesen. Man kann feststel- len: alle unionsregierten Länder liegen vorne. Lediglich Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, die bis vor einem Jahr noch SPD-regiert waren, liegen noch bei 90,6 bzw. 92 Prozent. Man kann sich aber darauf verlas- sen: Die CDU-Regierungen in diesen Ländern werden die Versäumnisse der roten Vorgängerregierungen bald aufgeholt haben. Spätestens PISA hat uns gezeigt, dass die frühkindli- che Förderung von höchster Bedeutung ist. Daher sind Bildungs- und Erziehungspläne, wie sie Bayern derzeit in über 100 Tageseinrichtungen erprobt, für Kinder be- sonders wichtig. Hauptziel ist die Förderung frühen Ler- nens in spielerischer Form. Dabei werden die besonde- ren Stärken, Interessen und Bedürfnisse des Kindes berücksichtigt. Die Ausführungen des Bundeskanzlers heute Morgen zur Kinderbetreuung haben gezeigt, dass er keine Ahnung hat, was unsere Bundesländer auf die- sem Gebiet leisten. Die Erwerbstätigkeit beider Partner ist der heute mehrheitlich gewählte Lebensentwurf. Mehr als die Hälfte aller Mütter mit Kindern und mehr als ein Viertel aller Mütter mit Kleinkindern sind derzeit erwerbstätig. Wir brauchen daher nicht nur für Drei- bis Sechsjährige, sondern auch für die unter Dreijährigen und für Schul- kinder bedarfsgerechte und qualifizierte Kinderbe- treuungsmöglichkeiten. In der Koalitionsvereinbarung haben Sie 1,5 Milliarden für den Ausbau der Kinderbe- treuung für unter Dreijährige zugesagt. Diese Mittel soll- ten aus Hartz IV finanziert werden. Wie man jüngsten Zeitungsberichten entnehmen konnte, glaubt die Regie- rung nicht mehr daran. Dies verwundert nicht: Ihre Zu- sage war von Anfang an auf Sand gebaut. Wo nehmen Sie das versprochene Geld nun her? Sie haben es nicht! Wollen Sie weitere Kürzungen beim Er- ziehungsgeld oder im Kinder- und Jugendhilfeplan vor- nehmen? Ich habe volles Verständnis für die Haltung der Kommunen, die zu Recht zuerst die Finanzierungsfrage geklärt haben wollen, bevor über einen Ausbau der Kin- derbetreuung gesprochen wird. Städte und Gemeinden haben wegen der Politik der Regierung in den letzten Jahren hohe Steuerausfälle in Kauf nehmen müssen. Be- reits in der letzten Legislaturperiode wurde eine kommu- nale Finanzreform versprochen, aber nicht einmal der Versuch dazu unternommen. Nur auf Druck des Vermitt- lungsausschusses war die Regierung bereit, wenigstens die Gewerbesteuerumlage zu senken. Wer anschafft, muss zahlen. Deswegen fordern wir die Verankerung des Konnexitätsprinzips im Grundgesetz. Junge, gut ausgebildete Frauen können und wollen nicht auf eine Erwerbstätigkeit verzichten – sei es aus wirtschaftlicher Notwendigkeit oder weil sie ihre Be- rufstätigkeit als erfüllend und bereichernd erleben. In Bayern sind gegenwärtig 63 Prozent der Frauen erwerbs- tätig. – Das ist im Bundesvergleich der höchste Wert. Ein Teil der Eltern entscheidet sich jedoch ganz bewusst dazu, wegen der Kindererziehung auf eine eigene Er- werbstätigkeit zu verzichten. Dies verdient unsere hohe Anerkennung, aber auch unsere Unterstützung. Die Gleichwertigkeit von Familie und Erwerbstätigkeit ist Grundlage unseres Familienkonzeptes, das auf drei Säu- len aufbaut. Für uns ist nicht nur eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit, sondern auch die finanzielle Förderung sowie die Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern wichtig. Im Mittelpunkt steht dabei die Wahl- freiheit: Eltern sollen selbst entscheiden, wie sie Familie leben wollen. Dabei sollte und muss das Wohl des Kin- des im Vordergrund stehen. Eltern übernehmen mit der Erziehung ihrer Kinder eine große Verantwortung. In den Familien werden grundlegende Werte und Verhaltensweisen vermittelt. Diese sind wichtige Pfeiler für das Miteinander in der Familie, aber auch für Staat und Gesellschaft. Wir wol- len den Eltern, die sich eine gewisse Zeit ganz der Erzie- hung widmen, einen reibungslosen Wiedereinstieg in das Berufsleben ermöglichen. Neben einer bedarfsgerechten Kinderbetreuung brau- chen wir eine familiengerechte Arbeitswelt. Diese kann jedoch nur in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und nicht durch Zwangsmaßnahmen geschaffen werden. 9050 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) Dazu gehören flexible Arbeitszeiten, der Ausbau von Telearbeitsplätzen, mobile Techniken im Zusammen- hang mit Heimarbeit sowie familiengerechte Weiterbil- dungsangebote. Es müssen aber auch alle Maßnahmen ausgeschöpft werden, damit Mütter und Väter den Kon- takt zum Betrieb während der Elternzeit nicht verlieren und eine Dequalifizierung vermieden wird. Modellver- suche wie Job-Rotation können darüber hinaus gezielt auf künftige berufliche Aufgaben systematisch vorberei- ten. Soziale Kompetenzen wie Teambereitschaft, Orga- nisationsfähigkeit oder Konfliktmanagement sind im Be- rufsleben zunehmend gefragt. Diese werden wesentlich in der Familie erworben und vermittelt. Beim Wieder- einstieg von Müttern und Vätern in den Beruf werden diese Fähigkeiten und Stärken bislang weder anerkannt noch berücksichtigt. Im Gegenteil: Eltern müssen sich oftmals für diese Zeit rechtfertigen. Das kann doch nicht sein! Wir müssen dafür sorgen, dass die Leistungen für die Familien einen höheren Stellenwert erhalten. Wir fordern mehr Forschungsvorhaben, um die in der Fami- lie erworbenen Kompetenzen besser erfassen und mes- sen zu können. Die Vereinbarkeit von Familie und Er- werbstätigkeit muss auf vielen Ebenen unterstützt werden. Voraussetzung hierfür ist aber eine verlässliche Finanzierung. Der Worte sind genug gewechselt, lasst uns endlich Taten sehen! Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Die Not ist groß, Kinderbetreuungsangebote fehlen. Welche Angebote können helfen? Welche bieten eine angemessene Betreu- ung und entsprechen auch dem Wunsch der Eltern und vor allem dem Wohle des Kindes? Die Antwort aller Parteien lautet: die Tagesmütter. Tagesmütter sind au- genblicklich in aller Munde und scheinen Retterinnen in der Not zu sein. Diese Form der Kinderbetreuung darf kein Lückenbüßer werden, sondern muss ihrem eigenen Verständnis entsprechend gefördert und ausgebaut wer- den. Dabei verstehen wir Tagespflege als ergänzendes und alternatives Kinderbetreuungsangebot. Entspre- chend ihres Wunsches und besonders im Sinne des Woh- les des Kindes haben Eltern Anspruch auf eine Tages- mutter zur Betreuung ihres Kindes. Ich freue mich sehr, dass die Vertreter der Regie- rungskoalition mittlerweile ein anderes Verständnis von Tagespflege haben. Die „elitäre Form der Kinderbetreu- ung“ – noch vor Jahren verpönt und als nur für wohlha- bende Eltern vorhandenes Betreuungsangebot abgetan – ist nun endlich auch für sie eine für alle Eltern angemes- sene Form der Kinderbetreuung. Es hat zwar lange ge- dauert, aber immerhin! Worin unterscheidet sich die private Tagespflege von den öffentlichen Tageseinrichtungen? Welche Vorteile bietet sie den Eltern und auch dem zu betreuenden Kind? – Ein Vorteil liegt auf der Hand: die flexible Be- treuungszeit; es gibt keine starren Öffnungszeiten, son- dern flexible, den Wünschen der Eltern entsprechende Betreuungszeiten. Wo gibt es das sonst noch? Aber auch die familiäre Form der Kinderbetreuung ist geeignet, ge- rade für Kinder unter drei Jahren. Dazu gehört natürlich auch die Beschränkung auf eine Bezugsperson, die Ta- gesmutter, die für Kontinuität und Zuverlässigkeit steht. Auch die Möglichkeiten der individuellen Erziehungsab- sprachen – zum Wohle des Kindes – sind ein Vorteil. Ich glaube, wir alle sind uns einig, wie wichtig die frühkindliche Förderung ist. Dabei gibt es sicherlich breiten Konsens. Wir müssen aber unweigerlich auch über Mindeststandards reden; denn durch Betreuung, Bildung und Erziehung ist die Förderung der Entwick- lung der Tageskinder durch eine Tagespflegeperson zu leisten. Das bedeutet: Einheitliche Standards sind gefor- dert. Der Tagespflege ist ein entsprechender Stellenwert in der Landesgesetzgebung zuzuordnen. Ich erinnere an dieser Stelle an landesrechtliche Ausführungsbestim- mungen. Diese sind für eine funktionierende und ein- heitliche Tagespflege unbedingt nötig. Wie können wir der Tagespflege den angemessenen Stellenwert zukom- men lassen? Erstens: durch eine unverzichtbare Qualifizierung der Tagesmütter bzw. Tageseltern. Die guten und bereits mehrfach praktizierten Empfehlungen des Bundesver- bandes „Tagesmütter“ oder auch des DJI können hierbei die Grundlage sein. Zweitens: durch eine Überprüfung der Eignung von Tagesmüttern bzw. Tageseltern vor der Vermittlung. Si- cherlich ist im Sinne der Qualitätssicherung vor der Ver- mittlung eines Tageskindes an eine Tagespflegeperson deren Eignung zu überprüfen. Dies muss anhand von Eignungskriterien erfolgen, wie sie auch von der Regie- rungskoalition gefordert werden. Drittens: durch eine entsprechende Beratung und Be- gleitung der Tagespflegepersonen während der Betreu- ungszeit. Dazu gehört sowohl eine Möglichkeit des Aus- tauschs unter Tagesmüttern als auch die Hilfe durch eine Fachkraft in Konfliktsituationen und eine entsprechende Unterstützung im Bereich der rechtlichen Rahmenbedin- gungen. Im Bereich der Sozialversicherungen als auch der Steuern sind einheitliche Regelungen unbedingt von- nöten. Bei fast einvernehmlicher Diskussionsgrundlage bei der Bedeutung der Tagespflege muss ich dennoch einen großen Unterschied zwischen uns und der Regierung an- sprechen: Bei der Finanzierung der angestrebten Förde- rung und des Ausbaus an Tagespflegestellen stehlen Sie sich heraus. Durch Hartz IV wollen Sie den Kommunen 2,5 Milliarden zukommen lassen. Davon sollen 1,5 Mil- liarden für Kinderbetreuungsangebote ausgegeben wer- den. Dies nehmen Ihnen nicht nur die Kommunen, son- dern auch ich nicht ab. Es gibt eine Haushaltstelle im Etat bezüglich Finan- zierung der Kosten. Das kann auch nicht sein, weil zum Beispiel in Großstädten keine Einsparungen möglich sein werden, sondern – viele Oberbürgermeister machen das durch „Brandbriefe“ deutlich – mit zusätzlichen Kosten in Milliardenhöhe zu rechnen ist. Besser macht man es so wie wir: durch Anwendung des Konnexitätsprinzips. Wer bestellt, muss auch bezah- len. Das wäre ein fairer und verantwortungsvoller Schritt. Das ist bei der Regierung Fehlanzeige. Ihr gan- zer Antrag ist eine einzige Fehlanzeige in Bezug auf konkrete Vorhaben. Es gibt wie immer viel heiße Luft. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9051 (A) (C) (B) (D) Sie reden und reden, doch nichts wird passieren. Ich zi- tiere aus Ihrem Antrag: „als Impulsgeber“, „zu sorgen“, „anzuregen“, „hinzuwirken“, „zu prüfen“, „zu suchen“, „zu erörtern“. Ich könnte ohne Weiteres fortfahren. Es ist wie immer eine Luftnummer. Nehmen Sie sich ein Beispiel an uns und werden Sie dem Wohle der Kinder gerecht, ihrem rechtmäßigen An- spruch auf Betreuung, Erziehung und Bildung. Bereits Neil Postman sagte nämlich: Kinder sind die lebenden Botschaften, die wir einer Zeit übermitteln, an der wir selber nicht mehr teil- haben werden. Sorgen auch Sie dafür, dass wir die bestmöglichen „Botschaften übermitteln“, für uns, aber vor allem für unsere Kinder. Rita Pawelski (CDU/CSU): Wir wissen, dass wir mitten in einer dramatischen demographischen Entwick- lung stecken: Die Geburtenzahl pro Frau hat sich auf 1,34 reduziert, fast 44 Prozent der Akademikerinnen ha- ben keine Kinder mehr, Deutschland steht in der Gebur- tenskala von 209 Ländern auf dem unrühmlichen Platz 195. Wenn die Entwicklung so weiter geht, müssen im Jahr 2050 100 Arbeitnehmer für 85 Rentner sorgen. Was das für Folgen für unsere Sozialsysteme, für den Wirt- schaftsstandort Deutschland haben wird, das muss ich hier wohl niemandem klarmachen. Die Reden, die zu diesem Thema gehalten wurden, füllen mittlerweile ganze Bibliotheken. Wir wissen, dass wir den nächsten Generationen einen riesigen Scherben- haufen hinterlassen, aber was passiert: Es wird weiter geredet, geredet und versprochen. Bei Versprechungen hat die Bundesregierung eine ge- wisse Professionalität erreicht. Der Bundeskanzler hat versprochen, die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren. Stattdessen stieg sie. Minister Eichel versprach, die Staatsfinanzen zu sanieren. Stattdessen hat diese Bun- desregierung so viele Schulden gemacht wie noch keine zuvor. Die Regierung versprach, Mittelstand und Hand- werk zu stärken. Stattdessen erreichen die Firmenpleiten einen Rekordstand. Und jetzt verspricht die Familienministerin Betreu- ungsprogramme: 20 Prozent der Kinder unter drei Jahre sollen bis 2006 einen Betreuungsplatz bekommen. Sie macht jungen Eltern, insbesondere jungen Müttern, Hoffnung. Aber bei näherem Hinsehen entpuppt sich das Programm als schillernde Seifenblase. Obwohl: Der Antrag von SPD und Grüne stellt im Vorspann durchaus die richtigen Forderungen. Ich gratu- liere Ihnen zu Ihrer Erkenntnis, dass Tagespflege im Ver- gleich zu den Tageseinrichtungen nur wenig entwickelt ist und dass Tagesmütter eine Bereicherung eines vielfäl- tigen Betreuungsangebotes sein können. Ich hoffe, der Regierungschef teilt diese Erkenntnis, denn er hat als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen zusammen mit seiner Fraktion unsere Anträge zu diesem Thema ab- gelehnt, die Begründung der zuständigen Staatssekretä- rin war: „Dann werden die Kinder wieder in Familien betreut.“ Kommen wir zum Antrag der Regierungsfraktionen. Realisiert werden soll die Betreuung durch Mittel, die durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und So- zialhilfe ab 2005 in den Kommunen frei werden. Nach Berechnungen der Bundesregierung sparen die Kommu- nen 2,5 Milliarden Euro; 1,5 Milliarden Euro davon sol- len für die Verbesserung der Betreuungssituation der un- ter Dreijährigen verwendet werden. Das ist eine Milchmädchenrechnung. Denn Ihr Zahlenspiel wird nicht nur von den kommunalen Spitzenverbänden ange- zweifelt: Statt Einsparungen erwarten die höhere Ausga- ben Nach den Berechnungen des Deutschen Städtetages betragen die Entlastungen der Kommunen durch die Kostenübernahme des Bundes für die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger zwar rund 10 Milliarden Euro. Dem stehen aber Belastungen von rund 15 Milliarden Euro gegenüber, da die Kommunen im Gegenzug die Unterkunftskosten für Langzeitarbeitslose und Sozialhil- feempfänger übernehmen müssen. Im günstigsten Fall, wenn also die Länder ihre Entlas- tungen an die Kommunen voll weitergeben, rechnet der Deutsche Städtetag mit 2,4 Milliarden Euro Belastung. Um die versprochene Entlastung von 2,5 Milliarden Euro zu erreichen, müssten fast 5 Milliarden Euro aufge- trieben werden. Das können die Kommunen nicht leis- ten. Die Heimatregion des Bundeskanzlers, die Region Hannover, hat vorgerechnet, dass die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe ein Minus von 37 Mil- lionen Euro bedeutet. Der Bürgermeister der Stadt Laatzen, immerhin SPD-Mitglied, klagt in Richtung Berlin: Was die da tun, ist irre. Also nicht nur wir, sondern auch Ihre Parteifreunde vor Ort rechnen Ihnen vor: Ihr Programm ist eine Luft- buchung. Das ist verhängnisvoll, denn damit ist die so wichtige Betreuung der Kleinkinder wieder in weite Ferne gerückt, zurück bleiben enttäuschte Eltern. Und das, obwohl der Bundeskanzler in seiner Regie- rungserklärung und auch heute Morgen feststellte, dass Deutschland zu wenig flexible Kinderbetreuungsmög- lichkeiten habe. Als katastrophal bezeichnete er die Si- tuation für Eltern mit Kindern unter drei Jahren. Er ver- sprach, Sinnvolles und vor allen Dingen Notwendiges zu tun. Aber an der so beklagten Situation änderte sich bis- her nichts. Noch immer haben in den alten Bundesländern nur knapp 3 von 100 Kindern einen Krippenplatz. Deutsch- land hechelt der europäischen Spitze weit hinterher. Selbst im Bereich der Betreuung der Drei- bis Sechsjäh- rigen – also bei Rechtsanspruch – liegt die Abdeckungs- quote für das gesamte Bundesgebiet bei 90 Prozent. Be- sonders merkwürdig ist hier aber, dass gerade die SPD- regierten Länder eine Betreuungsquote aufweisen, die zum Teil deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegt. Dabei formulierte die SPD in ihren „Weimarer Leitli- nien“ vom 6. Januar 2004 das Ziel, ich zitiere: „Bis 2010 9052 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) wollen wir Deutschland zu einem der kinderfreundlichs- ten Länder in Europa machen“. Ein Witz! Schade nur, dass die Situation derzeitig so traurig ist, dass wohl niemand darüber lachen kann. Schon jetzt, gut fünfeinhalb Jahre vor dem Jahreswech- sel 2010, muss man kein Experte sein, um zu sehen, dass Sie auch dieses Ziel, wie so viele andere auch, nicht er- reichen werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, vor dem Hintergrund der bereits erwähnten demographischen Entwicklung und des damit verbundenen Rückgangs des Arbeitskräftepotenzials ist es wichtig, die Erwerbsquote der Frauen zu erhöhen. Andere europäische Länder zei- gen, wie es geht: In Schweden und Dänemark zum Bei- spiel arbeiten 75 Prozent der Frauen, in Deutschland sind es nur 64 Prozent. Im Klartext: Ausreichende Kinderbetreuung verein- facht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und er- möglicht Müttern den Wunsch, erwerbstätig zu sein. Bei uns stehen die von Müttern gewünschten und die tat- sächlich vorhandenen Arbeitszeitmodelle bei weitem nicht im Einklang. Um diese Diskrepanz abzubauen und um die Verein- barkeit von Familie und Beruf zu verbessern, muss ne- ben der Politik auch die Wirtschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Eine familienfreundliche Unternehmens- kultur liegt auch im Interesse der Firmen. Es ist unver- antwortlich, das Potenzial gut ausgebildeter Frauen, die wegen Kinderbetreuung den Beruf aufgeben, brach lie- gen zu lassen. Wir brauchen mehr flexible Arbeitszeit- modelle. Allerdings nützen die flexibelsten Modelle nichts, wenn die öffentliche Hand nur unzureichende Kinderbetreuung bietet. Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die heutige Debatte gibt Anlass zur Zufriedenheit, weil ein Konsens darüber zu bestehen scheint, wie wichtig gute Kindertagesbetreuung ist. Alle vorliegenden Anträge greifen den aktuellen Erkenntnisstand auf und fordern mehr bzw. hochwertigere Betreuungsangebote in Deutschland. Das war in dieser Klarheit nicht immer selbstverständlich. Die Regierungskoalition hat den Handlungsbedarf er- kannt. Unsere Initiative zum Ausbau der Kinderbetreu- ung für unter Dreijährige wird demnächst dem Deut- schen Bundestag vorgelegt. Bestandteil davon sind auch Verbesserungen bei der Qualität von Einrichtungen und in der Tagespflege. Wir werden eine ambitionierte Initia- tive vorlegen, die jedoch den Möglichkeiten aller Betei- ligten durchaus gerecht wird. Viele Leute haben noch immer die Vorstellung, dass es Kindern explizit schadet, wenn sie zu früh auch in ei- ner Kita oder von einer Tagesmutter betreut werden. In diesem Zusammenhang fällt gerne der Vorwurf, man sei eine Rabenmutter. Dieses Wort sollte niemand mehr in den Mund nehmen. Das ist Quatsch, oder sachlich aus- gedrückt: es gibt weit und breit keine Untersuchungen oder sonstigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die das belegen würden. Kinderbetreuung stärkt und fördert Kinder auf vieler- lei Weise. Sie begünstigt die Herausbildung von Basis- kompetenzen der Kinder. Hierzu gehören soziale und emotionale Kompetenzen ebenso wie Spracherwerb und Lernfähigkeit. Im Zusammenspiel dieser Elemente ent- steht eine selbstbewusste, reflektierte und reife Persön- lichkeit. Hier setzt die öffentliche Verantwortung ein. Der erste Paragraph des KJHG lautet somit auch: Jeder Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenver- antwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persön- lichkeit. Ich zitiere weiter; denn so wird klar, dass die aktuel- len Forderungen zu Kitas und Tagespflege keine neue Erfindung sind. Das alles steht schon seit über einem Jahrzehnt im Gesetz. In § 22 Satz 2 KJHG heißt es zur Förderung von Kindern: Die Aufgabe umfasst die Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes. Außerdem ist Gesetzesnorm, dass für die Kinder von drei bis sechs Jahren ein Betreuungsrechtsanspruch be- steht und für die jüngeren und älteren – so heißt es in § 24 Satz 2 KJHG – „nach Bedarf“ Plätze vorzuhalten sind. Was das Angebot betrifft, muss man leider feststellen: Auch in den vergangenen Jahren ist viel zu wenig pas- siert. Im Westen stagnieren die Versorgungsquoten. Die Angebotsquote für unter Dreijährige im Westen liegt nach wie vor bei unter 3 Prozent, bei den Hortplätzen bei knapp 9 Prozent. Deshalb ist es unverzichtbar, beim dringendsten Handlungsbedarf anzusetzen: Wir werden den Kommunen bei Ihrer Aufgabe, ein angemessenes Angebot in den kommenden Jahren aufzubauen, massiv unterstützen. Es geht aber auch um die Qualität, nicht nur um die Größe des Angebotes. Kinder müssen erstens fürsorglich und wohlbehalten betreut werden. Sie sollen zweitens so erzogen werden, dass ihnen Werte und Gemeinschaft- lichkeit vermittelt wird. Drittens ist es wichtig, sie an das Lernen heranzuführen. Wenn wir hierfür optimale Rah- menbedingungen schaffen, bekommen unsere Kinder von Anfang an gerechte Chancen. Im Dreiklang von Betreuung, Erziehung und Bildung sind bislang die Elemente frühkindlicher Bildung stark vernachlässigt worden. Hier muss vehement gegenge- steuert werden. Die jüngeren Erkenntnisse der Neuro- wissenschaften, der Entwicklungspsychologie und der Bildungsforschung belegen dies eindeutig. Schon in den ersten Lebensmonaten fangen Kleinkinder an, das Ler- nen zu lernen. Mit rund zwei bis drei Jahren haben sie Grundfähigkeiten zum Lernen in bislang ungeahntem Umfang erworben. Hier schließt sich bereits das erste Zeitfenster in der Entwicklung. Auch und gerade in der Tagespflege werden wir zu ei- nem besseren System der Qualitätssicherung kommen müssen. Die Tagespflege ist ein wichtiger Baustein im System der Kindertagesbetreuung. Ihre Bedeutung im Rahmen des vielfältigen Angebots der Tagesbetreuung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9053 (A) (C) (B) (D) wird künftig weiter zunehmen. Deshalb wird es umso wichtiger zu prüfen, wie wir das System der Tagespflege insgesamt weiterentwickeln können. Dazu müssen wir übrigens auch überlegen, wie wir die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten noch weiter verbessern. Die Herausforderungen im Bereich der Kindertages- betreuung sind mannigfaltig. Das demonstrieren auch die Forderungen in den verschiedenen Anträgen. Die Bundesregierung wird mit dem Projekt des Ausbaus der Betreuung für unter Dreijährige einen unverzichtbaren Schritt nach vorne gehen. Mein Appell an die Länder und Kommunen ist: Gehen Sie diesen Schritt in unser al- ler Interesse mit! Klaus Haupt (FDP): Deutschland ist, was Kinderta- gesbetreuung anbelangt, in Europa geradezu Entwick- lungsland. Dabei ist besonders in den alten Bundeslän- dern die Lage schwierig, wie die vergangene Woche veröffentlichten Zahlen des statistischen Bundesamtes eindrucksvoll belegen. Während in Ostdeutschland nahezu für jedes Kinder- gartenkind ein Ganztagesplatz vorhanden ist, findet im Westen nur jedes vierte Kind eine Betreuung über den Vormittag hinaus. Während in den ostdeutschen Ländern 37 Prozent der Kleinkinder eine Chance auf einen Be- treuungsplatz harten, waren es im Westen gerade mal 3 Prozent. In den östlichen Bundesländern hat sich die Zahl der Kindertageseinrichtungen seit 1991 um mehr als die Hälfte vermindert. Aber sogar bundesweit ist der Ausbau der Kinderbetreuung seit vier Jahren rückläufig. In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung wurde 2002 angekündigt: Umwandlung von 500 000 frei werdenden Kindergarten- und Hortplätzen in Betreuungsangebote für unter Dreijährige und Ganztagesplätze im Kindergar- ten; Aufbau einer bedarfsgerechten Betreuungsquote für Kinder unter drei Jahren von mindestens 20 Prozent; Finanzierung durch den Bund mit 1,5 Milliarden Euro jährlich ab 2004. Davon ist bislang wenig zu sehen: Von einer finan- ziellen Förderung des Bundes zum Ausbau der Kinder- betreuung ab dem Jahr 2004 ist nicht mehr die Rede. Die Förderung des Bundes soll nun 2005 beginnen, wenn die Kommunen jährlich aus den Einsparungen durch Zu- sammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe 1,5 Milliarden Euro hierfür behalten dürfen. Die Kommunen bzw. deren Verbände gehen mittler- weile von einem Scheitern von Hartz IV aus. Wenn dies tatsächlich passiert, lassen sich die Einsparungen nicht realisieren und Kinderbetreuungsangebote nicht aus- bauen. Mit Interesse nehme ich die Forderung von Rot-Grün zur Kenntnis, die soziale Absicherung der Tagespflege- personen zu verbessern, denn die diesbezüglichen For- derungen der FDP wurden bislang stets ignoriert. Deutschland ist als rohstoffarmes Land in höchstem Maße auf die Bildung, Kreativität und Leistungsfähig- keit seiner Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Dabei haben verschiedene Studien wie PISA und IGLU deut- lich gemacht, dass gerade Kindertagesstätten von großer bildungspolitischer Bedeutung sind und dass in Deutsch- land der Bildungs- und Erziehungsauftrag des Kin- dergartens deutlicher fokussiert und besser umgesetzt werden muss. Auch die neueren Erkenntnisse der Hirn- forschung belegen die Bedeutung der ersten Lebens- jahre, belegen, dass im Bauklötzealter die Grundsteine für die Entwicklung des Kindes gelegt werden. Eines der dramatischsten Ergebnisse der internationa- len Vergleichsstudien ist, dass es in Deutschland kaum gelingt, Benachteiligungen aufgrund der sozialen Her- kunft auszugleichen. Frühkindliche Bildung ist der ent- scheidende Faktor für die Chancengerechtigkeit am Start. Besonders die Kindertagesbetreuung kann und muss daher die Chancengerechtigkeit und die soziale In- tegration verbessern. Die Kinder haben ein Recht auf Förderung – und die Gesellschaft kann es sich nicht leis- ten, die Potenziale der jungen Generationen zu ver- schwenden. Der volkswirtschaftliche Nutzen von Kindertagesein- richtungen und Tagespflege wird ebenfalls unterschätzt. Erhebliche Einnahme- und Einspareffekte für die öffent- lichen Haushalte sind zu erwarten, wenn – erstens – erwerbswillige Mütter dank einer besseren Kinderbetreu- ungsinfrastruktur einer Erwerbstätigkeit nachgehen können – zweitens –, im Bereich der Kindertageseinrichtungen Arbeitsplätze geschaffen oder in der Tagespflege selbst- ständige Existenzen gegründet werden und – drittens – bisher auf Sozialhilfe angewiesene Alleinerziehende ebenfalls bei besserer Kinderbetreuung erwerbstätig sein können. Frauen und Männer wollen mehr Chancen haben, sich trotz Karriere intensiver ihrer Familie zu widmen. Viele realisieren ihren Kinderwunsch nicht, weil er in Konflikt mit dem Wunsch nach beruflicher Selbstverwirklichung steht. Schon allein eine Steigerung der Frauenerwerbs- quote auf das Niveau unserer skandinavischen Nachbarn würde die mit der demographischen Entwicklung ver- bundenen Finanzprobleme in der umlagefinanzierten Rentenversicherung spürbar abschwächen. Ganz konkret errechnet wurden jüngst in einer Studie der Prognos AG die betriebswirtschaftlichen Effekte fa- milienfreundlicher Maßnahmen. Kapital, das in die Ein- führung familienfreundlicher Maßnahmen gesteckt wird, erbringt eine Rendite von durchschnittlich 25 Prozent. Familienfreundliche Maßnahmen sind keineswegs nur eine humanitäre Geste, sondern betriebswirtschaftlich sinnvoll. Die FDP fordert aus all diesen Gründen unter ande- rem: Erstens. Die Betreuungsangebote für Kleinkinder durch Krippen und Tagesmütter müssen quantitativ und qualitativ ausgebaut werden. Zweitens. Im Rahmen des bestehenden Rechtsan- spruchs auf einen Kindergarten-Halbtagesplatz muss die Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder bzw. El- tern kostenlos sein. 9054 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) Drittens. Zur besseren Vorbereitung auf die Grund- schule soll es eine pädagogisch geführte verbindliche Startklasse geben, in der zum Beispiel sprachliche Defi- zite rechtzeitig erkannt, aufgefangen und abgebaut wer- den können. Viertens. Gerade Kindertageseinrichtungen können und müssen in besonderem Maße zur Integration von Migrantinnen und Migranten und zur Vermittlung sprachlicher Kompetenz beitragen. Sinnvoll sind dabei auch Angebote für Eltern, die Partizipation und Integra- tion fördern. Fünftens. Die nachhaltige Finanzierung eines bedarfs- gerechten Kinderbetreuungsangebotes muss im Zuge der Föderalismusreform berücksichtigt werden. Keine zu- sätzlichen Lasten für die Kommunen ohne die dafür er- forderliche Finanzausstattung durch den Bund! Ich begrüße es sehr, dass alle im Bundestag vertrete- nen Fraktionen die Frage der frühkindlichen Bildung und der Kindertagesbetreuung als entscheidende Frage für die Zukunft unserer Gesellschaft erkannt haben. Jetzt ist entschlossenes, gemeinsames Handeln ge- fragt. Wir Liberalen werden daran konstruktiv mitarbei- ten. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Qualitätssicherung des deutschen For- schungssystems, – Ressortforschung des Bundes effizienter ge- stalten und evaluieren (Tagesordnungspunkt 11 a und b) Dr. Carola Reimann (SPD): Wissenschaft und For- schung sind zentrale Bestandteile unserer Gesellschaft. Ihre Bedeutung wächst in unserer Gesellschaft, die sich zunehmend über die Schaffung und wirtschaftliche Nut- zung von Wissen definiert. Von hier gehen nicht nur ent- scheidende Wachstumsimpulse für die Wirtschaft aus, die wir ja zurzeit intensiv unter dem Stichwort Innova- tion diskutieren. Es werden von der Forschung auch Lö- sungsansätze und Beratung für eine Reihe sozialer, öko- nomischer und ökologischer Probleme erwartet. Ressortforschung ist Teil unserer Forschungsland- schaft mit Groß-Forschungseinrichtungen, universitärer Forschung und außeruniversitärer Forschung der Länder. Die Ressortforschung ist in diesem Zusammenhang un- verzichtbar für politische Entscheidungen. Sie gehört zum Wissensmanagement der politischen Administra- tion. Die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes be- sitzen deshalb immer eine Doppelfunktion. Zum einen haben sie die Aufgabe, wissenschaftliche Erkenntnisse für die Durchführung der Ressortaufgaben zu gewinnen und bereitzustellen. Zum anderen tragen sie wie andere Forschungsinstitute zum allgemeinen Erkenntnisgewinn bei. Ressortforschung ist zudem durch eine ungewöhn- lich breite Aufgabenstellung gekennzeichnet. Diese rei- chen von Fragen der Mobilität über metrologische, ma- terial- und biowissenschaftliche Fragestellung bis hin zu Aufgaben der Gesundheitsvorsorge- und -erhaltung. Das alles sei genannt ohne jeden Anspruch von Vollständig- keit, nur um die Bandbreite der Ressortforschung anzu- deuten. Den Bundesforschungsanstalten fällt dabei eine Schlüsselrolle in den Bereichen zu, in denen wissen- schaftlich fundierte Antworten auf Fragen aus dem poli- tischen Raum benötigt werden. Die wissenschaftliche Qualität der Ressortforschungseinrichtung muss, wie bei anderen Forschungseinrichtungen auch, regelmäßig überprüft werden. Diese Aufgabenstellung erfordert al- lerdings Erfahrung und Augenmaß. Besonders wichtig sind dabei die angelegten Bewertungsmaßstäbe. Sie müssen der Doppelfunktion der Ressortforschungsein- richtungen gerecht werden, weswegen hier auch die An- wendung spezifischer Bewertungsverfahren und -krite- rien erforderlich ist. Die hoheitlichen Aufgaben und Beratungsaufgaben, die quasi Dienstleitungen für die Politik darstellen, können nicht nur mit Bewertungskri- terien evaluiert werden, die für die Untersuchung der Leistungsfähigkeit von Hochschulen und Großfor- schungseinrichtungen üblich sind. Wir wollen grundsätzlich eine Evaluierung der Res- sortforschungseinrichtungen, um eine zielgerichtete Po- litikberatung zu gewährleisten und um die Qualität des deutschen Wissenschaftssystems zu sichern und weiter zu verbessern. Da beginnen wir nicht bei Null. Dort wurde, was die Qualitätsüberprüfung und -sicherung des deutschen Forschungssystems angeht, bereits eine Menge unternommen. Die Zahl der evaluierten Ressort- forschungsinstitute ist seit unserem Regierungsantritt deutlich gestiegen. Es wurden sowohl im Bereich der Großforschungseinrichtungen Evaluierungen angeregt als auch im Bereich der Ressortforschung verschiedene Anstrengungen zur Qualitätssicherung unternommen. Die bisher vorgenommenen Evaluierungen, die zum Teil auch durch den Wissenschaftsrat erfolgt sind, stellen der deutschen Ressortforschung kein schlechtes Zeugnis aus. Ganz im Gegenteil: Sie bestätigen die internationale Konkurrenzfähigkeit des deutschen Forschungssystems. Sie haben uns aber auch auf Defizite hingewiesen, Chan- cen zur Veränderung eröffnet und Verbesserungen ini- tiiert. Sie haben zudem wichtige Reformen angestoßen und einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung und Effizienzsteigerung im deutschen Forschungssystem ge- leistet. Denn dazu ist Evaluierung schließlich auch da: Entwicklungspotenziale aufzuzeigen und diese Felder qualitativ fortzuentwickeln. Diese Erfahrungen zeigen sehr deutlich, dass die Überprüfung von Einrichtungen unseres Forschungssys- tems sehr wohl sinnvoll und auch notwendig ist. Deshalb fordern wir in unserem Antrag zur „Qualitätssicherung des deutschen Forschungssystems“ die systematische Evaluierung der deutschen Ressortforschungslandschaft. Am Ende eines solchen Prozesses sollen deshalb Emp- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9055 (A) (C) (B) (D) fehlungen zur Effizienz, Umfang, Struktur und Aufga- ben der Einrichtungen stehen, mit deren Hilfe sich die Ressortforschung als wichtiger Teil des Wissenschafts- systems kontinuierlich weiter entwickeln kann. Wir verstehen unseren Evaluierungsauftrag zur Stei- gerung der Qualität und nicht zur Senkung der aufge- wendeten Mittel. Es geht nicht darum, Mittel aus der Ressortforschung abzuziehen. Im Gegenteil: Wir wollen, dass mehr Gelder in die Forschung fließen; denn wir wollen im Rahmen unserer Innovationsoffensive bis zum Jahre 2010 den Anteil der Forschungsausgaben auf 3 Prozent des BIP steigern. Der Kanzler hat dieses Ziel heute Morgen nochmals bekräftigt. Der Wissenschaftsrat hat im Bereich der Evaluation sowohl von Forschungsorganisationen als auch von nachgeordneten Einrichtungen des Bundes bisher her- vorragende Arbeit geleistet. Er ist das Gremium mit der größten fachlichen Erfahrung auf diesem Gebiet. Wir werden deshalb die Bundesregierung auffordern, den Wissenschaftsrat auch weiterhin mit der Begutachtung der Ressortforschungseinrichtungen zu betrauen. In diesem Zusammenhang möchte ich jedoch vor pauschalen Bewertungen und Fehlinterpretationen der bisherigen Evaluationsergebnisse eindringlich warnen. Zum Beispiel haben die Äußerungen von Professor Winnacker in einem Interview im DLF über die Bundes- forschungsanstalten für erhebliche Irritationen unter den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gesorgt und definitiv nicht zu einer sachlichen und differenzierten Diskussion über die Aufgaben, Qualität und die Struktur der Ressortforschungseinrichtungen beigetragen. Die pauschalen Äußerungen haben lediglich vorhandene Vorurteile bestärkt und dem Ansehen der deutschen For- schungslandschaft geschadet. Wie gesagt, auch wir stehen für die Überprüfung der Ressortforschungseinrichtungen. Wenn Evaluierungen Verbesserungspotenziale ausmachen und vorhandene Defizite aufzeigen, müssen diese Ergebnisse zur Verbes- serung und Weiterentwicklung genutzt werden. Wir wollen ja die deutsche Forschung voranbringen. Dazu gehören eben auch die kritische Analyse ihrer Leistungsfähigkeit und auch das Aufzeigen ihrer Schwachstellen. Nur so können wir letztlich wissen, wo Verbesserungen notwen- dig sind, die unser Forschungssystem fit für die Zukunft machen. Dies gilt im Übrigen auch für Ressortfor- schungseinrichtungen der Länder. Auch hier regen wir in unserem Antrag eine Evaluation durch den Wissen- schaftsrat an. Ich habe an dieser Stelle die Äußerungen des DFG- Präsidenten aufgegriffen, nicht nur weil ich sie in ihrer Pauschalität für nicht berechtigt halte, sondern weil sie geradezu dazu herausfordern, darzustellen, wie gut ei- nige, bereits evaluierte Ressortforschungseinrichtungen tatsächlich arbeiten. Ich möchte Ihnen gern ein Beispiel für eine erfolgreiche Evaluierung geben. Die Physika- lisch-Technische Bundesanstalt, eine Einrichtung, die dem Bundeswirtschaftsministerium unterstellt ist und größtenteils in Braunschweig arbeitet, hat sich – auf ei- genen Wunsch hin – kürzlich über ein Jahr lang durch eine internationale Expertenkommission evaluieren las- sen. Die Kommission hat die PTB gründlich auf Herz und Nieren geprüft – sogar intensiver, als dies durch den Wissenschaftsrat normalerweise üblich ist. In ihrem Abschlussbericht stellt die Evaluierungs- kommission fest: „Die PTB verfolgt eine wichtige me- trologische Mission mit großem Nutzen für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft“. Die Zuordnung der PTB zum Bundeswirtschaftsministerium habe sich für die Er- füllung dieser Mission als sinnvoll erwiesen. Die Kom- mission kommt zu dem Schluss, dass die Fachkompe- tenz und die Qualität der Arbeiten der PTB-Mitarbeiter exzellent seien. Ich zitiere: „Die wissenschaftliche Re- putation ist generell sehr gut, ebenso die Einbindung in das nationale, europäische und internationale Umfeld“. Der PTB wird also ein sehr hohes fachliches Niveau be- scheinigt. Mit unserem Antrag „Qualitätssicherung des deut- schen Forschungssystems“ stellen wir uns den aktuellen Erfordernissen, die deutsche Forschungslandschaft, ins- besondere die Ressortforschungseinrichtungen des Bun- des, mit dem Ziel einer weiteren Qualitäts- und Effi- zienzsteigerung überprüfen zu lassen. Im Gegensatz zum Antrag der Union, der stellenweise den Anschein er- weckt, dass auf dem Gebiet der Ressortforschungsein- richtungen die blanke Ineffizienz herrscht, bringen wir das nötige Augenmaß mit, ohne das Kind gleich mit dem Bade auszuschütten. Es gilt, die deutschen Forschungs- einrichtungen weiter zu stärken, sie fit für die Zukunft zu machen. Dafür ist eine Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen der Ressortforschung, verbunden mit dem Aufzeigen von Verbesserungsmöglichkeiten, unab- dingbar. Der Antrag „Qualitätssicherung des deutschen Forschungssystems“ bietet somit eine solide Arbeits- grundlage für die systematische Evaluierung der Res- sortforschungseinrichtungen, der deren spezifische Be- dingungen mit dem nötigen Augenmaß und der notwendigen Differenzierung begegnet. Helge Braun (CDU/CSU): Seit der Übernahme der Regierung im Jahr 1998 wurden drei Anträge und eine Kleine Anfrage speziell zur Ressortforschung in den Deutschen Bundestag eingebracht. Alle stammten von Oppositionsfraktionen. Die Anträge hatten immer zum Ziel, die Ressortforschungseinrichtungen zu evaluieren und die Effizienz der Forschung zu steigern. Sie, die Abgeordneten von SPD und Grünen, haben mit Ihrer Mehrheit die Anträge abgelehnt. Noch in der letzten Debatte zur Ressortforschung vor sechs Monaten führte Frau Kollegin Dr. Reimann von der SPD aus, dass die „Ressortforschung nicht losgelöst im luftleeren Raum vor sich hinforscht“. Ferner hieß es, es werde be- reits evaluiert. Nun, im März 2004, legen Sie endlich selbst einen Antrag vor, in dem Sie eine „aufgabenkriti- sche Überprüfung“ der Ressortforschungseinrichtungen fordern. Damit schließen Sie sich endlich einer langen Forderung der Union und der FDP an. Dies ist überaus erfreulich und ich begrüße Ihre Erkenntnis. Die Ressortforschungseinrichtungen finanzieren sich im Wesentlichen aus Bundesmitteln. Daher muss die Verwendung dieser Gelder nicht nur sparsam sondern 9056 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) auch effizient erfolgen. Hier ist eine Evaluierung not- wendig. Bislang wurden aber nur vereinzelte Ressortfor- schungseinrichtungen evaluiert. Dabei geht es um eine beträchtliche Summe. Allein im Jahr 2002 flossen knapp 1,3 Milliarden Euro an die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes. Dies sind 11,6 Prozent der F-und-E-Ausgaben des Bundes. Zur Verdeutlichung: Dieses Geld würde sogar reichen, um die von der Bundesregierung geplante Förderung von fünf Universitäten zu Spitzenuniversitäten auf ganze 26 Universitäten auszudehnen. Wenn ich nun aber Ihren Antrag lese, meine Damen und Herren von SPD und den Grünen, so bin ich auch er- staunt: Sie fordern eine „aufgabenkritische Überprüfung der Ressortforschungseinrichtungen“. Sie wollen aber auch veranlassen, dass alle Ressortforschungseinrichtun- gen in Zukunft ein Forschungsprogramm erstellen. Und Sie verlangen sogar vom Wissenschaftsrat, er solle den besonderen Stellenwert der Ressortforschung definieren. Insbesondere die letzte Forderung hätte ich wirklich nicht erwartet. Sie zahlen seit 1998 jährlich circa 1,3 Milliarden Euro an die Ressortforschung und wollen nach fünf Jahren eine Definition vom Wissenschaftsrat erhalten, was Ressortforschung eigentlich bedeutet. Dies zeigt einmal mehr, mit welcher Fachkompetenz die Bun- desregierung Forschungspolitik betreibt. Der Antrag zeigt, dass die Regierung überhaupt nicht weiß, was sie bislang getan hat. Nun wird nach einer Definition des besonderen Stellenwertes der Ressortforschung gefragt. Nun sollen Forschungspläne erstellt werden. Der Antrag von SPD und den Grünen ist ein Eingeständnis der Unfä- higkeit der letzten fünf Jahre Forschungspolitik. Getreu dem Motto: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Die in Ihrem Antrag geforderten Untersuchungen und Definitionen gibt es bereits. Zwar nicht explizit für jede Ressortforschungseinrichtung. Aber aus unterschiedli- chen Berichten des Wissenschaftsrates zu den bisher un- tersuchten Einrichtungen ergibt sich ein schlüssiges Bild, an welchen Punkten die Politik handeln muss. War- ten Sie nicht auf weitere Berichte, Untersuchungen und Definitionen! Vergeuden Sie keine wertvolle Zeit und Geld! Handlungsbedarf gibt es schon heute reichlich: Ressortforschung dient zum einen der Erfüllung ho- heitlicher Aufgaben. Zum anderen beraten die Einrich- tungen die Politik bei der Rechtsetzung durch Risikoana- lysen und durch Monitoring von Entwicklungen. Dabei kann der Forschung der Ressortforschungseinrichtungen grundsätzlich kein Sonderstatus zukommen. Die von den Einrichtungen durchgeführte Forschung muss daher stets an der universitären und außeruniversitären Forschung gemessen werden, soweit die Aufgaben auch von der Forschungslandschaft außerhalb der Ressorteinrichtun- gen durchgeführt werden kann. Für eine effiziente Res- sortforschung ist daher auf die Kompetenz der Ressort- einrichtung auf die Kernbereiche der eigentlichen Aufgabenerfüllung zu begrenzen. Alle Institute und Ein- richtungen, die wissenschaftliche Antworten finden kön- nen, sind potenzielle Partner des Staates. Eine Begren- zung der Kompetenzen auf die Ressorteinrichtungen wäre hierbei ein untragbarer Eingriff in den Wettbewerb der übrigen Forschungseinrichtungen in Deutschland. Ressortforschung außerhalb des Kernbereichs muss sich in wissenschaftlicher Konkurrenz in der Forschungs- landschaft messen lassen. Dieser Wettbewerb führt zur gebotenen Effizienzsteigerung. Andere Forschungsaufträge außerhalb des engen ho- heitlichen Aufgabenkanons sind im Rahmen des Wettbe- werbs im Forschungssystem frei zu vergeben. Dabei sol- len die Ministerien und Ressorteinrichtungen bei der Vergabe nicht als allgemeine Forschungsförderer auftre- ten. Vielmehr muss die Vergabe von wissenschaftlichen Aufträgen auf politikrelevante Fragen begrenzt sein. Die Loslösung von Forschungsbereichen aus der bisherigen Forschung dient nur der Beendigung der bisherigen Wettbewerbsverzerrung und der Steigerung der Effizienz und Qualität. Die Niederlande und die Schweiz sind diesbezüglich in der Ressortforschung Vorreiter. In diesen Staaten ste- hen Ressorteinrichtungen in den Bereichen außerhalb der Erfüllung ihrer Kernaufgaben im Wettbewerb mit anderen Institutionen der Forschungslandschaft. Auf- tragsforschung und Projektvergabe versetzt die Ressort- einrichtungen in einen erhöhten Wettbewerb. Ministe- rien sollten daher künftig sämtliche Projektmittel öffentlich ausschreiben, um den Wettbewerb zwischen Forschungseinrichtungen als Qualitätssicherung zu nut- zen. Denn nur Handlungsoptionen führen zum verstärk- ten Einsatz des Bieters und zum Vergleich der angebote- nen Leistung zwischen den Bietern. Die Eingrenzung der hoheitlichen Aufgaben ist bisher nur in den wenigsten Ressorteinrichtungen erfolgt. We- der im übergreifenden Forschungsplan, in den For- schungsprogrammen der einzelnen Einrichtungen noch in den Planungsgremien der Ministerien ist eine scharfe Abgrenzung erfolgt. Es ist daher bislang unklar, welche Aufgaben unabdingbar von der Ressortforschung durch- geführt werden müssen. Eine künftige klare Festlegung eines Kernkanons an Aufgaben der Ressortforschung in auf hoheitliche Tätigkeiten und Politikberatung ist aus folgenden Gründen von entscheidendem Vorteil: Ab- grenzung zu den Themen, die für den Wettbewerb der Wissenschaftslandschaft geeignet sind, die für die Res- sortforschung zur Verfügung stehenden Ressourcen effi- zient und zielgerichtet einzusetzen. Nur bei klarer Auf- gabenzuweisung ist eine externe Qualitätssicherung durch Evaluation möglich. Die klare Aufgabenzuweisung der Ressortforschung auf Kernbereiche erfordert hohe wissenschaftliche Ex- zellenz aus zwei Gründen, erstens weil bei der Erfüllung der Kernaufgaben der aktuelle Stand der Wissenschaft der gesamten Wissenschaftsgesellschaft einfließen muss, zweitens weil Ressortforschungseinrichtungen in der Lage sein müssen, am Wettbewerb innerhalb der For- schungslandschaft teilnehmen zu können. Hierfür müssen die Ressortforschungseinrichtungen viel intensiver mit anderen Forschungseinrichtungen vernetzt werden und mit diesen kooperieren. Die wissen- schaftlichen Ergebnisse der Ressortforschungseinrich- tungen, die der Politikberatung zugrunde liegen, können entweder auf eigenen Forschungsarbeiten beruhen, oder Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9057 (A) (C) (B) (D) sie bauen auf Erkenntnissen aus anderen Einrichtungen der Forschungslandschaft auf. Für den Durchfluss von Erkenntnissen von der allgemeinen Forschung zur Res- sorteinrichtung bedarf es einer hervorragenden Anbin- dung der Ressortforschung an übrige staatliche sowie außerstaatliche Forschungseinrichtungen. Umgekehrt müssen Forschungserkenntnisse der Ressorteinrichtun- gen der allgemeinen Forschungslandschaft zur Verfü- gung stehen. Schließlich wird die Ressortforschung mit öffentlichen Mittel finanziert und soll somit auch der Allgemeinheit so weit wie möglich zugute kommen. Dann kommt der Einsatz öffentlicher Gelder sogar dop- pelt zum Tragen: Als wissenschaftliche Erkenntnis und als Beitrag zur Politikberatung. Derzeit fehlt es an einer effizienten Vernetzung der Ressorteinrichtungen sowohl untereinander als auch mit anderen Einrichtungen der Forschung. Dies hat auch der Wissenschaftsrat kürzlich festgestellt. In seinen Empfeh- lungen zur Entwicklung der Rahmenbedingungen am Beispiel der Forschungsanstalten des BMVEL heißt es: „Es ist jedoch unverkennbar, dass die geforderte Veran- kerung der Forschungsanstalten in der scientific commu- nity bisher nicht in ausreichendem Maße realisiert wurde.“ Die Ressortforschungseinrichtungen dürfen dabei nicht parteiideologisch gesteuert werden. Vielmehr müs- sen sie den aktuellen Stand der Wissenschaft in weiten Teilen nachverfolgen oder sogar vorgeben. Ein Negativ- beispiel für den Ausschluss der Ressortforschung aus der allgemeinen Forschung zeigte in jüngster Zeit eine De- batte über gentechnologische Forschung. Diskutiert wurde, ob das Verbraucherministerium die gentechnolo- gische Forschung in seinen Ressortforschungseinrich- tungen einschränken solle. Dies darf nicht sein. Wenn die Politik sachliche und neutrale Erkenntnisse aus der aktuellen Wissenschaft wirklich erwartet zum Beispiel zu Fragen beim Anbau gentechnisch veränderter Pflan- zen oder Novel Food, dann darf die Ressortforschung nicht ideologisch ausgerichtet werden. Eine kompetente Beratung setzt eine wissenschaftlich aktuelle, fundierte und neutrale Forschung voraus. Eine Vernetzung der Ressortforschung mit anderen Teilen der Forschung dient daher auch dem Schutz vor politischem Präjudiz in der Ressortforschung. Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, ich erkenne natürlich Ihr Bestreben, den Einfluss auf gentechnologische Forschungserkennt- nisse nicht zu verlieren. Aber hüten Sie sich vor einer ideologisierten Forschung! Die Ressortforschung steht auch unter dem verstärk- ten Einfluss der EU. In etlichen Bereichen – wie zum Beispiel der Arzneimittelzulassung – reicht die Zertifi- zierung durch eine Ressortforschungseinrichtung in ei- nem Mitgliedstaat. Dies bemächtigt dann automatisch zum Agieren in den übrigen Mitgliedstaaten der EU. Die Ressortforschungseinrichtungen stehen daher in einem internationalen Wettbewerb. Die wissenschaftliche Ex- zellenz der staatlich finanzierten Ressortforschungsein- richtungen repräsentiert dabei den Forschungsstandort Deutschland gegenüber der ausländischen Wissenschaft und Wirtschaft. Deutsche Ressortforschungseinrichtun- gen müssen daher im internationalen Vergleich hohen wissenschaftlichen und qualitativen Anforderungen ent- sprechen. Es ist dafür notwendig, nationale Schwer- punkte der Einrichtungen zu setzen, um mit wissen- schaftlichen Erkenntnissen in Europa gefragt und akzeptiert zu werden. Zudem ist eine Vernetzung mit der Forschungsstelle der Kommission geboten. Nutzen wir die Ressortforschungseinrichtungen als Botschafter für den Forschungsstandort Deutschland! Die Ressortforschung muss also in jeder Hinsicht bes- ser vernetzt werden. Vernetzung untereinander: Wir schlagen die zentrale Koordination der Ressortforschung durch das Bundesministerium für Forschung vor. Vernet- zung mit der übrigen Forschungslandschaft: Wir schla- gen die Begrenzung der Ressortforschung auf die Kernbereiche Erfüllung hoheitlicher Aufgaben und Poli- tikberatung vor. Die anderen Forschungsaufträge sind im Wettbewerbsverfahren zu vergeben. Vernetzung und Spezialisierung in der EU: Wir schlagen eine Anbindung an die Forschungsstelle der EU-Kommission vor. Angesichts der gebotenen Öffnung der Ressortein- richtungen zum Wettbewerb muss deren Personaldecke angepasst werden. Dabei ist die gesamte Personalstruk- tur zu überdenken. Die Besetzung der Leitung der Res- sortforschungseinrichtungen muss ausschließlich nach Exzellenz erfolgen. Derzeit werden die Leiter zahlrei- cher Bundesforschungsanstalten von den Anstaltskolle- gien ihrer Einrichtungen auf zwei Jahre aus dem Kreis der Institutsleiter gewählt. Berufungen gemeinsam mit Universitäten sind die große Ausnahme. Das Beispiel der Bundesanstalt für Holzforschung in Hamburg zeigt jedoch, dass gemeinsame Berufungen von Professoren in Leitungsfunktionen zum Nutzen für die Ressortein- richtung und für die Universität sein kann. Wer von der Ressortforschung Spitzenforschung erwartet, muss sie auch mit Spitzenwissenschaftlern in der Leitung beset- zen. Wir schlagen daher vor, die Leitungspositionen je nach Ressorteinrichtung künftig öffentlich auszu- schreiben oder bei der Berufung mit universitären und außeruniversitären Einrichtungen zusammenzuarbeiten. Dadurch kann die Einbindung und der Austausch der Ressortforschungseinrichtungen mit anderen For- schungseinrichtungen gefördert werden. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass die Dotierung der wissenschaft- lichen Leitungsstellen von Ressorteinrichtungen für Spitzenforscher nicht allzu attraktiv ist. Hier muss der von der Regierung lange angekündigte Wissenschafts- tarifvertrag endlich vorgelegt und umgesetzt werden. Der Wissenschaftsrat hat mehrfach kritisiert, dass eine Tendenz zur Überalterung aufgrund mangelnder Stellen für junge Wissenschaftler besteht. Hierin liegt eine große Gefahr für die wissenschaftliche Leistungsfä- higkeit der Ressortforschung. Wir schlagen daher eine flexiblere Bewirtschaftung der Personalmittel vor. Der- zeit sind in den Ressorteinrichtungen zum Teil lediglich 1,5 Prozent der Planstellen befristet. Dieser Anteil ist deutlich auszubauen. Befristete Stellen garantieren die notwendige personelle Anpassungsfähigkeit an geänderte wissenschaftliche Anforderungen. Auch bewirkt ein ho- her Prozentsatz befristeter Planstellen eine ausreichende 9058 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) Fluktuation junger Wissenschaftler aus den Hochschulen an die Ressorteinrichtungen. Des Weiteren kann gerade durch befristete Stellen deutlich vielschichtiger ein per- soneller Austausch mit Wissenschaftlern aus anderen Forschungseinrichtungen erfolgen. Wir schlagen vor, künftig mindestens 30 Prozent der Personalmittel flexi- bel zu bewirtschaften. Die Finanzdecke der zunehmend im Wettbewerb ste- henden Ressorteinrichtungen muss dem veränderten System angepasst werden. Mit verstärkter Beteilung an Vergabeverfahren steigt die Bedeutung von Drittmitteln für die Ressorteinrichtungen. Hierbei ist insbesondere die Einwerbung von EU-Mitteln besonders anzuerken- nen, weil diese sogar im internationalen Wettbewerb er- stritten werden müssen. Wir schlagen deshalb ein Bo- nussystem mit internen Anreizen für die Einwerber vor. Ein solches Bonusverfahren würde die Forschungsan- stalten ermutigen, selbstständig verstärkt eine eigene Rolle im Wettbewerb der Forschungslandschaft zu über- nehmen und dadurch ihre wissenschaftliche Exzellenz darzulegen. In vielen Ministerien wird die Bereitschaft und Fähigkeit der Einrichtungen, zusätzliche Drittmittel einzuwerben, durch restriktive Regelungen konter- kariert. Ministerien haben Anweisungen erlassen, nach denen die Ressorteinrichtungen einen bestimmten Pro- zentsatz – meist circa 20 Prozent – der eingeworbenen Drittmittel als so genannte Gemeinkosten an das jewei- lige Ministerium abführen müssen. Hier wird die Eigen- initiative der Ressortforschungseinrichtungen massiv ge- schwächt. Derartige Schwächungen des Nutzens von Drittmitteln müssen abgeschafft werden. Nur wenige Ressortforschungseinrichtungen lassen sich bislang in ihrer wissenschaftlichen Qualität über- prüfen. So ist beispielsweise das BMVEL nach eigener Aussage nicht in der Lage, die wissenschaftliche Quali- tät der von der Ressortforschung erbrachten Beratungs- leistung zu bewerten. Eine Beurteilung ist aber geboten, um eine hohe wissenschaftliche Exzellenz zu gewähr- leisten. Eine Qualitätsüberprüfung muss intern und extern erfolgen. Interne Qualitätssicherung dient vor al- lem den Leistungsanreizen des Einzelnen. Externe Qua- litätssicherung dient der Reputation der Ressortfor- schung, der Förderung der allgemeinen Wissenschaft aber insbesondere der Sicherung der Qualität der Politik- beratung wie auch der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben. Kriterien der externen Leistungsbemessung sind der An- teil eingeworbener Drittmittel, die Zahl hochrangiger Publikationen und Wissenschaftspreise sowie die Ver- netzung zu anderen Forschungseinrichtungen. Eine re- gelmäßige externe Evaluation aller Ressortforschungs- einrichtungen ist dringend notwendig. Dies gilt auch, um die Leistung der Ressortforschungseinrichtungen mit an- deren Teilen der Forschungslandschaft zu vergleichen. Angesichts des angesprochenen internationalen Wettbe- werbs der Ressorteinrichtungen untereinander müssen im Wege der Evaluation auch die Erreichung internatio- naler Standards überprüft werden. Bereits durchgeführte Evaluationen von Ressortforschungseinrichtungen des Bundes haben zahlreiche Möglichkeiten zur Steigerung der Effizienz hervorgebracht. Die Leistungsfähigkeit und Qualität der Ressortforschung konnte anhand der Evaluationsergebnisse oft deutlich verbessert werden. Wir fordern daher dringend, die Evaluation der Ressort- forschung auf alle Einrichtungen auszudehnen und re- gelmäßig durchzuführen. Ein weiteres Hinauszögern der Evaluation durch die Ministerien zeugt nur von einer Scheu vor den Ergebnissen der Untersuchung. In einer der letzten Untersuchungen des Wissenschaftsrates war zu lesen: „Vor diesem Hintergrund erscheint grundsätz- lich eine Prüfung der Institutionalisierungsform der Res- sortforschung erforderlich.“ Je eher die Bundesregierung die von der Union und vom Wissenschaftsrat mehrfach geforderten Änderun- gen in der Ressortforschung umsetzt, desto weniger muss sie die Evaluierung fürchten. Seit 1998 hat die Bundesregierung mehr als 6,5 Milliarden Euro für Res- sortforschung ausgegeben. Ihr Antrag, nun nach einer Definition für Ressortforschung zu fragen, ist eine Bla- mage. Ich fordere Sie daher auf: Fragen Sie nicht, son- dern handeln Sie und steigern Sie die Effizienz der Res- sortforschung! Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen verfolgen das Ziel, die Qualität des deutschen Forschungssystems weiter zu verbessern. Nur ein Forschungssystem, das in- ternationalen Standards genügt, kann uns die Innovatio- nen bringen, die unsere Wirtschaft und unsere Gesell- schaft voranbringen. Für dieses Ziel spielen die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes eine wich- tige Rolle. Sie schaffen einerseits die wissenschaftlichen Grundlagen für den jeweiligen Politikbereich und leisten zusätzlich Politikberatung. In diesem wichtigen Bereich hat die Bundesregierung schon einen ersten wichtigen Schritt getan und exemplarisch die Einrichtungen des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft evaluieren lassen. Das Gutachten des Wissenschaftsrates wurde Ende Januar vorgelegt. Mit dem heute vorliegenden Antrag wollen die Frak- tionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD den Prozess der Evaluation weiterer Ressortforschungseinrichtungen beschleunigen. Deswegen regen wir einige Schritte an, um die Vorschläge des Wissenschaftsrates zu strukturel- len Verbesserungen schnellstmöglich umzusetzen. Um Beratung auf höchstem Niveau leisten zu können, brau- chen die Forschungseinrichtungen eine gute nationale Vernetzung und eine intensive internationale Koopera- tion. Dabei stellt die Doppelfunktion der Ressortfor- schung, die wissenschaftliche Politikberatung und die effiziente Wahrnehmung administrativer Aufgaben be- sonders hohe Anforderungen an die Forschungseinrich- tung und die Behörde. Die Doppelfunktion stellt aber auch besondere Anforderungen an die Gesamtevaluie- rung der Ressortforschung. Sowohl das notwendige Be- wertungsverfahren als auch die Bewertungskriterien müssen entsprechend festgelegt werden. Nur so erhalten wir die in den Bewertungsverfahren notwendige Sicher- heit. Neben den hohen Anforderungen an die Qualität der Forschung stehen die hohen Anforderungen an ihre Effi- zienz. Hier gilt es wie in allen anderen Forschungs- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9059 (A) (C) (B) (D) einrichtungen, Reserven zu mobilisieren; denn überall muss gelten: „Mehr Forschung fürs Geld!“ Wie bei al- len anderen Forschungseinrichtungen hat sich Bünd- nis 90/Die Grünen auch bei den Ressortforschungsein- richtungen für eine Evaluierung eingesetzt, die auch in- haltliche Kriterien berücksichtigt. Diese inhaltlichen Kriterien müssen aus den Aufgaben der einzelnen Res- sorts und den gemeinsamen Politikzielen der Koalition abgeleitet werden. Dazu gehören für uns vor allem der Schutz des Klimas durch Energieeinsparung und erneu- erbare Energien, der verantwortliche Umgang mit der Biomedizin nach ethischen Grundsätzen, die Stärkung des Verbraucherschutzes und die Förderung einer natur- nahen Landwirtschaft inklusive einer artgerechten Tier- haltung. Genauso wichtig sind uns die Förderung von Forschungsschwerpunkten mit besonderer Relevanz für eine nachhaltige Entwicklung wie der Friedens- und Konfliktforschung, der empirischen Wirtschaftswissen- schaft und der sozial-ökologischen Forschung und fami- lien- und sozialpolitische Maßnahmen für mehr Genera- tionen- und Geschlechtergerechtigkeit. Neben diesen inhaltlichen Vorgaben müssen bei Res- sortforschungseinrichtungen auch die Zweckmäßigkeit des Zuschnittes und des Umfangs der Aufgaben regel- mäßig überprüft werden. Das Parlament wird die Fort- schritte kontinuierlich begleiten. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, bis spätestens Ende 2004 einen Zwischenbericht über die weiteren Entwicklungen vor- zulegen. Weil uns die Forschung am Herzen liegt, halten wir auch eine Gesamtbetrachtung der deutschen Forschungs- landschaft mehr denn je für geboten. Aus diesem Grund hoffen wir weiterhin, dass auch die Ressortforschungs- einrichtungen der Länderministerien dem Vorbild des Bundes folgen und eine stärkere Evaluation der For- schungseffizienz durchführen. Ulrike Flach (FDP): Im Jahr 1887 begann die Tra- dition der Ressortforschung mit der Gründung der Phy- sikalisch-Technischen Reichsanstalt. In diesen über 100 Jahren hat die deutsche Ressortforschung her- vorragende Arbeit geleistet und großartige Ergebnisse erzielt. Aber – und das gilt für staatliche Forschungseinrich- tungen wie für private Unternehmen – man darf sich auf seinen Lorbeeren nicht ausruhen. Und während die gro- ßen deutschen öffentlich geförderten Forschungsorgani- sationen in den letzten Jahren systematisch evaluiert wurden, ist dies bei der Ressortforschung nicht ge- schehen. Ich meine nicht die Begutachtung einzelner Einrichtungen, sondern eine generelle in- und externe Evaluierung. Dagegen gab es auch bei den Forschungs- einrichtungen wie Max-Planck, DFG etc. zunächst Be- denken. Heute finden Sie niemanden mehr, der die Eva- luierung nicht als Vorteil für mehr Wettbewerbsfähigkeit sieht. Im letzten Jahr flossen 11,3 Prozent aller vom Bund für Forschung ausgegebenen Mittel in die bundeseige- nen Anstalten. Sie hatten 2003 1,2 Milliarden Euro Ge- samtetat, also deutlich mehr als zum Beispiel die MPG. Der Vorsitzende des Wissenschaftsrates hat zu Recht ge- sagt, es ist „untragbar“, dass Fördermittel in solchem Umfang ohne externe Begutachtung und ohne wettbe- werbliche Verfahren ausgegeben werden. Schon zu Be- ginn der 90er-Jahre hat der ehemalige Forschungsminis- ter Professor Laermann den Versuch unternommen, die Ressortforschung komplett evaluieren zu lassen. Damals gab es großen Widerstand in der Union. Die FDP-Frak- tion hat in der letzten Legislaturperiode einen Antrag zur Evaluierung der Ressortforschung eingebracht. Da hat die jetzige Bundesregierung gesagt: Das machen wir al- les schon. In dieser Wahlperiode haben wir wieder einen Antrag eingebracht. Da haben Sie gesagt: Wir warten die Stellungnahme des Wissenschaftsrates ab. Die ist nun genauso ausgefallen, wie wir erwartet haben. Jetzt fordern SPD und Grüne in einem Antrag, dass der Wissenschaftsrat die Ressortforschungseinrichtun- gen überprüfen möge, aber bitte – so Punkt 4 ihres An- trages – nur exemplarisch. Sie trauen sich nicht, den staatlichen Einrichtungen das zuzumuten, was Sie den anderen Forschungsorganisationen aufgebürdet haben! Wir meinen, die Begutachtung muss intern, extern und so bald wie möglich erfolgen. Der Wissenschaftsrat wäre eine kompetente Organisation für diese Aufgabe, aber ich kann mir auch eine Ausschreibung der Evaluation vorstellen. Sie schlagen vor, die Ressortforschungseinrichtungen sollen zukünftig ein Forschungsprogramm erstellen. Das ist doch die Aufgabe der Ministerien. Wozu machen Sie denn überhaupt Forschungsprogramme im jeweiligen Haushalt? Hier liegt ja gerade der Sinn von Ressortfor- schung, dass klare Aufträge für Forschungsprogramme verteilt werden können. Schauen Sie einmal in die USA, wie dort bestimmte Forschungsschwerpunkte ressort- übergreifend, kohärent und koordiniert „durchgezogen“ werden. Biotechnologie, Nanotechnologie, Sicherheits- forschung – mit massiven finanziellen Mitteln, die wir hier nicht haben, aber eben auch im Rahmen einer klar definierten Aufgabenbeschreibung. Wir wollen Ressortforschung in den internationalen und nationalen Wettbewerb stellen. Aufträge – zumin- dest im nicht sicherheitsrelevanten Bereich – müssen öf- fentlich ausgeschrieben werden. Nur mit mehr Wettbe- werb kann die Ressortforschung auch die Qualität erreichen, die wir brauchen, um ihre Existenz zu recht- fertigen. Wird diese Qualität nicht erreicht, darf man auch nicht davor zurückschrecken, Bundesanstalten auf- zulösen und die Aufgaben an öffentlich geförderte oder private Forschungseinrichtungen zu vergeben. Der Antrag der Union ist umfassender und konkreter. Ich bin froh, dass Sie den Widerstand, gegen den unsere Kollegen in den 90er-Jahren ankämpfen mussten, aufge- geben haben. Und ich hoffe, dass die Regierungskoali- tion endlich den Mut findet, wirklich Qualitätssicherung zu betreiben und nicht nur Bestandssicherung von staat- lichen Einrichtungen. 9060 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 35 und 87 a) (Tagesordnungspunkt 12) Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Nach den An- schlägen von Madrid haben wir heute Abend die erste Gelegenheit, im Plenum über die Bedrohung durch den islamistisch geprägten Terrorismus zu diskutieren. Vo- rausgegangen ist immerhin eine intensive Debatte mit dem Bundesinnenminister gestern im Innenausschuss. Jeder und jede derjenigen unter uns, die sich um die innere Sicherheit kümmern, stellt Fragen und Forderun- gen. Das ist nach der Bluttat von Madrid, nach der Zu- spitzung des Nahostkonflikts in diesen Tagen und nicht zuletzt nach der vorzeitig abgebrochenen Afrikareise des Bundespräsidenten wegen ernst zu nehmender Terrord- drohungen unumgänglich. Aber unter all den Überlegun- gen zur Gefahrenabwehr ist diejenige zum umfassenden Einsatz der Bundeswehr im Innern unseres Landes die untauglichste, und zwar aus sicherheitspolitischen, prak- tischen und gesellschaftlichen Gründen. Das möchte ich kurz darlegen: Der Aspekt betrifft unser Prinzip der Trennung poli- zeilicher und militärischer Aufgaben. Richtig ist, dass der Terrorismus die globale, transatlantische, europäi- sche und nationale Sicherheit bedroht. Das bedingt hohe Wachsamkeit, Qualifikation und Einsatz, kluge Vorsorge und die Demonstration der Stärke, die unser Rechtsstaat aufzuweisen hat. Es bedeutet aber eben nicht die poli- tisch und verfassungsrechtlich gewollte Aufgabenteilung zwischen der Polizei des Bundes und der Länder einer- seits und den Streitkräften andererseits aufzuheben. Seit Monaten kommt aus den Reihen der Union, aus Bund und Ländern, dieser Vorschlag, so als wollten Sie damit unsere nach dem 11. September 2001 beschlossenen Ge- setzespakete toppen und hätten die Patentlösung an der Hand. Jedoch den Eindruck zu erwecken, man könne via Grundgesetzänderung vollkommenen Schutz vor An- schlägen gewähren, die unser Vorstellungsvermögen übersteigen, wäre ein Irrweg. Ich kann nur dringend da- vor warnen. Halten wir fest: Schon nach geltender Gesetzeslage kann die Bundeswehr logistisch-technische Amtshilfe leisten, bei Naturkatastrophen und schweren Unglücks- fällen tätig werden, im Spannungs- und Verteidigungs- fall zivile Objekte bewachen und den Verkehr regeln und die Polizei unterstützen, wenn unsere freiheitlich-demo- kratische Grundordnung gefährdet ist. Eine bestehende Lücke – nämlich die Frage, wie und ob der Verteidi- gungsminister handeln darf, wenn zum Beispiel ein Flugzeug von einem Entführer in eine Bombe verwan- delt zu werden droht – wird mit dem Luftverkehrssicher- heitsgesetz geschlossen. Der zweite Aspekt betrifft die Umsetzung in der Pra- xis. Woher soll die Bundeswehr eigentlich die geschul- ten Kräfte nehmen, die polizeiliche Aufgaben so erfüllen können, wie es zum Beispiel die Polizisten gelernt ha- ben, so etwa beim Personen- und Objektschutz, bei der Koordinierung eines Gesamteinsatzes, bei der mäßigen- den Einwirkung auf Menschen im Fall einer Panik? Das Argument, Soldaten würden Polizeiaufgaben ja auch etwa im Kosovo oder in Afghanistan übernehmen, über- zeugt nicht. Denn dort tut sie es, weil noch keine ausge- reiften Polizeistrukturen vorhanden sind. Das alles gibt es aber in Deutschland – beim Bundesgrenzschutz, bei den Polizeien der Länder. Sollten dort Mängel und Eng- pässe sein, müssen sie auch von den Ländern beseitigt werden. Es geht nicht an, dass die Länder ihre durch Sparmaßnahmen entstandenen Personalprobleme da- durch beseitigen, dass Streitkräfte als Lückenbüßer ein- springen. Und wenn Sie schon uns nicht glauben, hören Sie doch auf das Urteil der Praktiker: des Bundeswehrver- bandes zum Beispiel, der vor einem erweiterten Einsatz im Innern mit schlüssigen Argumenten warnt! Ein dritter Einwand betrifft unser gesellschaftliches Klima. So besorgt viele Menschen auch angesichts der aktuellen Lage sind, wie sehr auch dazu bereit, Unan- nehmlichkeiten wie intensivere Kontrollen, Absperrun- gen, Wartezeiten in Kauf zu nehmen, so deutlich ist auch die Abneigung gegen eine Militarisierung unseres öf- fentlichen Lebens. Panzer vor Parlamentsgebäuden, Sol- daten vor Bahnhofshallen – davor scheuen viele zurück. Und ein lückenloses Bewachungssystem für alle mögli- cherweise gefährdeten Einrichtungen ist nicht zu errei- chen. Wir können Risiken verringern, aber nicht aus- schließen. Und wir sollten den Menschen deshalb auch nicht einen absoluten Schutz vorgaukeln. Reden wir aber auch nicht kaputt, was wir mit den so genannten Anti-Terror-Gesetzen mit erheblichen Kom- petenzerweiterungen und mehr Personal beim Bundes- kriminalamt, beim Bundesamt für Verfassungsschutz, beim Bundesgrenzschutz und beim Bundesnachrichten- dienst mit rechtlicher Handhabe geleistet haben. Der Verfolgungs- und Ermittlungsdruck ist hoch. Mit den bisher getroffenen Maßnahmen ist es immerhin gelun- gen, geplante terroristische Anschläge in der Bundes- republik zu vereiteln. Jetzt geht es darum, unsere in sich gefestigte Sicherheitsarchitektur auf Mängel abzuklop- fen, den Informations- und Datenaustausch zu verbes- sern – in Bund und Ländern, aber auch innerhalb der EU. Wichtig sind Ursachenbekämpfung, Vorbeugung und Voraufklärung. Wir bewegen uns auf dem schmalen Grat zwischen Gefahrenabwehr und Freiheit. Die Prinzipien unseres Rechtsstaates müssen wir wahren. Sonst hätten die Ter- roristen einen Teilerfolg erzielt. Den können und dürfen wir ihnen nicht gönnen. Jürgen Herrmann (CDU/CSU): Die Welt verändert sich. Was vor einigen Jahren, Monaten oder Tagen noch nicht wahrscheinlich erschien, ist heute bereits Realität oder könnte in nächster Zukunft eintreffen. In vielen Be- reichen des täglichen Lebens haben wir uns darauf ein- gestellt und entsprechende Vorkehrungen für diese neuen Herausforderungen getroffen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9061 (A) (C) (B) (D) Was für die Bereiche Wissenschaft, Technik oder Me- dizin selbstverständlich ist, sollte jedoch auch für den Bereich der inneren und äußeren Sicherheit gelten. Be- ginnend mit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York bis hin zu den blutigen Anschlägen auf Zi- vilisten in Madrid hat uns bereits vor geraumer Zeit eine Herausforderung erreicht, die ihresgleichen sucht. Daher sind wir jetzt und heute aufgefordert, einen ausreichenden Schutz unserer Bevölkerung zu gewähr- leisten, bei dem es darauf ankommt, dass neben der Ge- fahrenbekämpfung im Ausland ein umfangreiches, lü- ckenloses Sicherheitsnetz aufgebaut wird, das auf die Bedürfnisse unseres Landes zugeschnitten ist. Die Terrorakte in Madrid haben die Diskussion um die Vorstellung möglicher Anschläge in Deutschland be- schleunigt. Ich weise jedoch nochmals ausdrücklich da- rauf hin, dass die CDU/CSU-Fraktion und auch unions- regierte Bundesländer bereits vor diesem schrecklichen Ereignis initiativ geworden sind. Bereits am 5. März 2004, also sechs Tage vor den Anschlägen in Madrid, wurde ein gleich lautender Antrag der Länder Bayern, Hessen, Sachsen und Thüringen auf den Weg gebracht. Ich weise daher die Äußerung der SPD-Fraktion in ihrer Presseerklärung vom heutigen Tag entschieden zurück, dass die Union diesen Antrag aus „parteipolitisch-ideo- logischen Zielen“ eingebracht hat. Durch Ihre Äußerun- gen dokumentieren Sie, dass es Ihnen offensichtlich nicht um den Schutz unserer Bürger geht. Sie versuchen vielmehr, von Ihren unzulänglichen Versuchen abzulen- ken, Deutschland die Sicherheit zu gewähren, die mög- lich wäre. Wir alle sind verpflichtet, neben der Entwicklung ei- nes einheitlichen, effektiven und zukunftsorientierten Gesamtverteidigungskonzeptes Vorsorge für mögliche Schadensereignisse zu treffen. Wir dürfen uns nicht mehr an den Standards der Vergangenheit orientieren, sondern wir müssen den Gefahren der Zukunft begeg- nen und heute handeln. Die CDU/CSU-Fraktion bringt daher am heutigen Tage einen Gesetzesentwurf ein, der dazu beitragen wird, den terroristischen Gefahren der Gegenwart und Zukunft entschieden zu begegnen. Wir sind an einen Punkt gelangt, an dem auch Sie endlich die Zeichen der Zeit erkennen und für eine Verfassungsänderung eintre- ten müssen, die allen Beteiligten zugute kommt. den Menschen in unserem Land und den Entscheidungsträ- gern im politischen, polizeilichen aber auch militäri- schen Umfeld. Mit der Änderung der Art. 35 und 87 a GG soll gewährleistet werden, dass die zu bewältigen- den Aufgaben auf verfassungsrechtlich sicheren Boden gestellt werden. Als die Väter des Grundgesetzes die Artikel in das Grundgesetz aufnahmen, die heute angepasst werden sollen, konnten sie nicht ermessen, wie sich die Welt verändern würde. Der Begriff der asymetrischen Bedro- hung durch Terroristen oder Failed States war nicht be- kannt. Aber schon nach der Hochwasserkatastrophe 1962 in Hamburg war ersichtlich, dass das Grundgesetz den Anforderungen nicht mehr genügte und nachgebes- sert werden musste. Heute sind Parallelen zur damaligen Geschichte feststellbar. Heute stehen wir vor neuen He- rausforderungen, denen wir angemessen entgegentreten müssen. Mit dem vorliegendem Entwurf wird die Einsatzmög- lichkeit der Streitkräfte – im Rahmen eng gefasster ver- fassungsrechtlicher Schranken – ergänzt. War der zivile Objektschutz bisher zum Beispiel im Verteidigungsfall sowie im Fall des inneren Notstandes möglich, soll dies nun auch bei einer terroristischen Bedrohung möglich sein; dies sicherlich nur als Ultima Ratio, denn generell zeichnen Polizei und Grenzschutz für diese Aufgabe ver- antwortlich. Die Streitkräfte sollen und werden nicht als Lückenbüßer für fehlende Länder- oder Bundesressour- cen benötigt, sondern sollen nur dort unterstützen, wo es die Einsatzlage erfordert. Ich nenne hier nur die Bedro- hung einer Vielzahl von Objekten bei einer terroristi- schen Gefährdung oder wenn zum Beispiel Flughäfen weiträumig gesichert werden müssen. Ebenso gilt das natürlich für den Fall, wenn Polizei und BGS aufgrund fehlender Mittel und Fähigkeiten nicht in der Lage sind, ihrem Auftrag nachzukommen. Eine rechtliche Klarstellung durch den Gesetzentwurf erfährt auch der Einsatz der Streitkräfte im Vorfeld eines unmittelbar drohenden Unglücksfalls im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG. Ist die Rechtslage bei einem bereits ein- getretenen Unglücksfall unstrittig, so ergeben sich bei ei- nem unmittelbar bevorstehenden Schadensereignis jedoch unterschiedliche Rechtsauslegungen. Die Bundesregie- rung geht heute noch von der strittigen Annahme aus, dass dieser Tatbestand verfassungsrechtlich durch Art. 35 Abs. 2 GG erfasst wird. Da sich auch hier die Gelehrten streiten, sollten im Rahmen der Rechtssicher- heit ausreichende und wie in unserem Gesetzentwurf ge- forderte Veränderung im Grundgesetz vorgenommen werden. Zu begrüßen bei der Veränderung des Art. 35 Abs. 2 GG ist ebenfalls die Einführung des Terminus der Katastrophe, da erstens die Anpassung an das Katastro- phenschutzrecht vollzogen wird und zweitens dadurch auf die Folgen und nicht auf das auslösende Ereignis Be- zug genommen wird. Neben den zuvor genannten verfassungsrechtlichen Änderungen ist sicherlich auch eine Klarstellung bezüg- lich der Einsätze der Streitkräfte auf See und in der Luft erforderlich. Ich möchte daher an dieser Stelle nur noch- mals an Sie appellieren, sich der Auffassung Ihres In- nen- und Verteidigungsministers in Bezug auf eine Ver- fassungsänderung zur rechtlichen Sicherheit wie es auch für das Luftsicherheitsaufgabengesetz angedacht ist, an- zuschließen! Es werden noch viele Veränderungen und Anpassun- gen erforderlich sein, um eine weitestgehende Sicherheit vor terroristischen Anschlägen zu gewährleisten. Wir sollten daher die uns zur Verfügung stehenden Möglich- keiten nutzen. Hierzu zählen mit Sicherheit die Soldatin- nen und Soldaten der Bundeswehr, die mit ihrem Know- how und in Teilbereichen sehr gutem Equipment ein un- verzichtbarer Garant für die Sicherheit Deutschlands sein können. 9062 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Wir alle trauerten vor wenigen Tagen und trauern nach wie vor um die Opfer in Madrid, die durch einen heimtückischen und barbarischen und menschenverachtender Anschlag gewissenloser Terroristen zu Tode kamen. Dies war ein tiefer Schlag, der mitten ins Herz der europäischen De- mokratien traf und der uns in entwaffnender Deutlichkeit vor Augen führte: Der Terrorismus hat jetzt auch West- europa erreicht. Es war aber kein Angriff einer Macht von außen, es waren nicht nur Attentäter, die aus dem europäischen Ausland kamen. An dem Anschlag waren Menschen aus dem eigenen Land beteiligt, die man weder an der Ein- reise nach Spanien hätte hindern noch hätte ausweisen können. Das Einzige, was man machen hätte können, wäre, ei- nen derartigen Anschlag mit genügender Terrorismus- vorbeugung und mit dem Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel im Vorfeld aufzudecken und ihn so – es bliebe zu hoffen, dass dies gelingt – zu vereiteln. Dies ist freilich ein frommer Wunsch, der leider bereits zu oft nicht in Erfüllung gegangen ist; aber es ist der einzige Weg, der uns zur Verfügung steht, um unser Land vor derart heimtückischen und hinterhältigen Anschlägen weitestgehend zu schützen. Wir sollten jetzt einmal konstruktiv und ohne ideolo- gische Vorbehalte gemeinsam darüber diskutieren, wel- che Mittel uns zur Verfügung stehen, um eine solch um- fassende Terrorismusvorbeugung nachhaltig und im vollen Umfang zu gestalten und welche rechtlichen Ver- besserungen nötig sind. Es steht völlig außer Frage, dass es vorrangig die dem Innenminister des Bundes und den Innenministern der Länder unterstellten Organe sind, die sich in allererster Linie um die Bekämpfung terroristi- scher Gefahren kümmern müssen. Die Polizei steht ohne Zweifel im Mittelpunkt, wenn es um die innere Sicher- heit unseres Landes geht. Dies – das bitte ich die Regie- rungsparteien einmal zur Kenntnis zu nehmen – ist je- dem in diesem Hohen Haus bewusst; niemand hier stellt das nur annähernd infrage. Es steht völlig außer Diskus- sion, dass unsere gut ausgebildeten und hochmotivierten Polizisten das beste Mittel unseres Rechtsstaates sind, sich der Herausforderung, mit der uns der Terrorismus konfrontiert, zu begegnen. Reicht das wirklich aus? – Herr Schily sagt nun schon seit Monaten fast ohne Ausnahmen: „An der Sicherheits- lage in unserem Land hat sich nichts geändert!“ Ich bin mir des Öfteren nicht ganz sicher, ob er eigentlich selbst daran glaubt, was er da den Medien und uns erzählt. Ganz abgesehen von der tatsächlichen augenblicklichen Sicherheitseinstufung ist es das oberste Gebot der Stunde, dass wir uns in vollem Umfang der Terrorab- wehr widmen. Damit meine ich wirklich „in vollem Um- fang“! Dazu gehört ohne Zweifel auch der Einsatz der Streitkräfte. Rot-Grün zieht in jüngster Vergangenheit besonders gerne Vergleiche zu Frankreich. Richten wir doch ein- mal den Blick über die Grenzen und schauen, wie unsere französischen Freunde auf den Terroranschlag in Madrid reagiert haben, wie in unserem Nachbarland Frankreich, das wohl in der gleichen Gefährdungslage sein dürfte, auf den Anschlag in Madrid reagiert wurde. Ohne zu zö- gern wurde noch am selben Tag die Sicherheitsstufe von „gelb“ auf „orange“ erhöht; es wurden 500 Soldaten im Rahmen des Antiterrorplans „Vigipirate“ zur Sicherung der Bahnhöfe und des Nahverkehrs im Raum Paris ab- kommandiert, während bei uns noch diskutiert wurde, ob dieser Anschlag nun eine erhöhte Terrorgefahr darstelle oder nicht. Es ist schlimm genug, dass das überhaupt zur Frage stand; aber ich halte es für maßlos unverantwort- lich, dass die Regierung es nicht für nötig hält, die ohne- hin bei erhöhter Sicherheitsstufe auf Überlast fahrende Polizei durch Einsatztruppen der Bundeswehr zu unter- stützen und so weitestgehend für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Ich frage die Bundesregierung eines: Wollen Sie die Verantwortung übernehmen, wenn die Bürgerinnen und Bürger an Sie herantreten und Ihnen vorwerfen, sie hät- ten nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, nicht alles in Ihrer Macht stehende getan, um solche Anschläge wie in Madrid, die auch jederzeit bei uns stattfinden könnten, zu verhindern? Ich möchte dann nicht in Ihrer Haut ste- cken und zugeben müssen: „Nein, für einen Bundes- wehreinsatz im Inneren, der nur der Sicherheit unserer Bevölkerung hätte dienen sollen, konnten wir – aus wel- chen Gründen auch immer – nicht die nötige Rechts- grundlage schaffen.“ Mir ist Ihre Argumentationslinie bestens bekannt: Sie behaupten, nach gültigem Recht könne bei Not am Mann jederzeit Amtshilfe durch die Streitkräfte geleistet wer- den. Dies gilt nur, wenn bereits Not am Manne ist! Muss es denn dazu kommen, dass auch bei uns die ersten Op- fer zu beklagen sind, weil laut Art. 35 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz die Bundeswehr nur „zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall“ eingesetzt werden darf? Dieser Passus birgt in sich, dass dieser besonders schwere Unglücksfall erst eingetreten sein muss, bevor die Streitkräfte zur Un- terstützung angefordert werden dürfen. Es ist nicht so, dass die Unionsparteien im Schilde führen, das Grundgesetz zu untergraben, um eine „Mili- tarisierung unserer Gesellschaft herbeizuführen“, wie dies der Bundesinnenminister Schily erst kürzlich bei „Sabine Christiansen“ behauptet hat. Gegen diesen Vor- wurf wehre ich mich entschieden und in aller Deutlich- keit! Kein Mensch, schon gar nicht in den Reihen der Unionsparteien, will solche Hirngespinste wie Panzer vor dem Brandenburger Tor, wie sie erst heute wieder im Plenum von Frau Göring-Eckardt vorgetragen wurden. Was wir wollen und was auch unabdingbar erforder- lich ist, ist eine rechtlich einwandfreie und verfassungs- rechtlich absolut wasserdichte Rechtsgrundlage für alle Entscheidungsträger und Verantwortlichen, die in einem Ernstfall terroristischer Bedrohung blitzartig reagieren müssen. Diese Leute haben ein Recht darauf, dass ihre ohnehin schon schwierigen Entscheidungen nicht in ei- ner rechtlichen Grauzone, sondern auf einer absolut glasklaren und unbiegsamen Rechtsgrundlage getroffen werden können. Es kann doch nicht angehen, dass ein Entscheidungsträger im Ernstfall darauf hoffen muss, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9063 (A) (C) (B) (D) dass seine Entscheidungen erst durch eine mutige Ausle- gung des Grundgesetzes rechtlich einwandfrei sind, wie dies von Herrn Kollegen Wiefelspütz gefordert wurde. Was ist nämlich, wenn die Verantwortlichen, die das Ge- setz im Nachhinein auszulegen haben, plötzlich der Mut verlässt? Auf diese vagen Versprechen kann sich ein Verantwortlicher, der in diesem Moment möglicherweise über die Sicherheit hunderter oder vielleicht sogar tau- sender Menschen entscheiden muss, nicht verlassen. Sie sind mit ihren Ansätzen, die sich im Luftsicher- heitsaufgabengesetz wiederfinden, auf dem richtigen Weg. Wir sind hierbei inhaltlich gar nicht so weit von- einander entfernt, obwohl anzumerken ist, dass gewisse Korrekturen, auf die ich hier nicht weiter eingehen möchte, einfach nötig sind. Sie vergessen dabei, dass Sie mit diesem Gesetz auf dem Weg sind, einen Konflikt mit dem gültigen Grundgesetz zu riskieren. Auch wir sind der Ansicht, dass den Streitkräften Aufgaben übertragen werden müssen, sobald es sich um Bedrohungen handelt, die die Polizei aufgrund ihrer Ausstattung einfach nicht bewältigen könnte. Dies ist aber nicht nur bei Attacken aus der Luft – nur sie wurden in ihrem Gesetzesentwurf berücksichtigt – der Fall; dies ist auch bei Gefahren von der See her der Fall, bei denen die Polizei nicht mit den adäquaten Mitteln ausgerüstet wäre, um volle Sicherheit für unser Land zu gewähren. Aus genau diesem Grund sieht unser Änderungsantrag die Neufassung des Art. 87 a GG, Abs. 2 explizit vor. Damit würde in diesem Punkt für einwandfreie Rechts- klarheit gesorgt und der Polizei eine umfassende Unter- stützung durch die Bundeswehr zukommen. Die Mittel, die die Polizei zur Sicherung unseres Landes in der Luft und zur See bräuchte, stehen nun einmal einzig und al- lein der Bundeswehr zur Verfügung. Ich muss nun schon fragen, warum diese Mittel auf der ganzen Welt zum Einsatz kommen dürfen, nicht aber, um die Sicherheit im eigenen Land, der deutschen Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Ich kenne auch Ihre Antwort auf diese Frage: Für die Sicherheit im eigenen Land sei nur die Polizei ausgebil- det und nicht die Bundeswehr, die gar nicht in der Lage wäre, polizeiliche Aufgaben zu übernehmen. Fragen Sie bitte einmal Ihren Verteidigungsminister, welche Aufga- ben die Bundeswehr im Afghanistaneinsatz oder auf dem Balkan übernommen hat. Dort fungieren unsere Truppen tatsächlich als Hilfspolizei. Es ist zwar nicht der Wunsch der Union, diese Situation auch im Inneren ent- stehen zu lassen; ich möchte Ihnen aber damit vor Augen führen, dass diese unsäglichen Argumente zur Unfähig- keit der Streitkräfte für einen Einsatz im Inneren einfach nicht stichhaltig sind. Ich fordere Sie daher auf, im Sinne einer wirksamen und effizienten Sicherheitspolitik unserem Antrag zuzu- stimmen und parteiideologische Gräben zu überwinden. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir alle sind uns in einem Punkt einig: Es ist eine grundlegende Aufgabe des Staates, die Sicher- heit unserer Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Unsere Vorstellungen von mehr Sicherheit unterscheiden sich allerdings in ihren kulturellen und gesellschaftli- chen Ansätzen ganz wesentlich von denen der CDU/ CSU. Dies wird gerade in der Frage des Bundeswehrein- satzes im Inneren, aber auch in den gegensätzlichen Konzepten für mehr Sicherheit deutlich. Die Union versucht, Altbackenes aufzuwärmen. Mit der alten Ideologie des starken Staates als Schild und Schwert der wehrhaften Demokratie will sie unser Land vor den Gefahren des globalisierten Terrorismus schüt- zen: Als Erstes sollen neue Uniformen ins Straßenbild. Durch die sichtbare Präsenz von Militär im öffentlichen Raum wollen die Christdemokraten das Sicherheitsge- fühl der Bürgerinnen und Bürger stärken. Als innenpoli- tische Sprecherin meiner Fraktion bin ich fest davon überzeugt: Soldaten mit Waffen und in Uniform auf un- seren Bahnhöfen – möglicherweise mit Panzern davor – schaffen nicht mehr Sicherheit; die Union will sie uns vorgaukeln. In Wirklichkeit entsteht ein Klima der Ver- unsicherung: Die Bevölkerung wird in Angst und Schre- cken versetzt. Die Union fordert eine Übertragung von Polizeibe- fugnissen an die Bundeswehr. Wehrpflichtige sollen zur Polizeireserve der Landesinnenministerien werden. Ich male mir diese Szenerien einmal für die Realität aus. In den Ländern – immerhin 16 an der Zahl, alle mit eigenen Polizeien und Geheimdiensten – gibt es unterschiedliche Beurteilungen der konkreten Bedrohungslage. Herr Beckstein entscheidet sich in Bayern für Bundeswehrpa- trouille am Münchener Hauptbahnhof zu Fuß. Herr Koch in Hessen mag es etwas mobiler: Er lässt die Fahr- zeuge auf den Zufahrtsstraßen zum Flughafen von Bun- deswehrsoldaten durchsuchen. Andere Bundesländer setzen demgegenüber auf den bewährten Einsatz der Polizei. Eine derartige Kleinstaaterei stiftet in der kleinen Bundesrepublik nur Chaos. Eine solche Ideologisierung der Innenpolitik treibt bekanntlich gerade in Wahl- kampfzeiten ihre eigenen Blüten. Ich erinnere nur an das Intermezzo des Herrn Schill in Hamburg. Einen solchen politischen Mummenschanz machen wir nicht mit. Gerade aus den Debatten über das Luftsicherheitsge- setz wissen wir, dass es in zugespitzten Sicherheitslagen geradezu verheerend ist, wenn mit föderaler Engstirnig- keit um Zuständigkeiten gerungen wird und jeder nach Gutdünken Phantomjäger aufsteigen lassen kann. Wir schaffen in diesem Bereich neue Regelungen. Frau Merkel kündigt hierbei jedoch in unverantwortlicher Weise eine Blockade der Union an. Die Bundeswehr hat ihre Aufgaben in der äußeren Si- cherheit. Sie nimmt diese mit großer Verantwortung und mir hohem qualitativen Standard wahr. Wir machen aus der Bundeswehr keine Hilfspolizei, die nach Belieben von Landesinnenministern angefordert werden kann. Dort, wo die Bundeswehr einen sinnvollen unterstützen- den Beitrag im Inneren leisten kann, ist ihr Einsatz schon heute möglich. Wir wollen keine Militarisierung des staatlichen Gewaltmonopols. Wehrpflichtige sind für Durchsuchungen oder gar für den Einsatz von Waffenge- walt im öffentlichen Raum nicht ausgebildet. Die enge Bindung des Polizeirechtes an das Verhältnismäßigkeits- 9064 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) prinzip ist die Grundlage für die Anerkennung des staat- lichen Gewaltmonopols. Unsere Sicherheit nach innen und außen beruht im Wesentlichen auf drei Säulen: Erstes. Die Polizei des Bundes und der Länder ist für die innere Sicherheit im Bereich der Prävention und der Strafverfolgung. Zweitens. Für die äußere Sicherheit ist die Bundes- wehr verantwortlich. Drittens. Die Geheimdieste – der nach innen ausge- richtete Verfassungsschutz und der nach außen ausge- richtete Bundesnachrichtendienst – sorgen für die strate- gische Aufklärung. Ich bin sehr dafür, die jeweiligen Bereiche zu reformieren, Bürokratie abzubauen und Doppelarbeit von Bund und Ländern zu vermeiden. Die- ses geschieht auch durch vielfältige Anstrengungen. Ich hoffe vor allem, dass die Kleinstaaterei der Verfassungs- schutzbehörden endlich überwunden wird. Sie blockiert die Verbesserung der europäischen und internationalen Zusammenarbeit. Wir brauchen – gerade bei der Abwehr des Terroris- mus – ganz gewiss Information Boards. Wir sollten aber tunlichst vermeiden, die Aufgaben von Armee, Polizei und Geheimdiensten miteinander zu vermengen. Alle drei sollten jeweils das tun, wofür sie ausgebildet und ausgestattet sind. Wer die Grenzen verwischen will, stif- tet nur – übrigens gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen selbst – Chaos und Verunsicherung. Das geht zulasten der Bürgerinnen und Bürger, zulasten ihrer Sicherheit und nicht zuletzt auch zulasten der Bürger- rechte. Trennung von innerer und äußerer Sicherheit ist in unserer Verfassung aus guten Gründen festgelegt. Es gibt keinen vernünftigen Grund, von diesem bewährten Grundsatz abzuweichen. Die Union tut in dieser Debatte so, als gebe es keine weit reichenden Möglichkeiten zum Einsatz der Bundes- wehr im Inland. Das ist schlichtweg falsch: Das Grund- gesetz ist viel vernünftiger und klüger als die Opposi- tion. Schon heute ist der Einsatz der Bundeswehr „bei einem besonders schweren Unglücksfall“ möglich. Dies kann eine durch Naturereignisse oder auch durch Men- schenhand verursachte Katastrophe sein. Die Regelung gilt doch auch für politisch motivierte Anschläge. Es kann doch keinen Unterschied machen, ob beispiels- weise ein Chemiewerk durch eine Verpuffung oder durch einen Anschlag in die Luft fliegt. Genauso wenig kann das Grundgesetz so ausgelegt werden, als müsse erst der Eintritt des Schadensfalls abgewartet werden. War es etwa verfassungswidrig, dass die Bundeswehr im Oderbruch oder bei dem Hochwasser im Sommer 2002 präventiv die Dämme erhöht hat? Hätte sie die Überflu- tung abwarten und erst dann eingreifen dürfen? Wenn Frau Merkel von einem „Extremfall“ spricht, dann weiß sie offensichtlich nicht, dass die Bundeswehr bei einem übergeordneten Notstand oder zur „Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die frei- heitlich demokratische Grundordnung des Bundes“ ein- gesetzt werden kann. Herr Beckstein wird hierbei deutlicher: Er will die Bundeswehr im Objektschutz einsetzen; er will Wehr- pflichtige als Hilfspolizisten einsetzen. Es verwundert mich schon sehr, dass ausgerechnet der Innenminister den Zugriff auf die Bundeswehr fordert; denn er blo- ckiert gleichzeitig bei jeder Gelegenheit den Aufbau ei- ner Bundespolizei. Herr Beckstein ist vom föderalen Ei- gensinn geprägt: Bayern ist das einzige Bundesland, dass sich beharrlich weigert, die Flughafensicherheit in die Bundeskompetenz zu übertragen und besteht auf ei- nen eigenen bayrischen Grenzschutz. Die Debatte über den Einsatz der Bundeswehr im In- neren sollten wir wie zu Beginn der 90er-Jahre beerdi- gen. Sie kommt immer einmal wieder; aber sie wird da- durch nicht besser. Wir wollen keine Militarisierung der Gesellschaft. Wir sind offen für Debatten über die Opti- mierung der Polizeiarbeit. Lassen Sie uns über die Bun- despolizei und ihre Zuständigkeiten streiten. Das ist Aufgabe der Innenpolitik. Dr. Max Stadler (FDP): Die FDP-Bundestagsfrak- tion hat am Dienstag einstimmig ihr Konzept zum Thema innere Sicherheit und Terrorismusabwehr im li- beralen Rechtsstaat verabschiedet. Wir sind der festen Überzeugung, dass die innere Sicherheit im Wesentli- chen mit den schon bestehenden gesetzlichen Instrumen- tarien gewährleistet werden kann, wenn die Sicherheits- behörden optimal personell, technisch und finanziell ausgestattet werden. Nur aufgrund einer Bestandsauf- nahme der nach dem 11. September 2001 beschlossenen Anti-Terrorismus-Gesetze sollten wir über Gesetzesän- derungen sprechen, wenn die Auswertung der Tatsachen ergibt, dass tatsächlich gesetzgeberischer Handlungsbe- darf zur Schließung von Sicherheitslücken bestehen sollte. Es ist legitim, dass gerade nach den Anschlägen von Madrid am 11. März 2004 auch alte Vorschläge noch einmal zur Diskussion gestellt werden. Häufig zeigt aber eine nähere Betrachtung, dass falsche Argu- mente durch ständige Wiederholung nicht besser wer- den. Dies gilt für die Zentralisierungspläne des Bundesin- nenministers und insbesondere für seinen Vorschlag, die Landeskriminalämter in das Bundeskriminalamt einzu- gliedern. Die FDP lehnt dies genauso ab, wie den heute zum wiederholten Male von der CDU/CSU eingebrach- ten Vorschlag, die Bundeswehr verstärkt im Inneren ein- zusetzen. Für uns als Liberale gilt, dass wir bei allen Maßnahmen zur inneren Sicherheit darauf Wert legen, bewährte rechtsstaatliche Grundstrukturen nicht außer Kraft zu setzen. Zu diesen Grundsätzen gehört für uns die klare Trennung der Aufgaben von Polizei und Bun- deswehr. Die Bundeswehr gewährleistet unsere äußere Sicherheit; dies schließt auch die Überwachung des Luftraums ein. Sie ist für polizeiliche Aufgaben nicht ausgebildet und nicht ausgerüstet. Moderne Polizeiarbeit erfordert eine hoch spezialisierte Ausbildung. Man kann nicht die Arbeit von Fachhochschulabsolventen ohne weiteres durch den Einsatz von anderen Berufsgruppen oder etwa von Wehrpflichtigen ersetzen. Aus diesem Grund befinden wir uns in Übereinstimmung mit der ganz überwiegenden Zahl der Praktiker aus Bundeswehr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9065 (A) (C) (B) (D) und Polizei, die ebenfalls an der von uns vertretenen kla- ren Trennung dieser beiden Institutionen festhalten wol- len. Dagegen spricht auch nicht das oft zu hörende Argu- ment, wenn die Bundeswehr im Ausland polizeiliche Aufgaben übernehmen könne, müsse sie dies auch im Inland tun dürfen. Soweit die Bundeswehr im Ausland polizeilich tätig wird, geschieht dies unter Kriegsrecht in Staaten, in denen keine funktionierende Polizei existiert. Diese Situation ist selbstverständlich überhaupt nicht auf die Lage in der Bundesrepublik Deutschland übertrag- bar, sodass dieses Argument nicht zutrifft. Richtig ist allerdings, dass der Polizei möglich sein muss, die Bundeswehr im Einzelfall um Hilfe und Mitar- beit zu bitten. Dies ist sinnvoll und daher längst in der Verfassung geregelt. Nach Art. 35 GG darf die Polizei im Wege der Amtshilfe auf die Mitwirkung der Bundes- wehr zurückgreifen. Diese Regelung reicht unserer Mei- nung nach aus. Im Übrigen wird sich der Innenausschuss des Bun- destages mit einem speziellen Aspekt des Themas am 26. April 2004 in einer Sachverständigenanhörung be- fassen. Sollte – wogegen allerdings gewichtige Argu- mente sprechen – die Zulässigkeit des Abschusses von Passagierflugzeugen in einem Luftsicherheitsgesetz ge- regelt werden, dann muss zugleich entschieden werden, ob für diesen speziellen Fall eine Klarstellung in Art. 35 GG einzufügen ist. Dies wird nach der Einho- lung des Rates von Sachverständigen zu entscheiden sein. Ein praktisches Problem muss ebenfalls noch ange- sprochen werden: Von der Polizei wird immer wieder vorgetragen, dass die Personalkapazitäten insofern nicht richtig eingesetzt werden, als hoch ausgebildete Polizei- beamte die Bewachung von Liegenschaften übernehmen müssen. Man sollte daher darüber nachdenken, ob nach dem Modell von Berlin und Hamburg hierfür speziell ausgebildetes Wachpersonal eingesetzt wird. Auch die- ser Gesichtspunkt zwingt uns somit nicht dazu, einem vermehrten Einsatz der Bundeswehr im Inneren das Wort zu reden. Vielmehr ergäbe sich, wenn man dem Antrag der Union zustimmen würde, schon eine Veränderung der Qualität unseres Staatswesens, wie sie mit einer ständi- gen Präsenz der Bundeswehr im Inneren anstelle der Polizei optisch sichtbar würde. Wir sind der Meinung, dass der terroristischen Bedro- hung mit einer gut organisierten und optimal ausgestatte- ten Polizei und mit der Hilfe der Arbeit unserer Geheim- dienste wirksam begegnet werden kann. Daher wird die FDP den Antrag der CDU/CSU nicht unterstützen. Petra Pau (fraktionslos): Erstens. Die PDS im Bun- destag lehnt den Einsatz der Bundeswehr im Innern ab. Es gibt gute Gründe, bei der Ablehnung zu bleiben, und schlechte Anlässe, anderes zu wollen. Leider sucht und findet die CDU/CSU immer wieder schlechte Anlässe für ihr Begehren; es wird dadurch nicht besser. Das Ge- bot der Trennung zwischen Polizei und Armee hat trif- tige – historische und sachliche – Gründe. Obendrein ist sie im Grundgesetz geregelt. Zweitens. Ich weiß wohl, dass auch das Grundgesetz nicht immer der letzte Stein der Weisen ist. Es ist – so- fern es nicht die Substanz der Demokratie und der Men- schenwürde betrifft – änderbar. Interessant ist allerdings, wann und wo die CDU/CSU bereit ist, Änderungen am Grundgesetz vorzunehmen: Als es um die deutsche Ein- heit ging, lehnte sie jede Reform ab. Als es um die Ein- schränkung des Asyls ging, war sie sofort bereit. Wenn es um mehr Demokratie geht, dann sagt die CDU/CSU immer Nein. Wenn es um die Militarisierung geht, dann ist sie stets vornweg. Allein das lässt schon an ihrer Lau- terkeit zweifeln. Drittens. Das Grundgesetz lässt bereits jetzt drei Aus- nahmen zu, bei denen die Bundeswehr im Innern einge- setzt werden kann. Dabei handelt es sich wohl bemerkt um Ausnahmen. Die CDU/CSU aber will die eng gefass- ten Ausnahmen zum Dauerfall machen, und das mit überaus durchsichtigen Scheinargumenten. So heißt es: „In Afghanistan leisten Soldaten Polizeidienst. Warum sollten sie das nicht auch dürfen?“ Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Ein Fehler im Ausland begründet keinen weiteren im Inland. Viertens. Hinzu kommt: Der Antrag der CDU/CSU öffnet jedem Missbrauch Tür und Tor. Wichtige Hemm- schwellen könnten fallen. Ich kenne niemanden, der sich Panzer in seinem Alltag – auf dem Weg zum Bahnhof oder bei Demonstrationen gegen Sozialabbau bzw. Kriege – wünscht. Genau solche Einsätze sieht aber ihr Antrag vor. Sie wollen einen Freibrief für „drohende Ka- tastrophen oder Unglücksfälle“, also für präventive Ein- sätze. Genau das aber kennt das Völkerrecht – wohl be- dacht – nicht. Wir, die PDS im Bundestag, wollen ihn auch nicht, zumal er ein grundlegender Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit wäre. Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister des Innern: Der Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU erschöpft sich darin, die aktuelle Bundes- ratsinitiative der Länder Bayern, Hessen, Sachsen und Thüringen zu übernehmen. Beide Initiativen gehen auf einen Entwurf Bayerns zurück. Die Regelungsvorschläge sind nicht neu: Bereits nach den Ereignissen des 11. September 2001 hatte Bayern zusammen mit Sachsen einen Gesetzentwurf einge- bracht, der vorsah, dass die Streitkräfte die Polizeikräfte in Ausnahmelagen beim Schutz ziviler Objekte entlas- ten. Der Bundesrat hatte die Initiative zu Recht abge- lehnt. Auch an der Auffassung der Bundesregierung hat sich nichts geändert. Die Verfassung sieht einen Einsatz der Streitkräfte zum Schutz ziviler Objekte bislang aus gu- tem Grund nur im Spannungs- bzw. Verteidigungsfall sowie bei einem inneren Notstand vor, also bei der Be- wältigung schwerster, den Gesamtstaat fundamental be- rührender Ausnahmelagen. 9066 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) Im föderativen System des Grundgesetzes ist die Wahrnehmung originärer polizeilicher Aufgaben Sache der Länder. Wir alle sind uns darüber im Klaren, dass die neuen terroristischen Bedrohungen Bund und Ländern erhebliche Anstrengungen abverlangen. Sie erfordern aber keine Verschiebung der seit langem bewährten Trennlinie zwischen polizeilichen und militärischen Aufgaben. Es kann auch nicht sein, dass der Bund Aufgaben übernimmt, welche die Verfassung den Ländern zuweist und die diese mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln grundsätzlich auch selbst zu erfüllen vermögen. Damit würde den Streitkräften ohne einen zwingenden Grund eine Rolle zugedacht, die sie nach dem System unserer Sicherheitsarchitektur nicht haben sollen. Die Entlastung von Polizeikräften ist kein genügender Grund für eine Verschiebung der Trennlinie zwischen polizeili- chen und militärischen Aufgaben. Die Initiatoren des Entwurfs halten es zudem für er- forderlich, im Grundgesetz klarzustellen, dass die Streit- kräfte nicht nur zur Bewältigung der Folgen einer Kata- strophe oder eines besonders schweren Unglücksfalles, sondern auch bereits zu deren Verhinderung eingesetzt werden dürfen. Diese Frage hat bereits im ersten Durch- gang der Beratungen des Bundesrates zu dem Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben eine Rolle gespielt. Der Bundesrat hat sich in seiner Stellungnahme die verfas- sungsrechtlichen Bedenken Bayerns nicht zu Eigen ge- macht. Der gegenteilige Standpunkt der Bundesregierung ist Ihnen bekannt: Wir sind der Ansicht, dass das Grundge- setz den Einsatz der Streitkräfte bereits dann zulässt, wenn der Eintritt des Unglücksfalls bevorsteht. Lassen Sie uns hierzu den Verlauf der parlamentarischen Bera- tungen zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ab- warten! Es erscheint wenig zweckmäßig, diese mit der Beratung der vorliegenden Anträge gleichsam vorweg- nehmen zu wollen. Der Vorschlag, Art. 87 a Abs. 2 GG um eine Rege- lung für Einsätze der Streitkräfte aus der Luft und von See her zu ergänzen, erhebt originäre Polizeiaufgaben zu einer neuen Hauptaufgabe der Streitkräfte neben der Er- füllung ihres Verteidigungsauftrags. Für eine derart weit- gehende Umgestaltung unserer Sicherheitsarchitektur sehe ich keinen genügenden Anlass: Für Luftlagen und Lagen innerhalb des deutschen Küstenmeeres haben wir mit Art. 35 GG eine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage, die nicht im Sinne einer neuen Daueraufgabe der Streitkräfte erweitert werden sollte. Damit bewegt sich die Bundesregierung innerhalb der gegebenen Si- cherheitsarchitektur, wonach Gefahrenabwehraufgaben grundsätzlich Ländersache sind. Auf hoher See gelten die Regeln des Völkerrechts. Hier hat grundsätzlich der Bundesgrenzschutz die Maßnahmen zu treffen, zu denen die Bundesrepublik Deutschland nach dem Völkerrecht befugt ist. Die Sicherheitsarchitektur des Grundgesetzes hat sich über einen langen Zeitraum bewährt. Wir alle sind gehal- ten, äußerst kritisch und sorgfältig zu prüfen, ob sie den Anforderungen genügt, die uns die neuen terroristischen Bedrohungen aufzwingen. Ohne einen zwingenden Grund gibt es keinen Anlass, die bewährte Trennlinie zwischen polizeilichen und militärischen Aufgaben zu verschieben. Ich gehe davon aus, dass die neuen Bedro- hungspotenziale keine einschneidenden Veränderungen erfordern. Schon jetzt hält das Grundgesetz ein geeigne- tes Instrumentarium bereit. Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf ei- nes Luftsicherheitsgesetzes hält sich an den Rahmen des Art. 35 GG und füllt ihn lediglich insbesondere im Hin- blick auf Kommandostrukturen und auf das Verhältnis zwischen Bundes- und Landesrecht aus. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Gründung einer Bundesanstalt für Immobilien- aufgaben (BlmA-Errichtungsgesetz) (Tagesord- nungspunkt 13) Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Mit dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf soll eine neue Bundesanstalt für Immobilienaufgaben geschaffen werden. Sie übernimmt die bisher von der Bundesvermögensverwaltung wahrgenommenen Aufga- ben. Kernaufgabe der Bundesvermögensverwaltung ist die Beschaffung, Verwaltung und Verwertung von Bun- desliegenschaften. Hinzu kommt eine Reihe von immo- bilienbezogenen Dienstleistungen für die Verwaltungs- einrichtungen des Bundes, beispielsweise die forstliche Betreuung der militärisch genutzten Liegenschaften des Bundesministeriums der Verteidigung sowie die Betreu- ungsaufgaben im Rahmen des Aufenthaltes der ausländi- schen Streitkräfte. Mit der Wiedervereinigung war der Aufbau der Bun- desvermögensverwaltung in den neuen Bundesländern verbunden. Er diente der Erfassung und Sicherung des dortigen Bundesvermögens. Dieser Prozess ist weitge- hend abgeschlossen. Da im gesamten Bundesgebiet in- folge der veränderten militärischen Sicherheitslage viele Standorte aufgegeben wurden, standen die Bemühungen zur Konversion dieser Flächen in der Bundesvermögens- verwaltung voran. Zugleich galt es, die Struktur der Bundesvermögens- verwaltung der jeweiligen aktuellen Aufgabenerledi- gung anzupassen und Veränderungen in der Vergangen- heit Rechnung zu tragen. Schon früh dienten moderne Steuerungselemente – wie zum Beispiel Kosten- und Leistungsrechnung – der Erfassung und Bewertung des Verwaltungshandelns. Eingehende Untersuchungen der Arbeitsabläufe und der Vorstellungen der Beschäftigten über mögliche Ver- besserungen führten im Projekt zur Neuordnung des Immobilienmanagements dazu, das gesamte Liegen- schaftsmanagement auf die neuen Herausforderungen vorzubereiten. Es galt, von einer eher mengenorientier- ten Verwertung des Immobilienbestandes auf einen ob- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9067 (A) (C) (B) (D) jektspezifischen, qualitativ hochwertigen Umgang mit der Einzelimmobilie umzustellen. Mit der Umstrukturierung in eine Bundesanstalt des öffentlichen Rechts soll eine leistungsstarke, kosten- günstige und transparente Aufgabenerledigung erreicht werden. Die Bundesvermögensverwaltung wird zu ei- nem modernen auf Immobilien spezialisierten Dienst- leister umgestaltet. Damit folgt die Verwaltung Entwick- lungen in der Privatwirtschaft, in der Immobilien wegen ihrer Werthaltigkeit in Zeiten knapper gewordener Finanzen professionell gemanagt werden. Auch die überwiegende Zahl der Bundesländer hat bereits die Umstrukturierung ihrer Liegenschafts- und Bauverwal- tungen in unternehmerisch geführte Organisationen rea- lisiert. Die neue Bundesanstalt bietet gute Voraussetzungen für ein wertorientiertes, wirtschaftliches und ganzheitli- ches Immobilienmanagement. Sie zeichnet sich durch eine Abflachung der Hierarchieebenen und durch strenge betriebswirtschaftliche Ausrichtung aus. Sie wird nach strategischen Sparten – Portfoliomanagement, Verkauf, Facilitymanagement – organisiert und mit Ergebnisver- antwortung für die jeweiligen Geschäftsbereiche ausge- stattet. Diese Umstellung bedeutet für die Beschäftigten der BlmA, künftig in einem rein marktwirtschaftlich orientierten System eigenverantwortlich zu handeln. Deshalb sind umfangreiche Fortbildungsmaßnahmen in Vorbereitung bzw. bereits eingeleitet. Mit ihnen soll erreicht werden, notwendige Nachqualifikationen her- beizuführen. Damit eröffnen sich Chancen für die Be- schäftigten, mit neuen Kompetenzen bei eigener Ent- scheidungsverantwortung tätig zu werden. Moderne und zukunftsorientierte Arbeitsplätze entstehen und sind aus- zufüllen. Vielfältige Hilfestellungen tragen dazu bei, die notwendige Akzeptanz und Motivation der Beschäftigten zu erreichen. Nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, ist der Erfolg der Umstrukturierung sicher. Die von der Bundesregierung vorgesehene Organisa- tionsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts bietet weitgehende unternehmerische Unabhängigkeit auf der Basis eingesetzter betriebswirtschaftlicher Steuerungs- elemente. Mit Gründung der Anstalt unternimmt der Bund einen weiteren Schritt zur Einführung eines ein- heitlichen Immobilienmanagements. Die BlmA wird in der Lage sein, auch die Verwaltung weiterer Dienstlie- genschaften oder liegenschaftsbezogene Dienstleistun- gen für andere Ressorts zu übernehmen, so wie es auch vom Rechnungsprüfungsausschuss des Haushaltsaus- schusses des Deutschen Bundestages gefordert wird. Die Dienstliegenschaften im Geschäftsbereich des Bundes- ministeriums der Finanzen bewirtschaftet die BW übri- gens bereits seit mehreren Jahren einheitlich. Weitere Ausgaben könnten gespart werden, wenn alle an einem Standort vorhandene Dienstliegenschaften des Bundes in ein Flächenmanagement einbezogen würden. Ziel muss es daher sein, durch die neue Gesellschaft alle Liegen- schaften des Bundes zu managen. Hierüber ist im weite- ren Beratungsverfahren zu entscheiden. Dabei kommt dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages eine entscheidende Rolle zu. Die Überführung der Aufgaben und die damit verbun- dene Möglichkeit, der Bundesanstalt das Eigentum an den Liegenschaften aus dem Allgemeinen Grundvermö- gen und dem Ressortvermögen des Bundesministeriums der Finanzen zu übertragen, schaffen die Voraussetzun- gen für einen wertorientierten, wirtschaftlichen und ganzheitlichen Umgang mit der Ressource Immobilie. Die Anstalt wird Rechtsnachfolger der Dienststellen der Bundesvermögensverwaltung. Alle Beschäftigten der Bundesvermögensverwaltung werden von Gesetzes wegen statusgleich auf die Bundesanstalt übergeleitet. Beschäftigte des Bundesministeriums der Finanzen, die in die Bundesanstalt wechseln, werden dorthin versetzt bzw. erhalten neue Arbeitsverträge. Die Bundesanstalt soll von einem Vorstand geleitet werden, dessen Mitglie- der in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis ste- hen. Damit werden die Leitungsstrukturen im Interesse einer wettbewerbsorientierten Unternehmenspolitik an die Leitungsstrukturen der Wirtschaft angenähert. Zu- gleich wird die Möglichkeit eröffnet, auch geeignete Persönlichkeiten aus der Wirtschaft für die Führung der Anstalt zu gewinnen und ihnen die Leitung mit Blick auf eine marktnahe und innovative Aufgabenwahrnehmung befristet zu übertragen. Befürchtungen von Berufsvertretungen und einigen Beschäftigten, bei der neuen Bundesanstalt könnten sich infolge gesteigerter Verkaufsleistungen Personalüber- hänge bilden, müssen einer sorgfältigen Prüfung unter- zogen werden. Die Beschäftigten müssen bei der Um- strukturierung „mitgenommen“ werden, damit auch weiterhin eine hohe Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewährleistet ist. Das ist ein ganz entschei- dender Faktor für ein Funktionieren der neu zu gründen- den Bundesanstalt. Dabei kann der Grundstücksverkauf mittelfristig so geplant werden, dass der durch Abverkäufe eintretende Personalminderbedarf den voraussichtlichen Alters- und sonstigen Abgängen nahezu entspricht. Schon jetzt zeichnen sich zahlreiche Personalwechsel in andere Be- reiche der Bundes- und Bundesfinanzverwaltung ab. Im Übrigen ist die Verkaufsgeschwindigkeit abhängig von der Lage am Immobilienmarkt. Die neue Organisations- form ermöglicht es, hierauf schneller und besser zu rea- gieren. Durch gegebenenfalls kurzfristige Investitionen, zum Beispiel in den entwicklungsfähigen Bestand oder Maßnahmen zur Anentwicklung von Problemliegen- schaften, können stärker als bisher Erträge aus der Ver- wertung von Liegenschaften des Allgemeinen Grundver- mögens gewonnen werden. Im Entwurf des BlmA-Errichtungsgesetzes wird be- stimmt, dass ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der Bundesanstalt nicht stattfindet. Damit ist klargestellt, dass der Bund als Gewährträger die Zahlungsfähigkeit der Bundesanstalt sichert. Die Forderung der Gewerk- schaften nach einer ausdrücklichen Regelung der so ge- nannten Anstaltslast wird im weiteren parlamentarischen Verfahren geprüft. Die Arbeitnehmerrechte sind durch die vorgeschlagene gesetzliche Regelung umfassend be- stimmt. Mit den Gleichstellungsbeauftragten, den Perso- nalvertretungen und der Schwerbehindertenvertretung 9068 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) werden zurzeit organisatorische und personalwirtschaft- liche Konzepte abgestimmt, um auch für den einzelnen Beschäftigten den Rahmen auszufüllen, der durch das Errichtungsgesetz vorgegeben wird. Dieser engen und von gegenseitigem Verständnis für die Belange aller Be- schäftigten geprägten Interessenabstimmung möchte ich meine Anerkennung aussprechen. Folgende – auch in der vorliegenden Stellungnahme des Bundesrats – angesprochene Punkte müssen vor ei- ner abschließenden Entscheidung zweifelsfrei geklärt sein: Steuerliche Konsequenzen: Die Frage der Körper- schafts- oder Gewerbesteuerpflicht wird zurzeit durch das Finanzamt Bonn geprüft. Hier ist die verbindliche Auskunft der Finanzbehörde abzuwarten. Wirtschaftlichkeit der BlmA: Bei diesem Punkt ist die Stellungnahme des Bundesrechnungshofes zu beachten. Hierzu verweise ich auf die Ausführungen zur finanziel- len Vorteilhaftigkeit und zur Erreichbarkeit des Haus- haltsziels. Die Frage der Gesamtwirtschaftlichkeit hängt auch sehr eng mit der Klärung der Steuerfragen zusam- men. Da für die Gründung der BlmA der 1. Januar 2005 der optimale Zeitpunkt ist, sollten wir die offenen Fragen ohne Zeitdruck klären. Der Überweisung an die zustän- digen Ausschüsse des Parlaments bitte ich zuzustimmen. Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Der Bun- destag behandelt heute erstmals den Gesetzentwurf zur Gründung einer Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, kurz und einprägsam BImA genannt. Das gesamte Vor- haben kann und muss aus guten Gründen generell in- frage gestellt werden. Vor allern aber ist die konkrete ge- setzgeberische Ausgestaltung der eigenen Intentionen der Bundesregierung an vielen, zu vielen Stellen kritik- würdig. Eine vielleicht richtige Idee, aber handwerklich total verhunzt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird deshalb diesem Entwurf ihre Stimme nicht geben kön- nen. Warum will die Bundesregierung diese Anstalt grün- den? Was sind ihre Motive, wie gestaltet sie das Verfah- ren, und nicht zuletzt: in welcher Art und Weise wurde bisher mit Kritik, intern wie extern, umgegangen? Bereits diese einfachen, grundlegenden Fragen zei- gen, wie sehr das gesamte Vorhaben auf wackeligen Fü- ßen steht. Viele grundsätzliche Dinge sind noch nicht oder nur unzureichend geklärt. Zahlreiche gewichtige Einwände wurden ignoriert oder, schlimmer noch, sinn- entstellend verdreht. Von einer souveränen Verfahrens- führung kann nicht die Rede sein. Das fängt schon bei der Hektik an, mit der dieses Vor- haben betrieben wird. Nachdem man sich jahrelang mit den Veränderungen unter der Überschrift „NIMBUS“ beschäftigt hatte, schlummerte die Angelegenheit mehr als ein Jahr. Jetzt plötzlich muss alles übers Knie gebro- chen werden. So reichte die Zeit nicht einmal für eine or- dentliche Vorlage, sondern wir müssen uns mit einer „Flatterdrucksache“ beschäftigen. Auch der Beratungs- zeitpunkt ist verräterisch, fast um Mittenacht. Es soll der Vorgang möglichst im Verborgenen abgewickelt werden. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Bevor wir uns den einzelnen Aspekten zuwenden, sollte ein kurzer Blick zurückgeworfen werden. Die mit dem Gesetz verfolgte Idee ist so neu nicht. Im Jahre 2000 wurde die G.E.B.B. gegründet und mit vergleichba- ren Vorschusslorbeeren bedacht wie jetzt die BImA. Sie sollte für das Bundesverteidigungsministerium durch „professionelles Management“ Einsparungen für den Bundeshaushalt erbringen. Der damalige Verteidigungs- minister Scharping träumte von einer halben Milliarde D-Mark per annum. Obwohl die G.E.B.B. ein vergleichsweise einge- schränktes Aufgabengebiet hatte, blieb sie weit hinter den Erwartungen zurück, um nicht zu sagen, ein einziges Fiasko. Trotz zahlreicher, millionenschwerer externer Berater und Nachschuss nicht unerheblicher Mittel kommt sie auch nach knapp vier Jahren nicht richtig von der Stelle. Außer Spesen nichts gewesen. Ich möchte mich gar nicht lange mit pikanten Details befassen: Sollte ein dort verantwortlicher Manager auch für eine leitende Funktion bei der BImA im Gespräch sein? Ein zweiter – auch der SPD nicht fern stehender – Geschäftsführer wurde schon in der Presse genannt. Kommt vielleicht noch eine für teures Geld abgefundene Geschäftsführerin zurück? Möchte sich hier vielleicht ein bald im Ruhestand befindlicher hoher Beamter des Finanzministeriums eine lukrative Altersbeschäftigung schaffen? Nicht gerade gute Sterne, unter denen der Start erfolgen soll. Viel wichtiger ist momentan die Frage, wie das Bun- desfinanzministerium eine ähnliche Enttäuschung wie bei der G.E.B.B. vermeiden will. Oder anders gefragt: Haben Minister Eichel und sein Staatssekretär Dr. Overhaus die richtigen Lehren gezogen und manifes- tiert sich das im vorliegenden Gesetzesentwurf? Die Antwort fällt negativ aus. Schon die grundsätz- liche Frage, warum man ausgerechnet die Rechtsform einer Anstalt wählt, die ja gerade bei der Bundesagentur für Arbeit als unzeitgemäß und ineffizient begraben wurde, bleibt offen. Der ganze Entwurf geht zudem von unrealistischen, mitunter utopisch anmutenden Szena- rien aus. Es fällt nicht schwer, viele der präsentierten Zahlen und Annahmen in das Reich der Fabel zu verwei- sen. Entgegen aller gebotenen kaufmännischen Vorsicht und unter Ausblendung des außerordentlich angespann- ten Immobilienmarktes in Deutschland soll die bloße „betriebswirtschaftlich ausgerichtete Aufgabenerledi- gung“ bereits in diesem Haushaltsjahr zu Mehreinnah- men von 11 Millionen Euro im Bundeshaushalt führen! Das ist selbst im günstigsten aller denkbaren Fälle we- gen der zwangsläufig anfallenden Anlaufschwierigkei- ten und Reibungsverluste nicht zu realisieren. Auch hier sei wieder an die G.E.B.B. als warnendes Beispiel erin- nert. Doch damit nicht genug. Laut Gesetzesentwurf soll die Bundesanstalt gegenüber dem Fortbestand der Bun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9069 (A) (C) (B) (D) desvermögensverwaltung Mehreinnahmen von 1,3 Mil- liarden Euro für den Bund bringen. Zieht man die knapp 100 Millionen Euro ab, die in den ersten vier Jahren an- fallen sollen, so verbleiben für die sechs Jahre ab 2008 über 1,2 Milliarden Euro Zufluss an den Bund! Wie diese wundersame Verachtfachung der Zuflüsse zu- stande kommt, bleibt dem Betrachter verschlossen. Was in den Einnahmen zu hoch veranschlagt wird, ist bei den Ausgaben entschieden zu niedrig angesetzt. Wi- der alle Erfahrung und auch entgegen den bekannten Zahlen aus der Vermögensverwaltung werden die Be- wirtschaftungs- und Bauunterhaltskosten zu niedrig, die notwendige neue Computerausrüstung überhaupt nicht veranschlagt! Eine solche Basis kann nur als unseriös bezeichnet werden. Die Implementierungskosten sind überhaupt nicht berücksichtigt. Im Haushalt haben Sie allein für die IT-Technik 43 Millionen Euro bereitge- stellt. Bei einer Abschreibungszeit von fünf Jahren wer- den die angestrebten Mehrerlöse der ersten Jahre allein hier schon verfeuert. Der geplante Start mit einem Betriebsmittelkredit von 200 Millionen Euro beweist schon, dass Sie selbst nicht von der Wirtschaftlichkeit des Vorhaben ausgehen. Bei einem Zinssatz von 5 Prozent fressen allein Finanzie- rungskosten für diese Darlehen anvisierte Mehreinnah- men im ersten Jahr vollständig und auch in den Folge- jahren noch zur Hälfte auf. Es wird wieder einmal – wie so oft bei Rot-Grün – die Realität ausgeblendet, getarnt und getäuscht. Nehmen wir nur die Kabinettsvorlage. In dem Anschreiben des Bundesfinanzministers heißt es: „Der Präsident des Bun- desrechnungshofes als Beauftragter für die Wirtschaft- lichkeit in der Verwaltung hat sich zustimmend zur Er- richtung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben geäußert und unterstützt die vorgesehene strategische Ausrichtung der Bundesanstalt als unternehmerisch ge- führte Organisation.“ Im Weiteren wird praktisch nur eine positive Einschätzung des Bundesrechnungshofes wiedergegeben. Lediglich wegen der Implementierungs- kosten und wegen der Abführungen in den ersten Reihen gibt es einige kritische Anmerkungen. Dies ist schlicht und einfach falsch und lässt sich nach meiner Ansicht mit der mir vorliegenden Stellungnahme des Bundesbe- auftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung vom 22. Oktober 2003 nicht vereinbaren. Der Präsident des Rechnungshofes hat meine Interpre- tation beim Besuch des Rechungsprüfungsausschusses in Potsdam kürzlich erst bestätigt: Der eben zitierte Satz sei aus dem Zusammenhang gerissen, denn unter anderem wurde das Vorhaben nur für den Fall positiv bewertet, dass alle Liegenschaften des Bundes, also auch die der anderen Ressorts in dieses neuen Management miteinbe- zogen werden. Genau das fehlt aber im Entwurf. Auch nach der bereits erwähnten NlMBUS-Untersuchung ist diese Einbeziehung aber zwingend notwendig. Der zentrale Fehler im Gesetzesentwurf ist der unge- löste Grundwiderspruch zwischen langfristigem, an- spruchsvollen Immobilienmanagement und kurzfristigen fiskalischen Interessen des Bundes. Die beste strategi- sche Planung nutzt nichts, wenn über ihr das Damokles- schwert des chronisch klammen Finanzministers hängt. Nichts dokumentiert aber die Hast und die Kurzsichtig- keit besser als das Eingeständnis, dass die unverzicht- bare Portfolioplanung erst noch zu erarbeiten ist. Das- selbe gilt für die externe Rechnungslegung. Mit „strenger betriebswirtschaftlicher Ausrichtung“ hat das alles nichts zu tun. Aber auch andere Punkte harren noch der Klärung, darunter der so wichtige Punkt der Steuerpflicht für die Bundesanstalt als wirtschaftlichem Eigentümer der Grundstücke. Entgegen der Auffassung der Bundes- regierung sprechen viele Argumente für eine Steuer- pflicht und damit auch dafür, dass bei der Einrichtung Grunderwerbsteuer in hohem Maße anfällt. Damit wür- den alle von Ihnen angenommenen Gewinne aufgefres- sen. Wenn dem aber so sein sollte, sind auch die Interes- sen der Bundesländer tangiert, besonders die des Landes Nordrhein-Westfalen, in welchem der Sitz der Anstalt eingerichtet werden soll. Wir werden genau darauf ach- ten, ob die Bundesregierung hier Herrn Steinbrück im bevorstehenden Landtagswahlkampf entgegen kommt. Der wichtigste Erfolgsgarant, das hat auch die Bun- desregierung eingesehen, sind qualifizierte und moti- vierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Hier wurde im Vorfeld viel Porzellan zerschlagen. Man kann nicht ei- nerseits die Bundesvermögensverwaltung für die Straf- fung ihrer Verwaltungsstrukturen und den Einsatz mo- derner Steuerungselemente loben, ihnen andererseits aber die Kompetenz für eine erfolgreiche Weiterent- wicklung ihrer Arbeitsmethoden absprechen. Da passt es ins Bild, dass die Betroffenen in vielen Punkten im Un- klaren gelassen werden, Gesprächstermine kurzfristig abgesagt und wichtige Informationen vorenthalten wer- den. Das schlechte Beispiel der G.E.B.B. lässt grüßen. Es ist eine verhängnisvolle Entwicklung, wenn die zahlreichen konkreten Verbesserungsvorschläge aus den Reihen der Beschäftigten ignoriert oder beiseite ge- wischt werden. Die meisten der auszubauenden Voraus- setzungen wie Dienstleistungsorientierung und Control- ling sind bereits vorhanden und warten nur darauf, genutzt zu werden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht mit ihrer Kritik nicht allein. Der Beauftragte für die Wirtschaft- lichkeit in der Verwaltung, der NIMBUS-Bericht, die Personalvertretungen der betroffenen Behörden und Ein- richtungen sowie nicht zuletzt auch Kolleginnen und Kollegen quer durch die Fraktionen lehnen das Vorhaben BImA und den Gesetzesentwurf ab. Abschließend soll an dieser Stelle noch einmal auf die sehr kritische, im Kern ablehnende Einschätzung des Beauftragten für die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung eingegangen werden. Dieses Urteil ist vor allem deshalb interessant, weil es sich auf Erfahrungen anderer Um- strukturierungsmaßnahmen innerhalb der öffentlichen Verwaltung stützt. Es reicht eben nicht, die Vorschläge nur hinsichtlich der wortgetreuen Übernahme der gesetzlichen Zielset- zung zu übernehmen. Erforderlich ist auch eine inhaltli- che Auseinsetzung mit den Einwänden. 9070 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) Bevor der Entwurf weiter beraten werden kann, müs- sen die wichtigen grundsätzlichen und noch offenen Fra- gen geklärt werden. Dazu gehört: Welche Steuerpflich- ten in welcher Höhe werden durch die Umstellung ausgelöst? Was wird mit der Einbeziehung der Liegen- schaften der anderen Ressorts? Wie kann das Verhältnis mit den Ländern einvernehmlich geregelt werden? Inso- weit ist die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates völlig unzureichend. Ist das Gesetz zustimmungspflichtig? Wie sind die wirt- schaftlichen Auswirkungen im Einzelnen? Dazu müssen endlich Fakten und Formulierungsvorschläge auf den Tisch, damit der Gesetzentwurf auch verantwortlich be- urteilt werden kann. Wir werden beantragen, diese Punkte durch eine Anhörung zu klären. So lange aber diese offenen Fragen nicht eindeutig und positiv geklärt werden, lehnt die CDU/CSU-Bun- destagsfraktion nicht nur den Gesetzentwurf ab, sondern fordert die Bundesregierung auf, ihn zurückzuziehen und neu zu fassen. Er ist so schief, dass er nicht nachbes- serungsfähig ist. Er gehört in den Mülleimer der Ge- schichte. Eine weitere milliardenschwere Fehlplanung kann und darf sich unser Land nicht leisten. Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist in Kernstück unserer rot-grünen Regierungspolitik, das Ziel „Schlanker Staat – schlanke Verwaltung“ zu verwirklichen. Wir gestalten die öffentliche Verwaltung so um, dass Ressourcen zielgerichteter ausgeschöpft und Steuergelder effizienter eingesetzt werden können. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Gründung einer Bundesanstalt für Immobilienaufgaben soll die Bundes- vermögensverwaltung in eine unternehmerisch geführte Bundesanstalt des öffentlichen Rechts umstrukturiert werden. Diese Neuorganisation ist ein Baustein des Pro- jekts „Strukturentwicklung Bundesfinanzverwaltung“. Die Bundesvermögensverwaltung hat in den letzten fünf Jahrzehnten eine wechselvolle Entwicklung durch- laufen. Während in den 50er- und 60er-Jahren zunächst die Abwicklung von Ansprüchen Geschädigter des Zweiten Weltkrieges und danach die liegenschaftsbezo- genen Aufgaben im Zusammenhang mit dem Aufbau der Bundeswehr den Schwerpunkt bildeten, hat sich die Aufgabenstellung insbesondere in den 90er-Jahren durch die Wiedervereinigung und die Aufgabe militärischer Liegenschaften deutlich verändert. Riesige Flächen, im Ganzen rund 452 000 Hektar, wurden dem Allgemeinen Grundvermögen zugeführt. Ziel der Bundesvermögens- verwaltung war und ist es, diese einer neuen Verwen- dung zuzuführen und damit einen Beitrag zur Schaffung von Investitionen und Arbeitsplätzen an den aufgegebe- nen militärischen Standorten zu leisten. Anfang der 90er-Jahre hatte die Bundesvermögens- verwaltung 1693 Kasernenareale, 494 Übungsplätze, 155 Flugplätze, 3144 land- und forstwirtschaftliche Ob- jekte und über 155 000 Wohnungen zu verwerten. Inzwi- schen konnte eine Vielzahl dieser Liegenschaften ver- kauft werden. Dem Bundeshaushalt wurden, dadurch von 1990 bis 2003 rund 19 Millarden Euro zugeführt. Die dreistufige Verwaltungsorganisation der Bundes- vermögensverwaltung wurde in der Vergangenheit mehrfach überprüft. Heute sind noch 38 Bundesvermö- gensämter und neun Bundesvermögensabteilungen vor- handen. Der Personalbestand wurde von 1997 bis 2003 um rund 25 Prozent verringert. Diese Umorganisationsprozesse wurden von moder- neren Arbeits- und Managementmethoden und der Ein- führung betriebswirtschaftlicher Instrumente wie zum Beispiel Kosten- und Leistungsrechnung begleitet. Die Führung durch Zielvereinbarungen sollte zu einer Opti- mierung der Aufgabenerledigung beitragen und eine Kostentransparenz schaffen. Heute ist jedoch eine große Anzahl von Liegenschaften, soweit sie am Markt zu platzieren waren, veräußert. Neue, für Verwaltungszwe- cke entbehrliche Liegenschaften der Ressorts werden kaum noch zugeführt. Das hat zur Folge, dass sich der Aufgabenschwerpunkt der Bundesvermögensverwaltung mehr und mehr auf die Verwertung der weniger markt- gängigen und somit schwer veräußerbaren Liegenschaf- ten verlagert. Derzeit betreut die Bundesvermögensver- waltung noch einen Bestand von rund 37 000 Liegenschaften mit einer Grundstücksfläche von etwa 300 000 Hektar, darunter allein rund 69 000 Wohnun- gen. Von der Bundesforstverwaltung werden zusätzlich 355 000 Hektar aus dem Zuständigkeitsbereich anderer Ressorts, insbesondere des Bundesministeriums der Ver- teidigung, betreut. Aufgrund der beschriebenen Aufgabenveränderungen sowie um den Erfordernissen der Lage der öffentlichen Haushalte gerecht werden zu können, ist nun eine grund- legende und qualitative Neuorganisation der BVV unab- dingbar. Mit einer erneuten Veränderung der Verwal- tungsstruktur, zum Beispiel hin zu einem zweistufigen Aufbau und damit zu flacheren Organisationsstrukturen, würde man das mit einer grundlegenden Modernisierung verfolgte Ziel nicht erreichen. Die Konzentration auf ori- ginäre Aufgaben dient dazu, vorhandene Kernkompeten- zen zu stärken. Mit der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben wird zugleich der Grundstein für ein einheitliches Liegen- schaftsmanagement des Bundes gelegt. Die BImA wird in Zukunft noch besser die Möglichkeit haben, in der Bundesfinanzverwaltung gewonnene Erfahrungen aus dem Liegenschaftsmanagement auch für die dienstlich genutzten Liegenschaften anderer Ressorts zur Verfü- gung zu stellen. Ich bin als Mitglied des Haushaltsausschusses davon überzeugt, dass durch ein einheitliches Liegenschafts- management prinzipiell Einsparungen im Bundeshaus- halt ausgelöst werden können. Auch die Erfahrungen der Verwaltung des Landes Niedersachsen bestätigen diese Annahme. Wir werden allerdings aufmerksam und fort- laufend prüfen, ob in der neuen, eigenverantwortlichen Unternehmensstruktur die Vorteile der betriebswirt- schaftlichen Arbeitsweise tatsächlich ausgeschöpft wer- den. In einem Jahr, in dem die rund 1 700 Dienstliegen- schaften – Zoll und Oberbehörden – von der BVV verwaltet und bewirtschaftet wurden, konnten im Ge- schäftsbereich des Bundesfinanzministeriums 14 Millio- nen Euro eingespart werden. Dies entsprach 15 Prozent Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9071 (A) (C) (B) (D) der Bewirtschaftungskosten. Durch die Neugründung der BImA werden weitere Effizienzgewinne erwartet. Die Organisationsform einer Bundesanstalt ermög- licht eine Immobilienorganisation, die den schwierigen Herausforderungen des Immobilienmarktes gewachsen ist. Eine schlanke, fachgesteuerte und unmittelbar eigen- verantwortliche Unternehmensstruktur lässt eine be- triebswirtschaftliche Arbeitsweise mit flexiblerem und immobilienspezifischem Einsatz von Finanzmitteln zu. Das Immobiliengeschäft wird zum Kerngeschäft der BImA. Ich sehe darin zahlreiche Vorteile: Eine stärkere betriebs- und marktwirtschaftlich ausgerichtete Arbeits- weise wird geschaffen. Die Möglichkeit der Steuerung durch den Einsatz von betriebswirtschaftlichen Steue- rungs- und Controllinginstrumenten wie kaufmännisches Rechnungswesen wird eröffnet. Durch eine immobilien- und betriebswirtschaftliche Steuerung des Immobilien- bestandes wird das Ziel der sukzessiven Bestands- reduzierung verfolgt. Ein Portfoliomanagement wird eingeführt und eine einheitliche und gezielten Portfolio- strategie verfolgt. Ein sparsamerer Umgang mit der Flä- che wird erzielt. Durch die Übertragung eines definierten Immobilien- bestandes an die BImA wird diese in die Lage versetzt, ihre Ziele und Verpflichtungen weitgehend selbständig zu verfolgen. Als Anstalt mit eigener Bilanz und eige- nem Wirtschaftsplan wird sie die Ergebnisse ihrer Tätig- keit in eigener Ergebnisverantwortung ausweisen. Die vorgesehenen kaufmännischen Systeme sollen der BImA bei der eigenen Standortbestimmung helfen und ihr über genauere Messzahlen ermöglichen, die richtigen wirtschaftlichen Entscheidungen zu treffen. Dabei wird die BImA in weit größerem Maße als bisher entscheiden können, ob und in welchem Umfang sie Teile ihrer Er- löse in entwicklungsfähige Immobilien investiert, um optimalere Ergebnisse zu erreichen. Das fördert Eigen- initiative und Flexibilität und ist daher unbedingt zu be- grüßen. In der neuen Bundesanstalt entstehen somit moderne, zukunftsorientierte Arbeitsplätze. Den Beschäftigten werden interessante und qualifizierte Aufgaben geboten und bessere Qualiflzierungschancen zur Verfügung stehen als in der jetzigen Verwaltungsstruktur. Die Be- diensteten erhalten weitreichendere Kompetenzen mit größeren Entscheidungsspielräumen als bisher. Die Mo- tivation des Einzelnen kann dadurch gesteigert werden, dass eine Offenheit für Veränderungen vorhanden ist. Die neu entstehenden Arbeitsplätze halten einem Ver- gleich mit der Privatwirtschaft stand. Sie bieten die Ar- beitsplatzsicherheit des öffentlichen Dienstes. Die in die Bundesanstalt für Immobilenaufgaben wechselnden Be- schäftigten der BW übernehmen uneingeschränkt die bisher erworbenen beamten- bzw. tarifrechtlichen Be- dingungen des öffentlichen Dienstes. Ich befürworte die Gründung der BImA, da sie dazu beiträgt, die Bundesfmanzverwaltung zukunftsorientier- ter, leistungsstärker und kostengünstiger zu gestalten. Dr. Günter Rexrodt (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Errichtung einer Bundesanstalt für Immobilienaufgaben will Bundesfinanzminister Eichel ein professionelles Immobilienmanagement betreiben. Dazu soll die bisherige Bundesvermögensverwaltung in eine unternehmerisch geführte Anstalt des öffentlichen Rechts überführt werden, um ein effektives und effizien- tes Immobilienmanagement zu ermöglichen. Aufgabe der Bundesvermögensverwaltung ist die Beschaffung, Verwaltung und Verwertung von Bundesliegenschaften. Diese Immobilien bilden das so genannte allgemeine Grundvermögen. Dieses besteht aus rund 70 000 Woh- nungen, 365 000 Hektar Wald und Hunderten von Gewerbeimmobilien und Investorenobjekten. Bisher werden die Aufgaben von rund 7 000 Mitarbeitern wahr- genommen. Diese sollen auch in der zukünftigen Orga- nisationsform, so der vorliegende Gesetzentwurf, die Aufgaben erledigen. Für die FDP kann ich sagen, dass bei oberflächlicher Betrachtung des Gesetzentwurfs die Zielsetzung einer solchen Organisationsform unterstützenswert wäre. So sprechen Sie in Ihrem Gesetzentwurf von flacheren Hie- rarchien, strafferen Strukturen und einer größeren Effi- zienz, auch bedingt durch die Einführung der kaufmän- nischen Buchführung. Auf diese Art und Weise soll eine höhere Kosten- und Ertragstransparenz erreicht werden. Dieses ist im Grundsatz nicht zu monieren. Doch bei Licht betrachtet, entpuppt sich der Gesetzentwurf als ein Papier mit vielen Unbekannten. Der wahre Grund Ihres Gesetzentwurfs ist meines Er- achtens allein unter fiskalischen Gesichtspunkten zu se- hen. Nach Ihren Berechnungen soll der Staat in zehn Jahren 1,3 Milliarden Euro mehr einnehmen. Doch hier fangen meine Zweifel an. Für die ersten vier Jahre sind Mehreinnahmen von insgesamt 95 Millionen Euro vor- gesehen. Daraus folgt, dass für die verbleibenden sechs Jahre zusätzliche Einnahmen für den Bund von 1,2 Mil- liarden Euro eingeplant sind. Damit basieren die Planun- gen Ihres Hauses auf der Annahme, dass in den sechs Folgejahren ein jährlicher Betrag von 200 Millionen Euro – also dem Achtfachen der Vorjahre – eingenom- men wird. Dies erscheint mir geradezu utopisch. Denn schaut man sich die Veräußerungserlöse der Bundesver- mögensverwaltung in den Vorjahren an, so besteht eine rückläufige Tendenz bei den Einnahmen. Betrugen die Einnahmen aus Veräußerungen im Jahr 2000 noch rund 840 Millionen Euro lagen sie im Jahr 2003 bei 600 Mil- lionen Euro – Soll – und im Jahr 2004 bei 550 Millionen Euro. Nun kann man darüber streiten, ob die rückläufi- gen Einnahmen nur auf eine Verschlechterung der allge- meinen Marktlage zurückzuführen sind. Fakt ist jedoch, dass aus dem Immobilienportfolio durch den Verkauf weiterer Liegenschaften erstens der Bestand immer ge- ringer wird und zweitens die Qualität der Liegenschaften und damit die zu erzielenden Preise in der gewünschten Form nicht mehr zu halten zu sein werden. Es erscheint mir geradezu abenteuerlich, wenn die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt, der in Zahlen, Berechnungen und Annahmen grundlegend falsch ist. Dies erinnert in unschöner Art und Weise an die vergangenen Haushalte, die regelmäßig im Haus- haltsvollzug wie ein Kartenhäuschen in sich zusammen- fielen und letztendlich nicht das hielten, was sie verspra- chen. 9072 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) Darüber hinaus bleibt noch eine Vielzahl von Fragen offen. Dies betrifft sowohl die Organisationsstruktur als auch den Personalbereich. Die Bundesregierung spricht in ihrem Gesetzentwurf von flachen Hierarchien, führt aber gleichzeitig aus, dass bei der Startorganisation im Wesentlichen alle bisherigen Regionalstandorte erhalten bleiben. Somit käme zu den bisherigen Ebenen – Zen- trale, Hauptstellen, Nebenstellen – noch die Fachaufsicht durch das Ministerium hinzu. Man kann sich des Ein- drucks nicht erwehren, dass hier alte Strukturen und Hie- rarchien lediglich unter einem neuen Dach fortbestehen. Ein wesentlicher Unterschied – und noch dazu ein teu- erer – besteht jedoch: Kam die Bundesvermögensver- waltung bisher mit einem Behördenleiter aus, so werden zukünftig drei Vorstände dem neuen Amt hoch bezahlt vorstehen. Zu klären ist außerdem, welche berufliche Perspek- tive das neue Amt den jetzigen Beschäftigten bietet, wenn beispielsweise in einigen Bundesvermögensäm- tern einhergehend mit dem angestrebten Verkaufstempo Aufgaben wegfallen. Was passiert mit diesen Beschäf- tigten? Ein schlüssiges Personalkonzept ist bisher nicht bekannt. Sie sehen, dieser Gesetzentwurf muss erheblich nach- gebessert werden. Für die FDP kann ich sagen, wir wer- den mit konstruktiven Vorschlägen das weitere parla- mentarische Verfahren begleiten. Ein pflichtgemäßes Abnicken, nur weil der Gesetzentwurf ansatzweise in die richtige Richtung geht, wird es mit uns nicht geben. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Die Berliner Afghanistan-Konferenz – eine neue Chance für mehr Kohärenz und Koor- dinierung beim Wiederaufbau – Fortsetzung des Engagements der Bundesre- gierung für den Wiederaufbau- und Stabili- sierungsprozess in Afghanistan (Tagesordnungspunkt 14, Zusatzordnungs- punkt 5) Detlef Dzembritzki (SPD): Die internationale Af- ghanistan-Konferenz in der nächsten Woche besitzt große Symbolkraft für Afghanistan und die ganze Re- gion. Aber auch für uns ist sie von Bedeutung: Schaffen wir es als Staatengemeinschaft, zusammen eine langfris- tige Perspektive für Afghanistan zu entwickeln? Gelingt es uns, Wiederaufbau und Demokratisierung zu unter- stützen? Oder kapitulieren wir vor den Rückschlägen durch neue Gewaltausbrüche, Morde, organisierte Kri- minalität und Drogenhandel? Ich meine, wir müssen unserer Verantwortung, die aus dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus entsteht, langfristig und nachhaltig gerecht werden. Be- kämpfung des Terrorismus bedeutet nämlich auch, mit der Regierung und der Bevölkerung Afghanistans eine Perspektive zu entwickeln, die über den Moment hinaus- weist. In dieser Haltung scheinen sich die Anträge von CDU/CSU und SPD/BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Afghanistan-Konferenz einig zu sein. Wir alle hier im Hause plädieren dafür, unserer Verantwortung nachzu- kommen. Auch die Forderung im CDU/CSU-Antrag, Kooperation und Koordination auf allen Ebenen zu ver- bessern, um für Afghanistan schneller mehr zu errei- chen, kommt mir auf den ersten Blick durchaus berech- tigt vor. Auf den zweiten Blick jedoch packt mich ein Unbehagen, das ich Ihnen an dieser Stelle erläutern möchte. Mir scheint, dass sich die Damen und Herren der CDU/CSU-Fraktion nicht ordentlich und ausführlich über die Förderung und die Maßnahmen Deutschlands in Afghanistan informiert haben. Auch ist an der Opposi- tion vorübergegangen, an welcher Stelle die einzelnen Ministerien zusammenarbeiten und ihre Unterstützungs- maßnahmen koordinieren. Das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung vom Herbst 2003 wurde von den betei- ligten Bundesministerien gemeinsam verfasst, von Aus- wärtigem Amt, BMZ, Verteidigungs- und Innenministe- rium. Ich gehe doch stark davon aus, dass sich die Kollegin und die Kollegen Minister im Vorfeld abge- sprochen und ihre jeweiligen Aufgaben koordiniert ha- ben. In dem Antrag von CDU/CSU werden alle relevanten Problemfelder angesprochen – von „besserer Verzah- nung und Koordinierung“ über „konsequentere Bekämp- fung des Drogenanbaus, Unterstützung der Regierung Karzai, Durchführung von Wahlen, Umsetzung der Ver- fassung sowie der Frauen- und Menschenrechte“ bis zur „Justizreform und der Rückkehrerproblematik“. Allerdings scheint mir der Blick von CDU/CSU al- leine auf das halb leere Glas gerichtet zu sein. Denn wir müssen uns doch – bei aller Kritik – vor Augen führen, dass alles, was sich in Afghanistan bislang in Richtung State- und Nationbuilding entwickeln konnte, lediglich drei Jahre Zeit hatte, um initiiert und durchgeführt zu werden. Für diesen knappen Zeitraum haben wir einiges geschafft! Dies wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht aus dem zivilen und militärischen Bereich Menschen auch aus unserem Land bereit gewesen wären, sich in Afghanistan einzubringen. Wir wissen, dass dies mit persönlichen Risiken verbunden ist. Und daher von die- ser Stelle aus unser Dank für Einsatz und Engagement! Ich möchte an dieser Stelle nicht ausführlich auf unser Engagement im sicherheitspolitischen Bereich eingehen, das unter den Stichworten ISAF und „PRT-Projekt ISAF Insel Kunduz“ allen hier bekannt ist. Aber ich möchte doch noch einmal auf die besondere Komponente des Pi- lotprojekts in Kunduz hinweisen, das sich nämlich neben seiner militärischen Komponente gerade durch eine zi- vile Komponente auszeichnet: Hier findet die ange- mahnte Verzahnung militärischer und ziviler Maßnah- men vor Ort doch statt – und das unter internationaler Beteiligung: Die Schweiz, Ungarn und Belgien haben bereits Soldaten für 2004 zugesagt. Auch die Stärkung der Zentralregierung in der Region, die Vermittlung zwi- schen Zentralregierung und den lokalen Machthabern Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9073 (A) (C) (B) (D) und die Stärkung der örtlichen Verwaltungen durch poli- tische Beratung stehen auf der Agenda der Soldaten. Durch die Bundesregierung wird sichergestellt, dass der zivile Anteil verstärkt werden wird. Gerade diese Aufgaben sind ein wesentlicher Schritt hin zum Aufbau eines funktionsfähigen Staatsapparates. Ich erinnere nur daran, dass die afghanischen Ministe- rien auf Provinzebene oftmals nur durch eine Person ver- treten sind. Dies erschwert natürlich die Umsetzung der Vorgaben und Beschlüsse aus Kabul. Die bislang eher schleppende Vermittlung der Regierungspolitik in die Provinzen kann aber doch nur Schritt für Schritt und da- mit langfristig aufgebaut werden. Dass dies nur in enger Abstimmung mit den Behörden, Menschen und zivilen Helfern vor Ort möglich ist, liegt auf der Hand. Dazu leistet Deutschland einen wichtigen Beitrag. Wegen der brisanten Situation in Afghanistan arbeiten in Kunduz Bundeswehr und Polizei eng zusammen. Nicht zu vergessen sind die Unterstützung der Soldaten beim Aufbau der Wasser- und Elektrizitätsversorgung und die Unterstützung der Arbeit nichtstaatlicher Orga- nisationen vor Ort. Auch in Herat kommt es zur Koope- ration. Hier liegt der Akzent neben der Arbeit der Außenstelle der deutschen Botschaft auf der Entwick- lungszusammenarbeit in den Bereichen Kultur und Bil- dung. Es gibt eine gute Zusammenarbeit mit der Univer- sität Herat – natürlich auch zwischen anderen deutschen und afghanischen Universitäten – und eine medienpoliti- sche Kooperation mit der Deutschen Welle zur Herstel- lung und Stärkung der politischen Öffentlichkeit. Ich nutze die Gelegenheit, um uns alle, aber auch die internationale Gemeinschaft daran zu erinnern, wie wichtig der Schul- und der Ausbildungsbereich sind. Af- ghanistan braucht in absehbarer Zeit qualifizierte Nach- wuchskräfte, die den Aufbau und die Entwicklung ihres Landes in die eigenen Hände nehmen wollen und vor al- lem auch nehmen können. Bildung und Ausbildung sind das Fundament und die Chance zur Versöhnung, zur Qualifikation und für die Nachhaltigkeit des Wiederauf- baus. Dass all die genannten Aufgaben und Maßnahmen verstetigt werden müssen, versteht sich für mich von selbst. Dass aber bereits entwicklungs- und sicherheits- politische Instrumente verzahnt werden, die dann mit den vorhandenen afghanischen Möglichkeiten, aber ge- nauso mit dem europäischen und internationalen Enga- gement und der Arbeit der NGOs abgestimmt werden, muss doch auch einmal positiv hervorgehoben werden! Verbesserungen anzumahnen ist berechtigt und notwen- dig. Es aber zu unterlassen auch auf die Fortschritte hin- zuweisen, die in einem völlig zerstörten Land anfangen sich abzuzeichnen – zerstört von den staatlichen Institu- tionen über die Infrastruktur bis hin zur Zivilgesell- schaft –, halte ich für fahrlässig und unseriös. Noch ein Hinweis auf die Koordination mit den NGOs vor Ort: Auch der CDU/CSU-Fraktion sollte be- kannt sein, dass die staatlich unterstützten NGOs sich bei ihren jeweiligen Botschaften vor Ort melden und da- mit in die Kooperation einbezogen werden. Diejenigen NGOs aber, die nicht von staatlicher Seite gefördert wer- den, können nur zur Zusammenarbeit ermuntert werden. Verordnen kann man diese nicht. Der Name „NGO“ legt ja schon nahe, wo die Grenzen der Einflussnahme von- seiten der Regierungen sind. Ein Aspekt liegt mir noch am Herzen: Beim Aufbau der afghanischen Polizei ist Deutschland „Lead Nation“. Angesichts der Bedingungen und Erfordernisse vor Ort ist es uns gelungen, nicht nur den Polizeiaufbau als Ein- zelaufgabe zu sehen, sondern dies mit der Förderung von Frauen und deren Gleichstellung, aber auch mit dem Aufbau und der Stärkung von Bildung und Ausbildung zu verknüpfen. Auch hier will ich noch etwas konkreter werden, da mir ein Stückchen inhaltliche Nachhilfe für die CDU/ CSU-Fraktion nötig scheint: Die einzelnen Maßnahmen für den Polizeiaufbau können Sie ganz leicht im Internet auf den Homepages der Ministerien nachlesen: Vom zentralen Projektbüro in Kabul, den Polizeitrainingszen- tren in Kunduz und Herat, der arbeitsfähigen Polizeiaka- demie in Kabul bis hin zur Weiterbildung in Menschen- rechtsschutz, Polizeiführung, moderner Polizeitechnik und Verkehrswesen sind alle Maßnahmen aufgelistet. Auch die Unterstützung beim Aufbau von Drogenbe- kämpfungseinheiten sowie der Grenzpolizei sind nach- zulesen. Was mir allerdings besonders wichtig erscheint, auch wenn es nur eine kleine Maßnahme ist, ist unsere Beteiligung an dem Fonds, aus dem die Gehaltszahlun- gen für die afghanischen Polizistinnen und Polizisten si- chergestellt werden. Ich erinnere ausdrücklich daran, wie wichtig reguläre Arbeit und regelmäßiger Lohn für die Menschen in Af- ghanistan ist. Damit können sie einen ersten Schritt in Richtung Normalität machen. Es geht aber auch immer wieder darum, darauf zu achten, dass klare und transpa- rente Verwaltungsstrukturen entstehen, damit Korrup- tion unterbunden werden kann. Es geht also weniger um die großen Gesten als um praktische Unterstützung vor Ort. Eine wichtige Symbolfunktion hingegen hat nun die Aufnahme von Frauen in den Polizeidienst. Damit erhal- ten Frauen eine Funktion, die mit Verantwortung und Stärke verbunden ist. Schritt für Schritt können sie diese dann auch in der Öffentlichkeit ausfüllen. So hat das In- nenministerium nicht nur zwei deutsche Polizeibeamtin- nen in das deutsche Ausbilderteam entsandt, um für Frauen in Leitungsfunktionen öffentliche Akzeptanz zu schaffen, sondern es werden darüber hinaus auch Fort- und Ausbildungsmaßnahmen für afghanische Frauen eingerichtet, damit sie die nötigen Qualifikationen erhal- ten und als Polizeianwärterinnen für die Fachausbildung und den Dienst vorbereitet werden. Damit wird gegen die bedrückende Tatsache gekämpft, dass viele Frauen in Afghanistan, wenn überhaupt, nur über eine Grundschul- ausbildung verfügen. Mit Unterstützung des afghanischen Innenministe- riums und der Polizeiakademie Kabul werden spezielle Schreib- und Lesekurse angeboten: 57 Polizistinnen ha- ben bereits das erste Ausbildungsjahr absolviert – im Vergleich zu den männlichen Kollegen eine kleine Zahl, mit Blick auf die Situation in Afghanistan aber ein erster 9074 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) Fortschritt. So werden beispielsweise die speziellen Re- gistrierungsteams für die anstehenden Wahlen, die Frauen an ihren Wohnorten aufsuchen, von den neu aus- gebildeten Polizistinnen begleitet. Ich denke, die Verzah- nung der Ressorts wird an diesem Beispiel besonders deutlich. Ohne Abstimmung untereinander und vor Ort wären solche Fortschritte nicht möglich. Die Förderung der Hochschulzusammenarbeit, der Medienlandschaft und der Kulturgüter ist Ihnen, so hoffe ich jedenfalls, ebenfalls bekannt. Lassen Sie mich den- noch ein weiteres Kooperationsbeispiel nennen, um die Kritik der CDU/CSU-Fraktion ins richtige Licht zu rü- cken: Auswärtiges Amt, DAAD, Deutsche Welle und einige NGOs haben es gemeinsam geschafft, dass die Deutsche Welle – und das freut mich als Außen- und Ent- wicklungspolitiker besonders – als einziger ausländi- scher Sender das staatliche afghanische Fernsehen mit ei- nem Nachrichtenblock beliefert, der in den Sprachen Dari und Paschtu gesendet wird. Ziel ist eine Ausweitung dieses Projekts auf die Provinzen. In Europa diskutieren wir auf hohem intellektuellem Niveau, wie wichtig eine gemeinsame Medienlandschaft und Öffentlichkeit für die europäische Identität wäre, in Afghanistan arbeiten wir konkret an dieser Vorbedingung für die Demokratie mit. Mir scheint auch dies ein Beispiel für die Chancen zu sein, die in Zusammenarbeit und Koordination liegen. Mir fallen noch viele weitere Beispiele ein, die ich als Mosaiksteine für den Wiederaufbau bezeichnen möchte. Sicherlich fügen sie sich nicht von Anfang an nahtlos in ein großes Bild, mit der Zeit aber werden sie sich anein- ander anpassen. Ich erinnere an das Sonderprogramm, das Frauen in den paschtunischen Stammesgebieten wieder den Zu- gang zu Hochschulen und zum Gesundheitssystem er- möglicht, an Alphabetisierungs-, Computer- und Eng- lischkurse für Frauen sowie Workshops zur Fortbildung afghanischer Juristen. Wir haben noch eine lange Wegstrecke vor uns. Die bevorstehende Konferenz ist ein weiterer Schritt zur Sta- bilisierung Afghanistans. Wir dürfen den Ernst der Lage nicht verkennen oder beschönigen. Wir können aber nur dann neue Dynamik und Kraft in den Wiederaufbau ste- cken, wenn wir uns, trotz aller Rückschläge, immer auch wieder auf die kleinen Erfolge besinnen. Ich plädiere da- für, das halb volle Glas zu betrachten, statt nur die Defi- zite zu sehen. Drei Jahre nach der ersten Petersberg-Konferenz hat Afghanistan eine Regierung und eine Verfassung. Wah- len werden vorbereitet und zumindest die Präsidenten- wahl erscheint in diesem Jahr möglich. Die internatio- nale Gemeinschaft ist bereit und willens, sich weiterhin in Afghanistan zu engagieren – und das in enger Zusam- menarbeit mit der afghanischen Regierung und den Menschen vor Ort. Nutzen wir die Konferenz, um diesen Willen auszudrücken und unsere Unterstützung zu ver- stetigen. Lassen Sie uns aber auch bereit sein, zu akzep- tieren, dass sich in Afghanistan andere Strukturen und Traditionen entwickelt haben als in Deutschland und Europa. Noch ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion: Bei gründlichem Lesen Ihres An- trages drängt sich der Eindruck auf – und ich bedauere, dass es so ist –, dass Sie das sensible und brisante Thema Afghanistan benutzen, um innenpolitisch ein Fass aufzu- machen. Sie wollen Ihre Schelte an den Bundesministe- rien und der Bundesregierung vorbringen. Das Thema selbst tritt in den Hintergrund, die Regierungskritik do- miniert. Verbesserungen in Koordination und Koopera- tion anzumahnen ist Ihre Pflicht als Opposition. Ihr Auf- trag als Opposition beschränkt sich aber nicht auf die Funktion des Kritikers, sondern umfasst ebenso die Auf- gabe, Alternativen aufzuzeigen. Die kann ich in Ihrem Konzept zu Afghanistan nicht erkennen – wie übrigens in kaum einem Ihrer Konzepte. Ich finde das schade; denn ich hätte mir im Vorfeld der Konferenz um der af- ghanischen Sache willen auch ein gemeinsames inter- fraktionelles Papier vorstellen können, das öffentlich aufzeigt, wie ernst es uns als Parlament mit dem Wieder- aufbau in Afghanistan und der Unterstützung von Demo- kratie und Menschenrechten ist. Der Kampf gegen den Terrorismus – und damit möchte ich schließen – bedeutet für uns nicht nur Inter- vention und Ergreifung von Top-Terroristen und Dikta- toren. Dieser Kampf bedeutet eben auch, Verantwortung zu übernehmen, zerfallende und zerfallene Staaten nicht alleine zu lassen. Die Menschen dort brauchen Perspek- tiven, sie brauchen Sicherheit für Leib und Leben und sie brauchen vor allem langfristige Konzepte, die mit ih- nen und im Einklang mit ihrer Kultur und Lebenswelt entwickelt und umgesetzt werden. Diese Verantwortung legt uns die Charta der Vereinten Nationen auf. Nehmen wir diese Verantwortung gemeinsam wahr! Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wir vergessen Afghanistan nicht! Dies ist die zentrale Botschaft der dritten Afghanistan-Konferenz in Deutschland, die nach den erfolgreichen Konferenzen auf dem Petersberg diesmal in Berlin abgehalten werden wird. Die Konferenz verfolgt bewusst einen breiten An- satz: politische, sicherheitspolitische und Wiederaufbau- aspekte werden miteinander verknüpft. Denn die Rück- kehr Afghanistans in die Völkergemeinschaft wird nur gelingen, wenn die internationale Gemeinschaft dieses geschundene Land und seine Bevölkerung weiterhin po- litisch, wirtschaftlich und sozial unterstützt. Dieses Zei- chen soll in Berlin deutlich werden. Diese Botschaft soll von Berlin ausgehen. Zur Berliner Konferenz laden die Regierungen Af- ghanistans und Deutschlands gemeinsam ein. Ganz be- sonders wichtig sind uns aber auch die Aktivitäten am Rande der Konferenz: So wird auch diesmal wieder, ähnlich wie bei den Petersberg-Konferenzen, eine Kon- ferenz für die afghanische Zivilgesellschaft stattfinden. Die Schaffung eines tragfähigen Friedens und der Wie- deraufbau der Gesellschaft sind Themen, die ohne Mitwirkung von Nichtregierungsorganisationen bzw. an- deren zivilgesellschaftlichem Engagement nicht ver- wirklicht werden können. Insofern bin ich „Swiss Peace“ und der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Vorbe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9075 (A) (C) (B) (D) reitung und Durchführung dieser Veranstaltung zu Be- ginn der kommenden Woche sehr dankbar. Die Investorenkonferenz am 30. März, ausgerichtet von BDI und Weltbank, wird ein Großereignis mit 150 deutschen und internationalen Teilnehmern werden. Die angekündigte Teilnahme Präsident Karzais unter- streicht die Bedeutung dieses Treffens. Wichtige Im- pulse versprechen wir uns auch von den Seitenveranstal- tungen, die das UNDP, die Arbeitsgruppe „Sicherheit in Afghanistan“ der G8, der Afghanistan Reconstruction Trust Fund oder die NRO „International Center for Tran- sitional Justice“ ausrichten. Die Achtung und der Respekt der Menschenrechte sind unabdingbar für Wiederaufbau und nachhaltige Ent- wicklung in Afghanistan. Die neue afghanische Verfas- sung hat dafür – bei aller inhaltlicher Kritik an Punkten wie beispielsweise der Definition als „islamische Repu- blik“ – die richtigen Weichen gestellt. Die Gleichberech- tigung von Frau und Mann hat durch sie eine rechtliche Grundlage bekommen. Doch wir alle wissen: Nach wie vor herrschen Straflosigkeit, Diskriminierung und Gewalt in weiten Teilen des Landes. Es geht jetzt um die Umsetzung der Verfassungsnormen in die gelebte Wirk- lichkeit. Es gibt Signale, die hoffnungsfroh stimmen: Bei Beginn des Schuljahres zum afghanischen Neujahr am vergangenen Sonntag wurden 4,2 Millionen Schulkinder registriert, was circa 70 Prozent der Kinder im schul- pflichtigen Alter entspricht. Darunter sind 1,2 Millionen Mädchen. Dies sind Zahlen, die Afghanistan bislang nicht gekannt hat. Die andere Seite sieht weniger gut aus. Die prekäre Sicherheitslage ist offensichtlich. Die Unruhen in Herat, der Tod des Sohns von Ismael Khan, des Luftfahrtminis- ters Mir Wais Sadiq am vergangenen Sonntag haben dies wieder einmal dramatisch vor Augen geführt. Gewalttä- tige Machtkämpfe im Norden und Westen des Landes und islamistischer Terror und dessen Bekämpfung im Süden und Osten Afghanistans rauben dem Land die bit- ter notwendige Stabilität, Stabilität, die auch Vorausset- zung zum Abhalten von fairen und freien Wahlen ist. Wir hoffen, dass die Wahlen des Präsidenten und des Parlamentes noch in diesem Jahr stattfinden können. Die Registrierung der Wähler macht gute Fortschritte. Das Engagement der Völkergemeinschaft drückt sich auch im fortgesetzten Einsatz von ISAF, jetzt unter Füh- rung der NATO, und der Schaffung der so genannten Provincial Reconstruction Teams aus, darunter das unter deutscher Leitung stehende PRT in Kunduz. Morgen wird der UN-Sicherheitsrat über eine Verlängerung des UNAMA-Mandats beraten, die wir nachdrücklich unter- stützen. Afghanistan wird uns noch lange begleiten. Der Auf- bau einer starken Zentralgewalt wird nicht über Nacht zu schaffen sein. Der Respekt vor den Menschenrechten, die Achtung der Gleichberechtigung von Mann und Frau sind rechtliche, aber auch erzieherische Maßnahmen, die Zeit beanspruchen. Deutschland, Europa, die NATO und die Vereinten Nationen stehen im Wort, Afghanistan über diese Zeit zu begleiten. Die Abhaltung von Wahlen werden der nächste Markstein einer langen und – leider vermutlich – langsamen Entwicklung sein. Rückschläge, vor allem, wenn die gewaltige Aufgabe des Kampfes ge- gen den Mohnanbau mit der ihr zukommenden Ernsthaf- tigkeit angegangen wird, werden unabdinglich sein. Sie dürfen uns und vor allem das afghanische Volk nicht ent- mutigen. Harald Leibrecht (FDP): Der Wiederaufbau und die Stabilisierung Afghanistans sind trotz mancher Fort- schritte auch nach zweieinhalb Jahren alles andere als in trockenen Tüchern – leider. Die Afghanen selbst, Präsident Karsai, seine Regie- rung und die engagierten, mutigen Mitglieder der Loya Jirga haben beeindruckende Anstrengungen unternom- men, um in dem leidgeprüften Land den friedlichen Neuanfang zu schaffen. Aber die Wunden der Vergan- genheit sind tief, die Strukturprobleme enorm, die ver- feindeten, auf ihre Eigeninteressen bedachten Warlords sind zu mächtig, die Wirtschaft des Landes ist noch viel zu sehr vom Drogenanbau abhängig. Deshalb wird die internationale Staatengemeinschaft noch lange Zeit in der Verantwortung bleiben und den Afghanen weiter Un- terstützung bei ihrem Neuanfang geben müssen. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt daher, dass in der kommenden Woche hier in Berlin eine weitere inter- nationale Afghanistan-Konferenz stattfindet, bei der im Zusammenwirken zwischen den Afghanen und ihren in- ternationalen Partnern weiter an der Zukunftsgestaltung des Landes gearbeitet werden soll. Wir haben schon im Herbst letzten Jahres eine neue Afghanistan-Konferenz gefordert. Das wurde damals von Außenminister Fischer abgelehnt mit der Bemerkung, man müsse erst die Er- gebnisse der letzten Petersberger Konferenz umsetzen und die Wahlen in Afghanistan durchführen. Jetzt hat Herr Fischer offensichtlich eingesehen, dass der Wieder- aufbauprozess in Afghanistan einen neuen internationa- len Anschub und vor allem eine bessere Koordinierung benötigt. Die Abstimmung von Sicherheits- und Entwicklungs- maßnahmen läuft bislang alles andere als rund. Die Ver- wendung internationaler Hilfsgelder muss viel besser koordiniert und wesentlich effizienter werden. Bei der für den Neuanfang Afghanistans ganz zentra- len Bekämpfung des Drogenanbaus fehlt es bislang an wirkungsvollen Konzepten. Frau Wieczorek-Zeul hat angekündigt, dieses Thema auf der Konferenz bis hin zur Zerstörung von Opiumanbauflächen „massiv“ ange- hen zu wollen. Wir sind wirklich gespannt, wie die Bun- desregierung das gerade in der wichtigen Anbauregion Kunduz tun will. Vor allem aber muss die Bundesregierung endlich al- les daransetzen, ihr mit der Kunduz-Mission gestartetes Konzept für „Stabilitätsinseln“ jetzt wirklich in die Tat umzusetzen. Von den in Aussicht gestellten weiteren In- seln in anderen Landesteilen – deren Aufgabe es ja auch sein soll, die Wahlen mit vorzubereiten – ist bislang weit und breit nichts zu sehen. Doch von unseren Bundes- wehrsoldaten und den zivilen deutschen Helfern in Kun- duz allein wird Afghanistan ganz sicher nicht stabilisiert 9076 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) werden. Da bedarf es ganz anderer internationaler An- strengungen. Präsident Karsai hat heute angekündigt, dass die für Juni geplanten Wahlen auf September verschoben wer- den. Das ist angesichts der Tatsache, dass bisher nur 10 Prozent der Wähler registriert sind, sicher sinnvoll. Die Berliner Afghanistan-Konferenz muss ein Erfolg werden. Die rot-grüne Bundesregierung hat in ihren Be- mühungen, einen effektiven deutschen Beitrag zur welt- weiten Krisenbewältigung zu leisten, stark – manche meinen: zu stark – auf die Afghanistan-Karte gesetzt. Deswegen steht jetzt nicht nur die Zukunft Afghanistans, sondern auch ein gutes Stück Glaubwürdigkeit der deut- schen Außenpolitik auf dem Spiel. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Initiative des Euro- päischen Parlaments, des Europäischen Rates und der UNO zur Förderung des Sports nach- haltig unterstützen (Tagesordnungspunkt 15) Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Heute ist ein beson- derer Tag in der Historie des Sports: Heute, am 25. März, wird das Olympische Feuer für die Sommer- spiele in Athen entfacht und damit der größte Staffellauf der olympischen Geschichte gestartet. Genau vor 108 Jahren, am 25. März 1896, begannen die ersten Spiele der Neuzeit in der griechischen Hauptstadt. Mit dem Motto des Fackellaufs – „Gebt die Flamme weiter – vereinigt die Welt“ – werden wir auf den sportlichen Hö- hepunkt im August dieses Jahres in Athen eingestimmt. Das Jahr 2004 ist in jeder Hinsicht ein Sportjahr: Die Olympischen Sommerspiele, die Paralympics und natür- lich die Fußballeuropameisterschaft in Portugal sind die herausragenden Ereignisse. Weitere Weltcups und Meis- terschaften versprechen spannende Wettkämpfe. Bereits stattgefunden haben die Handball-EM in Slowenien und die Biathlon-WM in Oberhof. In diesen Tagen werden Medaillen vergeben bei der Eiskunstlauf-WM in Dort- mund. Die Eishockey-WM in Tschechien folgt ebenso wie viele andere Championate. Diese große Zahl von Wettkämpfen zeigt: Der Sport steht nicht am Rande, son- dern er ist für die Aktiven wie für die Helfer, für mehrere Milliarden Zuschauende und Fans rund um den Globus die schönste Nebensache der Welt. Die internationale Politik unterstützt den Sport mit zwei Prädikaten: mit dem Europäischen Jahr der Erzie- hung durch Sport 2004 und dem UNO-Jahr des Sports 2005. Die Zielrichtung beider Mottos ist ähnlich: Der Sport soll auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft ge- fördert und seine positive Wirkung in ihr verankert wer- den. Es ist schön und gut, dass die FDP mit ihrem Antrag noch einmal ausdrücklich die Unterstützung dieser Initi- ativen fordert. Die Liberalen haben allerdings noch nicht mitbekommen, wie sportlich die rot-grüne Bundesregie- rung ist und dass sich ihre Vorstellungen im Regierungs- handeln bereits heute wiederfinden. Wenn die nachhal- tige Unterstützung gewünscht wird – nachhaltig muss ja gegenwärtig alles sein –, so kann man nicht genug beto- nen: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, der Sport ist an sich und für uns nachhaltig. Im Sport lässt sich vieles lernen, was man auch im übrigen Leben gut gebrauchen kann. Gerade deshalb setzen wir, die Sozial- demokraten, uns so intensiv für den Sport ein. Ich will Einiges näher erläutern: Vor gut einem Jahr, am 6. Februar 2003, haben das Europäische Parlament und der Europäische Rat einen gemeinsamen Beschluss gefasst: Die breite Öffentlich- keit soll auf die Bedeutung des Sports in der Erziehung aufmerksam gemacht werden. Damit war das „Europäi- sche Jahr der Erziehung durch Sport 2004“ geboren. Heute, wo die große EU-Erweiterung um zehn weitere Länder ansteht, wird ein alle Mitgliedstaaten verbinden- des Element in den Vordergrund gestellt. Es ist eine großartige Sache, dass die Europäer ihre gemeinsamen Werte wie Toleranz, Fairplay, Teamgeist, Solidarität und Respekt vor die anderen, die insbesondere den Sport kennzeichnen, stellen und sie fördern. Dies gewinnt ge- rade vor dem Hintergrund der vielen schon genannten sportlichen Großereignisse, die zusätzlich 2004 auf eu- ropäischem Boden stattfinden, an Bedeutung. Der Sport spielt für viele Menschen in Europa eine große Rolle. Dennoch wurde dieses Thema in den Ver- trägen der EU nicht behandelt. Nach langen Bemühun- gen insbesondere unserer Bundesregierung, die bereits 1999 während der deutschen Ratspräsidentschaft ange- regt hatte, die Belange des Sports bei der Fortentwick- lung des EU-Vertragsrechts stärker zu berücksichtigen, ist es nun gelungen, Europa und Sport zusammenzubrin- gen. Im Entwurf der EU-Verfassung heißt es in Teil III, Kapitel V, Abschnitt 4: „Die Tätigkeit der Union hat fol- gende Ziele: Entwicklung der europäischen Dimension des Sports durch Förderung der Fairness bei Wettkämp- fen und der Zusammenarbeit zwischen Sportorganisatio- nen sowie durch den Schutz der körperlichen und seeli- schen Unversehrtheit der Sportler, insbesondere junger Sportler“. Die Regierungsfraktionen werden sich darü- ber hinaus für die zusätzliche Aufnahme des Schutzes der Autonomie des Sports und seiner ehrenamtlichen Struktur einsetzen. Europa lebt von Bürgernähe und muss für die Men- schen erlebbar sein. „In der Gewissheit, dass Europa, in Vielfalt geeint, ihnen die besten Möglichkeiten bietet, unter Wahrung der Rechte des Einzelnen und im Be- wusstsein ihrer Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und der Erde dieses große Abenteuer fort- zusetzen [...]“, so heißt es in der Präambel der Verfas- sung. Der EU-Konvent hat deutlich gemacht, dass es auf die Menschen und ihr Engagement ankommt. Wir brau- chen zwar auch transparente Strukturen, die dafür sor- gen, dass die Entscheidungen der EU demokratisch bes- ser legitimiert und von allen besser verstanden werden, aber ohne den Einsatz füreinander ist alles andere unbe- deutend. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9077 (A) (C) (B) (D) Gerade der Sport lebt vom bürgerschaftlichen Enga- gement. In den 15 EU-Mitgliedstaaten gibt es mehr als 700 000 Sportvereine. Von den circa 2 Millionen Leh- rern, Trainern und Mitarbeitern sind die meisten auf eh- renamtlicher Basis tätig. Ohne die große Einsatzbereit- schaft in den Sportvereinen und Verbänden wären weder Breiten- noch Spitzensport möglich. Auch die zahlrei- chen Projekte im „Europäischen Jahr der Erziehung durch Sport“ zeigen dieses vielfältige Engagement der Zivilgesellschaft. „Move your body – Stretch your mind“, auf deutsch „Beweg Dich – für Deine Zukunft“ – dieser Leitspruch des „Europäischen Jahres der Erziehung durch Sport“ bringt für 2004 in diesem Bereich der EU mit all seinen Facetten in Form eines Wettbewerb auf höchstem Ni- veau, aber auch als erzieherisches und soziales Instru- ment einen frischen Impuls. Es ist gut, dass man die aktuelle bildungspolitische Debatte in Deutschland nicht führen kann, ohne den Sport zu berücksichtigen. Gerade Ganztagsschulen er- möglichen erfolgreiche Partnerschaften mit den Sport- vereinen vor Ort. Die Befähigung zur aktiven Teilhabe an Bildung und Arbeit liegt uns Sozialdemokraten be- sonders am Herzen. Wir sehen im Sport auch ein Schlüs- selelement zur Bekämpfung von Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung und zur Förderung der Chancen- gleichheit der Geschlechter. Sport in jedem Lebensalter schafft die Gelegenheit zu lebenslangem Lernen. Die Mobilität, auch über unsere nationalen Grenzen hinweg, lässt sich durch Austauschmaßnahmen und Projekte von Sportverbänden und -vereinen steigern. Alle Generatio- nen werden profitieren; das Verständnis füreinander wird gestärkt werden. Die sozialdemokratische Bildungsmi- nisterin Edelgard Bufmahn hat zu Recht bei der Eröff- nungsfeier des Europäischen Jahrs der Erziehung durch Sport den französischen Philosophen und Pädagogen Rousseau zitiert: „Das große Geheimnis der Erziehung besteht darin, dass die Übungen des Geistes und des Körpers ein- ander wechselseitig entspannen.“ Nicht umsonst haben wir dieses Europäische Jahr ge- rade in Leipzig eröffnet. Die rot-grüne Bundesregierung macht damit ihre tatkräftige Unterstützung der Olympia- bewerbung deutlich. „Beweg Dich – für Deine Zukunft“, könnte man auch als Motto für die Arbeit der Regie- rungskoalition bezeichnen. Wir setzen uns für die not- wendige Erneuerung unseres Landes ein und schaffen die Grundlage dafür, dass Wohlstand und soziale Ge- rechtigkeit erhalten bleiben. Werte und Ziele für unser Land – der Sport macht's vor. „Sport tut Deutschland gut“ – die Kampagne des Deutschen Sportbundes weist auf die gesellschaftspoliti- sche Orientierung, die der Sport gibt, hin. Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine Regierung haben dies von Anfang an sowohl in ideeller als auch finanzieller Hin- sicht gefördert. Das Berliner Manifest des deutschen Sports macht deutlich, dass der Sport Menschen zusam- menführt, in Bildung, Freizeit und Arbeit hineinwirkt und nicht zuletzt ein wichtiger Faktor der Gesundheits- förderung ist. Auch der Gesundheitssport bleibt auf der Tagesord- nung des Deutschen Bundestages. Wir Sportpolitiker von SPD und Bündnis 90/Die Grünen wollen die De- batte um ein Präventionsgesetz weiter voranbringen. Die Erarbeitung eines solchen Gesetzes haben wir in der Ge- sundheitsreform bereits festgeschrieben. Mit der geplan- ten öffentlichen Anhörung am 28. April wollen wir dazu neue Anstöße erfahren und geben. Den gesunden Sport will auch das von der UNO-Ge- neralversammlung am 3. November 2003 ausgerufene „International Year of Sport and Physical Education 2005“ fördern. Adolf Ogi, der Sport-Sonderbeauftragte der UNO, hat die Sportresolution maßgeblich initiiert. Darin wird überzeugend dargestellt, dass der Sport zur Entwicklung und zur Friedensförderung und damit zu ei- ner besseren Welt beitragen kann. Dort heißt es, Sport sei eine wichtige Nahrung für das Gemüt. Allerdings warnt die Resolution auch vor den negativen Aspekten des Sports wie Doping. Mit dem UNO-Jahr des Sports wurde zugleich eine zweite Sportresolution von Griechenland auf den Weg gebracht. Der Gastgeber der Olympischen Spiele fordert, während der sportlichen Wettkämpfe solle weltweit kein Krieg geführt werden. Der Aufruf zur internationalen Waffenruhe ist nicht neu: Schon in der Antike wurde Zu- schauern und Athleten die unversehrte Anreise zugesi- chert und der Waffengang gegen die Ausrichter der Spiele verboten. In unserer Zeit wurde daraus das Be- streben abgeleitet, weltweit die Waffen schweigen zu lassen. Leider hat sich dieser Frieden stiftende Gedanke nicht immer durchgesetzt. Es sei nur an das schreckliche At- tentat in München 1972 und an das in Sarajewo 1984, als eine Mörsergranate viele Menschen auf dem Marktplatz tötete, erinnert. Auch während der Winterspiele 2002 in Salt Lake City ließ sich Präsident Bush nicht dazu bewe- gen, das Bombardement Afghanistans auszusetzen. Wenn im August unsere Sportler um Medaillen ringen, können sie dies in einer – hoffentlich – friedlichen Um- gebung tun. Hätte Gerhard Schröder nicht vor einem Jahr mit einem vehementen Nein zum Irakkrieg reagiert, wäre das Thema der Aussetzung der Kampfhandlungen während der Spiele auch für uns Deutsche virulent, denn CDU und CSU wollten bekanntermaßen deutsche Solda- ten an Euphrat und Tigris entsenden. Das olympische Feuer, das heute für Athen in „good old Europe“ entzündet wurde, wird erstmals auch nach Afrika und Südamerika getragen und alle bewohnten Kontinente besuchen. Die weltumspannende Kraft des Sports und die Einsicht, dass er, so Ogi, „die wirkungs- vollste und billigste Waffe im Kampf um eine bessere Welt ist“, hilft, große Teile der Gesellschaft dafür zu sen- sibilisieren, dass die globalen Probleme uns alle ange- hen. In Beethovens „Ode an die Freude“. – Sie ist heute die Hymne der EU – heißt es: „Alle Menschen werden Brüder, wo Dein sanfter Flügel weilt.“ Hier schließt sich der Kreis. Deshalb sei noch einmal an das Motto des olympischen Fackellaufs erinnert: „Gebt die Flamme weiter – vereinigt die Welt“. 9078 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) Peter Letzgus (CDU/CSU): Fast jeder dritte Ein- wohner unseres Landes ist Mitglied einer der fast 90 000 Sportvereine. Dies stellt einen Organisationsgrad dar; für den unser Land weltweit bewundert wird. Dennoch ist die öffentliche Aufmerksamkeit durch mediale Inszenie- rung auf eine kleine Auswahl von Sportarten, Spitzen- leistungen und Spitzensportler beschränkt. Die wahre Bedeutung unserer Sportvereine, ihr gesellschaftlicher Beitrag für unser Gemeinwesen, erfährt zu wenig Auf- merksamkeit. Die Initiative „Europäisches Jahr der Erziehung durch Sport 2004“ will die Aufmerksamkeit auf die Arbeit der Vereine lenken. Sie will die gesellschaftliche Bedeutung des Sports herausheben und dessen soziale Kompetenz stärken, die Voraussetzung für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft ist. Solidarität, Fairplay, Teamwork und Toleranz werden im Sport praktiziert; sie sind Grundelemente des Sports. Mein Kollege Riegert hat schon angedeutet: Erziehung und erzieherische Werte sind im Sport selbst angelegt und werden im Sport und durch Sport in der Regel spie- lerisch erlernt und erfahren. Erziehung im Sport erfährt durch Sport selbst seine Begründung; und zwar ohne er- hobenen Zeigefinger. Sport erzieht mehr als andere Me- dien zur sozialen Kompetenz, weil sich Sport in der Re- gel in der Gemeinschaft abspielt. Ich stelle dies anhand einiger Beispiele heraus: Wenn wir heute eine zunehmende Gewaltbereitschaft von Kin- dern und Jugendlichen in ganz Europa erkennen, dann ist dies ein verheerendes Zeichen. Kinder und Jugendli- che akzeptieren oft gesellschaftliche Vereinbarungen nicht, sie rebellieren, sie randalieren, egal was die Ursa- chen und Umstände sein mögen. Fest steht – dies belegen Studien –: Kinder und Ju- gendliche aus Sportvereinen neigen weitaus weniger zur Gewaltbereitschaft. Sie haben frühzeitig in der Gemein- schaft erlebt und erfahren, Regeln anzuerkennen und zu respektieren, sich in demokratische Verhaltensweisen zu üben, sich in ein Mannschaftsgefüge einzuordnen, Leis- tung zu erbringen und Anerkennung zu erfahren. Sie ha- ben gelernt, zu gewinnen und zu verlieren, Verantwor- tung – für sich und für andere – zu übernehmen. Leistung gibt Selbstvertrauen, fördert die Persönlich- keitsentwicklung und erzieht zu Toleranz und Fairplay. Diese soziale Kompetenz schränkt die Gewaltbereit- schaft ein. Der Sport nimmt damit in herausragender Weise eine Aufgabe wahr, die wenig Beachtung findet. Sportvereine haben eine hohe Integrationskraft. Vier von fünf Heranwachsenden sind im Verlauf ihrer Kind- heit und Jugend Mitglied in einem Sportverein. Während die Integrationskraft anderer Institutionen stagniert und rückläufig ist, nimmt sie im Sport weiter zu. Unsere Vereine leisten eine hervorragende Arbeit bei der Zusammenführung unterschiedlicher Gruppen. Die Integration ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger vollzieht sich im Sport nahezu reibungslos. Wir haben uns im Sport praktisch daran gewöhnt, dass viele unserer Leistungsträger ausländische Mitbürgerinnen und Mit- bürger sind. Aber auch in der täglichen Vereinsarbeit der Sportvereine fallen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht auf. Durch Sport, über Leistung, erfah- ren sie Anerkennung, im Miteinander tauscht man Ge- wohnheiten, Sitten und Gebräuche aus und lernt, damit wie selbstverständlich umzugehen. Sport kennt keine Sprachbarrieren: Er ist international und grenzüber- schreitend. An dieser Stelle darf an die hervorragende Rolle des Sports bei der Wiedervereinigung beider deut- scher Staaten erinnert werden: Es waren Sportler aus Ost und West, die als Erste aufeinander zugingen und so mit ihrer unkomplizierten, offenen Art mithalfen, Barrieren auf beiden Seiten abzubauen. Unsere Gesellschaft wird älter. Immer mehr ältere Menschen treten Sportvereinen bei, um sich fit zu halten, aber auch um Anschluss zu halten, Kommunikation zu finden, auch und gerade mit jüngeren Menschen. Es ist eine ganz wichtige Funktion, die der Sport hier leistet; sie wird – da brauchen wir uns nur die demographische Entwicklung in unserem Land anzusehen – immer mehr Bedeutung bekommen. Wir kümmern uns um die Integration behinderter Menschen. Behinderte Menschen wollen nicht bemitlei- det, sie wollen wie jeder Nichtbehinderte behandelt wer- den. Im Sportverein gehört der Umgang mit behinderten Menschen zur Selbstverständlichkeit. Wer sieht, mit welch eisernem Willen, mit welcher Begeisterung sie ihre Behinderung angehen und überwinden, durch Sport Lebensmut schöpfen, der wird ihnen die Anerkennung nicht verweigern können, auch nicht außerhalb des Sports. Immer mehr Behinderte nehmen heute am akti- ven Leben unserer Vereine teil und lernen durch Sport, ihre Behinderung zu überwinden. Unseren Sportvereinen erwachsen mit der Gesund- heitsfürsorge nicht nur neue Aufgaben, sondern auch eine höhere gesellschaftliche Verantwortung. Die Bewe- gungsarmut, gerade bei Kindern und Jugendlichen, nimmt zu. Die Ergebnisse von Studien sind erschreckend und alarmierend: In den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl fettleibiger Kinder verdoppelt; chronische Erkran- kungen als Folge von Bewegungsarmut stellen unser Gesundheitssystem vor schier unlösbare Herausforde- rungen. Prävention durch Sport erhält angesichts zuneh- mender Bewegungsarmut einen vor Jahren nicht auszu- denkenden Stellenwert. Auch hier bietet der Sport hervorragende Programme zur bewussten Gesundheits- erziehung an. Je früher damit begonnen wird, desto bes- ser. Ziel muss ein lebenslanges Sporttreiben sein. Wenn es uns nicht gelingt, die heranwachsenden Ge- nerationen auch durch Sport gesünder und fitter zu ma- chen, werden wir uns noch wundern, in welche Höhen die Kosten für unser Gesundheitswesen steigen werden. Daher muss die Politik sich fragen, wie sie in den ver- gangenen Jahren und Jahrzehnten durch Gesetzgebung Sport gefördert hat, welche Rahmenbedingungen sie ge- schaffen hat, damit Sport für alle in ausreichendem Um- fange stattfinden kann. Denn es steht fest: Ohne mo- derne Sportstätten, ohne gut ausgebildete Übungsleiter und ohne Anpassung der Vereinsförderung kann der Sport seine Aufgaben in Zukunft nicht erfüllen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9079 (A) (C) (B) (D) Die wenigen Beispiele zeigen, welchen erzieheri- schen Wert der Sport hat. Obwohl die gesellschaftliche Bedeutung des Sportes für unser Gemeinwesen seit Jah- ren herausgestellt wird, hat Sport immer noch nicht den Stellenwert, den er aufgrund seiner sozialen Kompetenz haben sollte. Viele sehen im Sport zu sehr die nach au- ßen erkennbare körperliche Leistung und zu wenig die Impulse, die durch diese Leistungen in die Gesellschaft hineinstrahlen und die Voraussetzungen, die für eine sol- che Leistung erforderlich sind: Selbstdisziplin, eiserner Wille, zielstrebiges Umsetzen eines Vorhabens, Team- geist, Fairplay und Toleranz. Die soziale Kompetenz ist bei Sporttreibenden wesentlich höher ausgeprägt als bei Nichtsportlern. Deshalb ist diese europäische Initiative wichtig; deshalb verdient sie Unterstützung. Das Europäische Parlament und der Europäische Rat sollten endlich die uneingeschränkte Gemeinnützigkeit des Sportes anerkennen. Sport ist nicht unter kommer- ziellen Gesichtspunkten zu betrachten. Es reicht nicht, Lippenbekenntnisse zu formulieren und mit hohem Mit- telaufwand Initiativen zu starten. Die jetzige Initiative mag einen zeitlich begrenzten Impuls auslösen. Wir brauchen aber eine eindeutige, langfristige Festlegung, die die Vereine und den Sport in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung stärken. Es geht um eine stärkere Anerken- nung und Besserstellung des ehrenamtlichen Engage- ments. Es geht um das Prinzip der Subsidiarität. Dem Sport sind die Mittel zu geben, die er von sich aus nicht erbringen kann. Es geht um die Anerkennung der Bedeu- tung des Sports für unser Gemeinwesen. Das Jahr 2005 soll von der UNO zum Internationalen Jahr des Sports erklärt werden. Die besondere Bedeu- tung des Sports für Dialog, Kommunikation, Völkerver- ständigung und Erziehung soll herausgestellt werden. Das Ausrufen eines Jahres der Erziehung und eines Jah- res des Sports machen allerdings nur dann Sinn, wenn Taten folgen. Lassen Sie es uns darum gemeinsam anpa- cken. Klaus Riegert (CDU/CSU): Die gesellschaftliche Bedeutung des Sports umfassend europaweit herauszu- stellen soll ein wesentliches Anliegen der Initiative „Eu- ropäisches Jahr der Erziehung durch Sport 2004“ durch das Europäische Parlament sein. Ziel dieser Initiative soll sein, eine breite Öffentlichkeit auf die Bedeutung des Sports in der Erziehung aufmerksam zu machen so- wie nachhaltige Kooperationen zwischen Bildungs- und Sporteinrichtungen zu fördern. Eine solche Initiative räumt dem Sport ohne Zweifel eine herausragende Stel- lung in unserem gesellschaftlichen Wertesystem ein; eine Stellung, die ihm de facto nicht immer zugeteilt worden ist. In 28 europäischen Ländern sollen Projekte, welche die erzieherischen Werte des Sports aufgreifen, gefördert werden. Sport ist ohne Zweifel europaweit die größte Bürgerbewegung. Sport ist ein geeignetes Medium, die weiter reichenden Erziehungsprozesse, die durch den Sport ausgelöst werden, hervorzuheben. Inwieweit da- durch mehr Verständnis für die im Sport vorhandenen Erziehungswerte erreicht wird, bleibt abzuwarten. Sport ist mehr als körperliche Ertüchtigung, objektiv messbare Leistung, Fitness, Wettkampf und medienge- rechte Inszenierung. Sport fördert solidarisches, faires Verhalten, die Anerkennung von Regeln und Entschei- dungen, Leistung, Toleranz, Hilfsbereitschaft, Akzep- tanz von Verlieren, das Sich-Einordnen. Sport trägt da- mit entscheidend zu einer Persönlichkeitsstruktur junger Menschen bei und vermittelt – und dies ist die herausra- gende Bedeutung des Sports – alle wesentlichen Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders. Diese Werte liegen dem Sport zugrunde; sie sind im Sport selbst angelegt. Bewusst wahrgenommen werden diese Erziehungswerte des Sportes allerdings kaum. Deshalb ist es wichtig, sie herauszustellen, damit deut- lich wird, warum wir mehr Sport brauchen. Je frühzeiti- ger junge Menschen über den Sport Erziehungswerte spielerisch erlernen und erfahren, desto gefestigter wer- den sie für das ganze Leben. Mein Kollege Letzgus wird darauf näher eingehen. Bei aller positiven Bewertung des Anliegens erlauben Sie mir auch einige kritische Anmerkungen. Die erziehe- rische Bedeutung, die dem Sport zugrunde liegt, ist bei- leibe keine neue Erkenntnis. Mens sana in corpore in sano hat früher jeder Schüler gelernt. Im antiken Grie- chenland wusste man die Bedeutung der Erziehung durch Sport zu schätzen und räumte dem Sport den ent- sprechenden Stellenwert ein. Nur beherzigt worden ist diese uralte Erkenntnis zu wenig, obwohl die erzieheri- schen Werte des Sports unter Wissenschaftlern, Pädago- gen, Psychologen und im Sport unumstritten sind. Von einer ganzheitlichen Erziehung sind wir weit entfernt. Ich weiß nicht, ob wir annähernd den Umsetzungsgrad des alten Griechenlands erreichen. In Deutschland scheint der ganzheitliche Bildungsan- satz zumindest bei den Bildungspolitikern und den El- tern noch nicht angekommen zu sein. Nach wie vor steht Sport an vorderster Stelle der Streichliste, wenn Unter- richt gekürzt werden soll. In einigen Ländern rührt der Sport an berufsbildenden Schulen ein geradezu stiefmüt- terliches Dasein. Seit Jahren führt der Deutsche Sport- bund eine Kampagne für die Wiedereinführung der drit- ten Sportstunde, die von einigen Ländern gestrichen worden ist. Sportpolitiker, renommierte Wissenschaftler, Ärzte und Krankenkassen fordern seit Jahren, den Stel- lenwert des Schulsportes im Fächerkanon zu erhöhen. Ohne großen Erfolg. Status quo wird heute als Erfolg ge- priesen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass zwischen der sportlichen Aktivität und der Leistungs- und Lernfähig- keit ein direkter Zusammenhang besteht. Wir wissen, dass der Lernprozess verkürzt, der Lernerfolg erhöht und die Aufmerksamkeit bei motorisch gut ausgebildeten Schülern besser ist. Und dennoch: In unserem Bildungs- wesen führt der Sport nach wie vor ein Schattendasein. In unseren Kinderhorten gibt es zu wenig Bewe- gungsräume für sportliche Aktivitäten. Bei der Ausbil- dung der Erzieher und Betreuer spielt der Sport nur eine unwesentliche Rolle. Wenn Erziehung durch Sport spie- lerisch geht, warum fangen wir nicht bei den Kleinsten an? Andere europäische Länder sind uns hier weit 9080 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) voraus. Kinder und Jugendliche finden immer weniger Möglichkeiten, durch Bewegung und Sport motorische Fähigkeiten, Selbstvertrauen und Selbständigkeit als Grundlagen zur Entwicklung einer eigenen Persönlich- keit zu entfalten. Die Bewegungsräume für Spiel und Freizeit werden immer mehr eingeschränkt. Die Kürzung der Sportförderung gehört heute zu den bevorzugten Einsparpotenzialen der Politik in Kommu- nen, Ländern und im Bund. Angesichts der Olympischen Spiele in Athen, der Olympiabewerbung Leipzig und der Fußballweltmeisterschaft 2006 gibt es in einigen Politik- feldern eine gewisse Zurückhaltung. Vielerorts wird aber schon angekündigt, dass der Sport mit weniger Mitteln auskommen muss. Der Sportstättenbau wird zurückge- fahren, von Vereinen werden Benutzungsentgelte für Sportstätten eingefordert, den Vereinen wird eine stär- kere steuerliche Entlastung verweigert. Dies sind keine ermutigenden Voraussetzungen, den Stellenwert des Sportes zu verbessern. Dies alles sind Signale, die dem Aufbruch für mehr Sport und höheren Stellenwert des Sports entgegenstehen. Konsequenzen sind bisher nicht in dem erforderlichen Umfang gezogen worden. Erst langsam beginnt man auf europäischer Ebene den Stellenwert des Sportes zu würdigen. Die europäi- schen Regierungen tun sich schwer, Sport mit einem ei- genen Artikel im europäischen Vertrag aufzunehmen und dessen Gemeinnützigkeit verbindlich festzulegen. Dies ist wichtig, wenn der Sport seine umfassenden Auf- gaben zukünftig wahrnehmen soll. Sport ist mehr als Be- rufssport und die Freizügigkeit von Transfers. Es wäre zu begrüßen, wenn diese europäische Initiative zu mehr Beachtung des Sports durch die Europäische Kommis- sion und das Europäische Parlament führen würde. Ich halte in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse der europäischen Kommissarin für Bildung und Kultur, Viviane Reding, für lobenswert und hilfreich, dass der Sport trotz seiner sozialen und wirtschaftlichen Bedeu- tung bisher nicht im Vordergrund der Bemühungen auf europäischer Ebene gestanden habe. Die soziale Dimen- sion wurde vernachlässigt. Dies soll sich auf europäi- scher Ebene ändern. Die Initiative soll dazu der Anfang sein. So weit, so gut. Wir erwarten Ergebnisse, Verbesse- rungen; wir brauchen keinen Aktionismus und Populis- mus. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wünscht der Ini- tiative der Sache wegen Erfolg. Wir brauchen in einer Zeit der sozialen Spannungen und Veränderungen Ge- meinsinn, Solidarität und Fair Play. Diese Grundwerte werden im Sport gelegt. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn man den Sportteil der Tageszeitungen aufschlägt, kann man das Thema „Sport und Europa“ in vielen Schlagzeilen erleben. Mal sieht EU-Wettbewerbskom- missar Mario Monti italienische Gesetze für den Pro- fisport als wettbewerbsverzerrend an. Dann stellt sich heraus, dass europaweit bekannte Fußballvereine hoch verschuldet sind. Wir haben längst die europäische Di- mension des Sports kennen gelernt als Form eines span- nungsreichen Wettbewerbs zwischen Sportlern und zwi- schen Vereinen. Im Vordergrund stehen Statistik und Tabelle sowie die Superzeitlupe im Fernsehen. Cham- pions League und Europameisterschaften bilden Eck- daten für einen virtuellen und realen europäischen Sport- kalender. Besonders dieser kommerzielle Teil des Sports – insbesondere der Fußball – überdeckt jedoch die so- ziale Dimension und die Bildungsaspekte des Sports. Gerade diese Werte des Sports sind jedoch die unver- zichtbare Basis für seine weitere Entwicklung. Und ge- nau darin liegt die Kraft des Sports, die ihn zu einer tra- genden sozialen Säule in unserer Gesellschaft macht. Leider kommt in der – ebenfalls überwiegend kom- merziellen – Sportberichterstattung oft zu kurz, dass die EU einen wichtigen Beitrag für Sport und Bildung in Europa leistet. Denn es werden im Jahr 2004 mehr als 200 Projekte finanziell gefördert, die sich für Bildung und Erziehung durch Sport einsetzen. Die EU setzt in erster Linie darauf, die bestehenden erzieherischen Werte des Sports an die sportliche Basis und die Bil- dungseinrichtungen zu vermitteln. Ich halte es für aus- sichtsreich, über die Multiplikatoren im Bildungsbereich einen – lassen Sie es mich so nennen – sich selbst tra- genden Aufschwung anzustoßen. Ich hoffe, dass die Pro- jekte dazu eine wichtige Initiative sind und langfristige Wirkung entfalten. Die EU gibt dazu sozusagen den Startschuss. Mit dem diesjährigen Europäischen Jahr der Erzie- hung durch Sport ist schon jetzt Dynamik in die Sport- entwicklung gekommen. Lassen Sie mich stellvertretend einige wenige Beispiele nennen. Erst vor wenigen Wo- chen haben sich in Deutschland die Verantwortlichen des Nationalen Beirats des Europäischen Jahres und die Ver- treter des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engage- ment auf gemeinsame Aktionen in der „Woche des bür- gerschaftlichen Engagements“ im kommenden Oktober verständigt. Ziel ist es, die ehrenamtliche Arbeit im Sport in der Öffentlichkeit besser darzustellen. lch möchte daran erinnern, dass das Bildungsministe- rium im letzten Jahr über 1,6 Millionen Euro für Bil- dungsprojekte im Sportbereich zur Verfügung gestellt hat. Nach meinem Verständnis sollten wir unsere An- strengungen im Jahr von Bildung und Forschung auch stärker auf diesen Bereich ausrichten. Wir brauchen mehr Kooperation zwischen Schule und Vereinssport. Beide Seiten können diese Kooperation zur eigenen Pro- filbildung nutzen. Besonders erfreulich finde ich, dass es immer mehr Sportprojekte in Kindergärten gibt. Gerade bei der kindlichen Entwicklung können körperliche Ak- tivität und Bewegungserziehung eng miteinander ver- bunden werden. Diese Sportprojekte zielen in zwei Richtungen. Die Kinder können Bewegung und Sport als Teil ihrer gegenwärtigen und späteren Sportaktivitäten verstehen. Es geht aber auch um die Herausbildung von individuellen Fähigkeiten im motorischen und sozialen Bereich. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Mo- dellprojekte dieser Art in unserem Land hätten. Ebenso notwendig ist die Erstellung von Qualitätskri- terien für spiel- und bewegungsfreundliche Kindergärten sowie für den Neu- und Umbau von Schulen. Dazu müs- sen auch Anleitungen für ökologisches Bauen und eine bewegungsfreundliche Umfeldgestaltung zählen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9081 (A) (C) (B) (D) Anlässlich der Europawahl im Juni dieses Jahres hat der Deutsche Sportbund (DSB) eine europapolitische Entschließung verabschiedet. Damit wird auch ein wich- tiger Schritt getan zu mehr Zusammenhalt in Europa. Ich möchte besonders hervorheben, dass das Europäi- sche Jahr der Erziehung durch Sport im gleichen Jahr wie die Olympischen Sommerspiele in Athen stattfindet. Wir befinden uns auch im Jahr der Osterweiterung der Europäischen Union. Der Grundsatz der gewaltfreien Spiele und der Völkerverständigung wird mit der Mög- lichkeit der menschlichen Begegnung verbunden, Im Jahr 2006 gibt es dann mit den Olympischen Winterspie- len in Turin und mit der Fußball-WM in Deutschland die nächsten großen Sportveranstaltungen in Europa mit weltweiter Bedeutung. Wir fahren sozusagen auf einer Brücke, auf der Sportgroßveranstaltungen die Brücken- pfeiler bilden. Ich hoffe, dass wir dabei auch in Zukunft unseren Weg auf den sozialen Bahnen des Sports fortset- zen. Zum Schluss noch einige Bemerkungen zum Antrag der FDP. Es stehen darin viele allgemeine Aussagen, de- nen man kaum widersprechen kann oder will. Es sind je- doch auch Plattitüden dabei, die nicht weiter helfen. Auch der Forderungsteil ist ziemlich allgemein. Gefor- dert wird zum Teil, was längst geschieht, wie beispiels- weise die Unterstützung der Kampagne „Sport tut Deutschland gut“. Zudem kämen die Forderungen reich- lich spät, wenn sie denn neu und umsetzungsfähig wä- ren. Hätten die Bundesregierung und andere Akteure bis heute darauf gewartet, die eigenen Beiträge zu planen, dann kämen sie wohl erst im nächsten Jahr. Also, liebe Sportsfreunde von der FDP, aus dem Versuch, einen par- lamentarischen Startschuss zum Europäischen Jahr für Erziehung durch Sport 2004 abzufeuern, ist doch eher eine Knallerbse nach gelungenem Start geworden. Detlef Parr (FDP): Die jüngsten Kampagnen des Eu- ropäischen Parlaments, des Europäischen Rates und der UNO zur Förderung des Sports zeigen, dass der Sport in- ternational enorm an Relevanz gewonnen hat. Gerade im Jahr der Olympischen Sommerspiele, die nach zwölf Jahren endlich wieder in Europa stattfinden werden, be- schließen die europäischen Gremien, den Sport noch stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Erziehung durch Sport ist ein zentrales gesellschafts- politisches Thema. Die Vermittlung von Werten durch den Sport ist heute allgemein akzeptiert. Gesundes Le- ben durch den Sport gehört dabei ganz weit nach vorne. Gerade in diesem Bereich jedoch sind die Defizite leider, nicht nur in Deutschland, stark. Wir müssen feststellen, dass Bewegungsmangel und die daraus resultierenden Folgen rasant zunehmen. Trotz vieler sportorientierter Angebote in Schulen und Verei- nen nehmen Phänomene wie Koordinations- und motori- sche Leistungsschwäche sowie Übergewicht gerade im Kinder- und Jugendalter deutlich zu. Sollte das von der Bundesregierung zurzeit erarbeitete Präventionsgesetz Wirklichkeit werden, müssen die Chancen der Erziehung durch Sport unbedingt berücksichtigt werden. Weder das Elternhaus noch die Schule bieten heute den Kindern ausreichende Möglichkeiten, durch Bewe- gung und Sport motorische Fähigkeiten, Selbstvertrauen und Selbstständigkeit als eine Grundlage zur Entwick- lung einer eigenen Persönlichkeit zu entfalten. Es be- steht ein enger Zusammenhang zwischen sportlicher Ak- tivität und Leistungs- und Lernfähigkeit – nicht nur in der Schule. Das dürfen wir nicht vergessen! Die klassischen Bewegungsräume wie Spiel-, Bolz- und Sportplätze stehen leider seit langem nicht mehr in dem nötigen Maße zur Verfügung. Der Zeitrahmen für den Sportunterricht in den Schulen wurde in den letzten Jahren eher reduziert als erweitert. Und bei Unterrichts- ausfall ist häufig der Sport das Opfer. Die Konsequenzen aus dieser Misere werden trotz der vielen Ergebnisse re- präsentativer Untersuchungen nicht in ausreichendem Maße gezogen. Die Grundlagen für regelmäßige Bewegung und sportliches Training werden in der Kindheit und im Ju- gendalter gelegt, deswegen muss die Erziehung zum und durch Sport im frühen Alter beginnen. Sie ist eine Auf- gabe, die durch Familie, Kindergarten und Kindertages- stätten, Schulen und Vereine gleichzeitig zu bewältigen ist. Das Europäische Jahr der Erziehung durch Sport 2004 hat zum Ziel, eine breite Öffentlichkeit auf die Be- deutung des Sports in der Erziehung aufmerksam zu ma- chen sowie nachhaltige Kooperationen zwischen Bil- dungs- und Sporteinrichtungen zu fördern. Ich denke dabei an solide Kooperationen zwischen Schulen und Sporteinrichtungen bei der Ganztagesbetreuung, an die Zukunft des Schulsports als Keimzelle unseres Leis- tungssports sowie an die Integration benachteiligter Ju- gendlicher durch eine Einbindung in Strukturen der nicht formalen Bildung: Gewalt- und Drogenprävention kön- nen ebenfalls durch sportliche Aktivität unterstützt wer- den: Hierzu sollten auch die Krankenkassen die Kompe- tenzen des Sports nutzen. Im Rahmen des Europäischen Jahres der Erziehung durch Sport werden europaweit 200 Projekte gefördert Diese Projekte umfassen sowohl gemeinschaftliche – mit mindestens acht teilnehmenden Ländern der EU – als auch lokale Projekte. Ich hoffe, dass die Bundesre- gierung die Chance dieser Programme nutzen wird, um deutlich zu machen, welchen Wert der Sport für andere Bereiche der Politik wie Erziehung, Soziales, Integration und Jugendpolitik hat. Der Sport wirkt sich positiv auf die Gesellschaft aus, darüber brauchen wir uns nicht zu streiten. Schöne Worte in Sonntagsreden reichen aber nicht aus. Auch seitens des Bundes müssen die erforder- lichen materiellen und ideellen Rahmenbedingungen ge- schaffen bzw. vor dem Hintergrund der schwierigen Fi- nanzlage erhalten werden. Nicht am Sport, sondern durch den Sport sparen ist die einzig akzeptable Devise. Dabei spielt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine wichtige Rolle, was Prävention und Ge- sundheitsförderung durch Sport angeht. Die Bundesre- gierung sollte die Kompetenzen bei den eigenen Aktivi- täten noch stärker nutzen und die jeweiligen Ministerien 9082 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) in der Umsetzung und Unterstützung der Projekte ein- binden. Beispiele wie die Kampagne des Deutschen Sport- bundes „Sport tut Deutschland gut“ sollen nicht ein iso- liertes Beispiel der Motivation zu Sport und Bewegung in unserer Gesellschaft bleiben. Lassen Sie uns diese Chance nutzen, um mehr Men- schen, die in unseren Land leben, zum Sport zu bewe- gen! Lassen Sie uns die internationalen Kampagnen an- gemessen unterstützen! Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss, bei denen ich auf die Einzel- heiten eingehen kann. Anlage 9 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 797. Sitzung am 12. März 2004 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- stimmen, einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 Grundgesetz nicht zu stellen bzw. einen Einspruch ge- mäß Artikel 77 Absatz 3 nicht einzulegen: – Gesetz zur Änderung des Fleischhygienegesetzes, des Geflügelfleischhygienegesetzes und des Le- bensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes und sonstiger Vorschriften – … Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Sicher- stellung einer Übergangsregelung für die Umsatz- besteuerung von Alt-Sportanlagen – Vierundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Ab- geordnetengesetzes und Zwanzigstes Gesetz zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes – Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts (Kos- tenrechtsmodernisierungsgesetz – KostRMoG) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 28. Mai 1999 zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftver- kehr (Montrealer Übereinkommen) – Gesetz zur Harmonisierung des Haftungsrechts im Luftverkehr – Gesetz zu dem Europäischen Übereinkommen vom 6. November 1997 über die Staatsangehörig- keit – Gesetz zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Ergänzung des Europäi- schen Übereinkommens vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichte- rung seiner Anwendung – Gesetz zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Ergänzung des Europäi- schen Auslieferungsübereinkommens vom 13. De- zember 1957 und die Erleichterung seiner An- wendung – Gesetz zu dem Seeverkehrsabkommen vom 10. Dezember 2002 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einer- seits und der Regierung der Volksrepublik China andererseits – Viertes Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Investitionszulagengesetz 2005 (InvZuIG 2005) – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten und zur Änderung des Hypothekenbankgesetzes und an- derer Gesetze Ferner hat der Bundesrat die folgende Entschließung gefasst: Die nunmehr vorliegende Fassung des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG („Finanzsicher- heitenrichtlinie“) trägt den Bedenken des Bundesrates (vgl. Beschluss vom 17. Oktober 2003; Bundesrats- drucksache 563/03 [Beschluss]) teilweise Rechnung. So- weit der Anwendungsbereich des Bankenprivilegs in der Insolvenz gegenüber dem Regierungsentwurf deutlich eingeschränkt worden ist, erscheint dies sachlich gebo- ten (vgl. die Begründung zu Nummer 8 des genannten Beschlusses). An seiner Auffassung, dass eine Beschrän- kung der Richtlinienumsetzung auf den Interbankenver- kehr vorzugswürdig wäre, hält der Bundesrat fest. Bei den einschlägigen Beratungen im Deutschen Bun- destag sind die gravierenden Mängel der Finanzsicher- heitenrichtlinie deutlich zu Tage getreten. Zu diesen zählt neben der sachwidrigen Ausdehnung des Bankenprivi- legs auf den allgemeinen gewerblichen Rechtsverkehr vor allem die Unklarheit darüber, welche Besicherungs- zwecke mit derart privilegierten Finanzsicherheiten ver- folgt werden dürfen. Diese Frage ist für die Reichweite der Richtlinie von zentraler Bedeutung, ohne dass die Richtlinie hierzu brauchbare und verlässliche Aussagen enthielte. Daher wäre insbesondere klarzustellen, dass eine Bevorzugung von Finanzsicherheiten nur im Rah- men typischer Finanzmarktgeschäfte – und nicht im all- gemeinen Kreditgeschäft der Banken – in Betracht kommt. Diese sachliche Grenzziehung folgt bereits aus dem Regelungszweck der Richtlinie; ihre klare Festle- gung könnte verhindern, dass die Bevorzugung von Fi- nanzsicherheiten sich in der Kredit- und Insolvenzpraxis unter dem Druck von „Basel II“ zur Einbruchstelle eines allgemeinen Bankenprivilegs entwickelt. Derartige Regelungsschwächen gefährden den Richt- linienzweck der Sicherung rechts- und wirtschaftspoliti- scher Mindeststandards in der Europäischen Union. Der Bundesrat hält die Behebung dieser Mängel für vor- dringlich und fordert deshalb die Bundesregierung auf, auf europäischer Ebene auf eine sachgerechte Beschrän- kung und Präzisierung der Richtlinie hinzuwirken. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9083 (A) (C) (B) (D) Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die Delegation der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates über die Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 25. September bis 2. Oktober 2003 in Straßburg und die Debatte der Erweiterten Par- lamentarischen Versammlung über die Aktivitäten der OECD am 1. Oktober 2003 – Drucksachen 15/2137, 15/2369 Nr 1 – – Unterrichtung durch die Delegation der Interparlamentari- schen Gruppe der Bundesrepublik Deutschland über die 109. Interparlamentarische Versammlung vom 1. bis 3. Oktober 2003 in Genf, Schweiz – Drucksachen 15/2146, 15/2369 Nr. 2 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Vierzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2000/2001 – Drucksachen 14/9903, 14/9904 (Anlagenband) – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Vierzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2000/2001 – Drucksachen 14/9903, 14/9904 – hier: Stellungnahme der Bundesregierung – Drucksachen 15/1265 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuss die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- tung abgesehen hat. Petitionsausschuss Drucksache 15/2217 Nr. 1.3 Drucksache 15/2217 Nr. 1.4 Innenausschuss Drucksache 15/1948 Nr. 1.27 Drucksache 15/1948 Nr. 1.33 Drucksache 15/2217 Nr. 2.11 Drucksache 15/2217 Nr. 2.27 Drucksache 15/2217 Nr. 2.33 Drucksache 15/2373 Nr. 2.16 Rechtsausschuss Drucksache 15/2028 Nr. 2.5 Drucksache 15/2373 Nr. 2.12 Drucksache 15/2373 Nr. 2.54 Finanzausschuss Drucksache 15/2373 Nr. 2.23 Drucksache 15/2373 Nr. 2.49 Drucksache 15/2447 Nr. 2.20 Drucksache 15/2447 Nr. 2.21 Drucksache 15/2447 Nr. 2.27 Drucksache 15/2447 Nr. 2.28 Drucksache 15/2447 Nr: 2.31 Drucksache 15/2447 Nr. 2.43 Drucksache 15/2447 Nr. 2.49 Drucksache 15/2519 Nr. 2.12 Drucksache 15/2519 Nr. 2.14 Drucksache 15/2519 Nr. 2.15 Drucksache 15/2519 Nr. 2.16 Drucksache 15/2519 Nr. 2.38 Drucksache 15/2519 Nr. 2.39 Drucksache 15/2519 Nr. 2.41 Drucksache 15/2519 Nr. 2.44 Drucksache 15/2519 Nr. 2.46 Haushaltsausschuss Drucksache 15/2447 Nr. 2.1 Drucksache 15/2447 Nr. 2.9 Drucksache 15/2447 Nr. 2.48 Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Drucksache 15/2447 Nr. 2.11 Drucksache 15/2447 Nr. 2.17 Drucksache 15/2447 Nr. 2.22 Drucksache 15/2447 Nr. 2.23 Drucksache 15/2447 Nr. 2.24 Drucksache 15/2447 Nr. 2.26 Drucksache 15/2447 Nr. 2.36 Drucksache 15/2447 Nr. 2.40 Drucksache 15/2447 Nr. 2.46 Drucksache 15/2447 Nr. 2.47 Drucksache 15/2519 Nr. 2.7 Drucksache 15/2519 Nr. 2.9 Drucksache 15/2519 Nr. 2.11 Drucksache 15/2519 Nr. 2.13 Drucksache 15/2519 Nr. 2.24 Drucksache 15/2519 Nr. 2.25 Drucksache 15/2519 Nr. 2.37 Ausschuss für Verbraucherschutz Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 15/1547 Nr. 2.102 Drucksache 15/2217 Nr. 2.31 Drucksache 15/2373 Nr. 2.8 Drucksache 15/2373 Nr. 2.53 Drucksache 15/2447 Nr. 2.30 Drucksache 15/2519 Nr. 1.6 Drucksache 15/2519 Nr. 1.11 Drucksache 15/2519 Nr. 2.17 Drucksache 15/2519 Nr. 2.23 Drucksache 15/2519 Nr. 2.26 Drucksache 15/2519 Nr. 2.27 Drucksache 15/2519 Nr. 2.28 Drucksache 15/2519 Nr. 2.33 Drucksache 15/2519 Nr. 2.34 Drucksache 15/2519 Nr. 2.35 Drucksache 15/2519 Nr. 2.36 Drucksache 15/2519 Nr. 2.40 Drucksache 15/2519 Nr. 2.42 Drucksache 15/2519 Nr. 2.43 Drucksache 15/2519 Nr. 2.48 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Drucksache 15/792 Nr. 2.16 Drucksache 15/979 Nr. 2.8 Drucksache 15/1547 Nr. 2.21 Drucksache 15/1613 Nr. 1.1 9084 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 (A) (C) (B) (D) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 15/2447 Nr. 1.5 Drucksache 15/2447 Nr. 1.6 Drucksache 15/2447 Nr. 1.7 Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Drucksache 15/2447 Nr. 1.1 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 15/1948 Nr. 1.2 Drucksache 15/2028 Nr. 2.1 Drucksache 15/2028 Nr. 2.2 Drucksache 15/2028 Nr. 2.3 Drucksache 15/2028 Nr. 2.10 Drucksache 15/2519 Nr. 1.2 Drucksache 15/2519 Nr. 1.3 Drucksache 15/2519 Nr. 1.10 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 15/2028 Nr. 2.19 Drucksache 15/2447 Nr. 2.29 Drucksache 15/2447 Nr. 2.38 Drucksache 15/2519 Nr. 2.31 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 15/2519 Nr. 1.9 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 15/2373 Nr. 2.4 Drucksache 15/2373 Nr. 2.5 Drucksache 15/2447 Nr. 2.35 Drucksache 15/2519 Nr. 2.10 sellschaft mbH, Amsterdamer Str. nd 19 22 91, 1 2, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 340, Telefax (02 21) 97 66 344 100. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1510000000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Wilhelm Josef Sebastian feierte am

21. März seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere im Na-
men des Hauses nachträglich sehr herzlich.


(Beifall)

Im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwick-

lung ist von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
die noch offene Position des stellvertretenden Mitglieds
zu besetzen. Hierfür wird die Kollegin Undine Kurth

(Quedlinburg) vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-

den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kolle-
gin Kurth als stellvertretendes Mitglied in den Parlamen-
tarischen Beirat gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Unterschiedliche Auffassungen im Bundeskabinett zum
Emissionshandel und zur Ökosteuer (siehe 99. Sitzung)


ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei-

Rede
nes Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher
Vorschriften
– Drucksache 15/2743 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich

(Bayreuth), Sibylle Laurischk, Joachim Günther (Plauen),

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gesamt-
verkehrskonzept Südbaden – Bündelung vo
Straße im Rheingraben
– Drucksache 15/2470 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
tzung

den 25. März 2004

.00 Uhr

ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für die Einhaltung der
grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in
Guantanamo Bay
– Drucksache 15/2756 –

ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Fortsetzung des Engage-
ments der Bundesregierung für den Wiederaufbau- und
Stabilisierungsprozess in Afghanistan
– Drucksache 15/2757 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so-
weit erforderlich – abgewichen werden.

Des Weiteren soll der Tagesordnungspunkt 7 g
– Menschenrechte in Tunesien – abgesetzt werden. Au-
ßerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung
im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

Der in der 63. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Rechtsausschuss zur Mitberatung überwiesen wer-

text
den
… Gesetzentwurf zur Änderung des Sozialge-
setzbuches – Achtes Buch – (SGB VIII)

– Drucksache 15/1406 –
überwiesen:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Gerade wird mir ein Zettel mit der Mitteilung ge-
die Kollegin Silvia Schmidt (Eisleben)

50. Geburtstag feiert. Herzlichen Glück-
n Schiene und reicht, dass
heute ihren
wunsch!

(Beifall)







(A) (C)



(B) (D)


Präsident Wolfgang Thierse

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Abgabe einer Erklärung durch den Bundes-
kanzler
Deutschland 2010: Unser Weg zu neuer Stärke

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung drei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1510000100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Vor einem Jahr habe ich hier dem Deutschen
Bundestag die Agenda 2010 vorgestellt. Mit ihr verfol-
gen wir ein klares Ziel: Deutschland zu neuer Stärke füh-
ren.

Mit dieser Politik kommen wir unserer Verantwortung
nach, Deutschlands Zukunft nicht nur außenpolitisch zu
sichern, sondern unsere Gesellschaft auch ökonomisch
und sozial zu erneuern, damit Deutschland unter völlig
veränderten Bedingungen ein Land des Wohlstands und
der sozialen Gerechtigkeit bleibt, ein Land, das für eine
Kultur der Zuversicht und des Fortschritts im Sinne prak-
tizierter Vernunft steht, ein Land, das modern ist, weil es
alle Quellen des Wissens erschließt und sie in einer offe-
nen Gesellschaft allen zugänglich macht, ein Land, das
aus diesen Gründen einen Platz in der Weltspitze ein-
nimmt, nicht weil wir ein Recht auf diesen Platz hätten
oder weil wir andere dominieren wollten, sondern weil es
gerade durch die Praxis von Verantwortung und Erneu-
erung zur Weltspitze gehört.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Heute steht Deutschland auf diesem Weg bereits um
einiges besser da als noch vor zwölf Monaten.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Die wirtschaftliche Stagnation der vergangenen drei
Jahre ist überwunden,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


die Investitionstätigkeit zieht wieder an, Auftragsein-
gänge und Produktion der Industrie weisen aufwärts.
Die deutsche Wirtschaft wird in diesem Jahr zum ersten
Mal seit drei Jahren wieder wachsen. Im vergangenen
Jahr hat die deutsche Exportwirtschaft so viele Waren
und Dienstleistungen abgesetzt wie kein anderes Land
der Welt. Der Rückgang der Erwerbstätigkeit kommt all-
mählich zum Stillstand.

Das sind ermutigende Erfolge, auf denen wir auf-
bauen können. Sie zeigen, dass wir auf dem richtigen
Weg sind. Aber es ist nichts, worauf wir uns ausruhen
könnten.
Was mich allerdings noch mehr ermutigt und was ich
wichtig finde, ist die Tatsache, dass wir in diesem einen
Jahr gewiss unter Schwierigkeiten, aber doch gezeigt ha-
ben: Wir Deutschen sind fähig und bereit, unser Land zu
reformieren und den Egoismus zu überwinden – den
Egoismus der Einzelnen, aber vor allem den Egoismus
der Interessengruppen.

Vor einigen Wochen schrieb die „New York Times“,
die Deutschen hätten in der Reformdiskussion die
Chance, sich darauf zu besinnen, dass sie nicht die Fä-
higkeit verloren hätten, hart zu arbeiten, Neues hervor-
zubringen und Opfer auf sich zu nehmen. Genau damit
hätten sie das Wirtschaftswunder hervorgebracht. – Ich
denke, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir
können heute allen Schwierigkeiten und allen Problemen
zum Trotz sagen: Wir Deutschen sind jetzt im Begriff,
diese Chance, uns auf unsere eigenen Stärken zu besin-
nen, auch zu nutzen. Wir haben bewiesen, dass wir bereit
sind zur Wahrheit und zur Lösung von Problemen, auch
wenn sie schmerzhaft und auch wenn sie kompliziert
sind. Wir haben damit die Blockierer und die Schwarz-
maler widerlegt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aus meinen vielen, gelegentlich sehr kontroversen
Gesprächen über den zweifellos schwierigen Umbau
unseres Sozialstaates ist mir eine Begegnung besonders
in Erinnerung geblieben. Es war eine Rentnerin aus
Bocholt, die am Ende einer solchen Diskussion aufstand
und sagte: Ich und viele, die in ähnlicher Lage sind wie
ich, sehen ja ein, dass auch wir etwas beitragen müssen.
Aber es ist nicht immer einfach für uns. Deshalb würden
wir uns wünschen, dass die Politik und die Gesellschaft
uns auch einmal ihre Anerkennung aussprechen. Noch
wichtiger ist es, dass sie uns klar machen: Was wir jetzt
beitragen, lohnt sich, weil unsere Kinder und unsere En-
kelkinder etwas davon haben werden.

Mich hat das sehr beeindruckt. Ich finde, darüber
sollte man in diesem Land nachdenken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist gewiss so, dass die heutige Rentnergeneration
unser Land zur Stärke geführt hat. Diese Generation hat
das Land wieder aufgebaut, als es in Trümmern lag.
Diese Generation weiß, was Entbehrungen bedeuten.
Wir wissen, dass für viele dieser heutigen Rentnerinnen
und Rentner 10 oder 20 Euro weniger im Monat sehr
wohl einen Unterschied in der Lebensqualität ausma-
chen. Deshalb ist mir keine Entscheidung zur
Agenda 2010 so schwer gefallen wie die, auch Rentne-
rinnen und Rentner stärker zu belasten.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich weiß, was diese Rentnergeneration für das Ge-

meinwohl zu leisten bereit ist, und viele in unserem
Land – vor allen Dingen diejenigen, denen es sehr gut
geht – sollten sich ein Beispiel daran nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Diesen Menschen versprechen wir: Eine Politik des blo-
ßen Umverteilens von unten nach oben wird es mit uns
nicht geben. Umverteilen aber müssen wir, und zwar
vom Gestern und Heute ins Morgen, in die Zukunft un-
serer Kinder und unserer Enkel.


(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was ich dieser Generation, zumal dieser Rentnergene-
ration, gerne sagen würde, ist: Was wir zusammen be-
gonnen haben, wird sich auszahlen: in Zukunftschancen,
in Freiheit und Wohlstand für unsere Kinder und für de-
ren Kinder.

Wir haben in dem zurückliegenden Jahr viel ge-
schafft. Wir haben sehr viele Probleme, deren Bewälti-
gung wir alle zusammen auf die lange Bank geschoben
hatten und die über Jahrzehnte hinweg nicht gelöst wor-
den waren, auf einmal angehen müssen. Das war nicht
leicht und es ist nicht ohne Reibungsverluste verlaufen
– ich weiß wahrlich, worüber ich in diesem Zusammen-
hang rede –, übrigens auch nicht ohne Fehler im Detail.

Klar ist allerdings auch: Wir sind noch längst nicht
am Ende unseres Weges. Aber die wichtigste Zwischen-
bilanz, die wir heute ziehen können, lässt sich sehen:
Wir haben uns und anderen bewiesen, dass auch in
schwierigen Zeiten und in oft mühseligen und langwieri-
gen Verfahren Veränderungen für das Gemeinwohl
möglich und machbar sind. Wir haben gesehen: Wenn
die politische Führung den Mut zur Veränderung auf-
bringt, dann besteht die Chance, dass wir auch die Be-
reitschaft der Menschen finden, solche Veränderungen
mitzutragen. Notwendig – im wahrsten Sinne dieses
Wortes – ist das für unser Land. Wir haben erkannt
– diese Erkenntnis wächst in unserer Gesellschaft –, dass
Veränderungen auch dann sein müssen, wenn sie im Ein-
zelfall schmerzhaft sind, übrigens so schmerzhaft, wie es
auch die diesen Veränderungen zugrunde liegende Wirk-
lichkeit gelegentlich ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wissen heute sehr viel genauer, mit welchen Blo-
ckaden wir es auf unserem Weg zur Erneuerung zu tun
haben.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Da hinten sitzen sie!)


Wir haben begonnen, eine Verständigung über den not-
wendigen Weg zu erreichen. Es geht um eine Verständi-
gung darüber, was dieses Land nach innen und nach au-
ßen sein will und sein wird: eine treibende Kraft der
europäischen Integration, ein selbstbewusstes, aber nie
überhebliches Mitglied der Völkerfamilie, ein wichtiger
Partner im Kampf gegen Terrorismus und Gewalt, aber
eben auch ein Anwalt für eine gerechte, weil kooperative
Weltordnung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Innern will und wird es ein Land sein, das seiner
Kraft vertraut, der Kraft, die nach bitteren Erfahrungen
von Diktatur, Krieg und Zerstörung Wiederaufbau und
neuen Wohlstand geschaffen hat, ein Land, das diese
Kraft in der Erneuerung wiedergewinnt und dabei den
Egoismus überwindet, vor allem ein Land, das auch in
der Veränderung eine soziale Gesellschaft bleiben will
und bleiben wird, weil gerade das ein Teil unserer Kraft
ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich weiß sehr wohl: Die Idee von der sozialen Gesell-
schaft hat heute eine Menge Gegner. In der Rechnung
derjenigen, die predigen, dass in der Globalisierung nur
ein ungezügelter Marktliberalismus konkurrenzfähig sei,
zerfällt jede Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Ich
denke aber auch an diejenigen, die den Sozialstaat alter
Prägung um jeden Preis verteidigen wollen, die den So-
zialstaat mit einem Sozialhilfestaat verwechseln und
jede Reform als Angriff auf die Gerechtigkeit bekämp-
fen. Beide liegen falsch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deutschlands Weg zu neuer Stärke führt allein über die
Verteidigung der sozialen Gesellschaft. Das setzen wir
all denen entgegen, die Reformen nur als Verzicht be-
greifen, aber auch denjenigen, die immer nur Verzicht
predigen, dabei aber ausschließlich an andere denken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei der Besinnung auf unsere Stärken gibt es auch
eine Rückbesinnung auf unsere Tugenden: Erfindergeist
und Fleiß, Kreativität, auch Leistungsbereitschaft und
auch die Tugend der Anständigkeit. In der öffentlichen
Diskussion hat man das häufig „die deutschen Arbeit-
nehmertugenden“ genannt. Das ist aber falsch. Es müs-
sen auch Arbeitgebertugenden sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir können den Menschen sehr wohl verständlich
machen, dass staatliche Mittel, die wir für Zukunftsin-
vestitionen brauchen, nur dort eingespart werden kön-
nen, wo sie bislang ausgegeben worden sind: bei den
Subventionen und auch in den Sozialhaushalten.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Genial!)

Wir können ihnen genauso gut verständlich machen,
dass schärfere Regeln bei der Arbeitsaufnahme sein
müssen, weil es in einer sozialen Gesellschaft nicht sein
darf, dass jemand, der die Annahme einer zumutbaren
Arbeit verweigert, besser dasteht als jemand, der sich ab-
müht. Aber auch mein Verständnis endet dort, wo dieje-
nigen, die wenig oder durchschnittlich verdienen, selbst-
verständlich Opfer für die Zukunft bringen, während
sich einige Hundert Spitzenverdiener ungeniert Pen-
sionsansprüche und Abfindungen in Millionenhöhe ge-
nehmigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Dieses Verhalten mag sogar nach Recht und Gesetz sein.
Aber es ist nicht nach Moral und Anstand.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch in Zeiten der Globalisierung ist die Sozialbin-
dung des Eigentums, wie sie im Grundgesetz steht, kei-
neswegs hinfällig geworden. Wir haben den Umbau des
Sozialstaates begonnen, und zwar mit dem Ziel, dass er
auch in Zukunft denjenigen hilft, die sich nicht selber
helfen können. Aber wir werden den umgebauten So-
zialstaat viel besser als bisher nutzen, weil wir in
Deutschland auf dieser Basis eine dynamische und wett-
bewerbsfähige Gesellschaft weiterentwickeln, die aber
auch eine Gesellschaft des sozialen Zusammenhalts, der
Freiheit, der Sicherheit und der Teilhabe sein wird. Des-
wegen werden wir die Mitbestimmung nicht kaputtma-
chen lassen, sondern weiterentwickeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das sind die Themen der Zukunft: Innovationen, neue
Patente, neue Verfahren und neue Märkte. Wir wollen
Wachstum durch Modernisierung. Aber vor allem wol-
len wir Innovation für unsere Kinder bei Bildung, For-
schung und Betreuung; denn das bringt Zukunftschan-
cen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zwei Dinge sind es, die beim Aussprechen dessen,
was ist, immer am Anfang stehen müssen. Erstens. Wir
leben und arbeiten in einer offenen Volkswirtschaft, die
sich Tag für Tag dem internationalen Wettbewerb zu
stellen hat, und zwar zu Bedingungen, unter denen die
Freiheit, Kapital global anzulegen oder zu investieren,
ungleich größer ist als die Sicherheit eines Facharbeiters,
einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden. Zu behaup-
ten, ein Land, das so stark von Außenwirtschaftsbezie-
hungen abhängig ist wie Deutschland, könne sich gleich-
sam von der Globalisierung abkoppeln, wäre grob
fahrlässig. Aber zu fordern, dass wir deswegen alle Er-
rungenschaften der Teilhabe, der Sozialverträglichkeit
und des Schutzes der Lebensgrundlagen über Bord wer-
fen sollten, wäre wiederum ein Anschlag auf all das, was
uns stark gemacht hat und stark erhält.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die zweite Entwicklungslinie, mit der wir es zu tun
haben, ist: Wir leben in einer alternden Gesellschaft.
Immer weniger Beschäftigte müssen für immer mehr
Rentnerinnen und Rentner aufkommen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht neu!)

– Auch wenn das nicht neu ist, muss es immer wieder
einmal gesagt werden, damit Sie es ebenfalls verstehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mir liegt daran, dass das bei uns im Land noch deutli-
cher wird.
1960 haben zehn Beschäftigte die Altersversorgung
von einem Rentner bezahlt. Deswegen waren die Bei-
träge relativ niedrig. Bis heute sind die Beiträge deutlich
gestiegen, weil nur noch drei bis vier Beschäftigte für
einen Rentner aufkommen müssen. Bei ungebremster
Entwicklung werden es 2030 nur noch zwei Beschäftigte
sein, die für einen Rentner aufkommen müssen.

Seit den 60er-Jahren sind in Deutschland sowohl das
Wirtschaftswachstum als auch die Geburtenrate stän-
dig rückläufig. Natürlich hängt das eine mit dem anderen
zusammen. Wenn die Bevölkerung schrumpft – das ist
nicht nur ein deutsches Problem, sondern ein Problem,
das alle europäischen Länder haben; alle diejenigen, die
es zu lösen versuchen, haben damit ähnliche Schwierig-
keiten wie, zugestandenermaßen, wir auch –, geraten
nicht nur die sozialen Sicherungssysteme bei uns und in
ganz Europa immer stärker unter Druck, sondern es wird
auch immer schwieriger, den Wohlstand zu erwirtschaf-
ten, der unseren Sozialstaat überhaupt erst ermöglicht.

Gewiss, eine Bevölkerungspolitik, wie gerade wir in
Deutschland sie in zwei Diktaturen erlebt haben – ich
nenne nur die Stichworte; „Mutterkreuz“ hieß es bei den
Nazis und „Abkindern“ in der früheren DDR –, ist das
Gegenteil von einem Leben in Freiheit und Selbstbe-
stimmung. Aber wir müssen aufpassen, dass unser
Wunsch nach Freiheit uns nicht die Freude am Leben
mit Kindern verdirbt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer sich für ein Leben mit Kindern entscheidet, trifft da-
mit immer eine Entscheidung, die über das eigene Leben
und die eigenen Interessen hinausweist. Diese Entschei-
dung kann der Staat niemandem abnehmen. Aber dafür
sorgen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen stim-
men, für die Eltern, aber noch mehr für die Kinder, das
muss ein moderner Sozialstaat leisten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Globalisierung und demographische Entwicklung las-
sen uns keine Alternative dazu, unseren Sozialstaat und
die Marktwirtschaft zu reformieren. Es gibt natürlich Re-
formalternativen – die mag im demokratischen Wettstreit
jeder selbst beurteilen –, aber es gibt keine Alternative
zur Reform. Der Weg, den die Bundesregierung vor-
schlägt, ist klar umrissen. Es ist der Weg der ökologi-
schen Modernisierung und der Weg der gesellschaftli-
chen Erneuerung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Agenda 2010 ist eben kein bloßes Sparprogramm.
Sie ist ein Programm, bei dem Geld eingespart wird und
werden muss – das ist wahr –, aber es wird eingespart,
um es im Sinne eines besseren Lebens verfügbar zu ma-
chen, also in die Zukunft zu investieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Die Agenda 2010 ist eine Antwort darauf, dass die

Zeit der immer währenden Zuwächse der Wirtschaft, in
der immer mehr an die Menschen im Land verteilt wer-
den kann, vorüber ist. Das bloße Verteilen von Mitteln
war auch nie der wirkliche Inhalt des Sozialstaates.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir geben pro Kopf der Bevölkerung mehr Geld für

die Gesundheitsvorsorge aus als fast alle anderen Staaten
der Welt. Trotzdem sind wir nicht gesünder. Unsere Auf-
wendungen für familienpolitische Leistungen sind, ma-
teriell gesehen, höher als in fast allen anderen Staaten
der Welt. Trotzdem gibt es bei uns nicht mehr Kinder.
Unsere Arbeitslosenversicherung und die Mittel zur Ar-
beitsförderung sind in der ganzen Welt wirklich einma-
lig. Trotzdem ist es in unserem Land seit mehr als
30 Jahren nicht gelungen, jedem, der arbeiten will und
kann, einen Arbeitsplatz zu besorgen. Deswegen war
und bleibt es richtig, immer wieder neu zu überprüfen,
ob die gewaltigen Summen, die wir für die gewünschten
Zwecke aufwenden, auch tatsächlich effizient genug ein-
gesetzt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Maßnahmen, die wir zum Teil gemeinsam be-
schlossen haben, zeigen erste Erfolge. Im Gesundheits-
wesen, bei Arztbesuchen und Überweisungen, aber auch
bei Medikamenten und beim Aufbau und Ausbau von
Gesundheitszentren, kommen wir zu strukturellen Ver-
besserungen. Auf diese Weise können Milliarden Euro
eingespart werden. Aber der strukturelle Erfolg ist um
ein Vielfaches wichtiger, denn Gesundheit beginnt bei
der Vorsorge. Das heißt, jeder Einzelne steht für sich in
der Verantwortung.

Gesundheit heißt aber auch Fürsorge. Alle Beteilig-
ten, von der Pharmaindustrie über die Apotheker, die
Ärzte und die Krankenkassen wissen inzwischen, dass
wir von unseren Grundsätzen nicht zurückweichen wer-
den.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es bleibt dabei: Jeder und jedem muss das medizinisch
Notwendige zur Verfügung stehen; aber Selbstbedie-
nung bei den Gesundheitskassen lassen wir nicht zu, we-
der bei Herstellern und Verkäufern von Medikamenten
noch bei Ärzten und Apothekern, aber auch nicht bei Pa-
tienten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei der Rente haben wir die notwendigen Maßnah-
men schon vor der Agenda 2010 eingeleitet, indem wir
dafür gesorgt haben, dass sich auch diejenigen eine
eigene Zusatzversorgung aufbauen können, die es aus
eigenen Mitteln allein nicht schaffen würden. Regelun-
gen, die zu umständlich sind, weil der Sicherheitsaspekt
zu sehr in den Vordergrund gerückt wurde, werden wir
ändern. Wir haben – die Debatten darüber waren gewiss
kontrovers und für den einen oder anderen auch
schmerzlich – einen Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt.


(Lachen bei Abgeordneten der FDP)

Das musste sein, damit die Altersversorgung für die
Rentner sicherer wird und für die aktiv Beschäftigten be-
zahlbar bleibt.

In der Steuerpolitik haben wir Impulse für Investitio-
nen und Gerechtigkeit ausgelöst. Zu Jahresbeginn haben
wir Arbeitnehmer und Unternehmen um insgesamt
15 Milliarden Euro entlastet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich übrigens auch das einmal deutlich ma-
chen: Bei unserem Regierungsantritt 1998 lagen der
Eingangsteuersatz bei 25,9 Prozent und der Spitzen-
steuersatz bei 53 Prozent. Nach der letzten Stufe zu Be-
ginn des nächsten Jahres werden sie 15 bzw. 42 Prozent
erreichen. Das sind die niedrigsten Werte seit Bestehen
der Bundesrepublik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich füge hinzu: Wer noch mehr will, sollte ganz klar sa-
gen, wie er es bezahlen will.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir setzen diese Politik mit einer Reform der Besteu-
erung der Alterseinkünfte fort, wie es das Bundesverfas-
sungsgericht verlangt hat. Die so genannte nachgela-
gerte Rentenbesteuerung wird dazu führen, dass die
Beiträge zur Altersvorsorge von der Steuer abgesetzt
werden können. Weil in dieser Debatte so viel Schindlu-
der getrieben wird, lassen Sie mich sagen, meine Damen
und Herren: Dazu ist erstens die Regierung und die sie
tragende Mehrheit durch das Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts gezwungen – sie steht dafür in der Pflicht –
und zweitens wird es in den Jahren 2005 bis 2010 zu
einer Steuerentlastung von insgesamt 15 Milliarden Euro
führen.

Es ist wahr, ich hätte mir durchaus vorstellen können,
bei der Steuerreform schneller voranzugehen. Aber auch
hier muss man in Erinnerung rufen, auch wenn Weih-
nachten schon etwas länger her ist: Mehr an Entlastung
war mit der Opposition, die in der Länderkammer eine
Mehrheit hat, nicht zu machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir haben ja in dieser De-
batte wunderbare Erfahrungen gemacht. Als wir gesagt
haben, lasst uns doch dafür sorgen, dass der ganze Ent-
lastungsbetrag, also 22 Milliarden Euro, auf einmal An-
fang 2004 wirksam wird, da ist uns gesagt worden – es
waren ja alle dabei –: Das geht nicht, das halten die Lan-
deshaushalte nicht aus. Ein paar Tage später kamen dann
Pläne derer, die vorher sagten, es gehe nicht, auf den
Tisch, die ein mehr als doppelt so hohes Entlastungsvo-
lumen forderten. Das ist unseriöse Politik. Das kann man
so nicht machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Ich hatte gesagt, dass es keine Alternative zu Refor-

men gibt. Aber es gibt sehr wohl Alternativen bei den
Reformen. Die Ungerechtigkeiten, die Sie, meine Da-
men und Herren von der CDU/CSU und der FDP, mit Ih-
ren verschiedenen Modellen planen, müssen einmal
deutlich ausgesprochen werden. Zugleich müssen wir
sagen: Wir machen das nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen zum Beispiel Spitzenverdiener steuerlich
doppelt so stark entlasten wie Geringverdiener. Darüber
hinaus sollen Menschen mit geringen Einkommen die
hohen Kopfprämien zahlen, die Sie als Ihr Konzept einer
Gesundheitsreform verkaufen.

Wir dagegen haben ein anderes Konzept: Wir senken
die Steuern auf Arbeitseinkommen. Wir wollen, dass
Kapital, das für Zinsgewinne angelegt wird, effektiv be-
steuert wird, weil die Arbeitskosten auch dadurch ge-
senkt werden können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Arbeitnehmer und die Investoren können sich darauf
verlassen: In Deutschland werden weniger Steuern ge-
zahlt als in vielen Vergleichsländern, auch in vielen Ver-
gleichsländern der jetzigen Europäischen Union. Die
Beiträge zur Rente, also die Lohnzusatzkosten, sind ein-
deutig festgeschrieben und ich bin sicher, dass die Bei-
träge zur Krankenversicherung noch im Laufe dieses
Jahres weiter sinken werden. Das, meine Damen und
Herren, sind die hier und heute messbaren Erfolge der
Agenda 2010.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber es gilt auch – das haben wir uns zum Ziel ge-
setzt –, Deutschland als Sozialstaat umzubauen und zu-
rück an die Weltspitze zu führen, ökonomisch, ökolo-
gisch und sozial. Das ist nicht zuletzt deshalb nötig, um
die Ressourcen freizubekommen, die wir brauchen, um
in Zukunft zu investieren, Ressourcen, die wir nur ver-
fügbar machen können, wenn wir die Staatsausgaben
und die Ausgaben der sozialen Sicherungssysteme unter
Kontrolle halten, und zwar im doppelten Sinne: erstens
indem wir dafür sorgen, dass mit diesen Geldern effi-
zient umgegangen wird, und zweitens indem wir bei
Subventionen und Sozialausgaben darauf achten, wo sie
wirklich nötig und vor allem im Sinne der Zukunftsge-
staltung wichtig sind. Öffentliche Güter wie Sicherheit
und Rechtsstaatlichkeit, Gesundheit oder auch Kultur
sind eben keine Waren, deren Wert sich nach dem Share-
holder-Value-Prinzip ermitteln ließe.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es sind auch keine Waren, die gleichsam von selbst auf
dem Markt erscheinen. Gleichwohl haben die Bürgerin-
nen und Bürger ein Anrecht darauf, dass ihnen diese Gü-
ter erhalten bleiben und, wo immer nötig und möglich,
weiterentwickelt werden. Das gilt in allererster Linie für
die Bildung und die Betreuung unserer Kinder.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bildung und Betreuung müssen für eine Gesellschaft,
die über den Eigennutz hinausdenkt, von zentraler Be-
deutung sein, und zwar aus drei gewichtigen Gründen:

Erstens. Deutschland ist ein Land, das über keine nen-
nenswerten Rohstoffreserven verfügt und dessen Zu-
kunft bestimmt nicht darin liegt, Billiglohnländern bei
der Herstellung von Massenware Konkurrenz zu ma-
chen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Seine Zukunft liegt auch nicht darin, mit denen, die jetzt
neu in die Europäische Union kommen, um immer nied-
rigere Löhne zu konkurrieren. Das ist nicht die Zukunft
unseres Landes, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Weil das so ist, können wir es uns schlicht nicht leisten,
auch nur eine einzige junge Frau oder einen einzigen
jungen Mann nicht seinen Begabungen entsprechend
möglichst qualifiziert ausbilden zu lassen und zu be-
schäftigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens. Deutschland ist ein Land mit einer der
höchsten Raten an Arbeitsproduktivität. Das hat uns
stark gemacht und das muss so bleiben. Aber wir haben
bereits heute einen Mangel an Fachkräften in bestimm-
ten Branchen. Dieser Mangel wird sich in den nächsten
Jahren drastisch ausweiten. Einer der Gründe dafür ist,
dass wir es nicht vermocht haben, in unserem Land ge-
nügend Nachwuchs gut zu qualifizieren. Das ist eben
nicht allein Aufgabe und Auftrag der Politik, sondern
der ganzen Gesellschaft und – ich sage es sehr konkret –
auch der deutschen Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Frage der Qualifikation hängt auch mit der Tatsa-
che zusammen, dass es gut ausgebildete Frauen gibt, die,
obwohl sie gerne arbeiten würden, dies nicht tun können,
weil sie keine Betreuungsangebote bekommen. Unser
Schul- und Betreuungswesen zwingt sie dazu, sich im
Zweifel ausschließlich für die Familie und gegen den
Beruf zu entscheiden. Das kann und das darf nicht so
bleiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Alle Sachverständigen sind sich darüber einig, dass
eine unserer wesentlichen Wachstumsschwächen darin
liegt, dass das Arbeitsvolumen in hoch qualifizierten Be-
rufen zu gering ist. Diese Lücke lässt sich nicht allein
– aber sie gehört dazu – durch Zuwanderung schließen,
die wir in einem modernen Gesetz, von dem ich hoffe,
dass es alsbald zustande kommt, regeln müssen. Sie lässt






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

sich auch nicht durch ständige Mehrarbeit schließen.
Das sage ich, obwohl ich weiß, dass sie im Einzelfall
sein muss. Sie lässt sich auf Dauer nur schließen, indem
wir mehr in die Fähigkeiten unserer Kinder, also der jun-
gen Generation, investieren und indem wir gut ausgebil-
deten Frauen, die Kinder haben wollen, endlich die
Möglichkeit geben, eine Familie zu haben und gleichzei-
tig arbeiten zu können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Drittens brauchen und wollen wir Kinder – sie sind
das Wertvollste, was wir haben –; denn Fortschritt und
technologische Entwicklung kann es nur in einer Gesell-
schaft geben, die der Neugier und auch der Experimen-
tierlust von Kindern Raum gibt. „Kinder“ ist also ein an-
deres Wort für Zukunft und für Zuversicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Kinder bereichern unser Leben und sorgen dafür, dass
wir nicht stehen bleiben, gleichsam im Eigennutz ver-
stocken.

Aus den Erfahrungen vergleichbarer Länder wissen
wir, dass es keinen Königsweg gibt, der von einer be-
stimmten Politik zu einer größeren Bereitschaft führen
würde, sich für Kinder zu entscheiden. Wir wissen auch:
Dort, wo es ausreichend Krippenplätze und auch Ganz-
tagsschulen gibt, sind die Geburtenraten höher als bei
uns. Wir müssen jedenfalls feststellen, dass Deutschland
in dieser Frage längst nicht auf der Höhe der Notwendig-
keiten und auch nicht auf der Höhe der Möglichkeiten
ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind nicht dort, wo wir sein sollten, weil einer-
seits Familienpolitik nie ausschließlich mit Geld und
schon gar nicht nach dem Gießkannenprinzip gemacht
werden kann und weil andererseits jede Diskussion über
Geburtenraten und Erziehung bei uns sofort in ideologi-
sche Glaubenskämpfe ausartet. Da wird oftmals in plum-
pester Demagogie Betreuung mit Verwahrung verwech-
selt. Als wenn es darum ginge!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Da wird die Notwendigkeit, dass Kinder schon im Vor-
schulalter das Lernen lernen, als staatlicher Eingriff in
die Hoheit der Eltern verunglimpft.

Schließlich: Lehrer und Pädagogen sind die wichtigs-
ten Vermittler des Wandels. Wir sollten uns darauf kon-
zentrieren, ihre Ausbildung zu verbessern und ihre Fä-
higkeiten auf die Höhe der Zeit zu bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr richtig!)


Dabei darf es keinen Streit um Kompetenzen geben.
Eine Politik des unbedingten Ja zu Kindern und Familie
müssen wir nicht erst im Vermittlungsausschuss – jeder
weiß, wie es da zugeht – behandeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden deshalb unsere Initiative für den Bau von
Ganztagsschulen weiterführen. Wir werden dafür sor-
gen, dass unsere Initiative zum Ausbau der Kinderbe-
treuung gemeinsam mit den Kommunen und Ländern
zum Erfolg führt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir setzen dabei nicht nur auf Einrichtungen, sondern
auch auf individuelle Betreuung durch qualifizierte Ta-
gesmütter. Daher wollen wir die wichtige Aufgabe von
Tagesmüttern weiter stärken und auch damit das Be-
treuungsangebot verbreitern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Meine Damen und Herren, Bildung ist der Schlüssel
zu Fortschritt und Sicherheit im 21. Jahrhundert. Es gibt
nur eine Antwort auf die Frage, womit wir in einer glo-
balisierten Ökonomie gutes Geld für gute Arbeit verdie-
nen können: mit Spitzenqualität und Spitzentechnolo-
gie. Ohne ein breit gefächertes Verständnis für andere
Sprachen und andere Kulturen werden wir unsere offene
Gesellschaft nicht weiterentwickeln und sie übrigens
auch nicht gegen Extremismus wirklich verteidigen kön-
nen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Schon daraus wird klar, dass wir die skandalöse Be-
nachteiligung, die Kinder aus unterprivilegierten Fa-
milien oder auch aus Migrantenhaushalten in unserem
heutigen Schulwesen erfahren, beenden müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist übrigens keine Erkenntnis linker oder grüner
Systemveränderer, sondern eine Erkenntnis der in dieser
Hinsicht ganz unverdächtigen OECD. Wir müssen die
Länder und ihre Kultusminister dazu anregen, sich die-
sen Aufgaben zu stellen. Der Bund wird ihnen dabei ent-
gegenkommen.

Bildung beginnt in der Schule; aber sie endet be-
kanntlich nicht dort. In der Schule sollen die Kinder mit
auf den Weg bekommen, dass lebenslanges Lernen Lust
und nicht Last ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber wir müssen schon heute eine lernende Gesell-
schaft sein. Die Berufschancen des Einzelnen und die
Marktchancen unserer Volkswirtschaft hängen entschei-
dend davon ab, wie wir ständig neues Wissen in unsere
Arbeit und in die Wirtschaft einbringen.






(C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Für die Älteren bedeutet dies: Wir müssen aufhören,

sie aus der Arbeit herauszudrängen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir brauchen ihre Erfahrung und müssen sie immer wie-
der mit Angeboten zur Auffrischung ihres Wissens be-
geistern.

Für die Jüngeren geht es um eine gute Berufsausbil-
dung. Noch ist es so, dass uns alle Welt um unser duales
Ausbildungssystem beneidet. Aber der Mangel an be-
trieblichen Ausbildungsplätzen bringt dieses hervorra-
gende Modell in größte Gefahr.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen: Viele Unternehmen tun sehr viel mehr, als
sie müssten. Andere aber meinen, sie könnten und dürf-
ten sich der Verpflichtung zur Berufsausbildung entzie-
hen.

Die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit
dieses Hohen Hauses wird das nicht zulassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben nie gesagt, dass eine Ausbildungsumlage
dazu da ist, der Wirtschaft das Leben schwer zu machen.
Aber wir werden sie brauchen, wenn es zu keiner ande-
ren befriedigenden Lösung kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann nur davor warnen: Mit einer Diskussion über
die Instrumente darf sich niemand – auch und gerade in
der Wirtschaft – aus seiner Verantwortung für die Aus-
bildung davonschleichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was wir heute leisten müssen, ist eine umfassende
Innovation. Dafür hat unser Land beste Voraussetzun-
gen. 2003 war Deutschland Exportweltmeister. Bei den
internationalen Patenten sind wir weltweit führend. Bei
den Schlüsseltechnologien stehen wir hervorragend da.
Die Biotechnologie hat in Deutschland einen rasanten
Aufstieg erfahren. Inzwischen sind wir hier europaweit
Spitze. Viele innovative Unternehmen mit vielen Tau-
send Beschäftigten sind in diesem Bereich entstanden.
Das Gleiche gilt für die Informations- und Kommunika-
tionstechnologie, für die Nanotechnologie, für optische
Technologien und für die Energieforschung.

Wir wissen: Der Weg der ökologischen Modernisie-
rung unseres Landes ist richtig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Denn für uns ist klar: Nur der sparsame Umgang mit
allen natürlichen Ressourcen erhält künftigen Generatio-
nen Lebensspielräume und Handlungsmöglichkeiten.
Das große Werk der Erneuerung kann nicht von der Poli-
tik allein geleistet werden. Es ist Aufgabe der ganzen
Gesellschaft. Deshalb haben wir zusammen mit Vertre-
tern der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Gewerk-
schaften die Initiative „Partner für Innovation“ ins Leben
gerufen, um gemeinsam Ideen dafür zu entwickeln, wie
wir unser Land in Zukunft an der Spitze halten und – wo
immer nötig – nach vorn bringen können. Nächste Wo-
che werden erste konkrete Vorschläge zur Verbesserung
der Startchancen für innovative Unternehmen, für einen
leichteren Zugang zu Wagniskapital, zum weiteren Ab-
bau von Bürokratie und zur Umsetzung neuer Ideen in
marktfähige Produkte vorliegen.

Deutschland hat fantastische Ingenieure, Naturwis-
senschaftler und Techniker. Auf dieses Talent und die
Begeisterung der vielen Menschen, die hier leben, ist
Verlass.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber wir müssen immer wieder dafür sorgen, dass sie in
Deutschland die notwendigen Bedingungen vorfinden,
um unsere Zukunft gestalten zu können. Investitionen
in Forschung und Entwicklung sind für ein Hochtech-
nologieland wie das unsere überlebenswichtig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben es uns deshalb zum Ziel gesetzt, die Auf-
wendungen für Forschung und Entwicklung bis 2010 auf
3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Dafür
müssen Bund, Länder und Kommunen mehr in diese Be-
reiche investieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Mittel können weder im Wege einer Neuver-
schuldung aufgebracht werden noch können wir darauf
warten, dass höhere Wachstumsraten zu mehr Steuerein-
nahmen führen. Wir können nicht immer nur sagen – in
diesem Bereich erst recht nicht –: Es ist kein Geld da.
Stattdessen müssen wir sehen, wo Subventionen aus der
Vergangenheit in Zukunftsinvestitionen umgeschichtet
werden können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich mache einen Vorschlag, der nur zusammen mit
der Mehrheit der Länderkammer zu realisieren ist. Mein
Vorschlag betrifft die Eigenheimzulage. Die Förderung
von Wohneigentum durch den Staat war historisch sinn-
voll und nützlich. In früheren Jahren musste vor allem
für junge Familien dringend benötigter Wohnraum ge-
schaffen werden. Zudem ging es darum, Eigentum in
privater Hand zu bilden und dadurch unsere Städte und
Gemeinden für eine wachsende Bevölkerung auszu-
bauen. Dafür haben wir viel Geld ausgegeben und geben
es immer noch aus. Diese Voraussetzungen gelten heute
aber so nicht mehr. Wir haben in Deutschland keine
Wohnungsnot mehr und die Bevölkerungszahl nimmt
– unabhängig von dem, was wir jetzt diskutieren – lang-
fristig eher ab als zu.

(A)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Aus diesem Grunde ist es sehr viel sinnvoller, das für

die Eigenheimzulage verwendete Geld für mehr Innova-
tionen und damit für die Chance auf neue Arbeitsplätze
auszugeben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das wäre eine Investition in die Zukunft unserer Kinder
und angesichts der Mehrheitsverhältnisse in unserem
Land, der Mehrheitsverhältnisse in der zweiten Kammer
bitte ich Sie, mitzuhelfen, dass wir dieses Geld, das wir
dort so nicht mehr brauchen, in die Zukunft unseres Lan-
des investieren können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auf diese Weise könnten der Bund und die Länder bis
2010 insgesamt rund 4 Milliarden Euro sparen. Die
Kommunen würden um 700 Millionen Euro entlastet.
Der Bund würde seinen Anteil in die Förderung von
Forschung und Entwicklung investieren, sodass wir das
3-Prozent-Ziel bis 2010 nach und nach erreichen kön-
nen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Von den Ländern würden wir erwarten, dass sie ihren
Anteil für Bildungsaufgaben, vor allem für bessere
Schulen, verwenden. Die Kommunen könnten mit ihrem
Anteil das Betreuungsangebot für Kinder verbessern.

In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich
den Vorschlag des Bundesbankpräsidenten Welteke, ei-
nen Teil der Goldreserven der Bundesbank zu verkaufen


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und für Bildung und Forschung einzusetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Das weiß die Bevölkerung richtig zu deuten!)


Mit dem Wettbewerb „Brain up! Deutschland sucht
seine Spitzenuniversitäten“ geben wir darüber hinaus ei-
nen wichtigen Impuls für die Entwicklung von Spitzen-
universitäten. Wir haben in unsrem Land gute Universi-
täten und Forschungseinrichtungen. Wir sind in der
Breite sehr stark. Das sollten wir in der internationalen
Diskussion wieder einmal mit berechtigtem Stolz deut-
lich machen. Wir brauchen auch international attraktive
Zentren. Nur so werden wir Deutschlands kluge Köpfe
hier halten und aus dem Ausland zurückholen können.

Meine Damen und Herren, es sind viele falsche Pro-
pheten unterwegs, die uns vermeintlich gute Ratschläge
geben, auf welchen Kurs wir Deutschland bringen sol-
len.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Einer steht da vorn!)


– Ich meinte eigentlich gar nicht ausdrücklich Sie,

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

aber wenn Sie sich diesen Schuh schon anziehen, dann
vermutlich deshalb, weil er Ihnen passt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir reden nicht von denen, die nichts verändern wol-

len. Wer alles so lassen will, wie es ist, wird am Ende
nur noch den Mangel verteilen – weil nichts mehr erwirt-
schaftet würde, was sich verteilen ließe. Das sage ich
durchaus dem einen oder anderen unserer Freunde.

Nein, ich meine jene, die uns raten, unsere koopera-
tive Wirtschaftsordnung von Teilhabe und Tarifauto-
nomie, von Mitbestimmung und Mitverantwortung über
Bord zu werfen. Sie glauben, dass nur ungezügelter
Wirtschaftsliberalismus Innovationen hervorbringt, auf
die es im globalen Wettbewerb ankommt.

Ich sage dazu: Wir haben ein erfolgreiches Modell
des Wirtschaftens, des Arbeitens und des Zusammenle-
bens. Es basiert auf dem Zusammenwirken von Staat,
Wirtschaft und Arbeitnehmern, die Mitverantwortung
tragen und deshalb auch ein Recht auf Mitsprache ha-
ben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dieses Modell bleibt der Schlüssel für unsere Wettbe-
werbsfähigkeit und damit für unsere Zukunft. Nichts
wäre verkehrter, als es einzureißen.

Was wir stattdessen brauchen, ist ein neues Verhältnis
von Freiheit, Verantwortung und Sicherheit, und zwar in
diesem bewährten System und nicht gegen das System.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was wir brauchen, ist ein neues Verständnis von Gerech-
tigkeit. Das sage ich all denjenigen, die über die Gerech-
tigkeit der Politik der Agenda 2010 so kontrovers und so
intensiv diskutieren.

Ein neues Verständnis von Gerechtigkeit heißt: eine
Gerechtigkeit, die sich nicht nur auf den Ausgleich zwi-
schen den heute im Berufsleben Stehenden beschränkt,
sondern sich über mindestens drei Generationen er-
streckt – die Älteren, die unser Land aufgebaut und die
Grundlagen für unseren Wohlstand gelegt haben, die
heute Aktiven, die mit ihrer Leistung unseren Lebens-
standard sichern, und die Generation unserer Kinder und
Enkel, die es uns nicht verzeihen würden, wenn wir nicht
auch an ihr Wohlergehen dächten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In dieser über Generationen hinweg reichenden Verant-
wortung handeln wir. Das macht den inhaltlichen Sinn
der Agenda 2010 aus, der exakt darin besteht, Ressour-
cen nicht heute zu verzehren, sondern sie auch zu inves-
tieren, damit unsere Kinder und deren Kinder Lebens-
chancen haben und bekommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Dem entspricht ein Mehr an Verantwortung eines je-

den Einzelnen für sich in der jetzigen Generation, aber
auch für seine Lebenspartner und seine Familie und
nicht zuletzt für das Gemeinwesen. Das ist der Grund,
warum das Motto heißt: Egoismus überwinden und
neuen Gemeinsinn fördern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, neue Frei-
heit und neue Verantwortung bedeuten immer auch neue
Unsicherheiten. Das gilt in Zeiten des ökonomischen
und sozialen Wandels erst recht. Es gilt erst recht in ei-
ner Welt neuer Risiken und neuer Bedrohungen, in der
Welt, in der wir leben.

Ich war gestern in Madrid und habe dort an dem
Staatsakt für die Opfer des niederträchtigen Terroran-
schlags vom 11. März teilgenommen. Es war eine wich-
tige Gelegenheit, dem spanischen König, der gewählten
Regierung und der Bevölkerung unsere Anteilnahme
und unsere Solidarität zuzusichern. Es war, jedenfalls für
mich, auch eine wichtige Gelegenheit, das spanische
Volk gegen schlimme Diffamierungen in Schutz zu neh-
men,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diffamierungen, die auch bei uns veröffentlicht wurden
und besagen, die Spanier hätten vor dem Terrorismus
Reißaus genommen und sich in eine Beschwichtigungs-
politik geflüchtet.

Meine Damen und Herren, Spaniens jüngere Ge-
schichte gehört zu den stolzesten Erfahrungen Europas.
Noch vor 30 Jahren lebten die Spanier unter der Franco-
Diktatur. Dass Spanien die Strukturen dieser Diktatur
überwinden und zu einer lebendigen Demokratie werden
konnte, hat ganz wesentlich mit der europäischen Per-
spektive und der europäischen Hilfe für die spanischen
Demokraten zu tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie werden verstehen, dass ich an dieser Stelle ganz be-
sonders den früheren Bundeskanzler Willy Brandt her-
vorhebe. In diesen schweren Stunden hat das spanische
Volk wirklich Besseres verdient, als von Außenstehen-
den verhöhnt zu werden, nur weil es seine demokrati-
sche Reife unter Beweis gestellt hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


Meine Damen und Herren, das Beispiel Spanien ruft
uns in Erinnerung, wie weit wir in Europa vorangeschrit-
ten sind. Noch vor drei Jahrzehnten war die Demokratie
im westlichen Teil unseres Kontinents keineswegs eine
Selbstverständlichkeit. In Osteuropa gab es bis 1989
Diktatur und Unterdrückung, Stacheldraht und Schieß-
befehl. Am 1. Mai dieses Jahres wird die Europäische
Union zehn neue demokratische Staaten in ihre Mitte
aufnehmen. Wir – damit meine ich unsere Generation,
die Generation derer, die heute, ob in Opposition oder
Regierung, politisch handeln – haben heute die große
Chance, Europa nicht nur wirtschaftlich, sondern auch
politisch zu einigen. Ich denke, das ist eine historisch
einmalige Gelegenheit. Wir dürfen und werden sie nicht
verstreichen lassen oder im kleinlichen Hader zerreden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In diesem Prozess kommt dem deutsch-französi-
schen Verhältnis eine ganz besondere Bedeutung zu.
Heute ist der Dialog mit unseren französischen Freunden
in allen wichtigen außen- und europapolitischen Fragen
so eng wie vielleicht nie zuvor in der Geschichte. Das
zeigt übrigens auch die Einladung Präsident Chiracs zur
Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der
Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni,
dem so genannten D-Day.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zum ersten Mal überhaupt nimmt ein deutscher Bun-

deskanzler – gemeinsam mit den Vertretern der westli-
chen Siegermächte – an dieser Feier teil. Ich stehe nicht
an, zu sagen, dass mich diese Einladung des französi-
schen Präsidenten persönlich sehr berührt hat und dass
ich ihm dafür sehr dankbar bin. Ebenso bewegt hat mich
die Einladung des polnischen Ministerpräsidenten
Leszek Miller zum 60. Jahrestags des Warschauer Auf-
stands am 1. August dieses Jahres. Meine Damen und
Herren, diese Gesten betrachte ich als einen Beweis für
das tiefe Vertrauen, das unsere europäischen Freunde
Deutschland und damit den Deutschen heute entgegen-
bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden dieses Vertrauen übrigens nur erhalten kön-
nen, wenn wir uns immer wieder der Sensibilitäten in
unserer gemeinsamen Geschichte bewusst sind und al-
les, aber auch alles, vermeiden, was in diesen Ländern,
die so sehr unter Deutschland gelitten haben, missver-
standen werden könnte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der eine oder andere in diesem Hohen Hause wird es
mir vielleicht nachsehen, wenn ich an dieser Stelle daran
erinnere, welche Debatten wir vor etwa einem Jahr ge-
führt haben, als wir miteinander über Sicherheit und
über die Beteiligung bzw. Nichtbeteiligung an einem
Krieg gestritten haben. Sie werden verstehen, dass ich
ganz selbstbewusst sage: Wir waren damals auf dem
richtigen Weg und wir sind es auch heute.


(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unser Land – das ist im Übrigen weithin anerkannt –
ist vorbildlich engagiert, wenn es darum geht, Frieden
und Sicherheit zu schaffen. Wir setzen vor allem auf zi-
vile Mittel, etwa internationale Einsätze deutscher Poli-
zisten. Wir sind aber auch der drittgrößte Beitragszahler






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

der Vereinten Nationen und nicht zuletzt dient diesem
Ziel auch unsere Entwicklungspolitik. Und: Wenn alle
friedlichen Mittel ausgeschöpft sind, sind wir bereit,
auch militärische Mittel einzusetzen; mir liegt daran,
dass das in einer solchen Debatte klar wird.

Mehr als 7 000 unserer Soldaten helfen heute unter
Einsatz ihres Lebens, den Frieden in der Welt zu sichern.
Wie notwendig das ist, zeigt uns nicht zuletzt das Wie-
deraufflammen der Gewalt im Kosovo. Afghanistan hat
seit Januar eine neue Verfassung – ein Zeichen der Hoff-
nung für die Menschen dort und ein Mehr an Sicherheit
für die gesamte Region. Wir wollen, dass dieser Stabili-
sierungsprozess weiter voranschreitet. Deutschland wird
deshalb in der nächsten Woche in Berlin Gastgeber der
dritten großen Afghanistan-Konferenz sein. Auch das
zeigt das große Vertrauen, das Afghanistan, aber auch
die gesamte internationale Gemeinschaft uns entgegen-
bringt.

Wir haben auch ein vitales Interesse an der Stabilisie-
rung des Irak. Das verlangt eine Verbesserung der Si-
cherheitslage dort. Deshalb beteiligen wir uns – durch-
aus substanziell – an der Ausbildung irakischer
Polizisten. Darüber hinaus wird Deutschland eine wich-
tige Rolle bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Irak
übernehmen.

Meine Damen und Herren, den Kampf gegen den in-
ternationalen Terrorismus – gleich, ob islamistisch
oder anderweitig religiös oder politisch motiviert – wer-
den wir dauerhaft nur gewinnen, wenn es uns gelingt, den
Gewalttätern ihre Basis zu entziehen, und zwar sowohl
die finanzielle und logistische als auch die ideologische
Basis. Terroristen sind abhängig von Finanzierung, Waf-
fenlieferungen, logistischer Unterstützung. Genauso klar
muss aber sein: Terrorismus kann dort am besten gedei-
hen, wo Menschen aus Wut, aus Verzweiflung oder aus
Überzeugung die Gräueltaten der Terroristen unterstüt-
zen oder zumindest dulden.

Zur Bekämpfung des Terrorismus sind daher ver-
schiedene Komponenten miteinander zu verbinden. Da-
bei steht eines im Vordergrund: Alle Maßnahmen – ob
polizeilich, nachrichtendienstlich, militärisch oder poli-
tisch – müssen viel enger als in der Vergangenheit im eu-
ropäischen Kontext und darüber hinaus aufeinander ab-
gestimmt sein. Wir müssen in Europa vor allen Dingen
durch präventive Maßnahmen für einen besseren Schutz
der Menschen sorgen. Dazu gehört eine intensivere Zu-
sammenarbeit der Sicherheitsorgane in Europa. Heute
Abend werden wir im Europäischen Rat verschärfte
Maßnahmen zur gemeinsamen Terrorismusbekämpfung
beschließen.

Zu einer Politik der Prävention gehört aber auch die
Integration der Menschen, die mit anderen kulturellen
und religiösen Hintergründen zu uns gekommen sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist ein politisches Gebot, damit wir unsere offene
Gesellschaft erhalten und weiterentwickeln können. Das
ist aber auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft und
ebenso ein Gebot der Sicherheit und der Gefahrenab-
wehr. In diesem Zusammenhang sage ich in aller Deut-
lichkeit: Terroristische Verschwörer und Personen, von
denen eine Gefahr für unsere Sicherheit ausgeht, haben
in Deutschland nichts zu suchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Bundesinnenminister hat noch einmal deutlich da-
rauf hingewiesen, dass mögliche Sicherheitslücken im
Ausländerrecht, so es sie denn gibt, geschlossen wer-
den müssen und auch geschlossen werden. Das betrifft
sowohl die Visumerteilung als auch die Ausweisung und
Abschiebung von Ausländern, die eine Gefahr für unsere
Sicherheit darstellen. Wenn dies aus tatsächlichen Grün-
den nicht möglich ist – das sage ich, um missverständli-
chen Interpretationen zu begegnen –, dann sollten diese
Personen obligatorisch besonderen polizeilichen Mel-
deauflagen und Wohnsitzbeschränkungen unterliegen.

Um der bestehenden Bedrohungslage konsequent zu
begegnen und Gefahren für unser Land abzuwehren,
wird die Bundesregierung eigene Vorschläge unterbrei-
ten. Regierung und Opposition müssen in diesen wichti-
gen Fragen der Sicherheit unseres Landes gemeinsam
und entschlossen handeln. Niemand sollte versuchen,
den anderen in die Defensive zu treiben. Das würde der
gemeinsamen Aufgabe nicht gerecht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei all dem, was wir hier tun, muss klar sein: Es gibt
keine Bürgerrechte ohne Sicherheit. Es gibt aber auch
keine Sicherheit ohne Bürgerrechte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gerade im Kampf gegen den Terrorismus muss es hei-
ßen: Sicherheit ist ein Bürgerrecht. Die Abwehr terroris-
tischer Bedrohungen stellt uns vor neue Herausforderun-
gen; das ist wahr. Das darf uns aber nicht dazu verleiten,
Verantwortung zu verwischen, auch nicht zwischen dem
Bund und den Ländern. Ich betone deshalb: Innere Si-
cherheit ist vor allem Sache der Polizei und des Bundes-
grenzschutzes.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nur sie verfügen über die erforderliche Ausbildung und
die entsprechende verfassungsrechtliche Legitimation.
Natürlich kann die Bundeswehr auch weiterhin zu Amts-
und Nothilfe bei schweren Katastrophen und Unglücks-
fällen im Inland eingesetzt werden. Für den Fall, dass
nur die Bundeswehr aufgrund ihrer besonderen Fähig-
keiten eingreifen kann, etwa bei einem terroristischen
Angriff aus der Luft, hat die Bundesregierung, hat der
Bundesverteidigungsminister Vorsorge getroffen. Wir
haben das Luftsicherheitsgesetz auf den Weg gebracht
und dabei die notwendigen Einrichtungen bei der Bun-
deswehr geschaffen, um solchen terroristischen Gefah-
ren auch begegnen zu können. Darauf können sich die
Bürgerinnen und Bürger unseres Landes verlassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Es muss aber auch klar sein – es hilft nicht, darüber hin-
wegzureden; das unterscheidet uns –: Für polizeiliche
Aufgaben sind unsere Soldaten nicht ausgebildet. Die
Bundeswehr wird auch in Zukunft nicht zur Hilfspolizei
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Kein Land der Welt ist heute in der Lage, die neuen
Herausforderungen alleine zu bewältigen. Wir brauchen
dafür ein starkes multilaterales System, wir brauchen die
Vereinten Nationen. Allerdings müssen die Vereinten
Nationen reformiert werden, wenn sie die vor ihnen lie-
genden Aufgaben lösen wollen. Generalsekretär Kofi
Annan hat mit seiner Reforminitiative das richtige Signal
gesetzt. Es geht dabei auch um die Reform des Sicher-
heitsrates der Vereinten Nationen. Dieser wird seiner
Rolle nur gerecht, wenn er repräsentativer zusammenge-
setzt ist als heute. Deshalb beteiligt sich Deutschland ak-
tiv an der Diskussion und setzt sich für eine Reform zur
Erweiterung des Sicherheitsrates ein. Wichtige Staaten
des Südens sollten zukünftig einen ständigen Sitz erhal-
ten. Das Gleiche gilt für die Industrieländer, die zur Wah-
rung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit
wesentlich beitragen. Deutschland ist bereit, als ständi-
ges Mitglied des Sicherheitsrates Verantwortung zu über-
nehmen.

Meine Damen und Herren, die vergangenen zwölf
Monate haben die Bundesregierung auf vielfältige Weise
in ihrer Politik bestätigt. Das ist aber nicht der Grund,
warum wir das alles tun. Wir wollen Deutschland viel-
mehr auf einen zukunftsträchtigen Weg bringen. Vieles,
was wir vorgeschlagen und umgesetzt haben, stieß zu-
nächst auf Ablehnung. Dieser Prozess ist – das weiß ich
sehr wohl – nicht zu Ende. Das muss man in einer aufge-
regten Mediengesellschaft gelegentlich um der Sache
willen in Kauf nehmen. Aber aus Ablehnung wird – des-
sen bin ich mir sicher – mehr und mehr Einsicht in die
Notwendigkeit dieser Reformmaßnahmen werden. Und
aus Einsicht wird dann mehr und mehr Zustimmung
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die breite politische Debatte, die wir mit den Refor-

men angestoßen haben, ist nicht so angelegt, dass die
eine oder andere Partei gleich ihren unmittelbaren Nut-
zen daraus ziehen könnte oder sollte. Ich bin davon über-
zeugt: Diese Debatte um die Notwendigkeit der Verän-
derung wird unserem Land nutzen; denn wenn sich die
Menschen intensiver an der politischen Diskussion be-
teiligen, dann wird es für die Lobbys und Interessen-
gruppen schwerer, ihre Egoismen im Stillen zu verfolgen
und durchzusetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist wahr: In der Vergangenheit ist vieles, was nötig
gewesen wäre, versäumt worden. Niemand sollte sich
von der Verantwortung dafür freisprechen; ich tue das je-
denfalls nicht. Deshalb müssen die Reformen jetzt
durchgeführt werden. Es darf kein Zuwarten geben, weil
alles sehr viel schlimmer würde, wenn wir das täten.
Heute sage ich: Die Bundesregierung wird deshalb die
Notwendigkeit der Maßnahmen immer wieder und im-
mer intensiver erklären und dadurch dafür sorgen, dass
das Wort Reform wieder einen guten Klang bekommt,
nämlich den Klang von Verantwortung, von Vertrauen
und vor allem von Zukunftsorientierung und damit ver-
bundener Zuversicht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
meinen Amtseid als Bundeskanzler dafür geleistet,
meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu wid-
men, Schaden von ihm zu wenden und seinen Nutzen zu
mehren.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Genau!)

Dafür kämpfe ich seit mehr als fünf Jahren und das wird
so weitergehen.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Lang anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1510000200

Ich erteile nun der Vorsitzenden der Fraktion der

CDU/CSU, Kollegin Angela Merkel, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1510000300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bun-

deskanzler, ich habe Ihnen 75 Minuten lang aufmerksam
zugehört


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Mal sehen, ob Sie was gelernt haben! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sehr gut!)


und mich zunehmend gefragt, ob Sie und Ihre Bundesre-
gierung die wirkliche Situation in unserem Lande eigent-
lich kennen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD: Oh!)


Ich glaube, dass das wesentliche Problem dieser Ge-
sellschaft nicht darin besteht, dass sie aufgeteilt ist in
Beharrer und Spalter, in Erneuerer und Veränderer auf
der einen Seite und Ignoranten auf der anderen Seite. Ich
glaube, dass das wesentliche Problem dieser Zeit


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Die Opposition ist!)


die vertikale Spaltung dieser Gesellschaft ist – zwischen
einer Bundesregierung, die abgekapselt irgendwo in ei-
ner irrealen Welt agiert,


(Widerspruch bei der SPD)

und einer Bevölkerung, die dieser Bundesregierung
nichts mehr glaubt, ihr nicht vertraut und sie als nicht
verlässlich ansieht. Das ist das Problem dieses Landes.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben doch nicht zugehört!)


Sie haben in Überschriften geredet. Sie waren schön
und teilweise auch zutreffend.


(Jörg Tauss [SPD]: Sehen Sie!)

Aber das Problem ist: Sie haben sich in diese Überschrif-
ten geflüchtet, ohne dass Sie an der entscheidenden
Stelle den Mut zum konkreten Handeln aufbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wo in Ihrer Regierungserklärung war der Arbeitnehmer,
der Angst hat, weil sein Betrieb ins Ausland verlagert
wird? Wo waren die Menschen in den neuen Bundeslän-
dern,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

die merken, dass die Lebensverhältnisse immer noch
nicht angeglichen sind? Wo war der Steuerzahler, der
seine eigene Steuererklärung nicht versteht?


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bierdeckel!)


Wo war der Selbstständige, der – im letzten Jahr stärker
als in jedem anderen Jahr der Bundesrepublik Deutsch-
land – Sorge haben musste, dass auch er Konkurs anmel-
den muss?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wo war die Krankenschwester, die für ihre Überstunden
einen großen Teil an Abgaben und Steuern abführen
muss?


(Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Keine Ahnung! – Weitere Zurufe von der SPD)


Wo war der Polizist, der bei seiner täglichen Arbeit sei-
nen Kopf hinhält?

Die einzelnen Menschen haben sich in dieser Regie-
rungserklärung nicht wiedergefunden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was war der Sinn, Herr Bundeskanzler?


(Anhaltende Zurufe von der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU], zur SPD gewandt: Seien Sie doch mal ruhig! Wir haben uns eben auch ruhig verhalten!)


– Es ist eben unheimlich schwer, die Wahrheit zu ertra-
gen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1510000400

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte darum,

auch der Oppositionsführerin auf angemessene Weise
zuzuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1510000500

Was, Herr Bundeskanzler, war der Sinn Ihrer Regie-

rungserklärung? Es hätte sein können, dass Sie eine Zwi-
schenbilanz ziehen wollten: Was ist erledigt, was ist un-
erledigt? Dabei wäre herausgekommen, dass noch vieles
von dem, was Sie vor einem Jahr vorgetragen haben, of-
fen ist. Es hätte auch sein können, dass diese Regie-
rungserklärung dazu dient, uns aufzuzeigen, wie es wei-
tergehen soll. Wir haben 45 Minuten gewartet, bis Sie
uns verraten haben, dass Sie nächste Woche etwas dazu
sagen wollen, wie man Existenzgründungen erleichtern
kann. Warum haben Sie das nicht hier und heute getan?
Das wäre doch ein guter Anlass für diese Regierungs-
erklärung gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn aber die Regierungserklärung beides nicht

wollte – weder Zwischenbilanz noch Blick in die Zu-
kunft –, dann hätte man doch wenigstens erwarten kön-
nen, dass Sie das tun, was Sie am Sonntag auf dem SPD-
Parteitag versprochen haben: Sie wollen „sich ehrlich
machen“. Was heißt denn, Sie wollen „sich ehrlich ma-
chen“? Dazu gehörte doch erst einmal, zuzugeben, dass
Sie bis dahin gelogen und betrogen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Neue Stärke für Deutschland – das ist meine feste Über-
zeugung – kann nicht mit alten Schwächen entstehen.
Deshalb muss mit ihnen aufgeräumt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Bundeskanzler, in der Gesellschaft finden Sie
zurzeit keine Unterstützung, weil die Menschen den
Glauben in die positiven Wirkungen Ihrer dauernden
Veränderungen verloren haben und keine Gewissheit
mehr über das, was kommt, kennen. Und in Ihren eige-
nen Reihen mangelt es an Unterstützung, weil Sie selbst
immer wieder – wie auch heute – den parteiinternen Kri-
tikern die Argumente frei Haus liefern. Sie tun immer
wieder so, als sei schon alles geschafft, als seien die we-
sentlichen Veränderungen bereits umgesetzt und als sei
alles paletti. Sie wundern sich, wenn sich die eigenen
Leute auf Ihre Worte verlassen und anschließend – wenn
Sie drei Monate später sagen, dass wieder reformiert
werden müsse – nicht verstehen, was das für eine Welt
ist.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!)

Das ist Ihr Problem. Diesem Teufelskreis konnten Sie
auch heute nicht entrinnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Niemand bei uns zweifelt daran, dass die Agenda

2010 der erste richtige Schritt für notwendige Reformen
in Deutschland war. Aber ich füge hinzu: Regierungs-
politik von Rot-Grün in einer zweiten Legislaturperiode
muss mehr sein, als nur die Fehler aus der ersten zu be-
seitigen. Sonst verdient die Agenda ihren Namen nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

Deshalb sind wir der festen Überzeugung, dass diese
Agenda nicht ausreicht. Es muss weitergehen. Die
Frage ist: Wie kann es weitergehen und warum reicht
sie nicht aus? Sie reicht nicht aus, weil wir seit August
2002 – das ist noch nicht so lange her – 730 000 sozial-
versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in
Deutschland verloren haben. Allein im vergangenen
Jahr gab es 300 000 sozialversicherungspflichtige Be-
schäftigungsverhältnisse weniger. Aus genau diesem
Grunde sinken auch die Krankenkassenbeiträge leider
nicht so schnell, wie wir es erwarteten.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sinken doch jetzt! Lesen Sie mal den Pressespiegel!)


Sie haben keine Antwort auf die Frage, wie es mit der
Pflegeversicherung weitergeht. In Ihrer Regierungser-
klärung fehlten schon die Befunde – Politik beginnt mit
dem Betrachten der Realität – über dieses Land und da-
mit war es von vornherein ausgeschlossen, dass die rich-
tigen Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Worum geht es den Menschen in diesem Land? Der

Erfolg von Politik wird sich daran messen lassen müs-
sen, ob es in einer Situation der Globalisierung gelingt,
für uns in Deutschland Bedingungen zu schaffen, unter
denen wir unseren Wohlstand für die Älteren, die Jünge-
ren und die Familien aufrechterhalten können.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nichts Neues!)


Die Frage, wie wir den Wohlstand aufrechterhalten, was
wir machen müssen, um uns den neuen Bedingungen an-
zupassen, ist die Frage, die uns und jeden in diesem
Hause umtreiben muss.


(Jörg Tauss [SPD]: Wir haben die Antwort!)

Deshalb geht es nicht um Veränderung an sich. Es geht
auch nicht um „Reformitis“ oder darum, irgendjeman-
dem Schmerzen zuzufügen. Es geht nicht um Aktionis-
mus, sondern es geht darum, im Sinne unserer deutschen
Interessen für Deutschland das Beste aus der Globalisie-
rung zu machen. Das ist die Aufgabe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Nun hat der neue SPD-Vorsitzende am Sonntag davon
gesprochen, dass wir alle Suchende sind. Ich glaube
schon, dass niemand das Patentrezept hat. Aber, meine
Damen und Herren, wer wirklich sucht, der findet auch.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Ich verlange von Ihnen gar nicht, dass Sie die Konzepte
der Opposition studieren, ich verlange nicht, dass Sie
sich anschauen – es wäre schön, aber man kann es eben
nicht verlangen –, was wir zur Weiterentwicklung der
sozialen Marktwirtschaft, zu einer neuen sozialen
Marktwirtschaft im Zusammenhang mit der Globalisie-
rung gesagt haben. Ich verlange von Ihnen auch nicht,
dass Sie heute die Seite zwei einer großen deutschen
Boulevardzeitung lesen,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Wäre besser gewesen!)


mit der Sie sich nicht mehr abgeben. Aber was ich von
Ihnen verlange, Herr Bundeskanzler, ist, dass Sie we-
nigstens das lesen, was Ihnen Ihre eigenen Sachverstän-
digen, die Sie bezahlen, ins Stammbuch schreiben,
anstatt die Zeit mit Selbstfindungsprozessen, Selbster-
fahrungsprozessen, Selbstzweifelprozessen und Such-
prozessen zu vergeuden, die längst hätten beendet wer-
den müssen, weil alles schwarz auf weiß in Ihren
eigenen Regierungsunterlagen steht. Das ist das, was
man erwarten kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sagen Sie doch mal konkret! Was denn?)


Für uns, die Union, gibt es keinen Zweifel, dass auch un-
ter den Bedingungen der Globalisierung die soziale
Marktwirtschaft die Antwort auf die Frage ist, wie eine
menschliche Gesellschaft zu erreichen ist.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist jetzt aber konkret!)


Das Wort „soziale Marktwirtschaft“ ist interessanter-
weise in Ihrer gesamten Regierungserklärung nicht vor-
gekommen.


(Jörg Tauss [SPD]: Die neue soziale Marktwirtschaft!)


Wir fühlen uns dem Erbe Ludwig Erhards und Konrad
Adenauers verpflichtet und wir werden es in eine neue
Zeit übertragen, weil dies die menschlichste und erfolg-
reichste Gesellschaft formiert, die wir uns vorstellen
können. Davon sind wir überzeugt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es führt kein Weg daran vorbei, dass sich die Ver-

zweiflung des vergangenen Jahres an der LKW-Maut,
am Dosenpfand, am Transrapid, an Beraterverträgen,
Skandalen um die Bundesagentur für Arbeit und vielem
anderen dieser Art festmacht. Es gibt auch keinen Zwei-
fel, dass wir uns Vorgänge dieser Art – von denen Sie
keinen einzigen erwähnt haben – nicht leisten können,
wenn Deutschland wieder mit seiner Wertarbeit „Made
in Germany“ einen guten Ruf in der Welt bekommen
soll. Wir als Opposition werden dafür sorgen, dass dieser
gute Ruf wiederhergestellt wird – trotz des Gemurkses in
Ihrer Regierungsarbeit, Herr Bundeskanzler. Das ist das
Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Weil die Regierungsarbeit und die Zerstrittenheit der
Opposition – –


(Lachen und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Ja! Sehr gut!)


– Mein Gott, Sie sind aber wirklich leicht zu befriedigen.

(Lachen bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

Weil die Zerstrittenheit der rot-grünen Bundesregierung
und der sie tragenden Fraktionen so elementar ist und
langsam auf die gesamte Regierungsarbeit wirkt, wissen
wir, dass wir als Opposition eine riesige Verantwortung
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen [FDP] – Zuruf von der SPD: Der Sie aber bisher nicht gerecht werden!)


Wir könnten es uns sehr leicht machen. Wir könnten
im Bundesrat vieles blockieren.


(Zuruf von der SPD: Das tun Sie doch auch! – Dr. Rainer Wend [SPD]: Eigenheimzulage!)


Aber wir wissen: Deutschland darf nicht stillstehen.
Deutschland muss vorankommen. Deshalb werden wir
als Opposition nicht nur weiter Verantwortung über-
nehmen, sondern wir werden sogar mehr Verantwortung
übernehmen, um den Stillstand in diesem Land zu been-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben schon im vergangenen Jahr Verantwortung

übernommen. Wir haben uns am Gesundheitskonsens
beteiligt. Im Übrigen gibt es bei uns inzwischen keinen
einzigen Landesverband, der in diesem Punkt Ände-
rungsanträge stellt. Wir stehen zu diesem Gesundheits-
kompromiss, obwohl er von der Gesundheitsministerin
schlampig umgesetzt worden ist und damit eine Vielzahl
von Problemen hervorruft, die nicht notwendig gewesen
wären.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist ja lächerlich! Das ist genau der Weg, den Sie gehen! Das ist nicht die Mitverantwortung!)


Wir haben uns mit den Koch/Steinbrück-Vorschlägen
am Subventionsabbau beteiligt. Wir haben mit Ihnen um
eine vernünftige Zusammenlegung von Arbeitslosen-
und Sozialhilfe gerungen. Das war extrem schwierig.
Wir haben versucht, eine vernünftige Balance von Struk-
turreformen und Steuersenkungen zu erreichen, und wir
haben im Übrigen auch jedem der Auslandseinsätze zu-
gestimmt, Herr Bundeskanzler, und zwar aus Verantwor-
tung für den Frieden in der Welt und aus Überzeugung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich glaube, dass wir deshalb mit etwas Stolz feststel-

len können: Wir sind die konstruktivste Opposition, die
es jemals in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland gegeben hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Wir müssen dem Land helfen, auch in diesem Jahr
und trotz der vielen Wahlen. Deshalb, Herr Bundeskanz-
ler, unterbreite ich Ihnen den zweitbesten Vorschlag für
unser Land: ein konkretes Angebot, das konkreteste An-
gebot, das eine Opposition machen kann. Ich biete Ihnen
an, dass wir, wo immer dies möglich ist, im Sinne einer
nationalen Kraftanstrengung notwendige Strukturrefor-
men anpacken: erstens die Steuerpolitik.

(Jörg Tauss [SPD]: Welche? – Katrin GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt doch wieder?)


Wir haben heute interessanterweise Ihren Vorschlag zur
Eigenheimzulage gehört. Dazu kann man nur feststellen:
Seien Sie uns dankbar, dass wir verhindert haben, dass
die Eigenheimzulage schon im Dezember von Herrn
Eichel verfrühstückt worden ist. Sonst hätten Sie gar
nichts mehr vorzuschlagen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist ja eine lächerliche Umkehrung der Verhältnisse! Nicht zu glauben!)


Herr Bundeskanzler, wir haben eine andere Vorstel-
lung von der Bedeutung des Steuersystems in Deutsch-
land und davon, was das Vertrauen der Menschen in die-
ses System wiederherstellen würde. Deshalb sagen wir:
Wir brauchen einen grundsätzlichen Neuanfang im Steu-
ersystem; wir brauchen einen Abbau der Subventionstat-
bestände im Einkommensteuersystem


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


zugunsten einer wirklichen Entlastung der Bürgerinnen
und Bürger.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warum haben Sie das vor einem Jahr nicht gemacht? Nicht zu fassen!)


Unsere Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch. Die
Vorschläge der FDP dazu liegen auch auf dem Tisch; sie
gehen zum Teil sogar weiter. Wir – Friedrich Merz, ich
denke, auch Herr Solms und Kurt Faltlhauser – sind be-
reit, noch morgen zu beginnen, mit Ihnen darüber zu ver-
handeln. Sie müssen sich dann bekennen, ob Sie wirk-
lich das Vertrauen der Menschen ins Steuersystem
wieder erlangen wollen oder ob Sie das Ganze auf die
lange Bank schieben und alle Subventionstatbestände für
Konsumzwecke verfrühstücken wollen. Das ist nicht un-
ser Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Denken Sie mal an den Stoiber und die Landwirtschaft! Heuchelei ist das!)


Man hat von Ihnen so viel Widersprüchliches gehört:
von den Grünen im Grundsatz ein Ja, von Herrn Eichel
einmal ein Ja und einmal ein Nein.


(Jörg Tauss [SPD]: Faltlhauser!)

Ich kann nur sagen: Machen Sie Gebrauch von Ihrer
Richtlinienkompetenz! Sagen Sie: Jawohl, wir sind be-
reit; wir haben zwar keinen eigenen Gesetzentwurf, aber
wir nehmen objektiv die Anträge der Opposition an und
sind bereit, darüber zu sprechen. Wir wollen das zum
Wohle Deutschlands machen. – Das wäre ein wirklicher
Fortschritt für Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lächerlich!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

Im Übrigen sind wir wie Sie der Meinung, dass Steu-

erstrukturreformen allein nicht ausreichen. Wir haben
immer gesagt: Wir brauchen weitere Reformen.

Herr Bundeskanzler, es ist geradezu rührend, dass Sie
hier erwähnen, die Kommunen setzten die Regelungen
zur Kinderbetreuung nicht um. Dabei trägt die Bundes-
regierung die Schuld daran, dass aufgrund der Hartz-Ge-
setze gar kein Geld für die Kinderbetreuung zur Verfü-
gung steht; deshalb können die Kommunen nichts
machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Was? So ein Blödsinn!)


Sorgen Sie dafür, dass das endlich auf die Reihe kommt!
Ich komme auf den 14. März des vergangenen Jahres

zurück. Wir haben von Ihnen bis heute keinen einzigen
Vorschlag zu einem Optionsmodell beim Kündigungs-
schutz gehört. Ein solches wurde am 14. März 2003 von
Ihnen, Herr Bundeskanzler, persönlich angekündigt.

Zweitens. Wir ringen zurzeit um etwas, was ich als
Kernbereich der Agenda 2010 verstanden habe, nämlich
um die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und So-
zialhilfe.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das blockieren Sie doch! – Gegenruf des Abg. Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ CSU]: Saudummes Geschwätz!)


Ich kann nur sagen: Bei diesem Thema wird sich ent-
scheiden, ob Sie für die Zukunft weiter einen unsinnigen
Zentralisierungsglauben für richtig halten oder ob Sie
den regionalen Einheiten die Möglichkeit eröffnen, das
Wichtige, das Richtige für die Menschen im Lande zu
tun. Das ist die Frage, vor der wir stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Wo leben Sie denn?)


Herr Müntefering, ich sage ganz bewusst: ob Sie die
Möglichkeit eröffnen. Wir haben extra gesagt: Wir wol-
len den Kommunen beide Optionen eröffnen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Was haben wir denn gemeinsam beschlossen?)


Sie haben aber verhindert, dass es im Sinne der Kommu-
nen zu einer Grundgesetzänderung kommt – das hat
wirklich zu geschehen –, damit sie finanzielle Sicherheit
bekommen. Das ist die Wahrheit! Herr Clement hat es
schon zugestanden: Sie persönlich haben es verhindert.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Fragen Sie mal Ihre Bundesländer! – Nicolette Kressl [SPD]: Was ist denn mit Herrn Stoiber?)


Warum spreche ich so ausführlich über die Zusam-
menlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe? Ich spre-
che darüber, weil hier ein Schlüssel zur Beantwortung
der Frage liegt, ob arbeitslose Menschen in diesem
Lande eine Hoffnung haben, ob „Fordern und Fördern“
zur Realität wird oder ob wir langsam die Arme sinken
lassen und sagen: Wir können nichts tun.
Wir brauchen – das ist meine feste Überzeugung – im
Zuge der Globalisierung einen Paradigmenwechsel. Wir
werden Arbeiten haben, die weniger Geld auf dem Ar-
beitsmarkt erbringen, als Menschen für ein menschen-
würdiges Leben brauchen. Wir werden vor der Frage ste-
hen, ob wir diesen Menschen den Zugang zur Arbeit
völlig verweigern oder ob wir aber bereit sind, im unte-
ren Lohnbereich zusätzliche staatliche Transferzahlun-
gen mit erarbeitetem Einkommen zu verbinden.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Was haben wir denn gemeinsam beschlossen?)


Genau dies wissen die Klugen in Ihren Reihen schon
heute. Ein Mann wie Hubertus Schmoldt hat gesagt: Wir
werden das in den unteren Lohnbereichen brauchen,
weil die Globalisierung ansonsten nicht qualifizierte Ar-
beit woandershin abwandern lässt und Menschen in
Deutschland keine Chance mehr haben. Wir werden um
den von uns vorgeschlagenen Weg erbittert kämpfen,
weil er im Sinne der betroffenen Menschen in Deutsch-
land ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir werden noch um einen weiteren Punkt erbittert

ringen. Herr Bundeskanzler, Sie selbst haben in Ihrer
Regierungserklärung vom 14. März 2003 gesagt:

… Art. 9 verpflichtet die Tarifparteien zugleich,
Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft ins-
gesamt zu übernehmen … Ich erwarte also, dass
sich die Tarifparteien entlang dessen, was es bereits
gibt – aber in weit größerem Umfang –, auf betrieb-
liche Bündnisse einigen … Geschieht das nicht,
wird der Gesetzgeber zu handeln haben.

Das ist nicht geschehen.

(Jörg Tauss [SPD]: Das ist geschehen!)


Wer behauptet, dass der letzte Tarifabschluss der IG Me-
tall dies in großem Umfang möglich macht, der lügt sich
in die Tasche.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die gemeinsame Verantwortung der Tarifparteien
– ich bin ganz sicher, dass wir darüber wieder sprechen
werden – wird dadurch, dass weite Teile der Arbeitgeber
und der Arbeitnehmer den Streik als Instrument aus-
schließen, heute zum Teil zu einer Farce, weil man nach
zu hohen Tarifabschlüssen gleich im Hinterkopf hat, Ar-
beitsplätze in das Ausland zu verlagern. Diesen Weg
werden wir nicht mitgehen. Wir werden jedenfalls alles
tun, um das zu verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So etwas von unrealistisch wie nur irgendetwas!)


Wir, der Deutsche Bundestag, sind zuvörderst ver-
pflichtet, den Menschen in Deutschland wieder eine
Chance auf dem Arbeitsmarkt zu geben. Wenn die Mög-
lichkeit, von Tarifverträgen abzuweichen, Arbeitsplätze
in Deutschland sichert, dann ist es unsere nationale Auf-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

gabe, genau dafür die rechtlichen Rahmenbedingungen
zu schaffen. Das ist meine, das ist unsere feste Überzeu-
gung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Drittens. Wir brauchen neben den Reformen des
Steuersystems und des Arbeitsmarktes eine Weiterent-
wicklung der sozialen Sicherungssysteme. Ich habe
heute von Ihnen nichts dazu gehört. Wir haben zwar die
Gesundheitsreform mitgetragen,


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Teil! An die Kartelle wollten Sie nicht ran!)


aber wir wissen, dass das nicht ausreicht. Wir alle waren
uns einig, dass diese Reform unter günstigen Arbeits-
marktbedingungen und bei vernünftigen Strukturrefor-
men in diesem Bereich bis 2006 tragen kann. Wir haben
gesagt: Langfristig muss das Gesundheitswesen radikal
reformiert werden. Nach meiner festen Überzeugung
wird eine Reform des jetzigen Systems mit den gleichen
Belastungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer, wie wir sie jetzt haben, nicht möglich sein.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was heißt das denn? Kopfpauschale, oder was?)


Wir brauchen eine Weichenstellung.

(Franz Müntefering [SPD]: Das machen wir!)


Wenn es nach Ihnen geht, dann soll es die so genannte
Bürgerversicherung sein. Dann müssen Sie uns aber
auch folgende Fragen beantworten – das haben Sie bis-
her nicht getan –: Ist es wahr, dass mit der Einführung ei-
ner Bürgerversicherung die Beitragsbemessungsgrenze
um rund ein Drittel angehoben werden muss? Ist es
wahr, dass durch eine Bürgerversicherung die Beiträge
gerade für die Leistungsträger in unserer Gesellschaft
– die Facharbeiter, die Meister in den Betrieben und die
qualifizierten Angestellten – bis zu 70, 80 Euro erhöht
werden? Ist es wahr, dass mit der Einführung einer Bür-
gerversicherung sämtliche Einkünfte der Arbeitnehmer
aus Mieten, Pachten und Zinsen neben der Einkommen-
steuer auch noch mit einem Krankenkassenbeitrag von
12 oder 13 Prozent belastet werden? Ist es wahr – das
hört man manchmal aus Ihren Reihen –, dass die volle
Belastung der Betriebsrenten ein erster Schritt in Rich-
tung Bürgerversicherung war?

Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn das alles wahr ist,
dann ist das richtig, was Ihnen Ihre Sachverständigen ins
Stammbuch geschrieben haben, nämlich dass durch die
Bürgerversicherung bis zu 1 Million Arbeitsplätze verlo-
ren geht und dass durch eine Umstellung auf eine
Gesundheitsprämie – das sind Ihre, nicht meine Sachver-
ständigen – bis zu 1 Million Arbeitsplätze geschaffen
werden kann. Ich sage Ihnen, wofür wir uns entscheiden
werden: Wir werden uns für Arbeitsplätze in Deutsch-
land und nicht für den Killer von Arbeitsplätzen – eine
falsche Kopplung der Lohnzusatzkosten an die Arbeits-
kosten – entscheiden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Dass das ein Problem ist, Herr Bundeskanzler, haben
Sie uns zumindest im vorigen Jahr noch gesagt. Sie ha-
ben gesagt: „Es kann nicht so bleiben, dass dem Arbeit-
nehmer in Deutschland von einem zusätzlich verdienten
Euro sofort 70 Cent weggenommen werden“ – so ist es
doch zurzeit –


(Peter Dreßen [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)


„und damit kein Anreiz für Arbeit besteht.“

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch eine unsinnige Parole!)

Dieser Sachverhalt muss sich ändern, sonst wächst in
Deutschland nur noch die Schwarzarbeit. Das ist die
Realität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Viertens. Es ist richtig, dass wir Innovationen brau-

chen, dass wir unseren Wohlstand überhaupt nur sichern
können, wenn wir hoch qualifizierte Arbeitsplätze in
Deutschland haben. Es ist auch richtig, dass Männer ge-
nauso wie Frauen an dieser hohen Qualifizierung teilha-
ben müssen und dass sie die Chance haben müssen, im
Land Arbeit zu finden, und nicht gezwungen sein dürfen,
ihre Zukunft außerhalb des Landes zu suchen.

Ich bin schon ein bisschen enttäuscht darüber, dass
nach dem Ende des ersten Vierteljahres dieses Jahres,
nach einer angekündigten Innovationsoffensive, heute,
Ende März, gar nichts dazu gesagt worden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist nichts dazu gesagt worden, wie unsere Hochschu-
len aussehen sollen,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nicht zugehört!)


nichts dazu, ob wir endlich das Verbot von Studienge-
bühren abschaffen, nichts dazu, wie wir einheitliche
Leistungsstandards erreichen wollen, nichts darüber, wie
denn die einzelnen Technologien weiter gefördert wer-
den sollen.

„Wir sind Spitze in der Biotechnologie“ haben Sie
vorhin gesagt, Herr Bundeskanzler. Beschäftigen Sie
sich bitte einmal mit den Chancen der Grünen Gentech-
nologie in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Befassen Sie sich bitte ganz einfach einmal mit der Tat-
sache, dass weltweit 67 Millionen Hektar für Versuche
mit gentechnisch veränderten Organismen im Freiland
zur Verfügung stehen, während es bei uns im Lande nur
500 Hektar sind. Glauben Sie, dass wir in einem
zukunftstechnischen Bereich, in einem Bereich, in dem
mit Sicherheit hohe Renditen erwirtschaftet werden, je-
mals Spitze sein können, wenn wir so an die Sache






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

herangehen? Ich glaube das nicht. Deshalb müssen wir
darüber reden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie haben über den Abbau von Subventionen gespro-
chen. Man muss ja schon ganz gut wegschauen, wenn
man das, was Sie bei der Steinkohle vorhaben, als Abbau
von Subventionen bezeichnen will.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Was ist mit der Landwirtschaft und Stoiber?)


Herr Bundeskanzler, es wäre schön, Sie würden uns
in diesem Hause einmal erklären, wie Sie eigentlich die
Förderung von regenerativen Energien im Zusammen-
hang mit Subventionen und einem effizienten Energie-
standort Deutschland in der Welt sehen. Kein Wort!
Fehlanzeige!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir haben jetzt pro Kilowattstunde einen Aufschlag
von 0,38 Cent für erneuerbare Energien. Ich bin für er-
neuerbare Energien.


(Lachen bei der SPD – Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ja, ja, ja!)


Ich stehe auch zu dem Ziel der Verdoppelung der Nut-
zung der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010. Aber
ich glaube schon, dass wir uns einmal überlegen müssen,
in welchem Maße wir Windenergie fördern wollen und
welchen Aufschlag auf den Strompreis wir uns leisten
können.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ökosteuer!)

Diese Frage kann man nicht wegdrängen. Sie wird da-
rüber entscheiden, ob in Deutschland investiert wird, ja
oder nein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was wollen Sie nun?)


Herr Trittin, ich habe selbst intensiv mit am Kioto-
Protokoll verhandelt.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Tat!)


Ich bin wirklich für Klimaschutz.

(Rainer Fornahl [SPD]: Gewesen!)


Ich bedauere es zutiefst, dass nicht nur die Vereinigten
Staaten von Amerika dieses Protokoll nicht ratifizieren,
sondern dass vor allen Dingen auch Russland dieses Pro-
tokoll nicht ratifiziert. Wenn das so bleibt, wenn es Ihnen
nicht gelingt, Herrn Präsidenten Putin dazu zu bewegen,
das zu ändern – das wäre eine gute europäisch-russische
Maßnahme –, dann – das wissen Sie – kann dieses Proto-
koll nicht in Kraft treten.

Wir haben das Kioto-Protokoll nicht verhandelt, um
in Deutschland anschließend keine energieintensive In-
dustrie mehr zu haben. Das war nicht mein Ziel. Das ist
nicht unser Ziel. Deshalb muss der Handel mit Zertifi-
katen für CO2-Emissionen so angelegt sein, dass erDeutschland nicht in eine schlechtere Wettbewerbsposi-
tion in Europa bringt als andere Länder.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie treffen auf dem Gipfel am Wochenende wieder

alle: Fragen Sie den französischen Präsidenten, wie es
sich mit der Chemieindustrie verhält; fragen Sie den ös-
terreichischen Bundeskanzler, wie die Wachstumsraten
sind. Ich bin dankbar, dass Sie wenigstens einen Minis-
ter in Ihren Reihen haben, der den Verstand in diesem
Bereich noch nicht verloren hat. Wir werden ihn unter-
stützen, wo immer wir können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Rainer Wend [SPD]: Warum loben Sie den Trittin so?)


Es geht bis zum Jahre 2012, Herr Bundeskanzler, um
vieles. Wenn die Wirtschaft erst einmal den Standort
Deutschland verlässt und Investitionen woanders getä-
tigt werden, dann sind eine Vielzahl von Arbeitsplätzen,
die für Deutschland so wichtig sind, nicht mehr zurück-
zuholen. Bei Investitionen geht es um Vertrauen in die-
ses Land. Da ich von Vertrauen spreche, habe ich eine
Bitte. Nachdem Sie wieder nichts über die neuen Bun-
desländer gesagt haben,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die gehören dazu!)


tun Sie auch etwas anderes nicht mehr: Versprechen Sie
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht dau-
ernd Sachen, die Sie nicht einhalten können. Das Ver-
sprechen in Ammendorf haben Sie im Vorfeld einer
Wahl abgegeben.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Ein Ammenmärchen!)


Jeder, der ein wenig Ahnung von Wirtschaft hat, wusste,
dass dieses Versprechen nicht zu halten ist.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Vor allem die blühenden Landschaften von Helmut Kohl! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel Abschaffung des Kündigungsschutzes!)


Ich sage Ihnen: Trinken Sie lieber wieder mit Ihren Cou-
sinen Kaffee. Aber enttäuschen Sie die Menschen nicht,
wenn es um Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern
geht.


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist wirklich Stammtischniveau, Frau Merkel!)


Fünftens, Herr Bundeskanzler, muss und wird die
Union auch mehr Verantwortung in der Europa-, Au-
ßen- und Sicherheitspolitik übernehmen. Ich habe Ihre
Ausführungen an einer Stelle nicht verstanden.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich habe das Gefühl, an fast allen Stellen haben Sie ihn nicht verstanden!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

Ich frage Sie: Wer verhöhnt das spanische Volk? Nennen
Sie Ross und Reiter.


(Jörg Tauss [SPD]: Pflüger!)

Ich weiß, dass jeder außer den Terroristen mit dem spa-
nischen Volk leidet, und ich weiß, dass niemand außer
den Terroristen das spanische Volk verhöhnt. Es ist
meine Grundüberzeugung, dass das für jeden hier in die-
sem Hause gilt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich wünsche mir und Ihnen, dass auf dem Gipfel, der

jetzt am Wochenende ansteht, ein klares gemeinschaftli-
ches europäisches Signal gegeben wird, dass es null To-
leranz gegenüber jeder Form von Terrorismus gibt. Hier
besteht Gemeinsamkeit zwischen den Demokraten in
diesem Lande. Diese muss gewahrt werden, sonst sind
wir den Terroristen gnadenlos ausgeliefert. Das will nie-
mand.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich kann Ihnen sagen: Trotz aller Kontroversen in den

Diskussionen im letzten Jahr fühlen wir uns in unserer
Auffassung bestätigt, dass es zu einem gemeinsamen
Europa überhaupt keine Alternative gibt und dass es
keine Gemeinschaft der Demokraten in dieser Welt gibt,
wenn sich Europa gegen Amerika stellt. Deshalb ist es
richtig, dass auch Sie auf einen vernünftigen Weg zu-
rückgekehrt sind und zu einem freundschaftlichen und
kameradschaftlichen Verhältnis zu den Vereinigten Staa-
ten von Amerika kommen. Ich bin froh darüber.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben noch ein ziemlich altes Redekonzept!)


Ich glaube, dass es gerade in diesen Tagen, in denen
auch Europa zur Zielscheibe des Terrorismus wird, von
historischer Bedeutung ist, dass wir am 1. Mai die Wie-
dervereinigung Europas feiern können. Die Aufnahme
der zehn neuen Mitgliedstaaten stellt mehr dar als nur
eine Aufnahme in den Binnenmarkt. Es ist der Sieg von
Demokratie und Freiheit in ganz Europa. Deshalb sind
die Schwierigkeiten, die wir haben werden, klein gegen
das, was wir gewonnen haben. Freiheit und Demokratie
haben gesiegt und wir alle können stolz darauf sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dann werden wir noch immer Diskussionen führen.

Wir sind froh, dass wir inzwischen Einigkeit haben,

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


dass Zuwanderung von Höchstqualifizierten in unser
Land notwendig ist, dass Zuwanderung aber an anderer
Stelle gesteuert und begrenzt werden muss. Wir sind
froh, dass der Bundesinnenminister gesagt hat, dass man
angesichts der neuen Bedrohung schauen müsse, wo in
unserem Recht Lücken bestehen, um zu verhindern, dass
diejenigen, die verdächtig sind, terroristische Taten zu
begehen, einreisen, bzw. um sie ausweisen zu können.


(Jörg Tauss [SPD]: Die haben noch nie einreisen können!)

Ich sage ausdrücklich: Wir verhandeln diese Fragen
der Zuwanderung in dem Geist, dass wir eine Lösung
herbeiführen wollen, die Zuwanderung steuert und be-
grenzt, die Integration verbessert, den Kindern endlich
zu vernünftigen Sprachkenntnissen verhilft und unser
Land sicherer macht. Wie bei allem, was wir tun, sagen
wir: Wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen, dann
werden wir einem entsprechenden Kompromiss natür-
lich zustimmen.

Herr Bundeskanzler, wir werden auch noch eine
Weile kontrovers über das Thema Bundeswehr und die
Übernahme von Aufgaben im Zusammenhang mit der
inneren Sicherheit diskutieren. Ich finde, wir sollten hier
von Beschimpfungen wie „Hilfspolizei“ Abstand neh-
men. Dazu sind die Fragen zu ernst. Sie selbst haben
dankenswerterweise ein Luftsicherheitsgesetz einge-
bracht. Wir meinen, dass ähnlich komplizierte Fälle im
Zusammenhang mit biologischen und chemischen Waf-
fen auftreten können. Es ist doch unstrittig, dass sich in-
nere und äußere Sicherheit nicht mehr wie zu Zeiten des
Kalten Krieges trennen lassen. Es ist unstrittig, dass man
neue Antworten braucht, wenn man den Veränderungen
gerecht werden will. Wenn wir eine sichere Grundlage
und zu diesem Zweck eine Änderung des Grundgesetzes
fordern, dann ist das nichts anderes als die Antwort auf
eine veränderte Sicherheitslage. Bitte denken Sie da-
rüber nach. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, jede politische Partei wird

angesichts der großen Aufgaben unseres Landes und un-
serer Zeit in erheblichem Maße herausgefordert. Ich
sage gerade in Bezug auf den Terrorismus: Ich habe mir
zum Ende des Kalten Krieges nicht vorstellen können,
dass wir mit solchen Arten von Bedrohung würden fertig
werden müssen. Ich habe nicht gesehen, dass – damit
müssen wir uns auseinander setzen – wir es mit Gegnern
zu tun haben würden, die ihr eigenes Leben nicht achten
und die bereit sind, es preiszugeben, um unsere Art zu
leben zu vernichten.

Da in diesen Tagen manchmal Hannah Arendt zitiert
worden ist, möchte auch ich einen Satz von ihr zitieren.
Sie hat gesagt: Der Sinn von Politik ist Freiheit. Ich
glaube, dass der Sinn von Politik für uns ist, unser frei-
heitliches Leben in einer gerechten Gesellschaft voran-
zutreiben.

Deshalb sollten wir uns im Geiste der Freiheit auf ei-
nige Ziele für Deutschland einigen. Ich finde, unser
Land sollte in Bezug auf wirtschaftliches Wachstum, öf-
fentliche und private Investitionen, eine niedrige offene
und verdeckte Arbeitslosigkeit und die Qualität von Bil-
dung und Ausbildung in zehn Jahren jeweils wieder un-
ter den ersten Drei in Europa sein. Das wäre ein lohnen-
des gemeinsames Ziel, auf das wir hinarbeiten könnten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dann brauchen Sie unseren Zielen doch nur zuzustimmen!)


Wenn wir uns darauf einigen könnten, dann würden
die Menschen wieder sagen: Es lohnt sich, eine individu-
elle Veränderung, auch eine schwierige, anzunehmen.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

Ich bin überzeugt: Wenn wir uns auf diese Ziele einigen
könnten, dann könnten wir es schaffen, dass es am Ende
des Weges niemanden mehr gibt, der arbeitsfähig ist und
trotzdem kein Arbeitsangebot von der Gesellschaft be-
kommt. Dann könnten wir es schaffen, dass niemand in
den Vorruhestand gedrängt wird, obwohl er findet, dass
er der Gesellschaft mit seiner Leistung dienen könnte.
Dann könnten wir es schaffen, dass die Schwarzarbeit in
unserem Lande wenigstens um die Hälfte zurückgeht,
weil es sich wieder lohnt, für gutes Geld zu arbeiten.
Dann könnten wir es schaffen, dass wir, was die Ergeb-
nisse der PISA-Studie angeht, von den Finnen nicht
mehr weit entfernt sind und dass unsere Kinder die glei-
che Chance auf Ausbildung haben. Dann könnten wir es
schaffen, dass wir nicht mehr nach Amerika fahren müs-
sen, um deutsche Wissenschaftler, die dort forschen, zu
treffen, weil sie wieder bei uns ein Zuhause haben.

Ich habe Ihnen heute die zweitbeste Lösung angebo-
ten, die Lösung, die wir als Opposition anbieten können.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt kommt der übliche Satz!)


Wir arbeiten konstruktiv mit. Ich habe Ihnen konkrete
Angebote unterbreitet.

Herr Bundeskanzler, ich will Ihnen die beste Lösung
natürlich auch nicht verschweigen.


(Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Ich ahne es schon! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt kommt es! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt die Kinderüberraschung!)


Sie haben heute gezeigt, dass Sie die Überschriften ken-
nen. Aber Sie haben auch gezeigt, dass Sie die Boden-
haftung, wenn es um die Politik für dieses Land geht,
verloren haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben nicht zugehört!)


Weil Sie die Bodenhaftung verloren haben, können Sie
die Sorgen und Ängste der Menschen nicht wahrneh-
men. Wer diese aber nicht wahrnimmt, kann die Men-
schen nicht auf den notwendigen Weg mitnehmen.


(Zuruf von der SPD: Aber Sie können es!)

Deshalb sage ich: Herr Bundeskanzler, die beste Lö-

sung für unser Land ist Rücktritt und Neuwahlen.

(Lachen bei der SPD)


Dann wären wir in der Lage, das zu tun, was notwendig
ist.

Herzlichen Dank.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1510000600

Ich erteile dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, dem

Kollegen Franz Müntefering, das Wort.

(Beifall bei der SPD – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Der Hilfskanzler ist da!)



Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1510000700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Frau Merkel,

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie war doch gut, nicht wahr?)

Sie sind eine großzügige Vorsitzende. Das konnte ich
während Ihrer Rede feststellen. Ich hätte nämlich nicht
gedacht, dass Sie in diesen wichtigen Tagen Ihrem Re-
denschreiber Urlaub geben.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Anders ist nicht zu erklären, warum Sie heute Morgen
eine solche Rede hier gehalten haben.

Sie haben gesagt, dass wir in dem vergangenen Jahr
manchmal hinter unseren Möglichkeiten geblieben sind
und dass wir hätten besser sein können. Das ist ein schö-
nes Lob; das ist auch nicht falsch. Natürlich können wir
noch besser werden. Es tut mir aber Leid, dass ich dieses
Lob an Sie nicht zurückgeben kann; denn Sie haben Ihr
Niveau heute Morgen gehalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Eher unterschritten!)


Die Art und Weise, wie Sie über Europa und über die
Rolle, die der Bundeskanzler in Europa spielt, gespro-
chen haben, hat deutlich gemacht, dass Sie für eine sol-
che Aufgabe nie und nimmer geeignet wären. Europa
können Sie nicht, Frau Merkel.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist sehr gut, dass man in den Protokollen nachlesen
kann, welche Reden vor einem Jahr gehalten wurden.
Sie haben in Ihrer Rede vom 14. März 2003 angekün-
digt, dass die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik
eine historische Ausrichtung bekommen sollte. Sie ha-
ben in dieser Rede am 14. März des vergangenen Jahres
die militärische Option für den Irak ausdrücklich nicht
ausgeschlossen.

Ich sage hier noch einmal für meine Fraktion und die
deutsche Sozialdemokratie: Wir sind stolz darauf, dass
Gerhard Schröder und die Koalition im letzten Jahr ent-
schieden haben, nicht am Irakkrieg teilzunehmen. Das
war eine historische Leistung von großer Bedeutung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben an diesem 14. März angekündigt, im Jahre
2004 einen Vorschlag zu machen, wie die Systeme der
sozialen Sicherung wetterfest gemacht werden könnten.
Ein solcher Vorschlag ist bisher nicht zu erkennen. Sie
haben heute gewisse Punkte kurz angesprochen, die da-
mit zu tun haben könnten: die Kopfpauschale und kurze
Anmerkungen zur Rente und zur Pflege. Sie haben aber






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering

keine zusammenhängende Feststellung gemacht, wie die
Systeme der sozialen Sicherung aus Ihrer Sicht der
Dinge aussehen sollen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie hätten halt zuhören sollen und nicht herumpöbeln!)


– Ich spreche über das, was Sie im letzten Jahr gesagt
haben. Herr Kauder, man muss sich an dem messen las-
sen, was man selbst angesprochen hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie hätten zuhören sollen!)


Sie haben an diesem 14. März des vergangenen Jahres
auch angesprochen, dass es weitere steuerliche Entlas-
tungen geben solle. Sie haben dann Ende letzten Jahres
– wir haben es noch in guter Erinnerung – sehr unter-
schiedliche Konzepte auf dem Tisch gehabt. Kurz vor
Weihnachten war Herr Merz ganz oben auf Ihrer Hitliste.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ist er auch heute noch! Da war Herr Schröder noch Parteivorsitzender!)


Dazu gab es dann große Beschlüsse. Dann kam aber
Herr Glos dazwischen. Dann hat Herr Kirchhof eine
Rolle gespielt. Inzwischen ist nichts mehr von all dem
übrig geblieben, was Sie angekündigt haben. Gott sei
Dank können Sie solche Spiele nur im Sandkasten ma-
chen. Es ist schon gut für das Land, dass Frau Merkel in
der Opposition ist und wir regieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Schröder regiert! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das sehen die Leute anders!)


Frau Merkel, Sie haben eben die Krankenschwestern
angesprochen. Das war eine besonders schöne und inte-
ressante Stelle.


(Heiterkeit bei der SPD)

Dabei geht es darum, wie viele Steuern Krankenschwes-
tern zahlen müssen. Herr Merz – er geht gerade hinaus –,
aber auch Sie und Herr Stoiber haben, als Sie sich an
dem bewussten Sonntag nicht einigen konnten, im Nach-
hinein festgestellt, dass die Steuerfreiheit für Sonntags-,
Feiertags- und Nachtzuschläge Zug um Zug gestrichen
wird. Dazu sage ich Ihnen – das ist auch der Ehrlichkeit
wegen ein hochinteressanter Punkt –: Man kann an die-
ser Stelle so denken. Nur, Sie sollten hier nicht sagen,
was Sie dazu gesagt haben. Wir in dieser Koalition ste-
hen dafür, dass eine Senkung des Spitzensteuersatzes auf
keinen Fall dadurch ermöglicht wird, dass Kranken-
schwestern und Busfahrer in Zukunft ihre Zuschläge
versteuern müssen, Frau Merkel.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben in dieser Rede am 14. März letzten Jahres
gesagt: Reden ist Silber, Handeln ist Gold. – Herzlichen
Glückwunsch zur Silbermedaille, Frau Merkel!

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für mehr reicht es nicht.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)


Wir haben in diesem Jahr gehandelt. Wir haben eine
Reihe schwieriger und auch komplizierter Gesetze ein-
gebracht und haben sie im Deutschen Bundestag


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ihr Goldverkäufer!)


und nach heftigen Kämpfen manchmal auch im Bundes-
rat beschlossen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Franz im Glück!)

Wir haben die Steuerreform durchgesetzt und haben über
das hinaus, was vorgesehen war, erreicht, dass zum
1. Januar dieses Jahres


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die Arbeitslosigkeit höher ist!)


28 Prozent derer, die einkommensteuerpflichtig sind,
keine Lohnsteuer mehr zahlen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie darüber sprechen, wer wie viel von seinem
Lohn abgezogen bekommt, sollten Sie keine Durch-
schnittsrechnung vornehmen, sondern sich anschauen,
was die Koalition für diejenigen getan hat, die unten
sind: Der Grundfreibetrag wurde von 6 322 auf
7 644 Euro erhöht und der Eingangssteuersatz wurde
von 25,9 auf 15 Prozent gesenkt. Davon haben Sie zwar
oft gesprochen; das haben Sie aber nie durchgesetzt. Das
ist Sache dieser Koalition.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die Petersberg-Beschlüsse haben Sie blockiert! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer hat denn blockiert?)


Während Sie sich in Sachen Steuerreform in die Bü-
sche geschlagen haben und manchmal nicht wissen, ob
Sie uns jetzt links oder rechts überholen sollen, haben
wir praktische Dinge getan. Wenn Sie im Vermittlungs-
ausschuss mitgemacht hätten, hätten wir den im Rah-
men der Steuerreform vorgesehenen Nachlass um
7 Milliarden Euro, der erst im nächsten Jahr wirksam
wird, schon in diesem Jahr umsetzen können.

Wir haben im Hinblick auf den Arbeitsmarkt Ent-
scheidungen getroffen, die für uns nicht immer leicht
waren. Vieles von dem, was wir beschlossen haben, ist
bei uns zum Teil unter Ächzen geschehen und nicht
schnell in leichten Entscheidungen. Wir haben dafür ge-
sorgt, dass auf dem Arbeitsmarkt im Bereich der Zumut-
barkeit und des Kündigungsschutzes größere Flexibili-
tät – wir glauben, letztlich auch zugunsten der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – gegeben ist.
Wir haben etwas getan, Sie haben nur darüber geredet.






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering

Wir haben die Handwerksordnung novelliert, woll-

ten jedoch noch ein Stück weiter gehen. Wir haben es er-
möglicht, dass erfahrene Gesellen in Zukunft eigene Un-
ternehmen, eigene Handwerksbetriebe gründen können.
Diese Entscheidung war richtig. Sie wurde auf Ihrer
Seite übrigens besonders heftig von der FDP bekämpft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau zu-
sammen mit der Deutschen Ausgleichsbank ein speziel-
les Förderprogramm für den Mittelstand eingerichtet.
Wir haben dafür gesorgt, dass es Geld für die Städte und
Gemeinden gibt, um Ganztagsschulen einzuführen. Die-
ses Geld könnte übrigens noch intensiver als bisher von
den Städten und Gemeinden angefordert werden. Das
wäre schon gut.

Wir haben mit unserer Gemeindefinanzreform dafür
gesorgt, dass in diesem Jahr 2,5 Milliarden Euro mehr
bei den Städten und Gemeinden ankommen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wer hat die denn genommen?)


All diese Dinge haben wir vom letzten Jahr bis heute
konkret umgesetzt,


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Versprochen und gebrochen!)


manchmal unter Ächzen, manchmal beklatscht. Dieser
Weg ist nicht einfach, aber richtig und führt uns nach
vorn.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was haben Sie in dieser Zeit gemacht? Frau Merkel,
als Sie eben über das Gesundheitswesen gesprochen und
versucht haben, Frau Schmidt die Verantwortung für das
zu übertragen, was bezüglich der Umsetzung der
Gesundheitsreform passiert ist, habe ich mir Herrn
Seehofer angeschaut und gesehen, wie ihm die Röte
langsam ins Gesicht gestiegen ist, weil er gewusst hat,
dass der Vorwurf an die völlig falsche Adresse gerichtet
war.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Jetzt wird er wieder rot!)


Dieses Gesundheitsmodernisierungsgesetz haben wir
miteinander beschlossen. Es beinhaltet Akzente von uns
und Akzente von Ihnen. Deshalb möchte ich zu zwei
Punkten etwas anmerken. Hinsichtlich des Wettbe-
werbs im Gesundheitswesen sind wir weit hinter dem
zurückgeblieben, was wir uns vorgestellt hatten, nämlich
zu ermöglichen, dass die Krankenversicherungen mit
den Ärzten und Gesundheitseinrichtungen klare und
wettbewerbsfähige Verträge schließen. Es ist wichtig,
das noch einmal anzusprechen, weil Sie die Förderung
des Wettbewerbs immer für sich in Anspruch nehmen.

Manchmal denkt man – und manche von uns sagen
das auch –, Sie seien an dieser Stelle ideologisch und so-
zusagen Ordnungspolitikerin. Das sind Sie überhaupt
nicht. Sie sind einfach ganz kleinkarierte Lobbyistin. Et-
was anderes sind Sie nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Um Gottes willen!)


Wenn es um Wettbewerb geht, Herr Westerwelle und
Frau Merkel, kennen Sie keine Verwandten und keine
Ideologiebücher mehr. Sie kennen dann nur noch dieje-
nigen, die Ihnen nahe sind.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ideologiebücher kennen wir auch sonst nicht!)


Wir haben die Praxisgebühr beschlossen. Frau
Merkel, ich will Ihnen dabei aber gern den Vortritt las-
sen. Es wäre anständig von Ihnen gewesen, hier wenigs-
tens einmal deutlich zu sagen, dass wir dieses Gesetz ge-
meinsam beschlossen haben,


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sie wollten 15 Euro für den Facharzt!)


dass die Idee dieser Praxisgebühr aber von der CDU/
CSU vorgebracht und deren Einführung erzwungen wor-
den ist. Das ist nun einmal schlicht die Wahrheit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ CSU]: Er schwindelt wieder! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie wollten 50 Prozent mehr!)


Wir laufen vor den gemeinsamen Beschlüssen nicht
weg. Es wäre aber schon gut, wenn die Dinge nicht so
verdreht würden, wie Frau Merkel das eben wieder ver-
sucht hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ohne Sie wäre die Positivliste möglich gewesen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auch die haben Sie mit Ihren Mehrheiten im Bundesrat
verhindert.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Darauf sind wir auch stolz!)


Man kann dazu unterschiedlicher Meinung sein. Ich
möchte das hier nur festhalten, damit draußen die richti-
gen Botschaften ankommen.

In Sachen Tarifautonomie haben Sie jüngst noch ein-
mal Ihr wahres Gesicht gezeigt. Ich glaube, an diesem
Punkt geht es in der Gesellschaft in der Tat um eine Wei-
chenstellung.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Alles schön so lassen, wie es ist!)


Es geht darum, ob man will, dass in dieser Gesellschaft
jeder Einzelne für sich kämpft und kämpfen muss, oder
ob es so etwas wie eine Bündelung von Interessen gibt.
Wir glauben, zur Demokratie gehört es dazu, dass man
weiß, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer unterschiedli-
che Interessen haben. Es ist keine Schande, darüber zu






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering

sprechen. Wir glauben aber auch, dass versucht werden
muss, die unterschiedlichen Interessen in einem gemein-
samen System auszugleichen. Wir sind überzeugt, dass
es für die Bundesrepublik Deutschland richtig war, dass
es starke Arbeitnehmer- und Arbeitgebergruppen gege-
ben hat und gibt, die diesen Interessenausgleich zum
Wohle der ganzen Gesellschaft organisieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist nicht immer leicht, damit umzugehen. Aber die
Alternative dazu ist letztendlich, dass in jedem Betrieb
jeder für sich selbst kämpft. Das wäre für die Gesell-
schaft und für die Unternehmen nicht gut.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Schwarz und weiß!)


Ich fasse zusammen: Wir wollen, dass die Tarifauto-
nomie erhalten bleibt. Wir wollen, dass die Betriebe, die
darauf angewiesen sind, von den tariflichen Vereinba-
rungen abzuweichen, dies können, wenn die Tarifpar-
teien dies gemeinsam akzeptieren. Das wird an vielen
Stellen, Hunderte Male gemacht. Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Deutschland sind nicht die fünfte
Kolonne, die dabei ist, die Betriebe kaputtzumachen.
Vielmehr versuchen sie, ihren Betrieb und ihre Arbeits-
plätze und die der Kolleginnen und Kollegen zu sichern.
So ist das.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch wenn man sich mit dem einen oder anderen in
ganz konkreten Punkten zu streiten hat – das tun wir und
das lassen wir nicht aus –: Wir wollen, dass auch in Zu-
kunft die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland ihre Interessen bündeln können, vertreten
können, erstreiten können und, wenn es nötig ist – hof-
fentlich selten –, erstreiken können. Das gehört zur De-
mokratie in diesem Lande. Dazu stehen wir.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nun habe ich etwas zur CDU/CSU, aber noch nichts
zur FDP gesagt. Es soll auch nicht viel sein. Aber ich
habe gestern eine Pressemitteilung gelesen. Da hat Herr
Westerwelle sich gemeldet


(Jörg Tauss [SPD]: Wer ist Westerwelle?)

und gesagt, wenn er die Bundestagswahl 2006 nicht er-
folgreich bestehe, dann wolle er nicht mehr Parteivor-
sitzender sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Eine gute Nachricht!)


Ich habe unserer Kreativgruppe den Auftrag gegeben,
ein Plakat daraus zu machen. Die Idee haben wir schon.
Auf dem Plakat wird stehen: Wählen Sie FDP! Sonst bin
ich beleidigt und bleibe nicht länger Vorsitzender der
FDP. – Das wird im Jahre 2006 auf den Plakaten stehen.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ein Brüller!)

Es wäre ehrlicher, Sie würden heute schon gehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Herr Schröder ist schon weg!)


Denn was Sie da angekündigt haben, weckt eine Hoff-
nung. Sie können davon ausgehen: Wir werden dafür
sorgen, dass Sie im Jahre 2006 Ihren Abschied als Par-
teivorsitzender nehmen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Machen Sie unter Ihren Schuhen zwischen der 1 und der
8 ein Komma! Das ist die Perspektive.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Eine 2 und eine 4 sind auch nicht besser! – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Worüber sich Ihre Leute alles Gedanken machen!)


– Dass Herr Gerhardt darüber lacht, das weiß ich. Das
hat er wahrscheinlich damals schon getan. Das ist nicht
neu.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sehe das an Ihren beiden Gesichtern; es ist sehr auf-
schlussreich, Sie hintereinander sitzen zu sehen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die SPD betreibt das Projekt 18!)


Wir haben in diesem Jahr eine ganze Menge erreicht.
Wir haben den negativen Trend im Lande gestoppt. Die
Arbeitslosigkeit ist nicht weiter angestiegen –


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Wo leben Sie eigentlich?)


entgegen manchem, was Sie draußen immer wieder be-
haupten. Die Beschäftigtenzahlen sind höher als im
Jahre 1998. Das ist so.


(Lachen des Abg. Dietrich Austermann [CDU/ CSU])


Der Rückgang der Arbeitslosigkeit gerade bei den Ju-
gendlichen liegt in der Größenordnung von 50 000. Das
ist eine gute Entwicklung. Das ist ganz entscheidend ein
Verdienst von Wolfgang Clement, der im Bereich des
Arbeitsmarktes ganz besonders für die jungen Menschen
in diesem Land etwas getan hat und auch weiter tut.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Er hat gar nicht mehr damit gerechnet, gelobt zu werden, und ist gegangen!)


Es gab im letzten Jahr 1,6 Millionen Existenzgründun-
gen in Deutschland. Die Preise der teuren Arzneimittel
sind gesunken.

Frau Merkel, in Ihrer Rede vom 14. März letzten Jah-
res haben Sie angekündigt, die Rentenversicherungsbei-
träge würden im Jahre 2003 auf 19,9 Prozent steigen. Sie






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering

sind nicht gestiegen. Sie sind bei 19,5 Prozent geblieben.
Das ist eine Größenordnung von 4 Milliarden Euro.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die Löcher sind bisher nicht gestopft! Ihr sucht noch die Milliarden!)


Sie können sich darauf verlassen, dass wir erreichen,
was wir vorhaben: die Lohnnebenkosten niedrig zu hal-
ten und die Renten- und Krankenversicherungsbeiträge
nicht steigen zu lassen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Nur durch Ökosteuererhöhung!)


Die Botschaften der letzten Stunden besagen, dass ge-
rade in den letzten Tagen wieder einige Krankenkassen
– es sind große dabei – Schritt für Schritt ihre Beiträge
senken.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Dank Seehofer!)

Auch das ist ein Verdienst von Ulla Schmidt. Ich möchte
ihr an dieser Stelle ein Dankeschön sagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1510000800

Herr Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Schauerte?

(Zurufe von der SPD: Nein!)



Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1510000900

Er ist Sauerländer. Das muss ich machen.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1510001000

Herr Müntefering, herzlichen Dank. Sie haben gerade

gesagt, wir hätten im letzten Jahr 1,6 Millionen Exis-
tenzgründungen in Deutschland gehabt. Diese Zahl habe
ich mehrfach gehört. Sie kann nicht richtig sein. Bitte
überlegen Sie einmal mit: Insgesamt gibt es in Deutsch-
land nur 3,3 Millionen Selbstständige. Würde die Zahl,
die Sie genannt haben – 1,6 Millionen –, stimmen, wären
im letzten Jahr etwa 50 Prozent unserer Betriebe neu da-
zugekommen. Das müssen Sie sich einmal vorstellen.
Diese Zahl ist grundfalsch. Überprüfen Sie sie bitte ein-
mal!


Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1510001100

Gut, klären wir die Zahl miteinander. Die 1,6 Millio-

nen beinhalten auch diejenigen, die als Ich-AGs ange-
fangen haben. Diese Personengruppe gehört dazu.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wie viele waren das denn?)


25 Prozent derer, die arbeitslos waren, haben sich selbst-
ständig gemacht. Sie sind hier eingerechnet. Das ist so
richtig und auch gut. Die Menschen, die aus der Arbeits-
losigkeit heraus den Impuls gewonnen haben, sich
– auch wenn es ihnen schwer fiel – selbstständig zu ma-
chen, zählen wir im Bereich der Existenzgründungen
mit. Das ist doch klar.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben uns für das Jahr 2004 vorgenommen, die
Agenda 2010 weiter umzusetzen. Wir wissen, dass wir
hier noch eine Menge wichtiger Aufgaben vor uns ha-
ben, zum Beispiel bei Hartz IV, also bei der Zusammen-
legung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. An der
Stelle Ihrer Rede, als Sie, Frau Merkel, dazu etwas ge-
sagt haben, bin ich darauf gekommen, dass Ihr Reden-
schreiber wohl in Urlaub gewesen sein muss; denn hier
haben Sie ein bisschen viel durcheinander geworfen. Sie
haben davon gesprochen, dass die Kommunen die
Ganztagseinrichtungen gar nicht finanzieren könnten,
weil sie noch kein Geld durch die Zusammenlegung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bekommen hätten.
Frau Merkel, die entsprechenden Einnahmen in Höhe
von 1,5 Milliarden Euro können erst im Jahre 2005 wirk-
sam werden, weil die Zusammenlegung von Arbeitslo-
senhilfe und Sozialhilfe erst im Jahre 2005 stattfindet. –
Jetzt nicken Sie freundlich; eben haben Sie das aber et-
was anders dargestellt. Lesen Sie das einmal nach!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das steht doch im Haushalt für dieses Jahr drin! Hartz IV!)


Was die Art und Weise der Organisation angeht, stelle
ich fest: Wir haben gemeinsam ein Gesetz verabschiedet,
in dem wir davon ausgehen, dass die Arbeitsgemein-
schaften zwischen der Bundesagentur und den Städten
und Gemeinden dieser Aufgabe gerecht werden. Es geht
darum, dass die jetzigen Arbeitslosenhilfeempfänger
und Sozialhilfeempfänger, die arbeitsfähig sind, stärker
an die Vermittlung herangeführt werden. Dafür werden
wir beide Stellen brauchen: die Bundesagentur und die
Städte und Gemeinden. Nur wenn beide vernünftig zu-
sammenarbeiten, kann man dieses Problem überhaupt
lösen.

Der Streit darüber, wie man das vernünftigerweise
machen sollte, ist nicht wirklich ausgetragen worden. In
der Nacht, in der der Vermittlungsausschuss getagt hat,
haben wir darüber lange gesprochen. Wir waren nicht
der Meinung von Herrn Koch, der gesagt hat, das müsse
kommunalisiert werden. Mein Eindruck ist, dass auch
viele von Ihnen das nicht so sehen. Aber ich will Ihnen
etwas sagen, was in der Öffentlichkeit nicht sehr bekannt
ist. Denn als es in der Nacht darum ging, diesen Streit zu
schlichten, um hier zu einer Lösung zu kommen, habe
ich einen Vorschlag gemacht: Sehr geehrter Herr Koch,
führen Sie doch einen Feldversuch durch. In Hessen und
Sachsen wird kommunalisiert; alle übrigen Länder ge-
hen den anderen Weg. Das wäre eine schöne, feine und
saubere Lösung gewesen. Daraufhin hat Herr Koch ge-
sagt: Nein, so sei das alles nicht gemeint gewesen.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Nein! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört!)







(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering

– Frau Merkel, weil ich das gehört habe, will ich Ihnen
sagen: Ich weiß nicht so recht, ob Sie an dieser Stelle
wirklich behilflich sein wollen und ob manche von Ihnen
nur chaotisieren wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unsere dringende Empfehlung an die Städte und Ge-
meinden und an die Kreise ist, sich jetzt mit der Bun-
desagentur zusammenzusetzen und gemeinsam zu ent-
scheiden, wie das zu organisieren sei. Wenn wir beide
der Meinung sind – das sind wir offensichtlich –, dass
man Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen
muss, dann müssen wir dies nach pragmatischen Ge-
sichtspunkten und ohne parteipolitisches Taktieren tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


An dieser Stelle müssen wir eine Lösung finden, die
für das ganze Land angemessen ist. Dazu gehört, dass es
in den nächsten Tagen und Wochen vor Ort eine inten-
sive Debatte über die Frage geben muss, wie die Arbeits-
gemeinschaften zwischen der Bundesagentur und den
Städten und Gemeinden organisiert werden können. Wir
sind auf beide angewiesen. Beide sollen ihren gerechten
Anteil an der Arbeit, aber auch an den Möglichkeiten ha-
ben, hier mitzubestimmen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1510001200

Herr Müntefering, der Kollege Rauen würde Ihnen

gerne eine Zwischenfrage stellen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt reicht es! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist der auch Sauerländer! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja, er kennt das Sauerland!)



Peter Rauen (CDU):
Rede ID: ID1510001300

Herr Müntefering, als neuer SPD-Vorsitzender mögen

Sie sich ja über vieles hinwegsetzen können. Aber hier
im Hause sitzen etliche Kolleginnen und Kollegen, die
viele Jahre im Vermittlungsausschuss tätig gewesen
sind. Es war immer völlig selbstverständlich, dass über
Ergebnisse und Gespräche im Rahmen des Vermittlungs-
ausschusses nicht in der Öffentlichkeit berichtet wurde.
Ich bitte auch Sie, sich zukünftig daran zu halten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1510001400

Herr Rauen, ich nehme die Mahnung gern auf. Meine

Erwartung an Sie, an Herrn Koch und an Frau Merkel
und alle anderen, die an dem Verfahren beteiligt sind, ist
allerdings, dass Sie sich fair verhalten; das ist meine
herzliche Bitte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn wir fair miteinander umgehen, muss man nicht
über die Dinge sprechen, die hinter verschlossenen Tü-
ren besprochen wurden. Es ist nicht in Ordnung, nach
draußen so zu tun, als ob diese Koalition uneinsichtig
wäre, als ob wir nicht wollten, dass das Optionsmodell
in fairer Weise zustande kommt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist meine Replik auf das, was Frau Merkel vorhin
gesagt hat; sprechen Sie einmal mit ihr darüber. Herr
Rauen, ich könnte auch sagen: Es ist unverantwortlich,
in diesem Stadium der Verhandlungen so zu tun, als ob
Parteitaktik bei Ihnen oder bei uns das dominierende
Motiv wäre. Wir wollen vernünftige Lösungen, im Inte-
resse der Arbeitslosen und im Interesse der Agentur so-
wie der Städte und Gemeinden. Miteinander können wir
das schaffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Hören Sie auf, gegen die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses zu verstoßen!)


Wir werden in diesem Jahr eine große, energische An-
strengung unternehmen, um dafür zu sorgen, dass kein
junger Mann und keine junge Frau von der Schulbank
in die Arbeitslosigkeit übergeht.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der braucht Ausschussverbot!)


Dazu gehört das JUMP- und das JUMP-Plus-Programm
von Wolfgang Clement, dazu gehört aber auch der Be-
reich der Ausbildung und dazu gehört auch, dass mög-
lichst viele junge Leute in die Universitäten gehen. Ich
sage Ihnen und all denen, die uns noch nicht zustimmen:
Wenn es diese Gesellschaft nicht schafft, einen Weg zu
finden, zu verhindern, dass die jungen Menschen nach
der Schule arbeitslos werden, dann versündigen wir uns
an dieser jungen Generation und lassen zu, dass ein So-
ckel von Sozialhilfekarrieren entsteht, der für dieses
Land und für die Kinder, die daraus erwachsen, verhee-
rend ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen erreichen, dass die jungen Menschen, die die
Schule beendet haben, manche erfolgreich, manche nicht
– ich sage es einmal in meiner Sprache –, arbeiten ler-
nen, sich qualifizieren können, eine Ausbildung bekom-
men und in ihrem Leben die Möglichkeiten, die sie ha-
ben, nutzen können. Das Schlimmste, was man tun kann,
ist, einem jungen Menschen, der mit 16 oder 18 Jahren
aus der Schule kommt, zu sagen: Du hast dich ange-
strengt, es hat nicht gereicht. Setz dich hin, krieg Stütze,
halt den Mund, stör uns nicht. Das kann nicht die Politik
in diesem Lande sein. Deshalb muss an dieser Stelle et-
was passieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Merkel, weil Sie mir manchmal so leicht mit Be-
ton begegnen: Denken Sie einfach einmal darüber nach,
was Sie dazu beitragen können – auch im Bundesrat –,






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering

an dieser Stelle in Deutschland wirklich etwas zu errei-
chen. Dazu gehört mehr als nur die Frage der Ausbil-
dung; das weiß ich. Wir werden das Gesamtthema dieses
Jahr auf der Tagesordnung behalten.

Im Verlauf des letzten Jahres wurden 500 000 junge
Menschen arbeitslos. Die Fluktuation war hoch, es gab
aber auch einen großen Sockel von arbeitslosen jungen
Menschen ohne Ausbildung. Wer in dieser Gesellschaft
jedoch keine Ausbildung hat, dessen Chancen, ins Er-
werbsleben hineinzuwachsen, werden immer kleiner;
darüber müssen wir hier doch nicht streiten. Deshalb
sage ich: Wir müssen alles dafür tun, dass auf freiwilli-
gem Weg, durch Tarifverhandlungen und Tarifverträge
und unter Einsatz der Kammern erreicht wird, dass alle
jungen Menschen diese Chance bekommen. Die Poten-
ziale dazu sind in dieser Gesellschaft vorhanden. Im
letzten Jahr wurden 560 000 neue Ausbildungsverträge
abgeschlossen. Zum Schluss blieb eine Lücke von ge-
rade einmal 20 000. Wer 560 000 hinbekommt, kann
auch noch diese 20 000 hinbekommen. Mehr wollen wir
nicht, aber dass das zustande kommt, wollen wir.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden in diesem Jahr eine Debatte über die
Pflege führen. Heute lasse ich dieses Thema weg, aber
wir werden intensiv darüber zu debattieren haben. Ich
glaube, dass da ein gesellschaftliches Problem besteht,
an dem sich deutlich machen lässt, dass nicht alle Pro-
bleme, die diese Gesellschaft hat, mal eben durch ein
Bundesgesetz von hier aus erledigt werden können.
Stattdessen müssen wir die Gesellschaft dafür gewinnen,
„Eigenverantwortung“ nicht als „Rückzug auf sich
selbst“ zu verstehen, sondern als die Aufgabe, in eigener
Initiative oder in Verbänden oder Organisationen selber
Aufgaben zu übernehmen, zum Beispiel im Bereich der
Pflege. Diese Gesellschaft muss davon wegkommen, zu
glauben, alle Probleme ließen sich durch ein Bundesge-
setz lösen. Deshalb wird das Thema Pflege nicht nur ge-
setzliche Initiative erfordern, sondern auch eine inten-
sive gesellschaftliche Debatte.

Ähnlich ist es mit der Bürgerversicherung. Sie ha-
ben gefragt, ob das denn wahr sei, Frau Merkel. Sie kön-
nen den Stand der Dinge nicht so genau kennen, deshalb
will ich Ihnen kurz sagen: Wir haben beschlossen, dass
wir den Weg hin zur Bürgerversicherung gehen. Das Ziel
sind Vertiefung und Verbreiterung des ganzen Systems
unter den Gesichtspunkten Gerechtigkeit für den Einzel-
nen und Leistungsfähigkeit des Einzelnen. Das ist eine
gute Alternative zum Weg hin zur Kopfpauschale, den
Sie einzuschlagen versuchen. Wir sind bei diesem Punkt
keineswegs schon fertig. Wir werden unseren Weg präzi-
sieren. Das wird noch einige Zeit dauern. In diesem Jahr
wird es in der Bundesrepublik Deutschland ganz sicher
kein Gesetz mehr dazu geben.

Der Gedanke, der dahinter steht, dass nämlich der
Kernbereich der Systeme der sozialen Sicherung bei uns
solidarisch finanziert bleiben soll, ist richtig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Das müssen Sie inzwischen doch dazugelernt haben. All
die jungen, schicken Millionäre, die es vor einigen Jah-
ren gab und die uns stolz erzählt haben, dass sie ihre
komplette Alterssicherung über die Aktienmärkte abge-
sichert hätten, wurden eines Besseren belehrt. Zum gu-
ten Schluss muss aus den sozialen Systemen klassischer
Art, der Finanzierung aus der Steuerkasse und der Ei-
genverantwortung des Einzelnen, indem er zuzahlt, ein
vernünftiger Mix entstehen. Bei diesem Ziel, das wir
umzusetzen versuchen, müssen wir immer im Blick be-
halten, dass der Kern der Sozialversicherung solidarisch
finanziert bleiben muss. Man kann es drehen, wie man
will, das Beste ist: Menschen für Menschen, Generation
für Generation. Eine bessere Lösung bei der Alterssiche-
rung gibt es nicht. Das muss im Kern so erhalten blei-
ben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden auch das Thema Innovation nicht ver-
gessen. Keine Sorge, Sie werden bald wieder damit kon-
frontiert sein. Schließlich wissen wir genau, dass die Zu-
kunftsfähigkeit unseres Landes entscheidend davon
abhängt, wie in den Bereichen Qualifizierung, For-
schung und Technologie in diesem Lande weiter verfah-
ren wird. Bei den Investitionen in diesem Bereich hat es
in den 90er-Jahren eine Stagnation, zum Teil sogar einen
Abbruch gegeben. Daran waren Sie beteiligt. Sie waren
damals an der Regierung. Wir sind klüger geworden.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Was?)

Wir haben, seitdem Edelgard Bulmahn dem Bildungsmi-
nisterium vorsteht, dessen Etat um etwa 30 Prozent er-
höht. Diese Investitionsmittel fehlen uns natürlich an an-
derer Stelle. Trotzdem sagen wir den Rentnerinnen und
Rentnern und der Gesellschaft insgesamt: Was wir heute
in die Forschung, in die Technologie und in die Ent-
wicklung neuer Arbeitsplätze und neuer Produkte in-
vestieren, das ist die Investition in die Zukunftsfähigkeit
des Landes überhaupt. Man kann nichts Besseres tun, als
in diesen Bereich zu investieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden diesen Weg weitergehen. Das wird hart
werden, weil das bedeutet, mehr Geld zur Verfügung zu
stellen, um im Jahr 2010 auf 3 Prozent des Bruttoin-
landsproduktes zu kommen. Aber ganz Europa muss
diesen Weg gehen und die deutsche Wirtschaft ebenso.
Das kann der Bund nicht alleine schaffen, das müssen
auch die Länder und die Gemeinden als große Aufgabe
verstehen. Wir werden zu diesem Thema an dieser Stelle
also weiter über das diskutieren, was in den nächsten
Jahren und vielleicht noch in diesem Jahr erforderlich
und nötig ist.

Meine Damen und Herren, wir werden bei dem, was
wir in diesem Jahr und in den nächsten Jahren zu tun ha-
ben, darauf zu achten haben, dass wir das Wünschbare
im Blick behalten und es nicht vergessen, dass wir aber
gleichzeitig das Notwendige erkennen und das Mach-
bare tun. Das sind die Zielkonflikte, die Spannungsver-
hältnisse, mit denen wir es zu tun haben. Wir wissen,






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering

dass man sich vieles anders wünschen würde und dass
vieles über das hinausgehen müsste, was wir heute tun
oder tun können. Wir wissen, dass bestimmte Dinge ge-
tan werden müssen. Wir machen das, was heute notwen-
dig ist, damit wir auf einem guten Weg in die Zukunft
gehen können. Das wird anstrengend bleiben; das ist
überhaupt keine Frage. Aber wir haben im Jahr 2003 ein
gutes Stück auf dem richtigen Wege zurückgelegt und
haben etwas von dem weggeräumt, was in den 90er-Jah-
ren in Deutschland liegen geblieben ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist wahr, dass wir spät dran sind. In den vergange-
nen Wochen und Monaten haben ich und andere oft da-
rüber gesprochen, wie es war und dass in der Vergangen-
heit tatsächlich etwas liegen geblieben ist. Ich finde, es
reicht nun, den Blick zurückzuwerfen; jetzt muss der
Blick nach vorne gerichtet werden. Wir müssen das tun,
was in diesem Jahr und was für die Zukunft erforderlich
ist. Wir dürfen uns nicht mit den Dingen aufhalten, die
weit hinter uns liegen, sondern müssen mutig und ent-
schlossen die Dinge in Angriff nehmen, die der Bundes-
kanzler heute in seiner Rede beschrieben hat und die in
diesem Jahr auf der Agenda stehen.

Im vergangenen Jahr habe ich in meiner Rede zur
Agenda gesagt: Herr Bundeskanzler, Sie haben für die
Agenda 2010 die volle Unterstützung der SPD-Bundes-
tagsfraktion. Herr Bundeskanzler, das wird auch so blei-
ben.


(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Die Sensation zum Schluss!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1510001500

Das Wort hat nun Dr. Guido Westerwelle für die FDP-

Fraktion.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1510001600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Kollege Müntefering, Sie haben am Schluss
Ihrer Rede davon gesprochen, Sie hätten vieles von dem,
was liegen geblieben sei, abgeräumt und erledigt. Der
Herr Bundeskanzler hat sich in seiner Regierungserklä-
rung gerühmt, er habe die Steuersätze in seiner Regie-
rungszeit gesenkt. Für uns von der Opposition möchte
ich dazu sagen: Wenn Sie uns nicht blockiert hätten und
wenn Sie nach der Wahl nicht alles aufgehoben hätten,
dann hätten wir seit sieben Jahren niedrigere Steuer-
sätze, einen demographischen Faktor bei der Rente und
ein modernes Arbeitsrecht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Kollege Müntefering, ansonsten kann man Ihnen

zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers gratu-
lieren. Das ist der Sieg der Müntefering-SPD. Diejeni-
gen, die geschrieben haben, es werde nach dem Parteitag
der Sozialdemokraten keinen Wechsel in der Politik ge-
ben, sind heute eines Besseres belehrt worden. Das Ein-
zige, was von der Agenda 2010 in Wahrheit noch übrig
gelassen wurde, ist der Name selbst.

Sie warnen vor einem angeblich drohenden ungezü-
gelten Marktliberalismus. Wer bei einer Staatsquote
von 57 Prozent den ungezügelten Marktliberalismus
kommen sieht, der hat die soziale Marktwirtschaft nicht
verstanden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


– Ich weiß, dass Sie den Unterschied zwischen dem
Brutto- und dem Nettoinlandsprodukt nicht kennen; das
ist mir schon klar.


(Lachen bei der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme

zu den entscheidenden Punkten, die herausgearbeitet
worden sind. Vor einem Jahr hat der Bundeskanzler in
seiner Regierungserklärung darüber gesprochen, dass
das Tarifvertragsrecht verändert werden müsse, und er
hat die Ausbildungsplatzabgabe abgelehnt. Ein Jahr spä-
ter kündigen Sie die Ausbildungsplatzabgabe an und
verabschieden sich vom Ziel der Liberalisierung des Ta-
rifvertragsrechts. Das ist eine völlige Veränderung Ihrer
bisherigen Politik,


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


ein Agenda-Wechsel und nicht die Fortsetzung der
Agenda 2010. Sie haben Ihrer Regierung neue Vorzei-
chen gegeben und sich wieder einmal neu erfunden. Da-
mit haben Sie sich zwar in die Seele der Sozialdemokra-
tie hineingeredet, von Deutschland und den Problemen
haben Sie sich aber erneut verabschiedet.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie haben die Agenda 2010 zu Grabe getragen und die
alte SPD ausgegraben.

Reden wir einmal über die Ausbildungsplatzabgabe.
Die Wahrheit ist bekanntermaßen konkret. Die von Ih-
nen angekündigte Ausbildungsplatzabgabe wird ja nicht
nur in Ihren eigenen Reihen als falsch angesehen. Ich bin
gespannt, was von Herrn Clement übrig bleibt, wenn das
alte Lieblingsprojekt der Müntefering-SPD, das von Ih-
nen auf Parteitagen immer wieder vorgeschlagen wird,
jetzt kommt.

Durch die Ausbildungsplatzabgabe wird nicht ein ein-
ziger Ausbildungsplatz in Deutschland geschaffen. Sie
wird nur dazu führen, dass noch mehr mittelständische
Unternehmen in die Pleite geraten. Genau das müssen
wir in Deutschland verhindern. Im letzten Jahr gab es
über 40 000 Pleiten, insbesondere im Mittelstand. Sie
leiden unter einem argen Realitätsverlust, da Sie das ver-
schweigen. Wer Pleite geht, kann nicht ausbilden. Stär-
ken Sie gerade die Unternehmen im Mittelstand, dann
wird auch mehr ausgebildet! Ein plumper Appell an Pa-
triotismus reicht für eine Regierung, die handeln sollte,
nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle

Es ist schon interessant, wie diese Debatte seit dem

Parteitag der Sozialdemokraten intoniert worden ist. Die
Ausbildungsplatzabgabe wird kommen; das ist eine
Frage der Zeit. Sie werden sich bemühen, den entspre-
chenden Text geschickt zu formulieren. Das einzige Er-
gebnis wird sein, dass weniger Ausbildungsplätze ent-
stehen, anstatt mehr Ausbildungsplätze zu schaffen.

Dieses Land wird nicht neue Ausbildungs- und Ar-
beitsplätze dadurch bekommen, dass neue Steuern und
Abgaben erfunden werden. Dieses Land bekommt nur
dann neue Ausbildungs- und Arbeitsplätze, wenn wir
das Steuerrecht modernisieren und vereinfachen und die
Steuern- und Abgabenlast in Deutschland insgesamt sen-
ken.


(Beifall bei der FDP)

Davon ist bei Ihnen überhaupt nicht mehr die Rede. Ganz
im Gegenteil: Das Thema Steuersenkung haben Sie
heute ad acta gelegt. Sie haben uns heute mitgeteilt, Sie
sehen keine Spielräume für Steuersenkungen. Ganz im
Gegenteil: Sie haben sogar Steuererhöhungen angekün-
digt. Wenn Sie nämlich die Eigenheimzulage streichen
wollen, um damit Ihre Haushaltslöcher zu stopfen und
die notwendigen Ausgaben in der Bildung zu finanzie-
ren, weil Sie an anderer Stelle nicht die Kraft zum Sparen
haben, dann ist das nichts anderes als eine faktische Steu-
ererhöhung. Wer die steuerlichen Ausnahmetatbestände
beseitigen will, der muss in niedrigere Steuersätze inves-
tieren und darf damit nicht die Haushaltslöcher von
Herrn Eichel stopfen. Das kann die Bürgerinnen und
Bürger teuer zu stehen kommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Auch das ist eine bemerkenswerte und völlig neue

Gegenüberstellung. Die Eigenheimzulage wird jetzt als
Gegenrechnungsposten für Bildung und Wissenschaft
eingesetzt. Sie tun so, als ob wir uns in Deutschland zwi-
schen niedrigeren Steuern und einem besseren Bildungs-
system entscheiden müssten. Dieses Land braucht bei-
des: niedrigere Steuern und ein besseres Bildungssystem.

Was Deutschland aber nicht braucht, sind Ihre Stein-
kohlesubventionen in Höhe von 16 Milliarden Euro.
Sie sind erst vor kurzem von Ihnen angekündigt und zu-
gesagt worden, Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Subventionen für die Steinkohle haben einen ganz
einfachen Grund. In Nordrhein-Westfalen, wo Herr
Müntefering herkommt, gibt es bald Kommunalwahlen.
Die Subventionen sind nichts anderes als der Versuch,
sich bei den Funktionären Ihrer eigenen Anhängerschaft
im Ruhrgebiet Ruhe erkaufen zu wollen. Das ist höchst
unvernünftig. Das ist eine Form von politischer Korrup-
tion, was hier stattfindet. Das Gefährliche dabei ist, dass
Sie hier von Egoisten und Lobbyisten reden, Sie selber
aber in Wahrheit der verlängerte Arm der Steinkohle-
funktionäre und der Gewerkschaften in dieser Regierung
zulasten des Ruhrgebiets geworden sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Unsinn!)

Reden wir bitte einmal über die bemerkenswerte Dis-
kussion, die schlaglichtartig den neuen Kurs der SPD
klarmacht: die Patriotismusdebatte. Diese wurde übri-
gens nur noch durch Ihren neuen Generalsekretär ge-
toppt, Herr Kollege Müntefering. Er hat nicht nur wie
der Bundeskanzler von mangelndem Patriotismus bei
der deutschen Unternehmerschaft gesprochen, sondern
er hat das Wort von den Vaterlandslosen in einer Presse-
erklärung benutzt. Ausgerechnet Sozialdemokraten spre-
chen von vaterlandslos!


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das kennt er!)


Es ist bemerkenswert, dass Sie solche Begriffe in den
Mund nehmen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was heißt denn hier „ausgerechnet“?)


– Das kann ich Ihnen sagen. Vaterlandslos und unpatrio-
tisch sind nicht Unternehmen, die sich vor der Pleite
schützen wollen. Vaterlandslos und unpatriotisch ist Ihre
Politik, die Unternehmen ins Ausland treibt. Das ist die
eigentliche Lage in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war eine üble Entgleisung!)


Herr Müntefering, sparen Sie sich Ihre Zahlenspiele
mit 1, 8 und 18. Bei der Allensbach-Umfrage in der letz-
ten Woche lag die FDP bei 8 Prozent und die SPD bei
24 Prozent. Ich gebe zu: Sie sind im Augenblick näher
an den 18 Prozent als wir; das ist leider wahr.

Ich will an dieser Stelle auf einen Punkt zu sprechen
kommen, über den Sie nicht reden wollen: die Lage in
Deutschland. Ich lese Ihnen aus einem Brief vor, der mir
in dieser Woche von einem deutschen Unternehmer
übergeben worden ist. Er wurde von Gersau in der
Schweiz angeschrieben. Dort heißt es offen und völlig
unverbrämt:

Hohe Steuerbelastungen führen in Deutschland
dazu, dass der Erblasser nur sehr beschränkt über
seinen Nachlass verfügen kann. Teilweise wird da-
durch die geordnete Übergabe des Lebenswerks an
die Nachkommenschaft erschwert oder gar vereitelt.
Das Kanton Schwyz kennt keine Erbschaftsteuern.
Wir sind deshalb in der Lage, Ihnen Lösungen anzu-
bieten, bei denen der Nachlass ungeschmälert den
Nachkommen übergeben werden kann. Wir sind
gerne bereit, Ihren Mandanten die Möglichkeit und
Vorteile eines allfälligen Umzuges nach Gersau auf-
zuzeigen.

Damit werben unsere Nachbarländer. Sie aber verab-
schieden sich vom Ziel der Steuersenkung und kündigen
innerhalb von 14 Tagen auch noch die Ausbildungs-
platzabgabe, die Erhöhung der Erbschaftsteuer und die
Wiedereinführung der Vermögensteuer an. Das ist der
falsche Weg für dieses Land.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deswegen hatten Sie völlig Recht, als Sie auf Ihrem

Parteitag gesagt haben, das sei ein Kulturkampf






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle

zwischen Opposition und Regierung. Es ist ein Kultur-
kampf, das ist wahr. Es ist der Kampf der rot-grünen
Neidgesellschaft gegen eine Anerkennungskultur, die
Leistung befördert, belohnt und nicht bestraft. Wir sitzen
alle in einem Boot, aber einige müssen auch rudern.
Sonst kann man niemals soziale Gerechtigkeit in
Deutschland finanzieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht sollten Sie mit der Leistungskultur in der eigenen Partei mal anfangen!)


Deswegen will ich Ihnen sagen: Erbschaftsteuer, Ver-
mögensteuer, Mehrwertsteuer – Frau Simonis, immerhin
eine Ministerpräsidentin, hat angekündigt, dass die
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht werden
sollte –, all das sind Vorschläge, die Sie auf Ihre neue
Agenda setzen. Sie haben sich nach einem Jahr
Agenda 2010 von der Politik der Erneuerung der sozia-
len Marktwirtschaft verabschiedet. Sie sind auf dem
Weg zurück zur alten SPD. Das mag Ihnen das Leben
mit den Sozialdemokraten leichter machen, das Leben
für die Deutschen in Deutschland wird schwerer. Das ist
das traurige Ergebnis dieser heutigen Debatte.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1510001700

Das Wort hat nun die Kollegin Katrin Göring-

Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, das, was Sie uns gerade vorgetragen haben,
war die Rede vom letzten Jahr, vom vorletzten Jahr und
vom vorvorletzten Jahr. Es gibt nur einen Unterschied:
Sie haben nicht mehr diese Schuhe mit der Zahl 18 an,
von denen Herr Müntefering geredet hat, sondern Sie
laufen jetzt lieber in Stoppersocken, damit es ein biss-
chen weicher ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wir können uns mal über Ihre privaten Kleidungsgewohnheiten unterhalten!)


Herr Westerwelle, wenn Sie hier über Lobbypolitik
reden, dann möchte ich daran erinnern, warum Sie beim
Gesundheitskonsens ausgestiegen sind,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Barfußmedizin!)

den die Union und die anderen Parteien mit allen Abstri-
chen mitgetragen haben. Sie sind ausgestiegen, weil es
plötzlich für Ihre Lobbypolitik zugunsten der Pharmain-
dustrie eng wurde. Das ist die Politik, die Sie betreiben:
ein bisschen Klientel-, ein bisschen Lobbypolitik, aber
keine Konzepte, sondern nur die alten Reden vom letz-
ten und vom vorletzten Jahr.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie machen Lobbyismus für die Ökosozialisten!)


Damit werden Sie nicht durchkommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Schauen wir uns kurz das an, was die Union heute ge-
sagt hat. Ich habe der sehr detaillierten Rede von Frau
Merkel genau zugehört und ein bisschen ins Publikum
geschaut.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wie haben Sie denn das gemacht? – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Haben Sie hinten Augen? Der Kanzler ist doch kein Publikum!)


Es gab Leute, die geklatscht haben, es gab Leute, die mit
innerer Beteiligung geklatscht haben, und es gab Leute,
die gar nicht geklatscht haben. Da saß Herr Schäuble,
der immer dann, wenn es Beifall geben sollte, mit sei-
nem Taschentuch hantierte,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das geht Sie nichts an!)


und da saß Herr Merz, der sich immer dann, wenn es
Beifall geben sollte, umschaute, ob das jetzt wirklich
sein muss. Das ist die Situation in der Union. Sie haben
versucht, uns innere Zerstrittenheit vorzuwerfen. Aber
da hatten Sie einen freudschen Versprecher und sprachen
von der Zerstrittenheit innerhalb der Opposition. Das ist
richtig. Merkel, Merz, Stoiber, Koch, Schäuble –


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Alles gute Leute!)


alle gegeneinander.
Es geht in der Union schon lange nicht mehr um Kon-

zepte. Das haben Sie heute wieder bewiesen. Es geht in
der Union eigentlich nur noch darum, was man sagen
kann, damit man jemand anderen aus dem eigenen La-
den besonders hart trifft. Das ist die Realität. Wir küm-
mern uns um Deutschland.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Reden Sie einmal von Herrn Ströbele!)


Wir kümmern uns um die Konzepte und darum, wie es
vorangeht. Sie kümmern sich um sich selbst. Ihr Laden
ist nichts anderes als eine Was-nützt-Merkel-Partei. Da-
mit müssen wir uns auseinander setzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Frau Merkel, ich will an eines erinnern. Ich habe am
letzten Sonntag Ihr Interview in der „Welt am Sonntag“
gelesen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie waren auch schon mal besser! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Stimmt nicht! Sie war immer genauso schlecht!)


In dem Interview wurden Sie gefragt, Frau Merkel: War
das Ja zum Irakkrieg eigentlich richtig?


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sie liegen hier nicht auf der Couch, sondern Sie sind im Deutschen Bundestag! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wir wollen Metzger hören!)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Göring-Eckardt

Frau Merkel hat darauf geantwortet: Wir wollen nicht
mehr darüber reden, sondern lieber nach vorne blicken.
Das ist alles Vergangenheit.

Frau Merkel, ich bin überzeugt davon,

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Haben Sie Ihre Rede vergessen?)

dass die Menschen in diesem Land ein Recht darauf ha-
ben, zu erfahren, ob Sie immer noch derselben Meinung
sind wie damals. Ich bin überzeugt davon, dass die Men-
schen ein Recht darauf haben, zu erfahren, was gewesen
wäre und was heute wäre, wenn Sie damals regiert hät-
ten. Dann hätten Hunderte von deutschen Soldaten im
Irak in einem Krieg gestanden, der sich auf nichts ande-
res gründet als auf Lügen. Das ist die Realität.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das hätten Sie gern!)


Wir wollen von Ihnen wissen, Frau Merkel, wie Sie
heute dazu stehen. Das kann man wohl verlangen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ähnlich ist es im Hinblick auf Ihre Auslassungen zu
Europa, Frau Merkel.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie bauen wider besseres Wissen Pappkameraden auf! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist ein Popanz!)


Sie haben hier festgestellt, dass gerade in Osteuropa am
1. Mai gefeiert wird. Das glaube ich auch. Aber es gibt,
ehrlich gesagt, einige Leute, denen das Feiern im Halse
stecken geblieben ist.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Brüder, zur Sonne, zur Freizeit!)


– Dass sie nicht feiern können, Herr Glos, hat mit jeman-
dem aus Ihren eigenen Reihen zu tun, nämlich mit Frau
Steinbach.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist üble Nachrede! Herr Präsident, eine Beleidigung!)


Frau Steinbach wird nicht nur in dieser Republik, son-
dern auch in Polen als diejenige wahrgenommen, die mit
einem Zentrum für Vertreibung


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Gegen Vertreibung!)


das zarte Pflänzchen der guten deutsch-polnischen Be-
ziehungen zerstören will.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie verzerren das! – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist ein Zentrum gegen Vertreibung, nicht für Vertreibung! Das ist eine Unverschämtheit!)


Frau Steinbach sorgt für Verunsicherung. Wir wollen
aber ein gemeinsames Europa, in dem es solche Verun-
sicherungen und Verunglimpfungen der Geschichte nicht
gibt. Wir wollen, dass die Brücke über die Oder beschrit-
ten werden kann; wir wollen nicht, dass neue Mauern
gebaut werden.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist ein konfuser Quatsch!)


Wenn Sie wirklich wollen, dass am 1. Mai auch in Polen
aus vollem Herzen gefeiert werden kann, dann erwarte
ich von Ihnen, dass Sie Frau Steinbach und Herrn Koch,
der genauso argumentiert, endlich stoppen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wo ist der rote Faden?)


Frau Merkel, auch das, was Sie in der Innenpolitik
machen, ist nicht besser. Ihre Konzepte dienen dem Ei-
gennutz und spiegeln den Streit in den eigenen Reihen
wider. Es geht dabei um die Kopfpauschale und um den
Bundespräsidenten.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: So einen guten Kandidaten hätten Sie gerne! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Mein lieber Schwan, sage ich nur dazu!)


Das war ein Theater. Man könnte fast sagen, es ging da-
rum, wer in der Klamotte, die dabei aufgeführt worden
ist, die beste Nebenrolle hatte: Angela, Edmund oder
Guido? Herr Westerwelle, ich glaube, Sie können froh
sein, dass wir den Meisterzwang weitestgehend abge-
schafft haben. Sonst wären Sie mit Ihrem Meisterstück
und der Meisterprüfung bei der Aufstellung eines Kandi-
daten für die Bundespräsidentenwahl sicherlich nicht
durchgekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Kalau! Kalau! Kalau! – Michael Glos [CDU/CSU]: Was ist denn heute mit Ihnen? – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wir haben doch jetzt Fastenzeit!)


Aber eines muss klar sein, wenn Sie in der Innenpoli-
tik – auch bei der inneren Sicherheit – wieder die alten
Kamellen bringen. Wir haben die Anschläge in Madrid
erlebt. Viele Menschen in unserem Land haben Angst.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: So schlimm ist die Rede nun auch wieder nicht!)


Ich meine, das müssen wir sehr ernst nehmen.
Meine eigenen Kinder, die jeden Tag mit dem Zug

fahren, haben danach gefragt, was das eigentlich für sie
bedeutet und ob sie auch gefährdet sind. Deswegen sage
ich: Wir haben verstanden, dass die Menschen Angst ha-
ben; es muss klar sein, dass eventuell bestehende Geset-
zeslücken geschlossen werden müssen.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sagen Sie das mal Herrn Beck!)


Ich will Ihnen aber sagen, was auch klar sein muss!
Es reicht nicht, einmal kurz nachzudenken, ohne sich mit
der Sache wirklich zu beschäftigen, und dann die alten
Klamotten wieder herauszuholen. Die beste alte Kla-
motte, die Sie immer wieder herausholen, ist der Einsatz






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Göring-Eckardt

der Bundeswehr im Inneren. Glauben Sie, wir hätten
in Deutschland auch nur ein bisschen mehr Sicherheit,
wenn wir einen Panzer vor einen Bahnhof stellen und
Wehrpflichtige in Zügen patrouillieren lassen?


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Was reden Sie denn für dummes Zeug?)


Das ist nicht der richtige Weg. Es geht vielmehr darum,
über die Möglichkeiten nachzudenken, mit denen die Si-
cherheit wirklich erhöht werden kann. Es geht nicht um
Symbolpolitik und um alte Kamellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Echt überfordert, die Frau!)


Ich habe von Ihnen auch nichts zu dem gehört, Frau
Merkel, was die meisten Leute im normalen Leben in
dieser Republik am allermeisten umtreibt. Das sind die
Fragen, wie es unseren Kindern geht und wie es mit der
Kindererziehung und der Bildung weitergeht. Dazu ha-
ben Sie nichts gesagt. Sie haben sich ein bisschen über
Forschung und Innovationen ausgelassen, aber Sie ha-
ben die Fragen der Familien übergangen und außen vor
gelassen. Das ist wahrscheinlich die neue Art der Fami-
lienpartei CDU.

Wenn wir es weiterhin zulassen, dass 72 Prozent der
Kinder aus besser gestellten Familien Abitur machen
und dass diejenigen, die aus den Unterschichten stam-
men, nicht weiterkommen, weil sie keine Chancen ha-
ben, dann ist das ein Skandal. Das ist eine richtige Saue-
rei. Dazu sage ich: Man muss sich gemeinsam
anstrengen; das kann man nicht einfach übergehen
– auch nicht im Deutschen Bundestag – nach dem
Motto: Wir sind ja nicht zuständig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Lassen Sie uns kurz nach Bayern schauen – Claudia
wird es mir verzeihen –:


(Jörg Tauss [SPD]: Bleiben wir einmal länger in Bayern!)


Nur 30 Prozent der Jugendlichen dort machen Abitur. In
Großbritannien, in den USA und im Rest der Republik
ist das anders. Ehrlich gesagt, ich kann mir nicht vorstel-
len, dass die Bayern wirklich blöder sind als alle ande-
ren.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wiederholen Sie das einmal! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Also die anderen sind erst einmal blöde und die Bayern sind noch blöder?)


Es kommt darauf an, dass wir dann, wenn die Kinder
ganz klein sind, anfangen. Deswegen ist es so wichtig,
sich um die Kinderbetreuung der unter Dreijährigen zu
sorgen. Ich persönlich finde: Dabei soll man nicht nur
mit Bitten, mit den Wünschen nach Zusammenarbeit
und mit Parolen arbeiten. Ich glaube, was die unter Drei-
jährigen angeht, brauchen wir für bestimmte Gruppen
ganz klar einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung,
damit sich in diesem Bereich wirklich etwas ändert, da-
mit in Deutschland wirklich mehr Kinderbetreuungs-
plätze entstehen und damit das Geld, das in die Kassen
der Kommunen fließt, wirklich für Kinderbetreuungs-
plätze eingesetzt wird. Das ist nötig, um die gesellschaft-
liche Realität zu verändern. Man sollte nicht hinterher re-
parieren, sondern unten, bei den ganz Kleinen, anfangen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Was sagen die Kommunalpolitiker der SPD dazu?)


Es kommt auf die Migrantenkinder und auf die Kinder
aus den Unterschichten an.

Außerdem kommt es darauf an, dass in Deutschland
Beruf und Familie endlich vernünftig vereinbart werden
können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich weiß, dass die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie immer ein bisschen ideologisch gesehen wird,
gerade in Ihren Reihen. Darüber ist man leider noch im-
mer nicht hinweg. Man kann es auch einmal ganz öko-
nomisch betrachten: 1 Euro, der in Kinderbetreuung in-
vestiert wird, bringt am Ende 4 Euro, die man wieder
herausbekommt. Die Frauenerwerbstätigkeitsquote hat
nämlich auch mit dem Wachstum der Gesellschaft zu
tun. Das kann man in anderen Ländern erkennen.
Schauen Sie nach Frankreich! Wenn wir wirklich
Wachstum wollen, dann müssen wir die Rahmenbedin-
gungen an genau dieser Stelle ändern und dann dürfen
wir nicht auf ein paar Chimären schauen.

Sie haben die Grüne Gentechnik angesprochen – nor-
malerweise reden Sie gern über die Atomenergie –: In
diesen Bereichen wird es weder zu Wachstum noch zu
neuen Arbeitsplätzen kommen. Dem entgegenzuwirken
ist nicht die Aufgabe der Politik. Wir müssen vielmehr
die Rahmenbedingungen ändern. Dafür sind wir da; das
ist unsere Aufgabe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wollen wir wirklich, dass mehr Kinder geboren wer-
den? Natürlich wollen wir das! Ich finde, wir sollten al-
les dafür tun. Wir sollten unsere Kinderbetreuung und
unsere Schulen verbessern; wir sollten dafür sorgen,
dass man in Deutschland wieder Lust bekommt, mit
Kindern zu leben. Ich glaube, das können wir, und ich
glaube, das würde der Kultur in unserem Land wirklich
gut tun.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Kanzler als Erster! Nun mal ran! Volle Kraft voraus!)


Ich komme auf das Thema Zuwanderung zu spre-
chen. Über ein Zuwanderungsgesetz wird jetzt intensiv
verhandelt. Ich hoffe sehr, dass wir zu einem Ergebnis
kommen. Ich sage Ihnen dazu auch eines: Wenn man die
Integration von Zuwanderern nur mit Strafen und mit
Sanktionen in Zusammenhang bringt, dann werden wir
nicht weiterkommen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Vielleicht auch mit Sprachkursen, Frau Kollegin!)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Göring-Eckardt

Die Integration ist die zentrale gesellschaftliche Frage,
die wir in vielen Stadtteilen und an vielen Orten dieser
Republik beantworten müssen. Wenn wir es nicht schaf-
fen, die gesellschaftliche Integration zu verbessern, dann
fällt unsere Gesellschaft auseinander. Deswegen geht es
hier darum, Angebote zu machen, die angenommen wer-
den müssen. Aber es geht nicht darum, dort Strafen an-
zudrohen, wo keine Angebote sind. Darauf wird es in
den anstehenden Verhandlungen ankommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Warum machen Sie das nicht in Nordrhein-Westfalen?)


Außerdem kommt es auf die Bewältigung der huma-
nitären Fragen an. In einer offenen Gesellschaft muss
man über die Frage der Humanität reden. Ich hoffe, dass
wir auf diesem Gebiet zusammenkommen. Ich hoffe
auch, dass wir auf dem Feld der Arbeitsmigration einen
kleinen Schritt vorankommen. Viele sagen dazu jetzt:
Der Tiger, der springen soll, ist nur noch sehr klein. Ich
bin trotzdem überzeugt: Dieses Gesetz wird ein erster,
ein wichtiger Schritt sein. Ich hoffe sehr, dass wir nicht
nur unserer Gesellschaft, sondern auch der Wirtschaft
den Gefallen tun, dass in diesem Bereich etwas voran-
geht.

Ich bin der Meinung, dass wir der Wirtschaft nicht je-
den Gefallen tun sollten. Manchmal hat man das Gefühl,
dass jeden Tag etwas Neues oder auch immer wieder das
Alte gefordert wird und dass, nachdem die Forderungen
erfüllt worden sind, ein paar Wirtschaftsfunktionäre wie
die beiden Onkel in der „Muppet-Show“ auf dem Balkon
sitzen und meckern. Dazu kommen ein paar Ehrengäste:
Frau Merkel und besonders Herr Westerwelle.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Schröder! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Opa Müntefering!)


In der gegenwärtigen Situation in Deutschland stehen
30 000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz da. Ange-
sichts dessen frage ich mich: Worin besteht der Beitrag
der Wirtschaft dazu, damit es in unserem Land weiter-
geht?

Herr Westerwelle, der Bundeskanzler hat im letzten
Jahr nicht gesagt, dass er gegen eine Ausbildungs-
platzumlage sei. Er hat vielmehr gesagt: Wenn wir
keine andere Möglichkeit haben, wenn die notwendigen
Ausbildungsplätze nicht entstehen, dann müssen wir für
eine gesetzliche Regelung sorgen. Genau das müssen
wir jetzt möglicherweise tun, und zwar nicht weil wir
das wollen oder weil wir darüber nachgedacht haben,
wie wir der Wirtschaft besonders gut schaden können,
sondern weil es keine andere Möglichkeit gibt, dafür zu
sorgen, dass betriebliche Ausbildungsplätze in ausrei-
chendem Maße in Deutschland entstehen. Es geht da-
rum, dass die Jugendlichen nicht auf die Straße ge-
schickt werden oder auf dem Sofa sitzen, dass sie also
nicht zu denjenigen gehören, die keine Chance haben.
Deswegen muss für eine ausreichende Zahl an Ausbil-
dungsplätzen gesorgt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn man sich die heutigen Äußerungen zu den so-
zialen Fragen anschaut, dann stellt man wieder fest, dass
es mit der Einigkeit in der Union nicht weit her ist. Zur
Rentenversicherung ist von Ihnen nicht viel gesagt
worden. Sie trauern noch immer um den demographi-
schen Faktor. Wenn dieser in die Rentenformel einge-
führt worden wäre, dann läge der Beitragssatz in der
Rentenversicherung heute deutlich über 21 Prozent. Tat-
sächlich liegt er bei 19,5 Prozent. Sie können Ihre Trauer
ruhig weiter pflegen. Aber uns interessiert schon, wel-
ches Konzept Sie eigentlich haben, welche Vorstellun-
gen Sie haben, wie es mit der Rentenversicherung wei-
tergehen soll. Ich glaube, das interessiert auch die
Bürgerinnen und Bürger.

Wie es mit der Gesundheitsreform weitergehen soll,
haben Sie deutlich gemacht, jedenfalls diejenigen von
Ihnen – es sind nur ein paar –, die die auf dem letzten
Parteitag gefassten Beschlüsse mittragen. Herr Seehofer
gehört sicherlich nicht dazu. Die Alternative ist: Kopf-
pauschale oder Bürgerversicherung. Ich habe mir alle
Ihre Konzepte – das Herzog-Konzept, das Merz-Kon-
zept und den Masterplan von CDU und CSU – genau an-
geschaut und dabei ist mir eines aufgefallen: In allen
Konzepten kommt zwar die Kopfpauschale vor, aber an
keiner Stelle wird deutlich, wie der soziale Ausgleich
funktionieren soll, vor allem wie er bezahlt werden soll.
Frau Merkel, das sagt mir, dass Sie gar keinen sozialen
Ausgleich wollen. Das ist es, was Sie tatsächlich vorha-
ben. Sie wollen eine andere Republik. Sie sollten so ehr-
lich sein und das auch sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das ist die Kopfprämienideologie!)


Wenn wir über die Zukunft der Gesellschaft reden,
dann müssen wir zwei Dinge berücksichtigen. Zum ei-
nen wird die Gesellschaft älter. Man sollte nicht ver-
schweigen, dass aufgrund dessen die meisten Arbeits-
plätze in Zukunft im Gesundheits- und Pflegebereich
entstehen werden. Dort werden qualifizierte Menschen
aus unserem Land gebraucht, die auch bereit sind, die
Arbeit zu tun. Zum anderen wird sich die Gesellschaft
verjüngen. Darauf hoffen und setzen wir, weil auch da-
durch Arbeitsplätze entstehen werden, zum Beispiel in
Kindergärten, in Schulen und im Bereich der Dienstleis-
tungen für junge Familien, in denen Frauen berufstätig
sind. Frau Merkel, solche Arbeitsplätze haben nichts mit
Symbolthemen zu tun.

Ich möchte noch einmal auf die Grüne Gentechnik
zu sprechen kommen. Das, was Sie vorschlagen – wahr-
scheinlich ist das ein Beitrag zur deutsch-amerikani-
schen Freundschaft –,


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


wird letztlich nur dazu führen, dass amerikanische Un-
ternehmen ihr Saatgut in Deutschland besser verkaufen
können. Wahrscheinlich haben Sie das gemeint, als Sie






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Göring-Eckardt

über die Grüne Gentechnik und ihre Chancen geredet ha-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Da lacht der Außenminister verzweifelt!)


Wir müssen uns in der Tat um die Arbeitsplätze küm-
mern, die hier entstehen können. Es gibt einen sehr gro-
ßen Bereich, in dem ziemlich viele Arbeitsplätze ent-
standen sind. Das ist der Umweltbereich. Die Koalition
hat sich entschieden, nicht nur für eine soziale, sondern
auch für eine ökologische Erneuerung zu sorgen. Es geht
nicht mehr um die Auseinandersetzung aus den 70er-
Jahren, also nicht um Arbeitsplätze gegen Umwelt, son-
dern um Arbeitsplätze, die tatsächlich entstehen. Es geht
um Arbeitsplätze, die entstehen, weil wir die Lohnne-
benkosten durch die Ökosteuer gesenkt haben. Es geht
um Arbeitsplätze, die entstehen, weil wir in Wärmedäm-
mung investiert haben. Es geht um 100 000 Arbeits-
plätze, die im Bereich der erneuerbaren Energien ent-
standen sind.


(Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Sprechen Sie jetzt über Saatgut?)


Sie können das alles ruhig als grünen Vorgarten be-
zeichnen. Aber schauen Sie sich einmal an, was BMW,
die Deutsche Lufthansa und die Deutsche Bahn verein-
bart haben, in welche Zukunfts- und Innovationstechno-
logien sie investieren wollen. Diese Unternehmen gehen
davon aus, dass es in Zukunft zwei große Problemberei-
che gibt. Der eine ist der Transport- und Logistikbe-
reich – hier muss man über neue Wege diskutieren – und
der andere ist eine neue Brennstofftechnologie. Das hat
nichts mit grünem Vorgarten zu tun. Hier kann man viel-
mehr Geld in Deutschland verdienen. In diese Projekte
sollte man investieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn man über Logistik der Zukunft redet, dann re-
det man auch über eine andere Lebensweise. Es wird in
Zukunft immer öfter so sein, dass man die CD bei Ama-
zon, die Bücher bei Libri, die Unterwäsche beim Otto-
Versand und die Gartengeräte bei Manufactum bestellt.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Keine Schleichwerbung hier!)


Das alles kommt dann irgendwie an. Hoffentlich muss
dann nicht jemand den ganzen Tag zu Hause sein und
auf das Paket warten.

Es gibt also große Herausforderungen an die Logistik
in Deutschland. Ich glaube, dass wir da vorn sein kön-
nen, auch wenn es ein paar große Unternehmen in
Deutschland nicht geschafft haben, das Mautsystem so
schnell auf eine vernünftige Grundlage zu stellen, wie
sich das wahrscheinlich alle hier gewünscht hätten.
Diese Chance bei der neuen Logistik sollten wir ergrei-
fen. Da sollten wir aktiv werden.

Ich will ein Thema ansprechen, das in diesen Tagen in
der Öffentlichkeit eine große Rolle spielt, nämlich den
Emissionshandel. Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Zeit
als Umweltministerin nicht besonders viele große Er-
folge gehabt. Ein großer Erfolg war sicherlich die Unter-
zeichnung des Kioto-Protokolls. Es geht hierbei nicht
um eine grüne Hobbyveranstaltung oder etwas, das wir
uns gerade ausgedacht haben, sondern es geht um eine
internationale Verabredung, es geht um eine europäische
Verabredung. Wir wollen nicht vor allen anderen herlau-
fen, sondern es geht um unsere Verpflichtung zum Kli-
maschutz und gleichzeitig um die Rücksichtnahmen auf
die Interessen der Industrie. Herr Töpfer ist dafür. Viele
der Unternehmen haben bei den Verhandlungen darüber
zu erkennen gegeben, dass sie sich vorstellen können, in-
nerhalb dessen, was verabredet worden ist, tätig zu wer-
den. Aber eines muss man auch sagen: Die Industrie
selbst war mit ihrer Selbstverpflichtung natürlich sehr
viel ehrgeiziger, als das heute der Fall zu sein scheint.

Wir werden am Ende eine Verabredung haben – da
bin ich sehr zuversichtlich –, bei der wir die wirtschaftli-
chen Interessen mit dem Klimaschutz vereinbaren. Es
geht darum, dass die Emissionen reduziert werden. Wir
haben diese Verantwortung international, wir haben sie
europäisch und wir werden ihr in Deutschland – da kön-
nen Sie ganz sicher sein – gerecht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Keine Drohungen!)


Herr Töpfer ist dafür. Frau Merkel war dafür – das
muss man sicherlich sagen –, aber jetzt ist Merkel nur
noch für Merkel. Sie werden sich ja wahrscheinlich noch
ein bisschen über die Kanzlerfrage unterhalten, über
Merz, Merkel, Stoiber, Koch, wie auch immer das ausge-
hen mag.


(Jörg Tauss [SPD]: Nach dem heutigen Tag mehr denn je!)


– Nach dem heutigen Tag – das kann man sicherlich so
sagen – ist wieder alles offen.


(Jörg Tauss [SPD]: Das war keine Glanzleistung da! – Michael Glos [CDU/CSU]: Wir reden über „Müntefering oder Schröder“!)


Wir als Regierung werden es Ihnen in diesem Streit nicht
leicht machen. Sie können ihn in aller Ruhe führen.

Wir werden uns weiter für gesellschaftlichen Zusam-
menhalt und dafür einsetzen, dass das Land erneuert
wird, aber gegen eine reine Ökonomisierung der Gesell-
schaft, wie Sie sie wollen. Sozialstaatsreformen kann
man nicht nur mit dem Taschenrechner machen. Man
muss sie auch mit dem Herzen machen. Wir wollen den
sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Wir wollen die
soziale und ökologische Erneuerung. Sie können in die-
ser Zeit mit den besagten Herren frühstücken. Sie früh-
stücken, wir regieren.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber Sie regieren miserabel!)


Sie reden über die Kanzlerfrage, wir handeln. Daran
werden Sie sich gewöhnen müssen, auch über das Jahr
2006 hinaus. Wie heißt es ab jetzt? – Wenn Sie regieren






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Göring-Eckardt

würden, wäre das Mist. Dann muss man am Ende einer
Rede jetzt auch immer noch sagen: Glück auf!

Ich danke Ihnen.

(Lebhafter Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der SPD)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1510001800

Das Wort hat nun der Kollege Michael Glos für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1510001900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Mit Ihrer Erlaubnis würde ich gern wieder an
die Regierungserklärung des Bundeskanzlers und daran
anknüpfen, wie Deutschland zu mehr Stärke kommt.

Während Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler, war eine
gewisse Unlust spürbar, nicht nur bei Ihnen selbst, son-
dern auch auf der linken Seite.


(Lachen bei der SPD – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! Das war nur bei Ihnen!)


Über der Veranstaltung lag irgendwie so ein Hauch von
Tausendundeiner Nacht.


(Ute Kumpf [SPD]: Sie erzählen Märchen! Schauermärchen!)


Wenn man alles das, was Sie gesagt haben, für bare
Münze nähme, dann wären die Verhältnisse in unserem
Land in Ordnung. Leider ist das nicht so.

Die Rede heute hat gezeigt – den Eindruck habe ich –,
dass man Reformen eigentlich satt hat und vom Reform-
bedarf ein Stück Abstand nehmen will, um wieder in ein
ruhigeres Fahrwasser zu kommen. Herr Bundeskanzler,
Sie haben vor der letzten Bundestagswahl eine Zeit lang
– wir haben es erlebt – die Politik der ruhigen Hand
praktiziert. Ich muss sagen: Ihre Hand ist ruhig geblie-
ben, nur Deutschland hat dabei das Zittern gelernt. Das
ist die eigentliche Schwierigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es geht nicht um die Befindlichkeit Einzelner, sondern
es geht insgesamt darum, wie wir unser Land, das in ei-
nem sehr schwierigen Zustand ist, wieder nach vorne
bringen.

Ich glaube auch nicht, dass Sie, Herr Müntefering,
jetzt alle Reformen stoppen und verwässern sollten, um
Ihre Partei zufrieden zu stellen. Vielmehr muss meiner
Meinung nach noch mehr getan werden, als im Zuge der
Agenda 2010 getan worden ist.


(Jörg Tauss [SPD]: Na, dann sagen Sie es einmal!)


Es wäre eine Selbsttäuschung, zu glauben, wenn sich
Deutschland nicht mehr bewegte, würde sich auch um
uns herum nichts mehr bewegen. Die anderen bewegen
sich weiter. Wenn ich mir die SPD anschaue, habe ich
den Eindruck – ich weiß, dass es sehr viel Mühe bereitet
hat –, dass die gesamte Bewegung auf dem Laufband
stattgefunden hat. Wenn man das schneller stellt, kommt
man zwar furchtbar ins Schwitzen, was der eigenen Ge-
sundheit dienen mag, aber trotzdem wird man feststel-
len, dass man im Ergebnis überhaupt keinen Schritt nach
vorne gekommen ist. Aber in unserem Land brauchen
wir ganz dringend ein Vorankommen.


(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt einmal konkret! Nichts mit Laufband!)


– Ich weiß, Herr Tauss, dass Ihre Zwischenrufe aufgrund
Ihrer Stimme immer durchdringen.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!)

Aber der Inhalt ist meistens sehr schlecht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Schließlich lassen Sie mich hierzu noch sagen: Es

gibt Bewegung in diesem Land, nämlich die Bewegung
von Arbeitsplätzen: Wir haben 300 000 Arbeitsplätze
weniger. Nun weiß ich, dass nicht alle Arbeitsplätze ab-
gewandert sind, sondern ein Teil auch entfallen ist. Frau
Kollegin Merkel und ich hatten unlängst ein Gespräch
mit Vertretern der großen Energieerzeuger. Diese sag-
ten, bevor sie auslaufende Kraftwerksleistungen ersetz-
ten, müsse man natürlich analysieren, was in diesem
Land künftig noch produziert und wie viel Energie dafür
gebraucht wird. Wenn Arbeitsplätze wegfallen, entfällt
natürlich auch immer mehr Energiebedarf. So kann ich
den Bedarf überall herunterbrechen. Ich glaube aber, da-
mit kann ein Land auf Dauer nicht leben und zurecht-
kommen. Deshalb meine ich, dass die Bewegung, das
Vertreiben von Arbeitsplätzen gestoppt werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Vor allen Dingen muss man in der Bundesregierung

damit aufhören, sich selbst gegenseitig zu blockieren.
Ich hoffe, Sie lösen den Konflikt zwischen Clement und
Trittin in dem Sinne auf, dass Arbeitsplätze in Deutsch-
land bleiben,


(Beifall bei der CDU/CSU)

und nicht in dem Sinne, dass das Parteiprogramm einer
Partei verwirklicht wird. Ihre Rede, Frau Göring-
Eckardt, war mit Verlaub, gnädige Frau, keine Rede, die
jemanden ermutigt hätte, in Deutschland zu investieren.
Das war eigentlich eine Zusammenfassung der Vorur-
teile und Bedenken, die es gibt. Vielleicht war diese
Rede auch nach innen gerichtet und ist mit Blick auf ei-
nen Parteitag der Grünen gehalten worden.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben demnächst gar keinen!)


Wenn wir alle nur für unsere eigene Klientel und unsere
eigenen Anhänger sprechen und dabei die deutschen In-
teressen aus dem Auge verlieren, kommen wir in unse-
rem Land nicht vorwärts.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Jahr seit Verkünden der Agenda 2010 war auch

von SPD- und koalitionsinternen Flügelkämpfen






(A) (C)



(B) (D)


Michael Glos

geprägt, die bis heute anhalten. Da werden Sie, Herr
Müntefering, ein Stück Arbeit zu leisten haben. Ich sehe
auch mit einer gewissen Sorge, dass sich innerhalb der
SPD Abspaltungstendenzen breit machen. Da gibt es
einen Menschen, der Ernst heißt und aus Schweinfurt
kommt; er ist dort der IG-Metall-Häuptling.


(Ute Kumpf [SPD]: Kenne ich sogar persönlich!)


Ich beobachte seine Umtriebe und würde den Mann an
Ihrer Stelle ganz schön ernst nehmen, wie sein Name
schon sagt. Die Genossen von den Gewerkschaften mei-
nen es zum Teil ernst und sagen das nicht einfach so da-
hin. Die haben nicht kapiert, dass wir uns ändern müs-
sen, um so zu bleiben, wie wir sind, und stellen natürlich
innerhalb der SPD eine starke Kraft dar. Ich kann nur
hoffen, dass Sie sich nicht beirren lassen. Die große So-
zialdemokratische Partei hat ja eine Tradition, gemäß der
sie für Arbeit in Deutschland und nicht nur für Machter-
halt eintritt. Wenn es nicht anders geht, dann konzentrie-
ren Sie sich auf Ihre Kernkompetenzen. Nach der verlo-
renen Wahl, die mit Blick auf Deutschland, wie ich
hoffe, bald kommt, können Sie dann ja aus der Kern-
kompetenz heraus, falls wir nach vielen Jahrzehnten mal
versagen sollten, wieder neu nach der Macht greifen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Das „wieder“ war richtig!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
noch einmal auf den Bundeskanzler zurück. Herr Bun-
deskanzler, Sie haben am 14. März 2003 erklärt – ich zi-
tiere –:

Unser Land muss wieder zu einem Zentrum der Zu-
versicht in Europa werden …

So weit Ihre Aussage. Unter Ihrer Führung, Herr Bun-
deskanzler, ist unser Land zu einer Nation der Verzagt-
heit und Mutlosigkeit geworden. Das bereitet Sorge. Ich
glaube, in Deutschland ist nur die Stimmung schlechter
als die Lage. Natürlich ist eine schlechte Stimmung ty-
pisch deutsch. Aber wenn man eine Regierung hat, die
nicht mit Wahrheit und Klarheit operiert, die den Men-
schen Sand in die Augen streut, dann muss man sich
nicht wundern, wenn sich Investoren und Konsumenten
zurückhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der SPD-Parteitag

(Jörg Tauss [SPD]: War gut!)


war gut. Das war einer Ihrer langen Sätze, Herr Kollege
Müntefering.


(Jörg Tauss [SPD]: Nein, das war ich!)

– Sie kopieren ihn schon.


(Jörg Tauss [SPD]: Gutes Vorbild!)

Auch der SPD-Parteitag hat natürlich nichts nach

vorne gebracht. Er hat im Grunde neuen Richtungsstreit
vorprogrammiert; denn es wird einen Richtungsstreit ge-
ben zwischen den Traditionalisten, die glauben, man
könne die heile Welt, die heile Gewerkschaftswelt in ei-
nen abgeschotteten Bereich zurückbringen, und denen,
die einsehen, dass wir uns ändern müssen, damit die
deutsche Volkswirtschaft wieder stark wird.

Ich nenne Ihnen einmal die Verunsicherungen, die
auf uns lasten:

Die Verunsicherung Nummer eins resultiert aus der
bewussten Realitätsverweigerung vor der Bundestags-
wahl 2002, als es hieß: Alles in Ordnung. Man muss den
Menschen vorher sagen, was auf sie zukommt und was
sich tut.

Die Verunsicherung Nummer zwei resultiert aus der
vorsätzlichen Täuschung der Menschen über den wahren
Reformbedarf unseres Landes. Es hieß nämlich damals:
Weiter so, Deutschland!

Die Verunsicherung Nummer drei geht zurück auf die
Konzeptionslosigkeit, die Flickschusterei und das per-
manente Nachbessern und Verändern der Reforman-
sätze, wie wir es im letzten Jahr erlebt haben.


(Ute Kumpf [SPD]: Das nennt man Prozesssteuerung, nicht Nachbesserung!)


Ich bin der Meinung, dass die Bilanz der Agenda 2010
ein Jahr nach ihrer Ankündigung leider nicht gut ist. Ver-
braucher und Investoren halten sich zurück, der erhoffte
psychologische Schub, den wir brauchen, ist leider aus-
geblieben. Ich befürchte, dass es auch in diesem Jahr zu
keinem grundlegenden Wandel kommen wird, weil die
Wirtschaftslage sehr viel schlechter ist, als es regie-
rungsamtlich dargestellt wird. Wenn Sie sich mit Unter-
nehmen bzw. deren Repräsentanten – ganz egal, ob gro-
ßen Unternehmen, Handwerksbetrieben oder dem
Mittelstand – unterhalten, stoßen Sie immer auf die glei-
che schlechte Stimmung und die gleiche Zukunftsangst.
Ich befürchte, dass die Verlagerung von Arbeitsplätzen
unseres Landes gerade durch die EU-Osterweiterung ra-
scher vorangehen wird, als es vorher der Fall gewesen ist.

Die offizielle Arbeitslosenstatistik ist geschönt. Wir
wissen, dass wir in Wirklichkeit 5 Millionen Arbeitslose
haben. Die Zahl von 4,3 Millionen, die jetzt genannt
wird, ist nur statistischen Tricks zu verdanken. Wir wis-
sen, dass wir im letzten Jahr mit 40 000 Unterneh-
mensinsolvenzen – nicht nur beim Mittelstand, sondern
auch bei großen Firmen, bis hin zu Holzmann – einen
neuen Pleiterekord erreicht haben. Es ist vorhin schon
gesagt worden: Wer pleite ist, kann nicht mehr ausbil-
den. Die Zahl der Ausbildungsplätze steigt nicht, wenn
eine neue Bürokratie aufgebaut wird. Im Gegenteil, viele
Firmen werden glauben, sich von der Ausbildung frei-
kaufen zu können. Dadurch ist die Wirkung für die jun-
gen Leute noch verheerender als ohnedies.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Bundeskanzler, Sie dürfen gerne gehen; ich habe
Verständnis für Ihre Zeitprobleme.


(Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Ich bleibe aus Respekt und Zuneigung!)







(A) (C)



(B) (D)


Michael Glos

– Dafür bedanke ich mich sehr. – Ich habe Ihnen aller-
dings eineinviertel Stunden in der Hoffnung zugehört,
dass ich viel Neues dabei lerne, weil ich noch immer
neugierig bin.

Aber lassen Sie mich bitte zum Inhalt meiner Rede
zurückkommen. Ich meine, dass die Prognose von 2 Pro-
zent Wirtschaftswachstum, die Sie abgegeben haben,
Herr Bundeskanzler, leider unrealistisch ist. Die For-
schungsinstitute rücken schon davon ab. Der Höhenflug
der Börse vom Jahresanfang ist schon gestoppt. Die
Neuemissionen werden zurückgezogen; auch heute gab
es wieder eine entsprechende Nachricht. All das ist nicht
gut für die Stimmung im Land. Die Beschimpfung von
Unternehmern führt überhaupt nicht weiter. Die Diskus-
sion über die „vaterlandslosen Gesellen“ fand ich lächer-
lich. Wenn dem so wäre, Herr Bundeskanzler, dann wä-
ren Sie der Reiseleiter der vaterlandslosen Gesellen;


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

denn Sie hatten in China 100 Unternehmer dabei, um sie
auf die dortigen Investitionsmöglichkeiten hinzuweisen.
Sie würden es sich nie antun, vaterlandslose Gesellen zu
führen. Sie haben es sich schon angetan, die SPD zu füh-
ren.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich weiß, dass man sehr rasch missverstanden werden
kann.

Ob Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze oder Haus-
haltskonsolidierung: Bei allen entscheidenden makro-
ökonomischen Daten befindet sich Deutschland leider
auf einem Abstiegsplatz in Europa. Ich glaube, wir soll-
ten uns die Lage nicht künstlich schönreden. Das führt
nämlich zu überhaupt nichts.

Seit Wochen schon werden der Eurokurs und die
Zinsen zu einem möglichen Aufschwunghindernis er-
klärt. Diese Faktoren spielen natürlich eine Rolle. Ich
will die Wirkung des gestiegenen Eurokurses überhaupt
nicht bagatellisieren. Aber die Ausrede, soundso viel
Prozent unserer Exporte gingen in die USA, kann ich
nicht gelten lassen; denn die Importe in unser Land sind
sehr viel billiger geworden.

Wissen Sie, wer inzwischen vaterlandslos geworden
ist? – Das sind die deutschen Verbraucher. Sie glauben
Sprüchen wie „Geiz ist geil“ und kaufen die Konsumgü-
ter im Allgemeinen bei großen Handelsketten, deren
Produkte zum großen Teil aus China kommen. Das zeigt
auch, wie schwierig es ist, bei solchen Sachverhalten
zwischen Wirkung, Wechselwirkung und Gegenwirkung
zu unterscheiden.

Betrachten wir einmal den Euro: Für einen Euro hat
man anfänglich 1,19 Dollar bekommen. Jetzt liegt der
Kurs zwischen 1,23 und 1,25 Dollar. Das kann es also
auch nicht gewesen sein, was so viel verändert hat. Ich
meine daher, dass unsere Probleme nicht allein durch ex-
terne Faktoren, sondern vor allen Dingen – darauf will
ich eigentlich hinaus – durch die Verwerfungen im In-
nern bedingt sind.
Auch die schonungslose Bestandsaufnahme, was in
unserem Land tatsächlich los ist, und eine Analyse der
gegenwärtigen Situation haben gefehlt. Vielleicht war
es deswegen für Sie so schwierig, Herr Bundeskanzler,
die Agenda 2010 in Ihren eigenen Reihen durchzuset-
zen. Ich meine, dass Deutschland gewaltig über seine
Verhältnisse lebt. Die Produktivitätszuwächse unserer
Volkswirtschaft reichen nicht mehr aus, um den unver-
meidbaren Strukturwandel zu bewältigen, neue Arbeits-
plätze zu schaffen und sich im globalen Wettbewerb zu
behaupten. Dass Deutschland in diesem Bereich Boden
verloren hat, das werden selbst Sie, Herr Kollege
Stiegler, anschließend in Ihrer Rede nicht bestreiten kön-
nen.

Ein Staat lebt über seine Verhältnisse, wenn er seine
konsumptiven Ausgaben – darunter verstehe ich vor al-
len Dingen Sozialleistungen und Personalkosten – nicht
mehr durch Steuereinnahmen, sondern durch Kredit-
aufnahme und Vermögensveräußerungen finanziert. Die
Flucht in immer höhere Steuern und Abgaben ist dem
Staat allerdings verwehrt, wie das unaufhaltsame Wach-
sen der Schattenwirtschaft, die gestiegene Neigung zur
Steuerumgehung, die Kapitalflucht und vor allen Dingen
die verstärkte Verlagerung von Betrieben ins Ausland
letztendlich zeigen.

Deswegen hat es auch der Finanzminister so schwer,
dem ich gestern Abend versprochen habe – im Moment
ist er leider nicht anwesend –, etwas Nettes über ihn zu
sagen.


(Jörg Tauss [SPD]: Wir sagen es ihm!)

Er schwitzt ebenfalls im Hamsterrad und kommt aus den
genannten Gründen keinen Meter vorwärts.

Es besteht kein Zweifel: Wenn ein Staat über seine
Verhältnisse lebt, dann muss die junge Generation die
Zeche zahlen. Das spüren die Jungen im Land. Das Pro-
blem, dass vielleicht die eine oder andere Fachkraft
nicht zuwandern kann, wird überbewertet. Ein großes
Problem ist allerdings, dass leistungsfähige junge Leute
diesem Land den Rücken kehren. Ihre Zahl beträgt
150 000 im Jahr; darunter befinden sich die Bestqualifi-
zierten. Das gibt für die Zukunft Anlass zu Sorgen, Herr
Bundeskanzler. Darüber müssen wir sehr ernsthaft dis-
kutieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Noch ein Wort zu den Steuern und Abgaben. Ich habe
unlängst – ich kann es belegen – eine Beschwerde einer
jungen Frau bekommen, die – wie ihr Mann – berufstätig
ist. Weil sie die Beste in ihrer Abteilung war, hat sie eine
Prämie von 8 000 Euro erhalten. Davon wurden ihr le-
diglich 2 400 Euro überwiesen. Fachkräfte, die aufgrund
ihrer Qualifikation die Möglichkeit haben, beispiels-
weise in die USA oder nach Großbritannien zu gehen,
ziehen weg, weil sie kein Verständnis dafür haben, wie
es in diesem Land zugeht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben vorhin die Bundesbank gelobt, aus deren

Bericht für den Monat März ich zitieren will:






(A) (C)



(B) (D)


Michael Glos

Im vergangenen Jahr erreichten die staatlichen De-
fizite und Schulden in Deutschland neue Höchst-
stände … Der überwiegende Teil der Probleme ist
struktureller Natur und kann deshalb nur durch ei-
nen entschlossenen Konsolidierungskurs und tief
greifende Reformen überwunden werden.

Deswegen sollten Sie, Herr Bundeskanzler, mit den Re-
formen weitermachen.

Noch ein paar harte Fakten: Im Jahr 2003 betrug das
Defizit im öffentlichen Gesamthaushalt rund 85 Milliar-
den Euro. Das sind circa 170 Milliarden DM. Neue Hi-
obsbotschaften zuhauf: zuletzt, dass der Bundesbankge-
winn, der mit 3,5 Milliarden Euro prognostiziert war,
wegbricht. Das sind alles geringe Größen; keiner regt sich
mehr darüber auf. Der gesamtstaatliche Schuldenstand
beträgt 1,37 Billionen Euro und wächst ständig weiter.
Wie sollen da die jungen Leute Hoffnung bekommen?

Mit einer Defizitquote von 3,9 Prozent hat Deutsch-
land den Referenzwert des europäischen Stabilitätspak-
tes beträchtlich verletzt. Wir werden diesen nicht so
schnell wieder erreichen. Seit Bestehen der Bundesrepu-
blik Deutschland war diese Defizitquote nur in den Jah-
ren 1975 und 1981 höher. In beiden Jahren stellte die
SPD den Bundeskanzler, wie Sie vielleicht noch wissen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das war immer kurz vor dem Wechsel!)


Das nur zu der Geschichte – sie wird immer wieder er-
zählt –, dass all diese Schulden während der Kohl-Zeit
durch die deutsche Wiedervereinigung entstanden seien.
Die Fehler sind zum großen Teil von Sozialdemokraten
hausgemacht.


(Jörg Tauss [SPD]: Oh ja!)

– Vielen Dank, Herr Tauss, dass Sie „Ja“ sagen.


(Jörg Tauss [SPD]: Nein, ich habe aufgestöhnt!)


Auch die im Haushaltsrecht verankerte Obergrenze
der Neuverschuldung nach Art. 115 Grundgesetz wurde
deutlich überschritten. Die Schulden des Bundes erreich-
ten Ende 2003 eine Höhe von 760 Milliarden Euro. Das
heißt, mehr als jeder sechste Euro des Bundeshaushalts
wird inzwischen für Zinsen ausgegeben. Damit kann die
junge Generation nicht leben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen ist Konsolidierungspolitik soziale Politik.
Das sollten wir den Menschen klarmachen.


(Jörg Tauss [SPD]: Hättet ihr einmal angefangen!)


Alles andere ist falsch und belastet die Zukunft.
In den öffentlichen Sozialversicherungssystemen

sieht es ähnlich aus. Nach mehrfacher Senkung der
Schwankungsreserve in der Rentenversicherung – Sie
wissen das – ist das Minimum inzwischen unterschritten
worden. Statt wie erhofft die Krankenversicherungsbei-
träge zu senken, gibt es jetzt die Diskussion, welche
Krankenkassen überschuldet sind. Ich hoffe, es gibt ein
paar, die die Beiträge senken können.
Herr Bundeskanzler, eines wollte ich hier klarstellen:
Ich habe mich vor einem Jahr anlässlich der Diskussion
über die Gesundheitsreform dafür bedankt, dass Sie
sich quasi bei Horst Seehofer entschuldigt haben – ich
fand das sehr wichtig –, der im vorletzten Bundestags-
wahlkampf eine schwere Zeit durchgemacht hat, weil er
im Rahmen der Krankenversicherung das Instrument der
Selbstbeteiligung eingeführt hat. Wir spüren jetzt: Dies
ist wohl die einzige Möglichkeit, die die Menschen zu
sparsamerem Handeln veranlasst.

Nur darf man dann nicht sagen – das waren nicht Sie,
sondern Herr Müntefering, glaube ich, und andere Red-
ner der Koalition –:


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist ja egal, wer!)

An all dem, was die Leute ärgert, ist Seehofer schuld,
und für das, was gut läuft, ist ursächlich Frau Schmidt
verantwortlich. Richtig ist: Gemeinsam ist man zu einer
Lösung gekommen. Wir haben damit ebenso wie später
im Vermittlungsausschuss gezeigt, dass wir wollen, dass
konsolidiert wird und dieses Land in Ordnung kommt,
und dass wir keine Blockierer sind. Wir bohren natürlich
keine Löcher in die Bordwand eines Schiffes, auf dem
wir selber sitzen. Nur, wenn manches in der administra-
tiven Umsetzung falsch läuft, dann können wir uns dafür
nicht in Anspruch nehmen lassen.

Aber grundsätzlich stehen wir zu Ihrem Konsolidie-
rungskurs. Bei all dem, was für die Konsolidierung und
die Zukunft wichtig ist, können Sie sich auf uns stärker
verlassen als auf die Sozialdemokraten. Wir wissen, was
wir unserem Vaterland schuldig sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


Anlass zur Besorgnis bietet auch die geringe Investi-
tionsquote der öffentlichen Haushalte. Wohin das
führt, merken die Leute, die immer häufiger über
Schlaglöcher und auf Autobahnen fahren müssen, auf
denen es mehr Staus als rasch fließenden Verkehr gibt.
Der Verfall der Infrastruktur, der mit dem Sparen am fal-
schen Platz einhergeht, wird uns, aber vor allen Dingen
die künftige Generation belasten.

Ich meine, die Sozialleistungsquote ist viel zu hoch.
Auf diesem Gebiet muss konsolidiert werden. Wir kön-
nen uns diese hohe Quote auf Dauer nicht leisten. Dass
es schwierig ist, dies bei den Betroffenen umzusetzen,
wissen wir selber und alle diejenigen, die konsolidieren
müssen.

Wir müssen vor allen Dingen das riesige Defizit auf
dem Arbeitsmarkt und im Bereich der Zukunftsinves-
titionen beseitigen, das besteht, weil bei uns zu viel in
den öffentlichen Konsum fließt und zu wenig für pro-
duktive, zum Wachstum unseres Kapitalstocks beitra-
gende Ausgaben zur Verfügung steht.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1510002000

Wer so wirtschaftet, versündigt sich an der jungen Gene-
ration.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Michael Glos

Das dürfen wir uns nicht vorwerfen lassen. Wir sind
praktisch an den Grenzen des Wohlfahrtsstaates ange-
langt. Dieser Wohlfahrtsstaat produziert aufgrund der
zuvor beschriebenen Umstände nicht mehr Wohlstand,
sondern er produziert immer mehr Ungerechtigkeit und
macht den künftigen Generationen das Leben schwer.

Deswegen tragen wir die Begrenzung der Sozialaus-
gaben mit. Deswegen verspreche ich Ihnen noch einmal
unsere Unterstützung bei allen vernünftigen Reformen.
Ob Rot-Grün den Mut dazu hat, all die Vorhaben durch-
zuführen, die mannigfaltig auf dem Tisch liegen und zu
denen Ihnen viele Experten raten, wird sich zeigen.
Wenn Rot-Grün nicht den Mut hat, das zu tun, was getan
werden muss, hoffe ich, dass man dann zumindest den
Mut hat, den Weg frei zu machen, damit andere versu-
chen können, es im Interesse unseres Landes besser zu
machen.

Das wäre auch für uns – wenn Neuwahlen wären und
wir gewonnen hätten – kein leichter Weg.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ersparen wir uns!)

Wir wissen, dass er ungeheuer schwer und mühevoll zu
gehen ist und dass es schlimm ist, wenn man den Men-
schen gewohnte Leistungen entziehen muss. Das wissen
auch wir in Bayern, wo das derzeit eine Rolle spielt, weil
wir einen ausgeglichenen Haushalt haben wollen. Die
Menschen dabei mitzunehmen ist nicht leicht. Ich finde
aber, dass das getan werden muss.

Herr Müntefering, Sie sind quasi eine Art Reser-
vekanzler. Machen Sie dem Kanzler das Leben nicht
allzu schwer! Wenn Sie unterstützen, dann unterstützen
Sie eine vernünftige, zukunftsgerichtete Politik.


(Franz Müntefering [SPD]: Wenn das ein vernünftiger Mann sagt!)


Tun Sie vor allen Dingen das, was der Bundeskanzler
zwar versprochen, aber leider nicht getan hat! Er hat ge-
sagt: Erst das Land und dann die Partei. Demnach hätte
er auf die Kanzlerschaft verzichten und den Parteivorsitz
behalten müssen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sehr leidenschaftlich war das auch nicht!)

Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1510002100


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1510002200

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ludwig Stiegler,

SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Ah!)



Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1510002300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Michael

Glos ist heute offenbar in der Verfassung,

(Ute Kumpf [SPD]: Ganz zahm!)

wie er uns die Wirtschaft beschreibt: lustlos und depres-
siv.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das war eine ausgezeichnete Rede!)


Ich bitte Ulla Schmidt um ein Rezept für Johanniskraut
– das ist jetzt immer noch verordbar –, um seine Stim-
mung aufzuhellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das gibt es rezeptfrei!)


Auf Michael Glos trifft zu – Wie hat Luther gesagt? –:
„Aus einem traurigen A… kommt kein fröhlicher F…“


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie reden schlecht und können einen guten Redner nicht beurteilen!)


Er hat Depressionen,

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind aber pri mitiv!)

weil in Passau mehr Polizisten vor der Halle demons-
triert haben, als drinnen Gäste waren. Das schlägt auf
seine Stimmung.


(Beifall bei der SPD)

Michael Glos leidet an noch einer Krankheit, an der

„Dementia politica“.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Das ist nahe der retrograden Amnesie. Er stellt sich hier-
her, macht uns Vorschläge, erinnert sich aber scheinbar
nicht an die Zeit, als seine Partei zusammen mit Theo
Waigel und anderen dieses Land regiert hat. Wie kann
man hier anderen Ratschläge erteilen, wenn man selbst
in seiner Regierungszeit die Dinge, die man jetzt von an-
deren fordert, nicht erreicht hat?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nur ein paar makroökonomische Daten: Wenn Sie da-
mals die Preisstabilität erreicht hätten, die wir heute ha-
ben, hätten Sie Feste gefeiert. Dann wäre der Tanz ums
Goldene Kalb ein kleiner Event gewesen.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: 0,9 Prozent waren es 1998!)


Heute wird darüber nicht geredet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie jammern über Schulden. Ich empfehle dazu den
März-Bericht der Bundesbank. Darin ist eine wunder-
bare Kurve über die Verschuldungsentwicklung abgebil-
det.

Als Sie die Regierung übernahmen, standen die
Schulden bei 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Als
Sie sie an uns übergaben, waren es über 60 Prozent. Das
ist Verschuldungspolitik. Die haben Sie gemacht. Sie ha-
ben kein Recht, mit dem Finger auf andere zu zeigen.






(A) (C)



(B) (D)


Ludwig Stiegler


(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Die Wiedervereinigung war doch da!)

Das Gleiche gilt für die Beschäftigung. Wer sich die

Statistik anschaut, sieht: Die Rekordhalter in der Ar-
beitslosigkeit waren Sie im Februar 1997, obwohl Sie
Hunderttausende ABM gemacht haben, um die Statistik
zu verschönern. Sie haben weiß Gott kein Recht, mit
dem Finger auf die heutige Regierung zu zeigen. Bei uns
sinkt die Arbeitslosigkeit. Sie sollten das nicht kritisie-
ren. Sie sollten sich mit uns darüber freuen, dass das ge-
lingt.


(Beifall bei der SPD)

Das Gleiche gilt für die Beiträge. Die höchste Bei-

tragsbelastung hatten wir in Ihrer Zeit. Der Rentenbei-
trag lag über 20 Prozent. Alle Trends zeigten nach oben.
Wir haben die Rückentwicklung bei den Beiträgen ein-
geleitet.

Über die Steuern hat Franz Müntefering schon das
Notwendige gesagt. Bei Ihnen gab es die höchste Steuer-
und Abgabenlast. Das haben wir für Arbeitnehmer, aber
auch für Unternehmer – auch für das Handwerk, Ernst
Hinsken – deutlich geändert. Ihr würdet euch rühmen
und preisen lassen, wenn ihr das nur in Ansätzen erreicht
hättet.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Bei Forschung und Entwicklung ging es zu Ihrer Zeit
nach unten, zu unserer Zeit nach oben.

Was die Lebensverhältnisse anbetrifft: Während Ihrer
letzten Legislaturperiode sind die Nettoeinkommen der
Arbeitnehmer Jahr für Jahr gesunken. Zu unserer Zeit
sind sie Jahr für Jahr gestiegen – nicht wegen großartiger
Tarifverträge, sondern wegen der Steuer- und Beitrags-
politik.

Sie sind schlechte Ratgeber. Als Sie handeln konnten,
haben Sie nichts zustande gebracht. Deshalb brauchen
wir Ihre guten Ratschläge heute nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sollten nicht die Sonthofen-Strategie weiterführen,
sondern fragen: Wie kommen wir weiter?

Ich bin dem Bundeskanzler dafür dankbar, dass er
darauf hingewiesen hat, dass es nicht nur Arbeitnehmer-
tugenden, sondern auch Arbeitgebertugenden gibt. Es
gibt auch die Verantwortung der Wirtschaft. Man darf
daran erinnern, wer die Probleme der letzten Jahre mit-
zuverantworten hat.

Wer hat denn die Börsenblase verursacht, die mit
700 Milliarden Euro geplatzt ist? Das waren doch die fa-
mosen Investmentbanker, die den Hals nicht voll kriegen
konnten und die damit eine ganze Volkswirtschaft in
Mitleidenschaft gezogen haben.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Die TelekomAktie war zu teuer!)

Dann wollten sie sich mit hohen Abfindungen ver-
drücken. Sie waren doch immer stolz, den Shareholder-
Value gefördert zu haben. Schau dir an, was aus der stol-
zen Deutschen Bank, was aus der Hypo-Vereinsbank
geworden ist – dank dem Management dieser groß-
artigen Leute. Sie haben allen Anlass, Buße zu tun und
zu schauen, dass die Veranstaltung wieder in Ordnung
kommt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ihr habt die Steuer in deren Sinne geändert! – Michael Glos [CDU/ CSU]: Alles mitbestimmte Unternehmen!)


Meine Damen und Herren, wir wollen dafür sorgen,
dass diejenigen, die etwas unternehmen wollen, wieder
auf die Beine kommen.

Sie beklagen die Konkurse. Creditreform sagt uns:
75 Prozent der Konkurse haben Fehler im Management
zur Ursache – mangelndes Controlling, keine anständige
Buchhaltung, keine Unternehmensplanung, keine strate-
gische Ausrichtung. Wir verlangen Qualitätsverbesse-
rungen nicht nur bei den Arbeitnehmern. Auch die Un-
ternehmer und Mittelständler haben an sich zu arbeiten.
Da gab es viele Schönwetterkapitäne, die ihre Schiffe in
stürmischem Wasser auf Grund gesetzt haben. Das alles
kann man nicht, wie Sie es versuchen, der Politik anlas-
ten. Reden Sie mit Ihren Freunden in der Wirtschaft! Su-
chen Sie die Auseinandersetzung!

Lassen Sie uns den Mittelstand auffordern, jetzt nicht
etwa vor dem Rating davonzulaufen, sondern die Ra-
tinganforderungen dazu zu nutzen, die Unternehmen zu
optimieren! Da ist unglaublich viel nicht in Ordnung.
Das müssen wir miteinander wieder auf Vordermann
bringen.

Schauen Sie sich die Eigenkapitalausstattung der
Unternehmen an. Viele haben zwar in den letzten Jahren
keinen Gewinn gemacht. Aber in früheren Jahren ist
auch zu viel entnommen worden – dank der schlechten
Beratung durch die Steuerberater: Schütt aus, hol zu-
rück! Eine Eigenkapitalausstattung des Mittelstands von
im Durchschnitt 5,8 Prozent kann nicht in Ordnung sein.
Diese Probleme verhindern jetzt den Aufschwung. Diese
Probleme lösen wir. Daran haben Sie überhaupt nicht ge-
rührt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1510002400

Herr Kollege Stiegler, lassen Sie eine Zusatzfrage des

Kollegen Hinsken zu?

(Zuruf von der SPD: Um Gottes Willen!)



Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1510002500

Eine Frage von Herrn Hinsken immer.






(A) (C)



(B) (D)



Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1510002600

Herr Kollege Stiegler, Sie haben eben darauf verwie-

sen, dass zu 75 Prozent Managerfehler die Ursache von
Insolvenzen sind.


Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1510002700

Ja, laut einer Feststellung von Creditreform.

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1510002800

Ich frage Sie: Warum hat die Zahl der Insolvenzen in

der Bundesrepublik Deutschland vor zwei Jahren bei un-
ter 30 000 pro Jahr gelegen und warum hat sie im letzten
Jahr und in diesem Jahr bei über 40 000 gelegen? Haben
hier nur Managerfehler eine Rolle gespielt oder sind
nicht in erster Linie die katastrophale wirtschaftliche
Lage und die verfehlte Wirtschaftspolitik der Bundes-
regierung schuld, dass diese Unternehmen in den Kon-
kurs getrieben wurden?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1510002900

Das sind Ihre berühmten Ablenkungsmanöver, nach

dem Motto: Ist es gut gegangen, waren es die Manager;
sie dürfen sich dann bedienen. Ist es nicht gut gegangen,
ist der Staat schuld.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja, ja! Von wegen!)


Aber erst in schwierigen Zeiten zeigt sich, ob jemand ein
Unternehmer oder nur ein Schönwetterkapitän ist bzw.
ob jemand etwas kann oder eine Pflaume ist.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das gilt in der Politik genauso!)


Hier ist eine Prüfung erforderlich. Sie wissen genauso
gut wie ich, wie viele Betriebe keine ordentliche Buch-
haltung und Unternehmensplanung vorweisen können
und in den letzten Jahren Fehler beim Investitionsverhal-
ten gemacht haben. Ich wehre mich dagegen, dass Sie
diese Situation schamlos ausnutzen wollen, um der Poli-
tik das Versagen anderer in die Schuhe zu schieben, statt
mitzuarbeiten und Rahmenbedingungen zu schaffen, da-
mit sich sowohl Existenzgründer als auch bereits beste-
hende mittelständische Unternehmen am Markt behaup-
ten können, wenn sie ihre Fehler aufgearbeitet haben
und daher in Zukunft mehr leisten können, als sie bisher
bewiesen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, zusammen mit der KfW

unternehmen wir große Anstrengungen, um den Un-
ternehmen die Möglichkeit zu geben, Fehler der Ver-
gangenheit auszubügeln. Ich erinnere an die KfW-
Programme „Unternehmerkredit“, „Unternehmerkapi-
tal“, die Nachrangdarlehen, all die mezzaninen Finanzie-
rungsinstrumente und die True-Sale-Initiative, durch die
die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass der
Wirtschaft Mittel zufließen, wodurch diejenigen, die et-
was unternehmen wollen, vorankommen. Auch die Ban-
ken sollten wir gemeinsam ermuntern, die neuen Ange-
bote der KfW anzunehmen und den Mittelständlern bei
der Finanzierung von Investitionen und neuen Projekten
zu helfen. Das wäre eine Investition in den Aufschwung.
Wenn Sie aber Trübsal blasen und schwarz malen, tun
Sie nichts für den Aufschwung.

Wenn wir also gemeinsam unsere Banken und Spar-
kassen – die Genossenschaftsbanken und Sparkassen
sind in diesem Bereich noch am besten – und auch die
Großbanken dazu bringen, den Mittelstand wieder zu
entdecken, dann kommen wir vorwärts; denn derzeit gibt
es mehr Ideen, als in Produkte und Arbeitsplätze umge-
setzt werden. Das ist die andere Seite der Medaille. Auf
der einen Seite geht es also um die Kalkulierbarkeit der
sozialen Systeme und der Steuern, auf der anderen Seite
aber auch um das Freimachen von Mitteln für neue
Investitionen.

Meine Damen und Herren, das sollten wir miteinan-
der angehen. Hier darf man nicht, wie Herr Braun, sa-
gen: Leute, wandert aus! Man muss vielmehr sagen:
Bleibt da! Teilweise seid ihr durch eure Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer reich geworden. Jetzt habt ihr für
sie auch eine Verpflichtung. Werdet ihr gefälligst ge-
recht!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hier zu Ende zu produzieren und sich dann zu ver-
drücken, das ist die Mentalität, die auf den Kapitalmärk-
ten herrscht. Dagegen spüren viele Mittelständler eine
regionale Verantwortung. Wir sollten ihnen durch unsere
Programme – ob im Bund, in den Ländern oder in den
Gemeinden – helfen, voranzukommen. Der Unterschied
zwischen Ihnen und uns – hier handelt es sich um einen
richtigen Paradigmenwechsel – ist folgender: Sie wol-
len, fehlgeleitet von Professor Sinn, aus Deutschland
eine Niedriglohngesellschaft machen.


(Lachen des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


Wir wollen, angeleitet von Bundeskanzler Gerhard
Schröder und von Franz Müntefering, zu Innovationen
beitragen und Deutschland zu einem Hochlohnland ent-
wickeln, das sich weltweit mit seinen Produkten behaup-
ten kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir können im Wettbewerb mit China oder anderen
nicht mit einfachen Produkten bestehen, sondern wir
müssen all das herstellen, was andere nicht, noch nicht,
nicht so gut, nicht mit der gleichen Zuverlässigkeit oder
der Termintreue liefern können; das ist der richtige
Weg. – Aber Ihr Weg ist der folgende: Manager werden
nach amerikanischem Vorbild bezahlt, die Arbeitnehmer
hingegen bekommen tschechische oder chinesische
Löhne. Das kann nicht angehen und da werden Sie bei
uns auf Granit beißen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was die einfacheren Arbeitsplätze betrifft, haben wir,
Frau Merkel, im Vermittlungsausschuss gemeinsam ein






(A) (C)



(B) (D)


Ludwig Stiegler

Programm beschlossen. Ich hatte heute manchmal den
Eindruck, Sie wüssten gar nicht mehr, was wir in der
Nacht alles miteinander


(Heiterkeit bei der SPD)

beschlossen haben. Sonst könnten Sie hier nicht so re-
den. Was wir beschlossen haben, entspricht zwar nicht
der Koch-Linie – Sie wollten ja ganz herunter mit den
Löhnen –, aber wir haben damit den einfacheren Ar-
beitsplätzen im unteren Tarifsegment eine Chance in
Deutschland eröffnet; das werden auch Sie nicht bestrei-
ten können.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Aber eine falsche!)


Eine Kombination von Markteinkommen und Transfer-
einkommen wird es auch in Zukunft geben. Was wir
aber nicht mitmachen werden, ist Ihre „neue soziale
Marktwirtschaft“. Was Sie vorhaben, ist offensichtlich
eine reaktionäre, alte Wirtschaftsordnung: eine Wirt-
schaft ohne Tarifverträge, auf die man sich stützen kann,
eine Wirtschaft ohne Betriebsverfassung, eine Wirtschaft
mit flächendeckenden Lohnkürzungen. Das kann nicht
unser Ziel sein! Damit werden wir das Land nicht voran-
bringen, sondern damit würden wir uns eher rückwärts
bewegen.

Ich denke, wir sollten uns miteinander der Chancen
besinnen. Noch haben wir einen hohen Exportüber-
schuss und die Wirtschaft ist auf allen Märkten vertreten.
Wir arbeiten mit anderen Ländern zusammen. Noch ha-
ben wir in vielen Bereichen Technologievorsprünge.
Aber nur wenn wir jetzt diese Konzentration auf For-
schung, auf Entwicklung, auf Technologietransfer mit-
einander schaffen, werden wir auch in Zukunft dieser
kleiner werdenden jüngeren Generation die notwendigen
Mittel geben können, damit sie die älter werdende Ge-
sellschaft ertragen und tragen kann, ohne dass sie daran
verzweifeln muss oder wir Älteren daran verzweifeln
müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist die entscheidende Frage, vor der wir hier stehen
und die wir miteinander lösen müssen.

Sie glauben immer, wenn Sie Trübsal blasen, würden
Ihnen die Wählerinnen und Wähler zufliegen. – Das mag
vorübergehend gelingen. Der Stoiber hat sich preisen
lassen als der, der die Insel der Seligen regiert, auf der es
keine Probleme gibt. Die Bayern wissen inzwischen,
dass es anders ist: Er hat nach der Landtagswahl etwas
ganz anderes gemacht, als er vorher den Leuten verspro-
chen hat.


(Jörg Tauss [SPD]: Betrug! – Peter Dreßen [SPD]: Er gehört vor einen Lügenausschuss!)


Mit diesem Manöver – tarnen und täuschen – werden Sie
nicht länger durchkommen. Sie müssen sich der Wahr-
heit stellen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Nur drei bayerische Genossen sind heute da!)

Wir müssen vor allem die wirtschaftlichen Chancen
nutzen, die sich uns bieten. Dieses Land hat ideale Chan-
cen. Mein Gott, welches Land der Erde sollte nicht in
Verzweiflung geraten, wenn schon Deutschland keine
Chance hätte, mit den Problemen fertig zu werden? Hö-
ren Sie deshalb endlich auf, schwarz in schwarz zu ma-
len! – Sie sind schon schwarz genug.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nehmen Sie zur Kenntnis: Schwarz ist die Farbe des
Winters, rot-grün ist die Farbe des Frühlings und des
Sommers.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Auch der Herbst hat schöne Tage!)


Lassen Sie uns die Winterstarre und die Depression
überwinden und neue Aktivität entfalten. Raus aus dem
Gebüsch! An die Arbeit!


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: So was ist doch primitiv!)


Michael Glos, nimm dein Johanniskraut, dann geht es
dir auch wieder besser! Glückauf!


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1510003000

Das Wort hat nun der Vorsitzende der FDP-Fraktion,

Dr. Wolfgang Gerhardt.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1510003100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle

sind von Optimismus beseelt und ich als Vorsitzender
der FDP-Bundestagsfraktion ohnehin. In den Wirren der
Zeit ist man als Liberaler zu Optimismus geradezu ver-
pflichtet. Das muss mir deswegen niemand einreden,
Herr Kollege Stiegler.

Optimismus trägt nur, wenn man die Strukturschwä-
chen klar diagnostiziert, die Kennziffern benennt und
sich über die wahre Lage nicht täuscht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Bundeskanzler hat vorgetragen – ich fasse das ange-
sichts der Kürze der Zeit sehr zusammen –, wir seien
Exportweltmeister. Das ist richtig und falsch zugleich.
Wir sind nicht mehr Exportweltmeister in dem Sinne,
dass wir wie früher Produkte exportieren, die in
Deutschland hergestellt werden. Wir sind Exportwelt-
meister, weil uns in der Wertschöpfungskette noch die
Chance geboten wird, in Deutschland Produkte herzu-
stellen, wir aber gleichzeitig Produkte in anderen Län-
dern herstellen lassen – ich nenne das Stichwort Globali-
sierung –, denen wir deutsche Labels aufkleben.

Herr Bundeskanzler, ich nenne Ihnen ein Beispiel, das
Herr Professor Sinn in seinem Buch „Ist Deutschland
noch zu retten?“ aufzeigt. Es handelt sich um ein be-
stimmtes Auto, das mir sehr gefällt. Das müsste eigent-
lich in der Firma hergestellt werden, zu der Sie schon
immer eine große politische Anhänglichkeit bewiesen






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Gerhardt

haben. Tatsächlich wird es in der Slowakei von slowaki-
schen Ingenieuren und Arbeitnehmern hergestellt, er-
scheint aber in der Bilanz des deutschen Exportwelt-
meisters. Das ist zwar für die Slowakei gut, es kann aber
nicht unsere ökonomische Zielvorstellung davon sein,
dass Plätze für Deutschland in der Wertschöpfungskette
im Zuge der Globalisierung verloren werden. Deshalb ist
der Titel Exportweltmeister eine Täuschung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auf dem letzten Kongress der IG Metall traf ich Be-
triebsratsvorsitzende, die mir begeistert erklärt haben:
Wir sind Exportweltmeister und deshalb können wir bei
der nächsten Tarifverhandlungsrunde zulegen. Uns geht
es doch eigentlich gut. – Wenn Sie mit dem Begriff
Exportweltmeister die Öffentlichkeit und sich nicht täu-
schen wollen, dann müssen Sie dem entgegentreten und
bei diesem Begriff differenzieren. Das gehört zu dieser
Debatte.

Ich komme nun zu einigen Daten. Da ich nicht die
Zeit habe, mich über Daten zu streiten, nehme ich die
Daten, die Sie zum Europäischen Gipfel vorgelegt be-
kommen haben. Sie haben in Lissabon eine Strategie be-
schlossen, Europa bis 2010 zum dynamischsten, innova-
tivsten und am meisten auf Wissen basierten Raum der
Welt zu machen. Damals haben Sie verkündet: Das krie-
gen wir hin; mit einem Wachstum von 3 Prozent nähern
wir uns der Vollbeschäftigung.

Jetzt ist in den Kommuniqués zu lesen, das Wachstum
habe im letzten Jahr 0,8 Prozent betragen, bestenfalls
werde es bei 1,25 Prozent liegen. Das Wachstum in
Deutschland wird wahrscheinlich noch darunter liegen.
Das Defizitkriterium ist nicht eingehalten worden. Das
Pro-Kopf-Inlandsprodukt der Europäischen Union be-
trägt 72 Prozent des Pro-Kopf-Inlandsprodukts der Ver-
einigten Staaten. Wir wissen, dass Sie die Wirtschafts-
politik der Vereinigten Staaten nicht sonderlich mögen,
aber dennoch sollten Sie einmal darüber nachdenken,
warum wir nur 72 Prozent erreichen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In Europa haben wir einen Produktivitätszuwachs von
0,5 bis 1 Prozent, die Vereinigten Staaten haben dagegen
einen von 2 Prozent. Daraus ergibt sich doch – das ist bis
jetzt unausgesprochen geblieben –, dass wir nicht dyna-
misch und nicht wettbewerbsfähig genug sind. Politische
Führung geht nicht ohne ökonomische Kompetenz.


(Beifall bei der FDP)

Ökonomische Kompetenz will sich bei Ihrer Partei nicht
einstellen. Das hat der Parteitag am Wochenende wieder
gezeigt.


(Jörg Tauss [SPD]: Waren Sie dort auch?)

Das, was wir mit Europa erreichen wollen – das ist doch
auch in Ihrem Interesse –, dass wir nämlich eine Global-
Player-Rolle einnehmen, wodurch wir Armut bekämpfen
und Stabilität und soziale Sicherheit schaffen können,
wird von Ihnen in Ihrer Politik nicht berücksichtigt. Sie
tragen dazu nicht bei.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Es ist
uns nicht wirklich gelungen, die Steuern zu senken und
die sozialen Sicherungssysteme wirklich zu reformie-
ren. Herr Bundeskanzler, Sie haben die sozialen Siche-
rungssysteme doch nicht richtig reformiert. Die
Agenda 2010 ist eine Schmalspurreform. Wir haben
noch die Großbaustelle bei den Langzeitarbeitslosen.
Wir haben noch keinen Wettbewerb im Gesundheitswe-
sen. Der ganze Streit der Linken in Ihrer Partei hat sich
darauf beschränkt, ob das Rentenniveau in der gesetzli-
chen Rentenversicherung bei 46 oder 43 Prozent liegen
soll. Wenn das das letzte Großprojekt der deutschen Lin-
ken war, dann zeigt das, dass die intellektuelle Armut
gar nicht mehr zu überbieten ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Der redet von Wettbewerb im Gesundheitswesen? Unglaublich!)


Die Rente ist noch nicht sozial sicher, selbst wenn wir all
die Reformen hätten. Sie haben sie aber noch nicht
durchgeführt. Deshalb sind Sie in der heutigen Regie-
rungserklärung ganz deutlich hinter den Zielen der
Agenda 2010, die Sie im letzten März verkündet haben,
zurückgeblieben.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Er hat Bilanz gezogen!)


Das kann man ganz klar feststellen.
Sie haben auch nichts gesagt, was darüber hinausgeht,

außer in einem Punkt, den ich jetzt aufgreifen möchte,
weil er in richtiger Weise angesprochen worden ist, weil
aber die Konsequenzen offen geblieben sind. Das größte
Innovationspotenzial in einer Gesellschaft liegt bei den
Kindern. Selbst wenn wir niedrigere Steuern hätten und
alles so geregelt wäre, wie ich mir das vorstelle, gäbe es
überhaupt noch keinen Optimismus im Land, wenn es
nicht Menschen gäbe, die diese Signale aufnehmen. Ge-
hen wir von dem Innovations- und Fragedruck der Kin-
der, also der nachwachsenden Generation, aus. Das ha-
ben Sie richtig beschrieben.

Dem werden Sie mit Ihrer Erklärung und der Konse-
quenz daraus aber nicht gerecht. Der wettbewerblichen
Neugier der Kinder, die sich im Bildungssystem bis hin
zu den Universitäten mit immer größerem Frage- und
Forderungsdruck stufenweise entfaltet, bieten Sie in Ih-
rer sozialdemokratischen und rot-grünen Vorstellungs-
welt überhaupt kein adäquates Bildungssystem an: Es ist
nicht wettbewerblich organisiert, die Abschlüsse qualifi-
zieren nicht ausreichend


(Jörg Tauss [SPD]: Bitte?)

und es führt nicht in überschaubarer Zeit zu einem Stu-
dienabschluss.

Das Angebot, Ganztagsschulen einzurichten, um eine
bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu errei-
chen, ist doch nicht die Antwort auf die Kernfrage des
Bildungswesens.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Gerhardt

Die Kernfrage des Bildungswesens lautet, ob Rot-Grün
diesem Bildungswesen wettbewerbliche Strukturen ge-
ben will, die der Entwicklung der Talente bei den Kin-
dern entsprechen. Herr Bundeskanzler, bei aller verfas-
sungsrechtlichen Zuständigkeit der Länder kann man
Ihre Glaubwürdigkeit in dieser Kernfrage hier im Hause
überprüfen. Wenn Sie glaubwürdig sein wollen, dann
müssen Sie den Hochschulen Autonomie geben, das
Hochschulrahmengesetz des Bundes ändern und den
Hochschulen die Auswahl ihrer Studentinnen und Stu-
denten selbst überlassen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Diese politische Kernentscheidung müsste in diesem
Bundestag getroffen werden. Damit würde ein Signal für
die Wettbewerbsfähigkeit des Bildungswesens gegeben.


(Jörg Tauss [SPD]: So ein Blech! Sie reden nur Blech!)


Hier redet niemand von der Opposition, der nicht
wünschte, dass Deutschland wettbewerbsfähiger würde.
Ich wünsche mir auch, dass wir weniger Arbeitslose ha-
ben. Ich habe mich aber nie zu der Bemerkung des Bun-
deskanzlers verstiegen, mich daran messen zu lassen,
wie weit ich die Arbeitslosenzahl senken werde. Herr
Bundeskanzler, Sie müssen es nicht mehr erwähnen; je-
der weiß es ja. Ich käme mir an Ihrer Stelle aber doch
komisch vor: Sie haben hier eine solche Regierungser-
klärung abgegeben, ohne sich an die allererste Regie-
rungserklärung, die Sie abgegeben haben, zu erinnern.
Da haben Sie gesagt, Sie wollten an der Zahl der Ar-
beitslosen in Deutschland gemessen werden, und mein-
ten im übertragenen Sinne, Sie hätten es nicht verdient,
in diesem Amt zu bleiben, wenn Ihnen die versprochene
Senkung nicht gelänge. Herr Bundeskanzler, wenn Sie
sich daran gehalten hätten, dann hätten Sie heute Mor-
gen hier gar nichts mehr erklären dürfen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das alles hat auch mit der Sozialfrage zu tun. Ihre

Partei diskutierte die Sozialfrage auf dem Parteitag nach
dem Motto: Der größte Sozialpolitiker ist derjenige, der
anderen so tief in die Tasche greift, dass er etwas zur
Umverteilung herausholen kann.


(Jörg Tauss [SPD]: Mein Gott!)

Das ist in Ihren Reihen unausrottbar. Ich glaube, dass
sich die Kompetenz der Politik und die soziale Kompe-
tenz einer Gesellschaft an der Zahl der Arbeitsplätze
zeigt und nicht an der Höhe der sozialen Sicherungsmaß-
nahmen, wie Sie in der SPD sie permanent diskutieren.


(Beifall bei der FDP)

Das ist hier kein Wettbewerb, bei dem die einen Posi-

tives für Deutschland wollen und die Opposition in Ge-
stalt der FDP-Bundestagsfraktion, die ich zu vertreten
habe, alles schlechtreden will. Sie haben jetzt bereits seit
einigen Jahren die Regierungsverantwortung und müs-
sen sich fragen lassen, ob Sie im Kern eine neue Be-
schäftigungsdynamik, eine größere Wettbewerbsfähig-
keit, ein stärker wettbewerbliches Bildungswesen, ein
besseres Gesundheitswesen und die Lissabon-Strategie
zustande gebracht haben.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Wir sind immer besser als Sie! Es ist besser als früher!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1510003200

Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1510003300

Ich komme sofort zum Schluss. – Man kann nicht mit

diesem geringen Anspruch sagen, es sei nicht mehr viel
zu besorgen; es sei nur noch die Eigenheimzulage zu
streichen, damit Investitionen im Bildungswesen finan-
ziert werden könnten.

Nein, die Agenda 2010 war schmal genug. Dieses
Land kommt nur dann wieder auf die Beine, wenn die
politische Führung – das meine ich bezogen auf alle
Gruppierungen und Parteien – die notwendige Courage
hat, die Öffentlichkeit unnachgiebig und wiederholt mit
großen Veränderungen vertraut zu machen


(Florian Pronold [SPD]: So wie Sie bei der Handwerksordnung!)


und ihr klare Ziele und Perspektiven zu benennen. Dem
sind Sie heute nicht gerecht geworden. Das war eine
reine Modernisierungsrhetorik.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Sie sind wie der Wegweiser, der den Weg selber gar nicht geht!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1510003400

Nun hat die Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die

Grünen, das Wort.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510003500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Meine drei Minuten Redezeit möchte ich für einige
Bemerkungen nutzen.

Erste Bemerkung. Frau Merkel hat dem Kanzler vor-
geworfen, er würde lügen und betrügen und sich nicht
um Menschen wie beispielsweise die Krankenschwester
und den Polizisten kümmern. Sehr geehrte Frau Merkel,
ich möchte Ihnen an dieser Stelle sagen, was ich für Be-
trug halte. Ich halte es zum Beispiel für Betrug, wenn die
Mitglieder Ihrer Partei mit Herrn Merz an der Spitze
durchs Land reisen und der deutschen Bevölkerung eine
Vereinfachung des Steuersystems versprechen, aber
nicht gleichzeitig die Rechnung präsentieren. Das Ver-
sprechen mit der Steuererklärung auf einem Bierdeckel
können Sie nicht einlösen. Das halte ich für einen Betrug
an der deutschen Bevölkerung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich halte es auch für Betrug, wenn Sie auf der Grund-
lage des Herzog-Konzepts bei der Gesundheitsreform
Änderungen vorschlagen, die den Menschen nicht scha-
den, sondern nutzen sollen. Bei diesem Vorschlag mit






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Thea Dückert

der Kopfpauschale – das ist das Gleiche wie mit der
Steuererklärung auf dem Bierdeckel nach Herrn Merz –
bleiben Sie uns den sozialen Ausgleich schuldig. Grob
gerechnet ergibt sich nach Ihren Konzepten eine Finanz-
lücke von etwa 50 bis 60 Milliarden Euro. Frau Merkel,
wissen Sie, was das ist? Genau wie die Sache mit dem
Bierdeckel ist das eine Zechprellerei gegenüber der deut-
schen Bevölkerung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Immer wenn es bei Reformkonzepten um die harten
Fakten geht, muss man auch die Finanzierung berück-
sichtigen. Dabei fällt mir jedes Mal – ich höre immer gut
zu – ein Spruch von Lichtenberg ein: Ach, wäre es doch
heiße Luft gewesen. Allein, es war nur ein wehendes Va-
kuum. – Das sage ich Frau Merkel als Physikerin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zweite Bemerkung. Wir haben ein gutes Beispiel für
die typische Politik der Opposition erlebt. Als der Kanz-
ler den konkreten Vorschlag gemacht hat, durch Subven-
tionsabbau, die Streichung der Eigenheimzulage, Mittel
für die Bildung freizusetzen, was haben wir von Ihnen
gehört? Sie haben sich dazu nicht geäußert. Ich hätte
gerne gewusst, ob Sie diesen Vorschlag für diskussions-
würdig und interessant halten. Nein, Sie haben mit stolz-
geschwellter Brust darauf hingewiesen, dass Sie im Bun-
desrat im Winter letzten Jahres die Streichung von
Subventionen vereitelt haben. So wird ein Schuh daraus.
Wenn Sie den Bundesrat nicht permanent als Bremse
nutzen würden, dann wären wir in Deutschland mit den
Reformen schon weiter: beim Subventionsabbau, bei der
Steuerreform, der Entlastung der Kommunen und der
Einschränkung der Frühverrentung. Auch die Gesund-
heitsreform sähe heute anders aus und wir hätten mehr
Wettbewerb im System.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die drei Minuten sind um!)


Frau Merkel, Sie haben uns einen Einblick in die Art
gegeben, wie Sie Politik machen. Wir durften einen
Blick auf Ihre schwarze Agenda werfen. Sie haben das
mit dem Begriff Paradigmenwechsel verschleiert. In
Wirklichkeit ist Ihr Rezept für eine hoch entwickelte Ge-
sellschaft der Wechsel hin zu einem Niedriglohnland,
um zum Beispiel mit Tschechien konkurrieren zu kön-
nen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn!)

Ich halte das für dummes Zeug, ökonomischen Unsinn
und arbeitsmarktpolitisch für nicht hilfreich.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Angela Merkel [CDU/ CSU]: Na, na, na!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1510003600

Das Wort hat nun der Kollege Laurenz Meyer, CDU/

CSU-Fraktion.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut! – Jörg Tauss [SPD]: Der auch noch! Uns bleibt auch nichts erspart! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Klügsten sind auch mal ruhig, Herr Tauss! Nur die Dümmsten schwätzen immer!)



Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1510003700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war

schon spannend, heute in der Debatte zu sehen, dass sich
die Regierungskoalition überhaupt nicht mit der Regie-
rungserklärung des Bundeskanzlers beschäftigt hat, son-
dern ausschließlich mit der Rede von Frau Merkel.


(Jörg Tauss [SPD]: Die war schlecht genug!)


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Woran liegt das? Sie hat als Einzige die Punkte ange-

sprochen, mit denen sich die Menschen in Europa be-
schäftigen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Während sich die Leute in Europa mit dem Gesundheits-
system, dem Rentensystem, dem Steuersystem und den
Arbeitsmarktgesetzen auseinander setzen, haben Sie sich
die letzten Monate ausschließlich mit dem Fiasko bei der
Maut und dem Dosenpfand beschäftigt. Herr Trittin, der
Gott sei Dank noch hier sitzt,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das freut Sie offensichtlich! Laurenz Meyer freut sich!)


hat davon gesprochen, dass der Arbeitsplatzabbau in der
Getränkeindustrie gewollt sei. Er hat es inzwischen ge-
schafft, selbst ein so gutes Instrument wie den Emissi-
onshandel zu einem Instrument zu machen, mit dem in
Deutschland Arbeitsplätze systematisch vernichtet wer-
den sollen. Ich bin gespannt, ob Herr Clement durchhält.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es wäre allerdings das erste Mal, dass er durchhält; denn
bisher hat er praktisch nichts vorzuzeigen.

Es wurde wieder davon gesprochen, dass Deutschland
Exportweltmeister sei. Herr Gerhardt hat das Richtige
dazu gesagt, nämlich dass wir nur deshalb Exportwelt-
meister sind, weil wir so viel im Ausland produzieren
und unsere Produkte nur dadurch konkurrenzfähig sind.
Das hat Herr Braun im Kern – lesen Sie es nach – ausge-
sprochen. Dafür wird er heute von Herrn Stiegler ver-
hauen. Der Generalsekretär der SPD, Herr Benneter, hat
das gestern noch im Rundfunk gemacht. Der Bundes-
kanzler hat sich aber schon einen Tag vorher mit Herrn
Braun ausgesprochen und um gutes Wetter gebeten.

Ich finde, diese Scheinheiligkeit ist wirklich durch
nichts mehr zu überbieten: hinten herum telefonieren
und gutes Wetter machen und nach vorne schimpfen, um
die eigenen Wähler zu bedienen. Das ist scheinheilig bis
zum Gehtnichtmehr.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Laurenz Meyer (Hamm)


Herr Müntefering, lassen Sie mich bitte einen Punkt

ganz klar ansprechen, weil wir gerade beim Stichwort
„scheinheilig“ sind.


(Ute Kumpf [SPD]: Das passt gut, Herr Meyer!)


Was war eigentlich los, als in Österreich eine Koalition
der Österreichischen Volkspartei mit den Freiheitlichen
von Herrn Haider am Himmel auftauchte? Österreich
sollte ausgestoßen und nicht mehr an EU-Konferenzen
beteiligt werden. Jetzt ist die Schwesterpartei der SPD in
Österreich mit Herrn Haider in Kärnten ins Bett gestie-
gen – und kein Wort von der deutschen SPD zu diesem
aus ihrer Sicht vorher noch skandalösen Vorgang!


(Michael Glos [CDU/CSU]: Unglaublich!)

Das nenne ich scheinheilig bis zum Gehtnichtmehr. In
der Zukunft sollten Sie Ihre Glaubwürdigkeit an der Gar-
derobe abgeben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Schröder hat gesagt, Deutschland stehe heute
besser da als noch vor zwölf Monaten. Ich frage mich,
woraus er das schließt. Anschließend hat er sich ausgie-
big mit der Situation insbesondere von Frauen beschäf-
tigt, die berufstätig sein und gleichzeitig Kinder haben
wollen. Er hat allerdings keine konkreten Vorschläge ge-
macht. Sie, die Frauen in der SPD-Fraktion, haben allen
Ernstes für das, was er vorgetragen hat, geklatscht. Das
ist doch wirklich die Höhe. Seit zwei Jahren versprechen
Sie den Frauen mickrige 4 Milliarden Euro für die
Ganztagsbetreuung in ganz Deutschland.


(Widerspruch bei der SPD)

Seit zwei Jahren ist aber kein müder Euro geflossen. Seit
zwei Jahren nur Rederei! Rot und Grün haben in den
letzten zwei Jahren nichts, aber auch gar nichts getan,


(Nicolette Kressl [SPD]: Und was haben Sie gemacht?)


um die Situation von Familien mit Kindern zu verbes-
sern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn das, was der Bundeskanzler heute hier vorgetra-
gen hat, Ihr Familienbild ist, dann muss ich Ihnen sagen:
Das ist ein antiquiertes Familienbild.


(Lachen bei der SPD – Ute Kumpf [SPD]: Herr Meyer, Sie sind wirklich scheinheilig!)


Denn politisches Taktieren hat bei der Entscheidung von
jungen Familien, ob sie berufstätig sein wollen oder
nicht, wenn sie Kinder haben, überhaupt nichts zu su-
chen. Wir müssen beides möglich machen. Das ist un-
sere Philosophie.


(Widerspruch bei der SPD)

– Dass Sie sich aufregen, kann ich verstehen. Das ist of-
fensichtlich ein Schuss ins Schwarze.


(Florian Pronold [SPD]: Der Chefredakteur der „Emma“ spricht zu uns!)

Der Bundeskanzler hat die Situation in Frankreich
angesprochen. In Frankreich ähneln die finanziellen
Rahmenbedingungen denjenigen, die wir in unserem
Steuerkonzept vorschlagen.


(Ute Kumpf [SPD]: Das haben auch Sie festgestellt, Herr Meyer? Wunderbar!)


Die jungen Familien werden ganz wesentlich finanziell
entlastet. Es gibt kein Entweder-oder von Ganztagsbe-
treuung und finanzieller Entlastung. In Frankreich findet
beides statt und das hat sich ausgewirkt. Wenn wir nicht
beides gleichzeitig machen, werden wir keine Erfolge
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Mit den 4 Milliarden Euro können Sie gerade einmal
Einrichtungen für das Kochen des Essens bezahlen, aber
nicht die Ganztagsbetreuung und den Ganztagsunter-
richt. Da müssen Sie schon wesentlich tiefer in die Ta-
sche greifen. Es hilft auch nicht, das den Gemeinden zu-
schieben zu wollen, wie Sie es machen.


(Ute Kumpf [SPD]: Herr Meyer, Sie sind falsch informiert!)


– Sie werden sich noch freuen, wenn Sie im September
nicht zur Oberbürgermeisterin gewählt werden, weil Sie
dann nämlich nicht für das geradestehen müssen, was
der Bundeskanzler Ihnen auf die Nase drücken will. Sie
werden dann anschließend wieder hier sitzen und sich
freuen, dass Sie nicht gewählt worden sind – was für
Stuttgart allerdings besser ist.

Des Weiteren ist angesprochen worden, dass endlich
die Situation von Migranten und unterprivilegierten Fa-
milien im heutigen Schulsystem angegangen werden
müsse.


(Jörg Tauss [SPD]: Was ihr verhindert habt!)

Wenn Sie überall in Deutschland für die Bildungspolitik
zuständig wären, dann Gnade uns Gott!

Bei den PISA-Studien ist herausgekommen, dass in
meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen – Sie müssten
das Ihrer Fraktion erzählen, Herr Poß – die deutschen
Kinder schlechtere Ergebnisse erzielt haben als die Aus-
länderkinder in Bayern.


(Joachim Poß [SPD]: Den Unsinn, den Sie reden, soll ich nacherzählen? Das glauben Sie doch wohl selbst nicht!)


Das ist die Situation. Die Ausländerkinder in Bayern ha-
ben bei der PISA-Studie bessere Ergebnisse erzielt als
die deutschen Kinder in Nordrhein-Westfalen.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist Unfug, was Sie hier erzählen! Sie können noch nicht einmal Studien lesen, Herr Meyer! Das ist Ihr Problem!)


– Sie wissen das gar nicht. Ich weiß, dass Sie das trifft.
Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie wären in Deutsch-
land für die Bildungspolitik zuständig.


(Jörg Tauss [SPD]: Bei euch ist das die zweite Liga!)







(A) (C)



(B) (D)


Laurenz Meyer (Hamm)


Dann ginge es darum, wie Sie die Finanzierung sichern
wollen, und um die Eigenheimzulage. Frau Merkel hat
es schon angesprochen: Stellen Sie sich vor, sie wäre bei
einem Ihrer zwei Versuche gestrichen worden. Das ist
wie früher beim Jäger 90 und den Grünen. Bei jeder Fi-
nanzierung wurde der Jäger 90 angeführt. Jetzt ist es die
Eigenheimzulage. Die CDU/CSU-Fraktion wird aber die
Eigenheimzulage nicht antasten, solange nicht wesent-
lich niedrigere Steuern für den Einzelnen dies möglich
machen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die heutige Debatte hat wieder gezeigt, dass Sie ver-

suchen, die Probleme nicht mehr anzusprechen, und dass
Sie weder über das Thema Gesundheit noch über Steu-
ern und Arbeitsmarktveränderungen in anderen Ländern
eine erfolgreiche Diskussion führen.


(Widerspruch bei der SPD)

Dadurch wollen Sie Ihre eigene Basis beruhigen und
vielleicht die Austrittswelle vorübergehend stoppen.


(Jörg Tauss [SPD]: Mein Gott, ist das ein Niveau!)


Den Spagat, den Sie bisher in der Partei versucht ha-
ben und der schon mit zwei Beinen nicht geklappt hat,
versuchen Sie nun mit vier Beinen. Deswegen meine ich,
Sie sollten wirklich wissen, was für Deutschland ange-
sagt ist, nämlich eine klare Analyse. Sie sollten zumin-
dest Maßnahmen vorschlagen und sich an der Diskus-
sion beteiligen, die wir Ihnen zu den von uns
aufgeführten konkreten Handlungsfeldern vorschlagen.


(Jörg Tauss [SPD]: Haben Sie das vor? Fangen Sie mal an, etwas vorzuschlagen!)


Sie haben doch den Vorteil, dass die Opposition klare
und präzise Vorstellungen vorgelegt hat.


(Lachen bei der SPD – Zuruf von der SPD: Wo denn? – Jörg Tauss [SPD]: Sie hat noch nicht mal die CDU verdient!)


Sie sind damit in einer viel besseren Situation als jemals
eine Regierungspartei vor Ihnen.

Heute ist hier gesagt worden: Wir machen so weiter
wie bisher. – Das müssen die Bürger in unserem Land
als nichts anderes als eine Drohung empfinden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] – Jörg Tauss [SPD]: Peinliche Veranstaltung! – Joachim Poß [SPD]: Herr Meyer ist unbestechlich! Der nimmt nicht einmal Vernunft an!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510003800

Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nicolette Kressl (SPD):
Rede ID: ID1510003900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gesellschaftspolitische Innovationen, Vereinbarkeit von
Familie und Beruf, hervorragende Bildung und Ausbil-
dung und eine ausgezeichnete Lehre und Forschung sind
die großen Herausforderungen für die nächsten Jahr-
zehnte, vor denen wir stehen. Deshalb habe ich erwartet,
dass irgendjemand von der Opposition, der CDU/CSU,
wenigstens den Hauch einer Konzeption für eine gesell-
schaftspolitische Erneuerung bringt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das ist zu viel verlangt!)


Frau Merkel hat in ihrer Rede dazu nur einen halben
Satz gesagt, in dem sie beschrieben hat, was nach ihrer
Meinung in der Kinderbetreuung nicht angeht. Was Herr
Meyer gerade vorgetragen hat, war nun wirklich – –


(Jörg Tauss [SPD]: Unter aller Sau! – Heiterkeit bei der SPD)


Es ist eigentlich nicht zu beschreiben.
Fangen wir mit der PISA-Studie an. Herr Meyer, ich

würde Ihnen dringend empfehlen, Nachhilfeunterricht
zu nehmen. Denn das, was Sie ausgeführt haben, ist ein
Beleg für die Richtigkeit der PISA-Studie.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Wenn Sie nämlich die Pisa-Studie richtig lesen, dann
werden Sie zum Beispiel erkennen, dass in keinem ande-
ren Land außer in Deutschland – im Übrigen ganz be-
sonders in Bayern – die soziale Herkunft eines Kindes,
ob Mädchen oder Junge, darüber entscheidet, ob es be-
rufliche Ausbildungs- und Fortbildungschancen hat. Das
ist der Kernpunkt der PISA-Studie. Dazu haben Sie kein
einziges Wort gesagt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich empfehle Ihnen dringend, Studien so zu lesen, wie
sie sind, und nicht die wichtigen Teile zu verschweigen.

Wenn ich davon ausgehen muss, dass Sie es eigent-
lich gelesen haben, aber hier nicht erwähnen, dann ist
das für mich wieder einmal der Beweis dafür, welches
Menschenbild Sie haben und wie Sie soziale Gerechtig-
keit definieren. Ich sage Ihnen: Sozialdemokraten wür-
den mit jungen Leuten und deren Chancen nie so umge-
hen. Ich bin froh, dass wir die Verantwortung für das
haben, was in diesem Bereich läuft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hinzu kommt: Sie erzählen in Ihren Sonntagsreden
immer unheimlich viel von Familie und von der Verein-
barkeit von Familie und Beruf sowie von Bildung und
Ausbildung.


(Jörg Tauss [SPD]: Sonntagsreden!)

Heute geht es hier in einer wichtigen Debatte um genau
das; dennoch wird in den Beiträgen Ihrer Hauptrednerin-
nen und -redner die Frage der Vereinbarkeit nicht behan-






(A) (C)



(B) (D)


Nicolette Kressl

delt. Daraus kann ich nur schlussfolgern: Es handelt sich
hierbei für Sie immer noch um das gesellschaftspoliti-
sche Sahnehäubchen, nach dem Motto: Wenn wir noch
etwas übrig haben, dann machen wir da etwas.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Kernpunkt ist aber, dass Bildung, Ausbildung
und Qualifikation nicht nur mit Gesellschaftspolitik,
sondern auch mit Wirtschaftspolitik zu tun haben. Mit
der Frage, wie wir die Startchancen junger Menschen
verbessern können, geht die Entscheidung einher – das
will ich Ihnen deutlich sagen –, welche Köpfe in
Deutschland in Zukunft für die Wettbewerbsfähigkeit
des Landes sorgen.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Stellen Sie sich mal vor, Sie hätten in Deutschland dafür die Zuständigkeit gehabt! Fürchterlich!)


Ich bin deshalb so froh, dass der Bundeskanzler wich-
tige Teile seiner Rede genau dieser Frage gewidmet hat.


(Beifall bei der SPD)

Wir haben nämlich erkannt, dass es sich nicht um das
Sahnehäubchen handelt, sondern dass es hierbei um den
Kernpunkt bei der künftigen wirtschaftlichen Entwick-
lung geht.

Ich will Sie auf eine Studie des IAB, des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur
für Arbeit, verweisen, die verdeutlicht, dass in den Jah-
ren 1995 bis 2010 1,5 Millionen Arbeitsplätze für unge-
lernte Kräfte verloren gehen werden. Das heißt: Sowohl
die Frage der sozialen Gerechtigkeit für die Menschen
und deren Lebenschancen als auch die Frage der wirt-
schaftlichen Entwicklung hängen damit zusammen, ob
wir die Potenziale, die es bei uns gibt, in Zukunft auch
wirklich nutzen können.

Wir lassen noch viel zu viele Potenziale bei den jun-
gen Menschen, die wir nicht ausreichend und nicht früh
genug fördern, brachliegen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!)

Für uns ist die Frage der Betreuung, der Erziehung und
der frühkindlichen Bildung entscheidend.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ilse Falk [CDU/CSU]: Aber das wird doch nicht umgesetzt!)


Deshalb sieht unser Programm vor, dass die 1,5 Milliar-
den Euro aus den Ersparnissen durch die Zusammenle-
gung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in die Kassen
der Kommunen fließen.


(Ilse Falk [CDU/CSU]: Wo sind denn die Ersparnisse? Die Kommunen sollten entlastet werden!)


Wenn Sie gestern einmal in die Zeitung geschaut ha-
ben, dann wissen Sie: Familienministerin Renate
Schmidt hat mit den kommunalen Spitzenverbänden ver-
einbart, dass wir die Verantwortung dafür übernehmen,
dass die 1,5 Milliarden Euro – insgesamt 2,5 Milliarden
Euro – tatsächlich bei den Kommunen ankommen. Auch
Franz Müntefering sagt es immer wieder: Dazu stehen
wir. Gleichzeitig können wir mit den Kommunen den
Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige orga-
nisieren.

Ich will Ihnen noch etwas sagen: Ich kann gut verste-
hen, dass die Kommunen nach 16 Jahren Ihrer Regie-
rungspolitik etwas misstrauisch sind.


(Beifall bei der SPD)

Wenn ich mit den Kommunen über den Ausbau der Kin-
derbetreuung rede, dann erinnern sie mich immer an Ihre
Regierungszeit.


(Jörg Tauss [SPD]: Ja!)

Wir haben damals mehrmals beantragt, dass der Bund
Verantwortung für die Kosten zur Gewährleistung des
Rechts auf einen Kindergartenplatz übernimmt; bei den
Kommunen ist allerdings nichts angekommen. Es war
Ihre Regierungszeit, die die Kommunen so misstrauisch
gemacht hat.


(Beifall bei der SPD)

Der Umstand, dass es den Kommunen nicht leicht

fällt, zu vertrauen, veranlasst uns, eine Finanzierungs-
garantie zu geben. Die Tatsache, dass Sie im Vermitt-
lungsausschuss mitverantwortlich dafür sind, hat dazu
geführt, dass sich bei der Gewerbesteuerreform keinerlei
strukturelle Verbesserungen ergeben haben. Auch das
haben Sie zu verantworten. Es ist scheinheilig, sich hier
hinzustellen und zu fragen, wie es den Kommunen geht,
wenn Sie im Vermittlungsausschuss eine strukturelle Ge-
werbesteuerreform verhindern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das ist die Wahrheit!)


Im Übrigen haben Sie schon Jahre zuvor die Gewerbe-
steuer so weit ausgehöhlt, dass es überhaupt nötig war,
strukturelle Reformen vorzunehmen.

Ich finde, Sie sollten wirklich den Mund halten, wenn
es um die Frage geht: Wie unterstützen wir die Kommu-
nen bei der Kinderbetreuung?


(Beifall bei der SPD)

Es geht aber nicht nur um die Förderung von Kindern.

Wir lassen natürlich auch Potenzial brachliegen, wenn
wir nicht für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
sorgen. In volkswirtschaftlicher Hinsicht dürfen wir es
nicht mehr zulassen, dass die Gesellschaft zwar inzwi-
schen über die am besten qualifizierten Frauen verfügt,
dass wir ihnen aber nicht die Möglichkeit geben, ihre
Potenziale, ihre Kreativität und ihr Können in die Wirt-
schaft einzubringen, weil es uns nicht gelingt, ihnen in
ausreichendem Maße Betreuungsmöglichkeiten schon
im Bereich der unter Dreijährigen anzubieten. Ich halte
das für einen ganz wesentlichen wirtschaftspolitischen
Faktor. Deswegen weisen wir ständig darauf hin, dass
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht das Sah-
nehäubchen ist, sondern zu einer arbeitsmarktpolitischen






(A) (C)



(B) (D)


Nicolette Kressl

Schlüsselfrage unserer Gesellschaft und insbesondere zu
einer entscheidenden Standortfrage für die Kommunen
werden wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen ebenfalls das Potenzial der jungen Schul-
abgängerinnen und Schulabgänger besser nutzen.
Auch hier geht es um die Kombination von sozialer Ge-
rechtigkeit und wirtschaftspolitischen Fragen.


(Beifall bei der SPD)

Wie soll denn das Vertrauen der jungen Menschen in den
Staat, insbesondere in die staatlichen Institutionen und
seine Verantwortlichen, wachsen können, wenn wir, die
wir in Staat und Gesellschaft Verantwortung tragen, ih-
nen nicht das Vertrauen geben können, dass wir alles für
ihre Zukunftschancen tun? Wir müssen den jungen Men-
schen das Vertrauen geben, dass wir alle Anstrengungen
unternehmen, damit sie einen Ausbildungsplatz bekom-
men. Wenn Sie als einzige Alternative eine Kürzung der
Ausbildungsvergütungen vorschlagen, dann muss ich sa-
gen, dass ich das nicht nur für verantwortungslos, son-
dern auch für einfallslos und für nicht kreativ halte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist ebenfalls wichtig, dass wir uns bei der Erneue-
rung der Gesellschaft um die Potenziale und die Erfah-
rungen der Älteren kümmern. Deshalb finde ich es gut,
dass Edelgard Bulmahn und ihr Haus einen Schwerpunkt
auf die Entwicklung und Finanzierung der Weiterbil-
dung legen. Damit werden wir uns auch in den Fraktio-
nen beschäftigen; denn wir müssen nicht nur Jugendli-
chen und Kindern, sondern auch den Älteren
Zukunftschancen geben. Unsere Gesellschaft muss sich
darauf verlassen können, dass auch Letztere ihre Kreati-
vität und ihr Potenzial in unseren Wirtschaftskreislauf
und in unsere Gesellschaft einbringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein wichtiger Teil unseres Konzeptes betreffend den
Umgang mit den Zukunftschancen der Menschen ist,
dass wir entsprechende Rahmenbedingungen durch
Ganztagsbetreuung, beispielsweise durch das Ganztags-
schulprogramm, schaffen wollen. Lassen Sie mich
noch ein, zwei Worte über Ihre unsäglichen Aussagen
verlieren. Zum einen ist es logisch, dass das Ganztags-
schulprogramm nicht sofort anlaufen konnte; denn die
Länder konnten entgegen unseren Erwartungen nicht
rechtzeitig pädagogische Konzepte vorlegen.


(Jörg Tauss [SPD]: Ja, so ist es verhandelt worden! Das weiß Herr Meyer nicht!)


Zum anderen haben inzwischen schon 900 Schulen Mit-
tel aus dem Ganztagsschulprogramm beantragt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Diese 900 Ganztagsschulen gäbe es ohne dieses Pro-
gramm nicht.
Sie, die Sie 16 Jahre lang im Rahmen Ihrer Bundes-
kompetenz gar nichts gemacht haben, behaupten, dies
sei zu wenig.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Jedes Jahr eine neue Entschuldigung dafür, dass nichts passiert!)


Aber in Wirklichkeit – das finde ich prima – wollen im-
mer mehr Gemeinderäte und Gemeinderätinnen sowie
immer mehr Elternbeiräte dieses Programm nutzen, weil
sie wissen, dass es Geld gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn ich eines weiß, dann ist es das: In drei Jahren wird
es eine Entwicklung geben, die Sie mit Ihrer Ideologie
– Gott sei Dank – nie wieder zurückdrehen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Darauf bin ich stolz. Unser Ganztagsschulprogramm hat
dazu geführt, dass Eltern sagen: Es gibt eine Chance,
dass das mitfinanziert wird, und darum kämpfen wir
jetzt.

Die Ganztagsschule ist nicht nur ein Ort, an dem es
Nachmittagsunterricht gibt,


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Das habt ihr vor fünf Jahren abgelehnt! Alles torpediert!)


sondern dort ist auch die Zeit für individuelle Förde-
rung; das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Da
können die Kinder, die in der Familie nicht ausreichend
gefördert werden, Förderung erfahren. Das ist das, was
vorhin im Zusammenhang mit PISA beschrieben worden
ist. So werden ihre Chancen verbessert.


(Beifall bei der SPD)

Hören Sie mit dieser Polemik gegen das Programm auf!
Seien Sie lieber froh darüber, dass wir da für das Land
insgesamt etwas nach vorn gebracht haben!

Zu dieser Konzeption insgesamt gehört für uns auch
Folgendes: Wir wollen die äußeren Rahmenbedingungen
verbessern und Eltern und Familien, Frauen und Män-
nern die Möglichkeit geben, innerhalb der Rahmenbe-
dingungen, die wir setzen, ihr Leben so zu gestalten, wie
sie es wollen. Hören Sie mit dieser ideologischen Be-
hauptung auf, wir wollten eine Form bevorzugen! In
Wirklichkeit ist es in diesem Land doch so, dass durch
fehlende Angebote indirekt eine Form von Zusammenle-
ben und Erziehen vorgeschrieben wird. Wenn die Ange-
bote da sind, dann sollen Frauen und Männer wählen
können. Wir wollen die Rahmenbedingungen dafür
schaffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zu der Konzeption gehört, dass wir sagen: Dafür sind
wir verantwortlich. – Wer das als Hineindrängen des
Staates in die Familie diffamiert, so wie Sie das gemacht
haben, verkennt Bedürfnisse und Entwicklungen in die-






(A) (C)



(B) (D)


Nicolette Kressl

ser Gesellschaft. Das ist der große Unterschied zwischen
uns. Wir wissen, was in der Gesellschaft läuft,


(Lachen des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


wir wissen, was die Menschen brauchen, und setzen die
entsprechenden politischen Rahmenbedingungen.

Aber wir wissen natürlich auch, dass wir uns nicht al-
les leisten können. Wir wollen Startchancen geben und
Rahmenbedingungen setzen. Verantwortlich dafür,
dass die Chancen genutzt werden, sind – das sagen wir
immer dazu – die Menschen selbst. Aber wie können
Menschen ihre Verantwortung wahrnehmen, wenn wir
nicht die Rahmenbedingungen dafür schaffen?

Ich bin davon überzeugt: Mit den Konzeptionen, die
der Bundeskanzler im Bereich Bildung, Ausbildung,
Qualifikation, Erziehung und Betreuung vorgestellt hat,
werden wir Veränderungen im Land schaffen, sodass die
Menschen Wahlfreiheit haben und die jungen Menschen
Startchancen bekommen. Damit machen wir einen guten
Anfang für eine noch bessere wirtschaftliche Entwick-
lung.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510004000

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1510004100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bevor ich grundsätzlich auf die Regierungserklärung
eingehe, will ich eines klarstellen: Bundeskanzler
Schröder hat über demographische Probleme gesprochen
und hat sich dabei eines unglaublichen Vergleichs be-
dient. Er hat die Nazizeit und die DDR-Zeit gleichge-
setzt.


(Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos]: Unglaublich!)


Er sprach vom Mutterkreuz im Dritten Reich und vom
Abkindern in der DDR. – Ich weise das für die PDS im
Bundestag zurück.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Ich bedaure, dass ausgerechnet ein SPD-Kanzler so ge-
schichtslos und demagogisch daherredet.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Wenn wir schon bei Wahrheiten sind: Zur Wahrheit in
der Bundesrepublik im Jahr 2004 gehört, dass wir eine
unerträglich hohe Kinderarmut haben und dass mit der
Umsetzung der Agenda-Gesetze die Kinderarmut tagtäg-
lich steigt.

Nun zur Regierungserklärung. Bundeskanzler
Schröder hat seiner Regierungserklärung den schönen
Titel „Deutschland 2010: Unser Weg zu neuer Stärke“
gegeben. Die Rede schließt an die Agenda 2010 an, die
hier vor Jahresfrist vorgestellt wurde. Sie muss sich da-
her an dem messen lassen, was seither geschehen ist. Sie
wissen es: Die Agenda 2010 wird vielfach als Abschied
der SPD von sozialdemokratischen Urwerten wie Soli-
darität und Gerechtigkeit bewertet. Die PDS teilt diese
Kritik grundsätzlich. Dieser Weg zu neuer Stärke führt
ins Abseits.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


SPD und Grüne sagen, sie wollen den Sozialstaat ret-
ten. Aber zugleich bauen sie ihn ab. Sie sagen, Solidari-
tät sei wichtig. Aber sie geben sie preis. Sie sagen, Ge-
rechtigkeit sei gut. Aber sie werden immer ungerechter.
Wir haben uns im vergangenen Jahr hier über die Ge-
sundheitsreform, über die Rentenreform, über die Ar-
beitsmarktreform, über die Steuerreform und vieles
mehr, was Rot-Grün als Agenda 2010 bezeichnet, ge-
stritten. Alle so genannten Reformen sind beim Praxis-
test durchgefallen. Für die wirklich Betroffenen wurde
nichts besser, aber vieles teurer.

Die Stärke einer Gesellschaft misst sich an den
Schwachen. Das war einmal ein sozialdemokratisches
Credo. Davon entfernt sich die SPD immer mehr. Heute
stärken Sie die Starken und schwächen die Schwachen.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Wie ist es in Berlin?)


„Unser Weg zu neuer Stärke“, wie Sie sagen, hat große
Gewinner und viele Verlierer. So ein „Deutschland
2010“ will ich nicht.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Dabei geht der Opposition zur Rechten – wir haben es
heute wieder gehört – das ganze Abbauprogramm ja
noch nicht weit genug. Ihr Militärprogramm ist ohnehin
mächtiger und gewaltiger.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie sollten etwas zu Berlin erzählen!)


– Um auf den Zuruf des Abgeordneten Joseph Fischer
einzugehen: Die rot-grüne Steuerreform hat Berlin mehr
Millionen gekostet als der unsägliche Bankenskandal,
den CDU und SPD verursacht haben.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Quatsch! – Joseph Fischer [Frankfurt)

[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na!)

Es gehört zu den Wahrheiten, die gesagt werden müssen,
wenn wir über Berlin reden: Ihre Agenda macht die Bür-
gerinnen und Bürger der Hauptstadt arm. Das ist
schlecht.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Nun habe ich aufmerksam vernommen, was der neue
SPD-Vorsitzende, Herr Müntefering, in seiner Antritts-
rede versprochen hat. Ich fasse zusammen: Die SPD hält






(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau

an ihrem Kurs fest: Schröders Sozialabbau wird fortge-
setzt, Schilys Innenpolitik wurde gelobt und Strucks
Bundeswehr soll noch weiter ins Ausland ziehen. Allein
diese 3-S-Politik lässt einen gruseln. Noch schlimmer
ist: Die neue Mitte der neuen SPD hält ihren neuen Weg
auch noch für neu. Dabei ist vieles nur geklaut, nämlich
bei der CDU/CSU und bei noch schlechteren Vorbildern
abgeschrieben.

Vor diesem Hintergrund frage ich mich allerdings:
Was soll Deutschland im UNO-Sicherheitsrat? Um
nicht missverstanden zu werden: Ich bin sehr für eine
Aufwertung der UNO. Sie war vor dem Hintergrund des
Zweiten Weltkrieges eine historische Errungenschaft
und sie wird immer wichtiger. Allerdings lehrt das Bei-
spiel USA: Wirtschaftliche Größe ist kein Synonym für
Recht und militärische Stärke ist kein Ersatz für Politik.
Wenn also die Bundesrepublik in den UN-Sicherheitsrat
strebt, dann muss sie mehr bieten als einen Anspruch. Es
müssen Alternativen aufgezeigt werden. Die sind aber
nicht erkennbar. Der Bundeskanzler hat auch heute keine
vorgestellt.


(Joachim Poß [SPD]: Dafür machen Sie das jetzt ja die ganze Zeit! Sie haben eine unheimliche Alternative!)


Das trifft übrigens auch auf alles zu, was derzeit über
das Zuwanderungsgesetz und Ihre nette Kungelrunde
zu hören ist. Angekündigt hatte Rot-Grün ein Bürger-
recht, das Ausländer nicht länger als Lückenbüßer und
Störenfriede betrachtet. Nun droht ein Abschieberecht
nach bayerischem Duktus.


(Lilo Friedrich [Mettmann] [SPD]: So ein Quatsch!)


Wer in Verdacht gebracht wird, er könnte Terrorist wer-
den, soll außer Landes entsorgt werden. Deshalb bin ich
sehr gespannt, wie sich Bündnis 90/Die Grünen hier ver-
halten werden.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau so! – Joachim Poß [SPD]: Demagogie!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie kennen meine
grundsätzliche Kritik an der zunehmenden Militarisie-
rung der Politik. In der künftigen EU-Verfassung wurde
sie sogar als Pflicht festgeschrieben.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau so ist es!)


Deshalb lehnt die PDS den Entwurf auch ab.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak tionslos])

Aber auch hierzulande gibt es genügend Zeitzünder.

Insbesondere die CDU/CSU lässt keinen Anlass aus,
diese zu schärfen. Deshalb wiederhole ich noch einmal
für die PDS: Es gibt keinen Grund, das Grundgesetz zu
ändern und die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Es
gibt auch keinen Grund, die überholte Wehrpflicht
durch andere Zwangsdienste zu ersetzen. Es gibt weiter-
hin keinen Grund, durch ein Entsendegesetz Kriegsein-
sätze am Bundestag vorbei zu beschleunigen. Die PDS
im Bundestag lehnt dies daher ab.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Die PDS bleibt dabei: Die Agenda 2010 weist in eine
falsche und für viele in eine fatale Richtung. Sie belastet
Kranke, Arme und Alte über Gebühr und sie entlastet
jene, die – wie es auf Sozialdemokratisch so schön heißt
– „breite Schultern haben“. Die PDS setzt dem ihre
„Agenda sozial“ entgegen und eine Rentenreform, die
den Namen Reform auch verdient. Sie ist gerechter, weil
sie allen ein würdiges Leben im Alter bietet. Sie ist soli-
darisch, weil sie die Lasten teilt. Sie ist modern, weil sie
das Rentensystem umbaut, anstatt die Rentner zu
schröpfen.

Deshalb gilt mein Schlusssatz all jenen, die sich mit
dem Kurs des Kanzlers und seiner Kritiker von rechts
nicht abfinden wollen. Das Beste wäre: Wir treffen uns
am 3. April in Köln, Stuttgart und Berlin zu den geplan-
ten Großdemonstrationen gegen die Entsorgung des So-
zialstaates.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510004200

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)



Wilhelm Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1510004300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den

Letzten beißen die Hunde – wenn noch Hunde da wären.
Aber warten wir einmal ab.


(Zuruf von der CDU/CSU: Geben Sie doch zu Protokoll!)


Ich wollte zum Schluss einige wenige Sätze sagen,
weil ich geradezu erschrocken bin über das, was die Op-
position in dieser Debatte heute geboten hat. Wir haben
festgestellt, dass Sie außer Polemik mit dem Höhepunkt
der Rede von Herrn Meyer nicht viel zu bieten hatten.


(Joachim Poß [SPD]: Das war aber kein Höhepunkt! Das war ein Tiefpunkt!)


Interessant, wie ich jedenfalls aus meiner Sicht feststel-
len muss, ist, dass Frau Merkel sich in Allgemeinplätzen
ergangen hat und nicht einmal den Schneid gehabt hat,
dem Hohen Hause und damit der Öffentlichkeit die
Schweinereien mitzuteilen, die Sie, wie wir in den letz-
ten Tagen und Wochen gehört haben, schrittweise unter-
nähmen, wenn Sie Regierungsverantwortung tragen
würden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben sich gedrückt und das muss auf den Tisch. Ich
wollte die Zeit nutzen, um das klar zu machen.

Was würde denn passieren, wenn die Union mit der
FDP im Kreuz in diesem Lande regieren würde?






(A) (C)



(B) (D)


Wilhelm Schmidt (Salzgitter)



(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Dann ginge es wieder aufwärts!)

Die Tarifautonomie würde geschleift werden. Dass Ar-
beitnehmerrechte abgebaut werden würden, ist eine
milde Formulierung. Die Entmachtung der Gewerk-
schaften ist doch Ihr erklärtes Ziel. Dass wir in den letz-
ten 50 Jahren in diesem Lande gut gefahren sind, weil
wir den sozialen Frieden hergestellt und aufrechterhal-
ten haben – der Kanzler und auch Franz Müntefering ha-
ben darauf hingewiesen –, ist die Dimension, an der wir
uns orientieren. Wir orientieren uns nicht an dem, was
Sie von uns verlangen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Man kann schon über die Substanzlosigkeit der ande-
ren Seite und darüber erschrecken, wie wenig Mitverant-
wortung übernommen wird. Sie haben in den vergange-
nen Monaten unter dem Druck der Öffentlichkeit mit uns
gemeinsam im Vermittlungsausschuss, aber auch bezo-
gen auf die Gesundheitsreform außerhalb des Vermitt-
lungsausschusses, den einen oder anderen Reformschritt
eingeleitet. Das ist wohl wahr. Die Art, in der Sie sich
aber hinterher von unbequemen Teilen, die in der Öffent-
lichkeit kritisiert und diskriminiert worden sind, verab-
schiedet und nicht Ihre Mitverantwortung wahrgenom-
men haben, ist skandalös. Das sagen wir Ihnen auch sehr
deutlich; wir finden das unanständig.


(Beifall bei der SPD)

Ich denke, auch Sie haben in der Zwischenzeit festge-

stellt, dass bei dem einen oder anderen Punkt, der von
Ihnen mit viel Getöse in die Öffentlichkeit getragen wor-
den ist, nichts an Glaubwürdigkeit übrig geblieben ist.
Ich weise auf einen Punkt hin, den Ludwig Stiegler be-
reits angesprochen hat: die Steuerreform. Was ist denn
aus der merzschen Bierdeckelreform geworden? Die Re-
form von Herrn Merz hat ja nicht einmal den März er-
reicht! Sie haben sie vorher sicherheitshalber selber ab-
geräumt. Heute bekommen wir von Frau Merkel in der
Öffentlichkeit eine ganz vage Einladung dazu, das, was
Sie jetzt nicht mehr machen können oder wollen, nun ge-
meinsam zu machen. So billig ist das aber nicht zu ha-
ben.


(Beifall bei der SPD)

Sie müssen sich da schon eine andere Vorgehensweise
überlegen und dann in einer offenen Veranstaltung mit
uns darüber sprechen. Es geht doch nicht an, dass Sie
immer so tun, als wenn die ohnehin schon niedrigen
Steuersätze noch weiter gesenkt werden könnten, und
wir dann die nützlichen Idioten sind, die nach Finanzie-
rungsmöglichkeiten für die Umsetzung Ihrer Ideen su-
chen. So haben wir nicht gewettet, nur dass das einmal
klar ist.


(Beifall bei der SPD)

Ihr Bundespräsidentenkandidat Köhler hat von einer

großen nationalen Anstrengung gesprochen. Diese An-
strengung wäre bei Ihnen wahrhaftig nötig; davon haben
wir heute Morgen aber überhaupt nichts gemerkt. Es ist
wichtig, dass Sie Ihre Substanzlosigkeit, die sich seit
Wochen in den Fragestunden zum Thema Volmer-Erlass
und auch heute Morgen zeigt, überwinden. Wir fordern
Sie auf, in diesem Parlament ernsthaft mitzuarbeiten und
die Polemik in der Öffentlichkeit zu beenden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will aber auch darauf hinweisen, dass wir in der
öffentlichen Debatte mehr denn je gemeinsam versuchen
müssen, die Maßstäbe zurechtzurücken. In einem Jahr,
in dem Marie Juchacz 125 Jahre alt geworden wäre, soll-
ten wir uns ab und zu einmal daran erinnern, mit welcher
Energie und unter welchem Druck unsere Vorgänger in
diesem Hause arbeiten mussten, um nach zwei verlore-
nen Weltkriegen Reformen durchzusetzen. Aber wir tun
hier so, als ob wir am Abgrund stehen würden, als ob
nächste Woche niemand mehr sein Brot bezahlen könnte
und das absolute Chaos in diesem Land ausbrechen
würde. Das ist Ihre Wortwahl. Dadurch werden die Men-
schen verunsichert. Wir finden es unanständig und un-
redlich, wie Sie mit der Öffentlichkeit umgehen. Auch
das lassen wir uns nicht mehr bieten.


(Beifall bei der SPD)

Wir fordern Sie also auf: Nehmen Sie auch Rücksicht

auf die Menschen! Es nützt nichts, ständig zu polemisie-
ren. Was wir in diesem Lande brauchen, ist die Zusam-
menarbeit. Darauf setzen wir. Das hat der Kanzler in sei-
ner Rede zu Recht zum Ausdruck gebracht. Ich will
betonen: Trotz aller politischen Unterschiede und trotz
der Tatsache, dass Sie leider nicht in der Lage sind – so
auch heute nicht –, die notwendige Substanz für die poli-
tische Auseinandersetzung aufzubringen, brauchen wir
die Gemeinsamkeit und die Zusammenarbeit. Wir dürfen
diese Demokratie nicht vor die Hunde gehen lassen. Bei
manchen hat man in der öffentlichen Auseinanderset-
zung ab und zu den Eindruck, dass sie das bewirken.

Ich fordere auch bei Ihnen wenigstens einen Hauch
von Anstand in der politischen Auseinandersetzung ein.
Dieses Land braucht unsere Zusammenarbeit. Die Men-
schen wollen keine Polemik und sie wollen keine Ausei-
nandersetzung, die nur an der Oberfläche stattfindet. Sie
wollen konkret wissen, wie es in diesem Lande weiter-
geht. Auf diese Fragen haben wir die Antworten heute
erneut gegeben. Wir wollen die Innovationen voranbrin-
gen. Wir wollen die Bildungsangebote – das hat Frau
Kressl, wie ich finde, ausgezeichnet ausgeführt – für die
jungen Menschen verbessern. Wir wollen die Wirtschaft
stabilisieren und Arbeitsplätze schaffen. Darum sind die
Prozesse im Rahmen der Umsetzung der Agenda 2010
in den vergangenen Monaten ein wichtiger, aber nicht
der einzige Baustein. Wir wollen und müssen die Refor-
men an dieser Stelle fortsetzen. Dazu treten wir an. Wir
lassen uns auf diesem Weg nicht bremsen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dass sich der Ton in der Auseinandersetzung in den
letzten Tagen und Wochen verändert hat, ist darauf zu-
rückzuführen, dass wir gemerkt haben, dass wir in den
hektischen Monaten des vergangenen Jahres, in denen
wir die Reformprozesse umgesetzt haben, nicht alles in






(A) (C)



(B) (D)


Wilhelm Schmidt (Salzgitter)


dem Maße erklärt haben, wie es normalerweise der Fall
gewesen wäre. Das Entscheidende ist aber, dass wir trotz
allem den Weg nicht verändern dürfen. Wir müssen die-
sen Weg fortsetzen. Wir wollen allerdings die Menschen
mehr als bisher davon überzeugen.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Das müssen die Leute draußen als Drohung empfinden!)


Wir müssen zu Veränderungen in der Pflegeversiche-
rung, in der Rentenversicherung und bei den Innovatio-
nen kommen, um unser Land zukunftsfest zu machen.
Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Darum setzen wir an
dieser Stelle auf die Zivilgesellschaft. Die organisierte
Zivilgesellschaft ist seit 141 Jahren bis heute für die
SPD sehr wichtig. Wir wollen die Menschen in den Or-
ganisationen, Verbänden und Vereinen erreichen und
mitnehmen. Wir wollen sie davon überzeugen, dass die-
ser Weg der einzig richtige ist. Fakten, die wir alle zur
Kenntnis nehmen können, belegen dies.

Dass der Krankenversicherungsbeitrag inzwischen
gesunken ist, ist ein ermutigendes Zeichen. Dass wir in-
zwischen einige Länder überzeugt haben, das Ganztags-
schulprogramm umzusetzen, ist ebenfalls ein ermutigen-
des Zeichen. Hier können uns die Sozialverbände, die
Sportverbände und die Organisationen im Bereich der
Kultur und in anderen Bereichen unterstützen. Das soll
nicht geschehen, um die Politik dieser Regierung in den
Vordergrund zu rücken, sondern um für die Menschen in
diesem Land etwas zu tun.
Das ist der einzige Maßstab, der gilt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zur Zivilgesellschaft gehören auch die Unterneh-
men. Das muss man diesen immer wieder klar machen.
Es kann nicht angehen, dass die Aufgabenverteilung in
diesem Lande lautet: Wir schotten uns ab und machen
unseren eigenen Kram und für die unangenehmen Dinge
des Lebens ist die Politik zuständig. So haben wir ers-
tens nicht gewettet und zweitens funktioniert es so auch
nicht. In enger Zusammenarbeit mit den Unternehmer-
verbänden und anderen müssen wir klar machen, dass
wir aufeinander angewiesen sind. Es geht nicht, auf der
einen Seite Profite einzustreichen, ohne auf der anderen
Seite Mitverantwortung für Arbeits- und Ausbildungs-
plätze in diesem Lande zu übernehmen. Die Verantwor-
tung hierfür liegt auch in den Unternehmen. Ich kann nur
zitieren, was der Trigema-Chef, Wolfgang Grupp, ge-
rade in diesen Tagen gesagt hat:

Die Arbeitslosen sind nicht von der Regierung ge-
macht, sondern von den Unternehmern.

Er setzt fort:
Unter Deutschlands Unternehmern herrscht Verant-
wortungslosigkeit und ein fataler Hang zum Abkas-
sieren. Deutschland braucht verantwortungsvolle
Leistungsträger.
Das ist natürlich viel zu pauschal; das weiß ich wohl.
Aber es setzt ein Zeichen dahin gehend, dass es in dieser
Zeit auch verantwortungsbewusste Unternehmerinnen
und Unternehmer gibt. Auf diese bauen wir und auf de-
ren Mitmachen setzen wir, damit wir das, was wir für
das Land und seine Menschen als wichtig erachten, um-
setzen können.

Die Agenda 2010 hatte also von Anfang an einen
deutlichen zivilgesellschaftlichen Ansatz; ich bekräftige
ihn hiermit. Ich finde, dass wir die Menschen wieder
dazu bringen sollten, sich bereitwillig für die Gemein-
schaft einzusetzen. Wir brauchen diesen Gemein-
schaftsgeist. Er hat Deutschland in den vergangenen
Jahrzehnten stark gemacht. Wir appellieren, dass alle in
der Politik, alle in der Gesellschaft und alle in der Wirt-
schaft mitwirken, um diese Dinge, die wir im Interesse
der nächsten Generation auf den Weg bringen müssen,
zu vollenden.

Meine Damen und Herren, wir sind auf dem richtigen
Weg. Die Union bzw. die Opposition ist vielfach leider
auf dem Holzweg. Ich hoffe, dass sie bereit ist umzukeh-
ren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510004400

Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e sowie

Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk

Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. Lippold (Offen-
bach), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Deutschland braucht Klarheit bei der Ver-
kehrsinfrastruktur
– Drucksache 15/2603 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Haushaltsausschuss

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen (14. Ausschuss)

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Mitteilung der Kommission Ausbau des
transeuropäischen Verkehrsnetzes: Neue
Formen der Finanzierung interoperabler
elektronischer Mautsysteme
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über die
allgemeine Einführung und die Interopera-
bilität elektronischer Mautsysteme in der






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Gemeinschaft KOM (2003) 132 endg.; Rats-
dok. 8893/03

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäi-
schen Parlaments und des Rates zur Ände-
rung der Richtlinie 1999/62/EG über die
Erhebung von Gebühren für die Benutzung
bestimmter Verkehrswege durch schwere
Nutzfahrzeuge KOM (2003) 448 endg.; Rats-
dok. 11944/03

– Drucksachen 15/1153 Nr. 2.33, 15/1547
Nr. 2.128, 15/2588 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate

(Hamburg)

der CDU/CSU
Planungs- und Finanzierungssicherheit für die
ICE-Strecken ABS/NBS Nürnberg–Erfurt

(Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nr. 8.1)


(Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nr. 8.2)

– Drucksache 15/2653 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Haushaltsausschuss

d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2003
– Drucksache 15/2323 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Straßenbaubericht 2003
– Drucksache 15/2456 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 15/2743 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich (Bayreuth), Sibylle Laurischk, Joachim
Günther (Plauen), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Gesamtverkehrskonzept Südbaden – Bünde-
lung von Schiene und Straße im Rheingraben
– Drucksache 15/2470 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Eduard Oswald, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1510004500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich beginne mit einem Zitat:
Mobilität ist die Grundlage für Wachstum und Be-
schäftigung. Mobil sein bedeutet für die meisten
Menschen Freiheit und Lebensqualität. … Politik
für eine leistungsfähige Infrastruktur – das ist ak-
tive Wirtschaftspolitik, sie stärkt den Wirtschafts-
standort Deutschland und sichert die Zukunft unse-
res Landes.

(Beifall des Abg. Siegfried Scheffler [SPD] – Ute Kumpf [SPD]: Das haben Sie bestimmt abgeschrieben!)


Das sind die Kernsätze aus der Einleitung zu Ihrem
Bundesverkehrswegeplan 2003.


(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie Ihre Grundsätze auch umgesetzt hätten,

dann hätten Sie wenigstens etwas erreicht. So aber lie-
gen bei Ihnen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinan-
der.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit Ihrer Investitionspolitik werden Sie den Notwendig-
keiten nicht gerecht. Unsere Infrastruktur ist in Not.

Wenn die Meldungen zutreffen, wonach in Ihrer Mit-
telfristplanung für den Zeitraum 2004 bis 2008 der
Straße rund 3,9 Milliarden Euro, der Schiene 3,5 Mil-
liarden Euro und der Wasserstraße 386 Millionen Euro
fehlen, dann gefährden Sie nicht nur immer mehr Ar-
beitsplätze in der Baubranche, sondern blockieren auch
die weitere Entwicklung des Wirtschaftsstandortes
Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Hierzu müssen Sie, Herr Bundesminister, heute Stellung
nehmen. Hier und heute darf nicht wie sonst vernebelt






(A) (C)



(B) (D)


Eduard Oswald

werden. Hier muss vielmehr Klarheit geschaffen wer-
den.

Bezogen auf den gesamten Haushalt muss ich fest-
stellen: Noch nie war der Investitionsanteil des Bundes
so niedrig wie heute. Auch dies muss festgehalten wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Totaler Quatsch!)


Mit Ihrer Politik der Kürzung bei den Verkehrsinvestitio-
nen blockieren Sie die Mobilität jedes Einzelnen und ge-
fährden die notwendige Mobilität von Industrie und
Handel, denen die unzureichende Verkehrsinfrastruktur
zu schaffen macht.

Sie übersehen dabei die Auswirkungen auf den
Baubereich. Investitionen sind wirtschafts- und arbeits-
marktpolitische Initialzündungen. Jeder Euro, der in In-
vestitionen fließt, zahlt sich mehrfach aus. Bauinvestitio-
nen finanzieren sich zu zwei Dritteln selbst, und zwar
über Steuermehreinnahmen, entsprechend höhere So-
zialversicherungsbeiträge und weniger Arbeitslosenun-
terstützung. Diese Dinge müssen wir zur Kenntnis neh-
men.

Deutschland braucht mehr Verkehrsinvestitionen,
denn Staus sind an der Tagesordnung. 15 Prozent unse-
res Autobahnnetzes sind chronisch überlastet. Nur noch
77 Prozent sind voll gebrauchsfähig, bei den Bundesstra-
ßen sind es weniger als 70 Prozent. Die Staus kosten Zeit
und Arbeitskraft. Sie vergeuden Ressourcen und treiben
den Kraftstoffverbrauch in die Höhe. Die schädlichen
Folgen für die Umwelt sind offensichtlich. Die volks-
wirtschaftlichen Verluste beziffern sich auf rund 100 Milliar-
den Euro Jahr für Jahr. Diese Zahlen müssen uns alle er-
schrecken und man kann nicht einfach zur Tagesordnung
übergehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Das hätten Sie Theo Waigel sagen sollen!)


Eines ist auch klar: Unter dem Mangel an Instand-
haltungsmaßnahmen leidet auch die Sicherheit auf un-
seren Straßen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Die Rede kommt zehn Jahre zu spät!)


– Je unruhiger es auf der linken Seite des Hauses ist,
umso mehr weiß ich, dass ich Recht habe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Züge fahren unpünktlich, denn Langsamfahrstellen

behindern den Verkehrsfluss und mindern die Leistungs-
fähigkeit der Bahn im Bereich des Personen- und Güter-
verkehrs. Teile unseres Schienennetzes sind sanierungs-
bedürftig. Auch die Binnenschifffahrt hat bei Ihnen an
Bedeutung verloren.

Sie müssen sich um all diese Themen kümmern. Sie
müssen aus Ihrer Mautlähmung endlich wieder heraus-
kommen und politisch handeln.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie müssen den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur stärker
am Bedarf orientieren, denn der Bürger, der für die Nut-
zung des Verkehrssystems viel Geld bezahlt, erwartet
von den politisch Verantwortlichen zu Recht Lösungen
der bestehenden Mobilitätsprobleme.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Fasching ist schon vorbei!)


Der Autofahrer in Deutschland wird kräftig zur Kasse
gebeten. Von jedem Euro, den er an der Tankstelle be-
zahlt, fließen 73 Cent in die Kasse des Finanzministers.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das haben alles wir erfunden?)


Noch nie waren die Belastungen im Bereich des Straßen-
verkehrs so hoch wie heute: Die Einnahmen durch die
KFZ- und Mineralölsteuer summieren sich auf 45 Mil-
liarden Euro pro Jahr. Hinzu kommt die weder ökolo-
gisch noch ökonomisch sinnvolle Ökosteuer. Wir sind
inzwischen bei der fünften Stufe.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Mensch, diese alten Kamellen!)


Daraus sind dem Fiskus noch einmal insgesamt 5 Mil-
liarden Euro zugewachsen. Damit summieren sich die
steuerlichen Belastungen des deutschen Autofahrers auf
50 Milliarden Euro. Das sind 17 Milliarden Euro mehr
als vor zehn Jahren.

Sie können also der Öffentlichkeit nicht vermitteln,
dass es für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur am
Geld fehlt. Der Autofahrer zahlt dafür bereits, meine
sehr verehrten Damen und Herren!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich weiß, es tut weh, den Autofahrern zu sagen: Wir kas-
sieren ab, tun aber gleichzeitig nichts für die Straßen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Mir tut nichts weh! Ich bin völlig schmerzfrei!)


– Die Unruhe spricht für sich.
Wenn einer Abgabenlast auf den Straßenverkehr in

Höhe von rund 50 Milliarden Euro jährlich weniger als
5 Milliarden Euro Investitionsausgaben in die Bundes-
fernstraßen gegenüberstehen, ist das so nicht hinnehm-
bar.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Macht doch einen Vorschlag!)


Wer zwei Tage vor der Bundestagswahl übereilt einen
Mautvertrag abschließt


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Jetzt kommt es!)


und sich publikumswirksam feiern lässt, darf sich nicht
wundern, wenn er dann, wenn es nicht funktioniert, auch
die Kritik einstecken muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Eduard Oswald

Tatsache ist doch, dass Sie sich schon vor vier Jahren,

im September 2000, für ein so genanntes Anti-Stau-
Programm mit großem Presserummel haben feiern las-
sen. Sie sagten, dass zur Engpassbeseitigung auf Stra-
ßen, Schienen und Wasserstraßen die Einnahmen aus der
LKW-Maut verwendet werden sollten und Programm-
start sei der 1. Januar 2003. Sie sagten auch, das Pro-
gramm ermögliche gegenüber dem Normalprogramm
zusätzliche Investitionen. Wie Sie hier gehandelt haben,
war doch unseriös.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Gelinde gesagt! Das war gelogen!)


Die Tragik ist, dass nicht nur die Maut nicht funktio-
niert hat, sondern dass auch Ihr Controlling völlig unzu-
reichend war. Hinzu kommt, dass Sie im Bereich der
Verkehrs- und Baupolitik die anderen Themen haben lie-
gen lassen. Noch nie hat eine Regierung die Menschen
und die Bauwirtschaft so verunsichert, wie Sie das in Ih-
rer Regierungszeit getan haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Leider!)


Was im Verhältnis von Bahn und Bundesregierung
abläuft, ist ohnehin ein Jammerspiel.


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Furchtbar!)

Wer bestimmt eigentlich über Investitionen auf und bei
der Schiene? Nicht die Bahn stellt den Bahnminister;
vielmehr hat der Verkehrsminister des Bundes diese
Aufgabe wahrzunehmen. Er muss entscheiden, was in
Deutschland in die Schiene investiert werden soll und
wie viel man braucht, niemand anders.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, denken Sie

daran, dass Sie Ihren gesamten Bundesverkehrswege-
plan darauf aufgebaut haben, die Leistungen des Schie-
nengüterverkehrs bis zum Jahr 2015 zu verdoppeln!
Das ist Ihr hoher Anspruch. Wie wollen Sie ihn erfüllen?
Wenn es nicht gelingt, der Schiene die notwendigen In-
vestitionsmittel zu geben, dann bleibt die Verlagerung
des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene eine
Utopie.


(Beifall des Abg. Gero Storjohann [CDU/ CSU])


Die Infrastruktur ist in Not. Sie müssen der Infra-
struktur mehr Gewicht geben, sie braucht höhere Investi-
tionen. Das Verkehrssystem darf für die Wirtschaft nicht
zur Wachstumsbremse werden.

In diesen Tagen fallen wichtige Entscheidungen über
Baubeginne. Es reicht natürlich nicht, wenn Sie bis auf
die Projekte zur Fußballweltmeisterschaft 2006 kaum
Baubeginne ermöglichen. Das geht nicht an. Dann wer-
den wir in Deutschland total im Stau stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme

zum Schluss.

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510004600

Ja, Herr Kollege, ich würde darum bitten.

Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1510004700

Jede Ortsumgehung ist Menschenschutz. Wir müssen

alle miteinander zur Kenntnis nehmen: Verkehrsinvesti-
tionen sind keine Subventionen,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


sondern notwendig für unser Land, für Arbeitsplätze. Sie
sind Zukunftsinvestitionen.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510004800

Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr, Bau-

und Wohnungswesen, Manfred Stolpe.

(Beifall bei der SPD)


Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Abgeordneter Oswald, ich möchte Ihnen
ausdrücklich für das Zitat aus dem Bundesverkehrswe-
geplan danken. Es stimmt; dabei bleibt es. Der Bundes-
verkehrswegeplan bleibt auch.

Ich muss Sie nur ganz herzlich bitten, sich nicht darü-
ber hinwegzusetzen, dass die Finanzen für den
Einzelplan 12 von den dafür zuständigen Organen be-
schlossen werden, also von Bundestag und Bundesrat.
Sie haben eine Entscheidung getroffen, die uns jetzt Sor-
gen macht, nämlich dass Zuschüsse zu Verkehrsinvesti-
tionen als Subventionen gewertet werden. Mit diesem
Thema werden wir noch zu tun haben. Das ist der Haupt-
grund dafür, dass wir im Moment etwas zögerlich an die
Auftragsvergabe herangehen.

Ich will hier keine Namen nennen; es ist inzwischen
deutschlandweit bekannt, wie das zustande gekommen
ist.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Herr Koch war auch dabei!)


Es hat auch die Unterstützung von Menschen gefunden,
die seit vielen Jahren im Bereich der Verkehrsinvestitio-
nen tätig sind und eigentlich wissen müssten, was da auf
sie zukommt und was wir nun wieder aus dem Wege räu-
men müssen.

Als diejenigen, die die Herrschaft über den Haushalt
haben, wissen Sie natürlich auch, dass das Haushalts-
recht nicht zulässt, Aufträge auszuschreiben, wenn die
Mittel nicht vorhanden sind und auch mit Blick auf die
Folgejahre keine Sicherheit besteht. Das ist in der Tat
eine Herausforderung, vor der wir stehen und mit der wir
uns auseinander setzen. Dabei ducken wir nicht ab.

Ich habe aber auch eine gute verkehrspolitische Nach-
richt. Sie soll ein wenig über den Streit dieser Tage






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe

hinwegführen. Wir haben nach langen Bemühungen vor
wenigen Tagen erreicht, dass ein wichtiges europapoli-
tisches Verkehrsvorhaben mit Symbolkraft im sächsi-
schen Zittau jetzt endlich realisiert werden kann. Darü-
ber ist genau 13 Jahre verhandelt worden.


(Beifall bei der SPD)

Es gab viele Unsicherheiten und es kam immer wie-

der zu Unterbrechungen der Verhandlungen. Es gab Ver-
tragsentwürfe, die uns hoffen ließen, diese Straße, die
um Zittau herum durch drei Länder führt und ins Tsche-
chische sowie ins Polnische reicht, endlich zu bauen;
dann hat es wieder eine Verschiebung gegeben.

Jetzt herrscht Klarheit. Wir werden in wenigen Tagen
einen Vertrag unterzeichnen können. Am 1. Mai werden
die Regierungschefs der drei beteiligten Länder in einem
symbolischen Akt den ersten Spatenstich vollziehen
können. Das ist handfeste Europapolitik, die im Rahmen
von Verkehrsinfrastrukturinvestitionen gestaltet werden
kann.

Ich bin allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den
Verwaltungen des Bundes und des Freistaats Sachsen
sehr dankbar, die mit viel Geduld, Fantasie, Kreativität
und gelegentlich auch Demut geholfen haben, endlich zu
diesem Ergebnis zu kommen; denn die Osterweiterung
wird kommen. Dafür wollen wir gerne Symbole errich-
ten. In diesem Zusammenhang brauchen wir Verkehrsin-
vestitionen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Lachhaft!)


– Da ich Ihren Einwurf gut gehört habe, will ich Ihnen
sagen: Wir sind auf die Osterweiterung wirklich gut vor-
bereitet.


(Zuruf von der CDU/CSU: Beispiele! Wo denn?)


Wir wissen, dass sie eine große Herausforderung für uns
ist. Wir wissen aber auch um die Sorgen der Menschen.
Manche befürchten, dass ab dem 1. Mai dieses Jahres
geradezu eine Lawine zusätzlichen Verkehrs auf uns zu-
rollen wird. Hierzu will ich ganz klar sagen: Das wird
nicht so sein. Denn erstens entwickeln sich die wirt-
schaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und
seinen östlichen Nachbarn seit Jahren kontinuierlich
weiter. Deshalb wird der 1. Mai dieses Jahres keinen ex-
plosionsartigen Aufwuchs bedeuten.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Richtig!)

Zweitens haben wir auch die nötigen Vorbereitungen für
den anstehenden Ausbau und die Modernisierung mit-
einander getroffen.

Wir haben bereits große Transitstrecken modernisiert
und ausgebaut. Hier erinnere ich an die A 2 und die A 4.
Die anderen Projekte laufen planmäßig weiter. Auch die
Diskussion, die wir gerade geführt haben, darf nicht da-
rüber hinweg täuschen, dass die A 6, die A 8, die A 17
und die A 20 weitergebaut werden;


(Zuruf von der FDP: Wann denn?)

all dies sind Strecken, die viel mit den entsprechenden
Verkehrsverbindungen zu tun haben.

Die 24 für den Verkehr zwischen Tschechien, Polen
und Deutschland besonders bedeutsamen Projekte sind
darüber hinaus im Bundesverkehrswegeplan 2003 als
Projekte im Rahmen der EU-Osterweiterung gesondert
aufgeführt. Sie alle sind als vordringlicher Bedarf und
als internationale Projekte eingestuft. Auch im Rahmen
der diesbezüglichen Debatten in der Europäischen Union
haben wir dafür Sorge getragen, dass sie als Transeuro-
päische Netze anerkannt worden sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber, meine Damen und Herren, das kostet Geld. Al-
lerdings handelt es sich hierbei um Investitionen in die
Zukunft unseres Landes. Für diese Regierung galt es
1998 ja zunächst, die vorgefundene Unterfinanzierung
von Verkehrsinvestitionen zu beenden.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr! Diese Rede sollte Theo Waigel hören!)


Das war die erste Aufgabe, die wir erfüllen mussten. Ich
muss Sie ja nicht an die entsprechenden Zahlen erinnern,
die wir vorgefunden haben. Die Bundesregierung hat
1999 schnell Entscheidungen getroffen. Erstens wurden
Umschichtungen vorgenommen, sodass im Startjahr
– sozusagen als Erste Hilfe – rund 10 Milliarden Euro
zur Verfügung standen. Zweitens wurde die Pällmann-
Kommission eingesetzt, die konkrete Vorschläge zur Ak-
tivierung zusätzlicher Mittel erarbeitet hat.

Die Ergebnisse waren, dass wir deutlich mehr Investi-
tionen und eine Maut brauchen. Deshalb haben wir be-
schlossen, die streckenbezogene Maut für den Schwer-
lastverkehr einzuführen und die Mauteinnahmen für
Verkehrsinvestitionen zur Verfügung zu stellen. Nach
zwei gescheiterten Starts – Sie haben daran erinnert,
dass diesen Vorgängen gelegentlich auch ein Hauch von
Abenteuer anhaftete – haben wir mit den Unternehmen
inzwischen ein gutes Maß an Verlässlichkeit und Sicher-
heit erreichen können. Uns wurde ein plausibler und
nachvollziehbarer Zeitplan vorgelegt, nach dem spätes-
tens am 1. Januar 2005 Einnahmen erzielt werden. Als
deutlicher Beleg dafür, dass die Unternehmen auch
selbst an ihre Technik glauben, ist zu werten, dass sie hö-
heren Vertragsstrafen und einer Haftung in durchaus an-
gemessener Höhe zugestimmt haben.

Deshalb sind wir bereit, das LKW-Mautsystem auch
weiterhin mit dem bestehenden Konsortium aufzubauen.
Uns geht es nun darum, dass das Unternehmen mit der
neuen Mannschaft, die inzwischen zur Verfügung steht,
schnell und zuverlässig den Aufbau des Systems fort-
setzt und damit auch Transparenz und Sicherheit für die
beteiligten Unternehmen schafft.

Meine Damen und Herren, in unserer heutigen
Plenardebatte ist mir wichtig, Folgendes deutlich zu sa-
gen: Das Fehlen von Mauteinnahmen konnte im Haus-
haltsausschuss am 3. März dieses Jahres dadurch ausge-
glichen werden, dass die vorgesehenen Mittel des
Einzelplans 12 vollständig zur Verfügung gestellt wur-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe

den. Mautausfälle haben damit keine Streichung von
Verkehrsprojekten zur Folge.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Für die Gegenfinanzierung haben wir eine vertretbare

Lösung gefunden; das ist auch im Haushaltsausschuss
und im Verkehrsausschuss erörtert worden. Damit wer-
den wir 2004 alle begonnenen Maßnahmen des vor-
dringlichen Bedarfs weiterbauen können. Wir werden
auch wichtige Neubaumaßnahmen gestalten; die Ent-
scheidungen fallen in diesen Tagen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Seit Jahren fällt nichts!)


Sorgen erwachsen uns, wie vorhin schon angedeutet,
aus der Tatsache, dass auf dem Haushalt 2005, der noch
nicht beschlossen ist, eine Hypothek lastet,


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Über was reden Sie?)


die Sie alle mitzuverantworten haben, nämlich die Ein-
stufung von Investitionszuschüssen als Subventionen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie sind ja irre, Herr Minister!)


Diese Unsicherheit wollen wir ausräumen. Wir wollen
die neu geplanten Investitionen angehen, aber können im
Jahr 2004 – das wissen Sie als Profis genau – keine Ent-
scheidungen für mehrjährige Investitionen treffen, weil
man ab 2005 Verpflichtungsermächtigungen bräuchte.
Da das nicht geht, können wir solche Maßnahmen noch
nicht starten. Wohl aber werden wir mit Blick auf die
Jahre 2005 und 2006 einige besonders dringliche Vorha-
ben in Gang setzen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510004900

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Grund?

Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen:

Ich mache erst einmal weiter. – Wir bleiben dabei:
Was haushaltsrechtlich gesichert ist, wird sofort ent-
schieden; das kann man gar nicht oft genug sagen. Die
weiteren Entscheidungen treffen wir sofort, wenn wir
Klarheit über den Haushalt 2005 haben. Ich gehe davon
aus, dass wir für den Haushalt 2005 die vordringlichen
Verkehrsinvestitionen gewährleisten können und dies-
bezüglich hier eine breite Übereinstimmung erreicht
wird. Es gibt wohl niemanden in diesem Saal, der nicht
weiß, wie bedeutsam Verkehrsinvestitionen sind: für un-
ser Land, für die Mobilität der Menschen – besonders für
diejenigen, die pendeln müssen – und nicht zuletzt für
die Arbeitsplätze. Diese Debatte haben wir noch vor uns;
auch da werden wir, denke ich, zu einem vernünftigen
Ergebnis kommen.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wir müssen die Investitionen wieder steigern! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Geld, Geld, Geld brauchen wir!)

Ich bitte, in dem Zusammenhang noch einmal heraus-
stellen zu dürfen, dass der Bundesverkehrswegeplan be-
reits jetzt eine große Zahl laufender und fest disponierter
Vorhaben enthält: 600 Projekte laufen, sie werden wei-
tergeführt. Ein Finanzierungsvolumen von 29 Milliar-
den Euro steht zur Verfügung. Auch auf diese Weise
wird zum Ausdruck gebracht, wie bedeutsam für uns alle
die Verkehrsinfrastrukturinvestitionen sind.

Die große Bedeutung, die wir der Schiene zumessen,
ist in den letzten Jahren durch die Investitionssummen
herausgestellt worden: Wir haben trotz Haushaltskonso-
lidierung durchschnittlich rund 3,8 Milliarden Euro jähr-
lich zur Verfügung gestellt; gestartet sind wir – daran
darf ich erinnern – mit 2,7 Milliarden Euro. Diese Regie-
rung hat also einen ganz erheblichen Schritt nach vorne
getan. Auch zukünftig werden wir die Grundsanierung
des bestehenden Netzes und die zeitnahe Fertigstellung
ausgewählter Vorhaben gewährleisten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind dabei, bei den neu zu beginnenden Schie-
nenvorhaben – die bereits begonnenen werden selbstver-
ständlich weitergeführt – kurzfristig eine Priorisierung
vorzunehmen. Wir sind mit der Bahn im Gespräch, um
zu Verständigungen zu kommen. Ich bin überzeugt, dass
Investitionen in das Schienennetz für die Bewältigung
des wachsenden Verkehrsaufkommens – sowohl im Per-
sonen- wie auch im Güterverkehr – unverzichtbar sind.
Dies gilt in besonderem Maße für die Fertigstellung der
noch nicht vollendeten Verkehrsprojekte wie zum Bei-
spiel des VDE 8.1/8.2, Leipzig/Halle–Erfurt–Nürnberg.
Diese Maßnahme hat neben ihrer rein wirtschaftlichen
Bedeutung hohe Symbolkraft für das Zusammenwach-
sen Deutschlands und Europas. Sie wird weitergeführt.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Die Frage ist: Wann?)


Alle Behauptungen, dass sie unterbrochen, abgebrochen,
gar nicht erst begonnen wird, weise ich hier zurück: Das
trifft nicht zu.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im internationalen Verkehr werden wir den europäi-

schen Einigungsprozess auch durch Investitionen in die
Infrastruktur stützen. In Deutschland kommen dem
nördlichen und dem südlichen Ast der Eisenbahnstrecke
Paris–Ostfrankreich–Südwestdeutschland große Bedeu-
tung zu. Dazu haben wir Absprachen getroffen. Wir wer-
den dafür Sorge tragen, dass unsererseits dieses europäi-
sche Projekt zeitgerecht fertig gestellt werden kann.

Meine Damen und Herren, es ist viel zu tun. Wir be-
finden uns zurzeit mit Blick auf das Jahr 2005 in einer
Phase der Unsicherheit. Deshalb möchte ich hier eine
Binsenweisheit vortragen, die vermutlich noch von vie-
len von Ihnen vorgetragen werden wird: Investitionen in
die Verkehrsinfrastruktur bedeuten wirtschaftlichen
Fortschritt, sie sichern Mobilität und vor allem Arbeits-
plätze. Das ist einfach wahr. Wir von der Regierung wis-
sen das und werden das beachten. 1 Milliarde Euro an
Investitionen in Straße, Schiene oder Wasserstraße






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe

bedeuten 24 000 Arbeitsplätze. Wer wie wir um Arbeits-
plätze ringt, der wird das nicht vergessen und dafür
Sorge tragen, dass die Mittel zur Verfügung stehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte Sie alle herzlich bitten, bei allen Ausei-
nandersetzungen – die auch der Belebung des Geschäf-
tes dienen – zu bedenken: Investitionen in die Verkehrs-
infrastruktur sind Langzeitvorhaben und sind nicht an
Wahlperioden orientiert. Wir sind bemüht – das kann ich
Ihnen angesichts meiner Erfahrungen aus der politischen
Zusammenarbeit in der Koalition versichern –, unseren
Verpflichtungen nachzukommen, und werden die not-
wendigen Voraussetzungen schaffen. Wir brauchen Mo-
bilität. Mobilität ist ein Hauptfaktor für die Sicherung
unserer Zukunft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510005000

Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich, FDP-Frak-

tion.


Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1510005100

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrter Herr

Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minis-
ter, ich war wirklich gespannt, ob Sie Ihre nicht zu wi-
derlegende Aussage, es müsse mehr Investitionen in die
Verkehrswege geben, heute mit Zahlen, Zeithorizonten
und konkreten Fakten belastbar unterlegen. Doch mit
dem, was Sie geboten haben, haben Sie aus meiner Sicht
eher gezeigt, dass Sie sich eine eigene Realität geschaf-
fen haben. Offensichtlich leben Sie in einer ganz ande-
ren Welt, die mit der Realität im Verkehrswegebau drau-
ßen im Land nichts gemein hat. Mehr kann ich dazu
nicht sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie berufen sich auf den Haushaltsausschuss und sa-

gen, schließlich habe er die Entsperrung aufgehoben.
Das ist richtig, nur: Geld, das im Haushaltsansatz nicht
zur Verfügung steht, mag gesperrt sein oder nicht – es ist
und bleibt nicht vorhanden. Man muss sich einmal auf
der Zunge zergehen lassen, was Sie als „seriöse Gegenfi-
nanzierung“ bezeichnen: Sie stellen mal eben
1 Milliarde Euro ein, die aus einem Schiedsgerichtsver-
fahren mit Toll Collect kommen soll, das noch gar nicht
begonnen hat und von dem kein Mensch weiß, wann es
enden und wie viel Geld überhaupt herausspringen wird.
Das geht nach dem Prinzip „Glaube und Hoffnung“; so
viel zum Thema Seriosität der Haushaltszahlen.

Ein anderes Beispiel. Sie nehmen sich 1 Milliarde
Euro von der Deutschen Bahn und sagen: Nehmt diesen
Betrag am freien Markt auf, aber die Zinslasten bleiben
bei euch! – Dafür darf die Bahn noch bisher zinslose
Baukostenzuschüsse vorzeitig tilgen; das macht im Vo-
lumen 2 Milliarden Euro. In der Situation, in der sich die
Bahn derzeit befindet – ich komme noch darauf zu spre-
chen –, kann Herr Mehdorn das machen, aber es ist keine
Antwort auf die Probleme des Wirtschaftsstandortes
Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Bei Investitionen in Verkehrswege geht es um mehr

als nur um Sicherung von Mobilität. Infrastruktur war
bisher einer der entscheidenden Standortfaktoren,
wenn es um Firmenansiedlungen in Deutschland und um
die Schaffung von Arbeitsplätzen ging. Nur wenn Infra-
struktur und Verkehr funktionieren, ist man bereit, zu in-
vestieren.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Das kann man nachweisen. Aber Sie sind in Ihrer Regie-
rungszeit dabei, diesen Vorteil zu verschenken.

Herr Minister, am meisten ärgert mich, dass Sie nun
die Herren Koch und Steinbrück in die Schurkenrolle hi-
neindrängen und etwas behaupten, was gar nicht stimmt.


(Karin Rehbock-Zureich [SPD]: Was?)

Im Koch/Steinbrück-Programm steht mit keinem Wort,
dass die Höhe der Straßenbauinvestitionen reduziert
werden soll. Das haben Sie und nur Sie hineininterpre-
tiert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das wird auch nicht dadurch besser und intelligenter,
dass Sie jetzt von sich aus E-Mails an alle Bundesländer
herausschicken, in denen steht, welche Verkehrsprojekte
nicht mehr abgewickelt werden können.

Wenn es stimmt, was Pro Mobilität geschrieben hat,
dann haben sich Koch/Steinbrück auf eine Ausarbeitung
des Deutschen Instituts für Wirtschaft und den dortigen
Subventionsbericht bezogen. In diesem steht dezidiert,
dass Straßenbau kein Subventionsbegriff ist. Man höre
und staune:

Wegen des hohen Einnahmenüberschusses des
Bundes aus dem Straßenverkehr kämen die Kieler
Wissenschaftler in ihren Veröffentlichungen zu dem
Schluss, Straßenbauinvestitionen seien eindeutig
nicht als Subventionen einzuordnen. „Es gibt keine
Subvention des Straßenbaus und damit auch keinen
Subventionsabbau.“

Genau das wollen Sie mit aus unserer Sicht völlig fal-
schen Behauptungen widerlegen. Dieser Punkt muss ein-
mal deutlich gemacht werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Da wir gerade bei den Zahllasten und dem Rückfluss

in die Verkehrsträger sind und da das Ganze vor dem
Hintergrund geschieht, dass die Bahn im Wettbewerb
mit den anderen Verkehrsträgern angeblich benachteiligt
wird, ist es interessant, sich einmal zu vergegenwärtigen,
wer was tatsächlich zahlt und was man dafür erhält.
Wenn Ihre eigenen Zahlen in der vom Bundesministe-
rium herausgegebenen Broschüre „Verkehr in Zahlen“
und auch die Charts der Bahn stimmen, dann zahlen die
Verkehrsteilnehmer auf der Straße – Kollege Oswald hat
das bereits gesagt – im Jahre 2004 48 Milliarden Euro.






(A) (C)



(B) (D)


Horst Friedrich (Bayreuth)


Davon haben Sie aufgrund der Maßnahmen seit Ihrer
Regierungsübernahme im Jahre 1998 rund 16 Milliar-
den Euro zu verantworten. Der Rückfluss an den Ver-
kehrsträger Straße beträgt seit 1994, also seit der Umset-
zung der Bahnreform, 53 Milliarden Euro, während sich
die kumulierten Einnahmen aus dem Straßenverkehr in
dieser Zeit auf 390 Milliarden Euro beliefen.

Schauen wir uns einmal an, wie die entsprechenden
Zahlen bei der Bahn aussehen: Die Bahn zahlt nach eige-
nen Angaben 380 Millionen Euro im Jahr; seit der Bahn-
reform kommt man so auf zusammengerechnet etwa
2,5 Milliarden Euro. Das ist fürwahr eine beachtliche
Zahl, die sich aber relativiert, wenn man weiß, dass die
Bahn in dieser Zeit knapp 200 Milliarden Euro erhalten
hat – und das, obwohl dieser Verkehrsträger im Schnitt
nur knapp 8 Prozent der Verkehrsleistungen erbringt.
Hier muss man ansetzen.


(Beifall bei der FDP)

Deswegen ist das, was Sie hier vorschlagen, nicht sach-
gerecht, sondern rein ideologisch bedingt. Das setzt sich
auch beim Verkehrsträger Binnenschifffahrt und bei den
Wasserstraßen fort.


(Zuruf von der SPD: Sollen wir die Bahn abschaffen oder was?)


Was nützt denn das von Ihnen beauftragte und groß
verbreitete Planco-Gutachten, in dem definitiv steht,
dass Investitionen in Kanäle notwendig sind, um der
Binnenschifffahrt die Chance zu geben, wenigstens im
Containerverkehr Umsätze zu erzielen, wenn Sie weiter-
hin aus ideologischen Gründen unsere Anträge ableh-
nen, die Brücken über den Kanälen zu erhöhen – angeb-
lich soll das die Hochwassergefahr erhöhen –, damit
Schiffe mit einer größeren Anzahl an Containerlagen
dort durchfahren können? Sie müssen mir schon einmal
erklären, wie die Hochwassersituation in Deutschland
durch das Anheben einer Brücke beeinträchtigt werden
soll. Die Realitätsferne der Argumentation Ihres Hauses
und Ihrer Koalitionsfraktionen ist nicht mehr zu überbie-
ten. Das setzt sich bei der Luftfahrt in gleicher Weise
fort.

Herr Minister, jetzt komme ich zur eigentlichen poli-
tischen Verantwortung. Sie wussten ganz genau, dass die
Erlöse aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen – diese ha-
ben Sie in letzter Zeit noch ein wenig gestützt – Ende
des Jahres 2003 auslaufen. Vor diesem Hintergrund war
Ihnen sicherlich auch bewusst, dass nur durch ein funktio-
nierendes Maut-System einigermaßen dafür gesorgt wer-
den kann, dass die Höhe Ihrer Investitionen konstant
bleibt. Diese war trotz der steigenden Steuerbelastungen
nur maximal genauso hoch, wie bei uns von 1994 bis
1998; erlauben Sie sich einmal nicht nur den Blick auf
das Jahr 1998, sondern auch auf die Jahre davor. Trotz
der eingerechneten Erlöse aus dem Verkauf der UMTS-
Lizenzen und aus der Maut erreichen Sie in Ihrem Haus-
haltsansatz bei einer gegenüber unserer Zeit deutlich ge-
stiegenen Steuerbelastung für die Verkehrsteilnehmer
nur eine Investitionshöhe von knapp 10 Milliarden Euro.
Diesen Vergleich nehme ich gerne auf. Bezogen auf
die Verkehrsinvestitionen der schwarz-gelben Regierung
lasse ich mich sicherlich nicht an die Wand stellen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Also, bei aller Meinungsverschiedenheit: „an die Wand stellen“?)


Ganz zu schweigen davon, dass Sie jetzt offensichtlich
immer noch nicht wissen, wie es Sinn machen würde,
haben Sie hier noch einigen Nachholbedarf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Kollege Schmidt, es geht nicht darum, der

Schiene nun etwas wegzunehmen. Es geht schlicht da-
rum, knappe Mittel am effektivsten einzusetzen. In die-
sem Fall muss man sich auch die Verkehrsleistungen an-
schauen.

Nächstes Thema. Mit dem, was Sie jetzt machen, le-
gen Sie endgültig die Axt an die Wurzeln der mittel-
ständischen Straßenbauunternehmen: Bei der
Schiene wollen Sie nur noch Erhaltungsaufwand betrei-
ben. Die Bahn kauft mittlerweile Gleisbettungsmaschi-
nen, obwohl diese am freien Markt flächendeckend vor-
handen sind, um auch diese Aufgaben selber zu machen.
So wird die mittelständische Bauwirtschaft endgültig ab-
gewürgt. Entsprechende Briefe aus diesem Bereich be-
stätigen es: Diese gewachsenen, qualitativ hochwertigen
Unternehmen der Bauwirtschaft sind von Ihrer Investi-
tionspolitik getroffen. Auch darum könnten Sie, Herr
Minister, sich einmal kümmern. Schließlich geht es um
Arbeitsplätze, und zwar hauptsächlich in der mittelstän-
dischen Bauindustrie.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein Letztes: Vor dem Hintergrund der Diskussionen
um die vorhandenen Mittel macht es Sinn, noch einmal
ernsthaft über bestimmte Verkehrswegeführungen auf
der ICE-Trasse zwischen Offenburg und Freiburg – ich
weiß, dass auf der Tribüne eine Besuchergruppe aus
Südbaden sitzt – nachzudenken, bevor hierfür Geld aus-
gegeben wird. Wir haben dazu einen Antrag vorgelegt,
der unter vielen anderen hier ebenfalls zu beraten ist. Ich
empfehle ihn nicht nur Ihrer Beachtung, sondern auch
Ihrer Zustimmung.

Wir werden sehen, wie konkret und belastbar Ihre
Fakten sind. Ich fürchte, die deutsche Bauindustrie ist
bei Ihnen verlassen.

Danke sehr.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: War das jetzt alles?)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510005200

Das Wort hat der Kollege Albert Schmidt, Bünd-

nis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(B) (D)


Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE

GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich habe von diesem Pult wiederholt und
deutlich davor gewarnt: Das Konzept, das die Herren
Koch und Steinbrück erarbeitet haben, ist nicht der Ra-
senmäher zum Abbau von Subventionen, sondern die
Axt im Wald der Investitionen. Was den Verkehrswege-
bau in Deutschland angeht, ist das die brutalste Kür-
zungsorgie, die ich bisher erlebt habe. Es lohnt sich, ver-
ehrter Herr Kollege Friedrich, ein paar Takte darüber zu
verlieren, was Koch und Steinbrück zur Grundlage ge-
macht haben


(Manfred Grund [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– habe ich wirklich „Grund“ gesagt, dass sich der Kol-
lege sofort zu einer Zwischenfrage meldet? –


(Heiterkeit)

und was im Vermittlungsausschuss daraus gemacht
wurde.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510005300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Grund?
Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE

GRÜNEN):
Aus grundsätzlichen Erwägungen immer.

Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1510005400

Da mich der verehrte Herr Kollege Schmidt ange-

sprochen hat,

(Heiterkeit)


stelle ich eine Zwischenfrage. – Lieber Kollege Schmidt,
zum wiederholten Male werden in der Debatte die Na-
men Koch und Steinbrück und ihre Vorschläge zur Sub-
ventionskürzung genannt. Es wurde ja bereits darauf
hingewiesen, dass sich diese Kürzungen nicht auf die
Verkehrswege beziehen.


(Lachen bei der SPD)

Würden Sie mir bestätigen, dass die Einsparungen, die
der Bundesverkehrsminister im Zuge einer globalen
Minderausgabe zur Stützung der Rentenkassen zu er-
bringen hat, mehr als doppelt so hoch sind wie alle Ein-
sparungen, die mit dem Koch/Steinbrück-Papier einher-
gehen? Stimmen Sie mir zu, dass dies nicht von den
Herren Koch und Steinbrück zu verantworten ist, son-
dern dass der Bundesfinanzminister das in diesen Haus-
halt gedrückt hat?


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Rechnen hast du nicht gelernt!)


Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Lieber Kollege Grund, Ihre Frage gibt mir die Gele-
genheit, mich mit dem auseinander zu setzen, was ich
ohnehin vorgetragen hätte – allerdings außerhalb der Re-
dezeit; das ist Pech, dass Sie die Zwischenfrage so früh
gestellt haben –, nämlich was wirklich in dem Koch/
Steinbrück-Papier steht.

Ich fange mit dem letzten Punkt an, den Sie angespro-
chen haben. Es ist richtig, dass in dem Papier von Kür-
zungen – einseitigen Kürzungen: nur zulasten des Schie-
nenbaus! – die Rede ist, und zwar in Höhe von rund
300 Millionen Euro im ersten Jahr, 600 Millionen Euro
im zweiten Jahr und 900 Millionen Euro im dritten Jahr.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das habe ich ja gesagt!)


Additiv zu diesen Kürzungen wäre in diesem Haushalts-
jahr und – wenn es nach dem Willen des Bundesfinanz-
ministers geht – in den folgenden Haushaltsjahren eine
Summe abzuziehen, die sich aus der globalen Minder-
ausgabe zur Rentenfinanzierung und der Rückzahlung
für die Zwischenfinanzierung der Mautausfälle aus den
Jahren 2003 und 2004 zusammensetzt. Das zumindest
stellt sich der Bundesfinanzminister an dieser Stelle vor.

In dem Papier steht aber auch – das wollen wir nicht
verheimlichen –: Einseitige Kürzungen zulasten der
Schiene bedeuten Eingriffe an einer völlig falschen
Stelle, nämlich allein im investiven Bereich. 68 Prozent
der Mittel, die als Ergebnis der Verhandlungen des Ver-
mittlungsausschusses über das Koch/Steinbrück-Papier
gekürzt werden sollten, betreffen den Einzelplan 12,
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.

Das heißt im Klartext, dass erstens einseitig zulasten
des Verkehrs- und Bauetats gekürzt werden soll, zwei-
tens einseitig zulasten der Schiene und drittens – jetzt
kommt der eigentliche Kardinalfehler – wird in dem Pa-
pier ein verlogener und grundfalscher Investitions- und
Subventionsbegriff zugrunde gelegt. Dort steht nämlich,
Subventionen würden abgebaut, in Wahrheit aber sind
Investitionen gemeint. Das ist der eigentliche Fehler: In-
vestitionen sind keine Subventionen, Investitionen sind
die Voraussetzungen für die Zukunft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Fragen Sie doch Eichel, wie er das interpretiert!)


Ein Unternehmen, das aufhört, zu investieren, gibt sich
selbst auf. Ein Land, das Investitionen in dieser Größen-
ordnung in so kurzer Zeit abbremst, begräbt seine eige-
nen Zukunftschancen. Deshalb darf dieses Horrorszena-
rio – ich hoffe, wir sind uns darin einig – nicht
Wirklichkeit werden. Es darf nicht sein, dass wir diesen
Weg in den nächsten Jahren beschreiten.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Darf nicht sein! Sie sind an der Regierung!)


Wir konnten – Herr Kollege Friedrich, da haben Sie
völlig Recht – diese Grausamkeit dem Betrag nach nicht
abwenden. Wir konnten aber wenigstens dafür sorgen,
dass es nicht einseitig die Schiene trifft, sondern diese
Grausamkeit auf alle Verkehrsträger verteilt wird. Das
ist nicht schön. Es wäre aber sonst für die Schiene über-
haupt nicht mehr erträglich gewesen.






(A) (C)



(B) (D)


Albert Schmidt (Ingolstadt)


Jetzt zur Frage, wer warum verantwortlich ist. Liebe

Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP,
Sie können sich Ihre Krokodilstränen über diese Investi-
tionskürzungen sparen. Ich will Ihnen sagen, warum.
Union und FDP waren es, die sich im Dezember 2003,
als es im Vermittlungsausschuss um diese Sache ging,
geweigert haben, an die wirklichen Subventionen in ei-
ner nennenswerten Größenordnung heranzugehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Manfred Grund [CDU/ CSU]: Steinkohle!)


Ich nenne Ihnen die Beträge: fast 10 Milliarden Euro pro
Jahr für die Eigenheimzulage, 6 Milliarden Euro pro
Jahr für die Pendlerpauschale. Wer hat denn damals ge-
sagt, man dürfe das nicht antasten? Das sind wirkliche
Subventionen. Sie haben sich verweigert. Wir haben die
Halbierung der Pendlerpauschale und stärkere Ein-
schnitte bei der Eigenheimzulage hier im Bundestag mit
unserer Mehrheit beschlossen. Das haben Sie verhindert.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Was ist mit der Steinkohle?)


Deshalb brauchen Sie keine Krokodilstränen zu vergie-
ßen. Ich werde Ihnen kein Taschentuch reichen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das hat keiner verlangt!)


Sie sind hauptverantwortlich für den Schlamassel, in
dem wir uns jetzt befinden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Manfred Grund [CDU/ CSU]: Steinkohle!)


Zusammen mit diesen weiteren Kürzungen, die ich
ausgeführt habe, bedeutet das, was sich jetzt abzeichnet,
Folgendes: Ab sofort verringern sich die Bundesmittel
für den Verkehrswegebau gegenüber der bisherigen
Mittelfristplanung Jahr für Jahr um mehr als 600 Millio-
nen Euro – im Jahr 2004 haben wir ein Minus von
670 Millionen Euro, im Jahr 2005 ein Minus von
1,46 Milliarden Euro und im Jahr 2006 ein Minus von
1,9 Milliarden Euro –, um dann in den Jahren danach auf
einem Niveau von etwa 7,6 Milliarden Euro gegenüber
den ursprünglich geplanten 9,5 Milliarden Euro zu ver-
harren.

Das würde bedeuten, dass wir nach diesem Szenario
im Jahr 2006 so schlecht wären wie im Jahr 1997/98, als
Sie aufgehört haben. Wir wären nur noch bei 7,5 Milliar-
den Euro und damit genauso schlecht wie seinerzeit
Wissmann und Waigel. Das wollen wir doch nicht, liebe
Kolleginnen und Kollegen!


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wenn dieser Horrorweg eingeschlagen wird – auch das
muss man deutlich sagen –, ist der neue Bundesver-
kehrswegeplan, der als Grundlage 9,9 Milliarden Euro
pro Jahr vorsieht, Makulatur, ehe wir ihn überhaupt ver-
abschiedet haben.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Das sagen wir schon seit langem!)

Dann würde nicht einmal die Hälfte der Projekte, die da-
rin stehen, anständig zu finanzieren sein. Für die Schiene
wird es noch schlimmer. Für die Schiene bedeutet dieses
Szenario, dass der Neubau von Strecken in Deutschland
schrittweise zum Erliegen kommt. Bezahlbar wären nur
noch die Modernisierung des Bestandsnetzes – immer-
hin das –, die Fertigstellung laufender Baumaßnahmen
und vielleicht einige wenige Einzelmaßnahmen, an die
man sich noch herantraut. Das ist die bittere Wahrheit,
wenn wir das in den nächsten Haushaltsberatungen tat-
sächlich so umsetzen sollten.

Deshalb appelliere ich in allem Ernst an Sie – ich
schaue immer in Ihre Richtung, weil Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von der Opposition, die Mehrheit im
Bundesrat haben; die Subventionen bei der Pendlerpau-
schale und bei der Eigenheimzulage können wir nun ein-
mal nicht ohne den Bundesrat abbauen –:


(Renate Blank [CDU/CSU]: Sie müssen die eigenen Hausaufgaben machen!)


Wir müssen uns gemeinsam anstrengen! Das Ganze ist
nicht allein ein verkehrspolitisches Thema, sondern das
ist auch Konjunkturpolitik: Eine Investitionskürzung
von 1 Milliarde Euro ist eben nicht eine schlichte Ein-
sparung in dieser Höhe, sondern verursacht Folgekosten.
Das hat Auswirkungen auf die Sozialkassen, auf die
Finanzierung der Arbeitslosenversicherung, der Renten-
versicherung und der Krankenversicherung.

Deshalb müssen wir an die echten Subventionen he-
rangehen. Es ist Wahnsinn, dass jedes Jahr öffentliche
Mittel in Höhe von fast 10 Milliarden Euro für den Bau
von Eigenheimen eingesetzt werden, für den es in den
meisten Regionen des Landes gar keinen Bedarf mehr
gibt. Es ist Wahnsinn, dass Herr Stoiber und andere bei
der Pendlerpauschale unbedingt die Spendierhosen an-
behalten wollen.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Das ist ein Flächenstaat!)


Aber dass der Pendler mit einer immer stärker verkom-
menen Straße und einem immer stärker verkommenen
Schienennetz zu tun hat, soll uns egal sein?


(Renate Blank [CDU/CSU]: Man kann genauso gut mit dem Bus fahren!)


Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen an
der richtigen Stelle Einsparungen vornehmen, und zwar
bei der Eigenheimzulage und der Pendlerpauschale.
Subventionsabbau im echten Sinne des Wortes ist die
Chance, die wir haben und die wir nutzen sollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir werden Ihnen das nicht ersparen. Sie können
dann im Bundesrat erklären, warum Sie für den Abbau
echter Subventionen nicht zu haben sind. Ich appelliere
an Sie: Überlegen Sie es sich noch einmal! Gehen Sie
mit uns diesen Weg, wenn Sie es mit der Erhöhung der
Verkehrsinvestitionen, die wir dringend brauchen, ernst
meinen!






(A) (C)



(B) (D)


Albert Schmidt (Ingolstadt)


Solange Sie uns im Bundesrat nicht helfen, den dro-

henden Irrweg zu verlassen und Kürzungen von Staats-
zuschüssen an der richtigen Stelle vorzunehmen, können
Sie sich Ihr Lamento sparen und brauchen Sie mir nicht
vorzusingen, wie schlimm das alles ist.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Wir singen nicht!)

Sie haben als Mehrheitspartei im Bundesrat eine

große Verantwortung. Bitte denken Sie in einer ruhigen
Stunde darüber nach und lassen Sie uns gemeinsam um-
steuern. Wir stehen dafür sofort zur Verfügung. Ein Si-
gnal von Ihnen genügt und wir holen uns über den Bun-
desrat die notwendigen Mittel bei der Eigenheimzulage
und der Pendlerpauschale. Wir haben kein Problem da-
mit. Das wollten wir von Anfang an, aber Sie haben es
bisher verhindert.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Lassen Sie uns bei allem gemeinsamen Impetus, den
wir, denke ich, doch haben,


(Renate Blank [CDU/CSU]: Na ja! Die Franken und die Oberbayern haben unterschiedliche Meinungen!)


in der Diskussion über die Verkehrsprojekte ehrlich sein,
liebe Frau Kollegin Blank, und in absehbarer Zeit nur
die Maßnahmen fordern, die wirklich finanzierbar sind,
und zwar unabhängig davon, ob mit oder ohne Kürzun-
gen.

Sie fordern in Ihrem Antrag die Weiterfinanzierung
der ICE-Strecke Nürnberg–Erfurt.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Der Minister hat sie ja nicht gebaut!)


Liebe Frau Kollegin, ich schenke Ihnen zu Weihnachten
einen Taschenrechner. Dann können Sie ausrechnen, wie
lange es dauert, wenn wir dieses Projekt – ich rede von
dem Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nr. 8.1, die
ICE-Ausbau- und Neubaustrecke Nürnberg–Erfurt –


(Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Das habt ihr doch auf dem Gewissen!)


mit dem Finanzierungstempo, das Sie uns hinterlassen
haben und das in den vergangenen Jahren in etwa fortge-
setzt wurde, nämlich mit 100 Millionen Euro pro Jahr,
fortsetzen. Es fehlen noch 4,5 Milliarden Euro, die zu in-
vestieren sind. Etwa 500 Millionen Euro sind bis Ilme-
nau bereits verbaut worden.

Wie lange dauert es – das ist die Preisfrage –, bis man
bei einem Budget von 100 Millionen Euro pro Jahr
4,5 Milliarden Euro investiert hat?


(Renate Blank [CDU/CSU]: Man sollte mehr einsetzen!)


Es würde 45 Jahre dauern. Deswegen macht es nur dann
Sinn, ein solches Großprojekt anzupacken, wenn man
klotzen kann, wenn man große Beträge einsetzt. Mit
Kleckern kommt man nicht weiter. Man muss entweder
klotzen oder es lassen bzw. zurückstellen.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Mit anderen Worten: Sie wollen es qualifiziert beenden!)

Das ist meine Auffassung, die im Übrigen nicht neu ist.
Sie kennen sie seit langem. Es ist auch die Auffassung
des Unternehmens Deutsche Bahn AG, die an dieser
Stelle – zumindest, was die Priorisierung anbetrifft – of-
fenbar eher etwas langsamer vorgehen möchte.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Ihr müsst euch in der Koalition einig werden! Der Verkehrsminister sagt Ja und Sie sagen Nein!)


– Wir müssen das Machbare ermöglichen. Ich sage we-
der Ja noch Nein, sondern ich rechne Ihnen etwas vor.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


Gegen Adam Riese Politik zu machen hat noch nie funk-
tioniert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Vorschlag ist,
das Machbare zu machen und das Unerfüllbare meinet-
halben in die Vitrine der Wunschträume zu stellen und
dort eine Zeitlang stehen zu lassen, bis es irgendwann
Milliarden oder auch Manna vom Himmel regnet. Wenn
einmal sehr viel Geld vorhanden sein sollte, dann kön-
nen Sie mit mir über jedes Luxusprojekt reden, und sei
es mit goldenen Tunnels.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Das ist kein Luxus! Das ist eine dringende europäische Notwendigkeit!)


Aber ich glaube nicht an den Weihnachtsmann.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu einem

anderen Punkt ausführen, der heute auf der Tagesord-
nung steht. Wir bringen heute in erster Lesung die dritte
Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes ein. Was
sich so trocken anhört, ist nichts anderes als die Umset-
zung dessen, was seit einem Jahr überfällig ist, nämlich
des letzten großen Schrittes der europäischen Eisenbahn-
politik: die garantierte Eröffnung eines fairen Wettbe-
werbs auf der Schiene.

Wir wollen – das dokumentieren wir mit diesem Ge-
setzentwurf – den fairen Wettbewerb auf der Schiene.
Wir wollen den diskriminierungsfreien Zugang für alle
Eisenbahnverkehrsunternehmen und eine unabhängige
Wettbewerbsaufsicht.

Lassen Sie uns in den bevorstehenden Beratungen ge-
meinsam die mit diesem Gesetz verbundenen Möglich-
keiten und Chancen diskutieren! Lassen Sie uns dort, wo
es vielleicht nötig ist, Verbesserungen vornehmen! Wir
sollten es aber zügig beraten und bald verabschieden. Ich
bin nämlich überzeugt: Im Wettbewerb auf der Schiene
steckt ein ungeheures Potenzial zur Verbesserung der
Qualität des Verkehrsangebotes, aber auch zur Verbesse-
rung der Verkehrsleistung, und zwar sowohl im Hinblick
auf den Güterverkehr – Verlader, Speditionen – als auch
auf Fahrgäste. Dieses Potenzial sollten wir gemeinsam
möglichst schnell nutzen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] Albert Schmidt [FDP]: Da stimmen wir ausnahmsweise mal zu!)





(A) (C)


(B) (D)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510005500

Das Wort hat der Kollege Dr. Klaus Lippold, CDU/

CSU-Fraktion.

Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1510005600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen:
Die Einnahmen aus der LKW-Maut kommen zu-
sätzlich zu den Verkehrsinvestitionen.

(Renate Blank [CDU/CSU]: Betonung auf „zusätzlich“!)

Damit erreichen wir eine langfristige Verstetigung
des hohen Investitionsniveaus und sichern die
Finanzierung des Bundesverkehrswegeplans bis
2015.

(Klaus Minkel [CDU/CSU]: So lügt die Regie rung!)

Dies erklärte Bundesverkehrsminister Stolpe anlässlich
der ersten Lesung des Bundeshaushalts 2004 am
11. September 2003. Herr Stolpe, heute sage ich: Das
war eine bewusste Täuschung;


(Peter Letzgus [CDU/CSU]: Vornehm ausgedrückt!)


Sie hatten nämlich schon damals weder den Kampfes-
noch den Einsatzwillen, sich gegen den Bundesfinanz-
minister durchzusetzen.

Herr Stolpe, es kommt eine ganze Menge anderes
hinzu. Sie haben vorhin von der Maut, von der Mautka-
tastrophe und auch von der Pällmann-Kommission ge-
sprochen. In der Analyse der Pällmann-Kommission
steht ganz eindeutig, dass die Mauteinnahmen der zu-
sätzlichen Finanzierung des Straßenbaus dienen. „Zu-
sätzlich“, Herr Stolpe, und nicht „anstatt“. Sie haben mit
den Ländern eine Vereinbarung getroffen, in der steht,
dass die Mauteinnahmen zusätzlich zu den Ansätzen im
Verkehrshaushalt – nicht anstatt dieser Ansätze – inves-
tiert werden.

Herr Stolpe, Sie haben diese Vereinbarung gebrochen.
Dazu haben Sie bis heute noch kein einziges Wort ge-
sagt. Das zeigt, was Vereinbarungen des Bundesrats mit
der Bundesregierung wert sind:


(Klaus Minkel [CDU/CSU]: Nichts!)

Sie sind nicht das Papier wert, auf dem sie stehen, weil
Sie sich nicht daran halten.

Die Folgen für die Verkehrsinfrastruktur sind absolut
negativ. Da nützen Ihre Bekenntnisse zur Mobilität, die
Sie hier vorgetragen haben – Sie sagten, für die EU-
Osterweiterung sei eigentlich alles bestens vorbereitet –,
nichts. Herr Stolpe, das ist – auch wenn das Verkehrsauf-
kommen zunächst nicht explosionsartig zunimmt – mit-
nichten der Fall. Sie werden die zu erwartende stetig
steigende, enorme Zunahme des Verkehrs mit dem be-
stehenden Straßensystem nicht bewältigen. Das wird erst
recht nicht über die Schiene zu bewältigen sein, weil die
Verkehrsströme, die aus dem Osten kommen, nicht mehr
Schienen-, sondern mehr LKW-Verkehr bedeuten. Jede
andere Behauptung ist Augenwischerei. Sie haben hier
eben Schönrederei betrieben und sonst nichts.

Es ist doch abenteuerlich, 1 Milliarde DM als Ergeb-
nis des Schiedsgerichtsverfahrens im Zusammenhang
mit der Maut anzusetzen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: 1 Milliarde Euro!)


– 1 Milliarde Euro, Entschuldigung. Ich bleibe immer
wieder bei der alten Währung. – Jeder weiß doch inzwi-
schen, dass die Vereinbarung damals mit einem Augen-
zwinkern zustande gekommen ist: schnelles Unterschrei-
ben des Vertrags gegen niedrigere Haftungssummen.

Wie wollen Sie heute aus dieser Angelegenheit
herauskommen? Es ist doch völlig klar: Kein Vertreter
der Wirtschaft hätte damals einen Vertrag mit solch ho-
hen Haftungssummen abgeschlossen; denn schon da-
mals war erkennbar, dass der Zeitpunkt der Einführung
der Maut nicht zu halten ist. Das haben Sie frühzeitig ge-
wusst. Aber Herr Bodewig wollte die Unterschrift und
Sie haben sich hinterher um den Vollzug des Vertrages
nicht gekümmert. So kam dieses Desaster zustande. Das
muss hier noch einmal ganz deutlich angesprochen wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Bundesverkehrsminister, deshalb erwarten wir

wenigstens für die Zukunft von Ihnen, dass sich die
Dinge ändern und dass Sie den Investitionen wirklich
den entsprechenden Rang einräumen. Ich appelliere
noch einmal an Sie, sich in der Auseinandersetzung mit
dem Finanzminister nicht sofort geschlagen zu geben.
Bisher nehmen Sie das, was Ihnen widerfährt, mit der
Gelassenheit dessen, der sich sagt: Es ist eh egal.


(Annette Faße [SPD]: Das ist eine Unterstellung!)


Das ist an dieser Geschichte traurig.
Ich warne noch einmal davor, dafür jetzt das Koch/

Steinbrück-Papier verantwortlich zu machen. In die-
sem Papier steht ganz klar, dass die Investitionen in
Wasser und Straße keine Subventionen sind. Sie hätten
eine andere Lösung für dieses Problem finden müssen.
Aber Sie haben sich nicht um eine andere Lösung be-
müht, weil es erstens am einfachsten war und weil Sie
zweitens noch immer nicht eingesehen haben, dass die
Straße in diesem Land Priorität haben muss. Das ist Ihr
ganz entscheidender, grundsätzlicher Fehler. Sie müssen
in der Verkehrspolitik einen anderen Ansatz wählen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510005700

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Faße?


Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1510005800

Ich bitte darum.






(A) (C)



(B) (D)



Annette Faße (SPD):
Rede ID: ID1510005900

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass im Koch/Stein-

brück-Papier ein Einsparvolumen in Höhe von
40 Millionen Euro bei den Wasserstraßen vorgesehen
war? Sind Sie mit mir einer Meinung, dass es sich hier
sehr wohl um Investitionen und nicht um Subventionen
handelt?


Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1510006000

Ich stimme Ihnen völlig zu, dass dies Investitionen

und keine Subventionen sind. Deshalb ist das auch revi-
diert worden und war der Ansatz betreffend die Straßen
nicht zulässig. Aber obwohl der Subventionsbegriff bei
der Straße nicht zutrifft, hat Herr Stolpe – das hat mich
am meisten geärgert –, in einem Schreiben an den hessi-
schen Finanzminister ausgeführt, dass die A 66 wegen
des besagten Vorganges nicht ausgebaut werden könne.
Herr Stolpe, was soll das eigentlich? Wie können Sie
solche Zusammenhänge herstellen? Das ist nicht haltbar.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann hätten wir die Deutsche Bahn von heute auf morgen zusperren können!)


– Stellen Sie eine Zwischenfrage! – So läuft das jeden-
falls nicht. Man kann nicht einfach sagen, die A 66
könne nicht ausgebaut werden. Sie ist schließlich ein
Kernstück im Rhein-Main-Gebiet. Wir werden sehen,
wie die Bevölkerung darauf reagieren wird, wenn in die-
ser unzulässigen Art und Weise eingegriffen wird.

Einen weiteren Punkt, der mich nachhaltig irritiert,
hat bereits der Kollege Friedrich angesprochen. Ver-
kehrsinvestitionen sichern Arbeitsplätze – Herr Stolpe,
dies kommt bei Ihnen noch immer nicht im notwendigen
Umfang zum Ausdruck – auch und gerade im Osten un-
seres Landes. Herr Kollege Schmidt, Sie haben gesagt
– ausnahmsweise ist ein Lob fällig; das habe ich ja ver-
sprochen –, der Bundesverkehrswegeplan stehe vor dem
Zusammenbruch und sei eigentlich nur noch Makulatur.
Das ist Realität.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Noch nicht!)


Die Investitionen bleiben auf der Strecke. Herr Kollege
Schmidt, ich sage das deshalb, weil ich Ihre Äußerungen
mit Freude vernommen habe. Die Kollegin Rehbock-
Zureich hat sich in ähnlicher Weise geäußert. Aber ich
fürchte, dass Sie sich nicht durchsetzen werden und dass
wir uns in absehbarer Zeit anlässlich dieser Problematik
wieder sprechen werden. Ich wäre froh – Sie hätten un-
sere Unterstützung –, wenn Sie sich durchsetzen würden.
Unternehmen Sie einen entsprechenden Vorstoß und wir
werden darauf zurückkommen. Wenn es um Verkehrsin-
vestitionen geht, sind wir jederzeit bereit, ganz klar und
entschieden zu handeln und dafür zu sorgen, dass es
vorangeht.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510006100

Herr Kollege Lippold, gestatten Sie noch eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Schmidt?

Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1510006200

Ja.
Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE

GRÜNEN):
Lieber Herr Kollege Lippold, darf ich Ihre letzte Ein-

lassung, Ihr Angebot, mich zu unterstützen, so verste-
hen, dass Sie bereit sind, gemeinsam mit dem Bundesrat
eine erneute Initiative des Deutschen Bundestages, die
– bei Verschonung der Investitionen für Straße, Schiene
und Wasserstraße – auf den Abbau der „echten“ Subven-
tionen abzielt, zu unterstützen und Ihren Ministerpräsi-
denten Roland Koch dazu zu bewegen, dass er in diesem
Punkt die Haltung des Bundeslandes Hessen revidiert
und dass er unserer Auffassung zustimmt, dass das not-
wendige Geld durch den Abbau der Eigenheimzulage
und der Pendlerpauschale aufgebracht werden muss und
nicht aus dem Etat für Straßen-, Schienen- und Wasser-
straßeninvestitionen kommen darf?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1510006300

Kollege Schmidt, wenn es um Kürzungen geht, dann

werden wir über alle Subventionen diskutieren müssen.
Das ist der entscheidende Punkt. Auf die Steinkohlesub-
ventionen wurde bereits hingewiesen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Auch darüber können wir reden!)


Derjenige, der am vehementesten für die Erhaltung der
Kohlesubventionen votiert hat, als die Gewerkschaft und
die Bergbauarbeiter in Bonn demonstriert haben, war Ihr
damaliger Sprecher Joschka Fischer, der heute Bundes-
außenminister ist. Das heißt, alles, was Sie hier detail-
liert angeführt haben, fällt auf Sie zurück.

Lassen Sie uns alle Subventionen noch einmal prüfen
und sehen, wo wir am sinnvollsten ansetzen können. Sie
werden immer meine Unterstützung haben, wenn es da-
rum geht, Subventionen zu kürzen. Hier ziehen wir am
gleichen Strang. Ansonsten werden wir gemeinschaftlich
nicht das Ziel erreichen, die Voraussetzungen für Mobi-
lität in der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510006400

Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Weis, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)



Reinhard Weis (SPD):
Rede ID: ID1510006500

Frau Präsidenten! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Werte Zuhörer, ich möchte mich in einer Vorbemerkung
an Sie wenden. Herr Lippold hat eben von der Verabre-
dung im Vermittlungsausschuss und davon gesprochen,
dass zusätzlich zu den Haushaltsmitteln die Mauteinnah-
men verwendet werden sollen. Dazu ist eine Erläuterung
notwendig.






(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Weis (Stendal)


Wir alle müssten es besser wissen. Kein Vermitt-

lungsausschuss kann dem Haushaltsgesetzgeber eine
Vorgabe für die konkrete Höhe eines Haushaltstitels ma-
chen. Das lässt das Haushaltsrecht nicht zu. Wir als
Haushaltsgesetzgeber sind in der Verantwortung, die
Einzeltitel jeweils in der Gesamtschau des Haushalts
festzulegen. Die Realität ist nach drei Jahren Stagnation
bzw. Minuswachstum leider so, wie sie ist. Wir als Ver-
kehrspolitker wären froh darüber gewesen, das Niveau
der Haushaltstitel des Jahres 2002 zu halten, aber die
Realität ist leider eine andere. Da kann man in Bezug auf
Bundesrats- und Vermittlungsausschussverabredungen
nicht von Unverlässlichkeit sprechen.

Herr Oswald hat den Zustand der Bundesstraßen bzw.
Bundesautobahnen beklagt. Ich habe ein etwas differen-
zierteres Bild. So allgemein, wie er gesprochen hat, kann
er nur die Staatsstraßen aus dem Freistaat Bayern ge-
meint haben.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das hat sicher wieder der Stiegler gesagt! Diese Zahlen stammen aus dem Bundesverkehrswegeplan! – Gegenruf von der SPD: Da wird der Oswald unruhig!)


Wer im Glashaus sitzt, lieber Kollege Oswald, sollte
nicht mit Steinen werfen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wenn man aus Sachsen-Anhalt kommt, sollte man mit den Aussagen etwas vorsichtiger umgehen!)


Wir diskutieren heute einen Antrag der CDU/CSU
mit dem wohlklingenden Titel „Deutschland braucht
Klarheit bei der Verkehrsinfrastuktur“. Schön und gut!
Ich würde es allerdings anders formulieren, nämlich:
Deutschland braucht endlich Klarheit darüber, was die
Opposition eigentlich will.


(Beifall bei der SPD – Renate Blank [CDU/ CSU]: Das haben wir oft genug gesagt!)


Haben bei der Opposition die Verkehrsinvestitionen
wirklich oberste Priorität? Ist die CDU/CSU wirklich be-
reit, auch bei den konsumtiven Ausgaben des Bundes
Einsparungen vorzusehen, wie es in dem Antrag so
schön heißt, oder entscheidet sie sich im Zweifel doch
lieber für den Erhalt der Agrarsubventionen


(Siegfried Scheffler [SPD]: Aha!)

und bekämpft alle Vorschläge der Bundesregierung zum
Subventionsabbau?

Die Wahrheit über die Oppositionspolitik ist: Sie re-
den vollmundig über Subventionsabbau,


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das geht aber zu weit! – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Das stimmt aber!)


aber wenn es ernst wird, kneifen Sie vor der Verantwor-
tung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Richtig ist: Es gibt Schwierigkeiten bei der Investi-

tionsfinanzierung. Es ist allerdings ein Märchen, diese
Schwierigkeiten seien das Resultat der Mautausfälle.
Zur Kompensation der Mautausfälle im Haushalt 2004
wurden vernünftige Regelungen vorgelegt. Seit Anfang
dieses Monats ist die Haushaltssperre für den Einzel-
plan 12 aufgehoben. Die aus Mautmitteln zu finanzie-
renden Verkehrsinvestitionen können wie geplant getä-
tigt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Darüber hat der Minister eben gesprochen. Wir haben
am 12. März hier im Bundestag darüber gesprochen.
Kollege Beckmeyer hat Ausführungen dazu gemacht.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sehr beeindruckend!)


Ich möchte einer Legendenbildung entgegentreten.
Die Schwierigkeiten, die für das Haushaltsjahr 2004 und
vor allen Dingen auch im Hinblick auf die mittelfristige
Finanzplanung bleiben, sind doch nicht das Ergebnis der
Mautausfälle, sondern sie sind das Ergebnis Ihrer Weige-
rung, im Bundesrat die Kürzung tatsächlicher Subven-
tionen zugunsten der Sicherung wichtiger staatlicher
Aufgaben mitzutragen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Mensch, Reinhard, wer hat dir denn das aufgeschrieben?)


Hiermit meine ich die Investitionen, die wir im Bereich
Bildung und Forschung brauchen – davon hat der Bun-
deskanzler heute morgen gesprochen –, aber auch die In-
vestitionen für die Verkehrsinfrastruktur, die wir in den
vergangenen Jahren auf ein Rekordniveau gehoben ha-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wo denn?)


Sie von der Opposition sind an der Situation, vor der
wir jetzt stehen, genauso beteiligt wie die Regierungs-
fraktionen in diesem Haus. Als Ergebnis Ihrer Weige-
rung haben wir die unsäglichen Koch/Steinbrück-Vor-
schläge als Bestandteil eines Vermittlungsvorschlages
zu bewältigen. Während des Vermittlungsverfahrens am
Ende des Jahres 2003 haben Sie wahrscheinlich noch an-
genommen, man könne sich den Pelz waschen, ohne da-
bei nass zu werden.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Das geht nicht!)

Alle Beteiligten in Bund und Ländern mussten zum

damaligen Zeitpunkt wissen, dass es bei der Umsetzung
der Koch/Steinbrück-Vorschläge zu Kürzungen bei der
Finanzierung des Infrastrukturausbaus kommen wird.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie haben gerade gesagt, dass der Vermittlungsausschuss nichts festlegen kann! Wie denn nun?)


Wir Verkehrspolitiker haben darauf hingewiesen. Wenn
Sie jetzt mit treuherzigem Augenaufschlag


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Alles nur Maske!)







(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Weis (Stendal)


ganz erstaunt fragen, wieso die Verkehrsinvestitionen in
2004 nicht die ursprünglich geplante Höhe erreichen
werden – da beziehe ich mich auf die Pressemitteilung
von Dirk Fischer von heute –, dann ist da schon viel
Heuchelei im Spiel.

Wir haben es von Anfang an für einen Kardinalfehler
gehalten, Investitionen in Schienen- und Wasserwege als
Subventionen zu qualifizieren und die in die Straße
nicht. Die Definition, die uns Herr Lippold hier vorge-
stellt hat, können wir nicht nachvollziehen.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Sie können wenig nachvollziehen!)


Leider haben wir Verkehrspolitiker uns nicht durchset-
zen können. Aber wo war denn damals der Aufschrei
von den Verkehrspolitikern der Opposition? Wann haben
Sie sich gegen diese neue und völlig verkehrte Defini-
tion von Subventionen gewehrt? Wir haben nichts von
Ihnen gehört.


(Annette Faße [SPD]: So ist das!)

Wir von der rot-grünen Koalition haben wenigstens

durchgesetzt, dass die Einsparauflagen nicht einseitig
dem Verkehrsträger Schiene angelastet werden. Mit
dem, was wir haushaltstechnisch verabredet haben, ha-
ben wir die Investitionen in 2004 auf einem verantwort-
baren Niveau gehalten und ein ausgewogenes Verhältnis
der Verkehrsträger untereinander gesichert. Es geht aber
darum, das hohe Investitionsniveau für die Jahre 2005
und folgende zu realisieren. Wir dürfen den Verkehrsbe-
reich nicht kaputtsparen. Wir müssen unsere Verkehrsin-
frastruktur auf die EU-Osterweiterung und die zu erwar-
tenden Verkehrsströme vorbereiten.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Dann müsst ihr etwas dafür tun!)


Schließlich müssen wir auch Vorkehrungen treffen, dass
bei der Fußballweltmeisterschaft – sie wurde in der heu-
tigen Debatte ja schon einmal erwähnt – keine chaoti-
schen Situationen auf Bahnhöfen und Autobahnkreuzen
entstehen.

Wir müssen deshalb gemeinsam versuchen – ich sage
hier bewusst „gemeinsam“ –, die Auswirkungen der
Koch/Steinbrück-Vorschläge zurückzudrängen. Wir alle
kennen das Worst-Case-Szenario, das in der vergange-
nen Woche in der „FAZ“ veröffentlicht wurde. Die Zah-
len hat Kollege Schmidt heute schon im Einzelnen ge-
nannt; ich will sie deshalb nicht wiederholen. In diesem
Worst-Case-Szenario ist festgehalten, welche Entwick-
lungen die Verkehrsinvestitionen nehmen würden, wenn
wir die Koch/Steinbrück-Vorschläge in den nächsten
Jahren einfach fortschreiben würden. Das darf nicht der
Fall sein.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das steht in dem Bericht nicht drin!)


– Wir wissen aber, dass es so ist. Diese Abhängigkeit be-
steht, Horst.

Ich denke, wir sollten uns deshalb gemeinsam mit
dem Gedanken vertraut machen, die Maut von Beginn
an, wenn sie denn zum 1. Januar 2005 eingeführt wird,
auf die ursprünglich vorgesehenen 15 Cent pro Kilome-
ter anzuheben, um zusätzliche Einnahmen zu realisieren.
Diesen Appell richte ich ausdrücklich auch an die Län-
der, die einer Änderung der Mauthöheverordnung zu-
stimmen müssen.

Da wir heute im Bundestag auch über zwei Vorlagen
zur EU-Wegekostenrichtlinie sprechen, möchte ich dazu
noch ein paar Anmerkungen machen: Bei dem Aufbau
des Mautsystems dürfen der Industrie keine weiteren
peinlichen Fehler mehr unterlaufen. Wir fordern strikte
Offenheit und haben auch den Eindruck, dass ein neuer
Wind bei Toll Collect weht, also mehr Bereitschaft zu
Offenheit und Kooperation besteht. Wir haben in der
nächsten Woche mit führenden Vertretern von Toll
Collect ein Gespräch im Ausschuss für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen. Wir hoffen, dass wir vom Ministe-
rium über die Wirkung des neuen festen Controlling lau-
fend Informationen bekommen.

Unser Ausschuss hat sich zu einem Zeitpunkt mit der
Wegekostenrichtlinie der EU beschäftigt, als das vor-
läufige Scheitern der EU-Verhandlungen noch nicht ab-
sehbar war. Wir haben damals mit großer Mehrheit
– also auch mit den Stimmen der Opposition – unsere
Kritik am damaligen EU-Diskussionsstand geäußert.
Diese legen wir heute dem Bundestag zur Entschließung
vor. Ich möchte kein Geheimnis daraus machen, dass ich
nicht unglücklich darüber bin, dass inzwischen eine Ent-
scheidung auf EU-Ebene über die Wegekostenrichtlinie
zunächst zurückgestellt ist. Die Verhandlungen auf EU-
Ebene drohten nämlich eine Wendung zu nehmen, die
für unser nationales Mautprojekt recht problematisch ge-
worden wäre. Die Absenkung der Mautpflicht auf LKW
ab 3,5 Tonnen oder die Berechnung der Mauthöhe aus-
schließlich auf Basis der Kosten für die in jüngerer Zeit
fertig gestellten Bundesfernstraßen wäre für uns sehr
schwierig geworden. Nun bin ich doch hoffnungsvoll,
dass wir unser Mautsystem ohne Restriktionen vonseiten
der EU einführen können.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510006600

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.


Reinhard Weis (SPD):
Rede ID: ID1510006700

Ich stelle zusammenfassend fest, Frau Präsidentin,

dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages äußers-
tes Interesse an einem hohen und angemessenen Investi-
tionsniveau im Verkehrsbereich haben. Ich leite daraus
auch meine Hoffnung ab, dass wir gemeinsam die Wir-
kungen der unseligen Koch/Steinbrück-Vorschläge ab-
wenden können.


(Zuruf von der CDU/CSU: Steinbrück ist doch einer von euch! Begreift das doch einmal!)


Der Subventionsabbau bleibt eine aktuelle Aufgabe.
Packen Sie sie mit uns an!

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510006800

Nächster Redner ist der Kollege Manfred Grund,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1510006900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! In der guten alten Zeit, als das Wünschen noch
geholfen hat, begannen in Deutschland Märchen mit den
Worten: „Es war einmal“. In der nicht so guten neueren
Zeit, in der das Wünschbare zum Regierungsprinzip er-
hoben wird, weil Regieren auch Spaß machen soll, in der
Gerhard Schröder Bundeskanzler in Deutschland ist und
ein ausgewiesener Verkehrsexperte wie Manfred Stolpe
Verkehrsminister, beginnen die Märchen mit den Wor-
ten: „Es wird einmal“.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben heute jede Menge solcher Märchen hier ge-
hört.

Verkehrsminister Stolpe hat gesagt: Es wird weiterge-
baut, es gibt keinen Abbruch, alles wird gut. Das reiht
sich in die Reihe anderer Versprechungen ein: Die ICE-
Trasse, 8.1 und 8.2 der Verkehrsprojekte, wird weiterge-
baut, der Knotenpunkt Bahnhof Erfurt wird zu einem der
modernsten Bahnhöfe in Deutschland umgebaut werden
und Leipzig muss im Zusammenhang mit der Olympia-
bewerbung überhaupt keine Sorge haben, dass es nicht
angebunden wird. – Nichts davon wird wahr. Das sind
bestenfalls Märchen, schlechtestenfalls sind es Lügen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich will gar nicht so weit in die Vergangenheit zu-
rückgehen, es genügen die letzten Tage. Vor wenigen Ta-
g
Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1510007000
Mit Hochdruck wird an dem
Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den
neuen Bundesländern gearbeitet. Das war am Dienstag
dieser Woche. Am Mittwoch dieser Woche ist der Wirt-
schafts- und Verkehrsminister von Thüringen zu Herrn
Mehdorn in Frankfurt einbestellt worden.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Der lässt sich einbestellen?)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510007100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Schmidt?

Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1510007200

Ja.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nein, das muss nicht sein!)


Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Vielen Dank. – Herr Kollege, um Sie selber davor zu
schützen, dass Sie hier im Bundestag falsche Behauptun-
gen aufstellen,

(Renate Blank [CDU/CSU]: Ach, das ist aber liebenswürdig!)


kleide ich folgende Bemerkung in Frageform: Sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Herr Mehdorn an
dem besagten Tag überhaupt nicht in Frankfurt war, dass
er deshalb Herrn Reinholz auch nicht dort hinbestellt ha-
ben kann und dass stattdessen aber eine VMK oder et-
was Ähnliches, also eine Konferenz der Länderminister
oder der Abteilungsleiter aus den Ministerien oder was
auch immer, stattgefunden hat, bei der allenfalls jemand
anders zu diesem Thema gesprochen haben kann, jeden-
falls nicht Herr Mehdorn, sodass die Pressemitteilung
von Herrn Reinholz zumindest in dieser Form eigentlich
nur falsch sein kann?


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1510007300

Mein Kenntnisstand, lieber Kollege Schmidt, ist, dass

Herr Mehdorn zu einer Besprechung eingeladen hat, um
wichtige Dinge mitzuteilen, zu denen ich gleich kom-
men werde, und dass es sich keineswegs um ein Ge-
spräch mit irgendwelchen – jetzt zitiere ich jemanden
aus der SPD-Fraktion – „Fuzzis“ bei der Deutschen
Bahn in Frankfurt gehandelt hat, sondern dass auf höchs-
ter Bahn-Ebene verhandelt worden ist.

Bei diesem Treffen ist dem Thüringer Verkehrsminis-
ter mitgeteilt worden, dass für den Weiterbau der ICE-
Trasse zwischen Erfurt und Nürnberg bis zum Jahre
2009 kein Geld mehr bereitgestellt werde, selbst die Mit-
tel für baurechtserhaltende Maßnahmen seien nach Aus-
sagen der Bahn nicht gesichert, offene Fragen gebe es
auch hinsichtlich des ICE-Bahnhofs in Erfurt.

Ebenfalls auf Eis gelegt sind andere Projekte; es geht
nicht nur um den ICE. Es geht auch um ein Projekt, das
Sie, Kollege Schmidt, zu Land, zu Wasser und in der
Luft seit 1990 intensivst bekämpft haben. Es geht um die
Mitte-Deutschland-Schienenverbindung, zum Beispiel
um die Anbindung von Ronneburg und nicht zuletzt
auch um Leipzig. Auch dafür stehen keine Mittel mehr
zur Verfügung.

Als dies veröffentlicht wurde – da nehme ich Ihren
Einwurf noch einmal auf –, teilte Frau Kollegin Gleicke
mit, sie habe allmählich die Nase gestrichen voll davon,
dass hier versucht werde, die Glaubwürdigkeit der Bun-
desregierung infrage zu stellen. Frau Gleicke sagte, dies
seien miese Methoden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In der Vorlage der Deutschen Bahn zu dem Gespräch

mit dem Erfurter Verkehrsminister heißt es, die Anpas-
sung der Planung an die neue Haushaltslinie erfordere
Projektabbrüche und Verschiebungen. Das ist die Reali-
tät: Projektabbrüche und Verschiebungen. Mit Verschie-
bungen – der Kollege Schmidt hat süffisant darauf hin-
gewiesen – sind nicht ein oder zwei Jahre gemeint, also
vielleicht auf 2007, sondern eher 20 Jahre. Die Grünen
haben in einer Pressemittlung erklärt, vor 2020 sei nicht
mit der Fertigstellung dieser nicht nur für Thüringen
wichtigen ICE-Trasse zu rechnen.






(A) (C)



(B) (D)


Manfred Grund

Aus dem Bundesverkehrsministerium verlautet dazu:

Die Strecke wird weitergebaut. Das sagte Ministeriums-
sprecher Felix Stenschke der dpa; alles andere sei unver-
antwortliches Geschwätz.

Nun gibt es vom selben Tag eine zweite Pressemittei-
lung aus dem Bundesverkehrsministerium. Darin erklärt
eine Pressesprecherin: „Neu angefangen wird wenig in
diesem Jahr.“ Die Bahn müsse 2004 mit Bundeszuschüs-
sen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro auskommen und
wolle ebenfalls viele Bauvorhaben auf Eis legen. Da die
Bahn 2,5 Milliarden Euro in den Erhalt des bestehenden
Netzes investieren müsse, bleibe für Neu- und Ausbau-
projekte nur 1 Milliarde Euro übrig. In der Erklärung
heißt es weiterhin, dass als wahrscheinlicher Kandidat
für eine Verschiebung unter anderem die ICE-Neubau-
strecke Nürnberg–Erfurt gilt.


(Renate Blank [CDU/CSU]: So ist es!)

Herr Minister Stolpe, Sie haben in Ihrer Rede von den

Transeuropäischen Netzen gesprochen. Diese ICE-Stre-
cke ist der Bestandteil des Transeuropäischen Netzes
schlechthin.


(Lachen des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie beginnt in Norditalien und führt durch Deutschland
bis nach Skandinavien. In dieses Projekt sind bisher
700 Millionen Euro geflossen. Ein ganz erheblicher Teil
davon sind EU-Gelder. Die Realisierung dieses Trans-
europäischen Netzes ist aber auf den Sankt-Nimmer-
leins-Tag verschoben worden. 700 Millionen Euro sind
sprichwörtlich in den Sand gesetzt worden.

Aber nicht nur bei dieser ICE-Trasse gibt es Pro-
bleme. Die Umbauarbeiten am Knotenpunkt Erfurt wer-
den in den nächsten 14 Tagen wahrscheinlich eingestellt
werden.


(Karin Rehbock-Zureich [SPD]: So ein Quatsch! – Siegfried Scheffler [SPD]: Es wird überhaupt nichts eingestellt!)


Die Baukräne hören auf, sich zu drehen. Das heißt, das
Provisorium ohne Fahrstuhl für Behinderte, ohne Roll-
treppe und ohne Überdachung bleibt auf unabsehbare
Zeit bestehen, weil für diesen Bereich kein Geld vorhan-
den ist.

Meine Damen und Herren, ich verstehe Ihre Erre-
gung. Wir alle gemeinsam sind darüber erregt, insbeson-
dere die Kollegen aus den neuen Bundesländern. Jeder
Bericht bescheinigt den neuen Bundesländern einen Pro-
duktivitätsrückstand von ungefähr 20 Prozent, der allein
darauf zurückzuführen ist, dass die Verkehrsanbindung
in den neuen Bundesländern wesentlich schlechter ist als
die Verkehrsanbindung in den alten Bundesländern. Die-
sen Rückstand von 20 Prozent gilt es schnell aufzuholen.
Dazu waren die Bundesverkehrswegeplanungen bisher
gedacht. Sie hören an dieser Stelle aber damit auf, den
Aufholprozess in den neuen Bundesländern voranzutrei-
ben.

Ich möchte noch einen zweiten Punkt anführen. Wir
wissen, dass ab den Jahren 2007/08 die europäischen
Strukturfonds für die neuen Bundesländer nicht mehr be-
stehen. Wenn es die Möglichkeit einer Nachfinanzierung
nicht mehr gibt, dann fehlen 3,5 bis 4 Milliarden Euro
für Investitionen, auch für Investitionen im Rahmen des
Verkehrshaushalts. Wir wissen, dass der Solidarpakt II
degressiv ausgestaltet ist. Es stehen also immer weniger
Mittel für Industrieansiedlungen zur Verfügung. Wir
wissen auch, dass die Investitionszulage zeitlich befristet
ist. Es kann im schlechtesten Fall sein, dass es im Jahr
2010 eine einigermaßen funktionierende Verkehrsinfra-
struktur gibt – allerdings muss noch eine ganze Menge
bis dahin passieren –, dass wir dann aber keine Mittel für
Industrieansiedlungen in den neuen Bundesländern mehr
haben. Das ist ein Ergebnis, das von uns keiner ernsthaft
will.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Minister Stolpe, ich möchte Sie einfach bitten,

dass Sie den Versuch unternehmen, dem Aufbau Ost, der
in Ihrem Ministerium angesiedelt ist, ein wenig die
Stange zu halten, damit es nicht irgendwann heißt:
Stolpe sagt nach wie vor die Unwahrheit und erzählt
Märchen.


(Zuruf von der SPD: Quatsch!)

Ich glaube, dies sollten Sie sich nicht antun.

Unser Bemühen ist – auch wenn es im Moment keine
gemeinsame Linie gibt –, dass wir die Projekte gemein-
sam voranbringen. Wir werden da mitarbeiten. Aber wir
fühlen uns für Ihre fehlenden Konzepte nicht verant-
wortlich.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510007400

Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Rehbock-

Zureich, SPD-Fraktion.

Karin Rehbock-Zureich (SPD):
Rede ID: ID1510007500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Es ist schon eine erstaunliche Debatte, genauer:
eine heuchlerische Debatte, die wir hier verfolgen kön-
nen.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist unparlamentarisch!)


Einerseits beklagen Sie den Rückgang der Investitions-
mittel, negieren aber gleichzeitig die Auswirkungen der
Koch/Steinbrück-Liste. Dann beschweren Sie sich auch
noch, dass wir diese Einbrüche bei den Investitionen im
Verkehrsbereich auf alle Verkehrsträger umgelegt haben.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Zudem, Herr Grund, beklagen Sie die Situation im
Schienenbereich. Die Oppositionsfraktionen sollten mir
einmal mitteilen, wie man das alles unter einen Hut brin-
gen kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: So einen großen gibt es gar nicht!)







(A) (C)



(B) (D)


Karin Rehbock-Zureich

Wir haben im Einzelplan 12 eine schwierige Finanz-

lage; das ist richtig. Ursache dafür sind nicht die ausblei-
benden Mautmittel;


(Renate Blank [CDU/CSU]: Wer ist denn da schuld?)


die haben wir ausgeglichen.
Herr Friedrich, auf Folgendes möchte ich eingehen:

Wenn im Haushalt Mittel entsperrt worden sind, stehen
sie zur Verfügung.

Der Einzelplan 12 ist ab 2004 und in den Jahren 2005
und folgende durch die Koch/Steinbrück-Liste belastet.
Dies bereitet uns in den nächsten Jahren riesige Pro-
bleme. Ich möchte darauf hinweisen, dass man sich als
Opposition nicht einfach aus der Verantwortung stehlen
kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben im Vermittlungsausschuss die Koch/
Steinbrück-Liste beschlossen. Sie haben seit 2002 ver-
hindert, dass Subventionen abgebaut werden. Sie waren
es, die verhindert haben, dass man den Verkehrsbereich
nicht als reine Subvention ansieht. Investitionen in die
Straße können keine Subventionen sein. Aber auch In-
vestitionen in den Schienenbereich können keine Sub-
ventionen sein, weil die Aufgabe des Bundes, für den
Neu- und Ausbau sowie für die Aufrechterhaltung des
Schienennetzes zu sorgen, grundgesetzlich verankert ist.


(Beifall des Abg. Reinhard Weis [Stendal] [SPD])


Als wir angetreten sind, haben wir ein marodes Schie-
nennetz angetroffen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Oh!)

Sie haben die Schiene in Ihren Haushalten als Steinbruch
benutzt.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Quatsch!)

Wir haben 1998 doch nicht mit Investitionsmitteln von
rund 4 Milliarden Euro, wie es im Schienenwegebericht
für das Jahr 2002 steht, sondern mit knapp der Hälfte be-
gonnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Na, na, na!)


Wir haben ein Schienennetz angetroffen, bei dem offen-
sichtlich war, dass nie Mittel in das Bestandsnetz geflos-
sen sind. Diese Bestandsnetzmittel in Höhe von 2,5 Mil-
liarden Euro haben wir in den vergangenen Jahren
gesichert. Dies werden wir auch in Zukunft tun.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Dem Autofahrer sei Dank, den Sie um 17 Milliarden abzocken!)


Wir haben vor, die Bundesrepublik im Rahmen eines
integrierten Verkehrsnetzes – dazu gehören alle Ver-
kehrsträger – zu einem modernen Standort zu machen.
Das heißt, wer glaubt, er könne ausschließlich im Be-
reich Schiene Investitionen streichen, der verfolgt eine
Steinzeitpolitik. Er hat nicht begriffen, dass wir alle Ver-
kehrsträger benötigen.

Ich möchte Sie in dieser schwierigen Situation auffor-
dern: Nehmen Sie die Chance wahr! Denn anscheinend
sind auch Sie der Meinung, dass wir zusätzliche Investi-
tionen in den Verkehrsbereich auf den Weg bringen müs-
sen, um das unsägliche Koch/Steinbrück-Papier auszu-
gleichen. Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Gehen
Sie mit uns den Weg, die wirklichen Subventionen in
diesem Haushalt anzugehen, um die Mittel in die not-
wendigen Investitionen zu lenken! Wir brauchen Investi-
tionen in die Bereiche Schiene, Straße und Wasserstraße.


(Beifall bei der SPD – Eduard Oswald [CDU/ CSU]: Jawohl, da sind wir uns einig!)


Sie beklagen, dass in den neuen Bundesländern
nicht ausreichend Investitionsmittel zur Verfügung ste-
hen, wie es Herr Grund für den Bereich der Schiene an-
gesprochen hat. Machen Sie sich auf den Weg und brin-
gen Sie Vorschläge für die Haushalte 2005 und folgende
ein, damit wir den hohen Investitionsbedarf von rund
4 Milliarden, den wir uns für den Schienenbereich vor-
genommen haben, im Haushalt umsetzen! Wir bieten Ih-
nen in dieser Hinsicht Zusammenarbeit an. Es kann aber
nicht sein, dass Sie das Koch/Steinbrück-Konzept mit
beschließen, sich dann aber aus der Verantwortung steh-
len, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510007600

Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1510007700

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Jetzt

wollen wir doch einmal mit den Märchen bezüglich des
Koch/Steinbrück-Konzepts aufräumen. Ich sage jetzt
zum wiederholten Mal: Koch und Steinbrück haben in
ihrem Konzept – damit nehme ich auch Ihren Minister-
präsidenten und nicht nur unseren, den Herrn Koch, in
Schutz – ausschließlich die Schienenmittel genannt und
sonst nichts.


(Karin Rehbock-Zureich [SPD]: Und die Wasserstraßen!)


– Das ist ein geringer Betrag.

(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: 40 Millionen sind ein geringer Betrag! Vielen Dank für die Aussage! Das erzähle ich den Binnenschiffern!)


Sie kürzen die Investitionen im Verkehrsbereich
um insgesamt 540 Millionen Euro. 335 Millionen Euro
nehmen Sie von den Straßenbauinvestitionen. Sie ma-
chen das aus rein ideologischen Beweggründen gegen
die Beschlüsse im Vermittlungsausschuss und im Haus-
haltausschuss.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!)







(A) (C)



(B) (D)


Renate Blank

Koch und Steinbrück wollten nur die Schiene belasten.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und die Wasserstraßen mit 40 Millionen Euro im ersten Schritt! Das haben wir sogar reduziert!)


– Kollege Albert Schmidt, es entspricht der grünen Ideo-
logie, zu meinen, man könne alle Schienenmittel ver-
bauen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es ist schwarze Ideologie, dass man zu doof ist zum Lesen! Entschuldigung!)


Die beiden Ministerpräsidenten wussten aber, dass
die Deutsche Bahn AG im Jahr 2004 nicht alle Mittel
verbauen kann, denn Bahnchef Mehdorn hat am 18. De-
zember 2003 für alle Maßnahmen einen Bau- und
Planungsstopp verhängt. Auch war der Haushalt bis
Anfang März 2004 gesperrt.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das lag am Bundesrat!)


Wie wollen Sie die Planungen für die Schiene wieder
anlaufen lassen? Außerdem hat die Deutsche Bahn AG
in den Jahren 1995 bis 2002 6 Milliarden Euro nicht ver-
bauen können. Das ist nachgewiesen. Die Mittel konnten
erstmalig im Jahr 2003 verbaut werden.

Vielleicht ein Hinweis: Wenn man den Schienenwe-
geausbaubericht intensiv liest, sieht man, dass die Inves-
titionen in die Schieneninfrastruktur in den letzten fünf
Jahren zurückgefahren und nicht erhöht wurden.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es aber lustig! Jetzt geht es los! Es ist unglaublich!)


Mit einem Stop and go bei den Planungen für Schie-
nenstrecken, also bei einer Politik, die bei den Planungs-
vorhaben mit langen Phasen der Vollbremsung und kur-
zen Phasen des Fahrens mit Normalgas arbeitet, bleibt
doch eine innovative, zügige und kostengerechte Weiter-
entwicklung des Schienenverkehrswegebaus im wahrs-
ten Sinne des Wortes auf der Strecke. In den Planungs-
büros wird Know-how vernichtet und der Bundeskanzler
ruft das „Jahr der Innovation“ aus. Hier ist der Bundes-
kanzler gefordert, mit Bahnchef Mehdorn endlich ein
ernstes Gespräch zu führen.

Das in privaten Planungsbüros vorhandene eisen-
bahntechnische Wissen wächst doch nicht auf den Bäu-
men. Es kommt von gut ausgebildeten und laufend
geschulten Ingenieuren. Dieses Wissen wird derzeit in
Deutschland vernichtet. Woher soll denn der heute Mor-
gen vom Bundeskanzler großartig prophezeite Auf-
schwung kommen?


(Annette Faße [SPD]: Ihr wolltet doch die Schienenmittel kürzen!)


Das Konzept zur Finanzierung der Verkehrsinfra-
struktur hat so viele Löcher wie ein Schweizer Käse.
Nachdem die Einnahmen aus der LKW-Maut weiterhin
ausbleiben und die Haftungsansprüche einstweilen
– man rechnet mit gut zwei Jahren, bis es im Schiedsver-
fahren zu einer Entscheidung kommt – so viel wert sind
wie ein ungedeckter Scheck, droht neues Unheil aus der
Mautecke: Wenn, wie in der Neufassung der EU-Wege-
kostenrichtlinie vorgesehen, nur noch Straßen, die nicht
älter als 15 Jahre sind, bemautet werden dürfen


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Sie wissen doch, dass das in der EU gescheitert ist!)


– nein, nur die Eurovignette in einem anderen Bereich –,
bedeutet dies das Aus für die gute Idee der Nutzerfinan-
zierung durch schwere LKW in Deutschland. Die meis-
ten Autobahnen wurden in den 50er- und 60er-Jahren
gebaut, sodass damit der Großteil der Straßen künftig
nicht mehr bemautet werden dürfte.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Es hat neulich eine Verkehrsministerkonferenz der EU gegeben und da ist das alles gescheitert!)


Ich bin nicht sicher, ob Ihnen, Herr Minister Stolpe,
diese Brisanz bekannt ist. Dieses Problem können Sie in
Brüssel nicht einfach im gewohnten Plauderton lösen,
sondern Sie müssen handeln. Sie konnten bis heute noch
nicht einmal die dem Gewerbe versprochene Harmoni-
sierung der LKW-Maut realisieren.

Durch das Mautdesaster, insbesondere hervorgerufen
durch das miserable Controlling, ist schon der maximale
Blamagegrad für den Verkehrsminister erreicht. Aber
auch die Industrie hat sich nicht mit Ruhm bekleckert.
Das muss man deutlich sagen. Es fehlen 2,8 Milliarden
Euro bis Ende 2004. Nun ist zu hören, dass aufgrund der
mittelfristigen Finanzplanung das Ressort von Minister
Stolpe noch viel stärker bluten soll, als bisher bekannt
war. Die Verkehrsinvestitionen werden drastisch verrin-
gert, ohne dass Sie, Herr Minister, einen Kampfeswillen
gegenüber dem Finanzminister erkennen lassen. Sie wä-
ren hier gefordert.

Jetzt wird auch deutlich, dass der Verkehrsminister,
der noch vor drei Wochen im Ausschuss euphorisch ver-
meldete, dass die Verkehrsinfrastruktur gesichert sei,
damals die glatte Unwahrheit verkündete. Die Bundes-
regierung verabschiedet sich aus der Verkehrsinfra-
strukturpolitik. Sie plant den Verkehrskollaps. Das ist
verkehrspolitisch, aber auch wirtschaftspolitisch unver-
antwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Kann man einen Kollaps planen?)


Die mittelfristige Finanzplanung der Bundesregie-
rung bedeutet das faktische Aus für fast alle Neubaupro-
jekte.

Zur ICE-Trasse. Der Kollege Grund hat schon ausge-
führt, dass das für Thüringen ein Fiasko ist. Das gilt aber
auch für Franken. Es steht fest, dass Bahnchef Mehdorn
erst ab 2009 Mittel zur Verfügung stellen will. Der Ver-
kehrsminister sagt, die Strecke sei gesichert. Er sagt na-
türlich nicht, wann sie gebaut werden soll.

Kollege Schmidt, Sie müssen sich mit Ihren Aussagen
ein bisschen auseinander setzen. Sie wollen die Strecke
qualifiziert beenden.






(A) (C)



(B) (D)


Renate Blank


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein!)

Der Verkehrsminister will sie bauen. Der Bahnchef sagt,
er habe vor 2009 kein Geld.


(Carsten Schneider [SPD]: Was ist denn Ihre Quelle, Frau Blank?)


Ich frage mich, wer hier der Verkehrsminister ist. Sie
brauchen eigentlich bloß unserem Antrag zuzustimmen.
Auch wenn der Bahn-Tower höher als das Reichstagsge-
bäude ist, kann man nicht von dort die Verkehrspolitik in
Deutschland bestimmen.

Meine Damen und Herren, Straßenbauinvestitionen
sind keine Subventionen. Die geplanten Kürzungen im
Fernstraßenetat – bis 2008 um rund 20 Prozent – sind ein
verkehrspolitischer Offenbarungseid und kein Beitrag
zum Subventionsabbau. Darüber ist schon berichtet wor-
den. Die Bundesregierung sollte da Subventionen ab-
bauen, wo sie wirklich fließen.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Da müssen Sie aber mitmachen!)


Im Straßenbau ist das nicht der Fall.

(Lachen der Abg. Annette Faße [SPD])


– Sie haben mir nicht zugehört: Koch und Steinbrück ha-
ben nicht die Straßenbaumittel gemeint.


(Annette Faße [SPD]: Aber die Schiene! Und die Wasserstraßen!)


Wann begreifen Sie das endlich?
Der Straßenbau ist kein Subventionstopf. Der Auto-

fahrer zahlt nämlich immerhin jährlich rund 50 Milliar-
den Euro an Mineralölsteuer. Er subventioniert damit
den Bundeshaushalt.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das ist die Aufgabe einer Steuer!)


Herr Minister Stolpe, alles in allem kann ich Ihnen
den Vorwurf nicht ersparen, ein äußerst schwacher Sach-
walter unserer mobilen Gesellschaft zu sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510007800

Zu einer Kurzintervention zur Richtigstellung erhält

der Kollege Schmidt das Wort.
Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE

GRÜNEN):
Frau Kollegin Blank, Sie haben mich wiederholt per-

sönlich angesprochen. Ich will gar nichts dazu sagen, ob
der Bahn-Tower höher ist. Das ist offensichtlich.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Es stimmt, der Bahn-Tower ist höher! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Der Fernsehturm!)


Ich will einfach falsche Zahlen zur Höhe der Investi-
tionsmittel, die Sie unterstellen, ganz nüchtern und sach-
lich richtig stellen. Ich trage Ihnen jetzt nicht die
Haushaltsplanzahlen vor, sondern nenne die Istüberwei-
sungen des Bundes an die Deutsche Bahn AG, die für
Schienenwege verbaut wurden.

Die gerundeten Istzahlen zum Mitschreiben: im Jahr
1997 – im vorletzten Jahr Ihrer Regierungszeit –
2,8 Milliarden Euro; im Jahr 1998 – das war der letzte
Haushalt, den Sie zu verantworten hatten – 2,7 Milliar-
den Euro; 1999 – das war der erste Haushalt, den wir zu
verantworten hatten – 3,4 Milliarden Euro; 2000 eben-
falls 3,4 Milliarden Euro; 2001 schon 3,9 Milliarden
Euro; 2002 dann 4,3 Milliarden Euro; 2003 schließlich
4,5 Milliarden Euro.

Wie Sie bei diesen Zahlen zu der Behauptung kom-
men, wir hätten in den letzten fünf Jahren diese Mittel
reduziert, ist mir völlig schleierhaft. Ich bitte Sie herz-
lich, in Zukunft nachzulesen.

Selbst wenn nach dem Kürzungsszenario, das wir
heute gemeinsam kritisiert haben, der schlimmste Fall
einträte, wären wir immer noch bei 3,0 Milliarden Euro
für die Schiene – besser als Sie in den Jahren 1997 und
1998.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Was war denn 1996, 1995 und 1994?)


In diesem Sinne bitte ich Sie herzlich: Lassen Sie uns
über Meinungen streiten, aber Fakten einfach zur Kennt-
nis nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1510007900

Kollege Schmidt, mir war schon immer klar, dass Sie

nicht gut zuhören können.

(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber ich kann gut lesen!)


– Lesen kann ich auch. Ich sprach nämlich von den in-
vestiven Mitteln,


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ach!)


nicht von dem Betrag, der der Deutschen Bahn AG jähr-
lich überwiesen wurde.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, das ist nur Bau! Nur die Investivquote! Die Hauptbauquote!)


– Kollege Schmidt, die Deutsche Bahn AG konnte in
den genannten Jahren 6 Milliarden Euro nicht verbauen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! Das ist verbaut worden!)


Es wurden Teile von einem Darlehen in einen Baukos-
tenzuschuss umgelenkt. Das ist etwas ganz anderes als
Investitionen in das Bestandsnetz oder in Neubau.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Keine Ahnung! Es nützt nichts! Es hilft nichts! Keine Ahnung!)







(A) (C)



(B) (D)


Renate Blank

Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis und lesen Sie die
Höhe der investiven Mittel in Ihrem Schienenwegeaus-
baubericht nach!


(Beifall bei der CDU/CSU– Zuruf von der SPD: Was machen wir denn dann mit den Baukostenzuschüssen? – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich! Wie kann man die Wirklichkeit so verleugnen!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510008000

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Danckert.

Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1510008100

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren

Kollegen! Ich dachte, wir diskutieren heute über den
Straßenbaubericht und analysieren die Situation, wie sie
ist.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Unter anderem!)

Stattdessen werden uns aber von allen Seiten alle mögli-
chen Vorstellungen über das, was Koch und Steinbrück
erreichen und umsetzen wollten, vorexerziert. Fakt ist
doch Folgendes – das kann man nachlesen; ich habe mir
den Bericht extra geben lassen –: Koch und Steinbrück
schlagen im Schienenbereich – das kann man Subventio-
nen oder Finanzhilfen nennen – eine Kürzung um
633 Millionen Euro pro Jahr vor – und zwar kumulierend.


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist ein Wahnsinn!)

Ich finde, dass wir in der Situation, in der wir gemein-

sam sind, vor allem aber die Regierungskoalition, die in
der Verantwortung steht, darüber nachdenken müssen,
ob es sinnvoll ist, wenn es sich zwei außenstehende Mi-
nisterpräsidenten, die den Auftrag hatten, Vorschläge
zum Thema Subventionsabbau zu machen, so einfach
machen. Statt dort, wo wirklich Subventionen gewährt
werden, anzusetzen, kürzen sie einfach den Bahnetat
pauschal um jährlich 633 Millionen Euro. Lieber Herr
Oswald und lieber Herr Fischer, das hätten auch Sie
nicht mitgemacht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch Sie hätten gesagt, dass eine solche Kürzung sach-
gerecht auf die drei Haupttitel – Straße, Schiene und
Wasserstraße – aufgeteilt werden soll. Genau das ist bei
diesem Vorgang in der Verantwortung der Regierungs-
koalition gemacht worden.

Ich hätte gerne die Situation bei dieser Debatte hier
im Hause erlebt, wenn wir den Vorschlag von Koch/
Steinbrück übernommen hätten. Sie haben nämlich ver-
mieden, die Mittel für den Straßenbau zu kürzen, was
man ja auch hätte tun können. Das haben sie sich aber
nicht getraut. Sie haben einfach im Schienenbereich pau-
schal um 633 Millionen Euro pro Jahr bis 2006 gekürzt.
Das finde ich einfach nicht in Ordnung. Das, was wir an
dieser Stelle gemacht haben, ist genau das Richtige. Sie
hätten das auch so gemacht.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510008200

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihrer

Kollegin Gleicke?


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1510008300

Gerne.


Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1510008400

Herr Kollege Danckert, nachdem wir heute gehört ha-

ben, dass sich die Opposition deutlich dahin gehend arti-
kuliert hat, dass sie durch die Koch/Steinbrück-Vor-
schläge nur die Schiene treffen wollte, möchte ich Sie
fragen – da es sich beim Verkehrsprojekt „Deutsche Ein-
heit“ Nummer 8 um ein Schienenprojekt handelt –, ob
Sie meinen Eindruck teilen, dass der thüringische Minis-
terpräsident, Herr Althaus, den Kürzungen nach Koch/
Steinbrück nur deshalb zugestimmt hat, um das einzige
Wahlkampfthema, das er hat, nicht zu verlieren?


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1510008500

Frau Kollegin Gleicke, erst einmal bedanke ich mich

für Ihre Zwischenfrage; denn dadurch geben Sie mir die
Gelegenheit, einen Teil meiner Rede als Antwort auf
Ihre Frage abzuarbeiten.


(Iris Gleicke [SPD]: So war es gedacht!)

Ich könnte Ihnen einfach antworten: Ja.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Festhalten! Er könnte einfach sagen: Ja!)


Mein Eindruck ist, dass er versucht, dieses Wahl-
kampfthema in die Öffentlichkeit zu schieben. Dies
denke ich vor allen Dingen – dafür spricht im Moment
viel –, nachdem ich gehört habe, dass er Herrn Mehdorn
gar nicht getroffen hat. Dann würde das besonders pro-
blematisch werden.

Das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“, über das Sie
sprechen, ist aus meiner Sicht sehr wichtig. Es eignet
sich überhaupt nicht für innerthüringische Wahlkämpfe.


(Beifall bei der SPD)

Dieses Projekt – dazu lade ich auch die Opposition ein –
müssen wir gemeinsam stemmen, damit es realisiert
werden kann. Das ist die Antwort auf meine Frage.


(Heiterkeit bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Warum war denn der Kanzler nicht beim Wahlkampf in Thüringen?)


An dieser Stelle hatte ich vor, mich bei allen Parteien
– auch bei denen, die damals Regierungsverantwortung
getragen haben; ebenso bei Herrn Friedrich, der gerade
dazwischengequakt hat –


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie quaken mindestens genauso!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Peter Danckert

ausdrücklich für die Initiative, die sie im Zusammen-
hang mit den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ ge-
zeigt haben, zu bedanken. Das ist ein ganz wichtiger
Beitrag. Deshalb sind wir in der Verantwortung, dafür zu
sorgen, dass dieses Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“
trotz engster Haushaltsspielräume realisiert wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sollte Herr Mehdorn wirklich gesagt oder gedacht ha-
ben, was Herr Reinholz hier berichtet hat – nach meiner
Kenntnis haben die sich überhaupt nicht getroffen; viel-
leicht hat er aber auch geahnt, was Herr Mehdorn vor-
hat –, dann überschreitet er aus meiner Sicht seine Mög-
lichkeiten. Ob diese Mittel zur Verfügung stehen, muss
mit dem Ministerium, mit dem Minister Stolpe und sei-
nem Stab, abgesprochen werden. Ich sage als ostdeut-
scher Abgeordneter: Es würde mich sehr treffen, wenn
wir das Projekt an dieser Stelle stoppen würden. Es muss
fortgeführt werden.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510008600

Herr Kollege Danckert, – –

Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1510008700

Noch eine Zwischenfrage?

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510008800

Nein, ich wollte nur sagen: Der Kollege Grund

möchte eine Zwischenfrage stellen. Wenn Sie sich ei-
gene Fragen beantworten, kann ich dafür leider nicht die
Zeit stoppen.


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1510008900

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! Herr Kollege

Danckert, können Sie bestätigen, dass das Thema 8.1/
8.2, der mögliche Stopp des Baus dieser ICE-Trasse,
nicht durch die thüringische Regierung in die Öffentlich-
keit gebracht worden ist, sondern durch Meldungen so-
wohl von der Deutschen Bahn als auch vom Bundesver-
kehrsministerium, die ich auch hier vorgetragen habe?


(Iris Gleicke [SPD]: Die Bahn hat gesagt: Es wird weitergebaut!)


Würden Sie ferner befürchten, dass, wenn der Stopp des
Baus dieser Trasse wahr werden sollte, die rot-grüne
Bundesregierung ihren eigenen Kandidaten für das Amt
des thüringischen Ministerpräsidenten aufgegeben hätte,
der ja auch davon betroffen wäre?


(Iris Gleicke [SPD]: Davon kann keine Rede sein, da wir das Projekt bauen!)



Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1510009000

Verehrter Herr Kollege Grund, ich habe gestern ver-

sucht, die Nachrichten dazu zeitlich zu sortieren. Nach
meiner Kenntnis war der thüringische Wirtschafts-
minister Reinholz der Erste, der das Thema in die Öf-
fentlichkeit geblasen hat. Alle anderen haben nachgezo-
gen, um in irgendeiner Weise zu dem Punkt Stellung zu
nehmen. Also war der Eindruck, den Frau Gleicke in ih-
rer Frage zum Ausdruck gebracht hat, dass hier mögli-
cherweise ein Wahlkampfthema angesprochen werden
soll, gar nicht falsch.

(Beifall bei der SPD)

Das hat mich beunruhigt; danach habe ich die weiteren
Meldungen auch unter diesem Gesichtspunkt gesehen.

Ich sage noch einmal: Wir werden das gemeinsam be-
sprechen; dazu lade ich Sie ein. Die Fortführung des
Projekts „ICE-Trasse Nürnberg–Erfurt–Halle–Leipzig“
ist notwendig und wichtig. Dann müssen wir uns aber
auch anstrengen: Ich bitte Sie um Vorschläge, wie wir
die Finanzierung vornehmen sollen. Sie stellen sich
hier nur hin und fordern alles Mögliche – wir sehen es
auch in den Ausschüssen: Von überall kommen neue
Vorschläge zu weiteren Projekten, die realisiert werden
sollen –, doch niemand sagt, wie all das finanziert wer-
den soll.

Das erinnert mich verdammt an dieses fette Märchen-
buch namens „Bundesverkehrswegeplan 1992 – 2012“,
in dem Tausende von Projekten standen, von denen sich
aber keines richtig realisieren ließ. Sie haben in der Zeit
Ihrer Regierung ja selber mitgekriegt, wie schwer es ist,
sich gegenüber den Haushältern durchzusetzen, die im-
mer ganz andere Interessen haben, viel allgemeinere. Da
müssten Sie eigentlich großes Verständnis für unsere
Seite haben. Wir sind nur darauf bedacht, dass unsere
Straßen- und Schienenprojekte realisiert werden können.
Da sind wir meines Erachtens trotz der schwierigen
Haushaltslage auf einem guten Weg.


(Abg. Renate Blank [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Frau Blank, Sie dürfen fragen, wenn Sie wirklich wol-
len.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510009100

Das erlaube eigentlich noch immer ich.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1510009200

Entschuldigen Sie, Frau Präsidentin.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510009300

Ich finde, dass zwei Zwischenfragen für eine Rede ei-

gentlich genug sind.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aber wirk lich, bei dem Niveau der Rede!)

Da Sie es nun schon erlaubt haben, bitte – aber nur noch
kurz.


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1510009400

Kollege Danckert, Sie sprechen hier so begeistert von

der Trasse Nürnberg–Erfurt. Wären Sie so freundlich,
Ihren Koalitionspartner, den Kollegen Schmidt, der in
den „Nürnberger Nachrichten“ – man kann die Zeitung
ja auch nennen – als Erster verkündet hat – es war also
kein Wahlkampfthema! –, dass er begeistert ist, dass es
weitergeht, davon zu überzeugen, dass der Weiterbau
wichtig ist?


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir sprechen immer miteinander! Tag und Nacht!)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1510009500

Frau Kollegin Blank, ich versuche den Kollegen

Schmidt ständig von meinen richtigen Auffassungen zu
überzeugen.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielleicht gelingt mir das auch in dieser Frage.
Aber lassen Sie mich zum Schluss noch etwas ande-

res sagen: Objektiv betrachtet befinden wir uns in einer
extrem schwierigen Haushaltslage. Man kann sich für
diesen Bereich natürlich alles Mögliche wünschen, aber
wenn man fordert, der Titel für Straßen-, Schienen- oder
Wasserstraßenbau müsse erhöht werden, muss man im-
mer auch dazusagen, an welcher Stelle im Gesamthaus-
halt eingespart werden soll. Ohne eine solche Gegenfi-
nanzierung – ich nenne das einmal so – geht es nicht.

Wir sind, denke ich, gut beraten, wenn wir uns darü-
ber Gedanken machen, ob die Finanzierung der Straßen-
und Schienenbaumaßnahmen allein über den Haushalt in
Zukunft der richtige Weg ist. Ich glaube, wir müssen in
dieser Frage neue Wege beschreiten und uns Gedanken
darüber machen, ob die Standards, zu denen wir im
Laufe der Jahre gekommen sind, noch richtig sind. Wir
müssen uns fragen, ob wir es noch vertreten können,
dass in einer Ortslage eine neue Bundesstraße und ein
halbes Jahr später eine Ortsumgehung gebaut wird.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU])


Diesen Luxus werden wir uns in Zukunft nicht mehr
leisten können.

Wir werden zusehen müssen, ob wir nicht über pri-
vate Finanzierungsmöglichkeiten – ich nenne als
Stichwort PPP – Alternativen entwickeln können. Denn
ich habe den Eindruck, dass die Privatwirtschaft zum
Teil sehr viel besser mit den Mitteln umgehen kann – es
muss nicht immer zu extrem hohen Nachtragsangeboten
kommen – und bei der Realisierung schneller und zügi-
ger ist. Das könnte eine Alternative sein und soll – das
sage ich ausdrücklich – das Bestehende nicht ablösen.
Wir werden es aber nicht vermeiden können, in diesem
Bereich neue Wege zu beschreiten.

Ein letzter Gedanke. Frau Blank hat beim Thema
Maut, das hier offensichtlich nicht zu vermeiden war,
Gott sei Dank auch die beiden Wirtschaftskonzerne an-
gesprochen. Ich hätte mir an dieser Stelle von Ihnen ein
deutliches Wort gewünscht – wir haben ein solches oft
genug gesprochen –, dass der Ursprung dieser Misere,
die wir zu verzeichnen haben, der ist, dass zwei große
Industriekonsortien ihre vollmundigen Versprechungen
nicht erfüllt haben. Das ist der Grund. Wenn die Maut
Realität geworden wäre, hätten wir ab 31. August/
1. September 2003 das Füllhorn der Mauteinnahmen ge-
habt. Ich bin dem Minister dankbar, dass er sehr sorgfäl-
tig verhandelt hat und zu einem neuen und besseren Er-
gebnis gekommen ist. Ich wünsche uns allen, dass wir
bis zum Ende des Jahres das Thema Maut abhaken kön-
nen und uns ein funktionierendes Mautsystem übergeben
wird. Dieses müssen wir dann aber auch weiterentwi-
ckeln. Das ist mein Wunsch an Sie. Mehr möchte ich an
dieser Stelle dazu nicht sagen. Das, was wir jetzt vorge-
sehen haben, kann nicht das Ende sein.

Ich finde, wir sind, was den Straßenbau angeht, auf
einem sehr guten Weg. Wir haben viel erreicht. Die
5,6 Milliarden Euro, die im Jahr 2002 ausgegeben wor-
den sind, sind gut ausgegeben worden. Wir werden sehr
darauf achten, dass die uns zur Verfügung stehenden
Mittel sinnvoll, zweckmäßig und zukunftsweisend aus-
gegeben werden, damit auch die Wirtschaft davon profi-
tiert. Das ist unser Wunsch.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510009600

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1510009700

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Den Satz „Es liegen keine Meldungen vor“ verkün-
den Staureporter und Piloten für die A 3 in Richtung
Nürnberg im Verkehrsfunk heutzutage nicht einmal
mehr an Heiligabend nach 23 Uhr. Statt der zulässigen
Geschwindigkeit sind in Deutschland Schritttempo oder
Stillstand an der Tagesordnung. Bei der Infrastrukturvor-
sorge rollen die Räder seit Schröders Amtsantritt eher
rückwärts. Das hat Folgen. Die persönliche Mobilität
wird eingeengt, Chancen für Lebensgestaltung und Er-
werb bleiben ungenutzt, Wohlstand und Beschäftigung
sinken, wirtschaftliches Wachstum wird verhindert.

Nach der jetzt bekannt gewordenen Mittelfristplanung
der rot-grünen Bundesregierung kommt alles noch
schlimmer. Für den Zeitraum 2004 bis 2008 fehlen durch
globale Minderausgaben wegen Rentenfinanzierung,
Mautkompensation und Subventionsabbau gegenüber
der geltenden Finanzplanung für die Straße rund 3,9 Mil-
liarden Euro, für die Schiene rund 3,5 Milliarden Euro
und für die Wasserstraßen 386 Millionen Euro. Bereits
2004, also in diesem Jahr, liegt die Höhe der Verkehrs-
investitionen gut 670 Millionen Euro unter den Haus-
haltsansätzen, die das Parlament beschlossen hat.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Habe ich alles schon erzählt!)


In den Folgejahren werden die Kürzungen sogar auf über
1,8 Milliarden Euro pro Jahr ansteigen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: 1,9 Milliarden!)


In der Summe fallen dem Rotstift bis 2008 knapp
7,8 Milliarden Euro für Verkehrsinfrastruktur zum Op-
fer.

Bemerkenswert ist dabei – das ist heute schon mehr-
fach angesprochen worden –, dass die Kürzungen der
Subventionen für die Schieneninfrastruktur von der rot-






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Fischer (Hamburg)


grünen Bundesregierung zu 50 Prozent auf die Stra-
ßeninvestitionen umgeschichtet worden sind.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wären Ihnen 100 Prozent lieber gewesen?)


Es liegt doch auf der Hand, dass die Beratungen der auf
dem Bundesverkehrswegeplan basierenden Ausbauge-
setze jetzt schon eher virtueller Art sind, da die Finanzie-
rungsbasis überhaupt nicht mehr stimmt. Verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, offenbar
verschafft es Ihnen aber schon Genugtuung, wenn das
Parlament und die Öffentlichkeit virtuell beschäftigt
sind. Ob hinten etwas herauskommt, ob das ernst zu neh-
men ist und ob das dann konsequent durchgeführt wird,
scheint Sie immer weniger zu interessieren.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen kommt ja weder hinten noch vorne etwas raus!)


Herr Kollege Schmidt, diese Politik hat natürlich er-
hebliche Konsequenzen. In diesem Jahr 2004 können in
allen 16 Bundesländern zusammen nur noch 23 Stra-
ßenprojekte begonnen werden. In den großen Flächen-
ländern Niedersachsen, Hessen und Rheinland-Pfalz
wird in diesem Jahr kein einziges neues Straßenbaupro-
jekt begonnen.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: 600 laufen aber weiter, Herr Fischer!)


Dringend notwendige Erhaltungs- und Instandsetzungs-
maßnahmen liegen auf Eis. Wir leben also von der Sub-
stanz. Das hat weit reichende Folgen für die Zukunft.
Die Systeme marodisieren.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie marodisieren hier höchstens! Sie Marodiseur!)


Sie später einmal wieder in Ordnung zu bringen wird
umso teurer werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Bundesregierung hat nun endlich das wahre Aus-

maß des Dilemmas benannt. Sie hat meine Forderung
vom letzten Freitag, bis zur heutigen Debatte eine „pro-
jektscharfe“ Streichliste vorzulegen, immerhin bis ges-
tern nach Feierabend erfüllt. Wesentliche Ursache dieses
Dramas ist der Mautmurks, den Verkehrsminister
Dr. Stolpe und sein Vorgänger Bodewig gemeinsam mit
den von dieser Bundesregierung ausgewählten Vertrags-
partnern angerichtet haben.

Herr Kollege Danckert, nicht die Opposition, sondern
diese Bundesregierung hat die Vertragspartner ausge-
sucht.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Das stimmt ja gar nicht! – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wen hätten Sie denn genommen?)


Ich möchte einmal darauf hinweisen, dass einer Ihrer
Vertragspartner, der nach Ihrer Auffassung so tolle Leis-
tungen vollbracht hat, nahezu zur Hälfte dem Bund
selbst gehört, sodass der Bund einen bestimmenden Ein-
fluss im Unternehmen hat. Das heißt: Zeigen Sie nicht
mit dem Finger auf andere, sondern doch besser auf sich
selbst.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zu den aktuellen Turbulenzen kommt hinzu, dass die

Bundesregierung die Nachfragedynamik des Verkehrs-
trägers Straße und die aktuellen Möglichkeiten des
Schienenverkehrs völlig falsch einschätzt und an ihren
ideologisch belasteten Wunschvorstellungen festhält,
nach denen die Verkehrsleistungen im Schienenperso-
nenverkehr bis 2015 um 32 Prozent und im Schienengü-
terverkehr sogar um 103 Prozent steigen werden.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Traumhaft!)


Das ist im Verkehrsbericht 2000 nachzulesen und wurde
im Bundesverkehrswegeplan 2003 wiederholt. Letzteres
ist wirklich eine echte Lachnummer; denn zwischenzeit-
lich hatten Herr Mehdorn – er sprach von einer höchs-
tens 50-prozentigen Steigerung – und Herr Bodewig – er
sprach von einer höchstens 65-prozentigen Steigerung –
diese Prognosen für den Schienengüterverkehr bereits
nach unten korrigiert. Man nimmt das jedoch nicht zur
Kenntnis und bringt die alten, weit überzogenen Pro-
gnosen.

Auch die Realität sieht anders aus: Zwar stieg die
Verkehrsleistung der DB AG im Nahverkehr von 1993
bis 2003 im Wesentlichen aufgrund der Regionalisie-
rungsmittel des Bundes – erwirtschaftet durch den steu-
erfinanzierten Umsatz – um 27 Prozent, im Fernverkehr
sank sie jedoch trotz der hohen Ausgaben für kostenin-
tensive Projekte um 5,4 Prozent. Die Verkehrsleistungen
des Schienengüterverkehrs stiegen zwischen 1993 und
2002 zwar um knapp 21 Prozent, die des LKW-Verkehrs
stiegen mit über 40 Prozent aber deutlich stärker.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Woran das wohl liegt!)


Im Gesamtverkehrsmarkt sank der Anteil des Schienen-
güterverkehrs seither von 16 Prozent auf 14 Prozent,
während der LKW-Anteil von 65 Prozent auf 69 Prozent
anstieg.

Ich will jetzt das ansprechen, was die Koalition ganz
kurzfristig zusätzlich in diese Debatte eingeschoben hat,
nämlich den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ände-
rung eisenbahnrechtlicher Vorschriften. Nach den
EU-Richtlinien hätte die Umsetzung der Ergebnisse der
Taskforce bis zum 15. März 2003 erfolgen müssen. Erst
heute, ein Jahr zu spät, ist der Kabinettsentwurf für die-
ses Gesetz dem Parlament als Initiative der Koalitions-
fraktionen zugeleitet worden. Zwar ist die Umsetzung
der Taskforce-Ergebnisse ein sinnvoller Zwischenschritt
für die Umsetzung des EU-Eisenbahnpakets, deren Ziele
sich mit unserer Bahnreform, mehr Verkehr auf die
Schiene und weniger Belastung des Steuerzahlers, de-
cken. Allerdings lässt der Gesetzentwurf klare Regelun-
gen zur organisatorischen, finanziellen und personellen
Unabhängigkeit von Netz und Verkehr, zum Anspruch
auf diskriminierungsfreie Netznutzung, zur wirksamen






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Fischer (Hamburg)


Kontrolle diskriminierungsfreier Trassenpreise und zum
Schadensersatz bei betrieblichen Störungen vermissen
und bleibt damit weit hinter den europäischen Vorgaben
zurück. Handlungsbedarf bleibt also bestehen.

Die CDU/CSU hält an den Zielen ihrer Bahnreform
fest und fordert deshalb erneut von der Bundesregierung
eine umfassende Bestandsaufnahme und kritische Be-
wertung der Effekte des bisherigen Vollzuges der Bahn-
reform mit externer Evaluierung. Interessenunabhängige
Sachverständige sollten ordnungspolitische Empfehlun-
gen an den Gesetzgeber sowie an den Bund als Alleinei-
gentümer richten und Vorschläge für die dritte Stufe der
Bahnreform machen.

Wir brauchen dringend – lassen Sie mich das abschlie-
ßend sagen – eine strikte Trennung staatlicher Ordnungs-
politik durch Gesetze, Verordnungen, Genehmigungs-
und Kontrollverfahren von jeglicher unternehmerischer
Tätigkeit. Hier gibt es in Deutschland seit Jahren eine in-
akzeptable Fehlentwicklung. Es kann nicht hingenom-
men werden, dass der Schwanz DB AG mit dem Hund
Bund wedelt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Unter Schwanz stelle ich mir etwas anderes vor!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510009800

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 15/2603 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen,
Drucksache 15/2588. Unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis der Unter-
richtung durch die Bundesregierung über einen Vor-
schlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates über die allgemeine Einführung und die
Interoperabilität elektronischer Mautsysteme in der Ge-
meinschaft eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gibt es Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen worden.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/2588 empfiehlt der Ausschuss, in Kennt-
nis der Unterrichtung durch die Bundesregierung über
den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Par-
laments und des Rates zur Änderung der Richtlinie über
die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimm-
ter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen
worden, nur die FDP hat sich enthalten.

Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 4 c bis 4 e
sowie den Zusatzpunkten 2 und 3. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2653,
15/2323, 15/2456, 15/2743 und 15/2470 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 15/2743 soll gemäß § 96 der Ge-
schäftsordnung zusätzlich an den Haushaltsausschuss über-
wiesen werden. Sind Sie einverstanden? – Das scheint so zu
sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Zu-
satzabkommen vom 15. Oktober 2003 zu dem
Abkommen vom 4. Oktober 1954 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Österreich zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung auf dem Gebiet der Erbschaftsteu-
ern
– Drucksache 15/2721 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausfüh-
rung der im Dezember 2002 vorgenommenen
Änderungen des Internationalen Übereinkom-
mens von 1974 zum Schutz des menschlichen
Lebens auf See und des Internationalen Codes
für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in
Hafenanlagen
– Drucksache 15/2700 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Innenausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 17 a:
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des

von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
19. August 2002 zwischen den Vertragsstaaten
des Übereinkommens zur Gründung einer Eu-
ropäischen Weltraumorganisation und der
Europäischen Weltraumorganisation über den
Schutz und den Austausch geheimhaltungsbe-
dürftiger Informationen
– Drucksache 15/2545 –

(Erste Beratung 94. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 15/2692 –






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Hofmann (Volkach)

Dorothee Mantel
Silke Stokar von Neuforn
Ernst Burgbacher

Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache
15/2692, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
zu erheben. –


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Eine erhebende Angelegenheit!)


Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist einstimmig angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 17 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl der Ar-
beitnehmervertreter in den Aufsichtsrat
– Drucksache 15/2542 –

(Erste Beratung 94. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss)

– Drucksache 15/2739 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Kramme

Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2739,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig
angenommen worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Sie dürfen sich erheben, wenn
Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Stimmt je-
mand dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen
worden.

Tagesordnungspunkt 17 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat
Förderung der Privatwirtschaft im Mittel-

(inkl. 13769/03 ADD 1 – Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen: Ausführliche Folgenabschätzung)

587 endg.; Ratsdok. 13769/03
– Drucksachen 15/1948 Nr. 1.40, 15/2204 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Georg Fahrenschon

Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gibt es Gegenstimmen?
– Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim-
mig angenommen worden.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD

und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes über die parla-
mentarische Beteiligung bei der Entscheidung
über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Aus-
land (Parlamentsbeteiligungsgesetz)

– Drucksache 15/2742 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Rainer Funke, Günther Friedrich
Nolting, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei

(Auslandseinsätzemitwirkungsgesetz)

– Drucksache 15/1985 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Widerspruch gibt
es keinen. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Gernot Erler.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1510009900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen le-
gen heute den Entwurf eines Parlamentsbeteiligungsge-
setzes vor, also eines Gesetzes, das die Verfahren der
Mitwirkung des Deutschen Bundestages an der Ent-
scheidung über bewaffnete Einsätze deutscher Streit-
kräfte im Ausland regeln soll.

Gleich zu Anfang möchte ich Folgendes feststellen:
Der Parlamentsvorbehalt bei bewaffneten Einsätzen
im Ausland bleibt und wird in keiner Weise einge-
schränkt.


(Jörg van Essen [FDP]: Durch Ihren Gesetzentwurf, ja!)







(A) (C)



(B) (D)


Gernot Erler

Dieser Parlamentsvorbehalt ist in der Tat eine deutsche
Besonderheit, aber diese Besonderheit hat sich bewährt.
Sie ist heute Bestandteil unserer Rechtskultur. Es bleibt
dabei: Die Bundeswehr ist und wird ein Parlamentsheer
sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nach wie vor wird der Deutsche Bundestag jeden
Einsatz bewaffneter Kräfte im Ausland sorgfältig prüfen
und beraten, bevor er eine Zustimmung gibt. Wir tun das
vor dem Hintergrund, dass für uns der Einsatz bewaffne-
ter Kräfte im Ausland kein normales Mittel von Politik
ist, sondern immer ein besonders zu prüfendes und eine
besonders zu beratende Ausnahme bleiben wird. Wir tun
das vor dem Hintergrund, dass wir in jedem Fall zeigen
wollen, dass wir uns unserer Verantwortung für die Ent-
sendung von deutschen Soldaten ins Ausland bewusst
sind. Das ist immer eine Entscheidung, bei der es auch
um lebensgefährliche Risiken geht. Schließlich wollen
wir, dass jede Soldatin und jeder Soldat, die bzw. der für
Deutschland einen Auftrag im Ausland erfüllt, weiß,
dass sowohl die Bundesregierung als auch das Parla-
ment, zumindest in seiner Mehrheit, hinter diesem Auf-
trag steht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn das alles so bleiben soll, dann muss man die
Frage beantworten, warum denn ein Parlamentsbeteili-
gungsgesetz notwendig ist. Wir haben das Grundgesetz,
wir haben die Entscheidungen des Bundesverfassungs-
gerichts und wir haben nach nunmehr annähernd
50 Entscheidungen über Auslandseinsätze – übrigens hat
das Parlament in allen Fällen dem Antrag der jeweiligen
Bundesregierung zugestimmt – schon eine bewährte
Staatspraxis. Trotzdem gibt es in diesem Haus einen
breiten Konsens darüber, dass es Sinn macht, in Form ei-
nes Bundesgesetzes verbindliche Regelungen auch im
Detail und damit Rechtssicherheit für alle beteiligten
Seiten zu schaffen.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Nur die Union kommt nicht zu Potte!)


Denn die Erfahrung hat uns gelehrt: Es gibt Unsicherhei-
ten darüber, wo der Parlamentsvorbehalt anfängt und wo
er seine Grenzen findet.

Mit der Zeit sind bestimmte Grauzonen entstanden,
zum Beispiel dann, wenn die Bundesregierung in infor-
mellen Gesprächen die Zustimmung der Fraktionen ein-
geholt hat, weil sie sich nicht sicher war, ob sie in die-
sem Fall schon das Parlament fragen musste oder nicht.
Es gibt auch Probleme bei dem Verhältnis von Anlass
und Aufwand. Zum Beispiel hat sich die Bundesregie-
rung bei der Frage, ob für die Entsendung von ein oder
zwei Uniformierten bei einer begrenzten internationalen
Mission die Parlamentarier aus der Sommerpause zu-
rückgeholt werden sollen, in der Vergangenheit häufig
geweigert, diesen Weg zu gehen. Das ist aus unserer
Sicht nicht wünschenswert.
Wenn es dazu kommt, dass ein Parlamentsrecht in be-
stimmten Fällen – zum Beispiel bei der Verlängerung
schon mehrfach verlängerter, unbestrittener und unter
unveränderten Umständen stattfindender Einsätze –
nicht mehr wahrgenommen und dadurch ausgehöhlt
wird, dann ist das nicht gut. Dann ist es sinnvoll, sich
über angemessene Verfahren und Regelungen zu ver-
ständigen. Genau das soll mit dem Parlamentsbeteili-
gungsgesetz erreicht werden. Dabei greifen wir mit
unserem Entwurf eine Anregung auf, die das Bundesver-
fassungsgericht bereits in dem immer wieder zitierten
Urteil vom 12. Juli 1994 gegeben hat, wohl schon da-
mals erkennend, dass eine gesetzliche Regelung ein Plus
an Rechtssicherheit darstellt und auch ein Mittel ist, um
solche möglichen Grauzonen zu vermeiden.

Nun stellt sich die Frage, ob es nicht wünschenswert
wäre, dass ein Parlamentsbeteiligungsgesetz in diesem
Hause auf eine möglichst breite Grundlage gestellt
würde. Wir haben uns Mühe gegeben und es versucht.
Ich möchte ausdrücklich drei Kollegen besonders dan-
ken: Ronald Pofalla von der CDU, Christian Schmidt
von der CSU und Jörg van Essen von der FDP. Ich
glaube, wir haben gute Gespräche geführt, und ich bin
sicher, dass die gemeinsamen Versuche auch dazu beitra-
gen werden, dass die Beratung dieses Gesetzentwurfs in
einem Umfeld von Sachlichkeit stattfinden kann.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Aber obwohl es mehr Gemeinsamkeiten als Unter-
schiede gab, konnten wir uns nicht verständigen. Das gilt
insbesondere für die Fragen, ob es zum einen einen be-
sonderen Entsendeausschuss und zum anderen eine Vor-
abzustimmung zu integrierten Einsätzen von NATO und
EU, die in Zukunft bevorstehen werden, geben soll. Des-
wegen gibt es nun konkurrierende Gesetzentwürfe.

Was ist die Methodik bzw. die Vorgehensweise unse-
res Entwurfs? Ein Mittel ist zunächst einmal die Defini-
tion. In dem Gesetzentwurf wird definiert, was ein
bewaffneter Einsatz ist und was nicht. Diese Begriffsbe-
stimmung stellt klar, dass vorbereitende Maßnahmen
und Planungen, aber zum Beispiel auch humanitäre Hil-
feleistungen durch einzelne Vertreter der Bundeswehr
– jedenfalls dann, wenn diese nur zum Selbstschutz be-
waffnet sind und nicht in die Gefahr geraten, in einen be-
waffneten Konflikt einbezogen zu werden – noch keinen
bewaffneten Einsatz darstellen und auch nicht unter den
Parlamentsvorbehalt fallen.

Das besondere Kennzeichen unseres Entwurfs ist die
Einführung eines so genannten vereinfachten Zustim-
mungsverfahrens. Dieses Verfahren soll dann zur An-
wendung kommen, wenn die Einsätze von geringer In-
tensität und Tragweite sind, zum Beispiel bei Kunduz-
Kommandos, die zur Vorbereitung eines Einsatzes ent-
sandt werden, wenn einzelne Soldaten in Austauschver-
einbarungen mit verbündeten Streitkräften entsandt wer-
den oder wenn einzelne Uniformierte für Missionen der
Vereinten Nationen, der EU, der OSZE oder ähnlicher
internationaler Organisationen angefordert werden und
auch dies keine besondere politische Tragweite aufweist.
Das vereinfachte Verfahren soll auch dann greifen, wenn






(A) (C)



(B) (D)


Gernot Erler

es sich um eine Verlängerung eines Einsatzes handelt,
der unbestritten ist und unter unveränderten Rahmenbe-
dingungen stattfindet.

Vereinfachtes Verfahren heißt in der Sache, die Bun-
desregierung leitet einen Antrag an das Parlament, gibt
ihn den Sprechern der entsprechenden Fachausschüsse
bekannt und lässt ihn per Drucksache an alle Mitglieder
des Hauses verteilen. Dann beginnt eine Art Verschwei-
gungsfrist – im Gesetzentwurf wird sie zwar nicht so ge-
nannt, aber man kann es als solche bezeichnen – von sie-
ben Tagen. Wenn bis dahin nicht eine Fraktion oder
5 Prozent der Mitglieder des Bundestages – das sind bei
der heutigen Größe des Bundestages etwa 30 Mitglie-
der – Einwand erheben und Beratungsbedarf anmelden,
dann gilt dieser Antrag als stattgegeben. Wenn ein sol-
cher Einspruch allerdings erfolgte, würde das normale
Beratungsverfahren automatisch angewandt.

Dabei ist es wichtig, eines zu wissen: Es handelt sich
hierbei zwar um ein vereinfachtes, aber nicht um ein ver-
kürztes Verfahren. Viele übersehen, dass wir bisher bei
der normalen Praxis des Parlamentsvorbehalts in der Re-
gel nicht mehr als drei Tage benötigen: An einem Tag
wird die Kabinettsentscheidung getroffen, am darauf fol-
genden Tag findet die erste Lesung statt, der die Über-
weisung an die Ausschüsse und die Beratungen in den
Ausschüssen folgen, und bereits am dritten Tag entschei-
det das Parlament. Es ist ganz wichtig, das zu wissen.

Bei der Frage künftiger integrierter Einsätze ist fol-
gendes Argument zu berücksichtigen: Sowohl bei den
von der EU als auch bei den von der NATO gesetzten
Fristen ist es durchaus möglich, am deutschen Parla-
mentsvorbehalt festzuhalten, ohne dass man irgendwel-
che Abstriche bei der Beteiligung an solchen gemeinsa-
men Missionen machen müsste.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin ganz sicher, dass dieses vereinfachte Verfah-
ren nur dann angewendet wird, wenn ein Beratungsbe-
darf tatsächlich unwahrscheinlich ist. Das wäre der Fall,
wenn die Vereinten Nationen eine Beobachtermission in
irgendeinem Land durchführen und dabei auf ein oder
zwei uniformierte Fachleute aus Deutschland zurück-
greifen wollen. Dann würde es keinen gesteigerten Bera-
tungsbedarf geben, insbesondere wenn die Mission nicht
in einem Gebiet von besonderer Spannung oder von be-
sonders widerstreitenden Interessen stattfindet. Das wäre
auch bei einer Verlängerung des Einsatzes der Fall – wir
haben das schon in den letzten Monaten erlebt –, wenn
der Einsatz selbst unstreitig ist und es vor allen Dingen
keine Veränderung beim Umfang und bei der Art des
Einsatzes sowie bei den politischen Rahmenbedingun-
gen gibt.

Wir sind sicher, dass das vereinfachte Verfahren in
der Tat zu einer Entlastung insbesondere von uns selbst,
den Parlamentariern, führen kann und dass es in keinem
Fall zu einer Vermeidung von notwendigen Diskussio-
nen über wesentliche oder umstrittene Einsätze miss-
braucht werden kann. Das ist schon deswegen nicht
möglich, weil die Hürde, durch sofortiges Widerspre-
chen anstelle des vereinfachten Verfahrens Beratungen
im Rahmen des normalen Prozesses herbeizuführen,
sehr niedrig ist. Ich glaube allerdings auch, dass das ver-
einfachte Verfahren den Parlamentsvorbehalt stärken
und festigen wird, gerade weil es einen überflüssigen
Aufwand vermeiden hilft, wenn in der Sache ein Kon-
sens besteht.

Wichtig bei unserem Gesetzentwurf ist auch, dass wir
das, worüber man bisher keine Klarheit hatte, regeln. In
diesem Gesetzentwurf ist ein ausdrückliches Rückhol-
recht des Parlaments vorgesehen. Das heißt, es ist je-
derzeit möglich, dass die gegebene Zustimmung des
Bundestages zu einem von der Bundesregierung bean-
tragten Einsatz zurückgenommen werden kann. Darüber
bestand bisher keine Klarheit. Die Regelung zur nach-
träglichen Zustimmung, die wir in den Entwurf aufge-
nommen haben, schreibt hingegen eigentlich nur das
fest, was bisher ohnehin Staatspraxis war.

Es ist völlig klar, dass bei einer unmittelbaren Gefahr
im Rahmen von Einsätzen, die keinen Aufschub dulden,
oder aber bei Rettungseinsätzen, deren Details nicht be-
kannt werden dürfen, eine vorherige Parlamentsent-
scheidung nicht möglich ist. Es wird hierbei aber aus-
drücklich am Parlamentsvorbehalt festgehalten. Es hat
eine nachträgliche Entscheidung zu erfolgen. Außerdem
hat eine ständige Unterrichtung des Parlaments zu erfol-
gen.

Ich bin sicher, dass dieser Entwurf – er hat eine lange
Vorgeschichte und ihm ging viel Vorarbeit voraus – eine
gute Grundlage dafür ist, eine angemessene, eine bes-
sere, vor allen Dingen eine rechtssichere Regelung für
die Zukunft zu treffen. Der einzige Sinn ist tatsächlich,
den schon vorhandenen Parlamentsvorbehalt zu stärken
und für die Zukunft dauerhaft zu gewährleisten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510010000

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eckart von

Klaeden.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wo ist denn Ihr Gesetzentwurf, Herr von Klaeden? – Dr. Uwe Küster [SPD]: Er legt den Gesetzentwurf jetzt vor!)



Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1510010100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren Kollegen! Militärische Gewalt solle nicht mehr
als nationaler Souveränitätsakt ausgeübt werden …,
sondern als Akt des kollektiven Selbstschutzes aller
Nationen, die dafür sorgen, dass auf der ganzen
Welt der Friede erhalten bleibt und des Angreifern
unmöglich gemacht wird, den Frieden zu stören.

Das ist ein Zitat von Carlo Schmid aus den Verhandlun-
gen des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates
aus dem Jahre 1948. Dieses Zitat hat an Aktualität nichts
eingebüßt. Es ist aktueller als je zuvor; denn gerade






(A) (C)



(B) (D)


Eckart von Klaeden

angesichts der neuen Gefahren asymmetrischer Bedro-
hungen werden multinationale Operationen den stan-
dardmäßigen Rahmen militärischer und internationaler
Einsätze bilden.

Auch der Entwurf des EU-Verfassungsvertrages sieht
die Einführung der Prinzipien der strukturierten Zusam-
menarbeit im militärischen Bereich vor und erhöht damit
die Komplexität der intergouvernementalen Entschei-
dungsfindung. Es kommt daher darauf an, die Entschei-
dungsprozesse der Bündnisstaaten nicht nur inhaltlich,
sondern auch von ihrer Struktur her so weit wie möglich
zu harmonisieren. Asymmetrische Entscheidungsprozesse
werden sich aufgrund der unterschiedlichen Verfas-
sungslagen in freien Staaten nicht vollständig beseitigen
lassen. Aber es kommt darauf an, die Entscheidungspro-
zesse so weit wie möglich kompatibel zu machen und
damit auch den neuen Anforderungen einer vernetzten
Sicherheitspolitik zu begegnen, die auf die kommenden
Gefahren ausgerichtet ist. Heiko Borchert hat darauf in
einem, wie ich finde, beeindruckenden Beitrag hinge-
wiesen.

Wir stehen, wie Michael Rühle in der „FAZ“ betont
hat, am Anfang bzw. schon in der Mitte des zweiten
Kernwaffenzeitalters. Das zeigen Nukleartests in Indien
und Pakistan sowie die Atomprogramme Irans und
Nordkoreas. Wenn Nuklearwaffen erst in die Hände von
Terrorgruppen geraten, müssen wir auf schnelles und ef-
fektives Eingreifen vorbereitet sein. Wo sich abgrundtie-
fer Hass auf den Westen mit religiösen Erlösungsvorstel-
lungen verbindet – so Rühle – und wo der eigene Tod in
Kauf genommen oder gar herbeigesehnt wird, ist kein
Platz mehr für eine orthodoxe Abschreckungslogik, die
den Überlebenswillen aller Beteiligten voraussetzt. Für
Terrorgruppen wie al-Qaida sind Nuklearwaffen nicht
wie im westlichen Denken das letzte, sondern das erste
Mittel.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Kommen Sie mal zur Sache!)


Diesen Herausforderungen müssen wir im Interesse
der Sicherheit unseres Landes in funktionierenden mili-
tärischen und politischen Bündnissen begegnen können.
Diese Bündnisse werden nur erfolgreich sein können,
wenn die Entscheidungsprozesse den Kriterien der Ef-
fektivität standhalten können. Die Anschläge von Spa-
nien zeigen, dass terroristische Organisationen durchaus
das Ziel haben, die Geschlossenheit und die Entschlos-
senheit des Westens zu beeinträchtigen oder zu zerstö-
ren.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Deswegen verzichten Sie auf einen Gesetzentwurf!)


Parlamentsvorbehalte kennen in Europa nur Deutsch-
land und Schweden. Deutschland ist damit in Europa das
einzige NATO-Land, das über einen Parlamentsvorbe-
halt verfügt.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat sich bewährt!)


Ein Bündnis wie die NATO wird nur so stark und die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU wird
nur so erfolgreich sein wie ihr schwächstes Mitglied.
Wer durch seine eigenen innerstaatlichen Entschei-
dungsvoraussetzungen die Entscheidung im Bündnis er-
schwert, der schwächt das Bündnis und zwingt andere
geradezu zu Alleingängen. Das ist eine Konsequenz, die
Verteidigungsminister Struck nach einem informellen
Ministertreffen in Colorado Springs im Herbst letzten
Jahres gezogen hat. Er hat zu Recht die Langsamkeit
deutscher Entscheidungsprozesse beklagt und Refor-
men angemahnt.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Worauf will er hinaus?)


Die Langsamkeit deutscher Entscheidungsprozesse
manifestieren SPD und Bündnis 90/Die Grünen durch
den vorliegenden Gesetzentwurf. Herr Kollege Erler hat
das bestätigt, als er gesagt hat, man wolle der bewährten
Parlamentspraxis eine gesetzliche Grundlage geben. Ich
halte es dagegen für abwegig, dem Parlament nach dem
Motto „Vogel, friss oder stirb!“


(Gernot Erler [SPD]: Wer ist hier der Vogel?)

einen umfangreichen und detaillierten Gesetzentwurf
vorzulegen, an dem das Parlament noch nicht einmal ein
Komma ändern darf.

Die Erfordernisse, die in § 3 des Gesetzentwurfs von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen beschrieben werden,
sind meines Erachtens verfassungswidrig. Denn das
Bundesverfassungsgericht hat in seiner AWACS-Ent-
scheidung von 1994 unter Bezugnahme auf den Grund-
satz der Gewaltenteilung ausdrücklich festgestellt:

Der der Regierung von der Verfassung für außenpo-
litisches Handeln gewährte Eigenbereich exekuti-
ver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit
wird durch den Parlamentsvorbehalt nicht berührt.
Das gilt insbesondere hinsichtlich der Entscheidung
über die Modalitäten, den Umfang und die Dauer
der Einsätze, die notwendige Koordination in und
mit Organen internationaler Organisationen.

Herr Wiefelspütz, wenn Sie sich einmal die Mühe ma-
chen, diese Passage des Verfassungsgerichtsurteils mit
Ihrem Gesetzentwurf zu vergleichen, dann werden auch
Sie zu der Erkenntnis kommen,


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Auch ich? – Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Halten Sie sich für einen Juristen?)


dass dort ein Widerspruch vorliegt.
Der Entwurf von SPD und Grünen ignoriert zudem

die internationale Eingebundenheit der Bundeswehr in
NATO und EU.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Der Gesetzentwurf tut so, als hätten wir im militärischen
Sinne noch nationale Streitkräfte oder als wäre ihr iso-
lierter Auslandseinsatz der Regelfall.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Gehen Sie zurück auf „Los“! Machen Sie Ihre Arbeit! – Eckart von Klaeden Dr. Uwe Küster [SPD]: Aber ziehen Sie dabei keine 1 000 Euro ein!)





(A) (C)


(B) (D)


Das Gegenteil ist richtig. Mit der Umstrukturierung der
Bundeswehr in Einsatz-, Stabilitäts- und Unterstützungs-
kräfte beginnt die Bundesregierung, die Bundeswehr auf
die Herausforderung einer vernetzten Sicherheitspolitik
des 21. Jahrhunderts vorzubereiten. Das tut Ihr Gesetz-
entwurf leider nicht. Sie hätten ihn so auch 1955 nach
dem NATO-Beitritt verabschieden können.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! – Zuruf von der SPD: Wer hat Ihnen die Rede aufgeschrieben?)


Diese Vorwürfe wird man dem Entwurf eines Aus-
landseinsätzemitwirkungsgesetzes der FDP sicherlich
nicht machen können. Ich halte den vorgeschlagenen
Entsendeausschuss prinzipiell für eine gute Idee. Aller-
dings halte ich es aus mehreren Gründen für problema-
tisch, einem solchen Ausschuss die Möglichkeit zu ge-
ben, die Zustimmung des Parlaments zu ersetzen.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Warum denn dann? Entsendeausschuss, ja oder nein? – Der Mann versteht das nicht!)


Es gehört zum Wesen der parlamentarischen Entschei-
dung – im Gegensatz zum exekutiven Handeln –, dass
sie, außer in Personalfragen, öffentlich und transparent
zu erfolgen hat. Dass dieser Entsendeausschuss geheim
tagen und Entscheidungen des Parlaments ersetzen soll,
scheint mir ein untrügliches Zeichen dafür zu sein, dass
er sich zu weit in den Kernbereich der Exekutive vorwa-
gen würde.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Der Mann muss meine Aufsätze lesen!)


Meines Erachtens sollte das Parlament dem Prinzip
der Gewaltenteilung folgen und sich dabei vor allem
dem Ob eines Einsatzes und dessen politischen Zielen
widmen. Es muss dem Bundestag um Ermächtigung
und Kontrolle, aber nicht so sehr um die Durchführung
des Einsatzes gehen. Je mehr sich der Bundestag vor ei-
nem Einsatz oder während eines Einsatzes in das opera-
tive militärische Geschäft einmischt oder sich da hinein-
ziehen lässt, umso weniger wird er tatsächlich in der
Lage sein, die Durchführung des Einsatzes auch im Inte-
resse der eingesetzten Soldaten wirksam zu kontrollie-
ren.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wie wollen Sie die Verantwortung übernehmen, wenn Sie nicht wissen, was da läuft? – Sie müssen meine Aufsätze lesen!)


– Herr Wiefelspütz, stellen Sie doch eine Zwischenfrage,
wenn Sie so viele intellektuelle Probleme haben!


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Dann stellt er ja nur Fragen! – Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage – Unruhe)


Weder bei Verwendungen in integrierten Stäben noch
vor Einsatz in integrierten Verbänden wie der NATO Re-
sponse Force oder der EU-Eingreiftruppe sollte es daher
meiner Ansicht nach eines konkreten Parlamentsbe-
schlusses bedürfen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510010200

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1510010300

Ja, ich bitte darum.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510010400

Ich weise Sie nur auf Folgendes hin: Damit ist Ihre

Redezeit vorbei. Sie müssen also in der Antwort sozusa-
gen auch den Schluss Ihrer Rede finden.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das Konvolut abschließen!)



Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1510010500

Statt hier dauernd um das Thema herumzureden, soll-

ten Sie einen Gesetzentwurf vorlegen. Wann legen Sie
endlich einen Gesetzentwurf vor, Herr von Klaeden?


(Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der meckert nur! – Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Wer regiert hier eigentlich?)



Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1510010600

Dass wir um das Thema herumreden, ist eine Unter-

stellung und völlig falsch. Ihr Beitrag zeigt aber, dass Sie
Schwierigkeiten hatten, meinen Ausführungen zu fol-
gen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das erstaunt mich nicht. – Bleiben Sie bitte stehen, Herr
Wiefelspütz.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie haben Recht! Es ist uns schwer gefallen, Ihren Ausführungen zu folgen!)


Wir werden bei der Beratung in den Ausschüssen die
Gelegenheit nutzen, unsere Vorstellungen einzubringen,


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist ja noch schlimmer!)


die ich in einem letzten Satz kurz beschreiben will. – Ich
meine, dass wir insbesondere beim Einsatz der Bundes-
wehr in integrierten Stäben, also NATO Response Force
und EU-Eingreiftruppe, ein Verfahren wählen könnten,
das dem Verfahren entspricht, das wir in Immunitätsan-
gelegenheiten haben, nämlich am Anfang einer Legisla-
turperiode einen generellen Parlamentsbeschluss zu
fassen und dann das Parlament über eine Verstärkung der
Kontrollrechte, wozu ein allgemeines Rückholrecht ge-
hören kann, mit einer effektiven Kontrollbefugnis aus-
zustatten. Ich kann nicht erkennen, dass die bisherige
Parlamentspraxis tatsächlich so erfolgreich ist, wie Sie
behauptet haben. Ich will zum Beispiel an den Vorgang
erinnern – –






(A) (C)



(B) (D)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510010700

Nein, Herr Kollege von Klaeden.


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1510010800

Das ist der letzte Satz.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510010900

Nein, das war eben schon Ihr letzter Satz. Sie können

jetzt kein Beispiel mehr anführen. – Entschuldigung.


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1510011000

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510011100

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried

Nachtwei.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist jedenfalls ein netter Mann!)



Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510011200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vor zwölf Jahren begannen die Auslandseinsätze der
Bundeswehr außerhalb der Landesverteidigung mit der
Aussendung von Sanitätssoldaten nach Kambodscha.
Seitdem gab es weit mehr als zehn Einsätze bewaffneter
Streitkräfte der Bundeswehr im Ausland. Sie umfassten
allerdings ein viel breiteres Einsatzspektrum, als wir es
damals geahnt oder zum Teil befürchtet haben. Man
kann auch feststellen: Zu 99 Prozent waren es Einsätze
zur Friedenssicherung.

Das Parlament der Bundesrepublik besitzt ein so weit
gehendes Mitspracherecht bei Auslandseinsätzen wie
kaum ein anderes Parlament.


(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Mit Entscheidungen zu Auslandseinsätzen der Bundes-
wehr hatten es sich der Bundestag und alle in ihm vertre-
tenen Fraktionen nie leicht gemacht. Vor allem für uns
von der Fraktion der Bündnisgrünen war der Entschei-
dungsprozess oft strittig, strapaziös und riskant. Gerade
deshalb sage ich hier ausdrücklich: Die Parlamentsbetei-
ligung aufgrund des Parlamentsvorbehalts in Deutsch-
land bei Auslandseinsätzen hat sich bewährt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Jörg van Essen [FDP])


Sie forderte Sorgfalt bei den Entscheidungen und sorgte
insgesamt im internationalen Vergleich für militärische
Zurückhaltung. Sie diente der Konsensbildung im Parla-
ment und in der Gesellschaft bezüglich der entscheiden-
den Frage von Krieg oder Frieden.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510011300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen von Klaeden?

(Zuruf von der SPD: Der hat doch gerade geredet! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Der hat geredet und nichts gesagt!)



Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510011400

Ja.


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1510011500

Herr Kollege Nachtwei, können Sie wirklich von ei-

ner bewährten Praxis des Parlamentsvorbehalts spre-
chen,


(Zuruf von der SPD: Ja!)

nachdem Mitglieder Ihrer Fraktion bezüglich der mit der
Vertrauensfrage verknüpften Entscheidung, ob die Bun-
deswehr in Afghanistan eingesetzt werden sollte, 2001
das Los geworfen haben?


(Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie jetzt den Vorbehalt abschaffen oder was?)



Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510011600

Erstens ist das nicht so gewesen. Zweitens habe ich

gerade gesagt, dass es sehr strapaziöse und strittige Ent-
scheidungsprozesse gab.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Man hat das Los geworfen!)


Fragen Sie einmal die Soldaten und Soldatinnen der
Bundeswehr selbst, was sie vom Parlamentsvorbehalt
halten! Sie sagen alle durch die Bank, dass er sich sehr
bewährt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Praxis der Parlamentsbeteiligung und die verän-
derten internationalen Anforderungen an Auslandsein-
sätze machen aber ein Gesetz notwendig, in dem die
Parlamentsbeteiligung gewahrt, aber zugleich auch prä-
zisiert wird und in dem die multilaterale Handlungsfä-
higkeit der Bundesrepublik verbessert wird. Unser Ge-
setzentwurf regelt das Verfahren der parlamentarischen
Beteiligung bei Auslandseinsätzen, nicht die rechtlichen
Grundlagen und Aufgaben. Deshalb sei hier noch einmal
klargestellt: Selbstverständlich gilt die Vorgabe von
Grundgesetz und Völkerrecht, dass die Bundeswehr au-
ßerhalb der Landesverteidigung nur im Rahmen eines
Systems kollektiver Sicherheit zum Zwecke der Frie-
denssicherung eingesetzt werden darf und nicht anders.

Der Begriff „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ um-
fasst nicht nur so genannte Zwangseinsätze, sondern ge-
nauso friedenssichernde Einsätze, wo Soldaten eine be-
waffnete Funktion ausüben. Darunter fallen laut Urteil
des Bundesverfassungsgerichts von 1994 allerdings
nicht humanitäre Hilfsleistungen. Darunter fallen unse-
rer Auffassung nach auch nicht Vorbereitung und Pla-
nung von Einsätzen. Dies präjudiziert nichts, ist aber ge-
mäß unserer Erfahrung unabdingbar für eine notwendige
schnelle Einsatzbereitschaft im Rahmen der UN.






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Nachtwei

Auch fällt die Mitarbeit in ständigen integrierten Stä-

ben und Hauptquartieren nicht unter bewaffnete Ein-
sätze. Würde man diese einbeziehen, hieße das, dass die
Mitarbeit in integrierten Stäben und Hauptquartieren un-
ter Dauervorbehalt gestellt würde. Anders verhält es
sich, wenn Stäbe und Hauptquartiere unmittelbar für
Einsätze zusammengestellt werden. Dies unterliegt dem
Parlamentsvorbehalt.

Für Einsätze bewaffneter Streitkräfte gilt generell der
Parlamentsvorbehalt, wahrgenommen durch die Fach-
ausschüsse und das Plenum des Bundestages. In der
Realität der militärischen Integration sind vermehrt ein-
zelne Soldaten bei verbündeten Streitkräften eingesetzt,
vor allem in Stabsfunktionen. Bei UN-geführten Missio-
nen gibt es einen wachsenden Bedarf an einzelnen Sol-
daten mit Spezialfunktion. Um diesem nachzukommen
und um den Bundestag nicht ständig überzubelasten, soll
es bei der Beteiligung einzelner Soldaten an Einsätzen
geringerer Intensität und Tragweite ein vereinfachtes
Verfahren geben. Aber – Kollege Erler hat es vorhin
ausgeführt – schon durch eine kleine Minderheit von
5 Prozent oder unsere Fraktion, gegebenenfalls irgend-
welche anderen kleineren Fraktionen, könnte dann das
volle Verfahren in Gang gesetzt werden.

Entsprechend der Vorgabe des Bundesverfassungsge-
richts kann die Bundesregierung bei Gefahr im Verzuge
sowie zur Rettung von Menschen aus besonderen Ge-
fahrenlagen, sofern durch die Befassung des Bundesta-
ges das Leben der zu rettenden Menschen gefährdet
wäre, einen Auslandseinsatz anordnen. Sie muss gleich-
zeitig, wie es auch in der Vergangenheit in solchen Fällen
geschehen ist, unmittelbar in geeigneter Weise das Parla-
ment bzw. die Ausschüsse unterrichten und die Entschei-
dung dem Bundestag nachträglich vorlegen. Hier ist aus-
drücklich festzustellen: Dies ist selbstverständlich kein
Türöffner für so genannte humanitäre Interventionen.

Auch die Unterrichtungspflichten sind von erhebli-
cher Bedeutung. Sie tauchen ausgeführt nur in den Be-
gründungen auf. Aber wenn wir jetzt festlegen, dass Ein-
sätze nach dem Abschluss evaluiert werden sollen – was
hat es gebracht, was hat es gekostet, was hat es mögli-
cherweise nicht gebracht? –, so ist das ein vielleicht un-
auffälliger, aber sehr wichtiger Fortschritt. Das gilt auch
für das ausdrückliche Rückholrecht, das in diesen Ge-
setzentwurf aufgenommen worden ist.

Der Gesetzentwurf sieht keinen Entsendeausschuss
vor. Dieser würde unserer Auffassung nach die reale
Parlamentsbeteiligung erheblich einengen


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Quatsch! – Jörg van Essen [FDP]: Die Diskussion hat doch gezeigt, dass das nicht der Fall ist!)


und nach bisherigen Vorschlägen die Möglichkeit von
Geheimeinsätzen erweitern.

Die Teilnahme an integrierten Verbänden wie der
NATO Response Force wird nicht, wie es zum Beispiel
die Union will, von der Parlamentsbeteiligung ausge-
nommen. Ist das deshalb integrations- und bündnisfeind-
lich?


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Das will doch gar keiner!)

Die Herausnahme zum Beispiel der NATO Response
Force als Trägerin riskantester und härtester Einsätze aus
dem Parlamentsvorbehalt würde diesen im Kern treffen.

Zudem ist gerade bei der Forderung nach so genann-
ter Schnellsteinsatzfähigkeit einige Nüchternheit ange-
bracht. Eine Schnellsteinsatzfähigkeit ist notwendig bei
Gefahr im Verzuge, Geiselbefreiungen usw.; das ist un-
bestritten. Aber ansonsten, bei allen anderen Szenarien,
besteht immer ein gewisser zeitlicher Vorlauf für die po-
litische Einigung auf UN-Ebene, auf NATO-Ebene, auf
EU-Ebene, in der Bundesregierung. Kollege Erler hat
darauf hingewiesen, wie vergleichsweise schnell das
Parlament immer war. Da wird, glaube ich, ein Popanz
eines Bedarfs an Schnellsteinsatzfähigkeit aufgebaut.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Das wollte doch Ihr Verteidigungsminister!)


Es gibt aber auch entgegengesetzte Kritik, zum Bei-
spiel heute in der „Berliner Zeitung“, wonach unser Ge-
setzentwurf ein Gesetz zur Einschränkung der Macht des
Parlaments sei. Das ist – ich muss es so deutlich sagen –
Unsinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Offenbar wurde weder der Gesetzestext gelesen noch ist
die bisherige Praxis von Auslandseinsätzen, von huma-
nitären Hilfsleistungen bekannt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510011700

Herr Kollege, darf ich auch Sie auf die Zeit hinwei-

sen?


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510011800

Ja, ich komme zum Schluss. – In Wirklichkeit bleibt

der Gesetzentwurf voll im Rahmen des Urteils des Bun-
desverfassungsgerichts, schöpft dieses parlaments-
freundlich aus und stärkt die multilaterale Handlungsfä-
higkeit der Bundesrepublik im Rahmen des Systems der
Vereinten Nationen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510011900

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1510012000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir debattieren heute über zwei Entwürfe eines Geset-
zes zur Beteiligung bzw. Mitwirkung des Deutschen
Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Es
handelt sich um ein gerade eingebrachtes Gesetz der Ko-
alition und um ein Gesetz, das schon im Herbst letzten
Jahres von meiner Fraktion vorgelegt worden ist und das
auf Anträgen aufbaut, die wir in der letzten und zu Be-
ginn dieser Legislaturperiode in den Deutschen Bundes-
tag eingebracht haben.






(A) (C)



(B) (D)


Jörg van Essen

Die große Aktivität der FDP-Bundestagsfraktion in

diesem Bereich basiert auf einer langen Tradition. Die
FDP hat immer besonders großen Wert darauf gelegt,
dass die rechtliche Grundlage für die Auslandseinsätze
der deutschen Bundeswehr klar und eindeutig war.


(Beifall bei der FDP)

Wir waren es, die beispielsweise 1994 ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichts, das sich gegen die eigene
Regierung richtete, herbeigeführt haben, das uns heute
sehr hilft, die zur Debatte stehenden Fragen zu entschei-
den.


(Beifall bei der FDP)

Wir gehen von diesem Urteil des Bundesverfas-

sungsgerichts aus. Wir wollen Hüter der Grundsätze des
Bundesverfassungsgerichts sein. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat nämlich deutlich gemacht, dass es hier
um Fragen im Zusammenhang mit der Verfassung geht.
Gerade die Einsätze der Bundeswehr im Ausland müs-
sen im Einklang mit der Verfassung sein und entspre-
chend begründet werden.

Das war übrigens der Grund, warum wir eine Klage
vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht haben,
als die Bundesregierung ohne Zustimmung des Bundes-
tages den AWACS-Einsatz über der Türkei angeordnet
hat. Ich bin froh, dass beide Gesetzentwürfe, sowohl der
der Koalition als auch unser eigener, jetzt Klarheit schaf-
fen. Nach diesen Gesetzen hätte der Bundestag dem Ein-
satz damals zustimmen müssen, weil es sich um einen
Einsatz im Rahmen des Verteidigungsfalles der NATO
gehandelt hat.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das glauben Sie doch selber nicht, Herr van Essen!)


In beiden Gesetzentwürfen ist die Formlierung
enthalten – Sie haben nämlich unsere Formulierung
übernommen –, dass die Zustimmung des Bundestages
dann erforderlich ist, wenn die Einbeziehung in bewaff-
nete Unternehmungen zu erwarten ist.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Genau das ist der Fall!)


Es gibt überhaupt keinen Fall, bei dem das so klar zu
erwarten ist wie bei dem Verteidigungsfall der NATO.
Jetzt besteht Klarheit in dieser Frage.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das mit den AWACS-Einsätzen zu tun?)


Ich bin ganz sicher, dass auch das Bundesverfassungsge-
richt entsprechend entscheiden wird.


(Beifall bei der FDP)

Ich bin im Übrigen froh, dass die bisherige Debatte

gezeigt hat – allerdings bin ich etwas unsicher gewor-
den, als ich den Redebeitrag des Kollegen von Klaeden
gehört habe –,


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Allerdings! Er war in der falschen Debatte! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


dass es im Bundestag eine breite Übereinstimmung gibt,
nicht nur an der Mitwirkung des Bundestages festzuhal-
ten, sondern da, wo es möglich ist, die Beteiligung sogar
zu erweitern. Die FDP will es jedenfalls.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Herr Kollege von Klaeden, ich muss Ihnen ganz deutlich
sagen, dass wir Ihrem Vorschlag, am Anfang einer Legisla-
turperiode eine Entscheidung für vier Jahre zu treffen – et-
was Ähnliches gibt es bei den Immunitätsangelegenheiten –,


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Vorratsbeschlüsse! Sehr bedenklich!)


nicht folgen werden.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will Ihnen auch sagen, warum wir das nicht tun wer-
den. Es hat sich nämlich bei den Debatten im Bundestag
über die verschiedenen Auslandseinsätze gezeigt, wie
gut und richtig es war, dass wir sorgfältig diskutiert ha-
ben. Es ist immer wieder zu Klarstellungen und zu Pro-
tokollerklärungen der Bundesregierung gekommen, die
den Interessen der Soldaten gedient haben;


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


denn die Soldaten wurden keinen Gefahren ausgesetzt,
die wir im Zuge der sorgfältigen Diskussion erkannt ha-
ben.

Aber es gibt einen ganz wesentlichen Unterschied zu
dem Entwurf der Koalition, auf dem wir bestehen. Ich
habe vorhin deutlich gemacht: Wir haben auf der Grund-
lage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von
1994 unseren Gesetzentwurf formuliert. Das Bundesver-
fassungsgericht hat klar und eindeutig gesagt, dass aus-
schließlich da, wo Gefahr im Verzuge ist, der Bundes-
tag vorher nicht beteiligt werden muss. Sie haben sich
vor der Antwort auf die Frage gedrückt, was geschieht,
wenn beispielsweise eine Geiselbefreiung von langer
Hand vorbereitet werden kann.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht doch drin!)


In diesem Fall ist keine Gefahr im Verzuge. Dann kann
der Bundestag vorher einbezogen werden.

Sie haben nach einer Formulierung gesucht, um die
Einbeziehung des Bundestages zu umgehen. Aber Ihre
Formulierung trägt überhaupt nicht. Ich finde sogar, sie
ist brandgefährlich. Denn demnach gilt: Wenn Personen
aus einer Gefahr zu retten sind und wenn eine Gefähr-
dung des Lebens zu besorgen ist


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Solange eine Gefahr besteht!)







(A) (C)



(B) (D)


Jörg van Essen

– und eine Gefährdung des Lebens zu besorgen ist, Herr
Kollege –, dann muss der Bundestag vorher nicht betei-
ligt werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Das gilt beispielsweise dann, wenn ein Völkermord vor-
liegt. Es handelt sich um eine Generalklausel, die wir
nicht akzeptieren werden.


(Beifall bei der FDP)

Im Übrigen darf ich Ihnen sagen, dass ich Ihre For-

mulierung auch deshalb für brandgefährlich halte, weil
sie ausschließlich auf die Gefährdung des Lebens der zu
rettenden Personen abstellt. Für uns als FDP ist es wich-
tig, auch das Leben der Soldaten, die in einen Ret-
tungseinsatz gehen, zu berücksichtigen.


(Beifall bei der FDP)

Deswegen brauchen Sie eine solche Kommission. Sie
kommen daran nicht vorbei.

Ich will an Einsatzszenarien erinnern, über die wir
schon diskutiert haben, nämlich beispielsweise an die
geheimen Einsätze des Kommandos Spezialkräfte. Auch
hier ist Ihre Formulierung überhaupt nicht hilfreich. Sie
kommen deshalb um den speziellen Ausschuss, den wir
vorsehen, nicht herum.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510012100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ströbele?


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1510012200

Nein, nicht vom Kollegen Ströbele.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dem sind Sie wohl nicht gewachsen!)


Ich darf einen zweiten Gesichtspunkt ansprechen, der
uns außerordentlich wichtig ist. Wir wollen die Zahl der
Fälle, in denen die Regierung allein entscheidet, auf
ganz wenige reduzieren. Wenn man einen besonderen
bzw. einen kleinen Ausschuss einrichtet, der in ähnli-
cher Form organisiert ist wie beispielsweise die Gre-
mien, die die Geheimdienste kontrollieren, dann ist es
möglich, schneller zusammenzukommen, als das beim
Gesamtparlament der Fall ist. Wir möchten unseren be-
sonderen Ausschuss auch dann einschalten, wenn Ge-
fahr im Verzuge ist, wenn schnell entschieden werden
muss. Denn jetzt haben wir folgende Situation: In einem
Fall wird etwa der verteidigungspolitische Sprecher an-
gerufen und in einem anderen Fall ein Parlamentarischer
Geschäftsführer oder ein stellvertretender Fraktionsvor-
sitzender. Sie alle sind nicht legitimiert, für die jeweili-
gen Fraktionen und deren Positionen zu sprechen. Wenn
wir einen solchen Ausschuss eingerichtet haben, haben
wir Klarheit, wer jeweils in den verschiedenen Fraktio-
nen bei solchen Schnellentscheidungen gefragt werden
kann. Von daher ist ein solcher Ausschuss eine Stärkung
der Mitwirkung des Parlaments.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Ich wiederhole: Genau das ist unser Ziel.
Ich freue mich auf die Debatte. Kollege Erler hat ge-

sagt, sie sei bisher sachlich gewesen. Auch ich fand das.
Sie war auch spannend. Ich glaube, wir alle haben viel
gelernt. Deshalb hoffe ich, dass wir zum Schluss einen
Gesetzentwurf haben werden, mit dem wir alle leben
können und der vor allem ein Ziel erreicht: dass wir auf
der einen Seite weiter im Bundestag mitwirken und dass
auf der anderen Seite in der Zukunft die Fragen gelöst
werden, die die heutige Debatte aufgezeigt hat.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510012300

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Peter

Bartels.

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1510012400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Seit mehr als einem Jahrzehnt sind Soldaten der
Bundeswehr an größeren internationalen Einsätzen be-
teiligt. Nach Ende des Kalten Krieges war dies eine
gänzlich neue Situation für die Bundeswehr und ihre
Soldaten und auch für die Politik.

Anfangs waren die rechtlichen Grundlagen einiger-
maßen unklar. Erst die wegweisende Grundsatzent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Juli
1994 sorgte für Rechtssicherheit. Danach ist der Einsatz
unserer Streitkräfte im Ausland – damals hieß er „out of
area“ – im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit
mit unserem Grundgesetz vereinbar. Gleichzeitig mach-
ten die Verfassungsrichter aber deutlich, dass die Bun-
desregierung grundsätzlich immer die konstitutive Zu-
stimmung des Deutschen Bundestages einzuholen hat,
bevor deutsche Soldaten an bewaffneten Einsätzen im
Ausland teilnehmen. In den Leitsätzen des Urteils heißt
es:

Es ist Sache des Gesetzgebers, jenseits der im Ur-
teil dargelegten Mindestanforderungen und Gren-
zen des Parlamentsvorbehalts für den Einsatz be-
waffneter Streitkräfte die Form und das Ausmaß der
parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestal-
ten.

Mit dem vorliegenden Entwurf eines Parlamentsbe-
teiligungsgesetzes machen wir von dieser Möglichkeit
Gebrauch. Dass dies nicht schon längst geschehen ist, ist
nicht unbedingt ein Versäumnis der Politik. Das Gericht
hat es in diesem Fall im Unterschied zu vielen anderen
Entscheidungen weitgehend dem Parlament selbst über-
lassen, das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung
zu regeln. Es hat dies weder dringlich angemahnt noch
eine Frist gesetzt.

Ich will hier ausdrücklich festhalten: In den Jahren
seit Verkündung der Karlsruher Entscheidung hat sich
eine Praxis der parlamentarischen Mitbestimmung bei
Auslandseinsätzen herausgebildet, die gut ist. Das






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans-Peter Bartels

Verfahren hat sich bewährt. Die Bundeswehr ist ein wah-
res Parlamentsheer. Wir wollen, dass das so bleibt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Mehr als 30-mal haben wir hier im Bundestag über
Auslandseinsätze abgestimmt. – Ich glaube nicht, dass es
50 Entscheidungen waren, wie irrtümlich auf dem Deck-
blatt des Gesetzentwurfes steht. – 8 000 unserer Soldaten
sind derzeit außerhalb des NATO-Gebiets stationiert: auf
dem Balkan, am Horn von Afrika und in Afghanistan.
Seit 1991 waren 170 000 Bundeswehrangehörige, Sol-
daten, Zivilbedienstete und Reservisten, im besonderen
Auslandseinsatz. Hierbei geht es also nicht um ir-
gendeine Nebentätigkeit, sondern durchaus um die
Hauptbeschäftigung unserer Bundeswehr.

Für jede Mission gibt es einen Bundestagsbeschluss.
In jedem Einzelfall wurde der Antrag der Regierung sehr
gewissenhaft – für manchen Kollegen war es manchmal
wirklich eine Gewissensprüfung – im Parlament beraten
und entschieden. Dabei ist die parlamentarische Zustim-
mung weit mehr als eine Formalie. Wir erfüllen nicht
bloß eine verfassungsrechtliche Vorgabe. Vielmehr gibt
der Parlamentsvorbehalt den eingesetzten Soldaten die
Gewissheit, dass zu Hause eine parlamentarische Mehr-
heit hinter ihnen steht, eine Mehrheit, die in den meisten
Fällen weit größer war als die der jeweiligen Regie-
rungskoalition.

Die Behandlung der Anträge der Bundesregierung
nach dem üblichen parlamentarischen Verfahren – das
heißt, mit erster Lesung, Ausschussberatung, zweiter
und dritter Lesung und dann Beschlussfassung – hat ver-
hindert, dass jemals der Eindruck entstehen konnte, die
Exekutive verfolge unredliche oder parteipolitische
Ziele mit der Beteiligung der Bundeswehr an multinatio-
nalen Einsätzen. Die Transparenz unseres parlamentari-
schen Verfahrens ist vorbildlich. Das ist uns in Deutsch-
land aus guten Gründen wichtiger als anderen Nationen,
die einen solchen Parlamentsvorbehalt nicht kennen. Im-
merhin geht es um den Einsatz militärischer Gewaltmit-
tel von Deutschland aus, im Extremfall um Krieg. Damit
müssen, nein, damit dürfen wir es uns nicht leicht ma-
chen.

Wenn wir nun eine gesetzliche Regelung anstreben,
geht es zuallererst darum, das bisherige Verfahren recht-
lich zu formalisieren. Die Rechte des Parlaments wer-
den, wie es in der Begründung des Gesetzes nachzulesen
ist, weder ausgeweitet noch eingeschränkt. Unser Anlie-
gen ist es vielmehr, Bewährtes auf eine sichere rechtli-
che Grundlage zu stellen und dort, wo die Praxis gezeigt
hat, dass Modifikationen des Verfahrens sinnvoll sind,
diese vorzunehmen. Alle Erfahrungen, die wir in den
vergangenen Jahren gesammelt haben, konnten in unse-
ren Gesetzentwurf einfließen. Insofern ist es ein Vorteil,
dass wir nicht gleich nach dem Beschluss des Bundes-
verfassungsgerichts eine gesetzliche Regelung ange-
strebt haben. Wir präzisieren nun, was unter einem Ein-
satz bewaffneter Streitkräfte im Sinne des Gesetzes zu
verstehen ist. Das ist eine notwendige Klarstellung, die
mehr Rechtssicherheit schafft. Kollege Erler hat es ange-
sprochen: Rein humanitäre Hilfeleistungen werden auch
künftig nicht der Zustimmung des Bundestages bedür-
fen.

Unser Parlamentsbeteiligungsgesetz ändert nichts da-
ran, dass vorbereitende Maßnahmen und Planungen wei-
terhin in den Verantwortungsbereich der Exekutive fal-
len. Es ist und bleibt Aufgabe der Regierung, sich auf
denkbare Entwicklungen planerisch einzustellen. Die
Verantwortung des Parlaments kann erst beginnen, wenn
es um den konkreten Einsatz deutscher Soldaten geht.

Kein Einsatz ist – das hat in der Vergangenheit bis-
weilen für Unsicherheit gesorgt – die Arbeit von Bun-
deswehrangehörigen in ständig integrierten sowie multi-
national besetzten Stäben und Hauptquartieren der
NATO und anderen Organisationen kollektiver Sicher-
heit. Jede andere Regelung würde unsere Bündnisfähig-
keit infrage stellen. Anders verhält es sich beim Einsatz
unserer Soldaten in multinationalen Stäben und Haupt-
quartieren, die speziell für einen konkreten Auslandsein-
satz gebildet werden. Diesen Unterschied zu machen
halten wir für notwendig.

In unserem Gesetz schreiben wir die bewährte Praxis
fest, dass der Antrag der Bundesregierung, mit deut-
schen Soldaten an einer internationalen Operation teilzu-
nehmen, vom Parlament nicht geändert oder ergänzt
werden kann. Dies entspricht den Vorgaben des Bun-
desverfassungsgerichts, Kollege von Klaeden, das in
seinem Beschluss von 1994 gesagt hat: Die Festlegung
von Modalitäten, Umfang und Dauer des Einsatzes ist
Teil der exekutiven Handlungsbefugnis und Verantwort-
lichkeit in außenpolitischen Fragen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das hatte ich zitiert!)


Wir werden im Bundestag nicht Generalstab spielen
und wir können es auch nicht. Wir legen nur fest, welche
Angaben der Antrag enthalten muss: Einsatzauftrag und
-gebiet, rechtliche Grundlagen, Höchstzahl und Fähig-
keiten der einzusetzenden Streitkräfte, die Dauer des
Einsatzes, die voraussichtlichen Kosten und deren Etati-
sierung. Das sollte nicht kontrovers sein; denn es ent-
spricht bisheriger Übung.

Wir beschließen als Bundestag – auch wenn das Par-
lamentsbeteiligungsgesetz in Kraft ist – im Kern über die
grundsätzliche Frage der Teilnahme an Einsätzen im
Ausland. Die konkrete Ausgestaltung des Bundeswehr-
engagements bleibt Sache der Bundesregierung und Sa-
che der militärischen Fachleute. Da mischt der Bundes-
tag nicht mit. Es ist Quatsch, wenn Kollege von Klaeden
– dies hat er auch in der letzten Bundestagsdebatte zur
Bundeswehrreform getan – befürchtet, wir wollten eine
Gewaltenvermischung in Gesetzesform festschreiben.
Wo denn? Wie denn?


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Zuhören!)

Eine wichtige Neuerung nehmen wir aber vor, wenn

es um die Entscheidung über so genannte Einsätze von
geringerer Intensität und Tragweite geht. Die parlamen-
tarische Praxis bzw. vielmehr die Nichtpraxis hat ge-
zeigt, dass es sinnvoll ist, für die Entsendung einzelner






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans-Peter Bartels

oder weniger Soldaten ein vereinfachtes Zustim-
mungsverfahren zu schaffen. Dies gilt zum Beispiel für
die Unterstützung von UN-Beobachtermissionen und für
Erkundungskommandos.

Bislang hat die Bundesregierung aber auf entspre-
chende internationale Anfragen auch deshalb in man-
chen Fällen zurückhaltend reagiert, weil ohne eine ge-
setzliche Regelung schon die Entsendung einiger
weniger Bundeswehrangehöriger einer formalen Zustim-
mung des Bundestages bedurft hätte – ein relativ großer
Aufwand für Einsätze, die vermutlich ohnehin auf die
Zustimmung aller Fraktionen treffen.

Das vereinfachte Verfahren eröffnet der Regierung
bei Anfragen der UN, der OSZE oder anderer Organisa-
tionen neue Handlungsmöglichkeiten, ohne dass das
Parlament seine Rechte aufgeben muss.

Mit der vereinfachten Zustimmungsregelung er-
leichtern wir auch die konkrete Vorbereitung geplanter
Einsätze erheblich. Bisher war es nicht möglich, Sol-
daten zum Beispiel zur Sondierung der Lage in ein mög-
liches Einsatzgebiet zu schicken. Das hatte schon prak-
tische Nachteile, zum Beispiel bei der Auswahl von
Liegenschaften im Einsatzgebiet. Wir erinnern uns an
die Mission in Kabul, wo ein Erkundungskommando
schon hilfreich gewesen wäre, sodass man früher im
Einsatzgebiet hätte sein können, nachdem der Einsatzbe-
schluss gefallen war.


(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)

Der bewährte Parlamentsvorbehalt erhält nun eine

vernünftige, sehr schlanke, anderthalb Paragraphensei-
ten starke gesetzliche Grundlage. Wir bleiben bewusst
bei dem Verfahren, das auch bei der Behandlung von an-
deren Anträgen und Gesetzentwürfen Anwendung fin-
det.

Ein Hauptargument jener, die eine Abkehr von die-
sem Vorgehen fordern – sei es durch Vorratsbeschlüsse,
sei es durch neue Gremien –, ist, dass die Entschei-
dungsfindung des Bundestages zu lange dauere. Mit
Blick auf mögliche Einsätze etwa der NATO-Response-
Force wird eine Einschränkung der Handlungsfähigkeit
Deutschlands im Bündnis befürchtet. Sind wir wirklich
zu langsam? Trödelt die Volksvertretung?


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Fragen Sie Herrn Struck! Was sagt Herr Struck?)


Was sagt die Statistik? Wenn es darauf ankommt, kann
der Bundestag sehr schnell entscheiden. In acht Fällen
erfolgte der Beschluss des Parlaments noch am Tag des
Kabinettsbeschlusses selbst oder am darauf folgenden
Tag. In zwei Dritteln der Fälle wurde die Bundestagszu-
stimmung innerhalb von vier Tagen erteilt. Wenn dafür
in Einzelfällen Sondersitzungen nötig waren, ist dies
auch Ausdruck der Verantwortung, die wir als Parlamen-
tarier für die Bundeswehr übernehmen.

Gerade weil wir die Soldatinnen und Soldaten in ge-
fährliche Einsätze schicken, ist es notwendig, dass die
Entscheidung über eine deutsche Beteiligung in jedem
Einzelfall vom Bundestag gefasst wird. Es geht viel-
leicht zackiger; aber schneller als sofort geht es nun
wirklich nicht.


(Gernot Erler [SPD]: Das ist wohl wahr!)

Keiner der Einsätze ist daran gescheitert, dass der Bun-
destag nicht in der Lage gewesen wäre, eine Entschei-
dung zu treffen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Inzwischen haben wir eine gewisse Erfahrung im
Umgang mit Entsendeanträgen der Bundesregierung
gewonnen. Routine sollten diese Entscheidungen
aber nicht werden. Denn die Frage, ob wir Bundeswehr-
kontingente für eine internationale Friedensmission
bereitstellen, kann für die betroffenen Soldatinnen und
Soldaten existenzielle Auswirkungen haben. Die Verant-
wortung, die wir tragen, können wir nicht auf Sondergre-
mien delegieren und auch nicht auf Vorrat beschließen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unserer parlamentarischen Verantwortung tragen wir
auch dadurch Rechnung, dass wir dem Bundestag ein
gesetzlich abgesichertes Rückholrecht geben – auch
wenn die Rückholung deutscher Soldaten gegen den
Willen der Regierung in der Realität wohl die große
Ausnahme bleiben wird.

Ich bedauere, dass unsere Gespräche mit den Opposi-
tionsfraktionen nicht zur Vorlage eines gemeinsamen
Gesetzentwurfes geführt haben. In dieser für die Bun-
deswehr, aber auch für unser parlamentarisches Selbst-
verständnis so wichtigen Frage wäre ein interfraktionel-
les Vorgehen wünschenswert gewesen.

Unsere Positionen liegen auch gar nicht so weit aus-
einander. Über den Regelungsbedarf besteht in diesem
Hause weitgehende Einigkeit. Nicht strittig ist in jedem
Fall das Prinzip, dass wir für die Zustimmung zur Ent-
sendung von Erkundungskommandos oder für die Ver-
längerung unveränderter Einsätze ein einfacheres Ver-
fahren finden sollten. Auch beim Rückholrecht vermag
ich grundsätzliche Differenzen nicht zu erkennen.


(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)

Vielleicht finden wir nun in den anstehenden Ausschuss-
beratungen im Interesse der Sache noch zueinander. Da-
bei ist möglicherweise hilfreich, dass die Union gar nicht
erst einen eigenen Antrag vorgelegt hat.


(Jörg van Essen [FDP]: Interessant wäre es schon gewesen!)


– Aber insofern ist es nicht hinderlich.
Außerdem wird unser Gesetzentwurf, wie ich finde,

durchaus dem Anspruch gerecht, den die Union vor ei-
nem Jahr in einem sicherheitspolitischen Positionspapier
formuliert hat. Damals schrieben Sie, Kollege Schmidt:

Fähigkeit zur raschen Reaktion setzt klare, transpa-
rente und effiziente politische Entscheidungswege
voraus. Hierzu muss ein Parlamentsbeteiligungsge-
setz für Auslandseinsätze der Bundeswehr so rasch






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans-Peter Bartels

wie möglich verabschiedet werden, um zum Bei-
spiel deutsche Anteile an der NATO- bzw. EU-Ein-
greiftruppe in einen Einsatz schicken zu können.
Hierzu sind Lösungen zu entwickeln, die die politi-
sche Handlungsfähigkeit der Bundesregierung im
Rahmen der NATO und EU sicherstellen, gleichzei-
tig aber auch die Rechte des Parlaments wahren.

(Gernot Erler [SPD]: Sehr gut! Guter Mann, der Schmidt!)

Genau dies beschreibt, was wir mit unserem Gesetz-

entwurf erreichen. Man könnte meinen, Sie kannten un-
seren Entwurf damals schon. Machen Sie mit!

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510012500

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ronald Pofalla.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Der verrät uns jetzt den Gesetzentwurf der Union!)


Ronald Pofalla (CDU):
Rede ID: ID1510012600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mir scheint es aufgrund des bisherigen Verlaufes der De-
batte wichtig – denn ich habe den Eindruck, dass hier
Missverständnisse entstanden sind –, drei Dinge festzu-
halten.

Erstens. Ich möchte mich bei allen Fraktionen des
Hauses für die wirklich vortrefflichen und sachlich ge-
führten Gespräche bedanken. Ich bedanke mich recht
herzlich bei den Kollegen der Regierungskoalition,
Herrn Erler und Herrn Nachtwei. Denn unsere Gesprä-
che haben in einer Atmosphäre stattgefunden, die – bei
Ihnen wie bei uns – im Verlauf der Debatte in Einzelfra-
gen zu Veränderungen unserer Positionen beigetragen
hat.

Zweitens. Weil Sie Herrn von Klaeden bewusst falsch
verstehen wollen, lege ich Wert auf folgende Feststel-
lung: Die Bundeswehr ist ein Parlamentsheer. Die
Durchführung der Einsätze, über die wir hier reden, liegt
allerdings in exekutiver Verantwortung.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Richtig!)

Drittens. Über das vom Verfassungsgericht festge-

stellte Erfordernis der konstitutiven Zustimmung des
Deutschen Bundestages will kein einziger Vertreter die-
ses Hauses – zumindest ist mir niemand bekannt – an ir-
gendeiner Stelle streitig diskutieren.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr gut! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine wichtige Feststellung!)


Wir sind der Auffassung, dass die Entscheidung über das
Wie in der Verantwortung der Regierung und die über
das Ob, also die eigentliche Entscheidung, beim Parla-
ment liegen sollte. Daran will niemand rütteln.

Jetzt möchte ich allerdings auf einige wichtige Punkte
aufmerksam machen, weil dort – sonst wären wir ja auch
zu einem gemeinsamen Entwurf gekommen – Unter-
schiede bestehen. Ich will jetzt nicht, was ich tun könnte,
den Bundesverteidigungsminister zitieren; denn er ist
nicht anwesend. Aber er selbst hat nach einer bestimm-
ten Tagung sehr dafür plädiert, einen – ich nenne ihn ein-
mal so – Entsendeausschuss einzurichten, weil er er-
kannt hat, dass es Situationen geben kann, die, ohne dass
man am Parlamentsvorbehalt rütteln will, sehr wohl eine
Ausschussentscheidung notwendig erscheinen lassen.


(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)

Damit komme ich zum FDP-Entwurf. Im FDP-Ent-

wurf ist – wie ich finde: richtigerweise – die Bildung
eines Ausschusses für besondere Auslandseinsätze vor-
gesehen, der in bestimmten Fällen anstelle des Bundes-
tages entscheiden können soll.


(Jörg van Essen [FDP]: In einigen wenigen Fällen!)


– Ja, dazu komme ich noch. Nach der Konzeption Ihres
Gesetzentwurfs kann er aber im Grunde – das will ich
aus der Sicht unserer Fraktion offen sagen und das werde
ich auch entwickeln – über alle Einsätze entscheiden.

In § 6 Abs. 1 des FDP-Entwurfes werden die Zustim-
mungsermächtigungen obligatorisch für drei Fall-
konstellationen bestimmt, die man sich einmal genau
ansehen muss. Das gilt für Verschlusssachen ab dem Ge-
heimhaltungsgrad „geheim“, bei Gefahr im Verzug und
beim Einsatz einzelner Soldaten im Rahmen von Syste-
men kollektiver Sicherheit. In Abs. 2 ist laut Begrün-
dung fakultativ vorgesehen, dass der Bundestag dem
Ausschuss für besondere Auslandseinsätze in geeigneten
Fällen einen Antrag der Bundesregierung überweisen
und diesen mit einer Ermächtigung zur abschließenden
Entscheidung verbinden kann.


(Jörg van Essen [FDP]: Verlängerungsentscheidung!)


Hier haben wir verfassungsrechtliche Bedenken. Es
gibt im Deutschen Bundestag – wenn wir die Sonderpro-
blematik des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität
und Geschäftsordnung außen vor lassen – nur einen ein-
zigen Ausschuss, der Entscheidungskompetenz hat: den
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union. Dieser wiederum hat seine verfassungsrechtliche
Grundlage in Art. 45 des Grundgesetzes, der ihm diese
Kompetenz ausdrücklich zuweist.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was ist mit dem Verfassungsrichterwahlausschuss?)


– Der ist sowieso ein Ausschuss sui generis, um es sehr
deutlich zu sagen, weil er ja kein reiner Bundestagsaus-
schuss ist, sondern ein Ausschuss, in dem auch Vertreter
der einzelnen Bundesländer sitzen. Von daher kann der
Ausschuss für die Wahl der obersten Bundesrichter


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Verfassungsrichter, nicht Bundesrichter!)


nun überhaupt nicht für irgendeinen Vergleich herange-
zogen werden, Herr Wiefelspütz.






(A) (C)



(B) (D)


Ronald Pofalla

Wir haben Bedenken gegen den Ausschuss in der

FDP-Variante, weil die Zustimmungsermächtigungen
nach unserer Auffassung zu weit gehen und mit der Ver-
fassung nicht vereinbar sind. Eine solche Ermächtigung
sieht unsere Verfassung nicht vor.

Ich will auf den Koalitionsentwurf eingehen. Ein sehr
wesentlicher Einwand von unserer Seite betrifft die inte-
grierten Verbände, etwa die NATO-Response-Force.
Gelten ihre Einsätze per Gesetz als parlamentarisch ge-
nehmigt oder hat der Bundestag im konkreten Fall noch
ein Wörtchen mitzureden? – Das hat er sehr wohl – darin
liegen wir gar nicht sehr weit auseinander –, denn es
handelt sich um einen klassischen Out-of-Area-Einsatz.
Nicht jeder Einsatz – auch darin stimmen wir sicherlich
überein – wird innerhalb von fünf Tagen geplant und
vorbereitet, sodass gegebenenfalls keine Zeit bliebe, die
parlamentarischen Gremien einzubeziehen.

Was ist eigentlich, wenn die Bundesregierung wegen
der Eilbedürftigkeit – darauf läuft Ihre Konstruktion
hinaus – Soldaten entsendet, der Bundestag später aber
anderer Auffassung ist?


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist heute schon möglich!)


Die Blamage für die Bundesregierung, Herr
Wiefelspütz, wäre das eine – das würde mich bei der jet-
zigen Bundesregierung übrigens nicht sonderlich
stören –, das andere wäre aber, dass Zweifel bei unseren
Partnerstaaten an der Bündnisfähigkeit Deutschlands
ausgelöst werden könnten. Deshalb plädieren wir und
plädiere ich für eine generelle, abstrakte gesetzliche
Zustimmungsvermutung, wenn der Einsatz der Solda-
ten völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands ent-
spricht.


(Beifall des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/ CSU])


Das heißt nicht, dass der Bundestag außen vor wäre:
Diese völkerrechtliche Verpflichtung muss er selbstver-
ständlich ratifizieren. In diesem Zusammenhang muss
selbstverständlich auch über die Ausgestaltung eines
entsprechenden Rückholrechtes nachgedacht werden.

Nicht jeder Einsatz, Herr Wiefelspütz, lässt sich unter
die Rubrik „Gefahr im Verzug“ einordnen. So etwas
kann natürlich vorkommen, aber wenn zum Beispiel
Geiseln in der Sahara befreit werden müssen, erfordern
die dafür nötigen logistischen Aufwendungen doch
schon einige Zeit, wodurch genügend Möglichkeiten für
eine parlamentarische Beteiligung bleiben. Der Tatbe-
stand „Gefahr im Verzug“ tritt nach unserer Auffassung
auch nicht erst mit dem Eintreffen deutscher Truppen-
kontingente am Gefahrenort ein – warum werden sie
schließlich dorthin verlegt? –, wenn sie dort auf einen
günstigen Augenblick zum Zuschlagen warten. Allein an
diesem Beispiel zeigt sich, dass dem Bundestag eben
doch Einflussmöglichkeiten verbleiben, die er nach Ih-
rem Entwurf so nicht mehr hätte. Von daher, Herr Erler,
stimme ich Ihnen zu, dass Sie zwar im Wesentlichen die
seit 1994 geübte Praxis festschreiben. Aber in diesem
Punkt verwehren Sie dem Deutschen Bundestag Ein-
flussmöglichkeiten, die er bisher hatte und die durch das
von Ihnen vorgeschlagene Verfahren – ich will mich ein-
mal so ausdrücken – auf ein absolutes Minimum redu-
ziert werden.

Ich könnte weitere Kritikpunkte nennen. Ich würde
mich aber freuen, wenn wir im Rahmen der jetzt auf uns
zukommenden Ausschussberatungen und Anhörungen
weiter den Versuch unternehmen könnten, am Schluss
im Parlament nach Möglichkeit einen gemeinsamen Ge-
setzentwurf zu verabschieden. Wir haben unter anderem
auch deshalb keinen eigenen Entwurf eingebracht, weil
wir sehr wohl wissen, dass der Unterschied zwischen Ih-
nen von der SPD und uns von der CDU/CSU gar nicht
so groß ist. Ein Unterschied besteht dagegen zwischen
Ihrer Auffassung und der Ihres grünen Koalitionspart-
ners.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon wieder! – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Mein Freund Ströbele!)


Um diesen Unterschied nicht noch größer zu machen
– Herr Ströbele ist ja sozusagen der vorderste Vertreter
dieses Unterschiedes –


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer ich! Das stimmt diesmal überhaupt nicht! – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie werden Ströbele von mir nicht trennen können!)


und uns Möglichkeiten zu bieten, einen gemeinsamen
Gesetzentwurf zu verabschieden, haben wir darauf ver-
zichtet, durch einen eigenen Gesetzentwurf die Diskus-
sion in der Koalition anzuheizen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg van Essen [FDP]: Aber unser Gesetzentwurf hat da auch nicht geschadet!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510012700

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1510012800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-

ehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.
Stellen Sie sich vor, die Bundeswehr zieht in den

Krieg und niemand bekommt das mit. Das ist das Ziel
des vorliegenden Gesetzentwurfes der SPD und der Grü-
nen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!)


Das Agieren der Bundeswehr soll geräuschärmer und
ohne großes Aufsehen erfolgen. Um das Gesetz harmlos
erscheinen zu lassen, haben die Regierungsfraktionen
Bundeswehreinsätze von geringer Intensität erfunden.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht erfunden! Das gibt es!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gesine Lötzsch

Dazu sollen Erkundungskommandos und Einsätze von
einzelnen Soldaten im Rahmen der UNO, der NATO und
der EU zählen.

Nun hat Herr Ströbele noch vor einem Jahr richtig er-
kannt, dass zwei deutsche Generäle, die im Kriegsein-
satz wichtige Führungsfunktionen übernehmen, eine
größere Wirkung erzielen können als 100 Soldaten.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie schon etwas von UNFriedensmissionen gehört? Die gibt es wohl nicht!)


Das ist nachzulesen in der „Berliner Zeitung“ vom April
des vergangenen Jahres. Es ist also völlig abwegig, einen
Einsatz von geringer Intensität an der Zahl der Soldaten
festzumachen. Der grundlegende methodische Fehler ist,
dass die Bedeutung eines Einsatzes vom zahlenmäßigen
Umfang abhängig gemacht wird.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! Es sind mehrere Kriterien!)


Dieser Fehler scheint aber politisch gewollt. Sie wol-
len Bundeswehreinsätze mit geringer Intensität und
die Verlängerung von Bundeswehreinsätzen durch ein
vereinfachtes Zustimmungsverfahren im Stillen abwi-
ckeln. Das Prinzip des Verfahrens ist einfach: Wer
schweigt, stimmt zu. Sie wollen, dass die Zustimmung
erteilt ist, wenn nicht innerhalb von sieben Tagen nach
der Verteilung der Drucksache von einer Fraktion oder
von 5 Prozent der Abgeordneten eine Befassung im
Bundestag verlangt wird. Auf diese Weise haben Sie uns
als PDS ausgegrenzt. Aber das sei nur nebenbei bemerkt.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was können wir für Ihr Wahlergebnis?)


Schon jetzt wissen viele Abgeordnete kaum noch, worü-
ber sie eigentlich abstimmen. Ihr Verfahren wird dazu
beitragen, dass ein großer Teil der Abgeordneten gar
nicht mehr weiß, wo die Bundeswehr weltweit in Aktion
ist.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können zum Beispiel meine Stimme sammeln!)


Hinzu kommt, dass in den Berichten der Bundeswehr
geheimhaltungsbedürftige Tatsachen nicht enthalten sind
und nur noch einzelne Abgeordnete über geheime Tatsa-
chen informiert werden. Das heißt, es gibt dann Abge-
ordnete erster und zweiter Klasse, und das auch noch ge-
setzlich festgeschrieben.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jeder kriegt das!)


– Ich habe gerade nicht von den Drucksachen gespro-
chen, verehrte Kollegen von den Grünen, sondern über
die Berichte. Das ist im Gesetz so ausgeführt.

Schon jetzt ist es so, dass die Verlängerung von Bun-
deswehreinsätzen im Plenum zu einer reinen Routine
verkommen ist. Es wird gar nicht mehr nachgefragt, ob
die Mission erfüllt wurde und ob eine Verlängerung zur
Lösung des eigentlichen Problems beitragen könnte.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und ob! Das tun wir sehr wohl!)


Der Einsatz wird einfach verlängert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen

schon jetzt versprechen, dass die PDS-Fraktion 2006 im
Bundestag jeden Antrag auf Einsatz der Bundeswehr aus
dem vereinfachten Zustimmungsverfahren herausholen
und auf die Tagesordnung setzen wird. Egal, wer dann
regiert und die Bundeswehr in Einsätze geringer Intensi-
tät schicken will, Sie werden mit unseren Fragen und
Anträgen von hoher Intensität zu rechnen haben.

Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – Gernot Erler [SPD]: Das war leider eine Rede von geringer Bedeutung!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510012900

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian

Schmidt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Von der CDU/CSU-Fraktion!)



Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1510013000

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zwei Bemerkun-

gen vorab: Erstens. Zum einen hat erfreulicherweise das
Parlament vom Anfang bis zum Ende die Hoheit bei die-
sem Verfahren, wobei ich als Anfang den 12. Juli 1994
nennen möchte.

Zweitens. Ich glaube, dass für uns die Notwendigkeit
besteht, den Einfluss, den wir von der Verfassung her
haben, so auszuüben, dass er sowohl hinsichtlich der Be-
teiligung des Parlaments als auch hinsichtlich der inter-
nationalen Verpflichtungen unseres Landes optimal aus-
gestaltet ist.

Bei einem solchen neuen Parlamentsbeteiligungsge-
setz, für das wir unterschiedliche Ansätzen haben, muss
als zentraler Punkt berücksichtigt werden – das will ich
unterstreichen –, dass das Parlament, das seine Entschei-
dungen ja an vielen Faktoren orientieren muss, klug zwi-
schen dem konstitutiven Parlamentsrecht einerseits und
den außen- und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten,
der Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit unseres Landes
andererseits abwägen muss. Dabei muss – das sagt das
Verfassungsgericht in seiner einstweiligen Anordnung
in dem Verfahren, das Ihre Fraktion im letzten Jahr hin-
sichtlich des AWACS-Einsatzes angestrengt hat; Herr
Kollege van Essen, Sie haben das angesprochen – die
ungeschmälerte außenpolitische Handlungsfähigkeit der
Bundesregierung mit Blick auf die außen- und sicher-
heitspolitische Verlässlichkeit Deutschlands bei der Ab-
wägung ein besonderes Gewicht haben. Das ist auch im
gesamtstaatlichen Interesse.






(A) (C)



(B) (D)


Christian Schmidt (Fürth)


Ich will uns das deswegen noch einmal in Erinnerung

rufen, weil wir uns in einer Situation befinden, in der die
Gewaltenteilung zwar nicht von den Fakten, aber von
der Wirkung her ein Stück weit verwässert wird. Wenn
ich die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe richtig gele-
sen habe – davon gehe ich einmal aus –, nehmen wir
nach den Vorgaben des Verfassungsgerichts bei diesen
Fragen nach wie vor quasi eine Ratifizierungsfunktion
wahr. Das heißt: Die Bundesregierung legt einen Antrag
vor und wir entscheiden mit Ja oder Nein darüber; er
wird also nicht verändert.

Faktisch gibt es das Hilfsinstrument der Protokollno-
tizen. Dieses wird aktuell, wenn die Grünen ihrem eige-
nen Minister wieder sehr viel Ärger und sehr viele
Schwierigkeiten machen.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr habt das letzte Mal eine Protokollnotiz gebraucht!)


– Diese ist auch dann nötig, wenn wir aus klugen Erwä-
gungen heraus der Meinung sind, wir sollten eine solche
haben.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will einfach noch einmal festhalten: Es muss da-

bei bleiben, dass die Entscheidung über und die Verant-
wortung für den Einsatz bei der Bundesregierung liegt.
Das hat nichts damit zu tun, dass man sich vor der Ent-
scheidung drücken will. Diese Entscheidung müssen und
sollen natürlich alle, die in der entsprechenden Situation
Ja gesagt haben, gegenüber den Soldaten und unseren
Mitbürgern politisch mittragen. Wir müssen aber ganz
klar machen, dass wir in unserer Funktion als Parlamen-
tarier überfordert sind, Einsatzentscheidungen in der
Form zu treffen, als säße hier eine Art Generalstab zu-
sammen. Dieser Eindruck wird ja von manchen auch in
diesem Parlament vermittelt.

Ich erinnere an ein ganz anderes Thema, das wir in
diesem Hause vor nicht langer Zeit behandelt haben. Es
ging um das NPD-Verbot. Ein aus gutem Grunde der Öf-
fentlichkeit prinzipiell zugewandtes Gremium und Or-
gan wie das Parlament, das vom Sprechen und Zuhören
lebt, ist dem Erfordernis der Geheimhaltungsbedürftig-
keit nur sehr schwer zugänglich. Ich habe mich gewei-
gert, in die Geheimhaltungsstelle zu gehen und alle
NPD-Unterlagen, die ohnehin falsch waren, nachzule-
sen, um dann vom Verfassungsgericht den ganzen Vor-
gang kassiert zu bekommen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber kein Vertrauensbeweis gegenüber den Geheimdiensten!)


– Man hört, dass das eine oder andere nicht ganz richtig
gewesen ist.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah so, ein bisschen eingeschränkt!)


Das heißt: Bei wichtigen Fällen, in denen es zu Über-
schneidungen kommt, muss die Situation geklärt wer-
den. Deswegen ist der Ansatz, einen Ausschuss für diese
begrenzte Anzahl an Fällen vorzusehen, richtig.


(Jörg van Essen [FDP]: Für ganz wenige!)

Bezüglich der Ausdehnungsmöglichkeit habe ich aber
meine Zweifel.


(Jörg van Essen [FDP]: Darüber können wir reden!)


Im Übrigen, Herr Kollege – das sage ich nicht, weil
ich die Intention des FDP-Antrags infrage stellen wollte,
sondern ich sage es, weil die fraktionslose Kollegin, die
mitgeteilt hat, sie gehöre der PDS an, das angesprochen
hat –: Ihr nennt das einen Ausschuss für besondere Aus-
landseinsätze. Diese Terminologie müssen wir im Ver-
fahren noch ändern, damit hier kein Missverständnis
aufkommt.

Wir sollten uns überlegen, inwieweit wir unseren Ein-
fluss, der sich aus der Ratifizierung ergibt, verstärken
und ihm dadurch besser gerecht werden können, dass
wir frühzeitiger entscheiden. Ich meine das nicht grund-
sätzlich, aber bezogen auf die Fragen, in denen es um die
außen- und sicherheitspolitische Verlässlichkeit unseres
Landes geht. Das scheint mir bei der Response Force
und bei den anderen integrierten Verbänden ein Problem
zu sein. Ich finde, dem müssen wir uns etwas deutlicher
stellen, als es in beiden Gesetzentwürfen zum Ausdruck
kommt.

Um was geht es dabei? Der Kollege Pofalla hat darauf
verzichtet, Äußerungen des Verteidigungsministers auf
der Tagung von Colorado Springs zu zitieren. Wenn ich
das tun würde, ließe sich eine nahtlose Übereinstim-
mung im Hinblick auf unsere Fragestellungen feststel-
len. Es geht darum, dass wir in der Lage sind, unsere mi-
litärischen Strukturen in eine immer enger werdende
Integration einzubinden. Das gilt nicht nur auf NATO-
Ebene. Vielmehr ist dies das erklärte Ziel der Europäi-
schen Union mit dem ersten wichtigen Schritt der „Hel-
sinki Headline Goals“ und der so genannten Battle
Groups, der Eingreiftruppen, die für besondere Situatio-
nen, beispielsweise für zusammenbrechende Staaten vor
allem in Afrika, gedacht sind.

All das erfordert einen hohen Grad an außenpoliti-
scher Verlässlichkeit, Nachhaltigkeit und Konsistenz der
Entscheidungslinien. Ich glaube nicht, dass wir für unser
Land, für das wir alle Verantwortung tragen, das Opti-
mum erreichen, wenn das Parlament am Ende einer Ent-
scheidungskette faktisch nichts mehr beeinflussen, son-
dern nur noch Ja oder Nein sagen kann. Dies könnte
möglicherweise nach einer Entscheidung eines interna-
tionalen Gremiums, des NATO-Rats oder einer europäi-
schen Institution, der Fall sein. Dann würden wir nur das
nachvollziehen, was vorher in Struktur und Prinzip ent-
schieden worden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mir wäre es lieber, wenn wir diesen Punkt in den An-

hörungen noch einmal beraten. Ganz bewusst, ohne jetzt
die Frage eines gemeinsamen Gesetzentwurfs anzuspre-
chen, müssen wir uns überlegen, was wir in dieser Frage
gemeinsam erreichen können. Wir müssen hier eine






(A) (C)



(B) (D)


Christian Schmidt (Fürth)


zukunftsgerichtete Lösung finden. Der jetzige Gesetz-
entwurf der Koalition hingegen ist sehr statisch geraten.

Lassen Sie sich von denen, die jetzt noch in der Oppo-
sition sind


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Und bleiben!)


und vor allem das Parlament im Blick haben, unterstüt-
zen.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Ihr bleibt da länger, als ihr selber glaubt!)


– Wir werden uns im Jahre 2006 wieder sprechen.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich für die Großzü-

gigkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510013100

Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-

würfe auf den Drucksachen 15/2742 und 15/1985 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut
Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung vor
schweren Wiederholungstaten durch nach-
trägliche Anordnung der Unterbringung in
der Sicherungsverwahrung
– Drucksache 15/2576 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-
sprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-
spruch höre ich keinen. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat wieder der
Abgeordnete Ronald Pofalla. Es gibt wirklich fleißige
Abgeordnete.


Ronald Pofalla (CDU):
Rede ID: ID1510013200

Frau Präsidentin, ich freue mich, dass Sie weiterhin

präsidieren. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur nach-
träglichen Sicherungsverwahrung – ich will gleich zum
Thema kommen – betrachte ich durchaus ambivalent.
Einerseits ist nun endlich höchstrichterlich entschieden,
dass unsere Bürgerinnen und Bürger das Recht haben,
vor gefährlichen Gewaltverbrechern, die mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu Wiederholungstätern werden, ge-
schützt zu werden. Dass hierbei der Bundesgesetzgeber
und nicht etwa der Landesgesetzgeber gefragt ist, haben
wir der Bundesregierung und den sie tragenden Koa-
litionsfraktionen seit jeher plausibel zu machen versucht.
Leider ist uns das bis zur Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichtes nicht gelungen.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)


Andererseits hat sich insbesondere der Kollege
Joachim Stünker jeglicher logischen Argumentation ver-
weigert


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Bleiben Sie gerecht!)


und stattdessen einseitig behauptet, dass es sich bei der
nachträglichen Sicherungsverwahrung um eine Frage
der Gefahrenabwehr handelt.


(Joachim Stünker [SPD]: Was? Das habe ich nie gesagt!)


Durch diese Uneinsichtigkeit haben wir viel Zeit verlo-
ren, Zeit, die für gesetzgeberische Maßnahmen hätte ge-
nutzt werden können. Das müssen ausschließlich Sie
von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen
verantworten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Daher möchte ich Sie dringend dazu aufrufen, nicht
noch mehr Zeit mit unsinnigen Verzögerungen zu ver-
geuden, sondern im Interesse unserer Bürgerinnen und
Bürger in eine sachliche und konstruktive Diskussion
einzutreten.

Die Unionsfraktion hat heute einen Gesetzentwurf
eingebracht, der den Schutz der Bevölkerung durch An-
ordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung zum
Gegenstand hat. Auch der vom Kabinett verabschiedete
Regierungsentwurf, der heute jedoch hier nicht vorliegt,
hat dieses Ziel vor Augen. Insofern besteht wenigstens
an der Stelle Einigkeit.

Im Unterschied zur Regierung fordern wir aber, dass
die nachträgliche Sicherungsverwahrung unter den
Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Strafgesetzbuch auch
ohne entsprechenden Vorbehalt im Urteil angeordnet
werden kann.

Außerdem sind wir der Auffassung, dass für die
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung
nicht – wie von Ihnen vorgeschlagen – das erkennende
Gericht, also entweder die Strafkammer des Landgerich-
tes oder aber der Strafsenat des Oberlandesgerichtes, zu-
ständig sein soll, sondern die Strafvollstreckungskam-
mer. Bedenken Sie doch bitte, dass sich die
Strafvollstreckungskammer während der Strafvollstre-
ckung mit dem Täter befasst und insofern eine fundierte
Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Si-
cherungsverwahrung treffen kann. Zudem wird insbe-
sondere nach langjährigen Haftstrafen das erkennende
Gericht nicht mehr in derselben Besetzung zusammen
sein,


(Joachim Stünker [SPD]: Darum geht es doch gar nicht!)







(A) (C)



(B) (D)


Ronald Pofalla

wie dies zum Zeitpunkt der Verurteilung des Täters der
Fall war. Insoweit kann es passieren, dass mitunter ganz
andere, niemals mit dem Fall und dem Täter befasst ge-
wesene Richter über die Anordnung der Sicherungsver-
wahrung zu entscheiden haben. Das wollen wir eben
nicht.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind aber mit der Sicherungsverwahrung betraut!)


Wir wollen Richter, die sich mit dem Fall und dem Täter
auch während der Haftzeit ausgiebig haben befassen
können, um dann zu einer qualifizierten Entscheidung zu
kommen.


(Joachim Stünker [SPD]: Das ist doch Unfug! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun die doch gar nicht!)


– Herr Stünker, Sie sollten mit Ihren Zwischenrufen vor-
sichtig sein, sonst zitiere ich Sie aus anderen Bundes-
tagsreden,


(Joachim Stünker [SPD]: Machen Sie mal!)

um zu zeigen, welchen juristisch grenzwertigen Argu-
mentationen Sie verfallen sind, die sich seit der Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichtes als falsch he-
rausgestellt haben. Sie sollten nach dieser Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichtes wirklich still sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihre ganze juristische Argumentation war über Monate
falsch.


(Joachim Stünker [SPD]: Sie können nicht lesen!)


Die beiden Gesetzentwürfe unterscheiden sich auch in
einem weiteren meiner Meinung nach entscheidenden
Punkt. Ausweislich Ihres neu einzuführenden § 66 b Abs. 1
StGB wollen Sie die Anordnung der nachträglichen Si-
cherungsverwahrung vom Vorliegen einer Katalog-
straftat im Sinne von § 66 Abs. 3 Satz 1 Strafgesetz-
buch abhängig machen. Dies würde dazu führen, dass
die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur bei solchen
Anlasstaten angeordnet werden kann, die entweder den
Tatbestand eines Verbrechens erfüllen oder aber zu den
in § 66 Abs. 3 Strafgesetzbuch abschließend aufgezähl-
ten Straftaten gehören. In der Folge könnte damit für ei-
nige, wie ich meine, nicht unerhebliche Straftaten keine
nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet wer-
den.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie wollen das überall, oder wie?)


– Schön, dass gerade Sie den Zwischenruf machen.
Dann komme ich gleich zu Ihnen.

Lieber Kollege Ströbele, nach dem Entwurf der Bun-
desregierung wäre beispielsweise in Fällen, in denen ein
Täter mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wieder straf-
fällig wird, beispielsweise bei der Bildung einer krimi-
nellen Vereinigung – ich weiß, warum ich an dieser
Stelle darauf hinweise –, die Anordnung einer nachträg-
lichen Sicherungsverwahrung nicht möglich.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen Sie einführen?)


Deshalb würde ich auch Ihnen raten, ohne das näher aus-
zuführen, dass Sie darüber nachdenken, ob Sie das wirk-
lich wollen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt sagen Sie einmal, was Sie wollen!)


Wenn Sie das wollen, dann versuchen Sie doch bitte, das
in Ihrer Koalition durchzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich warte sowieso gespannt auf das Ergebnis der Diskus-
sion in der Koalition, weil Herr Montag und Herr
Ströbele bereits angekündigt haben, dass ihnen selbst der
Regierungsentwurf, der weit hinter unsere Vorstellungen
zurückfällt,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


offensichtlich schon zu weit geht. Ich wünsche Ihnen in
der Koalition viel Spaß bei der Diskussion über die
nachträgliche Sicherungsverwahrung mit Herrn Ströbele
an der Spitze, die dann, wenn Herr Ströbele sich durch-
setzen wird, ganz sicher eines zum Ergebnis haben wird:
Es wird unter dieser Koalition keine rechtsstaatlich kor-
rekte und die Bürger schützende nachträgliche Siche-
rungsverwahrung geben.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird sie doch geben!)


Aber wir als Opposition werden Sie über den Bundesrat
bzw. über das Vermittlungsverfahren dazu zwingen, an
dieser Stelle Farbe zu bekennen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ziemlich frech, was Sie hier von sich geben!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510013300

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär

Alfred Hartenbach.

(Joachim Stünker [SPD]: Sag ihm mal, dass er falsch gelesen hat!)

Al
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1510013400

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Rechtsfreunde,
kann man fast sagen!


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und -freundinnen! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Freunde im Recht!)


Der Schutz der Bevölkerung vor bestimmten hochge-
fährlichen Straftätern ist ein Thema, dem wir in den






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach

vergangenen Wochen nach der Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts vom 10. Februar 2004 zu Recht
besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Zuletzt ha-
ben wir an dieser Stelle in der Regierungsbefragung am
10. März 2004 darüber gesprochen, Herr Dr. Röttgen,
als es um den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu
diesem Thema ging. Diesen Entwurf haben wir genau ei-
nen Monat nach der Karlsruher Entscheidung vorgelegt.

Die Reaktion der CDU/CSU, ganz zu schweigen von
der des Staatsministers Huber aus Bayern, auf den Re-
gierungsentwurf hat mich doch etwas gewundert. Viel-
leicht hatte sie damit zu tun, dass Sie eine Woche vor uns
einen eigenen Gesetzentwurf präsentiert hatten – mit
vernichtendem Echo. Die „Frankfurter Allgemeine Zei-
tung“ bescheinigte Ihnen:

Bosbach und Röttgen blasen bei der Vorstellung ih-
res Entwurfs zur Sicherungsverwahrung kräftig die
Backen auf.

Sie meinte wahrscheinlich die Wangen.

(Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ CSU]: Dafür haben Sie eine Ohrfeige vom Verfassungsgericht gekriegt!)


Außerdem spricht die Zeitung von Populismus und
Wahlkampfgetöse.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Anschließend haben Sie ihn abgeschrieben, Herr Hartenbach!)


Kehren wir also lieber zur Sacharbeit zurück. Welche
Standpunkte wir dabei jeweils vertreten haben, lässt sich
den Entwürfen der Unionsfraktion und der Bundesregie-
rung entnehmen. Wir haben zwei Gesetzentwürfe mit
derselben Zielrichtung und damit die Chance, im weite-
ren Gesetzgebungsverfahren auf der Basis bereits aus-
formulierter Vorstellungen zur bestmöglichen Lösung zu
kommen. Ich halte es für parlamentarisch bedenklich,
verehrter Herr Pofalla, heute schon auf den Vermitt-
lungsausschuss zu setzen.


(Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD])

Ich denke, wir sollten die menschliche und parlamen-

tarische Größe zeigen, zu einer eigenen Lösung des
Bundestages zu kommen, weil wir die gleiche Zielrich-
tung haben. Die Allgemeinheit hat nämlich ein berech-
tigtes Interesse am Schutz vor bestimmten hochgefährli-
chen Straftätern und sie erwartet zu Recht, dass wir
diesem Interesse bestmöglich gerecht werden. Mit „wir“
meine ich den Deutschen Bundestag.

Wir sind uns darin einig, dass in wenigen, vermutlich
sehr seltenen Fällen der Schutz der Allgemeinheit vor
hochgefährlichen Straftätern die Möglichkeit einer In-
haftierung über deren Strafende hinaus erfordert. Wir
wollen diese Möglichkeit sowohl für Mehrfach- als auch
möglicherweise – in Extremfällen – für Ersttäter vorse-
hen.

Im Unterschied zum Entwurf der Unionsfraktion be-
lassen wir es allerdings beim bestehenden System der
Sicherungsverwahrung und damit auch bei der vorbe-
haltenen Sicherungsverwahrung. Wir schaffen damit
ein Stufensystem, das eine möglichst frühzeitige Ent-
scheidung über die Anordnung der Sicherungsverwah-
rung zulässt. Außerdem müssen nach unseren Vorstel-
lungen schon neue Tatsachen bekannt werden, bevor
man ein bestehendes und immerhin rechtskräftiges Ur-
teil korrigieren und die nachträgliche Sicherungsverwah-
rung verhängen darf. Für den Fall, dass Sie mit Ihrem
Vorschlag das Gleiche meinen, Herr Dr. Röttgen und
Herr Pofalla, sollten Sie das auch klar und deutlich aus-
drücken.

Ich halte es jedenfalls für ausgeschlossen, dass man
nur aufgrund einer neuen Bewertung bereits bekannter
Tatsachen zur Anordnung der Sicherungsverwahrung
kommen kann. Sicherlich ist jede menschliche Entschei-
dung, auch die eines Gerichts, von subjektiven Faktoren
mit geprägt. Die Entscheidung über die nachträgliche Si-
cherungsverwahrung unabhängig von neuen, objektiven
Faktoren zuzulassen ist mir allerdings zu subjektiv und
hat meiner Meinung nach auch zu wenig fundierte An-
knüpfungspunkte gerade in diesem sehr sensiblen Be-
reich.

Außerdem sollten wir eine nachträgliche Sicherungs-
verwahrung auf die schweren und gefährlichen Strafta-
ten beschränken, die auch das Bundesverfassungsgericht
vor Augen hat. Ich halte den Katalog des § 66 Abs. 3
StGB nach wie vor für den besten Anknüpfungspunkt.
Das heißt: nachträgliche Sicherungsverwahrung insbe-
sondere bei allen Verbrechen, also auch bei Totschlag,
bei Sexualdelikten, aber auch bei gefährlicher Körper-
verletzung, bei Misshandlung von Schutzbefohlenen
oder bei schweren Vollrauschtaten.

Die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch noch
auf Diebe und Betrüger auszudehnen, wie Sie es vor-
schlagen, geht zu weit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit verlässt man den Rahmen, den uns das Bundes-
verfassungsgericht vorgegeben hat.

Umgekehrt sollten wir uns aber um einen Bereich
kümmern, den Ihr Entwurf überhaupt nicht berücksich-
tigt. Wir stehen im Moment vor der misslichen Situation,
dass Täter, die ursprünglich als schuldunfähig in die
Psychiatrie eingewiesen wurden, aus ihrer Unterbrin-
gung entlassen werden müssen, wenn die psychische
Störung nicht oder nicht mehr besteht. Dabei kann auch
von diesem Personenkreis die Gefahr weiterer erhebli-
cher Straftaten ausgehen, die nach unserer übereinstim-
menden Auffassung grundsätzlich die Anordnung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung rechtfertigen
könnte. Ich meine deshalb, dass wir auch für diesen
Kreis von Verurteilten eine entsprechende Möglichkeit
vorsehen sollten.

Damit verbunden ist eine erstmalige ausdrückliche
Regelung, nach der die Unterbringung in der Psychiatrie
für erledigt erklärt werden kann. Dabei haben sich die
Gerichte bislang mit reinem Richterrecht beholfen. Da-
bei sollte es meines Erachtens nicht bleiben.






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach

Deutliche Unterschiede sehe ich im Verfahrensrecht.

Wir haben uns für das so genannte Hauptverhand-
lungsmodell entschieden, also für eine neue Hauptver-
handlung vor dem Tatgericht. Bei der Sicherungsver-
wahrung handelt es sich – darüber müssen wir uns alle
klar sein – um die Ultima Ratio des Strafrechts. Wenn
das so ist, dann müssen wir konsequenterweise auch die
Verfahrensform wählen, die die meisten rechtsstaatli-
chen Garantien gewährt: die Form der Hauptverhand-
lung.

Was wäre im Gegensatz dazu die Konsequenz aus Ih-
rem Vorschlag zum Verfahren? Es geht um dieselbe
Sanktion wie bei der Anordnung der Sicherungsverwah-
rung im Strafurteil selbst. Das Verfahren wäre bei Ihnen
jedoch ganz unterschiedlich ausgestaltet. Denn einmal
würde das Tatgericht die Sicherungsverwahrung im Ur-
teil anordnen, ein anderes Mal hingegen die Strafvoll-
streckungskammer per Beschluss. Ich kann keine über-
zeugende Begründung für diese völlig unterschiedliche
Behandlung entdecken. Ich darf Ihnen als langjähriger
Gerichtspraktiker sagen: Die Strafvollstreckungskam-
mer befasst sich mit den Inhaftierten in aller Regel, Herr
Pofalla, aktenmäßig; sie sieht sie meistens nicht einmal.


(Zuruf des Abg. Ronald Pofalla [CDU/CSU])

– Halt doch einmal den Mund, Junge! Sie widersprechen
einem alten Praktiker. – In der Strafvollstreckungskam-
mer wechseln die Richter häufiger, als Sie sich vorstel-
len können.


(Joachim Stünker [SPD]: So ist es!)

Nach unseren Vorstellungen müssen also der Grund-

satz der Öffentlichkeit, das uneingeschränkte Beweisan-
tragsrecht des Betroffenen und das Recht auf einen
Pflichtverteidiger auch bei der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung gewahrt bleiben. Der Heranziehung
von zwei Sachverständigen zur Begutachtung messen
wir eine hohe Priorität bei, besonders wenn es sich um
Ersttäter handelt. Außerdem wollen wir, dass die Rechts-
anwendung bei dieser schwerwiegenden Sanktion bun-
desweit einheitlich ist. Deshalb soll für diese Fälle die
Revision beim Bundesgerichtshof zugelassen werden,
damit wir hier alsbald Klarheit haben.

Lassen Sie mich zum Abschluss – so viel Zeit habe
ich noch – kurz auf einige Äußerungen von Herrn van
Essen eingehen, die er vor einiger Zeit gemacht hat. Er
hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir die Be-
denken, die in den Diskussionen der vergangenen Jahre
geäußert worden sind, nicht ohne weiteres über Bord
werfen können; denn in einem Rechtsstaat ist es keines-
wegs ehrenrührig, eine so schwerwiegende Sanktion wie
die nachträgliche Sicherungsverwahrung zu hinterfra-
gen.

Lieber Herr van Essen, bis zu den beiden Entschei-
dungen des Bundesverfassungsgerichts aus der ersten
Februarhälfte hätte ich Ihnen sogar uneingeschränkt zu-
gestimmt. Aber wir haben seitdem eine veränderte Aus-
gangslage. Selbstverständlich müssen wir nach einer
verfassungskonformen Lösung suchen. Dafür stehen
auch die Rechtspolitiker der Koalitionsfraktionen. Wir
haben zwar nicht viel Zeit, aber diese müssen wir nut-
zen, um uns auf eine Regelung zu verständigen, die den
Vorgaben unserer Verfassung entspricht. Ich hoffe dabei
auf die Mitwirkung von Ihnen allen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510013500

Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, FDP-Frak-

tion.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1510013600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben uns heute mit der nachträglichen Sicherungs-
verwahrung unter anderem deshalb zu befassen, weil das
Bundesverfassungsgericht aufgrund der Verfassungsbe-
schwerde eines Untergebrachten zu dessen Gunsten ent-
schieden hat. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich
gemacht, dass die rechtliche Grundlage für die weitere
Verwahrung dieser hochgefährlichen Person nicht im
Landesrecht zu suchen ist, sondern dass es eine bundes-
rechtliche Lösung geben muss. Diese Auffassung haben
auch wir, die FDP-Bundestagsfraktion, immer vertreten.
Trotzdem ist das kein Anlass für Genugtuung; denn die
schwierigen Fragen, die uns in diesem Zusammenhang
in den vergangenen Jahren im Bundestag beschäftigt ha-
ben, bestehen fort.

Auf der einen Seite wissen wir, dass sich die beson-
dere Gefährlichkeit von Personen, die verurteilt worden
sind, manchmal erst in der Haft zeigt. Wir stehen in der
Verantwortung, dafür zu sorgen, dass solche Personen
dann, wenn sie freigelassen werden, nicht wieder
schwerste Straftaten begehen, dass also niemand Opfer
von solchen Personen wird. Das ist die eine Verpflich-
tung, die uns auferlegt worden ist. Auf der anderen Seite
unterliegen wir der Verpflichtung, nichts zu beschließen,
was hinterher der Prüfung durch das Bundesverfassungs-
gericht nicht standhält, wie das in diesem Fall gewesen
ist. Wir bewegen uns hier auf einem schmalen Grat.

Dass wir es uns nicht leicht gemacht haben, kann man
daran erkennen, dass wir mehrfach Anhörungen durch-
geführt haben, bei denen wir uns den Rat von Sachver-
ständigen eingeholt haben. Dabei gingen die Ratschläge
der Sachverständigen in eine bestimmte Richtung.

Ich stimme Ihnen, Herr Staatssekretär Hartenbach, zu,
dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts,
bei der es nicht in erster Linie um die nachträgliche Si-
cherungsverwahrung ging, es nicht ausschließt, die Si-
cherungsverwahrung gegebenenfalls auch ohne Vorbe-
halt nachträglich anzuordnen. Das schließe ich daraus,
dass uns das Bundesverfassungsgericht eine Übergangs-
frist gesetzt hat; denn das macht deutlich, dass das Bun-
desverfassungsgericht es offensichtlich für möglich hält,
in der vorgegebenen Zeit zu einer verfassungsfesten Lö-
sung zu kommen. Wir, die FDP, wollen uns an der Suche
nach einer verfassungsfesten Lösung selbstverständlich
beteiligen; denn die Tatsache, dass das Bundesverfas-
sungsgericht die Sache nicht für nichtig erklärt und die
Täter nicht sofort auf freien Fuß gesetzt hat, macht ja






(A) (C)



(B) (D)


Jörg van Essen

deutlich, dass es sich hier auch nach der Beurteilung des
Bundesverfassungsgerichts um Personen handelt, die
brandgefährlich sind.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sein können!)


Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass wir auslo-
ten, was geht und was nicht geht. Ein paar Fingerzeige
haben wir bekommen. Wir brauchen eine besonders
qualifizierte Prognoseentscheidung. Deshalb wird hier
der Schwerpunkt für die FDP liegen, wenn wir darüber
zu entscheiden haben, welches Verfahren gewählt wer-
den soll. Ich persönlich habe das Gefühl, dass eine Pro-
gnose insbesondere bei Ersttätern und Heranwachsenden
sehr schwer zu erstellen sein wird. Darüber werden wir
intensiv diskutieren müssen.

Noch ein anderer Punkt ist mir wichtig, Herr Staatsse-
kretär. Sie haben von der Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts gesprochen. Dieses Gericht hat das
Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland zu in-
terpretieren. Bei den Fragen, die hier in Rede stehen
– Stichworte „Rückwirkungsverbot“ und „Doppelbestra-
fung“ –, haben wir aber auch Art. 5 der Europäischen
Menschenrechtskonvention zu beachten. Damit wer-
den wir uns bei den Beratungen in besonderer Weise be-
schäftigen müssen.

Alles das macht deutlich, dass meine Fraktion den
klaren Willen hat, auf der einen Seite das zu ermögli-
chen, was uns das Bundesverfassungsgericht aufzeigt,
auf der anderen Seite aber auch sicherzustellen, dass das
Verfassungsrecht und die Europäische Menschenrechts-
konvention beachtet werden. Es darf nicht geschehen,
dass wir dann, wenn wir zu einer Entscheidung gekom-
men sind, in den nachfolgenden Überprüfungsverfahren
entweder vor dem Bundesverfassungsgericht oder vor
einem europäischen Gericht noch einmal eine Nieder-
lage erleiden und Schwersttäter dann vor Gericht Recht
bekommen.


(Beifall bei der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es darf auch nicht sein, dass jemand unschuldig im Gefängnis sitzt!)


Wir sind in der Verpflichtung, verfassungsfeste Lösun-
gen zu schaffen. Wir als FDP werden uns genau dafür
einsetzen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510013700

Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/

Die Grünen.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510013800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Kollege Pofalla, ich will Ihr Angebot,
zu dieser Frage eine sachliche und konstruktive Ausei-
nandersetzung zu führen, ausdrücklich aufgreifen.
Worum geht es? Es geht um den Schutz von poten-
ziellen Opfern. Es sind ganz wenige Fälle, aber in die-
sen Fällen geht es um Opfer schrecklicher Straftaten und
die Opfer sind in der Regel oder fast ausnahmslos Kin-
der und Frauen. Das ist die eine Seite eines großen Pro-
blems. Die andere Seite ist, dass wir das überragende
Freiheitsrecht aller Menschen, auch der Strafgefange-
nen, zu achten haben. Das ist Inhalt der Verfassungsge-
richtsentscheidung. Da die richtige Lösung zu finden, ist
eine verdammt schwierige Aufgabe.

Wenn wir wirklich sachlich diskutieren wollen, dann
verbietet sich jede Polemik, auch die, die Sie gegenüber
dem Kollegen Stünker heute an den Tag gelegt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ronald Pofalla [CDU/ CSU]: Der hat doch den Unsinn erzählt! – Gegenruf des Abg. Joachim Stünker [SPD]: Sie wissen gar nicht, worüber Sie reden!)


Die Länder, deren Gesetze für verfassungswidrig er-
klärt worden sind, haben – sie haben behauptet, sie hät-
ten in einer Notsituation gehandelt – immerhin einen Eti-
kettenschwindel betrieben.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Jetzt wird es langsam unredlich!)


Sie haben die Materie der Sicherungsverwahrung dem
Polizeirecht zugeordnet. Das Verfassungsgericht hat ge-
sagt: So geht es nicht. Die Sicherungsverwahrung ist
Teil des Strafrechts und gehört damit zur konkurrieren-
den Gesetzgebung.


(Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ CSU]: Die Bundesjustizministerin hat es doch anders gesehen!)


Wir kommen zu einer wichtigen, zu einer hoch inte-
ressanten Frage, Herr Kollege Profalla und meine Kolle-
gen von der Opposition, nämlich zu der Frage: Warum
hat das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidung
getroffen? Es hat gesagt, dass die Länder nicht befugt
sind, die Straftäterunterbringung zu regeln, weil der
Bund diesbezüglich von seiner Gesetzgebungskompe-
tenz abschließend Gebrauch gemacht hat.


(Beifall des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/ CSU])


Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist
die Materie der Sicherungsverwahrung mit dem, was
schon jetzt im Gesetz steht, abschließend geregelt.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das war immer unsere Auffassung! Sie haben es jahrelang bestritten!)


– Wenn Sie tatsächlich von einer abschließenden Rege-
lung ausgehen würden, dann bräuchten Sie doch keinen
neuen Gesetzentwurf vorzulegen, wie Sie es heute getan
haben!


(Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ CSU]: Die Kompetenz ist abschließend geregelt! Das wissen Sie doch auch!)







(A) (C)



(B) (D)


Jerzy Montag

– Hören Sie sich doch erst einmal meine Ausführungen
an! Behalten Sie sich das, was Sie zu sagen haben, für
die Beratung im Rechtsausschuss vor!


(Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ CSU]: Aber es ist falsch, was Sie gesagt haben, und das wissen Sie auch!)


– Nein, es ist richtig.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Geset-

zeslage zur Sicherungsverwahrung ausführlich darge-
stellt hat, hat es Lücken aufgezeigt. Das betrifft die
Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung
nach § 66 Abs. 1 StGB, die erleichterte Möglichkeit der
Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3
StGB und zum Schluss die Möglichkeit des Vorbehalts
der Unterbringung nach § 66 a StGB. Die Lücke, die
aufgezeigt worden ist und tatsächlich besteht, ist, dass
diese umfassende Regelung, sowohl was die erleichterte
Anordnung nach § 66 Abs. 3 StGB als auch was den
Vorbehalt der Unterbringung nach § 66 a StGB betrifft,
nur für die Zukunft gilt. Das bedeutet: Im Strafvollzug
gibt es Straftäter, bei denen möglicherweise die formalen
Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung vorlie-
gen, bei deren Verurteilung vor den Stichtagen in 1998
und 2002 die erleichterte Anordnung nach § 66 Abs. 3
StGB oder die Anordnung des Vorbehalts nach § 66 a
StGB nicht möglich waren. Deswegen sagen wir: Wir
sind bereit, diese Lücke zu schließen.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Nur die Altfälle?)


Die Grünen werden auf die Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts reagieren, obwohl uns, meine
Herren Kollegen von der Opposition, das Bundesverfas-
sungsgericht überhaupt nicht zu einer gesetzgeberischen
Reaktion gezwungen hat. Im Urteil steht: Der Bundesge-
setzgeber muss entscheiden, ob und inwieweit er reagie-
ren will. Ich sage Ihnen: Wir Grüne wollen reagieren.
Wir wollen die von mir aufgezeigte Lücke schließen, in-
dem wir eine Altfallregelung einführen,


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Mehr wollen Sie nicht! Das ist ja irre!)


die genau die Fälle, die ich jetzt angesprochen habe, um-
fasst.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ CSU]: Das ist eine Nullnummer, die Sie machen! – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Was sagt denn Frau Zypries dazu?)


Wir verschließen uns aber auch nicht anderen Lö-
sungsmöglichkeiten, wenn sie, wie es das Bundesverfas-
sungsgericht verlangt, gewährleisten, dass der überra-
genden Bedeutung des Freiheitsrechts des Betroffenen
Rechnung getragen wird und wir nicht ohne Not – damit
meine ich: nicht ohne eine unabweisbare Notwendig-
keit – die bereits jetzt umfassende Regelung der Siche-
rungsverwahrung weiter ausdehnen als bisher.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Unterstützen Sie den Regierungsentwurf oder nicht?)

– Wir reden heute nicht über den Regierungsentwurf.
Heute reden wir über Ihren Gesetzentwurf.

Ich sage Ihnen jetzt einmal, warum in Ihren Vorschlä-
gen aus unserer Sicht mehr Schlechtes als Gutes enthal-
ten ist:

Die Strafvollstreckungskammer, die die Entschei-
dung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung tref-
fen soll, ist eine Kammer, die in der Regel wenig mit den
Strafgefangenen zu tun hat, höchstens mit denen – da er-
kenne ich auch Ihr Interesse –, die im Vollzug auffällig
geworden sind.


(Joachim Stünker [SPD]: Genau!)

Mit denen beschäftigen Sie sich ein bisschen, aber mit
denen, die nicht auffällig geworden sind, kaum.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Die sollen ja auch nicht sicherungsverwahrt werden!)


– Jetzt einmal ganz ruhig, Herr Kollege Dr. Gehb. Sie
kommen doch gleich dran.

Sie wollen keine Hauptverhandlung mit Beweisauf-
nahme, Sie wollen kein Urteil, sondern nur einen Be-
schluss. Sie sehen keine Rechtsmittel außer einer Be-
schwerde vor. Sie sehen eine Verteidigung nicht
notwendig vor, sondern wollen, dass ein Verteidiger nur
dann angehört wird, wenn er da ist. Das einzig Gute, was
Sie wollen, ist, dass Sie zwei Gutachten wollen. Diesen
Vorschlag tragen wir mit. Aber auch da bleiben Sie auf
halbem Weg stehen, weil einer der Gutachter aus dem
Gefängnis kommen kann, in dem der Verurteilte einsitzt.
Das halten wir für keine gute Lösung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eigentlich wollte ich Ihnen, meine Damen und Herren

von der CDU/CSU-Opposition, zum Schluss sagen: Mit
Ihrem Gesetzentwurf werden wir uns nicht beschäftigen.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das glauben wir!)


Ich will aber doch noch einmal das Angebot zu einer
sachlichen und konkreten Diskussion im Rechtsaus-
schuss machen. Wir werden nochmals eine Sachverstän-
digenanhörung durchführen. Wir können dann gemein-
sam nach dem besten Lösungsweg suchen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510013900

Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb, CDU/

CSU-Fraktion.

Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1510014000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn

man die Debattenbeiträge, die wir heute gehört haben,
insbesondere das, was der Staatssekretär gesagt hat, und
die Antworten der Ministerin, die sie in der Befragung
der Bundesregierung am 10. März gegeben hat, Revue
passieren lässt, könnte man den Eindruck bekommen, als






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Jürgen Gehb

habe die SPD nie etwas anderes als die nachträgliche Si-
cherungsverwahrung gewollt bzw. als sei die SPD die
einzige Partei, die wirklich die nachträgliche Siche-
rungsverwahrung gewollt hat.


(Dirk Manzewski [SPD]: Das ist doch Quatsch!)


Im Übrigen hat die Ministerin bei der Befragung der
Bundesregierung noch einen kleinen Fehler begangen,
als sie gesagt hat, dass mit dem vorliegenden Antrag der
Regierung die bisher bestehende Regelung zur Siche-
rungsverwahrung, nämlich zur vorbehaltenen, ergänzt
werde.

Inzwischen haben wir drei Fälle der Sicherungsver-
wahrung, nämlich die, die im Urteil direkt angeordnet
wird – diese gibt es schon sehr lange –, die andere, die
im Urteil vorbehalten wird, und jetzt die nachträgliche
Sicherungsverwahrung.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben wir noch nicht!)


Die von Ihnen aufgeworfene Frage, Herr Staatssekre-
tär, ob die Richter in der Strafvollstreckungskammer
häufig wechseln, hilft überhaupt nicht weiter. Es ist doch
völlig normal, dass die Besetzung von Spruchkammern
wechselt. Der gesetzliche Richter ist der gesetzliche
Richter.


(Dirk Manzewski [SPD]: Das hätten Sie einmal dem Kollegen Pofalla sagen sollen!)


Wie verhält es sich denn übrigens, Herr Kollege Montag,
bei der Aussetzung der Strafe zur Bewährung? Wer trifft
eigentlich diese Entscheidung? Aber all diese dogmati-
schen Fragen gehören eigentlich eher in den Rechtsaus-
schuss oder in eine Vorlesung für Studenten.

Herr Pofalla hat Ihnen, Herr Stünker, eben Vorhaltun-
gen zu dem, was Sie von sich gegeben haben, ersparen
wollen. Ich werde jetzt einmal das Buch Hiob aufschla-
gen.


(Zuruf des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Sie, Herr Jerzy Montag, möchten immer gerne zur Sach-
lichkeit aufrufen. Wenn man morgens blutig geschlagen
worden ist, kommen Sie abends an und sagen, das war
doch alles nicht so gemeint.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe Sie noch nie geschlagen!)


In der Bundestagsdebatte am 19. Oktober 2001 führte
der frühere rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU,
Norbert Geis, aus, dass im Augenblick nicht die Mög-
lichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung be-
stünde. Zwischenruf von Stünker: „Gott sei Dank!“
Geis: „Nachträglich geht das im Augenblick noch
nicht.“ Stünker: „Gut so!“ Geis: „... haben wir heute
noch nicht die Möglichkeit, nachträglich eine Siche-
rungsverwahrung anzuordnen.“ Stünker: „Da sind wir
vor!“


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie uns damit sagen?)

– Sie sind doch sonst nicht so begriffsstutzig!
Ich habe in meiner Rede am 14. November 2002 ge-

sagt – und zwar auf Lateinisch, weil ich dachte, die
Rechtskundigen verstehen das –: „Punitur quia peccatum
est ne peccetur.“ Das heißt auf Deutsch: Es wird bestraft,
weil gesündigt worden ist und damit nicht wieder gesün-
digt wird. Dieser alte Spruch beinhaltet zum einen die
repressive Strafe, hat also Sühnecharakter, und zum an-
deren die Prävention, also die Vorbeugung.

Das Einzige, was Sie, Herr Stünker, darauf in Ihrer
Replik damals zu sagen hatten, war: Herr Gehb, damit
hätten Sie eine Professur nicht verdient, nicht einmal den
kleinen Strafrechtsschein.


(Joachim Stünker [SPD]: Richtig!)

Das Bundesverfassungsgericht sagt auf Seite 13 des

Entscheidungsumdrucks: Strafrecht erfasst neben ver-
geltenden, Schuld ausgleichenden Sanktionen auch spe-
zialpräventive Reaktionen auf eine Straftat.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: So bereits Gehb im Bundestag!)


– So bereits Gehb im Bundestag. – Herr Stünker am
14. November 2002: „Die Bundesländer müssen hier
ihre Schulaufgaben machen und müssen für die entspre-
chenden gesetzlichen Regelungen sorgen.“ Zwischenruf
Jürgen Gehb: „Das ist Art. 74 Abs. 1, konkurrierende
Gesetzgebung! Wenn der Bund davon Gebrauch macht,
ist dieser Bereich den Ländern verschlossen!“ Das
wurde von Ihnen, Herr Montag, übrigens eben wörtlich
wiedergegeben. Da hat sich das Bundesverfassungsge-
richt fast expressis verbis meiner Diktion angeschlossen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Allgemeingut!)


Sagen Sie einmal, Herr Stünker: Würden Sie in Ihrer
grenzenlosen Überheblichkeit, in der Sie glauben, Noten
vergeben zu können, auch den erkennenden Richtern des
Bundesverfassungsgerichts die Professur oder gar das
Erreichen des kleinen Strafrechtsscheins absprechen?


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss wehgetan haben, Herr Gehb, gell?)


– Das hat auch wehgetan.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Es geht aber nicht um Sie!)

Das ist der Unterschied zu den Zeiten, als Professor Pick
noch hier war. Da hatte man solche komischen Zwi-
schenrufe nicht zu befürchten. Herr Montag und vor al-
len Dingen Herr Stünker, das ist das Problem in der De-
batte mit Ihnen – auf einen groben Klotz gehört ein
grober Keil; ich habe das noch nie gesagt, aber Sie haben
es jetzt provoziert –: Mit Ihnen ist es deshalb schwierig,
weil Sie fachlich so schwach auf der Brust sind.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Na, na, na!)


Wer die Begriffe nicht versteht und nicht beherrscht,
kann natürlich auch eine Diskussion nicht beherrschen,






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Jürgen Gehb

das ist doch ganz klar. Deswegen kommen wir auch
nicht überein.

Jetzt so zu tun, als sei Sachlichkeit geboten, ist per-
fide. Herr Montag, Sie führen sich – genau wie früher Ihr
rechtsunkundiger Kollege Volker Beck – in allen diesen
Fällen wie eine ethosgesteuerte Warnblinkanlage auf, in-
dem Sie hier nur mit einem Nebensatz erwähnen, dass es
natürlich auch Opfer gibt.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn wir die Opfer schon erwähnen, dann ist es Ihnen auch nicht recht!)


Ihr Herz schlägt bei verfassungsrechtlichen Debatten im-
mer zuerst für den Täter und erst an fünfter oder sechster
Stelle für das Opfer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist unglaublich und unverschämt! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Verleumdung!)


Der Unterschied in unserer Politik ist ein ganz einfa-
cher, den auch alle unsere Zuhörerinnen und Zuhörer auf
der Tribüne verstehen: Bei uns geht Opferschutz vor
Täterschutz und nicht Täterschutz vor Opferschutz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, ob wir über den geneti-
schen Fingerabdruck, Terrorismus oder die Sicherungs-
verwahrung reden, immer sind Ihre Bedenken, ob rechts-
staatliche Prinzipien angewandt worden sind.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Glaubt denn irgendeiner in Deutschland, dass wir rechts-
staatliche Defizite haben?


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510014100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ströbele?


Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1510014200

Wenn sie nicht beschimpfenden Charakters ist wie

sonst bei Herrn Ströbele.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510014300

Das kann ich nicht garantieren, Herr Kollege.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Gehb, geben Sie mir Recht, dass die
CDU/CSU-Fraktion noch im Jahr 1998 ausdrücklich ab-
gelehnt hat, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung
ins Strafgesetzbuch zu schreiben? Wie war das da mit
dem Täter- und dem Opferschutz?

Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1510014400

Das kann ich Ihnen erklären, Herr Ströbele. Auch ich

bin Christdemokrat. Sie wissen sehr wohl, an welchen
Widersprüchen das gescheitert ist.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An welchen?)


Ich bin seit 1998 Mitglied dieses Hauses. Ich will Ih-
nen eine Antwort auf Ihre Frage nicht schuldig bleiben.
Wer uns wie Sie zum x-ten Male die nachträgliche Si-
cherungsverwahrung abschlagen will und wer uns vor-
hält, dass wir sie während unserer Regierungsverantwor-
tung nicht eingeführt haben, der kommt mir vor wie
jemand, der wegen Mordes an seinen Eltern angeklagt
wird und um Gnade fleht, weil er Vollwaise ist. Das ist
eine ganz perfide Einlassung. Sie können sich setzen,
Herr Ströbele.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist keine Antwort auf die Frage!)


– Doch, das ist die Antwort auf die Frage.
Ich gebe Ihnen Recht, dass viele Gesetzesvorhaben in

den letzten 30 Jahren gescheitert sind.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es geprüft und abgelehnt!)


Sollen wir deshalb aufhören, Gesetzentwürfe einzubrin-
gen? Wenn man den Vorwurf, man hätte schon früher
handeln können, ernst nehmen würde, dann hätte man
nach der ersten Legislaturperiode aufhören können, ent-
sprechende Vorschläge zu machen. Das ist doch völlig
abwegig. Ich appelliere daher an Sie: Machen Sie mit!
Der Rückblick war jedenfalls erforderlich, um eine Ge-
schichtsklitterung zu verhindern.

Ich will zum Abschluss noch etwas Versöhnliches sa-
gen. Es wird uns doch wohl gelingen, aus dem Potpourri
der bisherigen Vorschläge – ich nenne unseren Vor-
schlag, die Vorschläge der Bundesregierung und des
Bundesrates sowie die Vorschläge von Bayern, Thürin-
gen und Baden-Württemberg – einen Vorschlag zu
entwickeln, der sowohl den rechtsstaatlichen Anforde-
rungen entspricht, die der Staat gegenüber den Strafge-
fangenen beachten muss, als auch den gebotenen Schutz
der Bevölkerung vor solchen Menschen gewährleistet.
Herr Ströbele, es handelt sich weiß Gott nicht um Un-
schuldslämmer. Es muss eine Tat vorliegen, die schwerer
ist als das Klauen eines Lippenstifts im Kaufhof. Es han-
delt sich um böse Burschen – das sind keine leichten
Fälle –, die wir einsperren wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510014500

Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1510014600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, über das wir






(A) (C)



(B) (D)


Joachim Stünker

heute hier reden, ist viel zu ernst, als dass man solche
Reden halten sollte, wie Sie es, Herr Kollege Gehb und
Herr Kollege Pofalla, heute Nachmittag getan haben. Je-
mandem vorzuwerfen, er sei intellektuell zu schwach auf
der Brust, nur weil das Bundesverfassungsgericht anders
entschieden hat – man sollte sich auch das Minderheiten-
votum der drei Verfassungsrichter durchlesen –, lenkt
die Debatte in eine Richtung, die dem Thema nicht ange-
messen ist, Herr Kollege Gehb.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510014700

Herr Kollege Stünker, ich frage Sie, ob Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Kauder und eine Zwischen-
frage des Kollegen Gehb zulassen?


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1510014800

Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen.
Anlass für die erneute Beschäftigung mit diesem

schwierigen Thema der nachträglichen Sicherungsver-
wahrung – mittlerweile liegen dazu vier Gesetzentwürfe
vor; wenn das Thema so einfach wäre, würde ein Ge-
setzentwurf ausreichen – sind in der Tat die beiden Ent-
scheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom
5. und 10. Februar dieses Jahres. Angesichts der Reden,
die heute hier gehalten wurden, empfehle ich, beide Ent-
scheidungen bis zum Ende zu lesen.

Mit diesen beiden Entscheidungen hat das Bundes-
verfassungsgericht die alte Streitfrage – ihre Beant-
wortung war auch in der Wissenschaft über Jahrzehnte
umstritten –, ob die nachträgliche Anordnung der Siche-
rungsverwahrung gegen das Rückwirkungsverbot und
gegen das Verbot der Doppelbestrafung in Art. 103
Grundgesetz verstößt, entschieden. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat dieses mit Hinweis auf den Maßre-
gelcharakter der nachträglichen Sicherungsverwahrung
verneint. Es gibt führende Verfassungsrechtler in
Deutschland, die das anders sehen. Aber entschieden ist
entschieden. Wir haben uns daher mit dem Thema wie-
der zu befassen.

Die zweite Frage war, ob die nachträgliche Siche-
rungsverwahrung Gegenstand der konkurrierenden
Gesetzgebung ist. Sie haben in diesem Zusammenhang
auf meine Aussagen verwiesen. Den meisten meiner Re-
den werden Sie entnommen haben, dass ich materiell
verfassungsrechtliche und weniger formelle Probleme
gesehen habe. – Schönen Dank, dass Sie das bestätigen.


(Zuruf des Abg. Dr. Jürgen Gehb – Doch, genau das habe ich in meinen Reden deutlich gemacht. Wenn Sie schon zitieren, dann bitte seriös und vollständig, Herr Kollege Gehb. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Die Zitate sind richtig!)


Die Streitfrage ist also entschieden. Daher muss sich
das Hohe Haus jetzt endgültig entscheiden, wie wir es
mit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsver-
wahrung für als besonders gefährlich erkannte Straftäter
halten.
Dazu sage ich Ihnen eines vorab: Ich bin jetzt fünf
Jahre Mitglied dieses Hohen Hauses und das ist die erste
Entscheidung, bei der ich vor einer Gewissensfrage
stehe. Ich war 15 Jahre lang in allen möglichen Berei-
chen des Strafrechts tätig. Das Problem, um das es hier
geht, ist sehr groß. Dazu möchte ich ein paar Punkte
nennen.

Es geht hier um einen Straftäter, der bereits wegen ei-
ner schweren Straftat zu einer in der Regel langjährigen
Freiheitsstrafe verurteilt worden ist und in dessen Urteil
das erkennende Gericht gerade nicht und damit endgül-
tig rechtskräftig nicht auf Sicherungsverwahrung er-
kannt hat, dessen Entwicklung im Vollzug aber die be-
sondere Gefährlichkeit dieses Menschen zur Begehung
neuer schwerer Straftaten begründen soll. Damit bewe-
gen wir uns – so auch das Bundesverfassungsgericht – in
einem Grenzbereich des Strafrechts.

Es handelt sich bei diesem Problem daher ausschließ-
lich um ein streng rechtsstaatliches. Es geht nicht um das
Problem, Herr Kollege Gehb, ob Täterschutz vor Opfer-
schutz gehen soll. Eine demokratische, freiheitliche, plu-
ralistische Gesellschaft zeichnet ein streng rechtsstaatli-
cher Strafprozess aus. Allein darum geht es, nicht aber
um den bei Rot-Grün vermeintlich fehlenden Willen
zum Schutz der Bevölkerung vor schweren Straftaten.


(Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Das Ergebnis ist das gleiche!)


Das muss ganz klar sein. Demjenigen, der einen anderen
Eindruck zu erwecken versucht, wie Sie, Herr Gehb, es
eben gemacht haben, sage ich ganz grob: Das ist pure
Demagogie und demokratisch unanständig, Herr Kol-
lege.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sie müssten sich eigentlich mit dem Ausdruck des Bedauerns entschuldigen!)


Ich meine, die jetzt zu findende Regelung kann sich
daher nur am Normzweck des Sechsten Titels des Straf-
gesetzbuches – es liegt ja vor – orientieren, nämlich an
den Maßregeln der Sicherung und Besserung. Diese
Maßregeln sind die so genannte zweite Spur der straf-
rechtlichen Sanktionen, die wir kennen. Zweck einer
Maßregel ist allein, Herr Kollege Pofalla,


(Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ CSU]: Die Besserung und Sicherung!)


die Gefahrenabwehr, der Schutz der öffentlichen Sicher-
heit durch Vorbeugung im Hinblick auf künftige Strafta-
ten.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Dualismus im Strafrecht!)


Deshalb bestimmt § 62 StGB – man sollte dies einmal
nachlesen –:

Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf
nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung
der vom Täter begangenen und zu erwartenden Ta-






(A) (C)



(B) (D)


Joachim Stünker

ten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden
Gefahr außer Verhältnis steht.

Damit soll grundsätzlich sichergestellt werden, dass
die letztlich an der Spezialprävention orientierte Zweck-
bestimmung der Maßregel im Einzelfall auf das rechts-
staatlich erträgliche Maß begrenzt wird. Der Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit hat damit für die Maßregel
wie das Schuldprinzip für die Strafe die Funktion eines
limitierenden Korrektivs. Zu Recht wird daher die Si-
cherungsverwahrung in der gesamten Literatur und in al-
len Kommentaren als letzte Notmaßnahme der Kriminal-
politik bezeichnet.

In materieller Hinsicht verlangt die schon heute gel-
tende Regelung in den §§ 66 und 66 a StGB, wenn hie-
rüber ein Urteil gesprochen wird, als Voraussetzung einen
Täter mit einer eingewurzelten, aufgrund charakterlicher
Veranlagung bestehenden oder durch Übung erworbenen
intensiven Neigung zu Rechtsbrüchen. Die Rechtspre-
chung spricht vom eingeschliffenen inneren Zustand des
Täters, von der fest verwurzelten Neigung, immer wie-
der straffällig zu werden.

Diese hohen Hürden, wie ich meine, hat der Bundes-
gerichtshof in mehreren Entscheidungen und letztend-
lich auch das Bundesverfassungsgericht in den beiden
eingangs genannten Entscheidungen aufgestellt. Der
Grund dafür ist folgender: Da die Anordnung der Siche-
rungsverwahrung im Ergebnis zeitlich unbegrenzt ist,
kann sie in der Tat ein Leben lang dauern.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wenn es sein muss!)


Die Sicherungsverwahrung ist in der Praxis die wirkli-
che lebenslange Freiheitsstrafe.


(Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ CSU]: Zweifach falsch! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Alle zwei Jahre wird geprüft! Wie viele haben wir denn lebenslänglich einsitzen, Herr Stünker?)


– Einige.
Deshalb müssen die Hürden, die ich genannt habe,

auch für die Fallgestaltung gegeben sein, in der sich die
von mir skizzierte Täterpersönlichkeit erst während des
Vollzugs einer Freiheitsstrafe in der Strafhaft heraus-
stellt.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Hühnerdiebe wollen wir auch nicht einsperren!)


– Hören Sie doch zu! – Das heißt, wir müssen, wie ich
meine, in den Beratungen einen rechtsstaatlich vertretba-
ren Weg finden, auf dem ein Gericht zu der Überzeu-
gungsbildung, die ich zu skizzieren versucht habe, kom-
men kann.

Dazu gehört für mich: Es muss eine schwerste Straftat
gegen Leib und Leben einer Person oder gegen die sexu-
elle Selbstbestimmung einer Person als Anlasstat gege-
ben sein. Zwei unabhängige Sachverständige der foren-
sischen Psychiatrie, die mit dem Täter während des
Strafvollzuges nicht befasst gewesen sind, müssen die
Täterpersönlichkeit in einem Gutachten prognostizieren.
Ferner haben wir das Rechtsstaatsprinzip zu beach-
ten. Denn mit Sicherheit werden wir mit der Regelung,
welche wir hier treffen, wieder irgendwann wegen einer
Person beim Bundesverfassungsgericht sein, das den
Fall dann überprüfen muss. Das Rechtsstaatsprinzip
brauchen wir deshalb, weil wir mit der nachträglichen
Anordnung in bereits abgewickelte, der Vergangenheit
angehörende Tatbestände und in ein materiell und for-
mell rechtskräftiges Urteil eingreifen.

Deshalb meine ich – nun komme ich zu der Frage,
warum nicht die Strafvollstreckungskammer zuständig
sein soll –: Das Antragsrecht für die Anordnung nach-
träglicher Sicherungsverwahrung sollte allein bei der zu-
ständigen Staatsanwaltschaft liegen und nicht bei der
Haftanstalt. Denn diese muss kraft Gesetzes auch die
entlastenden Umstände von Amts wegen ermitteln. Die-
sen Anspruch hat jeder in diesem Land.


(Jörg van Essen [FDP]: Das ist die objektivste Behörde in der Welt!)


Das gerichtliche Verfahren sollte das Erkenntnisver-
fahren eines Tatgerichtes sein. Das heißt, die Anord-
nung sollte durch eine Große Strafkammer des Landge-
richtes in öffentlicher Hauptverhandlung mit dem
Rechtsmittel der Revision beim Bundesgerichtshof er-
folgen.

Herr Kollege Pofalla, es geht nicht darum, ob sich die
Personen, die dort arbeiten, mit dieser Person, die zehn
Jahre Freiheitsstrafe hinter sich hat, bereits irgendwann
beschäftigt haben. Es geht darum, dass eine Kammer, die
sich jeden Tag von Amts wegen als Schwurgericht mit
diesen schwerwiegenden Fällen befasst, auch über die
notwendige Erfahrung verfügt, die eine Strafvollstre-
ckungskammer leider nicht hat. Das sind die Gründe da-
für, das Erkenntnisverfahren mit dem Hauptverhand-
lungsmodell zu wählen.

Ich bitte Sie inständig – ich will keine Polemik, weil
es mir zu wichtig ist –, noch einmal in Ruhe darüber
nachzudenken. Auch die Richter des Bundesgerichtshofs
– ich war vor einigen Wochen dort – sagen alle: Ihr
könnt das nicht mit dem Beschwerderecht beim OLG re-
geln. Es können nicht erst 24 OLGs in Deutschland un-
terschiedliche Entscheidungen treffen, bis es eine ein-
heitliche Rechtsprechung gibt; es muss im Wege der
Revision nach öffentlicher Hauptverhandlung mit allen
Rechten, die ein Angeklagter nach der Strafprozessord-
nung hat, letztendlich vom Bundesgerichtshof entschie-
den werden.

Wenn für die Anordnung einer lebenslangen Frei-
heitsstrafe nach dem Gerichtsverfassungsgesetz aus-
drücklich bestimmt ist, dass ein Schwurgericht, also
eine Strafkammer als Schwurgericht – das ist im GVG
nachzulesen – darüber zu entscheiden hat, dann muss
ich Sie fragen, ob Sie wirklich bei der nachträglichen
Anordnung einer Sicherungsverwahrung – das ist der
schwerste Eingriff, den man vornehmen kann – unter-
schwellig ein Gericht entscheiden lassen wollen? Ich
bitte Sie, über diese Systematik noch einmal nachzuden-
ken. Wenn wir gemeinsam den Weg über ein erkennen-
des Gericht, über eine Hauptverhandlung mit allen






(A) (C)



(B) (D)


Joachim Stünker

Rechten und zwei Sachverständigen gehen können,
dann –


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510014900

Herr Kollege Stünker, Sie müssen jetzt zum Ende

kommen.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1510015000

– einen Satz noch, Frau Präsidentin – haben wir sozu-

sagen durch Verfahren Grundrechtsschutz geschaffen.
Das sollten wir in den Beratungen, die jetzt vor uns lie-
gen, gemeinsam überlegen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510015100

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Wolfgang Zeitlmann (CSU):
Rede ID: ID1510015200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Ich sehe ein, dass auf diesem Gebiet im Hin-
blick auf die Historie dieses Sachverhalts viel Vergan-
genheitsbewältigung notwendig ist. Aber ich muss
gleichzeitig sagen: Es ist für uns unerklärlich und unver-
ständlich, wieso man so lange Zeit für eine gesellschaft-
liche Notwendigkeit gebraucht hat. Ich glaube, die Mi-
nisterin sprach von acht Fällen, die geregelt werden
müssen und bei denen man erkennbar die Auffassung
vertritt: Hier droht Gefahr für die Bürger, weil Sachver-
ständige offensichtlich erkannt haben, dass man diese
Menschen nicht auf die Gesellschaft loslassen kann.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sachverständige irren auch!)


Jemand, der genug Gerichtspraxis hat, weiß: Es gibt
in unserer Gesellschaft leider Menschen, bei denen alle
staatlichen Versuche, sie zu resozialisieren und zu bewe-
gen, sich neu zu fixieren, nicht helfen und bei denen die
Fachleute, die Psychologen – es geht hier um zwei unab-
hängige Gutachter –, feststellen: Um Gottes willen, lasst
ihn nicht auf die Gesellschaft los.

Natürlich weiß auch ich: Es geht hier nicht um eine
Strafe – für seine Tat hat der Täter gebüßt –, sondern da-
rum, die Gesellschaft vor ihm zu schützen und ihn vor-
sorglich zu verwahren.

Sicher können wir uns in den Fachgremien und im
Rechtsausschuss über die Verfahrensfragen einigen.
Keiner will Tagediebe und Betrüger in Sicherungsver-
wahrung nehmen. Herr Stünker, das wird nicht das Pro-
blem der Rechtsfindung sein. Vielmehr wird es entschei-
dend auf die beiden Gutachter ankommen. Es geht
konkret um die Frage, ob die Gutachter die Person rich-
tig einschätzen, und nicht um große Rechtsstreitigkeiten.
Letztere sind ausgestanden, wenn das Gesetz erst einmal
im Gesetzblatt steht.
Ich will die Entscheidung nicht einem Amtsrichter
übertragen oder irgendein Schnellverfahren vorsehen,
aber darauf, ob das erkennende Gericht, eine Strafkam-
mer oder eine Strafvollstreckungskammer entscheiden
soll, kommt es mir nicht an. Wir sollten nicht den einen
misstrauen und sie für Idioten halten, während wir die
anderen als gescheit ansehen. Ich glaube nicht, dass ir-
gendeiner bei uns eine Verletzung der Rechtsstaatlich-
keit durch ein ungeeignetes Verfahren will. Ich bin da für
die Anhörung völlig offen.

Eine Problematik ist mir beim Durchlesen aufgefal-
len. Sie haben vor, die Schwelle für die Anordnung der
Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden höher zu
legen. Nach der alten Definition sind Heranwachsende
die 18- bis 20-Jährigen. Nach Ihrem Vorschlag muss ein
Heranwachsender fünf Jahre Freiheitsstrafe bekommen
haben; vier Jahre sind es bei Erwachsenen. Wenn die
Frage der Sicherungsverwahrung geklärt wird, sind
diese Personen bereits 24 oder 25 Jahre alt. Sie sollen
dann einer günstigeren Regelung als diejenigen unterfal-
len, die schon bei der Tat volljährig waren.

Ich kann den Sinn dieser Regelung nicht erkennen.
Eine andere Behandlung käme nur in Betracht, wenn
sich der Betroffene zum Zeitpunkt der Entscheidung
noch im Zustand der Unreife befände. Das kann man
nicht gut unterstellen, weil sich aus dem Alter von 18 bis
20 Jahren bei der Straftat und der Dauer der Freiheits-
strafe ergibt, dass die Entscheidung über die nachträgli-
che Anordnung der Sicherungsverwahrung erst im Alter
von 23 bis 25 Jahren ansteht. Das führt logischerweise
dazu, dass es keine Unterscheidung geben darf.

Eines will ich noch herausstellen: Die nachträgliche
Anordnung der Sicherungsverwahrung ist vielleicht
auch ein Ergebnis der Praxis der Verhängung zu geringer
Strafen, zu der die deutschen Strafgerichte über viele
Jahrzehnte gefunden haben. Wirklich lebenslängliche
Freiheitsstrafen gibt es nicht mehr.

Wir haben in unserem Staat sicherlich eine Reihe von
Straftätern, die wohl nie resozialisierbar sind. Ich habe
kürzlich einmal eine solche Akte in der Hand gehabt.
Solche Leute sind von Anfang an eine Gefahr und wer-
den dies leider wohl immer bleiben, trotz aller medizini-
schen und psychiatrischen Erfolge. Man verschlösse die
Augen, wenn man so täte, als gäbe es das Problem nicht.
Das haben Sie leider über viele Jahre getan. Sie haben
die Lösung des Problems den Ländern zugeschoben.
Jetzt geht das nicht mehr. Jetzt müssen wir das regeln
und zum Glück wird es geregelt.

Ich sage noch einmal: Wir werden uns über das Ver-
fahren einigen. Wir sollten ein faires Verfahren wählen.
Wir sollten berücksichtigen, dass die Bevölkerung einen
Anspruch darauf hat, vor derart gefährlichen Straftätern
– einige Fälle sind beschrieben – geschützt zu werden.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510015300

Ich schließe die Aussprache.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 15/2576 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 f sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD

und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
60. Tagung der Menschenrechtskommission
der Vereinten Nationen – eine Chance für die
Menschenrechte
– Drucksache 15/2755 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hermann Gröhe, Dr. Christian Ruck, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger und der Fraktion
der FDP
Stärkung der Menschenrechte in der interna-
tionalen Politik – zur 60. Tagung der Men-
schenrechtskommission der Vereinten Natio-
nen
– Drucksache 15/2741 –

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Stärkung der Menschenrechte in Afghanistan
– Drucksachen 15/2168, 15/2740 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Graf (Rosenheim)

Hermann Gröhe
Josef Philip Winkler
Rainer Funke

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Rainer Funke, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine Reform und Stärkung der Menschen-
rechtskommission
– Drucksachen 15/2174, 15/2509 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Christoph Strässer
Hermann Gröhe
Rainer Funke

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Hermann Gröhe, Dr. Egon
Jüttner, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
geordneten Rainer Funke, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger und der Fraktion der FDP
Den Friedensprozess im Sudan unterstützen
– Drucksachen 15/2152, 15/2715 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Christoph Strässer
Dr. Egon Jüttner
Rainer Funke

f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Rainer Funke, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für die Einhaltung der grundlegenden Men-
schenrechte und Grundfreiheiten in Guanta-
namo Bay
– Drucksachen 15/2175, 15/2768 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Rudolf Bindig
Rainer Eppelmann
Rainer Funke

ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für die Einhaltung der grundlegenden Men-
schenrechte und Grundfreiheiten in Guanta-
namo Bay
– Drucksache 15/2756 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer, SPD-

Fraktion.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1510015400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die 60. Tagung der Menschenrechtskommission
der Vereinten Nationen begann nur vier Tage nach den
Terroranschlägen von Madrid. Mit großer Sorge müssen
wir deshalb feststellen, dass es die gleichen Gefahren
sind, die das Umfeld der Arbeit der Kommission und die
Menschenrechtspolitik insgesamt prägen.

Wir sind deshalb sehr froh darüber, dass die Men-
schenrechtskommission trotz aller Probleme, über die
wir noch zu reden haben werden, weiterhin als unver-
zichtbares Dialogforum existiert, auf dem gewaltfreie
Lösungen besprochen werden können, und zwar – dazu
verhält sich die Regierungskoalition in ihrem Antrag –






(A) (C)



(B) (D)


Christoph Strässer

auch mit so genannten menschenrechtlich problemati-
schen Staaten.

Ein schwieriges weltpolitisches Umfeld hat immer
auch problematische Rückwirkungen auf die Menschen-
rechtspolitik. In Zeiten epochaler Bedrohungen besteht
die Gefahr, sich mit fragwürdigen Bündnispartnern ar-
rangieren zu wollen – nach dem Motto: Schweigst du zu
meinen Menschenrechtsverletzungen, schweige ich zu
deinen. Dies – ich glaube, darüber besteht Konsens –
können, wollen und werden wir nicht hinnehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen werden wir dafür arbeiten, dass sich die
Kommission auch weiterhin mit Länderresolutionen
befasst und nicht nur Grundsatzerklärungen produziert.

Wir müssen aber auch dafür Sorge tragen – hier ver-
trauen wir auf die Aktivitäten der Bundesregierung –,
dass Resolutionen nicht auf dem Altar machtpolitischer
Überlegungen geopfert oder wegen vermeintlicher regio-
naler Verbundenheit verhindert werden, wie es in den
vergangenen Jahren leider immer wieder der Fall war. Es
zeigt sich, wie wichtig es ist, in Sachen Menschenrechte
stets mit gutem Beispiel voranzugehen.

Zum Thema Guantanamo wird die Kollegin Angelika
Graf gleich noch Stellung nehmen. Hierzu nur so viel:
Der Terrorismusexperte Walter Laqueur hat nach dem
11. September 2001 gesagt, bei der Terrorbekämpfung
werde die Frage nicht sein, welche Menschenrechte wir
aufgeben wollen, sondern welche wir uns noch leisten
können. Bundesinnenminister Schily hat diesem hochge-
fährlichen Satz dankenswerterweise energisch wider-
sprochen und betont, die Aufgabe von Menschenrechten
im Zuge der Terrorismusbekämpfung sei genau der fal-
sche Weg. Ich denke, diese Aussage bleibt bestehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, in unserem Antrag gehen
wir, wie auch in den letzten Jahren, auf die Situation in
einzelnen Ländern ein. Wir glauben, dass wir dies – ge-
rade aufgrund der Schwerpunkte, die auch der Aus-
schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ge-
setzt hat – zu Recht tun und die Probleme in diesen
Ländern deutlich beschreiben. So ist es nach unserer
Auffassung auch richtig, dass die ersten Länder, die wir
aufführen, Russland und China sind. Zwar verzeichnen
wir in beiden Ländern im Rechtsstaatsdialog und im
Menschenrechtsdialog auch positive Entwicklungen.
Aber unsere Meinung ist: Menschenrechtsverletzungen
können und dürfen niemals gegen positive Taten aufge-
wogen werden. Auch dieser Satz bleibt für uns die Wahr-
heit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In Simbabwe können wir im Moment leider über-
haupt keine positiven Entwicklungen feststellen. Der
menschenverachtende Terror des Mugabe-Regimes geht
ungebremst weiter. Gerade hier erwarten wir auch aus
dem Kreis der Afrikanischen Union Signale in Richtung
auf eine Länderresolution, die in diesem Jahr endlich bei
der Kommission durchgesetzt werden muss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich füge aber auch hinzu,
dass die Glaubwürdigkeit der EU bzw. einzelner Staaten,
wenn es um eine konsequente Menschenrechtspolitik
geht, nicht gerade dadurch gestärkt wird, dass man dem
Diktator die Möglichkeit verschafft, sich auf Konferen-
zen in europäischen Hauptstädten zu präsentieren. Auch
dies gehört zur Wahrheit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es ist gut – darüber bin ich sehr froh –, dass wir uns
zum Fall Sudan mit einem konsensualen Antrag zu Wort
melden, der die Realität beschreibt. Ich glaube, wir alle
können sagen, dass wir hinter diesem Antrag stehen.
Zwar kann auch dort noch nicht von einer substanziellen
Verbesserung der Menschenrechtslage die Rede sein.
Insbesondere aber ist die Forderung berechtigt, die eska-
lierende Situation im Westen, in der Region Dafur, und
die Notwendigkeit des freien Zugangs zu Hilfsorganisa-
tionen in diesen Antrag aufzunehmen.

Die historische Chance für den Abschluss eines Frie-
densabkommens zwischen dem befeindeten Süden und
Norden des Sudan berechtigt aber durchaus zu der Hoff-
nung, dass auch die Menschenrechte von diesem Prozess
profitieren werden. Wir begrüßen daher ausdrücklich
den Antrag der FDP-Fraktion und stimmen ihm, mit den
im Ausschuss vorgenommenen Änderungen, aus Über-
zeugung zu.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Die Forderungen, die wir in unseren Koalitionsantrag
aufgenommen haben, orientieren sich natürlich auch an
allgemeinen, die Menschenrechte betreffenden Themen.
Der alarmierende Befund der neuen Sonderberichterstat-
terin Yakin Ertürk zum Beispiel macht es notwendig,
auch dem Problem der Gewalt gegen Frauen wieder
Gehör zu verschaffen und unsere Entschlossenheit aus-
zudrücken, dieses Thema auf der Sitzung der Kommis-
sion mit konkreten Zielsetzungen zu behandeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch und gerade Frauenrechte, meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen, sind nicht kulturspezifisch
unterschiedlich interpretierbar; ich glaube, diese Wahr-
heit müssen wir immer wieder aussprechen.

Für eine konsequente Durchsetzung der Menschen-
rechte – auch im eigenen Hause – stehen weiter die in
unserem Antrag erwähnten Punkte zu der Verantwortung
von Wirtschaftsunternehmen in Bezug auf die Men-
schenrechte sowie die Kinderrechte. Wir mahnen daher
wieder einmal die Rücknahme der deutschen Vorbehalte






(A) (C)



(B) (D)


Christoph Strässer

zur UN-Kinderrechtskonvention an und werden dies in
Zukunft weiter betreiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren von der Opposition, nach
dem, was wir im Ausschuss gehört haben, wäre es sehr
schön, wenn Sie endlich auch die Regierungen der noch
von Ihnen regierten Bundesländer dazu bringen würden,


(Holger Haibach [CDU/CSU]: Was heißt hier „noch“?)


der Rücknahme der Vorbehalte zuzustimmen; ich
glaube, das wäre mehr als Worte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Tatsache, dass sich die Menschenrechte nicht auf
Dauer mit Gewalt erzwingen lassen, erfordert auch eine
konsequente Behandlung der wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Menschenrechte. In diesem Zusammen-
hang begrüßen wir ausdrücklich die Initiativen der Bun-
desregierung – unter anderem auch mit Finnland – zur
weiteren Stärkung dieser Rechte mit dem Fokus auf den
Bedürfnissen sozial marginalisierter Bevölkerungsgrup-
pen, insbesondere ihrer Trinkwasserversorgung, sowie
zur Resolution zum Recht auf angemessenes Wohnen.
Ich glaube, das gehört integral zu unserer Debatte.

Wir begrüßen auch außerordentlich, dass die von der
Unterkommission zur Förderung und dem Schutz von
Menschenrechten verabschiedeten Normen zur die Men-
schenrechte betreffenden Verantwortung von transnatio-
nalen und anderen Wirtschaftsunternehmen positiv auf-
gegriffen werden, da sie über den auf dem Prinzip der
Freiwilligkeit beruhenden Ansatz von „Global Com-
pact“ hinaus mehr Verbindlichkeit schaffen können und
auch müssen. Auch dies gehört, denke ich, mit zur Men-
schenrechtsdebatte.

Auf der anderen Seite haben wir gerade in den letzten
Wochen und Monaten zur Kenntnis nehmen müssen,
dass Umfragen – auch in unserem eigenen Land – ge-
zeigt haben, welch geringen Stellenwert die Grund- und
Menschenrechte in unserer Gesellschaft, insbesondere
unter jungen Menschen, einnehmen. Deshalb – ich
glaube, das ist aus dieser Debatte heraus ein Signal –
möchte ich all denen danken, die sich der schwierigen
Aufgabe widmen, den unverrückbaren Stellenwert der
Menschenrechte auch bei uns immer wieder ins Be-
wusstsein zu rufen,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


den vielen NGOs zum Beispiel, die im Forum Men-
schenrechte zusammenarbeiten, aber auch und beson-
ders dem noch jungen Deutschen Institut für Menschen-
rechte, das bereits jetzt eine hervorragende Arbeit leistet.


(Beifall im ganzen Hause)

Vor diesem Hintergrund sehe ich die Menschenrechts-
arbeit auch in unserem Land auf einem insgesamt guten
Weg. Nur dies berechtigt uns, auf dem internationalen
Parkett Fortschritte anzumahnen und glaubwürdig die
neue VN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Frau
Dr. Arbour, mit Nachdruck zu unterstützen. Auch ihr
seien an dieser Stelle unsere besten Wünsche mitgege-
ben. Sie tritt die Nachfolge von Sergio de Mello an, der
den Einsatz für die Menschenrechte mit seinem Leben
bezahlte. Wir denken an ihn in Hochachtung und sollten
alles daransetzen, sein Vermächtnis zu erfüllen: die Ver-
wirklichung der Menschenrechte in der ganzen, einen
Welt.

Ich danke Ihnen ganz herzlich.

(Beifall im ganzen Hause)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510015500

Das Wort hat der Kollege Hermann Gröhe, CDU/

CSU-Fraktion.

Hermann Gröhe (CDU):
Rede ID: ID1510015600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Men-
schenrechtspolitik der Vereinten Nationen und hier
ganz besonders die Arbeit der Menschenrechtskommis-
sion – der wichtigsten Instanz der Völkergemeinschaft
auf diesem Feld der Politik – ist in eine schwere Krise
geraten. Gerade wer die Arbeit dieser Menschenrechts-
kommission für mühsam, aber alternativlos hält, darf
nichts beschönigen: Eine zunehmende Nord-Süd-Kon-
frontation, in deren Rahmen Kritik an Menschenrechts-
verletzungen generell als westliches Hegemoniestreben
zurückgewiesen wird, und immer fragwürdigere Koali-
tionen von Staaten, denen es vor allem darum geht, Kri-
tik am eigenen Verhalten zu unterdrücken, haben dazu
geführt, beispielsweise das wichtige Instrument der Län-
derresolutionen massiv zu schwächen.

Immer wieder scheitert die Ächtung von schwersten
Menschenrechtsverletzungen an so genannten überge-
ordneten Interessen und fragwürdigen Tauschgeschäften.
Derartigen Tendenzen muss die Bundesrepublik
Deutschland gerade angesichts ihrer Rolle als Koordina-
tor der westlichen Regionalgruppe entschieden entge-
genwirken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Daher wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Deut-
sche Bundestag in einer von allen Fraktionen getragenen
Beschlussfassung deutlich gemacht hätte, dass er Bestre-
bungen, das VN-Menschenrechtssystem weiter zu
schwächen, entgegentritt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dass eine solche Gemeinsamkeit gerade in Men-

schenrechtsfragen möglich ist – dies will ich ausdrück-
lich hervorheben –, zeigt die Tatsache, dass heute ein
Antrag der Regierungskoalition zur Stärkung der Men-
schenrechte in Afghanistan die Unterstützung der Oppo-
sition erfährt, während umgekehrt die Koalitionsparteien






(A) (C)



(B) (D)


Hermann Gröhe

einen gemeinsamen Antrag von Union und FDP zum
Friedensprozess im Sudan unterstützen.


(Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch im Hinblick auf die Lage der Menschenrechts-
kommission sehe ich im Antrag der Koalitionsparteien
und im Antrag von Union und FDP manche wichtige
Gemeinsamkeit, aber auch eigene Schwerpunktsetzun-
gen, die sich in weiten Teilen gut ergänzen könnten. In
anderen Teilen jedoch, ganz besonderen in seinem For-
derungsteil, bleibt der Antrag von Rot-Grün eher blass
und zurückhaltend. So stellen Sie im Hinblick auf das
ebenso wichtige wie umstrittene Instrument der Län-
derresolution zu Recht fest – ich zitiere aus Ihrem
Antrag –:

Länder-Resolutionen sind eine gewollte und men-
schenrechtlich notwendige Einmischung in die An-
gelegenheiten eines anderen Staates.

Danach beschreiben Sie jedoch lediglich den Konsens in
der Europäischen Union im Hinblick auf bestimmte Län-
derresolutionen und erklären über diesen Konsens hi-
naus lediglich eine Resolution zu der in der Tat dramati-
schen Lage in Simbabwe für begrüßenswert, noch dazu
in sehr indirekter Weise.

Wie aber passt Ihre richtige Beschreibung der Lage in
Tschetschenien wie in der Russischen Föderation insge-
samt oder in der Volksrepublik China zusammen mit der
merkwürdigen Zurückhaltung im Forderungsteil Ihres
Antrages gerade im Hinblick auf diese beiden Länder?
Warum drücken Sie sich um eine Resolution zum
Tschetschenien-Konflikt und zur Lage in der Volksrepu-
blik China? Passt Klartext zur Lage in China etwa nicht
in eine Zeit, in der Kanzler Schröder schon wieder Waf-
fen nach Peking liefern will?


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gerade in einer Zeit, in der Länder wie China, Pakistan
und Kuba die Länderresolutionen insgesamt abschaffen
wollen, sollten wir dieses Instrument nicht nur prinzi-
piell verteidigen, sondern auch – klarer, als Sie dies tun –
sagen, in welchen Ländern wir seine Anwendung für an-
gemessen halten.

Der Antrag von Union und FDP ist ehrgeiziger. Er
fordert eine Resolution,

in der die massive Unterdrückung von Freiheits-
und Bürgerrechten in der VR China und insbeson-
dere das harte Vorgehen der staatlichen Behörden in
Tibet und Xinjiang deutlich benannt werden.

Wir halten es auch für notwendig, dass der von beiden
Konfliktparteien mit äußerster Brutalität geführte Krieg
in Tschetschenien in einer Resolution auf das Schärfste
verurteilt wird.

Was bedeutet nun Ihre Forderung, Menschenrechts-
verletzungen in der Volksrepublik China deutlich zu
verurteilen, angesichts der von den USA beabsichtigten
Einbringung einer Resolution zur Lage in China? Was
geben wir als Parlament unserer Delegation in Genf im
Hinblick auf diese Frage mit auf den Weg? Bei aller
Würdigung der sehr schwierigen Lage unserer Diploma-
ten in Genf sollten wir nicht der Versuchung erliegen,
die Messlatte für anzustrebende Ziele so niedrig zu le-
gen, dass die Enttäuschung anschließend nur ja nicht zu
groß wird. Maßstab muss die Schwere der Menschen-
rechtsverletzungen sein und nicht die Einschätzung des-
sen, was vielleicht gerade noch durchsetzbar ist. Nur
eine Klarheit in den Zielen erlaubt anschließend eine
redliche Würdigung der Situation der Menschenrechts-
kommission.

Gerade weil der Antrag von Union und FDP zur lau-
fenden Tagung der Menschenrechtskommission der Ver-
einten Nationen solche Ziele klarer und ehrgeiziger be-
nennt als der Antrag der Regierungskoalition, geben wir
ihm den Vorrang.

Nur stichwortartig nenne ich weitere Punkte, an de-
nen der Antrag der Regierungsfraktionen hätte präzisiert
werden müssen. So stellen Sie fest, dass die „UN-Nor-
men zur menschenrechtlichen Verantwortung von trans-
nationalen und anderen Wirtschaftsunternehmen“ einen
anderen Ansatz darstellen als der auf dem Prinzip der
Freiwilligkeit beruhende „Global Compact“ des VN-Ge-
neralsekretärs. Was aber bedeutet dies angesichts Ihrer
positiven Würdigung der UN-Normen für den auch von
Ihnen in der Vergangenheit gelobten „Global Compact“?
Dazu schweigt der Antrag.

Auch im Hinblick auf die Auswirkungen des Kamp-
fes gegen den Terrorismus – das ist ohne Zweifel ein
sehr ernstes Thema – auf die Auseinandersetzungen um
Menschenrechte lässt Ihr Antrag die zwingend erforder-
liche Differenziertheit vermissen.

Notwendig ist aber eine strikte Trennung zwischen
dem Ringen in demokratischen Rechtsstaaten um eine
angemessene rechtsstaatliche Antwort auf die Bedro-
hung durch den internationalen Terrorismus und dem
Versuch autoritärer oder gar totalitärer Staaten, eigene
Unterdrückungsmaßnahmen als Terrorabwehr zu be-
mänteln. Wo eine solche Trennung fehlt, wird die
Grenze zwischen freiheitlichen Demokratien und Un-
rechtssystemen schnell verwischt.

Lassen Sie mich zum Schluss auf einen weiteren An-
trag eingehen. Aus Sicht der Unionsfraktion ergänzt die
FDP mit ihrem Antrag „Für eine Reform und Stärkung
der Menschenrechtskommission“ den von FDP und
Union gemeinsam eingebrachten Antrag zur laufenden
Tagung dieser Kommission in guter Weise. Es würde
dem Ansehen der Menschenrechtskommission in der Tat
dienen, wenn Staaten, die die geltenden Menschen-
rechtsstandards in ihrem Hoheitsbereich nicht umsetzen
können oder wollen, zukünftig nicht mehr die Leitung
der MRK erhalten könnten und wenn an die Wahl der
Mitglieder künftig Kriterien geknüpft werden, die für
eine effektive Arbeit der MRK unerlässlich sind. Inso-
fern stimmen wir auch diesem Antrag gerne zu.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510015700

Das Wort hat die Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/

Die Grünen.


Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510015800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die 60. Sitzung der Menschenrechtskommis-
sion findet in einer politisch schwierigen und angespann-
ten Zeit statt. Die Erschütterung über Terroranschläge
gegen unschuldige Zivilisten sitzt tief.

Nach den blutigen Ereignissen in Madrid hat die
spanische Bevölkerung in bewundernswerter Weise ge-
zeigt, dass die Antwort auf diese Herausforderung Soli-
darität mit den Opfern, konsequente Verfolgung der Tä-
ter und die Herrschaft des Rechts sein müssen. Diese
Haltung als Appeasement gegenüber terroristischer
Gewalt zu denunzieren ist eine böswillige Verleumdung
und Unterstellung. Im Gegenteil: Spanien setzt mit die-
ser Haltung ein leuchtendes Beispiel dafür, dass der
Kampf zur Verteidigung einer menschenfreundlichen Zi-
vilgesellschaft allein auf dem Boden der universalen und
allgemein gültigen Menschenrechte gewonnen werden
kann.

Mit dem Koalitionsantrag „Für die Einhaltung der
grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in
Guantanamo Bay“ unterstreichen wir die Notwendig-
keit, die Grundfreiheiten jedes Einzelnen und die strenge
Einhaltung der Mindestanforderungen an den Schutz der
Menschenrechte zu achten und zu fördern. Nur so lassen
sich die Stärken der Demokratie im Kampf gegen den
Terrorismus beweisen. Deshalb sollte die MRK in ihrer
diesjährigen Sitzung die Umsetzung der Empfehlungen,
die in der 59. Sitzung der Menschenrechtskommission
angenommen worden sind, kritisch prüfen. Darin hat sie
die Staaten aufgefordert, ihre menschenrechtlichen und
humanitären Verpflichtungen auch im Antiterrorkampf
einzuhalten.

In Israel und in den Palästinensergebieten sehen wir
nach der Tötung des Scheichs Jassin die Gefahr einer
weiteren Eskalation der unsäglichen Spirale von Gewalt
und Gegengewalt. Israel hat das Recht und die Pflicht,
seine Bevölkerung vor Terrorakten zu schützen. Wir er-
kennen das ausdrücklich an. Selbstmordanschläge von
Palästinensern, die unschuldige Menschen töten, sind
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und unterlaufen
jegliche Friedensbemühungen. Doch auch Israel muss
geltendes Recht achten. Die Tötung des Hamas-Führers
steht außerhalb dieser Legalität.

Wir kritisieren auch den Verlauf des so genannten Si-
cherheitszaunes, bei dem es sich in langen Abschnitten
um eine bis zu zehn Meter hohe Mauer handelt. Diese
Mauer ist nicht nur völkerrechtswidrig, weil sie in ihrem
Verlauf von der grünen Linie bzw. von der Waffenstill-
standslinie von 1967 abweicht und palästinensische Ge-
biete durchtrennt, sie verhindert auch den Zugang der
Bauern zu ihren Feldern und schafft Enklaven, in denen
die Bevölkerung von Schulen, Büros und Krankenhäu-
sern abgeschnitten ist.
Diese entwürdigende Situation ist aus humanitären
und menschenrechtlichen Gründen nicht akzeptabel und
legt den Grundstein für neuen Hass. Deshalb begrüßen
wir es sehr, dass die EU auch in diesem Jahr wieder ei-
nen Resolutionsentwurf zur Siedlungspolitik Israels in
den besetzten palästinensischen Gebieten einbringt.

Wir stehen in dieser Woche vor der dritten von
Deutschland mit ausgerichteten Afghanistan-Konfe-
renz. In ihrem Bemühen um den Wiederaufbau dieses in
einem mehr als 20-jährigen Krieg geschundenen Landes
zeigt die Bundesregierung, dass sie Ernst damit macht,
in der internationalen Krisenbewältigung bislang sträf-
lich vernachlässigte Elemente zu entwickeln und nach-
haltig einzusetzen: Hilfe beim Aufbau einer funktionie-
renden Verwaltung, Polizei und Justiz; Unterstützung
beim Prozess, sich eine menschenrechtlich ausgerichtete
Verfassung zu geben; Unterstützung bei der Vorberei-
tung von Wahlen und bei der Gewährleistung von Si-
cherheit; Priorität für eine flächendeckende Schulbil-
dung und für eine Basisgesundheitsversorgung. All dies
geschieht in enger Zusammenarbeit mit der Regierung,
der Zivilgesellschaft und in einem multilateral koordi-
nierten Prozess. An diesem positiven Verlauf ist auch
unser Ausschuss – das sage ich mit einer Portion Stolz
auf unsere Arbeit – ein großes Stück beteiligt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


All diese Elemente hatten sich nach der militärisch er-
zwungenen Verhinderung eines bevorstehenden Völker-
mords im Kosovo als grundlegend für die Förderung ei-
ner friedlichen Entwicklung herausgestellt. Die jüngste
Gewalteruption im Kosovo widerlegt nicht die Richtig-
keit dieses Ansatzes. Sie macht aber eine selbstkritische
Überprüfung des internationalen Engagements dringend
erforderlich. Anstatt voreilig und zu schnell absolut er-
forderliche Unterstützung herunterzufahren, brauchen
wir mehr Kohärenz, Ausdauer und Verantwortungsbe-
reitschaft durch die EU.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dazu gehört aber auch, dass wir unser innenpoliti-
sches Handeln nach diesen Grundsätzen ausrichten. Un-
sere innenpolitischen Entscheidungen können gravie-
rende Auswirkungen auf die Menschenrechtslage in
anderen Ländern haben: stabilisierend manchmal, aber
oft auch konfliktverstärkend. Die Rückführung von Min-
derheiten in ein Krisengebiet wie das Kosovo kann die
Lunte sein, die das Pulverfass zur Explosion bringt. Wir
begrüßen deshalb, dass momentan alle Rückführungs-
maßnahmen in diese Region ausgesetzt sind.


(Beifall der Abg. Angelika Graf [Rosenheim] [SPD])


Die neuerliche Eskalation von Gewalt im Kosovo zeigt,
dass an eine gefahrlose Rückführung von Minderheits-
angehörigen ins Kosovo noch lange nicht zu denken ist.


(Beifall des Abg. Christoph Strässer [SPD])







(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510015900

Frau Kollegin, Sie müssen an Ihre Redezeit denken.


Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510016000

Vor diesem Hintergrund ist die Praxis bloßer Ketten-

duldungen für Flüchtlinge in der Bundesrepublik men-
schenunwürdig. Deshalb appelliere ich, dass nach Jahren
der Duldung für Minderheitsangehörige aus dem Ko-
sovo diesen Menschen mit der Gewährung eines recht-
mäßigen Aufenthaltsstatus endlich eine konkrete Zu-
kunftsperspektive ermöglicht wird.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510016100

Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, FDP-Frak-

tion.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1510016200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

60. Sitzung der Menschenrechtskommission der Ver-
einten Nationen findet unter denkbar schwierigen Be-
dingungen statt. Das zeigt die gestrige Debatte über Is-
rael. Das zeigen auch die Auseinandersetzungen
zwischen China und den USA über eine Chinaresolu-
tion. Die MRK-Sitzung droht zu scheitern. Das wäre für
die Zukunft dieses zentralen Instruments des weltweiten
Schutzes der Menschenrechte dramatisch.

Schon die letzten beiden Sitzungen der MRK waren
nach Ansicht der Nichtregierungsorganisationen, aber
auch in den Augen der Weltöffentlichkeit ein Desaster;
das muss man so klar ausdrücken, wie ich es eben getan
habe. Die MRK droht immer mehr von polarisierten ta-
gespolitischen Auseinandersetzungen dominiert zu wer-
den und dabei zu einem Basar zu verkommen. Wir haben
das in der letzten Sitzung in Genf erlebt.

Dabei wird die Glaubwürdigkeit der Vereinten Natio-
nen in der Menschenrechtspolitik insgesamt aufs Spiel
gesetzt. Die MRK muss deshalb grundlegend reformiert
werden. Die FDP-Bundestagsfraktion hat dazu einen
Antrag mit konkreten Vorschlägen erarbeitet. Die Men-
schenrechtslage in vielen Ländern dieser Welt gibt An-
lass zu großer Sorge. Amnesty International nennt in
diesem Zusammenhang über 150 Staaten. Ich will hier
nur vier Fälle herausgreifen. Gemeinsam mit den Kolle-
gen der Union bringen wir einen ausführlichen Antrag
ein, in dem auf viele weitere Fälle konkret eingegangen
wird.

In China werden die Menschenrechte zwar gerade in
die Verfassung aufgenommen. Aber in Tibet – bei der
Verfolgung von Religionsgruppen und beim Umgang
mit Dissidenten – bleibt die konkrete Situation der Men-
schenrechte verheerend. Zudem sollen jetzt für die Voll-
streckung der zahlreichen Todesurteile mobile Tötungs-
maschinen eingeführt werden. All das muss bei der
MRK auf den Tisch. Ich fordere deshalb die Bundesre-
gierung auf, den amerikanischen Entwurf einer Chinare-
solution trotz aller Proteste aus Peking gemeinsam mit
den EU-Partnern zu unterstützen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In Russland kann Präsident Putin inzwischen nahezu
uneingeschränkt schalten und walten. Angesicht der
fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen in Tschet-
schenien, aber auch der Situation in den russischen Ge-
fängnissen oder der Beschränkung der Pressefreiheit ist
das besorgniserregend und muss ebenfalls in Genf ange-
sprochen werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Iran waren die Parlamentswahlen alles andere als
frei und fair. Die Menschenrechtslage bleibt prekär, ob-
wohl der Iran alle einschlägigen Menschenrechtspakte
unterzeichnet hat. Die Arbeit der mutigen Menschen-
rechtsverteidiger in diesem Land mit der Nobelpreisträ-
gerin Schirin Ebadi an der Spitze braucht dringend inter-
nationale Unterstützung und Anerkennung. Auch dazu
ist Genf der richtige Ort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der engagierte Einsatz vieler westlicher Länder für
die Menschenrechte ist nur dann wirklich glaubwürdig,
wenn wir uns offen mit Problemen im eigenen Bereich
auseinander setzen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat
deshalb schon im Dezember einen Antrag zur Situation
der Gefangenen der USA in Guantanamo Bay einge-
bracht, der heute zur Abstimmung steht. Die anderen
Fraktionen haben zunächst einen interfraktionellen An-
trag in Aussicht gestellt. Wir waren zu einer Zusammen-
arbeit bereit. Aber jetzt ist die Union überhaupt nicht
mehr willens, Guantanamo im Bundestag kritisch anzu-
sprechen, und Rot-Grün stellt einen eigenen Alternativ-
antrag zur Abstimmung. Er stimmt zwar in der Beurtei-
lung – besser gesagt: in der Verurteilung – der Situation
mit unserem Antrag überein – über die Analyse sind wir
weitgehend einer Meinung –, aber die FDP fordert, das
Thema sowohl bei der MRK als auch in der UN-Gene-
ralversammlung anzusprechen. Das ist den Kollegen von
Rot-Grün, deren Antrag mit unserem sonst weitgehend
deckungsgleich ist, als Forderung wohl zu konkret. Ich
finde das wirklich schade. Die Regierungskoalition tut
der Glaubwürdigkeit ihrer eigenen, aber auch der westli-
chen Menschenrechtspolitik insgesamt keinen Gefallen,
wenn sie unseren Antrag zu Guantanamo heute ablehnt.


(Rudolf Bindig [SPD]: Es geht doch um die europäische Gemeinschaftsinitiative!)


Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510016300

Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf, SPD-Frak-

tion.






(A) (C)



(B) (D)



Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1510016400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zwei Nachrichten möchte ich am Beginn meiner Rede
zitieren. Die erste ist: Vor wenigen Tagen gab es in Af-
ghanistan einen schlimmen Anschlag auf den Luftfahrt-
minister Mirwais Sadik, den Sohn des Provinzherrschers
von Herat, Ismail Khan. Das Attentat soll angeblich dem
Vater gegolten haben. Mit dem Luftfahrtminister starben
bei den Kämpfen etwa 100 Menschen. Der Anschlag
macht deutlich, dass die Sicherheitslage in diesem Land
auch im dritten Jahr nach der Befreiung von den Taliban
noch viel zu wünschen übrig lässt.

Die zweite Meldung ist eine positive: Am Montag
dieser Woche hat für circa 5,6 Millionen afghanische
Kinder – das ist etwa die Hälfte aller afghanischen Kin-
der im schulpflichtigen Alter – das neue Schuljahr be-
gonnen. Über 1 Million dieser Schulkinder sind Mäd-
chen. Das ist noch nicht zufriedenstellend, aber es ist ein
guter Anfang.


(Beifall im ganzen Hause)

Der afghanische Bildungsminister, Yunus Qanuni, be-
tonte, die Schülerzahl sei einzigartig in der Geschichte
Afghanistans. Es seien im vergangenen Jahr mithilfe der
Geber 1 217 neue Schulen entstanden.

Vor dem Hintergrund beider Meldungen sollten wir
den vorliegenden ausführlichen Antrag zur Menschen-
rechtslage in Afghanistan betrachten. Er stellt auch dar,
wie kontinuierlich die Menschenrechtsarbeit der Regie-
rungskoalition ist. Der Beitrag Deutschlands zur Sicher-
heitslage in Afghanistan hat uns hier schon oft beschäf-
tigt. Sowohl die Soldaten von ISAF als auch die
Polizeibeamten des Bundes und der Länder, die männli-
che und – ganz wichtig – auch weibliche Polizisten aus-
bilden, verdienen unseren Dank und unsere Anerken-
nung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Eine halbwegs stabile Sicherheitslage ist die Grundvo-
raussetzung dafür, dass diese 1 Million Mädchen, von
der ich eben gesprochen habe, in die Schule gehen und
dass Frauen am politischen und ökonomischen Leben
teilnehmen können. Der nächste Lackmustest für den
Willen und die Kraft der afghanischen Regierung ist die
Wahl in diesem Jahr. In diesem Zusammenhang müssen
wir immer wieder unsere Erwartungen klarmachen, dass
Frauen als Wählerinnen und als Kandidatinnen an der
Zukunft ihres Landes mitarbeiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bisher haben sich leider nur 1,5 Millionen Wahlberech-
tigte – nur 28 Prozent davon sind Frauen – registrieren
lassen. Das ist viel zu wenig.


(Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sicherheit ist auch eine unabdingbare Voraussetzung
für die Rückkehr von Flüchtlingen. Denn die Erfahrung
zeigt – das ist vorhin schon angesprochen worden –: Wer
Flüchtlinge in ein unsicheres Land zurückführt, destabi-
lisiert es weiter.

Der Kampf gegen ungerechte Verurteilungen insbe-
sondere von Frauen und gegen die Straflosigkeit muss
zusammen mit der afghanischen Regierung aufgenom-
men werden. Immer noch unaufgeklärt ist das Massaker
von Sherbagan vom November/Dezember 2001. Gerade
weil der stellvertretende Verteidigungsminister und Ge-
neral der Nordallianz Dostum darin verwickelt zu sein
scheint, muss die afghanische Seite die Aufklärung der
Vorfälle in ihrem ureigensten Interesse nachdrücklich
verfolgen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bedauere allerdings, dass das Medieninteresse an
diesem Vorgang leider in der Zwischenzeit offensichtlich
erlahmt ist. Überhaupt scheint vor dem Hintergrund der
anderen Konflikte – zum Beispiel im Nahen Osten und
im Irak – das öffentliche Interesse an Afghanistan etwas
einzuschlafen. Ich bedauere das; denn Afghanistan und
seine Bürger – insbesondere die Afghaninnen, die unter
dem Terrorregime der Taliban besonders gelitten haben –
dürfen von der Welt nicht wieder vergessen werden.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb begrüße ich es sehr, dass die Bundesrepublik
Deutschland am 31. März und 1. April – das ist nächste
Woche – in Berlin die dritte Afghanistan-Konferenz aus-
richtet, wo über die weitere Hilfe für das vom Krieg zer-
störte Land beraten wird.

Im direkten Zusammenhang mit dem begrüßenswer-
ten Sturz des Taliban-Regimes und seiner extremisti-
schen Kämpfer steht die Kehrseite dieses Krieges:
Guantanamo Bay. Die Bilder von menschenunwürdig
in Käfigen gehaltenen Gefangenen haben sich in mei-
nem Kopf eingebrannt. Ich bin fassungslos, weil ich
nicht begreifen kann und will, wie sich die älteste Demo-
kratie der Welt – ein modernes westliches Land – so von
den menschenrechtlichen Prinzipien verabschieden
kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rainer Funke [FDP])


Ich weiß mich in meiner Empörung mit vielen Menschen
in den USA einig.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz berich-
tet von grauenhaften Haftbedingungen. Es hat 32 Selbst-
mordversuche in dem Lager gegeben. Die Identität der
Inhaftierten steht nicht fest oder wird nicht bekannt ge-
geben. Keiner hat die Möglichkeit, mit einem Anwalt
oder Angehörigen zu sprechen. Das Völkerrecht wird
dort mit Füßen getreten.

In seiner Ausgabe vom 11. März 2004 berichtet der
„Spiegel“ über die Freilassung von fünf Briten, die wie
rund 660 andere Männer – darunter angeblich zwölf
Minderjährige – seit mehr als zwei Jahren in dem Lager






(A) (C)



(B) (D)


Angelika Graf (Rosenheim)


auf Kuba festgehalten wurden. Drei der Minderjährigen
sind angeblich nach Afghanistan zurückgeschickt wor-
den. Sie waren zwischen 13 und 15 Jahre alt, als sie ge-
fangen genommen wurden. Die Briten sind inzwischen
in England auf freiem Fuß. Gegen sie liege nichts vor,
meldet der „Spiegel“.

Man fragt sich im Einklang mit den Beschlüssen aus
der 59. Sitzung der MRK, zu welchen Reaktionen uns
der Terror im angeblich so freien und aufgeklärten Wes-
ten bringt, was wir von den für unsere Demokratien so
wichtigen bürgerlichen Freiheiten und Errungenschaf-
ten aufgeben und ob wir nicht genau so reagieren, wie es
die Drahtzieher des Ganzen wollen. Machen wir uns im
Hinblick auf Guantanamo Bay und die Diskussion über
die Anwendung der Folter – sei sie auch noch so sehr
durch übergeordnete Interessen begründet – nicht nolens
volens gemein mit Verbrechern, Terroristen und Staaten,
die wir in der MRK wiederum anklagen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich jedenfalls bedauere es zutiefst, dass es nicht ge-
lungen ist, zu diesem Thema einen gemeinsamen Antrag
vorzulegen.


(Zuruf des Abg. Rainer Funke [FDP])

– Bis Dienstagmittag dieser Woche hat es noch gut aus-
gesehen, Herr Funke. Erst kurzfristig wurde dann be-
schlossen, dass es doch nicht geht. Insbesondere vor dem
Hintergrund der Debatte über Guantanamo im Aus-
schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe am
11. Februar kann ich die ablehnende Haltung gegenüber
einem gemeinsamen Antrag – das sage ich speziell an
Sie gewandt, Herr Funke – nicht verstehen.


(Rainer Funke [FDP]: Sie haben ihn doch abgelehnt!)


Der einzige Unterschied lag in der realistischen Ein-
schätzung dessen, welche Initiativen auf EU-Ebene
möglich sind.


(Rainer Funke [FDP]: Nein!)

Da haben wir einen Konflikt. Wir meinen, dass es besser
ist, die Realität anzuerkennen, dass es wohl nicht gelin-
gen wird, eine EU-Initiative auf den Weg zu bringen.

Ich begrüße umso mehr, dass die Menschenrechtsbe-
auftragte der Bundesregierung, Claudia Roth, dieses
Thema am Rande der MRK in Genf bei einem Treffen
mit der amerikanischen Delegation – Herr Funke, als
Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte und Hu-
manitäre Hilfe wissen das auch Sie – ansprechen wird.
Ich denke, das macht deutlich, dass sich zumindest die
Koalition vor diesem heißen Eisen nicht scheut.

Herzlichen Dank für Ihr Zuhören.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510016500

Das Wort hat der Kollege Karl-Theodor Freiherr von

und zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion.
Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg

(CDU/CSU):


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Verehrte Frau Kollegin Graf und Herr Kollege
Funke, wir liegen in der nüchternen Bewertung Guanta-
namos, in der Zielsetzung und gerade in der Klärung der
völkerrechtlichen Fragen nicht weit auseinander. Zwi-
schen uns besteht auch kein Dissens darüber, dass sich
Freiheit nur dann verteidigen lässt, wenn man die Frei-
heit selbst nicht durch Maßnahmen der Freiheitsverhin-
derung gefährdet, und dass das Recht unstreitig zwar die
Fähigkeit zur Durchsetzung braucht, dass aber Macht
ohne Bindung an das Recht verhängnisvolle Wirkungen
entfalten könnte und kann.

Das gilt auch im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit
von Demokratien. Wir sprechen dies auch gegenüber un-
seren amerikanischen Freunden an. Das gewünschte Er-
reichen von Zielsetzungen muss sich zuweilen allerdings
auch am jeweiligen Tonfall messen lassen, gerade wenn
man entsprechend zementierte Abwehrhaltungen auf-
grund gewisser Tonlagen bereits erfahren musste. In die-
sem Punkt unterscheiden wir uns.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine Menschenrechtsdebatte darf auch dazu dienen,

die generelle Einbettung von Menschenrechten in gele-
gentlich exklusiv erscheinende Politikfelder zu beleuch-
ten. So setzt sich etwa die Außen- und Sicherheitspoli-
tik selbst gern den Anspruch, die stete Verknüpfung mit
Menschenrechten zu suchen. Gefunden wird sie leider
allzu selten. Das gilt allerdings auch vice versa. Beides
dient dem jeweils anderen gelegentlich dankbar als Vehi-
kel. Die Tragfähigkeit ist allerdings auf eher geringe
Lasten beschränkt.

Gerade der Kontext mit den neuen Bedrohungsszena-
rien lässt diese Beobachtung evident erscheinen. Men-
schenrechten wird zwar grundsätzlich und inbrünstig
eine überragende Bedeutung zugemessen – richtiger-
weise –; sie bilden jedoch gerade im Hinblick auf die
Asymmetrie der Bedrohungslagen oftmals ein allzu iso-
liert betrachtetes Kernelement, obwohl sie angesichts
der höchst aktuellen Sicherheitsdebatte, die wir gerade
in diesen Tagen führen, ein integraler und tragender Be-
standteil eines strategischen Gerüstes sein müssten und
sein sollten.

Die großen Sicherheitsstrategien deuten dies an. Sie
lassen jedoch das unverzichtbare Zusammenwirken un-
terschiedlicher Leitansätze nur erahnen. Menschenrechte
definieren sich – das ist eine banale Feststellung – über
das Individuum. Darüber definiert sich in besonderem
Maße die Demokratie. Aus demokratischen Prozessen
erwachsen in der Regel verbesserte Sicherheitsstan-
dards, solche, die auch den asymmetrischen Bedrohun-
gen möglicherweise zu begegnen wissen.

Die Glaubwürdigkeit einer Demokratie erwächst
letztlich aus diesem Rückbezug auf das Individuum und
auf Menschenrechte. Wenn man also Demokratie als
höchste Errungenschaft, möglicherweise als Exportpro-
dukt zu bezeichnen neigt, verpflichtet das umso mehr






(A) (C)



(B) (D)


Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg

zum behutsamen Umgang mit diesen Ausgangswerten.
In diesem Kontext wage ich Guantanamo zu nennen.

Das Defizit an trennscharfen Begrifflichkeiten
wächst. Wir dürfen in diesem Zusammenhang nicht der
Versuchung verfallen, der eben genannten Asymmetrie
der Bedrohungen gewissermaßen spiegelbildlich durch
vage Phrasen zu begegnen, Phrasen, die dann überaus
konkreten Maßnahmen zur Legitimation dienen müssen.
Der „Kampf gegen den Terror“ als Begriffspaar, so not-
wendig, so wichtig und so richtig er ist, ist in dieser Hin-
sicht ein Beispiel unter vielen. Flexibilität? Ja. Auch sie
ist notwendig. Aber es darf im Hinblick auf die Verein-
ten Nationen, wie Sie es genannt haben, keine unbe-
stimmten Freifahrtscheine geben. Dieser Umstand wird
zwar vielfach beklagt. Aber die Konsequenz daraus
muss – auch für die Bundesregierung – sein, diese Beob-
achtung in den dringend erforderlichen Abgleich der je-
weiligen Sicherheitsstrategien münden zu lassen und
eine klare Benennung nationaler Interessen, insbeson-
dere unserer, daran anschließen zu lassen.

Es gilt, die Schwäche der Vereinten Nationen in die-
ser Hinsicht zu überwinden, aber auch – ebenfalls im
Hinblick auf die Bundesregierung – für Kohärenz zwi-
schen den unterschiedlichen Politikfeldern, insbesondere
zwischen den unterschiedlichen Ressorts, zu sorgen.
Kunduz ist gerade ein Beispiel, wie es nicht laufen
sollte.

Es bleibt zu hoffen, dass wir nicht erst die
120. Tagung der Menschenrechtskommission abwarten
müssen, um all diese Dinge auf den Weg zu bringen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510016600

Das Wort hat die Beauftragte der Bundesregierung für

Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Aus-
wärtigen Amt, Claudia Roth.

Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für
Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Aus-
wärtigen Amt:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat ist die 60. Tagung der Menschenrechtskom-
mission der Vereinten Nationen in Genf von Licht und
Schatten geprägt. Schatten werfen vor allem die verbre-
cherischen Anschläge von Madrid auf die Kommis-
sionssitzung. Sie stellen uns erneut vor die zentrale und
große Herausforderung, Terrorismus, der auf die Grund-
werte unserer freien und offenen Gesellschaft zielt, ent-
schlossen zu bekämpfen, aber – auch das ist Thema auf
der 60. Tagung der Menschenrechtskommission in Genf –
auf der Basis rechtsstaatlicher Mittel, der Menschen-
rechte und der Bürgerrechte. Der Zweck heiligt hier ein-
deutig nicht die Mittel. In diesem Zusammenhang sehe
ich auch den Umgang mit Verdächtigen, insbesondere
mit den Gefangenen in Guantanamo. Seien Sie sicher,
dass dieses Thema schon angesprochen worden ist!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Freiheit und Sicherheit müssen immer – das ist auch
ein zentraler Punkt unserer innenpolitischen Debatte –
die Balance halten. Wenn wir Sicherheit ohne Freiheit
wollen, dann werden wir beides verlieren. Die Terroris-
ten hätten dann ihr Ziel erreicht. Genau über dieses
Thema wird im Rahmen einer von Mexiko eingebrach-
ten Resolution in Genf debattiert. Die Menschenrechts-
kommission hat aber auch die Aufgabe, unmissverständ-
lich klar zu machen, dass der Antiterrorkampf nicht als
Vorwand, nicht als Alibi in innenpolitischen Auseinan-
dersetzungen dienen darf. Nach dem 11. September
2001 ist immer wieder behauptet worden, es gehe in
Tschetschenien, in Teilen Chinas und auch in Kolumbien
um den Antiterrorkampf. Aber das ist nur ein Vorwand.
Auch damit wird sich die Menschenrechtskommission
befassen.

Einen weiteren langen Schatten gerade in den letzten
Tagen wirft die gezielte, außergerichtliche Tötung von
Scheich Jassin. Das sorgt nicht nur in der Menschen-
rechtskommission für eine große Eskalationsgefahr. Die
Europäische Union hat mit ausdrücklicher Unterstützung
der Bundesregierung die Tötung als inakzeptabel und
unvereinbar mit dem Völkerrecht scharf kritisiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Gleichzeitig – das ist wichtig und knüpft an das an, wo-
rauf Frau Nickels hingewiesen hat – hat die EU aber jede
Form von Terrorismus und Gewalt verurteilt, hat Ge-
waltverzicht von allen Seiten eingefordert und hat darauf
bestanden, dass es im Nahen Osten nur eine politische
Lösung geben kann.

Ich möchte noch auf einen anderen Schatten hinwei-
sen, den Herr Funke schon zu Recht beschrieben hat und
der auch auf der 60. Tagung der Menschenrechtskom-
mission von Anfang an Realität ist, nämlich auf den Ver-
such einer scharfen Polarisierung, auf die große Gefahr
der regionalen Blockbildung sowie auf das wirklich ag-
gressive und beleidigende Auftreten von besonders
„glaubwürdigen“ Menschenrechtsverteidigern wie den
Vertretern Kubas und Simbabwes sowie die außerordent-
lich scharfen Worte und Repliken Chinas.

Es gibt aber auch Licht und Hoffnung bei der Sitzung
der Menschenrechtskommission dieses Jahres. Das hat
ganz zweifellos eine sehr breit getragene Initiative von
Ministerinnen und hohen Repräsentantinnen hervorge-
bracht. Über 20 Ministerinnen und Delegationsleiterin-
nen haben eine umfassende gemeinsame Erklärung be-
treffend Gewalt gegen Frauen verabschiedet, in der
jede Form von Gewalt und jede Form von Diskriminie-
rung gegenüber Frauen kritisiert werden, in der explizit
Frauenhandel angesprochen wird und in der deutlich ge-
macht wird, dass es für Gewalt gegen Frauen, für Men-
schenrechtsverletzungen an Frauen keine Begründung
gibt, auch nicht durch Religion, Kultur oder Tradition.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es war für mich ein wirklich hoffnungsvoller Vormit-
tag, als Ministerinnen aus allen Teilen dieser Welt zu
diesem Thema gesprochen haben: aus Ruanda, aus






(A) (C)



(B) (D)


Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt

Südafrika, aus dem Jemen, von den Philippinen, aus vie-
len europäischen Ländern. Es war auch ein gutes Signal,
dass unser bekanntermaßen männlicher Außenminister
auf die Bedeutung der Frauenrechte nicht zuletzt im Na-
tion-Building-Prozess, zum Beispiel in Afghanistan, hin-
gewiesen hat.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510016700

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für

Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Aus-
wärtigen Amt:

Ja. – Frau Präsidentin, lassen Sie mich aber bitte doch
noch ein paar Punkte ansprechen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510016800

Nein, ich lasse Sie keine Punkte mehr ansprechen. Sie

haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten.
Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für

Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Aus-
wärtigen Amt:

Dann werde ich Ihnen alles das schriftlich nachrei-
chen, was hier anzusprechen ist: die Bedeutung der Län-
derresolutionen, selbstverständlich die Unterstützung
der China-Resolution durch die Bundesrepublik und die
EU,


(Zuruf von der CDU/CSU: Hanau!)

selbstverständlich die Unterstützung Tschetscheniens
– die EU wird die Tschetschenien-Resolution einbrin-
gen –, selbstverständlich die Unterstützung der Sim-
babwe- und der Sudan-Resolution und anderes.

Licht wird hoffentlich noch ein Besuch bringen, näm-
lich der Besuch des Menschenrechtsausschusses des
Deutschen Bundestages. Ich finde es außerordentlich
wichtig, dass wir auch als Parlament deutlich machen:
Wir ziehen an einem Strang, wenn es um die Menschen-
rechte geht. – Ich würde mir wünschen, weil mir das die
Arbeit international leichter machen würde, dass wir mit
den Hausaufgaben zu Hause anfangen und dass wir zum
Beispiel


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Jetzt reicht es aber!)


endlich das Zusatzprotokoll zur Anti-Folter-Konvention
unterzeichnen und dass wir die Vorbehalte zur Kinder-
konvention zurücknehmen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber jetzt müssen Sie wirklich zum Schluss kommen!)


Das ist ein Appell an die Länder. Herr Kauder, bitte ge-
ben Sie das an Ihre Kollegen und Kolleginnen weiter!


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das würde die Glaubwürdigkeit sehr erhöhen.
Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510016900

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Er hat jetzt sie ben Minuten mehr!)



Holger Haibach (CDU):
Rede ID: ID1510017000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube nicht, dass die Rücknahme der Vorbehalte der
Bundesrepublik Deutschland zur Kinderrechtskonven-
tion wirklich eine parteipolitische Angelegenheit ist. –
Nur so viel dazu.


(Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt: Das habe ich auch nicht behauptet!)


Wie in der heutigen Debatte bereits deutlich gewor-
den ist, stehen die Krise der Institution Menschenrechts-
kommission und die Krise im Menschenrechtsbereich
allgemein in einem direkten Zusammenhang. Beide be-
dingen einander und sind Ursache und Wirkung zu-
gleich. Deutschland hat als Koordinator der Gruppe der
westlichen Länder bei der MRK eine besondere Verant-
wortung. Die MRK-Anträge, die heute vorliegen, weisen
viele Gemeinsamkeiten auf. Das ist positiv und zeigt
auch, dass zumindest unter den Menschenrechtspoliti-
kern eine große Einigkeit über die Zielsetzung deutscher
Menschenrechtspolitik herrscht. Es wäre allerdings hilf-
reich, wenn die Bundesregierung deutlichen Äußerun-
gen des Bundestags auch immer ebenso deutliche Äuße-
rungen auf internationaler Ebene folgen lassen würde.

Einigkeit herrscht zum Beispiel beim Thema Afgha-
nistan. Die Situation in Afghanistan – Frau Kollegin
Graf hat es schon angesprochen – ist trotz großer Fort-
schritte bei der Erstellung einer Verfassung nach wie vor
alles andere als gesichert. Das betrifft im Besonderem
die Rechte der Frauen. Es wird wirklich ein Lackmustest
für die neue Verfassung und ihre Umsetzung sein, ob die
darin verankerte Gleichheit von Mann und Frau Wahr-
heit wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Stabilität in Afghanistan ist eine wichtige Vorausset-
zung für die Stabilität der gesamten Nahostregion; denn
die Liste der Krisenherde, in denen Menschenrechte ein-
geschränkt und nicht beachtet werden, scheint sich mehr
und mehr zu verlängern. Ich nenne die blutige Auseinan-
dersetzung zwischen Israelis und Palästinensern, die im-
mer noch unsichere Situation im Irak und den sich ver-
schärfenden Konflikt in der iranischen Gesellschaft.
Gerade im Iran ist Deutschland als ein wichtiger Han-
dels- und Gesprächspartner gefordert. Der Bundesau-
ßenminister hat in seiner Rede vor der MRK darauf hin-
gewiesen, die kürzlich im Iran durchgeführten Wahlen
seien – wörtlich – „nicht fair und frei“ gewesen. Der
vom Deutschen Bundestag einstimmig hierzu verab-
schiedete Antrag war um einiges deutlicher. Auch vom
Außenminister hätte ich mir an dieser Stelle etwas mehr
Deutlichkeit gewünscht.






(A) (C)



(B) (D)


Holger Haibach

Das gilt auch für den Bereich des Fernen Ostens.

Hier sind neben Defiziten im Strafrecht und in der Justiz
im Besonderen die Fragen von Glaubens- und Mei-
nungsfreiheit, ob in Presse, Funk, Fernsehen oder den
neuen Medien, Dauerthemen der Menschenrechts-
agenda. China, Vietnam, Nordkorea, aber auch kleinere
Länder wie Burma geben Beispiele dafür, wie mit poli-
tisch Andersdenkenden und religiös Andersgläubigen
umgegangen wird. Für meine Fraktion will ich hier noch
einmal festhalten, dass gerade die Durchsetzung der Re-
ligionsfreiheit als fundamentales Menschenrecht einen
herausragenden Schwerpunkt unserer Arbeit darstellt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

CDU/CSU und FDP setzen in ihrem Antrag noch ei-

nen weiteren geographischen Schwerpunkt, nämlich
Afrika, und hier im Speziellen das so genannte Subsa-
haragebiet. Die Liste der Länder, in denen nicht nur ele-
mentare Rechte verweigert werden, sondern auch Hun-
ger, Not und Bürgerkrieg herrschen, ist mehr als lang.
Uganda, Sudan – hierzu liegt ein eigener Antrag vor, der
in Zusammenarbeit mit Kirchen und vor Ort tätigen
NGOs erarbeitet worden ist –, Kongo, Simbabwe und
viele andere Länder leiden an zerfallenden Staatsstruktu-
ren, Failing States, und bürgerkriegsähnlichen Zustän-
den oder wirklichen Bürgerkriegen, bei denen die Ge-
fahr, dass es zu Übergriffen gegen einzelne
Bevölkerungsgruppen bis hin zu tatsächlichen Genozi-
den kommen kann, sehr groß ist. Die Frage, wie die
Weltgemeinschaft mit den Failing States umgeht, ist
nicht nur aus menschenrechtlicher Sicht von entschei-
dender Bedeutung. Rechtsleere Räume und zerfallende
Strukturen bieten Nährböden für Gewalt, Hass und Ter-
ror. Wir sehen es als eine der herausragenden Aufgaben
der kommenden Jahre an, Strategien dafür zu entwi-
ckeln, wie Menschenrechte auch in den Failing States er-
halten bzw. erstmals hergestellt werden können.
Deutschland und die Europäische Union haben hierbei
eine besondere Verantwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Besondere Verantwortung muss die Europäische
Union aber auch noch auf einem anderen Gebiet wahr-
nehmen: bei den Ländern – das steht jetzt nicht direkt
auf der Tagesordnung, ich möchte es nur bei dieser Gele-
genheit einmal ansprechen –, die durch das Mittelmeer-
abkommen mit Europa assoziiert sind, und bei allen tat-
sächlichen und potenziellen Beitrittskandidaten.

Die Situation in den Maghreb-Staaten, die in sehr
engen Beziehungen zur Europäischen Union stehen, ist
durch die schrecklichen Ereignisse im mittleren und süd-
lichen Afrika aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit ge-
rückt. Dies sollte allerdings für uns umso mehr Grund
sein, auf die Menschenrechtsverletzungen in den Berei-
chen Religions-, Glaubens- und Meinungsfreiheit sowie
bei Frauen hinzuweisen. Deutschland und die Europäi-
sche Union haben hierfür die Mittel und damit auch hier
eine besondere Verantwortung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Diese Verantwortung erstreckt sich, wie bereits er-
wähnt, im besonderen Maße auch auf die EU-Beitritts-
kandidaten und solche, die es gerne werden wollen. Hier
gibt es durchaus deutliche Alarmzeichen: So hat das Eu-
ropäische Parlament kürzlich besonders Rumänien we-
gen der mangelnden Umsetzung menschenrechtlicher
Standards gerügt; im außenpolitischen Ausschuss sind
sogar Forderungen nach Aussetzung der Beitrittsver-
handlungen laut geworden.

Umso unverständlicher ist es dann für mich, dass in
Europa – auch noch mit der Stimme Deutschlands – be-
schlossen werden kann, auf ein Menschenrechtsmonito-
ring in Bezug auf die Türkei zu verzichten.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Wohlgemerkt: Die Fortschritte, die die Türkei bereits bei
der Implementierung von Menschenrechtsstandards ge-
macht hat, sind beträchtlich. Das ist unbestritten. Jetzt
jedoch den Druck zu lockern ist das falsche Zeichen zur
falschen Zeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dafür klaffen Verfassungsnorm und gesellschaftliche
Realität zu weit auseinander.

Alles in allem ist es angebracht, die Frage, was
Deutschland bei der MRK tun kann oder was nicht, wei-
terhin auf der Tagesordnung zu haben. Deshalb beantra-
gen CDU/CSU und FDP auch einen Bericht über die Tä-
tigkeit der Bundesregierung bei der MRK, in dem
zeitnah dargestellt werden soll, inwieweit Beschlüsse
des Bundestages tatsächlich umgesetzt worden sind. Der
Antrag von CDU/CSU und FDP erhebt diese Forderung
an prominenter Stelle, um zu verdeutlichen, dass die
Frage der Menschenrechte dauerhaft auf der Agenda des
Bundestages stehen muss. Auch dies ist, neben vielen
anderen Gründen, ein wirklich guter Grund, diesem An-
trag zuzustimmen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1510017100

Die Kollegin Petra Pau hat ihre Rede zu Protokoll ge-

geben.1)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungs-

punkt 7 a. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 15/2755 mit dem Titel „60. Tagung der Menschen-
rechtskommission der Vereinten Nationen – eine Chance
für die Menschenrechte“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist
1) Anlage 2






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.

Tagesordnungspunkt 7 b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf der
Drucksache 15/2741 mit dem Titel „Stärkung der Men-
schenrechte in der internationalen Politik – zur
60. Tagung der Menschenrechtskommission der Verein-
ten Nationen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit
den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/
CSU und der FDP abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 7 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen zur „Stärkung der Menschenrechte in
Afghanistan“, Drucksache 15/2740. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2168 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des gan-
zen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 7 d. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
auf Drucksache 15/2509 zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Für eine Reform und Stärkung der
Menschenrechtskommission“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 15/2174 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/
CSU und der FDP angenommen.

Tagesordnungspunkt 7 e. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
auf Drucksache 15/2715 zu dem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP mit dem Titel „Den Frie-
densprozess im Sudan unterstützen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2152 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 7 f. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
auf Drucksache 15/2768 zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Für die Einhaltung der grundlegen-
den Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guanta-
namo Bay“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/2175 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die
Stimmen der FDP angenommen.

Zusatzpunkt 4. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 15/2756 mit dem Titel „Für
die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und
Grundfreiheiten in Guantanamo Bay“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU
angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Johannes Singhammer, Klaus Hofbauer, Karl-
Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Klarstellung der Auswirkungen der EU-Oster-
weiterung
– Drucksache 15/2438 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion.


Klaus Hofbauer (CSU):
Rede ID: ID1510017200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In wenigen
Tagen – 36 sind es – werden zehn neue Mitgliedstaaten
der Europäischen Union beitreten. Damit vollzieht die
Gemeinschaft die in Umfang und Vielfalt größte Erwei-
terung in ihrer Geschichte.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Die EU-Osterweiterung ist ein historischer Schritt von
erheblicher politischer, wirtschaftlicher und kultureller
Bedeutung.

Als Abgeordneter aus einer Grenzregion, die nur ein
paar Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt
ist, sage ich: Schon die letzten 14 Jahre seit Öffnung der
Grenze haben unserem Lande und auch den Grenzregio-
nen insgesamt gut getan. Die EU-Osterweiterung wird
nach meiner Überzeugung ein großer Erfolg werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Eines muss uns aber bewusst sein: Die EU-Osterweite-
rung birgt Chancen und Herausforderungen zugleich.
Wir müssen einfach feststellen, dass es noch erhebliche
Unterschiede gibt, die wir zu bewältigen haben.

Einer der zentralen Punkte, bei denen man der Bun-
desregierung Versäumnisse in den letzten Jahren vorwer-
fen kann, ist die Informationspolitik bezüglich der EU-
Osterweiterung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Türk [FDP])


Es sind noch viele Fragen offen. Die Menschen sind ver-
unsichert; denn es wird ihnen keine Antwort gegeben.

Ich möchte deswegen bei dieser Gelegenheit denen
danken, die sich um die Beantwortung dieser Fragen in
den letzten Jahren bemüht haben. Ich denke an unsere
Kommunalpolitiker, an unsere Verbände und an die
Kammern. Hier ist bereits viel geschehen. Die wenigsten






(C)



(B) (D)


Klaus Hofbauer

Initiativen sind allerdings von dieser Bundesregierung
ausgegangen.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Wir müssen daher feststellen, dass wir sehr unvorbereitet
in diese Erweiterung gehen.

Die CDU/CSU-Fraktion hat deswegen diese Große
Anfrage eingereicht. Wir haben Fragen zusammenge-
fasst, die die Menschen an uns herangetragen haben und
die sie bewegen. Ich bedauere sehr, dass eine zeitnahe
Beantwortung dieser Fragen durch die Bundesregierung
nicht möglich gewesen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Türk [FDP])


Wir hätten gerade die kommenden Wochen nutzen kön-
nen, Informationen an die Bevölkerung weiterzugeben.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir viel zur Aufklä-
rung hätten beitragen können.

Ich bedauere auch, feststellen zu müssen, dass die
Akzeptanz der EU-Osterweiterung immer mehr sinkt.
Eine Befragung, die im Oktober 2003 durchgeführt
wurde, hat ergeben, dass die Zustimmung zur Erweite-
rung in Deutschland nur noch 46 Prozent beträgt. Am
Anfang des Jahres 2003 waren es noch 59 Prozent. In-
nerhalb von wenigen Monaten ist die Akzeptanz der EU-
Osterweiterung um fast 20 Prozent gesunken. Deswegen
müssen wir einige Akzente setzen.

In vier Bereichen gibt es Handlungsbedarf. Ich nenne
den Ausbau der Infrastruktur, die Aufrechterhaltung der
Sicherheit – auch dieses Thema bewegt die Menschen –,
die Arbeitsmarkt- und die Wirtschaftspolitik sowie die
Strukturpolitik und die Strukturförderung.

Heute Nachmittag gab es im Deutschen Bundestag
eine ausführliche Diskussion über die Verkehrspolitik.
Der Herr Verkehrsminister wollte uns weismachen, dass
die Bundesregierung alles für den Ausbau der Verkehrs-
infrastruktur getan hat. Fehlanzeige!


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Lächerlich! – Gegenruf des Abg. Günter Gloser [SPD]: Was habt ihr bis 1998 gemacht?)


Die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur ist geschei-
tert. Bis 1998 sind die Verkehrsprojekte „Deutsche Ein-
heit“ kraftvoll und äußerst erfolgreich vorangetrieben
worden. Deswegen zählt Ihr Argument überhaupt nicht.
Man weiß seit Jahren, dass die EU-Osterweiterung kom-
men wird. Aber man hat im Bereich der Verkehrspolitik
nur wenig dafür getan.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Türk [FDP] – Günter Gloser [SPD]: Und was hat Bayern gemacht?)


Wir werden im Rahmen der Debatte über den Bundes-
verkehrswegeplan die Defizite der Bundesregierung auf-
zeigen und einen entsprechenden Antrag stellen.

Ich möchte auch die Bahn ansprechen. Bei der Bahn
ist im Rahmen der EU-Osterweiterung überhaupt nichts
passiert. Wir müssen feststellen, dass der Verkehr an der
Grenze zu Tschechien von der Schiene auf die Straße
verlagert wird, weil die Zusammenarbeit überhaupt nicht
funktioniert.

Ich bitte darum, auch das Thema Sicherheit in den
Mittelpunkt unserer Bemühungen zu stellen. Dies
möchte ich jetzt nicht näher ausführen.

Ich darf aber eines sagen: Ein Problem, das wir zur-
zeit im Rahmen der EU-Osterweiterung haben, ist die
verheerende Arbeits- und Wirtschaftspolitik der rot-grü-
nen Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wegen der schlechten Wirtschaftsdaten haben sich die
Sorgen und Ängste im Hinblick auf die EU-Osterweite-
rung gewaltig verstärkt. Wenn wir eine andere Wirt-
schafts- und Arbeitsmarktpolitik


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Und eine andere Bundesregierung!)


hätten, würden wir die Akzeptanz der EU-Osterweite-
rung gewaltig nach vorne bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In diesem europäischen Einigungsprozess wird natür-
lich die Strukturpolitik eine ganz entscheidende Rolle
spielen. Ich möchte dazu feststellen: Was die zukünftige
europäische Strukturpolitik anbelangt, ist die Bundesre-
gierung nicht vorbereitet. Die Bundesregierung hat zum
Beispiel zum Kohäsionsbericht, der seit drei, vier Wo-
chen vorliegt, keine Meinung. Sie sagt nicht, welche
Konsequenzen man daraus zieht. Die Strukturpolitik
wird im Rahmen der EU-Osterweiterung eine ganz ent-
scheidende Rolle spielen.

Was hat man gemacht? Man wollte im vergangenen
Haushaltsjahr die Mittel für die GA „West“ streichen
bzw. ganz ad acta legen. Das kann nicht hingenommen
werden. Wir müssen also gerade im Bereich der Struk-
turpolitik, die in den nächsten Jahren im Rahmen der
EU-Osterweiterung eine entscheidende Rolle spielt,
Fehlanzeige feststellen.

Lassen Sie mich meine Aussagen zusammenfassen.
Folgende Punkte sind entscheidend – die müssen wir
angehen, um die Akzeptanz der EU-Osterweiterung zu
verstärken –: erstens Ausbau der grenzüberschreitenden
Verkehrsinfrastruktur einschließlich Bahnvernetzung,
zweitens Förderung des Zusammenwachsens der Ar-
beits- und Wirtschaftsmärkte – es kommt nichts von al-
lein; wir müssen den Prozess gestalten und dürfen uns
nicht einfach von den Dingen abwenden –,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


drittens konsequente Bekämpfung der grenzüberschrei-
tenden Kriminalität und schließlich Unterstützung der
Grenzregionen.

Das Thema EU-Osterweiterung ist nicht mit dem
1. Mai dieses Jahres abgeschlossen. Deutschland braucht
eine umfassende Informations- und Aktionskampagne.

(A)







(A) (C)



(B) (D)


Klaus Hofbauer

Von der rot-grünen Bundesregierung gehen dazu zurzeit
zu wenig Impulse und Initiativen aus.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510017300

Das Wort hat jetzt der Staatsminister Hans Martin

Bury.


Hans Martin Bury (SPD):
Rede ID: ID1510017400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Wir debattieren heute Abend auf der Grundlage ei-
ner Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion über die
Erweiterung der Europäischen Union. Ich muss Ihnen
sagen, dass ich nicht im Wortsinne von einer „großen“
Anfrage sprechen würde. Denn das, was Sie hier vorge-
legt haben, folgt einmal mehr dem bekannten Muster Ih-
rer Oppositionsarbeit nach dem Motto: Ja, aber. Dann
folgt eine nicht enden wollende Liste von Einwänden,
Bedenken, Mahnungen.

Lassen Sie mich deshalb zu Beginn dieser Debatte
unmissverständlich sagen: Ja, Deutschland freut sich auf
die Einigung Europas.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir heißen die neuen Mitgliedstaaten und ihre Bürgerin-
nen und Bürger in der erweiterten Europäischen Union
herzlich willkommen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Null problemo!)


Wir spüren, was Willy Brandt mit Blick auf die deut-
sche Wiedervereinigung in die Worte fasste: Jetzt wächst
zusammen, was zusammengehört.

Wir haben die einmalige, wirklich historische
Chance, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
Zusammenhalts zu bauen. Deutschland mit seiner Posi-
tion im Herzen Europas kommt dabei eine zentrale Be-
deutung zu. Kein Land wird aller Voraussicht nach so
sehr von den positiven Wirkungen der EU-Erweiterung
profitieren wie Deutschland.


(Klaus Hofbauer [CDU/CSU]: Aber das muss gestaltet werden!)


Schon heute übersteigt unser Handel mit den mittel- und
osteuropäischen Staaten den mit unserem traditionell
wichtigsten Handelspartner USA: Die Dynamik in den
neuen Mitgliedstaaten ist ungebrochen. Ich wünschte
mir in den Reihen der Opposition mitunter etwas von
dieser Aufbruchstimmung, dieser Risikobereitschaft und
diesem Willen, gemeinsam Verantwortung für notwen-
dige Reformen zu übernehmen.


(Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Erklären Sie das den Menschen vor Ort!)


Niemand bestreitet die Herausforderungen, vor de-
nen wir stehen. Aber die Bundesregierung und die Re-
gierungskoalition belassen es nicht bei der Beschreibung
von Problemen. Mit der Agenda 2010


(Lachen bei der CDU/CSU)

nehmen wir die Herausforderungen der Globalisierung,
des demographischen Wandels und des technologischen
Fortschritts an. Der Bundeskanzler hat das heute Morgen
in seiner Regierungserklärung eindrucksvoll verdeut-
licht.

Es besteht kein Zweifel: Wir müssen die Wettbe-
werbsfähigkeit unseres Landes, aber auch Europas ins-
gesamt verbessern. Das ist unter anderem Thema des
Europäischen Rates, der heute Abend in Brüssel zusam-
mengekommen ist. Wir leisten unseren Beitrag – natio-
nal und zugleich für Europa insgesamt – mit der
Agenda 2010, mit der gezielten Stärkung von Bildung,
Forschung und Entwicklung sowie neuer Technologien.
Also mit der Verbesserung der strukturellen Vorausset-
zungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in
Deutschland und Europa.


(Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Lauter Träumer!)


Das ist die Antwort auf Standortkonkurrenz in inter-
nationalem Maßstab: nicht osteuropäische Löhne und
asiatische Sozialstandards, sondern ein global wettbe-
werbsfähiges Europa, ein Europa, das Mindeststan-
dards im Sozialen und beim Umweltschutz verpflichtet
ist. Die Erfahrung zeigt und die Dynamik in den neuen
Mitgliedstaaten unterstreicht es: Mit der Perspektive auf
wachsenden Wohlstand wächst auch der Anreiz für die
Menschen, dort zu bleiben, und sinkt zugleich die Kos-
tendifferenz.

Aber was den Steuerwettbewerb betrifft, sage ich Ih-
nen klipp und klar: Wir sollten es nicht unterstützen,
wenn Länder ihre Steuersätze so weit reduzieren, dass
sie nicht mehr genügend Einnahmen generieren, um die
eigene Infrastruktur zu entwickeln, und dabei zugleich
die Erwartung hegen, diese Infrastruktur mithilfe von
Transferzahlungen auszubauen, die Länder wie Deutsch-
land speisen müssen.

Sorgen vor einem Verdrängungswettbewerb auch auf
dem Arbeitsmarkt kann und muss man mit dem Hinweis
begegnen, dass gerade die Bundesregierung von Anfang
an sichergestellt hat, dass eine unfaire Konkurrenz durch
geeignete Übergangsvorschriften verhindert wird.
Diese sind flexibel genug, um sie an die Entwicklung be-
darfsgerecht anzupassen.


(Klaus Hofbauer [CDU/CSU]: Worin bestehen die in der Realität?)


Dem Standortwettbewerb begegnen wir nicht mit
Jammern, sondern mit Handeln. Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, sollten mitmachen.


(Beifall der Abg. Anna Lührmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Lachen bei der CDU/CSU – Jürgen Türk [FDP]: Darum geht es ja!)


Wenn Sie die Sorgen artikulieren, die es unbestreitbar
gibt, so ist das in Ordnung. Vorausgesetzt, Sie beteiligen






(A) (C)



(B) (D)


Staatsminister Hans Martin Bury

sich konstruktiv daran, die Themen nicht nur zu benen-
nen, sondern auch die damit verbundenen Probleme zu
lösen. Sie beklagen etwa – wie Herr Hofbauer es gerade
getan hat – die Gefahr zunehmender Kriminalität. Ich
bin mir sehr bewusst, dass es hinsichtlich dieses Themas
Ängste gibt. Umso mehr muss ich Sie auffordern, in den
Bundesländern, in denen Sie Verantwortung tragen, die
Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen nicht länger zu
blockieren. Der europäische Haftbefehl würde Ausliefe-
rungen von Straftätern wie Terroristen oder Menschen-
händlern innerhalb Europas wesentlich erleichtern und
beschleunigen. Ermittlungsergebnisse und Vernehmun-
gen könnten schneller zusammengeführt, Straftaten bes-
ser aufgeklärt oder sogar verhindert werden.


(Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Ich würde Ihnen eine Woche in einer mobilen Kontrollgruppe empfehlen!)


Es ist in Europa nicht erklärbar, dass Sie hier wegen De-
tails blockieren. Es ist auch nicht verantwortbar, dass Sie
hier blockieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Europa – das haben spätestens die schrecklichen An-
schläge in Madrid deutlich gemacht – muss und kann nur
gemeinsam die notwendige Sicherheit für unsere Bürge-
rinnen und Bürger erfolgreich gewährleisten. Denn orga-
nisierte Kriminalität macht an nationalen Grenzen schon
lange ebensowenig Halt wie internationaler Terrorismus.
Auch hier hilft uns Kleinstaaterei nicht weiter, sondern
mehr Kooperation sowie entschiedenes und zugleich
besonnenes Handeln.

Die Anschläge in Madrid waren Anschläge auf die
Werte, die wir alle in Europa teilen. Umso wichtiger und
drängender ist es, zu einer Einigung über eine europäi-
sche Verfassung zu kommen, die diesen gemeinsamen
Werten und Zielen Ausdruck verleiht und einen Rahmen
schafft, um diese Werte und Ziele in europäischer Politik
zu realisieren.

Heute Abend beraten die Staats- und Regierungschefs
der Europäischen Union auch darüber, wie wir die er-
weiterte EU handlungsfähig erhalten, wie wir ihre demo-
kratische Legitimation stärken, ihre Institutionen und
Entscheidungsprozesse effizienter und transparenter ma-
chen können, kurz gesagt: wie wir Europa in die Lage
versetzen, die berechtigten Erwartungen seiner Bürge-
rinnen und Bürger zu erfüllen. Wir haben Anlass zu Op-
timismus. Denn es gibt die realistische Chance, die Re-
gierungskonferenz zu einem erfolgreichen Abschluss zu
führen. Deutschland unterstützt die irische Präsident-
schaft nach Kräften auf diesem Weg. Unser Ziel ist ein
starkes und bürgernahes Europa, ein Europa in guter
Verfassung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510017500

Das Wort hat der Kollege Jürgen Türk von der FDP-

Fraktion.

Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1510017600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Am 1. Mai ist es so weit. Dann wird
Europa größer. Dann wird ein neues Kapitel in der Ge-
schichte des europäischen Einigungsprozesses aufge-
schlagen. Europa überwindet endlich die Spaltung. Das
ist wirklich ein Ereignis von historischer Dimension.
Natürlich eröffnen sich durch die Osterweiterung große
Chancen für Deutschland.

Aber große Worte allein, Herr Staatsminister Bury,
bringen uns nicht weiter. Man muss schon etwas dafür
tun, dass Chancen entstehen, und die Folgen sehen. Man
kann die Dinge nicht einfach dem Selbstlauf überlassen.
Wir sind doch kein Nachtwächterstaat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Donnerwetter! Und das von einem Liberalen!)


– Da müssen Sie stark differenzieren. Ein Nachtwächter-
staat ist etwas ganz anderes.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal dem Westerwelle!)


Wir sollten endlich einmal vor dem Schaden klug
sein. Es ist wirklich unverantwortlich, dass kurz vor der
EU-Erweiterung noch so viele Fragen ungelöst sind. Sie
werden nicht gestellt, weil wir Sie ärgern wollen, son-
dern weil die Bundesregierung ihre Hausaufgaben nicht
gemacht hat.

Zum Beispiel stellt sich im Bereich der Sozialsys-
teme die Frage, ob Arbeitnehmer aus anderen EU-Staa-
ten weiterhin ihre im Heimatland lebenden Familienmit-
glieder kostenfrei mitversichern können und wie hoch
die Kosten für Kinder- und Erziehungsgeld sind. Die
Bundesregierung hat geantwortet, von den deutschen
Krankenkassen flössen 14 Millionen Euro ins Ausland;
in umgekehrter Richtung sei es 1 Million Euro. Das ist
ein starkes Missverhältnis. Man ist offensichtlich davon
ausgegangen, dass sich das irgendwie ausgleiche. Beim
Kindergeld waren es bisher 120 Millionen Euro jährlich.

Es geht also darum, wie die Bundesregierung sicher-
stellt, dass Anreize zur Inanspruchnahme der Systeme
der sozialen Grundsicherung vermieden werden, ohne
dass die neuen Unionsbürger diskriminiert werden. Auch
diese Auswirkungen sind schnellstens zu klären, damit
keine weitere Überdehnung des deutschen Sozialsiche-
rungssystems erfolgt. Das muss man einfach einmal an-
sprechen.

Kann man neben zunehmender Abwanderung von
Arbeitnehmern eine weitere Zunahme der Abwanderung
von Unternehmen wegen des drastischen Steuergefälles
in Kauf nehmen? Es geht doch nicht darum, ob die Bei-
trittsstaaten ihre Steuern erhöhen, sondern darum, ob wir
sie senken, damit nicht abgewandert wird.


(Beifall bei der FDP – Günter Gloser [SPD]: Wie weit? – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sagen Sie doch einmal eine Zahl, wo Sie herauskommen wollen!)







(A) (C)



(B) (D)


Jürgen Türk

Auch im Bereich der Infrastruktur ist bisher zu wenig

passiert. Es gibt keine durchgehenden Autobahnverbin-
dungen von Deutschland nach Tschechien oder nach Po-
len. Die Tschechen sind zwar fertig, aber Nürnberg
hängt noch. Das betrifft auch den Grenzraum. Es ist
doch wirklich das Einmaleins der Wirtschaftspolitik,
dass Infrastruktur die Grundlage für Ansiedlungen ist.

Außerdem gibt es bislang keinen gemeinsamen Ak-
tionsplan von Grenzschutz- und Zollbehörden. Es
wird einfach davon ausgegangen, dass am 1. Mai die
Grenzkontrollen wegfallen. Wir wissen aber, dass die
Personenkontrollen weiterhin notwendig sind und dass
mehr Fahrzeuge ankommen. Da muss man schon im
Vorhinein etwas tun. Es wird am 1. Mai nicht ganz so
einfach werden. Da muss man gestalten und sich nicht
einfach wundern, dass es nicht klappt.


(Beifall bei der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: Erst informieren und dann eine Rede halten! Die Schengen-Grenze wandert erst in den nächsten Jahren!)


Es stellt sich also die Frage, wie die Kontrollen ab
dem 1. Mai gestaltet werden sollen. Einerseits soll es nur
noch Personenkontrollen geben; andererseits werden wir
mit mehr Verkehr rechnen müssen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Nicht zu reden wäre eine Tugend!)


Was wird zum Beispiel mit dem Grenzübergang Forst an
der Grenze zu Polen? Am 1. Mai wird das Problem nicht
gelöst sein. Wir kennen das Theater zu der Frage, wer
die Kosten für den Stauraum Preschen trägt. Das muss
vorher geklärt werden.

Es ist sicher, dass man den Folgen der EU-Erweite-
rung mit intensiver grenzüberschreitender Wirt-
schaftskooperation begegnen kann und muss. Das ist das
Mittel. Wir müssen über unsere Grenzen hinweg koope-
rieren.

Umso unverständlicher ist, dass die Deutsch-Polni-
sche Wirtschaftsfördergesellschaft ab 2005 nicht mehr
gefördert wird. Das ist unverantwortlich. Diese Förde-
rung würde nur ein paar Cent kosten. Obwohl die EU-
Erweiterung jetzt erst richtig losgeht, fördert man sie
nicht mehr. Genau dann, wenn man die Deutsch-Polni-
sche Wirtschaftsfördergesellschaft AG brauchen würde,
wird sie fallen gelassen und kann daher nicht mehr ein-
gesetzt werden. Das ist nicht nachvollziehbar und kon-
traproduktiv; denn die EU-Osterweiterung wird, wie
schon gesagt wurde, am 1. Mai dieses Jahres nicht abge-
schlossen, sondern sie fängt dann erst richtig an.

Nachdem aus der EU-Gemeinschaftsaktion für
Grenzregionen vom Juli 2001 – das war ja eigentlich
die Lösung der EU; dadurch sollte die Anpassung der
Grenzregionen vollzogen werden – nichts geworden ist,
wird ein bisschen Geld für Polnischkurse zur Verfügung
gestellt. Ich möchte nichts gegen Polnisch- und Tsche-
chischkurse sagen. Aber es kann ja wohl nicht sein, dass
wir uns mit einer solchen Gemeinschaftsaktion für
Grenzregionen der EU zufrieden geben.
Es hätte eine wirkliche Gemeinschaftsaktion der EU,
der Bundesregierung, der Länder und auch der Regionen
werden müssen. Daher bin ich mir sicher, dass man hier
nachbessern und für diese Wachstumsregionen – so sind
die Grenzregionen genannt worden – etwas tun muss.
Hier muss schnellstens – das ist unser Vorschlag – eine
deutsch-polnische und eine deutsch-tschechische Ein-
greiftruppe eingesetzt werden


(Beifall bei der FDP)

– bis zum 1. Mai dieses Jahres ist ja nicht mehr viel Zeit –,
die sich mit den praktischen Auswirkungen befasst und
entsprechende Maßnahmen umsetzt. Dabei sollten die
Grenzräume bei Nutzung der vorhandenen Euroregio-
nen als grenzüberschreitende Wirtschaftsräume, als Mo-
dellregionen, betrachtet werden.

In den lange überfälligen Grenzlandkonzepten – sie
fehlen – müssen über Steuern, Infrastruktur und Büro-
kratieabbau Anreize geschaffen werden. Das ist offen.
Wir wollen, dass die Euroregionen mehr Spielraum be-
kommen und dass das nicht nur von der Bundesregie-
rung gemacht wird. Aber hier müssen Freiräume für sie
geschaffen werden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510017700

Herr Kollege Türk, kommen Sie bitte zum Schluss.

Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1510017800

Ja. – Das gibt es übrigens schon. Ich meine das Karls-

ruher Abkommen zwischen Deutschland, Luxemburg,
Frankreich und der Schweiz. Dort ist dies praktiziert
worden.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Wann ist denn Schluss?)


Ich frage mich, warum das nicht auch an der EU-Außen-
grenze möglich sein kann und soll.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nun sind Sie zufrieden.

(Günter Gloser [SPD]: Nee!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510017900

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock

vom Bündnis 90/Die Grünen.

(Zuruf von der SPD: Jetzt aber mal Gas geben! – Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Jetzt hören wir neue Ansätze!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist beruhigend und schön, festzustellen, wie einig wir
uns über die Bedeutung der Osterweiterung und auch bei
der Formulierung der positiven Sonntagsbotschaften, die
wir bei solchen Anlässen immer nach außen verkünden,
sind. Was mich an dieser Debatte aber stört, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der Opposition, ist, dass man
nicht das Gefühl hat, dass Sie an einer Lösung der si-






(A) (C)



(B) (D)


Rainder Steenblock

cherlich noch vorhandenen Probleme tatsächlich interes-
siert sind, sondern dass Sie solche Debatten initiieren,
um sie für Ihre doppelbödige Botschaft zu nutzen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Auf der einen Seite sagen Sie immer, dass Sie für die
Osterweiterung sind und ihre Chancen nutzen wollen.
Aber durch die Art und Weise, wie Sie debattieren, sen-
den Sie auf der anderen Seiten unterhalb dieser Ebene
folgende Botschaften aus: Das alles ist ganz schwierig.
Es bestehen große ökonomische Probleme. Sie sprechen
von einer Belastungssituation. Die Frage ist daher, ob
das Vorgehen überhaupt richtig ist.


(Jürgen Türk [FDP]: Das ist das wirkliche Leben!)


– Nein, Sie lassen sich nicht darauf ein, dass es eine po-
sitive Grundlage gibt, um die Probleme zusammen zu lö-
sen, sondern Sie mäkeln und reden die historische
Chance, die unsere Wirtschaft hat, schlecht, anstatt die
positiven Impulse der Osterweiterung voranzutreiben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Jürgen Türk [FDP]: Was haben Sie denn gegen die Osterweiterung? Wir machen sie doch!)


– Herr Türk, dass kann ich Ihnen anhand der Position,
die Sie gerade vorgetragen haben, deutlich machen. Sie
haben von einem Nachtwächterstaat geredet. Das ein-
zige, was einem Liberalen dazu einfällt, ist, an staatliche
Fördertöpfe zu appellieren. Das versteht ein Wirtschafts-
liberaler anscheinend unter einem aktivem Staat; darum
geht es Ihnen. Das, was Sie der Bundesrepublik ständig
vorwerfen, ist, dass sie nicht genug Geld an die Unter-
nehmer verteilt, damit sie ihre Profite einigermaßen ab-
gesichert realisieren können.


(Jürgen Türk [FDP]: Ihnen fehlt das Konzept! Ein Konzept kostet nicht unbedingt Geld!)


– Nein, ich will auch gerne konkret werden: Sie haben
über die Deutsch-Polnische Wirtschaftsfördergesell-
schaft gesprochen und bemängelt, dass die staatlichen
Zuschüsse an dieser Stelle nicht mehr so fließen wie in
der Vergangenheit. Schauen Sie einmal nach Öster-
reich: Die Wirtschaftsförderungsgesellschaften, die den
österreichisch-tschechischen Grenzraum bedienen – also
genau die gleiche Aufgabe haben –, haben es mittler-
weile geschafft, sich aus den Beiträgen der Unternehmen
selber zu finanzieren. Das sind Unternehmer, die tat-
sächlich versuchen, etwas zu leisten, und nicht Unter-
nehmerinnen und Unternehmer, die immer nur auf staat-
liche Zuschüsse schielen, sich alimentieren lassen und
eine beamtenmäßige Unternehmermentalität ausleben.
So wollen wir keine Politik gestalten: Wir wollen doch
keine Abhängigkeit vom Staat schaffen! Wir setzen da-
rauf, dass diese Leute ihr Schicksal selber in die Hand
nehmen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510018000

Herr Kollege Steenblock, erlauben Sie eine Frage des

Kollegen Scheuer?

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nein, bei der kurzen Zeit, die ich noch habe: Tut mir
Leid, wir können das gerne nachher besprechen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510018100

Es wird Ihnen nicht auf Ihre Zeit angerechnet.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Stimmt, Entschuldigung. Wenn es nicht von meiner
Zeit abgeht,


(Jürgen Türk [FDP]: Ist immer so!)

dann können Sie natürlich gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510018200

Ich stoppe die Uhr, Sie können das feststellen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke schön.


Andreas Scheuer (CSU):
Rede ID: ID1510018300

Das ist sehr nett, Herr Kollege.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Sie, Herr Steenblock, fordern die Opposition auf, Mög-
lichkeiten zum Handeln aufzuzeigen. Der Bundeskanz-
ler hat eine solche Möglichkeit zum Handeln offenbar
auch erkannt, nämlich im Jahr 2000 in Weiden, wo er ein
Förderprogramm für die Grenzregionen angekündigt
hat – Sie haben ein solches gerade verneint. Der Bundes-
kanzler hat wortwörtlich gesagt: „ein vernünftiges, auch
materiell unterlegtes Programm der Förderung der
Grenzregionen“. – Der Herr Kollege Ludwig Stiegler hat
sich schon gefreut und zu Hause verkündet, dass ein För-
derprogramm kommen wird. Aber es ist bei der Ankün-
digung und beim Versprechen geblieben. – Was sagen
Sie denn dazu, dass der Bundeskanzler die Notwendig-
keit erkannt hat, ein Förderprogramm aufzustellen?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lieber Kollege, wenn ich Sie richtig verstanden habe,
haben Sie sich auf eine Äußerung aus dem Jahre 2000
bezogen.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Gilt die jetzt nicht mehr?)


Einige Kollegen haben zu Recht auf die Herausforderun-
gen hingewiesen, vor denen wir jetzt stehen. Wenn Sie
den Erweiterungsprozess verfolgt haben, dann dürfte Ih-
nen nicht entgangen sein, dass wir diese Herausforde-
rungen unter den Bedingungen der Strukturfonds meis-
tern müssen. Das sind die Förderinstrumente, die wir
jetzt, gerade für die Grenzregionen, nutzbar machen
müssen. Ich will jetzt nicht noch einmal die Debatten des
Jahres 2000 führen: Mit den Strukturfonds haben wir für
2004 bis 2006 neue Förderstrukturen, besonders für die






(A) (C)



(B) (D)


Rainder Steenblock

Beitrittsländer, aber auch für die ostdeutschen Bundes-
länder.

In den östlichen Ländern, gerade in Polen, haben wir
aber auch das Problem, dass solche regionalen Koopera-
tionen auf polnischer Seite dadurch erschwert werden,
dass dort noch sehr viel zentralstaatliche Regulierung
stattfindet, wodurch Partnerschaften in den Grenzregio-
nen etwas behindert werden. Wir sollten uns dafür ein-
setzen, dass die Förderstrukturen auf beiden Seiten der
Grenze kompatibler werden. Durch die Strukturfonds-
mittel haben wir jetzt die Möglichkeiten, das auch zu
realisieren. Deshalb glaube ich, dass wir da in der Zu-
kunft – auf die sollten wir uns beziehen – gute Chancen
haben.


(Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Bayern hat auch eine Ostgrenze, wohlgemerkt!)


– Bayern auch, ja.

(Günter Gloser [SPD]: Was hat die Staatsregierung gemacht? – Andreas Scheuer [CDU/ CSU]: 100 Millionen! – Klaus Hofbauer [CDU/CSU]: Weil der Bund ausgefallen ist! – Günter Gloser [SPD]: Oberpfalz!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Stichwort
Euro-Regio ist gefallen, ich glaube, auch von Ihnen,
Herr Türk. Das sind Instrumente, die ich sicherlich sehr
unterstütze. Wir haben an Schleswig-Holsteins West-
grenze sehr positive Erfahrungen damit gemacht. Solche
Ansätze werden schon diskutiert, aber sie müssen aus
der Region heraus entwickelt werden; Sie wissen sehr
gut, dass es keine Aufgabe der Bundesregierung ist, sol-
che Euro-Regios zu implementieren. Euro-Regios sind
Regionen, die Bottom-up, also von unten, wachsen müs-
sen; nur dann machen sie auch einen Sinn. Solche Euro-
Regionen im Bereich der deutsch-polnischen und der
deutsch-tschechischen Grenze zu realisieren ist sicher-
lich etwas ausgesprochen Positives und Unterstützens-
wertes.


(Jürgen Türk [FDP]: Das reicht nicht!)

– Es reicht nicht aus, es ist aber ein Instrument, das wir
unterstützen und stärken wollen und in dem wir auch po-
sitive Aspekte sehen.

Sie haben gesagt, vieles sei nicht passiert. Wenn Sie
sich aber einmal anschauen, wie sich insbesondere der
Handel zwischen Deutschland und Polen, aber auch
zwischen Deutschland und den anderen mittel- und ost-
europäischen Ländern entwickelt hat, dann stellen Sie
fest, dass die Osterweiterung langfristig politische Stabi-
lität und wirtschaftliche Prosperität nicht nur in diesen
Ländern erzeugen wird, sondern dass gerade Deutsch-
land als Exportnation sehr stark von der Osterweiterung
profitieren wird. Wie kein anderes EU-Land werden wir
von der Osterweiterung profitieren. Schon jetzt werden
10 Prozent unseres Außenhandels mit dieser Region ab-
gewickelt. In diesem Bereich hat sich unendlich viel be-
wegt. Diese Bewegung wollen und werden wir weiterhin
unterstützen. Der Export in diese Länder ist mittlerweile
umfangreicher als der Export in die Vereinigten Staaten.
Sie müssten eigentlich wissen, dass die Auslagerung
von Produktionskapazitäten in vielen Fällen Arbeits-
plätze in Deutschland stabilisiert und neue Ausbildungs-
und Produktionsstätten generiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jürgen Türk [FDP]: Das geht aber an den Grenzregionen vorbei! Das interessiert mich nicht! Das ist allgemeines Gerede!)


Diesen Zusammenhang stellen Sie häufig überhaupt
nicht dar. Natürlich brauchen wir auch Standorte deut-
scher Unternehmen in den mittel- und osteuropäischen
Ländern, damit sie dort marktnah produzieren können.
Das hilft uns weiter. Ich glaube, dass wir uns auf einem
guten Weg befinden. Wir sollten – damit die Botschaft in
den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern an-
kommt – gemeinsam sagen: Wir wollen diese Koopera-
tion. Wir sollten nicht ständig daran rummäkeln, sondern
die offenen Fragen gemeinsam lösen.

Wir sind motiviert und bei uns herrscht die Bereit-
schaft zur Kooperation vor. Wir widmen uns dem Pro-
jekt der Osterweiterung mit aller politischen und ökono-
mischen Kraft. Das ist die zentrale Aufgabe unserer
Politik.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510018400

Das Wort hat jetzt die Kollegin Veronika Bellmann

von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Veronika Bellmann (CDU):
Rede ID: ID1510018500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Steenblock, wenigsten war Ihr Vortrag en-
gagiert. Ich lade Sie und Herrn Bury herzlich in die
Grenzregion nach Ostdeutschland ein, damit Sie einmal
das Reale sehen und nicht nur das, was man sich in rosa-
roten Farben ausmalt. Die Realität sieht nämlich ganz
anders aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: Was folgern wir daraus? Sind Sie gegen die Osterweiterung? Ja oder nein?)


– Regen Sie sich nicht so auf! Ich erzähle Ihnen gleich,
was Sie daraus folgern können.


(Manfred Grund [CDU/CSU], zu Abg. Dr. Uwe Küster [SPD] gewandt: So einfach kann man es sich nicht machen, ja oder nein! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Es geht um Gestalten oder Ablehnen!)


Ich möchte zu diesem Thema eine nüchterne Analyse
vorstellen, nämlich die in Ostdeutschland vorherr-
schende. Einerseits gibt es die konkrete Hoffnung auf
eine Verbesserung der Situation in den neuen Ländern
durch die EU-Osterweiterung. Darin haben Sie durchaus






(A) (C)



(B) (D)


Veronika Bellmann

Recht. Andererseits gibt es aber auch diffuse Ängste bei
der realistischen Einschätzung der Probleme und eine
schwer überschaubare Gemengelage von Befürchtun-
gen. Diese Ängste und Befürchtungen kann man nicht
einfach wegreden oder negieren, sondern man muss sie
analysieren und die richtigen Schlussfolgerungen zie-
hen.


(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man soll sie auch nicht instrumentalisieren! Sie instrumentalisieren sie!)


Eigentlich sollte das die Bundesregierung machen. Dazu
ist sie aber wahrscheinlich weder willens noch in der
Lage.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dann soll die Bundesregierung nach Polen aussiedeln!)


Da wir das machen wollen und spätestens ab der
nächsten Förderperiode ohnehin in der Regierungsver-
antwortung sind, machen wir jetzt eine Analyse und zie-
hen daraus die richtigen Schlussfolgerungen.


(Engelbert Wistuba [SPD]: Träumen Sie weiter!)


Eine solche Analyse der möglichen Auswirkung der EU-
Osterweiterung ist für die neuen Länder von zentraler
Bedeutung. Von der konkreten Ausgestaltung der zu-
künftigen Strukturpolitik in den Jahren 2007 bis 2013
sowie der wirtschaftlichen Behauptung gegenüber den
neuen Mitgliedern hängt nämlich viel ab.

In dem am 18. Februar 2004 vorgelegten 3. Kohä-
sionsbericht der EU-Kommission sind die möglichen
Folgen für die neuen Länder sehr deutlich dargestellt
worden. Dadurch rückten sie ins öffentliche Interesse.

Konkret zur Analyse im Bereich Wirtschaft und Ar-
beitsmarkt: Die wirtschaftswissenschaftliche Diskus-
sion sieht in der EU-Osterweiterung vor allem Vorteile,
die Öffentlichkeit hat eher Ängste, zum Beispiel wegen
einer möglichen hohen Zuwanderung von Arbeitskräften
aus den Beitrittsländern, einer Verdrängung heimischer
Arbeitnehmer, einer verstärkten Konkurrenz im primä-
ren und tertiären Wirtschaftssektor durch kostengünsti-
gere Anbieter aus den Beitrittsländern oder die Verlage-
rung von Produktionsstätten in die Beitrittsländer.
Aufgrund einer Erhöhung des Einkommensniveaus in
den Beitrittsländern hofft man – das gehört zu den indi-
rekten Wirkungsfaktoren – auf eine stärkere Güternach-
frage. Außerdem hofft man darauf – ich glaube, dass das
in Einzelfällen begründet ist –, dass Deutschland insge-
samt durch vermehrte Exporte profitieren kann.

Für die Unternehmen in Ostdeutschland zählt das
aber kaum, da sich viele Firmen auf Marktsegmente spe-
zialisiert haben, die denen in den Beitrittsländern ent-
sprechen. Dort kann allerdings zu geringeren Kosten
produziert werden. Es ist deshalb zu erwarten, dass die
ostdeutschen Firmen dem Wettbewerbsdruck nicht
standhalten können.

Die Auswirkungen der Erweiterung auf die Arbeits-
märkte in den neuen Ländern hängen von wichtigen Fak-
toren ab. Zunächst ist entscheidend, wie die Unterneh-
men auf den verstärkten Wettbewerbsdruck reagieren
und ob sie ihm gewachsen sind; dies habe ich eben be-
reits angesprochen. Es ist allerdings zu erwarten, dass in
den lohnintensiven Branchen diesem Druck nicht stand-
gehalten werden kann und eine Abwanderung von Un-
ternehmen aus Ostdeutschland in die Beitrittsländer so-
mit durchaus möglich ist. Wir in Ostdeutschland haben
eine nur sehr geringe Unternehmensdichte. Wenn davon
noch welche abwandern, ist das für unsere Wirtschaft
tödlich.

Was sind nun die notwendigen Maßnahmen? Wir
wollen nicht nur analysieren, sondern auch Maßnahmen
vorschlagen.


(Günter Gloser [SPD]: Das ist schön!)

Erster Punkt. Wir müssen flexible Arbeitsmarkt-

strukturen schaffen und vor allem bei Unternehmens-
gründungen bürokratische Hemmnisse abbauen. Wir ha-
ben heute früh in der Regierungserklärung gehört, dass
der Kanzler dazu in der nächsten Woche wieder einmal
ein Machtwort sprechen will. Ich sage es einmal mit den
Worten meines Kollegen Riesenhuber: Das ist wieder
ein erneuter Fall von Kanzlerdämmerung.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Was erzählen Sie da alles für einen Quatsch!)


Herr Riesenhuber sagte: Es dämmert und dämmert und
dämmert und wird nicht hell. Vielleicht sollte man dem
Kanzler einmal sagen, er soll etwas Konkretes dazu vor-
legen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das, was Sie da erzählen, ist doch im wahrsten Sinne des Wortes Kohl!)


Als zweiten Punkt möchte ich den weiteren Ausbau
der Infrastruktur vor allen Dingen im Verkehrsbe-
reich nennen; auch das ist heute schon angesprochen
worden. In meinem Wahlkreis gibt es ein ganz konkretes
Objekt, nämlich die Ortsumgehung Marienberg als di-
rekte Verbindung von Sachsen nach Tschechien. Herr
Stolpe sagt, dass es im Jahr der Erweiterung keine neuen
Projekte gebe. Man könnte sagen, er wird seinem Namen
durchaus gerecht: Er stolpert von einem Schlagloch ins
andere.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

Nun zur Strukturförderung. Die Strukturfördermit-

tel sind für die neuen Länder von hoher Bedeutung. Al-
lein in der laufenden Förderperiode sind den neuen Län-
dern 20,6 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt
worden. Der Höchstförderstatus ist mit dem Beihilfe-
regime der EU verknüpft. Durch den Verlust dieses Sta-
tus würden die beihilferechtlichen Möglichkeiten der
neuen Länder erheblich eingeschränkt werden; auch das
wäre tödlich. Die maximalen Sätze zur Förderung der
gewerblichen Wirtschaft würden für größere Unterneh-
men von 35 Prozent auf 18 Prozent und für KMU von
50 Prozent auf 28 Prozent sinken. Die Förderhöhe ist
momentan das einzige Anreizinstrument, das wir Unter-
nehmen für die Ansiedlung in den ostdeutschen Bundes-
ländern bieten können. Wir können weder mit der Steu-






(A) (C)



(B) (D)


Veronika Bellmann

erhöhe noch mit der Lohnhöhe und erst recht nicht mit
der Abgabenhöhe konkurrieren.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel aus meinem

Wahlkreis nennen: Das Unternehmen Siltronic hat mit
einer Förderhöhe von 120 Millionen Euro Investitionen
in Höhe von 480 Millionen Euro ausgelöst und damit
866 Arbeitsplätze schaffen können. Daran sieht man,
wie effektiv EU-Fördermittel eingesetzt werden können.
Von daher begrüßen wir die im Dritten Kohäsionsbericht
vorgeschlagene Fortsetzung der Förderung struktur-
schwacher Gebiete in der jetzigen EU-15.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Türk [FDP])


Der Kohäsionsbericht trägt dem weitgehend Rech-
nung und ist ein wichtiger Schritt für die Absicherung
einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung der Re-
gion. Inwieweit die Vorschläge der Kommission umge-
setzt werden, hängt von den Entscheidungen des Euro-
päischen Rates und des Europaparlaments sowie von
den der Kommission zur Verfügung stehenden Finanz-
mitteln ab.

Ich fordere die Regierung auf, bezüglich der Begren-
zung der EU-Ausgaben auf 1 Prozent des Bruttonatio-
naleinkommens ein wenig über den Tellerrand hinauszu-
schauen. Wenn die Rückflüsse aus diesen Fördermitteln
in den ostdeutschen Bundesländern nicht mehr wie bis-
her zur Verfügung stehen – auch nicht in den Ziel-2- und
Ziel-3-Regionen; es geht also um alle Rückflüsse –,
dann wird das für Ostdeutschland eine Erhöhung der Ar-
beitslosenquote um 2 Prozent bedeuten. Wir liegen jetzt
schon bei 18 Prozent.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie haben doch bestimmt einen Vorschlag, woher das Geld kommen soll!)


Sie zahlen dann vielleicht weniger an die EU, aber Sie
leisten dann höhere Transferzahlungen an die Arbeitslo-
sen. Wenn Sie das möchten, dann können Sie das gerne
tun.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sagen Sie mal, woher das Geld kommen soll!)


Die Förderung der sechs Nettozahler zu begrenzen ist
auf jeden Fall nicht im Sinne der neuen Bundesländer.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Jeder erzählt bei Ihnen, was er mag! So ein Durcheinander! – Günter Gloser [SPD]: Schauen Sie mal in die Presseerklärung der CSU! Herr Faltlhauser! Der eine macht den Deckel auf, der andere schließt ihn wieder! So geht es nicht!)


– Wenn Sie jetzt den Deckel Ihres Mundes schließen
würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar.


(Günter Gloser [SPD]: Das mache ich auch!)

Die EU-Osterweiterung darf nicht auf dem Rücken

der ostdeutschen Bundesländer durchgeführt werden.
Unser Appell ist: Die neuen Länder sollten einen Interes-
senausgleich mit der Bundesregierung suchen. Mit der
Forderung nach einer Ausgabenbegrenzung sollte eben
nicht nur der Bundeshaushalt auf Kosten der neuen Län-
der saniert werden. Das ist weder wirtschaftlich sinnvoll
noch möglich; denn um die fehlenden Rückflüsse von
der EU mit Bundesmitteln auszugleichen, fehlt jegliches
Konzept.

Nun zum letzten Punkt, der grenzüberschreitenden
Kriminalität. Die Gewährleistung der Sicherheit in den
Grenzgebieten kann nur durch eine enge Zusammenar-
beit von Bundesgrenzschutz, Zoll und Polizei erreicht
werden. Wichtig sind vor allem Ausgleichsmaßnahmen
im Bereich des Zolls nach dem Rückzug von der Grenze
durch die vorgesehene personelle Aufstockung der Mo-
bilen Kontrollgruppen. Ich habe schon in einer Rede an
den Bundesfinanzminister appelliert, die Mobilen Kon-
trollgruppen sowohl in der Personalstärke als auch in der
Anzahl aufzustocken. Leider kommt die Bundesregie-
rung dem nicht nach.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510018600

Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.


Veronika Bellmann (CDU):
Rede ID: ID1510018700

Ich komme zum Schluss.
Die EU ist eben nicht nur ein Wirtschafts-, sondern

auch ein Sicherheitsraum. Wir sollten also dem Sicher-
heitsbedürfnis der Bevölkerung in den Grenzregionen
Rechnung tragen.

Ich fordere die Bundesregierung auf, die Sorgen und
Nöte der Menschen ernst zu nehmen und sie nicht einfach
wegzudeklinieren. Sie müssen den leidenschaftlichen
Worten für die EU-Osterweiterung auch Taten folgen las-
sen. Finanzielle Konzepte sind notwendig. Bundesfi-
nanzminister Eichel hingegen hat erklärt, er würde einen
Teufel tun, finanzielle Konzepte zu erarbeiten.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510018800

Frau Kollegin Bellmann, Ihre Redezeit ist abgelaufen.


Veronika Bellmann (CDU):
Rede ID: ID1510018900

Mein letzter Satz.
Vielleicht kann Ihnen dabei der Wahlspruch des ame-

rikanischen Publizisten und Politikers Pat Buchanan be-
hilflich sein: „Wir kämpfen, bis die Hölle zufriert; dann
kämpfen wir auf dem Eis weiter.“

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Günter Gloser [SPD]: Aber manchmal rutscht man auf dem Eis aus, Frau Kollegin!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510019000

Das Wort hat der Kollege Jörg Vogelsänger von der

SPD-Fraktion.






(A) (C)



(B) (D)



Jörg Vogelsänger (SPD):
Rede ID: ID1510019100

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die EU-Osterweiterung ist eine Riesen-
chance. Die EU-Osterweiterung wird eine ständige Auf-
gabe für dieses Parlament sein. Deshalb wird nicht nur
die Beantwortung der Großen Anfrage eine Gelegenheit
zur Debatte sein. Wir müssen uns fragen, ob uns eine
kontroverse Debatte weiterhilft. Wir müssen die Men-
schen gemeinsam mitnehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Erweiterung der Europäischen Union um zehn
Staaten ist die entscheidendste Veränderung in dieser Le-
gislaturperiode und die größte Chance für Europa und
Deutschland zugleich. Damit wird die Spaltung Europas
endgültig überwunden, die Deutschland besonders be-
troffen hat. Ein Dank gilt hierbei Polen, Ungarn und
Tschechien, die für erste Löcher im Eisernen Vorhang
sorgten.


(Beifall bei der SPD)

Die Erweiterung der EU hilft uns politisch, verschafft

unserer Wirtschaft neue Möglichkeiten und erhöht die
Notwendigkeit des Ausbaus der Infrastruktur. Es geht
bei der Erweiterung der EU nicht um das Ob, sondern
um das Wie, um die aktive Gestaltung dieses Prozesses.
Deshalb möchte ich auf konkrete Projekte im Infrastruk-
turbereich eingehen. Immerhin betrifft ein erheblicher
Teil der Großen Anfrage diesen Bereich. Der neue Bun-
desverkehrswegeplan ist im aktuellen Gesetzgebungs-
verfahren. Im alten Bundesverkehrswegeplan waren die
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ prägend. Diese en-
deten bei der Schiene in Berlin.

Im neuen Bundesverkehrswegeplan haben interna-
tionale Projekte ein besonderes Gewicht. Als Beispiel
seien Berlin–Stettin, Berlin–Frankfurt/Oder–Warschau
und Dresden–Prag genannt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Rahmen des EFRE-Programms werden übrigens
680 Millionen Euro EU-Mittel für den Ausbau der
Schieneninfrastruktur von 2000 bis 2006 eingesetzt. Wir
müssen eines ganz deutlich sagen: Ostdeutschland ist
Nettoempfängerland von EU-Mitteln.

Mit dem bestehenden Ausbau der Oder-Lausitz-
Straße im Verbund mit dem Ausbau der LEILA, wie im
neuen Bundesverkehrswegeplan vorgesehen, wird eine
leistungsfähige Straßenverbindung von Norden nach Sü-
den im grenznahen Raum sowie in den Wirtschaftsraum
Halle/Leipzig geschaffen, was positive Auswirkungen
auf den kleinen und großen Grenzverkehr zu unserem
polnischen Nachbarn haben wird.

Herr Kollege Türk, auch die Autobahn A 2 nach Po-
sen in Polen ist im Bau. 2007 soll sie fertig gestellt wer-
den. Das verbindet sich gut mit dem neuen Bundesver-
kehrswegeplan.

Eine besondere Situation haben wir an der Oder und
Neiße. Obwohl dort 40 Jahre die so genannte Oder-
Neiße-Friedensgrenze war, hielt sich der Ausbau der In-
frastruktur nach Polen in engen Grenzen. In den 80er-
Jahren hatte dies wegen Solidarnosc mit Sicherheit auch
einen politischen Hintergrund. Deshalb freut es mich be-
sonders, dass die neue Oderbrücke nördlich von Eisen-
hüttenstadt zusätzlich in den Bundesverkehrswegeplan
aufgenommen wurde.


(Beifall bei der SPD)

Zur Umsetzung dieses Projektes gibt es erste positive

Gespräche mit der polnischen Seite. Im Übrigen gibt es
auch zahlreiche Aktivitäten auf der kommunalen Seite.
So hat der Kreistag Oder-Spree den Wiederaufbau der
Neißebrücke bei Coschen beschlossen. Gefördert wer-
den soll das Projekt nach dem Gemeindeverkehrsfinan-
zierungsgesetz, also aus Bundesmitteln. Vielleicht soll-
ten wir solche Projekte den Herren Koch und Steinbrück
vorstellen, damit in diesem investiven Bereich mit hoher
Wirksamkeit nicht der allgemeine Kürzungsvorschlag
nach dem Rasenmäherprinzip kommt.

Brücken baut man aus Stahl und Beton. Aber es gilt
auch Brücken zwischen den Unternehmen und den Men-
schen zu bauen. Hierzu kann jeder seinen Beitrag leisten.
Das geht von Städtepartnerschaften bis zu konkreten
Gesprächen über wirtschaftliche Projekte. Optimistisch
stimmt mich, dass sich die Wirtschaft, aber auch viele
Menschen schon wie selbstverständlich auf die Ost-
erweiterung vorbereiten. Besonders junge Menschen
haben wenig Berührungsängste. An der Frankfurter Uni-
versität Viadrina, die mit Gesine Schwan eine hervorra-
gende Rektorin, aber auch eine hervorragende Kandida-
tin für das Bundespräsidentenamt hat,


(Beifall bei der SPD – Jürgen Türk [FDP]: Geschickt gemacht!)


lernen über ein Drittel ausländische Studenten, die über-
wiegend aus Polen kommen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510019200

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Thomas Silberhorn?

Jörg Vogelsänger (SPD):
Rede ID: ID1510019300

Gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510019400

Bitte schön.

Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1510019500

Herr Kollege, Sie haben auf den Bundesverkehrswe-

geplan Bezug genommen und vor diesem Hintergrund
eine Reihe von Verkehrsprojekten im Ost-West-Verkehr
genannt.


Jörg Vogelsänger (SPD):
Rede ID: ID1510019600

Richtig.

Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1510019700

Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass wir analog

zu den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ nach der






(A) (C)



(B) (D)


Thomas Silberhorn

Wiedervereinigung jetzt in Bezug auf die Osterweite-
rung der Europäischen Union auch Verkehrsprojekte
„Europäische Osterweiterung“ brauchen und dass wir
hierfür erstens diese Projekte im vordringlichen Bedarf
des Bundesverkehrswegeplans ausweisen müssten und
dass wir zweitens eine Planungsvereinfachung und Pla-
nungsbeschleunigung gesetzlich festlegen müssten, so
wie es auch bei den Verkehrsprojekten „Deutsche Ein-
heit“ geschehen ist? Darf ich Sie fragen, welche Initiati-
ven Sie dazu starten, wenn Sie das in Bezug auf die Ver-
kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ hier propagieren?


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Keine!)



Jörg Vogelsänger (SPD):
Rede ID: ID1510019800

Ich habe positive Beispiele aus dem Bundesverkehrs-

wegeplan genannt, insbesondere aus dem Land Branden-
burg. Brandenburg setzt besondere Priorität auf die
Oder-Lausitz-Straße, auch auf den Ausbau im grenzna-
hen Raum. Vielleicht sollte sich Bayern daran ein Bei-
spiel nehmen.


(Beifall bei der SPD)

Ein Satz zum Ende. Als Parlamentarier habe ich die

baltischen Staaten besucht. Beeindruckt war ich vom
Optimismus der Menschen und ihrer politischen Vertre-
ter. Vielleicht sollten wir Deutsche uns daran ein Bei-
spiel nehmen. Langfristig wird Deutschland als Export-
land und als Verkehrsdrehscheibe besonders von der
Erweiterung profitieren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510019900

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Fuchs von

der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1510020000

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Staatsminis-
ter Bury, als Sie eben darüber gesprochen haben, warum
Sie die Große Anfrage nicht beantworten konnten, und
als Sie versucht haben, diese Große Anfrage ins Lächer-
liche zu ziehen, habe ich gemerkt, wie weit diese Bun-
desregierung ist. Die Große Anfrage an Sie wurde am
27. Januar dieses Jahres gestellt und Sie haben uns jetzt
mitgeteilt, dass Sie sie im Juli beantworten können, also
zwei Monate nach der EU-Osterweiterung.


(Klaus Hofbauer [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Das heißt, diese Bundesregierung ist nicht in der Lage,
eine gar nicht so komplex gestaltete Anfrage in der rich-
tigen Zeitspanne zu beantworten. Es wäre schon ange-
bracht gewesen, sie vor der EU-Osterweiterung zu be-
antworten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie fangen wohl erst jetzt an, darüber nachzudenken.
Das ist doch Ihr Problem. Sie haben sich mit der Frage
bisher nicht beschäftigt. Sie glauben, Sie könnten mit ei-
ner Lappalie über eine solche Frage hinweggehen. Das
wundert mich sehr. Ich bin auch ein bisschen enttäuscht.
Aber das muss man bei den Antworten, die man be-
kommt, wohl jeden Tag sein.


(Günter Gloser [SPD]: Ach Gott! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind eine einzige Enttäuschung!)


Wenn Sie allein diese Woche die Berichterstattung in
der Presse verfolgt haben, konnten Sie lesen: „Wir steu-
ern gegen Osten“ oder „Keine Angst vorm Jobexport“.
Aber niemand von Ihnen hat sich richtig mit diesem
Thema beschäftigt. Was passieren wird, werden wir se-
hen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!)

Hinzu kommt eine unsägliche Patriotismusäußerung des
Bundeskanzlers, für die er sich am nächsten Tag ent-
schuldigen musste.


(Günter Gloser [SPD]: Das ist überhaupt nicht wahr! Sie haben sich nicht geändert!)


Keiner weiß etwas über die Fakten. Zu den Fakten
möchte ich einige Punkte anführen, Herr Kollege
Steenblock. Was die Beitrittsländer angeht, haben wir
nur noch mit einem einzigen der fünf großen Länder eine
positive Handelsbilanz. Mit Tschechien, Slowenien,
Ungarn und der Slowakei haben wir bereits jetzt eine ne-
gative Handelsbilanz. Sie war vor vier bis fünf Jahren
noch positiv, hat sich aber blitzartig verändert.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dann kam Rot-Grün! Dann ging sie zurück!)


Das führt dazu – um es Ihnen genau zu erklären –, dass
wir immer mehr aus diesen Ländern importieren und
dass wir in der nächsten Zeit verstärkt dort produzieren
werden.

Der Handel prosperiert. Ich bin für die EU-Osterwei-
terung und freue mich sehr darüber. Für uns liegt eine
große Chance darin, aber nur dann, wenn wir wettbe-
werbsfähig sind und bleiben. Gegenwärtig sieht es für
uns alles andere als positiv aus.

Der Wettbewerbsdruck ist durch die EU-Osterwei-
terung gestiegen und wird noch weiter zunehmen. Es
wird – Frau Kollegin Bellmann hat das sehr gut erklärt –
die neuen Bundesländer, die Grenzregionen, aber auch
Bayern – wie es der Kollege Hofbauer dargestellt hat –
besonders treffen. Darüber sollten wir uns im Klaren
sein. In unserer heutigen Debatte geht es im Prinzip um
nichts anderes als um unsere Wettbewerbsfähigkeit.
Aber davor drücken Sie sich, weil Sie genau wissen,
dass Deutschland in der Wettbewerbsfähigkeit weit hin-
terherhinkt. Alle Zahlen zeigen uns das immer deutli-
cher.


(Beifall bei der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Sie legen immer nur Oldies auf!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Fuchs

Die große Gefahr dabei ist, dass die sieben Jahre gel-

tenden schützenden Übergangsregelungen hinsichtlich
der Freizügigkeit der Arbeitnehmer blitzartig unterlau-
fen werden. Wie wir alle wissen, gibt es die Dienstleis-
tungsfreiheit. Auch eine Automobilwerkstatt ist ein
Dienstleister. Er schickt fünf Mann hierher, die ein Auto
reparieren, und schon ist die Regelung umgangen wor-
den. Darüber sollten wir uns im Klaren sein.

Des Weiteren droht die Verlagerung unserer eigenen
Arbeitsplätze in die Beitrittsländer. Denn alles, was
nicht kundennah gefertigt werden muss, kann in Zukunft
viel günstiger in Mittel- und Osteuropa gefertigt werden.
Darüber sollten wir uns ebenfalls im Klaren sein. Das
wird auch der Fall sein, wenn wir nicht schnell umsteu-
ern und Bedingungen schaffen, die den Unternehmen
das Verbleiben in Deutschland erleichtern, statt ihnen
ständig zusätzliche Belastungen aufzubürden.

Ich habe heute in der gesamten Regierungserklärung
des Bundeskanzlers nicht eine einzige Äußerung zum
Thema neue Bundesländer gehört. Er hätte sich aber
dazu äußern sollen, was in Ostdeutschland zu erwarten
ist. Es ist zwar sehr enttäuschend, aber anscheinend inte-
ressieren ihn diese Probleme nicht.

Der Kollege Scheuer hat völlig zu Recht festgestellt,
dass der Bundeskanzler in der Weidener Erklärung – wie
Sie wissen, Herr Scheuer, ist er in seinen Erklärungen
immer großartig – angekündigt hat: Wo erforderlich,
werden wir gegensteuern und abfedern. Aber was wird
tatsächlich gemacht? – Nichts. Sonst hätten wir heute si-
cherlich etwas darüber erfahren. Das Einzige, was wir
erfahren haben, ist, dass wir mit Steuererhöhungen rech-
nen müssen, weil die Eigenheimzulage endgültig abge-
schafft werden soll.


(Günter Gloser [SPD]: Sie reden aber wirklich einen Nonsens! Was wollen Sie denn eigentlich?)


Weitere Steuererhöhungen können wir in Deutschland
nicht mehr gebrauchen.


(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr Subventionen?)


Wo ist denn Ihre Hilfe für den Standort Deutschland
geblieben? Wo bleibt Ihr Einsatz dafür, dass die Bedin-
gungen in diesen Regionen verbessert werden?


(Günter Gloser [SPD]: Die Linke weiß nicht, was die Rechte tut!)


Sie werden es noch schaffen, dass alle Arbeitsplätze in
Deutschland verloren gehen. Sie werden es auch noch
schaffen, dass keiner mehr ein Interesse daran hat, in
Deutschland weiterzumachen.

Wenn Sie glauben, Sie könnten diesen Standort da-
durch verbessern, dass Sie in Zukunft eine Ausbildungs-
platzabgabe einführen, dann werden Sie feststellen müs-
sen, dass auch das letzte Unternehmen kein Interesse
mehr daran hat, an diesem Standort zu investieren. Glau-
ben Sie denn, irgendein Unternehmen würde aus Jux und
Tollerei Arbeitsplätze verlagern?

(Anna Lührmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Nur dann, wenn es dazu gezwungen ist, tut es das. Es ist
ganz simpel: Sie zwingen die Unternehmen durch Ihr
verantwortungsloses Handeln dazu. Nur dann, wenn ein
Unternehmen überhaupt keine andere Chance mehr hat,
weil es hier, in Deutschland, nicht mehr zu wettbewerbs-
fähigen Preisen produzieren kann, verlagert es Arbeits-
plätze ins Ausland. Es tut dies nur unter diesen Bedin-
gungen. Diese Bedingungen haben Sie mit Ihrer
miserablen Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren er-
zeugt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Darüber sollten wir uns im Klaren sein. Ein Unterneh-
men verlagert Arbeitsplätze nur dann, wenn die Kosten
für die Produktion in Deutschland nicht mehr durch die
erzielbaren Preise gedeckt werden können. Es handelt so
aus keinem einzigen anderen Grund.

Es gibt schon heute viele Unternehmen, die partiell
ihre Produkte im Ausland herstellen. Glauben Sie denn,
man könnte auf ein einziges deutsches Auto noch „made
in Germany“ schreiben? Nach den WTO-Richtlinien ist
das überhaupt nicht mehr möglich, weil der wesentliche
Teil deutscher Autos nicht mehr in Deutschland herge-
stellt wird. Wenn alle Teile eines deutschen Autos in
Deutschland zu deutschen Kosten hergestellt würden,
dann könnte kein einziges deutsches Auto mehr verkauft
werden. Also produziert die deutsche Automobilindus-
trie wie viele andere Industriezweige partiell im Aus-
land. Ich möchte ein Beispiel nennen: Audi stellt in
Deutschland keinen einzigen Motor mehr her; sie wer-
den alle in Ungarn gebaut. Dadurch ist Audi in der Lage,
seine Autos zu einem wettbewerbsfähigen Preis auf den
Markt zu bringen.

Sie sollten sich diesen sachlichen Gründen nicht ver-
weigern. Sie sollten vielmehr die Konsequenzen daraus
ziehen. Diese Konsequenzen können eigentlich nur lau-
ten, dass wir in Deutschland so schnell wie möglich um-
steuern und endlich anfangen müssen, wirkliche Refor-
men durchzuführen.

Außer einer Steuererhöhung habe ich vom Bundes-
kanzler heute in einer über einstündigen Rede nicht ein
einziges Wort zu einem konkreten Projekt gehört.


(Widerspruch bei der SPD – Günter Gloser [SPD]: Sie sind partiell taub!)


Was die deutsche Wirtschaft von Ihnen will, das sind
konkrete Projekte. Sie zu entwickeln, das ist auch Ihre
Aufgabe. Ich denke an Projekte, die den Arbeitsmarkt
endlich entlasten, indem sie ihn von seinen Verkrustun-
gen befreien, und an eine durchgreifende Steuerreform.
Die Kollegin Merkel hat dazu heute Morgen konkrete
Vorschläge gemacht.


(Günter Gloser [SPD]: Das war konkreter Pudding!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Fuchs

All das ist für Sie anscheinend nicht existent. Sie

wurschteln weiter und vertreiben auch noch den letzten
Arbeitsplatz aus Deutschland.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510020100

Das Wort hat jetzt die Kollegin Anna Lührmann vom

Bündnis 90/Die Grünen.

(Günter Gloser [SPD]: Das haben Füchse so an sich: Die schleichen sich weg von der Verantwortung! – Karl-Josef Laumann [CDU/ CSU]: Am besten geht die Regierung nach Polen! Dann kommen die Unternehmen zurück! – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Was soll das heißen? Diese Behauptung ist ein bisschen grenzwertig! Genau überlegen, was Sie sagen!)


– Herr Kollege Küster, Frau Kollegin Lührmann hat das
Wort.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Präsident, Herr Laumann macht hier Äußerungen, die ich nicht gutheißen kann!)



Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510020200

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Das nenne ich Fleißarbeit: Die CDU/CSU
stellt der Bundesregierung sage und schreibe 113 Fragen
zur Osterweiterung der Europäischen Union. Die schiere
Zahl soll uns hier wohl beeindrucken. Aber Quantität ist
eben nicht gleich Qualität. Und die lässt in Ihrem Fra-
genkatalog zu wünschen übrig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Summe Ihrer Fragen lässt sich auf eine einfache
Formel bringen: Die Osterweiterung birgt für die Bun-
desrepublik Deutschland vor allem eines: ein unkalku-
lierbares Risiko. Von Frage 1 bis Frage 113, meine Da-
men und Herren der Union, lese ich zwischen den Zeilen
Vorbehalte und eben nicht Freude über die historische
Wiedervereinigung der Europäischen Union.


(Klaus Hofbauer [CDU/CSU]: Die Menschen haben diese Vorbehalte!)


Sie befürchten eine massenhafte Migration. Sie fürchten
die „Überdehnung“ der Europäischen Union und sie
fürchten ein Mehr an Kriminalität.


(Unruhe bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510020300

Frau Kollegin Lührmann, machen Sie bitte einen Mo-

ment Pause.
Ich bitte die Abgeordneten in den Reihen der CDU/

CSU, ihre Konferenz einzustellen oder außerhalb des
Saales fortzusetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen möchte der Kollege Kretschmer eine
Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?


Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510020400

Bitte sehr.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510020500

Bitte schön, Herr Kretschmer.

Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1510020600

Frau Kollegin, bei aller Wertschätzung möchte ich Ih-

nen ein paar Fragen aus unserer Großen Anfrage stellen
und Sie bitten, sie zu beantworten.


(Zurufe von der SPD: Frage!)

Was wird zum Beispiel aus den Grenzspediteuren, die
am 1. Mai 2005 arbeitslos werden? Was wird zum Bei-
spiel aus dem Sicherheitsdefizit, wenn die Zöllner abge-
zogen werden und der BGS nicht kommt, um für einen
Ausgleich zu sorgen? Was sagen Sie dazu, dass es zum
Beispiel Grenzstaus von 25 Kilometern und länger gibt
– dies wird sich vom 1. Mai an nicht verringern – und
dass die Bundesregierung trotzdem nicht plant, mehr
Grenzübergänge zu öffnen oder die Tonnagebegrenzung
für regionale LKWs zu erhöhen, oder dass eine For-
schungskooperation nicht möglich ist, weil man nach
deutschem Verwaltungsrecht polnischen und tschechi-
schen Unternehmen und Forschungseinrichtungen kein
deutsches Geld geben darf?

Das sind ganz konkrete Fragen, die nichts damit zu
tun haben, dass wir etwas schlecht machen wollen. Wir
wollen vielmehr, dass die Erweiterung vernünftig vorbe-
reitet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510020700

Werter Herr Kollege, soweit ich weiß, dürfen Sie nur

eine Zwischenfrage stellen. Sie haben gerade den Vor-
wurf, den ich erhoben habe, mit der Summe Ihrer ver-
schiedenen Befürchtungen und teilweise mit Ihren Über-
treibungen hinsichtlich der Grenzöffnung bestätigt. Sie
wissen sehr wohl, dass es koordinierte Programme der
EU gibt, um die neuen Schengen-Grenzen innerhalb ge-
regelter Übergangsfristen aufzubauen. Ich kann nur die-
sen Punkt herauspicken. Ansonsten bitte ich Sie, zusam-
men mit mir in den nächsten Minuten einen nüchternen
Blick auf die Lage zu werfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wird es denn wirklich so düster? Eines vorweg: Es ist
richtig, diese Punkte aufzugreifen sowie die Ängste und
Sorgen, die es in der deutschen Bevölkerung gibt, anzu-
sprechen. Diese müssen ernst genommen werden. Das
tun wir auch. Aber ich finde die Art, wie Sie in der Öf-
fentlichkeit und insbesondere hier mit diesem Thema
umgehen, unverantwortlich;


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Genau!)







(A) (C)



(B) (D)


Anna Lührmann

denn Sie spielen mit den Ängsten der Menschen und ver-
stärken Vorbehalte, anstatt sie zu entkräften. Sie über-
treiben die Risiken und erwähnen kaum die Chancen.
Das ist fahrlässig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn Sie zum Beispiel über Migration reden – wie
Sie das in Ihrer Zwischenfrage getan haben – dann klingt
das so, als ob demnächst Millionen Osteuropäer auf den
deutschen Arbeitsmarkt strömen würden. In verschiede-
nen Studien wie in der des DIW im Auftrag der Kom-
mission hat man herausgefunden, dass lediglich 2 bis
3 Prozent der Bevölkerung in den osteuropäischen Bei-
trittsländern bereit sind, auszuwandern. Das hängt noch
von vielen ungeklärten Faktoren ab. Es gibt, wie Sie wis-
sen, zum Beispiel lange Übergangszeiten bei der Arbeit-
nehmerfreizügigkeit. Außerdem gilt es zu bedenken,
dass die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Mit-
gliedstaaten aller Voraussicht nach sehr positiv verlaufen
wird. Übrigens, vor allem junge und gut ausgebildete
Fachkräfte in den osteuropäischen Beitrittsstaaten pla-
nen, eventuell ihre Heimat gen Westen zu verlassen. Von
deren Ehrgeiz und Motivation können wir in Deutsch-
land nur profitieren.

Ich möchte ebenfalls daran erinnern, dass die gleichen
Ängste, die Sie jetzt im Zusammenhang mit der Ost-
erweiterung artikulieren, auch vor der Süderweiterung
geschürt wurden. Nichts dergleichen ist damals eingetre-
ten.


(Klaus Hofbauer [CDU/CSU]: Das ist überhaupt nicht vergleichbar!)


Im Gegenteil: Die Übergangsfristen sind vorzeitig auf-
gehoben worden, weil Portugiesen, Spanier und Grie-
chen aus den damaligen Mitgliedstaaten der EG zurück-
gegangen sind und nicht so wanderungswillig waren,
wie man uns fabulistisch hat glauben machen wollen.
Deswegen appelliere ich an die Bedenkenträger in Ihren
Reihen: Lernen Sie aus der Vergangenheit und spielen
Sie nicht populistisch mit den Ängsten der Menschen in
Deutschland!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Im Hinblick auf Ihre wirtschaftlichen Bedenken
kann ich nur sagen: Deutschland profitiert zusammen
mit Österreich schon jetzt am stärksten von der engen
Verflechtung mit den neuen Beitrittsländern. Osteuropa
ist ein attraktiver Absatzmarkt für unsere Unternehmen.
Es sind gerade die Grenzregionen, die mittelfristig den
größten Nutzen von einem vereinfachten Handel und
von der neuen Freiheit haben werden.

Allerdings hat die EU am Vorabend der Erweiterung
auch noch eine sehr entscheidende Aufgabe zu erledi-
gen. Sie muss sich eine Verfassung geben. Nur mit einer
Verfassung – hier teile ich ausnahmsweise Ihre Beden-
ken – wird die größere Europäische Union handlungsfä-
hig bleiben. Deshalb bin ich sehr froh, dass in den letz-
ten Tagen wieder Bewegung in den Verfassungsprozess
gekommen ist. Ich erwarte und hoffe, dass sich die Re-
gierungen noch in diesem Halbjahr einigen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Denn die erweiterte EU ist nur mit einer neuen Verfas-
sung auch in guter Verfassung.

Richtig ist ebenfalls, dass sich die Europäische Union
verändern muss und wird. Bei der Strukturförderung
zum Beispiel müssen die Mittel natürlich auf die Regio-
nen konzentriert werden, die am bedürftigsten sind, das
heißt auf die neuen Mitgliedsländer.


(Jürgen Türk [FDP]: Das ist so!)

Aber Panik ist in Deutschland nicht angesagt; denn die
bedürftigen Regionen in Ostdeutschland werden noch
einige Jahre Gelder aus Brüssel bekommen und die
Grenzregionen erhalten schon jetzt eine besondere För-
derung, um sich an die Veränderungen anpassen zu kön-
nen.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wenn wir in
Deutschland im Zusammenhang mit der Osterweiterung
über den Gewinn und den Verlust sprechen, dann ist es
ein beliebtes Spiel, gerade von Ihrer Seite, Nettobeiträge
minus Milchquotenzuschuss plus Strukturfondsmittel zu
rechnen. Aber diese Rechnung kann nicht aufgehen. Was
wir durch die Erweiterung gewinnen, ist unbezahlbar, ist
nicht in Geld auszudrücken.

Überlegen Sie sich doch einmal, was wir verlieren
würden, wenn die Erweiterung nicht käme! Wir würden
politische Stabilität und historisch ein vereintes Europa
verlieren. Deshalb sollte Ihnen eigentlich auch klar sein,
wofür wir hier gemeinsam argumentieren sollten. Wir
müssen die Menschen in diesem Land von den riesigen
Chancen der Osterweiterung und eines geeinten Euro-
pas überzeugen. Dabei geht es mir nicht darum, Pro-
bleme kleinzureden, sondern mir geht es darum, kon-
struktiv zu sein. Wir haben die historische Aufgabe, die
Menschen in Ost und West zu einen, statt neuen Neid
und neues Misstrauen zu säen.


(Jürgen Türk [FDP]: Unsere Absicht ist, die Leute aufzuklären und zu vereinen!)


Nur so wird die europäische Einigung zu einem Erfolg.
Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510020800

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen

Andreas Scheuer das Wort.

Andreas Scheuer (CSU):
Rede ID: ID1510020900

Herr Präsident, danke für die Möglichkeit der Kurzin-

tervention.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe mich zu

einer Kurzintervention gemeldet, weil ich damit aufräu-
men will, dass wir als Opposition in diesem Haus irgend-
welche Blockaden im Kopf haben oder irgendwelche






(A) (C)



(B) (D)


Andreas Scheuer

Friedenschancen und Sicherheitschancen nicht sehen.
Wir sehen diese Friedenschancen, diese Sicherheitschan-
cen, dieses vereinte Europa genauso wie Sie, Frau Kolle-
gen Lührmann, es in Ihrer Rede gesagt haben.

Wir sehen mittel- und langfristig auch die wirtschaft-
lichen Chancen. Aber dadurch, dass die Bundesregie-
rung bei dem Prozess der EU-Osterweiterung ab dem
1. Mai 2004 die Möglichkeiten konkreter Maßnahmen
und Handlungen verschläft, kommen wir in die Bre-
douille, dass genau diese schlechte Stimmung vor Ort
entsteht. Erklären Sie einer Fließbandarbeiterin im
Bayerischen Wald doch einmal, dass sie ihren Arbeits-
platz verloren hat, weil bei den Nachbarn drüben billiger
produziert werden kann! Erklären Sie den Menschen
einmal, dass die Infrastruktur schlecht ist, weil die Bun-
desregierung im Bundesverkehrswegeplan zur EU-Ost-
erweiterung nichts vorsieht! Erklären Sie den Menschen
einmal, dass die Chancen für einen Wirtschaftsaustausch
zwar da sind, aber die Infrastruktur – ich sage nur: A 6
Amberg, A 94 Passau – dem nicht entspricht. Die Men-
schen sehen die Chancen, aber sie sehen auch, dass die
Bundesregierung nichts zur Verbesserung der Infrastruk-
tur und zum Aufbau eines guten wechselseitigen Wirt-
schaftsklimas vorsieht. Ich könnte die Liste der Bei-
spiele endlos fortführen.

Und dann gibt es auch noch eine Beruhigungspille.
Man kündigt ein Förderprogramm an. Das kommt
dann aber nicht. Herr Staatsminister Bury, Wirtschafts-
minister Clement hat in der „Passauer Neuen Presse“ ein
Förderprogramm des Freistaats Bayern über 100 Millio-
nen in allen Tönen gelobt und gesagt: In der Bayerischen
Staatsregierung sind intelligente Menschen. Das ist der
richtige Schritt. Wir auf Bundesebene haben leider kein
Geld. Die Bayern sollen das alleine machen.

Das ist doch nicht der richtige Schritt, um Ängste, die
die Menschen vor Ort haben, aufzunehmen. Dafür be-
dürfte es konkreter Maßnahmen und konkreten Han-
delns. Das verlangen wir. Sie schaffen es aber nicht ein-
mal, diese Fragen in einer überschaubaren Zeit zu
beantworten, geschweige denn Antworten angesichts der
Ängste der Menschen zu geben.

Wir sehen die Chancen. Wir sehen alle Möglichkei-
ten, die wir durch die EU-Osterweiterung haben, aber
wir müssen konkret handeln und Lösungen bieten. Nur
dann werden wir Antworten angesichts der Ängste der
Menschen liefern können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Türk [FDP])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510021000

Frau Kollegin Lührmann, zur Erwiderung? – Bitte

schön.


Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1510021100

Sehr verehrter Herr Kollege, ich habe nichts dagegen,

wenn man konstruktiv diskutiert und konstruktiv nach-
fragt. Dafür ist das Instrument der Großen Anfrage auch
gedacht.

(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Aber es müssen auch Antworten kommen!)


Ich will Ihnen einmal eine Ihrer Fragen vorlesen. Sie
können mir die Antwort auf diese Frage dann eigentlich
selber geben. Die Frage 10 lautet:

Rechnet die Bundesregierung nach der Osterweite-
rung mit einer Zuwanderung in die bundesdeutsche
Arbeitslosigkeit, die daraus resultiert, dass die deut-
schen Lohnersatzeinkommen im Verhältnis zu den
osteuropäischen Löhnen einen starken Zuwande-
rungsanreiz nach Deutschland ausüben?

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Gute Frage!)


Diese Frage können Sie sich aufgrund der aktuellen
Rechtslage selbst mit Nein beantworten. Diese gilt ja
jetzt schon für die Bürgerinnen und Bürger der gegen-
wärtigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ein
Franzose etwa hat nicht das Recht, nach Deutschland zu
kommen, um hier Sozialhilfe zu beziehen. Das wissen
Sie genauso gut wie ich. Deshalb schüren Sie auf popu-
listische Weise Ängste, die in der Bevölkerung vorhan-
den sein mögen, wenn Sie solche Fragen wider besseres
Wissen ständig wiederholen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben keine Ahnung!)


Deshalb fordere ich von Ihnen, die Chancen der Oster-
weiterung zu betonen und konstruktiv mit den Heraus-
forderungen der Osterweiterung umzugehen, die sich
zum Beispiel in Bezug auf die Infrastruktur ergeben, die
wir bereitstellen sollen. Dieses fällt übrigens zum Teil
auch in die Zuständigkeit der Länder. Sie wissen, dass
im Bundesverkehrswegeplan eine Länderquote veran-
kert ist. Mithilfe dieser können die Länder selbst
Schwerpunkte setzen. Wir erwarten, dass die Prioritäten
insbesondere in dem Bereich gesetzt werden, der von der
Erweiterung berührt wird.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510021200

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich das Wort dem Kollegen Engelbert Wistuba
von der SPD-Fraktion.


Engelbert Wistuba (SPD):
Rede ID: ID1510021300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! In genau 36 Tagen vollendet die Eu-
ropäische Union die größte Erweiterungsrunde


(Zuruf von der CDU/CSU: Hat schon einmal einer gesagt!)


in ihrer 53-jährigen Geschichte; das wurde heute schon
erwähnt. Die vielfach beschworene historische Dimen-
sion dieses 1. Mai 2004 liegt darin, dass ab diesem Tag
die Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg zu-
mindest geographisch überwunden wird. Viel mehr
noch: Wir haben mit dem klaren Bekenntnis zu Demo-
kratie und Rechtsstaatlichkeit und mit der Verwirkli-






(A) (C)



(B) (D)


Engelbert Wistuba

chung der Idee eines gemeinsamen friedliebenden Kon-
tinents einen weiten Schritt darüber hinaus getan.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wie viele Kolleginnen und Kollegen aus diesem Haus

habe auch ich in den letzten Wochen auf Einladung der
Europäischen Kommission im Rahmen der „Initiative
pro Erweiterung“ zahlreiche Diskussionen mit Schüle-
rinnen und Schülern aus meinem Wahlkreis zur anste-
henden Osterweiterung geführt. Dabei sind mir zwei
Dinge deutlich bewusst geworden:

Erstens. Für die junge Generation in Deutschland ist
Europa zu einer absoluten Selbstverständlichkeit gewor-
den, die niemand in Zweifel stellt. Darüber bin ich sehr
froh.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zweitens. Gleichzeitig wird diese positive Grundein-

stellung zu Europa aber zunehmend von Ängsten um die
eigene Existenz überlagert. Dabei stehen Fragen zum
Arbeitsmarkt und zu wirtschaftspolitischen Themen ein-
deutig im Vordergrund. Das stimmt mich nachdenklich,
aber keinesfalls hoffnungslos; denn viele Fragen lassen
sich durchaus zufriedenstellend beantworten. Mir
scheint aber, es fehlt oftmals einfach an bereitwilligen
Gesprächspartnern. Wir Politiker sollten uns mit der
wichtigen Frage auseinander setzen, ob Europa viel-
leicht nicht mehr nur ein wünschenswerter Selbstläufer
ist, sondern wie andere Politikfelder auch immer wieder
neu erkämpft und bei den Menschen beworben werden
muss. Aus diesem Grund möchte ich an dieser Stelle alle
Kolleginnen und Kollegen auffordern, keine Kosten und
Mühen zu scheuen, sowohl vor als gerade auch nach
dem 1. Mai als Botschafter Europas durch die Lande zu
ziehen und den Menschen in Deutschland ihre Ängste zu
nehmen; denn Antworten gibt es mehr als genug.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Stichwort Arbeitsmarktzugang: Ja, es gelten fle-
xible und zeitlich begrenzte Übergangsregelungen im
Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die ein schritt-
weises Zusammenwachsen der Arbeitsmärkte ermögli-
chen. Dabei wurde ein Rahmen von maximal sieben Jah-
ren abgesteckt als auch eine entsprechende Regelung für
besonders betroffene Bereiche des Dienstleistungssek-
tors getroffen, zum Beispiel für das Baugewerbe, für In-
nendekorateure oder auch für Gebäudereiniger. Gleich-
zeitig wurden entsprechende Möglichkeiten für eine
bedarfsorientierte Zuwanderung von qualifizierten Ar-
beitskräften eröffnet.

Jetzt zum Stichwort Auswirkungen auf die deutsche
Wirtschaft: Auch hier ein klares Ja. Die Erweiterung
muss Auswirkungen auf unsere Wirtschaft haben. Dabei
gilt es jetzt insbesondere auch für kleine und mittlere
Unternehmen, Ansatzpunkte zur Stärkung und Siche-
rung ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu ermitteln und auszu-
bauen. Ich möchte die wichtigsten Vorteile der Erweite-
rung für die deutsche Wirtschaft kurz hervorheben:

Die EU-Osterweiterung schafft neue, größere und da-
mit attraktivere Märkte. Insgesamt entsteht mit 450 Mil-
lionen Einwohnern der größte Binnenmarkt der westli-
chen Welt, in dem sich Personen, Waren, Kapital und
Dienstleistungen frei bewegen können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die EU-Beitrittskandidaten und insbesondere die Nach-
barländer Polen und Tschechien bieten dabei auch dem
deutschen Mittelstand interessante Potenziale als Ab-
satz- und Beschaffungsmärkte. Sie verzeichneten seit
Mitte der 90er-Jahre ein dynamisches Wirtschaftswachs-
tum mit jährlichen Zuwachsraten von mehr als
4 Prozent. Ihr Wachstum übertraf das der heutigen EU
somit deutlich.

Fast 10 Prozent der deutschen Exporte gehen bereits
in diese Länder, die damit für den deutschen Export
schon jetzt so bedeutend wie die USA sind. Von den sich
weiter vertiefenden Wirtschaftsbeziehungen zu den Bei-
trittsländern geht zudem ein Wachstumsimpuls auch für
den Binnenmarkt aus, der für viele Mittelständler einen
wichtigen Absatzmarkt darstellt.

Zu den ernst zu nehmenden Wahrheiten der EU-Ost-
erweiterung gehört allerdings auch, dass sie neue Wett-
bewerber hervorbringen wird. Dabei werden von der
Erweiterung vor allem technologisch fortgeschrittene
und kapitalintensive Bereiche profitieren. Dagegen wer-
den Wirtschaftsbereiche mit hohem Arbeitskostenanteil
und unterdurchschnittlichen Qualifikationen unter An-
passungsdruck auch in ihrem Heimatmarkt kommen.

Einen entscheidenden Aspekt gebe ich allerdings zu
bedenken: Aus ökonomischer Perspektive erfolgt die
Grenzöffnung nicht erst mit dem 1. Mai 2004; vielmehr
ist sie bereits seit Beginn der 90er-Jahre in vollem
Gange.


(Beifall bei der SPD)

So kommt das Institut für Wirtschaftsforschung
Halle, das IWH, in einer gestern vorgestellten Studie zu
folgendem Schluss:

Im Bereich des Einzelhandels sowie bei den haus-
haltsnahen Dienstleistungen nutzen die Bewohner der
Grenzregionen schon seit 1991 rege die Angebote jen-
seits der Grenze. Auch hinsichtlich des Investitionsge-
schehens sowie des Güterhandels ist nach dem 1. Mai
2004 nicht mit einer dramatischen Änderung der Situa-
tion zu rechnen.

Chancen wie Herausforderungen der EU-Osterweite-
rung machen jedoch eine frühzeitige Anpassung für den
Mittelstand notwendig. Die Bundesregierung verfolgt
daher im Rahmen ihrer Informations- und Kommunika-
tionsstrategie das Ziel, gemeinsam mit den Einrichtun-
gen der Wirtschaft die Unternehmen zu sensibilisieren,
damit sie zum einen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem
angestammten heimischen Markt verbessern und zum
anderen die neuen Geschäftsmöglichkeiten nutzen.
Eigenkapitalschwächen sollen zum Beispiel durch Ko-
operationen mit mehreren Partnern kompensiert werden.

Auch für die Grenzregionen bietet die EU-Osterwei-
terung große Chancen, Herr Hofbauer, da diese schritt-
weise aus ihrer Randlage heraustreten und von ihrer






(A) (C)



(B) (D)


Engelbert Wistuba

neuen Rolle als Bindeglied zu den Beitrittsländern wirt-
schaftlich profitieren können. Von der EU-Osterweite-
rung geht allerdings auch ein zusätzlicher struktureller
Anpassungsdruck aus, von dem die Regionen an der
Grenze zu den Beitrittsländern besonders betroffen sind.
Zur Vorbereitung der Grenzregionen steht ein breites
Spektrum von Maßnahmen seitens der EU, des Bundes
und der Länder zur Verfügung. So können die Grenzre-
gionen in der Förderperiode 2000 bis 2006 an Fördermit-
teln der EU-Programme in Höhe von insgesamt
16,3 Milliarden Euro partizipieren. Der größte Teil geht
in den Ausbau der Infrastruktur; das verbessert auch die
Standortbedingungen der kleinen und mittleren Unter-
nehmen vor Ort.

Die Vorteile der EU-Osterweiterung werden uns aber
nicht in den Schoß fallen. Deshalb freut es mich, dass
auch das IWH in seiner genannten Analyse zu dem
Schluss kommt, dass unsere Unternehmen die Zeit der
Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit
und Dienstleistungsfreiheit aktiv nutzen müssen, wenn
sie eine mittelfristige Chance auf dem erweiterten
EU-Binnenmarkt haben wollen. Das bedeutet vor allem,
ihre Qualität und ihren Service weiter zu verbessern, um
sich von der Konkurrenz abheben zu können. Aktives
Handeln, so das IWH, heiße übrigens auch, um Kunden
aus Polen und Tschechien zu werben und in Geschäften,
Restaurants, Reisebüros oder Handwerksbetrieben pol-
nisch oder tschechisch zu sprechen.

Die EU-Osterweiterung ist in ihrer Konstruktion
keine Einbahnstraße von Ost nach West. Dass dieses An-
gebot auf Gegenseitigkeit auch von den Menschen in
Deutschland entsprechend aufgenommen und genutzt
wird und dass die leider noch existierenden Barrieren in
den Köpfen überwunden werden, ist auch Aufgabe der
Politik in diesem Land. In diesem Sinne rufe ich allen
Kolleginnen und Kollegen zu: Die Ampeln stehen auf
Grün, gehen wir voran!

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510021400

Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren

Marks, Christel Humme, Sabine Bätzing, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard
Schewe-Gerigk, Jutta Dümpe-Krüger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Ausbau von Förderungsangeboten für Kinder
in vielfältigen Formen als zentraler Beitrag öf-
fentlicher Mitverantwortung für die Bildung,
Erziehung und Betreuung von Kindern
– Drucksache 15/2580 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Haupt, Ina Lenke, Cornelia Pieper, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Faire Chancen für jedes Kind – Für eine bes-
sere Bildung, Erziehung und Betreuung von
Anfang an
– Drucksache 15/2697 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Fischbach, Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Ausbau und Förderung der Tagespflege als
Form der Kinderbetreuung in der Bundesre-
publik Deutschland
– Drucksache 15/2651 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, Antje Blumenthal,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Frauen und Männer beim Wiedereinstieg in
den Beruf fördern
– Drucksache 15/1983 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Interfraktionell ist vereinbart, dass die Reden zu Pro-
tokoll gegeben werden. Das sind die Reden der Kolle-
ginnen und Kollegen Kerstin Griese, Rita Streb-Hesse,
Caren Marks und Anton Schaaf von der SPD, Maria






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Eichhorn und Rita Pawelski von der CDU/CSU, Ekin
Deligöz vom Bündnis 90/Die Grünen und Klaus Haupt
von der FDP.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/2580, 15/2697, 15/2651 und
15/1983 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael
Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Mülltrennung vereinfachen – Haushalte ent-
lasten
– Drucksache 15/2193 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss fürWirtschaft und Arbeit

Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen,
wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die antrag-
stellende FDP-Fraktion hat die Kollegin Birgit
Homburger.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1510021500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

freue mich, dass wir heute Abend die Gelegenheit haben,
den Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Mülltren-
nung vereinfachen – Haushalte entlasten“ zu beraten. Ich
denke, dass uns dieses Thema noch öfter beschäftigen
wird.

Vor knapp 15 Jahren waren die Müllberge bedrohlich
hoch. Die Bundesregierung hat damals vor dem Hinter-
grund dieses drohenden Müllnotstandes und angesichts
der Tatsache, dass immer mehr Verpackungsabfälle an-
fielen, eine Verpackungsverordnung erlassen. Sie hat da-
mit die Notbremse gezogen. Die Hersteller und Vertrei-
ber von Produkten wurden zur Zurücknahme ihrer
Verpackung verpflichtet. Sie sollten angehalten werden,
„vom Abfall her zu denken“, also eine Produktverant-
wortung zu übernehmen. Dazu mussten die Verpackun-
gen „in stofflich verwertbarer Qualität“ aussortiert wer-
den.

Die Trennung wurde im Zuge der Rücknahme durch
das Duale System Deutschland organisiert, sodass neben
der Restmülltonne in der Regel ein gelber Sack oder eine
gelbe Tonne eingeführt wurde. Für die Bürgerinnen und
Bürger bedeutet das vor allen Dingen einen höheren
Trennaufwand. Es bedeutet aber auch, dass die Lizenz-
gebühren für den Grünen Punkt im Prinzip über die Pro-
duktverpackungen mitbezahlt werden müssen.
1) Anlage 3
Mit der Verpackungsverordnung wurden zweifellos
große Erfolge und ökologische Verbesserungen erzielt.
Der jährliche Verpackungsverbrauch ist zwischen den
Jahren 2001 und 1991 um gut 672 000 Tonnen zurück-
gegangen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist auch gut so!)


Dank der Verpackungsverordnung wurden Müllberge
verringert und der seinerzeit drohende Müllnotstand
wurde verhindert.

Seither hat sich viel verändert. Die Verpackungsver-
ordnung ist technisch überholt und völlig veraltet.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das stimmt!)

Die dadurch veranlasste Mülltrennung muss ebenfalls
überdacht werden. Früher war die manuelle Mülltren-
nung Grundvoraussetzung für eine hochwertige stoffli-
che Verwertung von Abfällen. Zwischenzeitlich gab es
aber einen enormen technischen Fortschritt. Neuartige,
vollautomatisierte Abfalltrenn- und -sortiersysteme
wurden entwickelt. Es ist also nicht mehr erforderlich,
den Abfall im bisherigen Umfang in den Haushalten per
Hand zu trennen, um ihn stofflich in hochwertiger Weise
verwerten zu können.


(Beifall bei der FDP)

Diese Entwicklung muss man auch vor dem Hinter-

grund sehen, dass die manuelle Trennung nicht vernünf-
tig funktioniert. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage
der FDP-Fraktion musste die Bundesregierung einräu-
men, dass in Einzelfällen im Restabfall höhere Verpa-
ckungsmengen als im gelben Sack enthalten sind. Das
muss man sich einmal vorstellen.

Um es deutlich zu sagen: Die Rückkehr zu einer ein-
zigen Mülltonne steht überhaupt nicht zur Diskussion.
Selbstverständlich sollen Bioabfälle, Papier, Glas und
problematische Abfälle getrennt gesammelt werden –
auch zukünftig. Aber alles andere kann mit modernen
vollautomatischen Trenn- und Sortieranlagen wesentlich
schneller, zuverlässiger und auch kostengünstiger erle-
digt werden.


(Beifall bei der FDP)

Testläufe zeigen, dass bei der Mülltrennung in auto-

matisierten Anlagen sogar mehr Wertstoffe und Verpa-
ckungsmaterialien verwertet werden können als bei der
getrennten Sammlung über das DSD; denn diese Anlagen
können den Müll sehr viel sauberer trennen, als es von
Hand möglich ist. Ich weise in diesem Zusammenhang
darauf hin, dass diese Testläufe nicht in Versuchsanlagen
durchgeführt worden sind, sondern in ganz normalen An-
lagen, in denen im Augenblick im Wesentlichen Leicht-
verpackungen, also der Inhalt von gelben Säcken, sortiert
werden.

Bereits heute müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass
im gelben Sack Restmüllanteile von bis zu 54 Prozent
enthalten sind. In 2002 betrug die Menge der in Sammel-
systemen für Leichtverpackungen gesammelten Abfälle
rund 2,3 Millionen Tonnen. Der Verwertung wurden da-
von allerdings nur 1,4 Millionen Tonnen zugeführt. Das






(A) (C)



(B) (D)


Birgit Homburger

entspricht 58 Prozent der insgesamt gesammelten
Menge. Dieser Überschuss von 1 Million Tonnen kommt
durch Fehlwürfe zustande und ist de facto Restmüll. Das
bedeutet also, dass schon heute maschinell Restmüll aus-
sortiert und der Entsorgung zugeführt wird. Das bedeutet
aber auch, dass zwischenzeitlich eine maschinelle Tren-
nung funktioniert.


(Beifall bei der FDP)

Deswegen halte ich fest, dass die haushaltsnahe Müll-

trennung keine Voraussetzung mehr für eine hochwer-
tige Abfallverwertung ist. Die Bürgerinnen und Bürger
können also von unnötigem Sammelaufwand einerseits
und von unnötigen Kosten andererseits entlastet werden –
und das Ganze ohne ökologische Abstriche. Im Gegen-
teil: Es könnte sogar eine bessere Verwertungsquote als
bisher erreicht werden.


(Beifall bei der FDP)

Ich fasse zum Schluss zusammen: Die technischen

Möglichkeiten sind gegeben. Selbst wenn man jetzt der
Meinung ist, man möchte weitere Details in zusätzlichen
Versuchen klären, ist es jetzt zumindest nötig, politisch
die Weichen zu stellen. Denn wenn wir jetzt nicht über
diese Sache diskutieren, werden wir nicht in fünf Jahren
die Abschaffung der gelben Tonne bzw. des gelben
Sacks erreichen können. Dann wird das alles noch sehr
viel länger dauern. Insofern stoßen wir diese Diskussion
heute an, um beizeiten die notwendigen Entscheidungen
zu treffen, um die Bürgerinnen und Bürger entlasten zu
können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510021600

Das Wort hat die Kollegin Petra Bierwirth von der

SPD-Fraktion.

Petra Bierwirth (SPD):
Rede ID: ID1510021700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-

trennt sammeln, ja oder nein, Ökologie kontra Ökono-
mie, Liberalisierung mit oder ohne Daseinsvorsorge,
Abfall als Ware oder doch eher als ein besonders zu be-
achtendes Gut, die Verantwortung der Abfallproduzen-
ten und die Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger – all
das steckt in Ihrem Antrag, werte Kollegen von der FDP.
Ich berichte Ihnen sicherlich nichts Neues, wenn ich da-
rauf hinweise, dass die FDP ihre Forderungen getreu
dem Motto „Gewinne privatisieren, Verluste verstaatli-
chen“ gestrickt hat. Meiner Meinung nach steckt dieser
Antrag voller Tücken und Behauptungen, die überhaupt
noch nicht bewiesen sind; denn ich meine, der aktuelle
Stand der Technik ist noch lange nicht an dem Punkt an-
gekommen, wie Sie es uns gerade dargestellt haben.

Es ist richtig: Es gibt kleine Versuche, die gezeigt ha-
ben, dass die Technik heute besser als gedacht ist. Aber
von einem bahnbrechenden Innovationssprung, wenn
man das erneute Zusammenwerfen von Abfällen so be-
trachten will, vermag ich nicht zu sprechen.


(Jürgen Türk [FDP]: Man sollte sich das einmal gemeinsam angucken!)

Wenn Sie die Versuchsauswertung richtig betrachtet
haben, werden Sie bemerkt haben, dass die Firmen, die
diese Versuche durchgeführt haben, selber gesagt haben
– das kann man auch in Presseerklärungen lesen –, dass
sie sehr dafür plädieren, die getrennte Erfassung, die
jetzt stattfindet, nicht aufzugeben, zumal diese Versuche
auch unter dem Gesichtspunkt „Beibehaltung der ge-
trennten Erfassung“ durchgeführt worden sind. Diese ist
in diesen Versuchen nicht aufgegeben worden.


(Birgit Homburger [FDP]: Auch wir wollen die getrennte Sammlung beibehalten, mit Ausnahme von gelb und grau!)


Auch ich als Ingenieurin bin technisch begeisterungs-
fähig. Aber ich habe gelernt, Vorsicht walten zu lassen,
wenn mir irgendjemand eine Technik als Allheilmittel
anpreisen will. Sie wissen ja sicherlich, dass Ingenieure
getreu dem Motto „Einem Ingenieur ist nichts zu
schwör“ zu allem fähig sind. Die Frage, die wir uns stel-
len müssen, lautet aber: Zu welchem Preis tun wir das?
Wird am Ende der Kostendruck, der durch eine zu eu-
phorisch gepriesene Technologie ausgelöst wird, über
Lohn- und Ökodumping ausgeglichen? Hierzu nenne ich
nur das kurze Wort: ALBA.

Mich erschreckt ein wenig, dass die zwei Jahrzehnte
andauernde Diskussion über die Abfallpolitik und die
Hierarchie im Umgang mit Abfällen, also die Erkennt-
nis, dass in Abfällen Rohstoffe stecken, heute in einer so
genannten Verbrennungsmanie enden soll.


(Birgit Homburger [FDP]: Das ist doch Quatsch! Wir werden mehr verwerten und weniger verbrennen!)


Denn aus meiner Sicht bedeutet das Ende der Getrennt-
sammlung Verbrennung um jeden Preis inklusive Ab-
falltourismus. Darüber müssen wir uns im Klaren sein.
Ich bin mir ganz sicher, dass auch Sie wissen, wohin
diese Reise gehen soll.


(Birgit Homburger [FDP]: In das Gegenteil von dem, was Sie behaupten!)


Wir hätten uns dann den Umweg über die Verpackungs-
verordnung eigentlich sparen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie wollen, wie wir in Ihrem Antrag nachlesen kön-

nen, lediglich Bioabfälle, Papier, Pappe, Karton und
Glas weiterhin getrennt sammeln. Das hatten wir irgend-
wann schon.

Aber die Produktverantwortung bliebe auf der Stre-
cke; denn es besteht für Sie keinerlei Interesse, auch Ma-
terialverbunde und innovative Verpackungen wieder in
den Stoffkreislauf zurückzuführen. Außer den genannten
Fraktionen wollen Sie ja keine weiteren trennen. Natür-
lich – das wissen wir – können moderne Infraroterken-
nungssysteme schon heute Erstaunliches leisten. Aber
die Menge, die nach Ihrem Modell über die Laufbänder
gehen müsste – da bin ich mir ziemlich sicher –, wird die
Fehlerhäufigkeit erhöhen,


(Birgit Homburger [FDP]: Versuche sagen anderes!)







(A) (C)



(B) (D)


Petra Bierwirth

sodass in meinen Augen eine sinnvolle, ökologische
Verwertung dann nur noch eine Alibifunktion hätte.

Damit bin ich an dem Punkt angelangt, dass Sie mit
Ihrem Antrag eigentlich eine ganz andere Philosophie
verfolgen. Wir alle wissen: Der Abfallmarkt hat seine
Grenzen erreicht. Gewinne können nur dann noch ver-
größert werden, wenn entweder an den Mitarbeitern ge-
spart wird oder die Standards herabgesetzt werden. Es
gibt noch eine dritte Möglichkeit: Das ist der Zugriff auf
die Gebührentöpfe der Kommunen. Am Ende dieser
Kette steht der Griff in das Portemonnaie der Gebühren-
zahler.

Die Neuausrichtung der Abfallpolitik in Ihrem Sinne
führt zwangsläufig zu einer veränderten Zuständigkeit
für die Abfälle nach heute geltendem Recht. Es sollen
Ersatzbrennstoffe aus Müll hergestellt werden – über
deren Qualität sollten wir ein anderes Mal sprechen,
nicht heute – und diese sollen dann als energetische Ver-
wertung aus dem gesamten Kuchen der Siedlungsabfälle
herausgebrochen werden. Was heißt das? Den in der Re-
gel kommunalen Müllverbrennungsanlagen blieben die
kaum brennbaren Reste. Damit ist in meinen Augen ein
Absatzmarkt für die privatisierten Ersatzbrennstoffe
– denn verwertbare Abfälle werden von den Gerichten
zunehmend in private Hände geschoben – gefunden. Der
Zugriff auf den Gebührenhaushalt ist somit erfolgreich
vollzogen.

Ich möchte hier eine Lanze für die duale Abfallwirt-
schaft brechen. Wir haben eine gut funktionierende und
gut organisierte Abfallwirtschaft. Wir sind Weltmeister
im Trennen. Man kann im Bericht des Statistischen
Bundesamtes mit den Zahlen von 2002, der gerade ver-
öffentlicht wurde, nachlesen, dass nach wie vor gerade
in den Privathaushalten eine sehr hohe Bereitschaft zur
Trennung besteht.


(Birgit Homburger [FDP]: Warum lassen Sie es machen, wenn man es nicht braucht?)


Wir sind auch Weltmeister im Verwerten von Abfällen.
Nicht alles ist ökologisch sinnvoll, was machbar er-

scheint, aber im Großen und Ganzen funktioniert die
deutsche Abfallwirtschaft; sie ist gewährleistet. An an-
derer Stelle sollten wir uns einmal über Standards für die
Verwertung unterhalten und klare Trennlinien zwischen
privat und öffentlich organisierter Abfallwirtschaft zie-
hen. Die Getrenntsammlung als Baustein der Verwer-
tungsindustrie werden wir nicht aufgeben.

Eine große Mehrheit der Bevölkerung sieht den eige-
nen Umgang mit Abfall und die Mülltrennung als einen
Kernpunkt der Umweltpolitik im Kleinen an. Ich denke,
dass Getrenntsammlung auch ein erzieherisches Mittel
ist, das bewirkt, einmal darüber nachzudenken, was für
ein Konsumverhalten wir an den Tag legen.


(Birgit Homburger [FDP]: Das ist wieder typisch! Die Leute erziehen wollen!)


Wenn Sie sagen, Sie wollen die Haushalte entlasten,
dann freue ich mich, dass Sie auch mich bei der Hausar-
beit entlasten wollen. Doch für mich ist es überhaupt
kein Problem, den Müll zu Hause zu sammeln.

(Birgit Homburger [FDP]: Vielleicht haben Sie mehr Platz als manch anderer Bürger!)


Wir sind das gewohnt. Das ist eine gute Sache. Wir leh-
nen Ihren Antrag ab.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510021800

Das Wort hat die Kollegin Tanja Gönner von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Tanja Gönner (CDU):
Rede ID: ID1510021900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir de-
battieren heute zwar über einen sehr kurzen Antrag, aber
es ist ein Antrag mit weit reichenden Folgen für die Ver-
braucher und die gesamte Entsorgungswirtschaft.

Seit über zehn Jahren sind vermutlich die hier Anwe-
senden der Ansicht, dass Mülltrennung eine sinnvolle
Sache ist. Bei jedem Pappkarton, jedem Konservenglas
und jeder Plastikverpackung, die man fein säuberlich ge-
trennt einem der vielen farbigen Trenngefäße eines um-
weltbewussten Haushaltes zukommen lässt, hat man das
Gefühl, wieder ein bisschen für die Zukunft unseres Pla-
neten getan zu haben.

So ironisch ich es jetzt auch formuliert haben mag:
Das ist die Realität in Deutschland und zunehmend auch
in Europa. Eine ganz banale, alltägliche Handlung liefert
einen messbaren Beitrag zur Umweltbilanz unseres Lan-
des. Diese Verhaltensweise haben wir alle in den vergan-
genen zehn Jahren den Bürgerinnen und Bürgern in
Deutschland mit großem Erfolg vermittelt.

Eine Studie des Instituts für Demoskopie in Allens-
bach aus dem März dieses Jahres über die Einstellung
der Bevölkerung zur Reduzierung der Verwertungsan-
teile bei Verpackungsabfall bestätigt dies eindrucksvoll.
71 Prozent der Befragten sprechen sich heute für das
Sammeln und das Recycling von Abfällen aus. 66 Pro-
zent sind für eine Wiederverwertung trotz höherer Kos-
ten gegenüber einer Verbrennung. Nur 24 Prozent sind
hier für die Verbrennung.

Besonders interessant ist die Einstellung der Bürger
zur Getrennthaltung. 53 Prozent sind für eine Beibehal-
tung der Getrennthaltung und nur 17 Prozent dagegen.
Diese Ergebnisse zeigen: Die Getrenntsammlung ist
heute eines der erfolgreichsten Umweltschutzprojekte
der Bundesrepublik Deutschland. Nun steht dieses Er-
folgsrezept aufgrund neuer technischer Erkenntnisse auf
dem Prüfstand und soll neu überdacht werden.

Lassen Sie mich kurz an den Anfang der Entwicklung
zurückkehren. Denn bevor man Altbewährtes über Bord
wirft, sollte man sich bewusst machen, welche Bedeu-
tung es hat. In den 80er- und 90er-Jahren waren Verpa-
ckungsabfälle das Symbol der Wegwerfgesellschaft und
trugen erheblich zum damaligen Müllnotstand bei.
Deutschland schien Anfang der 90er im Müll zu versin-
ken. Politische Antworten waren gefragt. Sie wurden in






(A) (C)



(B) (D)


Tanja Gönner

Form des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes bzw.
der Verpackungsverordnung gegeben.

Die Einführung der Verpackungsverordnung durch
CDU/CSU und FDP 1991 war ein großer Durchbruch.
Produzenten und Verbraucher waren aufgefordert, Um-
weltschutz aktiv zu praktizieren. Die Unternehmen lie-
ßen sich durch die Produktverantwortung in die Pflicht
nehmen, ihre Abfälle zu vermeiden und zu verwerten
– mit Erfolg: Der jährliche Verpackungsverbrauch ist
seit dem In-Kraft-Treten der Verpackungsverordnung
um 1,4 Millionen Tonnen zurückgegangen. Allein im
Bereich der Verkaufsverpackungen, die beim privaten
Endverbraucher anfallen, ging der jährliche Verbrauch
um rund 850 000 Tonnen zurück.

Auch die Bürger engagieren sich ausgesprochen
stark. Sie wurden zu Experten der Mülltrennung und
machten so die Verwertung erst möglich. Jeder Einzelne
leistete auf diese Weise einen Beitrag zur Nachhaltigkeit.
Dies wirkte sich aber auch weitergehend auf das gesamte
Umweltbewusstsein der Menschen aus.

Nun aber genug zur Vergangenheit. In jüngster Zeit
wird immer wieder, wie auch jetzt im Antrag der FDP,
die Getrennterfassung infrage gestellt. Es wird als quasi
erwiesen dargestellt, dass eine Getrenntsammlung tech-
nisch nicht mehr erforderlich, wirtschaftlich teurer und
ökologisch verzichtbar sei. Es ist leicht, anhand klein-
räumiger Vorversuche und Medienberichte solche Be-
hauptungen aufzustellen. Aber halten sie einer grund-
sätzlichen Prüfung stand?


(Birgit Homburger [FDP]: Ich habe die ganzen Anlagen angeschaut!)


– Birgit Homburger, auch ich kenne eine Sortieranlage.

(Birgit Homburger [FDP]: Nicht nur eine! Alle!)

Die Sachlage gestaltet sich doch momentan folgen-

dermaßen: Durch die Vorgaben der Verpackungsverord-
nung war die Wirtschaft gezwungen, die ihr übertragene
Produktverantwortung zu übernehmen. Sie hat dies ak-
zeptiert und mit großem Erfolg umgesetzt. Mithilfe
weitreichender Investitionen in moderne Sortier- und
Verwertungstechnologien konnten Leichtverpackungen
sortiert und vor allem auch sortenreine Kunststofffrakti-
onen zur wertstofflichen Verwertung extrahiert werden.

Trotz all dieser Lobeshymnen ist dies kein Aufruf zur
Stagnation. Ich bin nicht dafür, sich auf vergangenen Er-
folgen auszuruhen und die Hände in den Schoß zu legen.
Natürlich sind die Fortschritte in der Sortier- und Ver-
wertungstechnologie äußerst interessant. Es sollte genau
beobachtet werden, ob das Ziel, verwertbare Fraktionen
auch aus Abfallgemischen auszusortieren, erreicht wer-
den kann. Natürlich ist es ebenfalls sinnvoll, bei Vorlage
einer gesicherten Datengrundlage die bestehenden Sys-
teme dem neuesten Stand der Technik anzupassen.

Genau da liegt der größte Stein des Anstoßes im An-
trag der FDP. Wie der Anfrage der FDP an die Bundesre-
gierung zu entnehmen ist, beruht die Datengrundlage
der FDP im Wesentlichen auf einem „Plusminus“-Be-
richt und einem Pilotversuch eines Entsorgungsunter-
nehmens in Nordrhein-Westfalen.


(Birgit Homburger [FDP]: Auf einem Bericht der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg!)


Diese Projekte können nur als Vorversuche bezeichnet
werden. So werden sie auch von den entsprechenden
Entsorgungsunternehmen genannt. Das kann aber keine
ausreichende Basis für eine derartige Umstrukturierung
der gesamten Entsorgungswirtschaft sein. Die Zielset-
zung muss nach wie vor eine hochwertige Verwertung
im besten ökologischen Rahmen sein.


(Birgit Homburger [FDP]: Genau!)

In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt

bleiben, dass eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die sich
intensiv mit dieser Frage beschäftigt hat, zu folgendem
Schluss kam:

Im Ergebnis lässt sich … keine fachlich begründete
Veranlassung ableiten, die bisher praktizierte Ge-
trenntsammlung von Verkaufsverpackungen, auch
der kleinteiligen Kunststoffverpackungen, aus öko-
logischen Gründen aufzugeben.

Noch unverständlicher wird der Antrag der FDP für
mich


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das kann ich mir gar nicht vorstellen!)


aufgrund der Tatsache, dass bereits zahlreiche Testreihen
und Pilotprojekte laufen, ihre Ergebnisse aber noch nicht
vorliegen. Warum dieser voreilige Aktionismus?


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Was?)

In spätestens ein bis zwei Jahren werden wir zu den Fra-
gen, die vor einer Aufgabe der Getrennthaltung beant-
wortet werden müssen, ausreichendes Material zur Ver-
fügung haben. Erst dann werden wir in der Lage sein,
eine wirklich sachkundige und zuverlässige Entschei-
dung zur Zukunft der Getrennthaltung zu treffen.


(Birgit Homburger [FDP]: Das geht schon jetzt!)


Es ist die Verpflichtung der Politik, nur anhand einer ge-
sicherten Datenbasis zu handeln und nicht vorschnell
Wunschvorstellungen hinterher zu jagen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich Ihnen ei-
nige Beispiele nennen, damit deutlich wird, auf welch
breiter Basis uns bald Daten zur Verfügung stehen wer-
den, die wir abwarten sollten. Die Entsorgerwirtschaft,
das Duale System Deutschland, einige Länder und an-
dere Beteiligte haben sich Gedanken über die technische
Weiterentwicklung der Sortier- und Verwertungstech-
nologien gemacht. Sie sind dabei, zu testen, inwieweit
neue Sortier- und Aufbereitungstechnologien zu einer
Vereinfachung der heutigen Erfassungsstruktur beitragen
können. Zum Teil in Zusammenarbeit oder in Einzelini-
tiativen erproben sie die gemeinsame Sortierung von
Leichtverpackungen und Restmüll sowie die Eignung
des Trockenstabilatverfahrens für die gemeinsame Auf-
bereitung von Restmüll und Leichtverpackungen.






(A) (C)



(B) (D)


Tanja Gönner

Sie suchen dabei unter anderem Antworten auf fol-

gende Fragen: Welche Mengen an verwertbaren Materia-
lien können mithilfe moderner Sortiertechnologien er-
zielt werden? Wie gut ist die Materialqualität der
aussortierten Abfallstoffe? Wie hoch sind die Einsparun-
gen bei einer Vereinfachung der Erfassungsstruktur? Was
kostet demgegenüber die Aussortierung des Restmülls?
Welche weiteren Kosten wird es durch die Umrüstung
der Anlagen, den Verlust von Arbeitsplätzen, die erhöhte
Frequenz der Abholung des Restmülls etc. geben?

So finden zum Beispiel zu folgenden Themen Unter-
suchungen statt: zur Sortierung von gemischten Abfällen
aus Restmüll und Leichtverpackungen, zur Frage, inwie-
weit Trockenstabilat aus gemischten Müllfraktionen her-
gestellt werden kann, zur Zusammenführung von gelber
Tonne und Elektroschrott und zur so genannten trocke-
nen Kunststofftonne, also zur Sammlung aller Kunst-
stoffabfälle in einer Tonne.

Meine Damen und Herren, diese Liste ließe sich noch
um einige Punkte verlängern. Aber diese Projekte de-
cken all die Fragen ab, die momentan noch nicht geklärt
sind.


(Birgit Homburger [FDP]: Wenn man nicht entscheiden will, macht man ein Projekt!)


Momentan können wir nur mit Sicherheit sagen, dass
Mischungen aus Restmüll und Leichtverpackungen tech-
nisch sortierbar sind. Aber bezüglich der Qualität, der
Verwertbarkeit und der Kosten der sortierten Produkte
gibt es enorme Unsicherheiten.

Aus diesem Grund ist es für mich nicht nachvollzieh-
bar, warum wir diese Ergebnisse nicht abwarten sollten.
Über die technischen Probleme hinaus gibt es noch an-
dere Aspekte, die der Klärung bedürfen, bevor wir an-
fangen, neue Konzepte für die Abfallwirtschaft zu ge-
stalten. Der entscheidende Punkt sind dabei die Kosten.
In Deutschland stehen derzeit Sortierkapazitäten für
circa 2,5 Millionen Tonnen Leichtverpackungen zur Ver-
fügung. Bei gemeinsamer, flächendeckender Erfassung
müssten aber Kapazitäten für jährlich 15 Millionen Ton-
nen geschaffen werden.

Es stellen sich also die Fragen, wie hoch die Kosten
für ein solches System sind und wer sie übernehmen
soll. Wie hoch mögliche Kosteneinsparungen sein könn-
ten, weiß derzeit niemand. Im Gegenteil, eher steht zu
erwarten, dass es bei gemeinsamer Sammlung und an-
schließender Aussortierung zu einem weiteren Kosten-
anstieg käme.


(Birgit Homburger [FDP]: Sicher nicht!)

Zudem stellt sich die Frage, wie bzw. wem die Kosten
zugeordnet würden.

Als weiteren Punkt möchte ich auf die rechtliche
Lage hinweisen. Sowohl die Verpackungsverordnung
und das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz als auch
die EU-Verpackungsrichtlinie schreiben derzeit eine Ge-
trennterfassung vor.


(Birgit Homburger [FDP]: Das stimmt nicht! – Dirk Niebel [FDP]: Wenn die Birgit sagt: „Das stimmt nicht“, dann ist das so!)

Last, but not least ist da noch die Produktverantwortung.
Auch sie würde durch die Aufgabe der Getrennterfas-
sung letztlich ausgehebelt, und das in einer Zeit, in der
die Diskussion auf EU-Ebene gerade auf mehr Produkt-
verantwortung hinausläuft.

Abschließend möchte ich sagen, dass ich froh bin,
dass die FDP in ihrem Antrag von dem Tenor ihrer Klei-
nen Anfrage, der völligen Aufgabe der Getrennterfas-
sung, abweicht und jetzt nur noch eine Abschaffung für
bestimmte Abfallfraktionen fordert. Der Antrag bleibt
zwar konkrete Ansätze schuldig, aber über eine Erweite-
rung der gelben Tonne um bestimmte Fraktionen aus der
grauen Tonne – oder umgekehrt – können wir nach Ab-
schluss der Pilotprojekte noch einmal diskutieren. Eine
völlige Aufgabe der Getrennterfassung, also ein Ein-
Tonnen-System, bleibt meiner Ansicht nach vorerst Uto-
pie. Die Möglichkeiten, die aufgrund der bisherigen Da-
tengrundlage denkbar wären, erlauben maximal die Ein-
sparung eines der Standardsammelsysteme.


(Birgit Homburger [FDP]: Immerhin!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, mit der

letzten Forderung in Ihrem Antrag, die Bundesregierung
solle „ein überarbeitetes Konzept für eine zukunftsfähige
Abfallwirtschaftspolitik“ vorlegen, stimme ich voll und
ganz überein. Diese Forderung ist ja leider schon sehr oft
erfolglos an die Bundesregierung gestellt worden.

Liebe Birgit Homburger,

(Dirk Niebel [FDP]: Und wir? Was ist mit Kol legen Nolting und mit mir?)

in der gestrigen Ausgabe der „Stuttgarter Nachrichten“
durfte ich lesen, dass du dir absolut sicher bist, dass der
gelbe Sack in fünf oder zehn Jahren abgeschafft sein
wird. Da wir ja sehen, dass es erst in fünf oder zehn Jah-
ren sein wird, frage ich: Warum nehmen wir uns nicht
die Zeit,


(Beifall bei der CDU/CSU – Birgit Homburger [FDP]: Weil man jetzt entscheiden muss! Verträge brauchen Vorlauf!)


ein, zwei Jahre abzuwarten, bis wir eine Datenbasis ha-
ben, auf der wir entscheiden können? Ich glaube, das
wäre sinnvoller und entspräche verantwortlicher Politik.

Was Ihre Auffassung zur Getrennterfassung angeht,
bitte ich Sie: Lassen Sie uns die Ergebnisse der Untersu-
chungen abwarten! Dann werden wir sehen, ob wir einer
Forderung wie der Ihren zustimmen oder die Ergebnisse
zu einer Optimierung bestehender Systeme nutzen kön-
nen. Die Union ist momentan nicht bereit, eine funktio-
nierende Infrastruktur zu gefährden, ohne dafür fun-
dierte Gründe zu haben. Deshalb können wir dem
Antrag in seiner Gesamtheit nicht zustimmen.

Zum Abschluss: Wir alle kennen Gorbatschows Aus-
spruch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. –
Bei dem vorliegenden, schlecht abgesicherten Antrag


(Dirk Niebel [FDP]: Was! Das müssen wir zurückweisen!)







(A) (C)



(B) (D)


Tanja Gönner

sollten wir aufpassen, dass dies nicht auch dem ge-
schieht, der zu früh kommt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510022000

Das Wort hat die Kollegin Antje Vogel-Sperl von

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal ist es durchaus zu begrüßen,
dass sich die FDP mit alternativen Abfallkonzepten aus-
einander setzt und wir uns heute mit diesem Thema be-
fassen. Auch wir Grüne sind selbstverständlich gegen-
über neuen Verfahren und Techniken grundsätzlich auf-
geschlossen. Allerdings müssen die Vorteile neuer Kon-
zepte nachvollziehbar und belastbar belegt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da scheint mir der Antrag doch eher ein Schnellschuss
zu sein. Er bezieht sich offensichtlich vor allem auf die
Ergebnisse eines Großversuchs der Firma RWE Umwelt
in Essen, der zwischen dem 11. und dem
14. Februar 2003 durchgeführt wurde. Dieser Versuch
hat zwar grundsätzlich die Möglichkeit einer nachge-
schalteten, maschinellen Sortierung von gemischtem
Siedlungsabfall aufgezeigt, eine wissenschaftlich fun-
dierte, belastbare Datenbasis hat der Versuch allerdings
nicht erbracht: So betrug die effektive Laufzeit des Ver-
suchs gerade einmal 53 Stunden.


(Birgit Homburger [FDP]: Der zweite Versuch wurde ausgewertet!)


RWE Umwelt selbst bezeichnet die im genannten Sor-
tierversuch eingesetzte Menge an Abfall als „überschau-
bar“. Das Unternehmen führt deshalb weiter aus, die
Ergebnisse dürften eben nicht ohne Weiteres als reprä-
sentativ eingestuft werden und bedürften einer weiteren
Überprüfung.


(Birgit Homburger [FDP]: Ein zweiter Versuch ist doch gemacht!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihre
Feststellung

Die derzeit in Deutschland praktizierte Form der
Mülltrennung durch den Verbraucher ist also tech-
nisch weitgehend überholt und zu teuer.

ist schlichtweg falsch und ich sage Ihnen, warum: Tatsa-
che ist, dass bei der maschinellen Getrenntsammlung
noch erheblicher Forschungs- und Entwicklungsbedarf
besteht, zum Beispiel bei der Verbesserung der Trenn-
schärfe und Sortenreinheit der gewonnenen Fraktionen
oder auch beim Ausbau entsprechend ökologisch hoch-
wertiger Verwertungswege für die abgetrennten Fraktio-
nen.

(Birgit Homburger [FDP]: Das gilt dann heute aber auch!)


Im Übrigen plant die RWE Umwelt erst jetzt – zu-
sammen mit dem DSD – einen Langzeitversuch zur
nachträglichen Sortierung über einen Zeitraum von ein-
einhalb Jahren. Ihre Schlussfolgerung, das Sortieren in
den Haushalten von Hand sei sowohl ohne ökologische
als auch ohne ökonomische Einbußen durch eine auto-
matische Mülltrennung zu ersetzen, weil diese effizien-
ter sei, ist derzeit nicht erwiesen. Ihre Forderung, die bis-
her praktizierte Getrenntsammlung könne teilweise
entfallen, ist somit eindeutig verfrüht. Dies wird im Üb-
rigen von RWE Umwelt selbst bestätigt. Auch die Ver-
bände der Entsorgungswirtschaft haben sich bislang eher
zurückhaltend geäußert.


(Birgit Homburger [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!)


Außerdem vermisse ich in dem Antrag die Auseinan-
dersetzung mit anderen Abfallkonzepten, die derzeit
mindestens genauso intensiv diskutiert und erprobt wer-
den. Es gibt alternative Vorschläge, wie zum Beispiel die
Erweiterung der bestehenden gelben Tonne zu einer
Wertstofftonne. Das DSD prüft ein derartiges Konzept in
Zusammenarbeit mit Alba in Leipzig. Solche Ansätze
bleiben in Ihrem Antrag leider unerwähnt.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie immer!)


Solche Konzepte erwähnen Sie nicht. Ich finde, bei einer
grundsätzlichen Debatte über die Zukunft der Getrennt-
sammlung ist eine umfassende und keine einseitige Be-
trachtungsweise notwendig.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
Sie lassen in Ihrem Antrag außerdem die Frage offen,
wie das Sammelgefäß zukünftig aussehen soll, grau oder
gelb?


(Dirk Niebel [FDP]: Gelb! Von mir aus auch blau! Sie kann auch blau-gelb sein!)


Mit anderen Worten: Wer wird denn dann für den nicht
mehr getrennten Abfall zuständig sein, die öffentlich-
rechtlichen Entsorger oder die Privatwirtschaft?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der SPD: Die Steuerzahler!)


Auch auf diese essenzielle Frage geben Sie in Ihrem An-
trag keine Antwort. Sie fordern stattdessen die Bundes-
regierung auf, „ein überarbeitetes Konzept für eine zu-
kunftsfähige Abfallwirtschaftspolitik in Deutschland
vorzulegen“, bleiben aber selbst ein schlüssiges Konzept
in Ihrem Antrag schuldig.

Ihr Antrag zielt darauf ab, das ökologisch wichtige
Thema Getrenntsammlung medienwirksam auszunut-
zen, ohne Antworten auf die aktuellen Fragen der Ab-
fallwirtschaft, wie etwa auf die Frage nach dem Kartell-
recht und der Zukunft des DSD, zu geben.


(Dirk Niebel [FDP]: So ein Quatsch!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Antje Vogel-Sperl

Aus all den genannten Gründen lehnen wir Ihren Antrag
ab.


(Birgit Homburger [FDP]: Zum Kartellrecht haben wir schon Anträge vorgelegt!)


– Hören Sie doch zu! – Fakt ist, der Aufbau einer nach-
haltigen Kreislaufwirtschaft, deren zentrale Ziele die
Ressourcenschonung und eine Steigerung der Ressour-
ceneffizienz sind, erfordert auch künftig erhebliche, ste-
tige private und öffentliche Investitionen. Wir sind in
diesem Zusammenhang für alternative Abfallkonzepte
offen und werden sie selbstverständlich eingehend prü-
fen. Das sage ich hier in aller Deutlichkeit. Ich sage aber
auch, dass dabei für uns immer zwei Fragen von zentra-
ler Bedeutung sein werden: Ist das Konzept geeignet,
Abfall zu vermeiden? Ist es ein Gewinn für die Umwelt?
Das heißt: Ist es ökologisch vorteilhafter, weil es zu
einer Verbesserung der Verwertung beiträgt?


(Birgit Homburger [FDP]: Ja! – Dirk Niebel [FDP]: Wenn Frau Homburger das sagt, dann ist das auch so!)


An diesen Maßstäben haben wir neue Konzepte zu prü-
fen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510022100

Nächster Redner ist der Kollege Gerd Bollmann von

der SPD-Fraktion.

Gerd Bollmann (SPD):
Rede ID: ID1510022200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Homburger, auf die Qualität der Untersuchungen
möchte ich nicht mehr eingehen, weil das meine Vorred-
nerinnen sehr ausführlich getan haben.

Mülltrennung vereinfachen und Haushalte entlasten –
das hört sich im ersten Moment gar nicht schlecht an.
Vereinfachung und Entlastung sind hehre Ziele, die in
den gesellschaftlichen Grundkonsens und den Kontext
der populistischen Forderungen der FDP passen.

Aber genau wie bei der Forderung nach einer radika-
len Steuervereinfachung verschleiern die Liberalen mei-
nes Erachtens auch hier die wahren Ziele. Die Konse-
quenzen der auf den ersten Blick simplen Forderung der
FDP werden nicht erwähnt.


(Dirk Niebel [FDP]: Die ist nicht simpel, die ist brillant!)


Was bedeutet die Durchführung für die Abfallwirtschaft
und für die Abfallpolitik insgesamt? Wie sind die Aus-
wirkungen auf unser Ziel der Abfallvermeidung und der
Ressourcenschonung? Welche Folgen ergeben sich für
die Produktverantwortung und die Verantwortung der
Hersteller und Abfallproduzenten? Wie verändern sich
die Zuständigkeiten für die Abfälle? Inwiefern müssen
wir das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, die Ver-
packungsverordnung und die darauf beruhenden Bestim-
mungen sowie existierenden Strukturen verändern?
Allein die Aufzählung dieser wenigen Fragen zeigt,
dass die Folgen dieses Antrages zumindest weitreichen-
der sein können. Ich denke, sie wären wesentlich weit-
reichender, als die FDP es uns in ihrem Antrag glauben
machen will.


(Dirk Niebel [FDP]: Wir denken viel weiter, als Sie das glauben! – Günther Friedrich Nolting [FDP]: So weit kann er gar nicht denken!)


Schauen wir uns die praktischen Konsequenzen für
die Verpackungsverordnung und die Produktverant-
wortung an. Mit der Verpackungsverordnung wurde den
Herstellern die Verantwortung für die Verwertung der
von ihnen produzierten Verpackungen und damit die
Kosten übertragen. Damit ist die Produktverantwortung
auf die Hersteller übergegangen. Der Handel sollte die
Rücknahme organisieren. Um aber dem Handel die Kos-
ten zu ersparen, wurde nicht zuletzt auf Betreiben der
FDP das System des grünen Punktes eingeführt. Das Du-
ale System Deutschland erblickte das Licht der Welt.

Gleichzeitig wurde den Kommunen die Zuständigkeit
für den Verpackungsmüll entzogen. Deshalb war es auch
nur logisch, die Verpackungsabfälle getrennt zu erfassen.
Nicht nur die organisatorische Zuständigkeit sprach für
eine getrennte Erfassung, sondern auch ökologische
Gründe sprachen dafür: Je reiner der gesammelte Stoff,
desto größer ist die Chance, eine hochwertige Verwer-
tung vorzunehmen.


(Birgit Homburger [FDP]: Wenn es denn so wäre!)


Für uns ist die stoffliche Verwertung dort, wo sie
sinnvoll angewandt werden kann, die hochwertigste
Form. Die FDP schlägt hier aber nur die energetische
Verwertung, also die Verbrennung vor.


(Birgit Homburger [FDP]: Das stimmt doch überhaupt nicht! Das Gegenteil ist der Fall! Wir wollen mehr Stoffe verwerten, Herr Bollmann! Das ist ja wirklich unglaublich!)


Es stellt sich nun die Frage, ob die energetische Verwer-
tung eine hochwertige Verwertung ist, die der stofflichen
Verwertung gleichzustellen oder gar um jeden Preis vor-
zuziehen ist. Wir sind also wieder am Ausgangspunkt
des Streites um das Kreislaufwirtschafts- und Abfallge-
setz angekommen.

Unter welchen Bedingungen findet die energetische
Verwertung statt? Bereits vor 20 Jahren wollten viele
Vertreter der Industrie Abfall als angeblich ökonomisch
günstigste Variante verbrennen.


(Dirk Niebel [FDP]: Kann es sein, dass Sie den Antrag gar nicht gelesen haben?)


Die gründliche Diskussion hat ergeben, dass die stoffli-
che Verwertung und besonders die Abfallvermeidung
ökologisch und ökonomisch, auch unter dem Gesichts-
punkt der Ressourcenschonung, meistens der beste Weg
sind.

Ebenso wollen wir die Produktverantwortung und die
Abfallvermeidung nicht aufgeben. Mit dem großflächi-
gen Produzieren von Ersatzbrennstoffen verabschieden






(A) (C)



(B) (D)


Gerd Friedrich Bollmann

wir uns von der klaren Zuordnung der Verantwortung
und von einer Kreislaufwirtschaft, die diesen Namen
verdient. Kreislaufwirtschaft und Produktverantwortung
bedeuten, bereits bei der Herstellung darauf zu achten,
dass hinterher möglichst wenig Abfall entsteht und dass
eine stoffliche Verwertung möglich ist. Wer denkt darü-
ber schon nach, wenn am Schluss ohnehin alles ver-
brannt wird?

Wer am Ende für die Kosten aufkommt, wird von der
FDP gar nicht erst beleuchtet. Wir lehnen die Über-
nahme der Kosten durch die Gesellschaft – oder besser
gesagt: durch den Gebührenzahler – ab.


(Birgit Homburger [FDP]: Wir auch!)

Wir wollen die Verwertung nicht um jeden Preis. Es ist
keine Frage, dass es Kriterien für die hochwertige Ver-
wertung geben muss.

Ich habe den Eindruck, dass Sie, meine Damen und
Herren von der FDP, nur an der Stelle privatisieren wol-
len, an der gut Geld zu verdienen ist.


(Dirk Niebel [FDP]: Das sagen Sie mal dem Herrn Repnik!)


Wir stehen technologischen Neuerungen immer positiv
gegenüber, wenn sie auch für die Gesellschaft positiv
einzusetzen sind. Wir werden die Folgen aber in jedem
Fall im Auge behalten.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510022300

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 15/2193 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten

Dr. Carola Reimann, Walter Schöler, Carsten
Schneider, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten Antje
Hermenau, Hans-Josef Fell, Volker Beck (Köln),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Qualitätssicherung des deutschen Forschungs-
systems
– Drucksache 15/2665 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helge
Braun, Dr. Maria Böhmer, Katherina Reiche,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Ressortforschung des Bundes effizienter ge-
stalten und evaluieren
– Drucksache 15/1981 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Es ist vorgesehen, dass die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Dr. Carola Reimann von der SPD-Frak-
tion, Helge Braun von der CDU/CSU-Fraktion, Hans-
Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen und Ulrike Flach
von der FDP-Fraktion zu Protokoll genommen werden.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2665 und Drucksache 15/1981 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen-
sichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Wolfgang Schäuble,
Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Grundgeset-
zes (Artikel 35 und 87a)

– Drucksache 15/2649 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

Auch hier ist vorgesehen, die Reden zu Protokoll zu
nehmen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast von der
SPD-Fraktion, Jürgen Herrmann und Stephan Mayer von
der CDU/CSU-Fraktion, Silke Stokar von Neuforn vom
Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Max Stadler von der FDP-
Fraktion, Petra Pau, fraktionslos, und des Parlamentari-
schen Staatssekretärs Fritz Rudolf Körper für die Bun-
desregierung.2)

1) Anlage 4
2) Anlage 5






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 15/2649 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-

brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Grün-
dung einer Bundesanstalt für Immobilienauf-
gaben (BImA-Errichtungsgesetz)

– Drucksache 15/2720 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

Auch hier ist vorgesehen, die Reden zu Protokoll zu
nehmen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Bernhard Brinkmann, SPD, Jochen-
Konrad Fromme, CDU/CSU, Antje Hermenau, Bünd-
nis 90/Die Grünen, und Dr. Günter Rexrodt, FDP.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/2720 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? –


(Dirk Niebel [FDP]: Wenn ich jetzt Ja gesagt hätte: Was hätten Sie daraufhin gemacht?)


Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatz-
punkt 5 auf:

14 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Hermann Gröhe, Dr. Ralf
Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Die Berliner Afghanistan-Konferenz – eine
neue Chance für mehr Kohärenz und Koordi-
nierung beim Wiederaufbau
– Drucksache 15/2578 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Fortsetzung des Engagements der Bundes-
regierung für den Wiederaufbau- und Stabili-
sierungsprozess in Afghanistan
– Drucksache 15/2757 –

1) Anlage 6
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Hier hat sich doch ein einsamer Redner gefunden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr gut!)

Es ist der Kollege Ralf Brauksiepe von der CDU/CSU-
Fraktion.


(Dirk Niebel [FDP]: Haben wir kein Zuhause, oder was?)


Somit eröffne ich die Aussprache und gebe dem Kol-
legen Brauksiepe das Wort.


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1510022400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

In seiner wechselvollen Geschichte ist Afghanistan
schon häufig an den Rand der politischen Aufmerksam-
keit gedrängt worden. Dies haben viele Menschen und
auch die internationale Staatengemeinschaft oft bitter
bereut. Wir haben es hier noch geschafft, eine kontro-
verse Debatte zum Thema Mülltrennung zu führen. Ich
begrüße, dass uns das gelungen ist.

Ich bedaure aber, dass es nicht möglich ist, zu dem
Thema eine Debatte zu führen, wie es in Afghanistan
und in Zentralasien, einer Region, die auch für uns von
vitalem Interesse ist, weitergeht. Das halte ich für bedau-
erlich. Dazu passt, dass das für die Anträge federfüh-
rende Ministerium, wie ich gehört habe, durch die
persönliche Referentin der Parlamentarischen Staats-
sekretärin vertreten ist. Umso mehr freue ich mich, das
der Parlamentarische Staatssekretär des BMVg dieser
Debatte beiwohnt.


(Dirk Niebel [FDP]: Er trägt ja auch Verantwortung! Abgesehen davon ist das selbstverständlich! – Günther Friedrich Nolting [FDP]: Der Mann ist ja auch gut!)


– Das stimmt. – Dabei bietet diese dritte Afghanistan-
Konferenz – normalerweise legen wir bei solchen Kon-
ferenzen großen Wert auf parlamentarische Beteiligung
– in der nächsten Woche eine große Chance, dem Wie-
deraufbauprozess in Afghanistan gerade vor dem Hin-
tergrund der geplanten Präsidentschafts- und Parla-
mentswahlen neuen Schwung zu verleihen, einen
Schwung, den das Land im Übrigen dringend braucht.

Wir halten es für eine durchaus gute Tradition, dass
Deutschland bei den Wiederaufbaubemühungen der in-
ternationalen Gemeinschaft eine führende Rolle einge-
nommen hat. Unabhängig davon, ob Deutschland wirk-
lich am Hindukusch verteidigt wird, haben wir das völlig
legitime Interesse, dass von dort keine Gefahren für die
Menschen in unserem Land ausgehen. Insofern unter-
scheidet sich das Engagement der Bundesregierung in
Afghanistan wohltuend von der Ohne-uns-Haltung, die
die Bundesregierung beim Wiederaufbau des Irak leider
noch immer überwiegend einnimmt. Das sei hier einmal






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe

herausgestellt. Die Berliner Afghanistan-Konferenz
sollte deshalb Anlass sein, das Engagement der internati-
onalen Gebergemeinschaft verstärkt fortzusetzen und
gleichzeitig für mehr Kohärenz und Koordinierung beim
Wiederaufbau Afghanistans zu sorgen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Die SPD ist jetzt ganz ausgezogen!)


Die Notwendigkeit, hier zu Verbesserungen zu kom-
men, steht nicht im Widerspruch zu der Feststellung,
dass im Zusammenspiel zwischen der neuen afghani-
schen Regierung und der internationalen Gemeinschaft
in den vergangenen Jahren in der Tat in Afghanistan viel
erreicht worden ist. Ausgehend von einer in jeder Hin-
sicht desaströsen Lage, in der sich dieses geschundene
Land nach dem 11. September 2001 befunden hatte, hat
Afghanistan die besten Perspektiven für eine politisch
friedliche, wirtschaftlich erfolgreiche und an den Men-
schenrechten orientierte Entwicklung seit Jahrzehnten.

Das Talibanregime, das dem Terrornetzwerk al-
Qaida als Heimstätte diente, war eben nicht nur eine Be-
drohung für die gesamte Welt; vielmehr hat dieses Re-
gime, das nicht durch Wahlen, sondern durch Waffenge-
walt an die Macht gekommen war, in erster Linie den
Menschen in Afghanistan selbst Lebens- und Zukunfts-
perspektiven genommen.
Von diesem Regime hat die internationale Gemeinschaft
das afghanische Volk befreit. Bei aller berechtigten Kri-
tik an der internationalen Gemeinschaft ist immer darauf
hinzuweisen, dass in erster Linie und mit zunehmendem
Abstand zum 11. September 2001 die Afghanen und ihre
maßgeblichen politischen Persönlichkeiten in zuneh-
menden Maße selbst für die Entwicklung ihres Landes
verantwortlich sind und ihrer Eigenverantwortung ge-
recht werden müssen.

Uns jedenfalls alarmieren Berichte, die wir aus den
Reihen der Wiederaufbauhelfer bekommen, wonach sich
viele, die mit großem Idealismus und viel Engagement
nach Afghanistan gehen, um dort am Wiederaufbau teil-
zunehmen, bisweilen als Bittsteller gegenüber den af-
ghanischen Behörden oder auch als Melkkühe vorkom-
men. Es muss gerade im Interesse der Menschen in
Afghanistan unsere gemeinsame Aufgabe sein, von den
politisch Verantwortlichen vor Ort zu verlangen, dass es
zu einer Besserung und dass in den offenbar überall ge-
genwärtigen bürokratischen Dschungel Bewegung
kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die rot-grüne Bundesregierung wird es nicht gerne

hören, aber richtig bleibt es dennoch: Gravierende
Koordinierungs- und Effizienzdefizite beginnen vor
unserer eigenen Haustür.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Die Bundesregierung hat es versäumt, eine zentrale Ko-
ordinierungsinstanz für ihre Hilfsaktivitäten zu bestim-
men. Die am Wiederaufbau beteiligten Ressorts wie
BMZ, AA und Innenministerium zeichnen sich häufig
durch gegenseitige Abgrenzung und durch Zersplitte-
rung ihrer Bemühungen anstatt durch enge Koordinie-
rung und Kooperation aus,


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

was durch die hier bereits mehrfach erörterte problemati-
sche haushaltstechnische Konstruktion, die Sie im
Widerspruch zum Grundsatz der Haushaltstransparenz
gewählt haben, noch verschärft wird. Es kann nicht der
Weisheit letzter Schluss sein, dass das Auswärtige Amt
Finanzmittel in Höhe von 30 Millionen Euro aus dem
BMZ-Etat zur Durchführung eigener Aktivitäten in Af-
ghanistan erhält, hiervon aber einen erheblichen Teil an
das BMI für von dort gesteuerte Maßnahmen weiterleitet
und letztlich niemand weiß, wer wofür zuständig ist. Das
ist ein schlechtes Beispiel für Koordination „made in
Germany“.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Darüber hinaus zeigt sich leider, dass der wieder er-

starkte Drogenanbau zu einem immer größeren Pro-
blem für einen nachhaltigen und friedlichen Wiederauf-
bau Afghanistans wird. Auch darauf weisen unsere
NGOs zu Recht hin. Es ist richtig und war in vergange-
nen Debatten unstrittig, dass die Bundeswehr keine Dro-
genanbaubekämpfungsarmee ist. Aber es muss uns lang-
sam mehr zu dem Thema einfallen, als nur zu sagen, dies
sei nicht Aufgabe der Bundeswehr. Der Drogenhandel
ist die wirtschaftliche Basis für viele Warlords und für
deren blutige Gefechte. Das Problem muss dringend an-
gegangen werden. Es überlagert sonst dauerhaft unsere
Wiederaufbaubemühungen.

Mit der Schaffung dauerhafter lukrativer alternativer
Einkommensquellen muss endlich begonnen und mit der
Vernichtung der Drogenanbaugebiete muss Ernst ge-
macht werden. Das ist die gemeinsame politische Ver-
antwortung der Gebergemeinschaft. Das ist keine Auf-
gabe, für die allein die Briten zuständig sind, wo wir
beruhigt zuschauen können und mit der wir nichts zu tun
haben. Der Erfolg des Ganzen hängt von dem Erfolg auf
diesem Gebiet ab.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für eine

friedvolle und insgesamt positive Entwicklung des Lan-
des wird es auch sein, dass all das, worauf sich die Loya
Jirga bei der Schaffung einer neuen Verfassung geeinigt
hat, nun mit Leben erfüllt wird. Ich denke dabei insbe-
sondere an die Verwirklichung der Menschenrechte und
die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Es
darf dabei nicht bei wohlklingenden Worten bleiben.
Auch hier ist die Einmischung der internationalen Ge-
meinschaft, sofern sie notwendig ist, völlig legitim.

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bun-
desregierung deshalb auf, sich bei der bevorstehenden
Konferenz für den Abschluss eines neuen mehrjährigen
Kooperationsabkommens für Afghanistan unter mög-
lichst breiter Geberbeteiligung einzusetzen und dies mit
einem konzeptionell und finanziell angemessenen deut-
schen Engagement zu untermauern. Wir dürfen uns, was
unsere bisherigen Leistungen angeht, nicht auf unseren
Lorbeeren ausruhen.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe

Wir erwarten darüber hinaus gerade auch als Ent-

wicklungspolitiker eine bessere Verzahnung der zu
Recht hoch angesehenen Aufbauarbeit unserer Bundes-
wehr mit den entwicklungspolitischen Maßnahmen zum
Wiederaufbau des Landes. Die vor Ort immer wieder an-
zutreffenden Vorbehalte aus den Reihen des BMZ ge-
genüber allem, was irgendwie militärisch ist, müssen
endlich der Vergangenheit angehören. Es ist schon be-
merkenswert, mit welcher Deutlichkeit selbst Mitglieder
der Bundesregierung die unbefriedigende Zusammen-
arbeit gerade mit dem BMZ kritisieren. Wir sind dank-
bar, wenn uns diese Hinweise gegeben werden.

Da wir fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit bera-
ten, ist man versucht, noch einige drastische Zitate zu
bringen. Ich will es jedoch bei dem Hinweis bewenden
lassen. Ich bin froh, dass die Zusammenarbeit zwischen
dem AA und dem Verteidigungsministerium offenbar
vernünftig funktioniert. Das BMZ spielt dabei immer
wieder eine Außenseiterrolle. Das muss sich ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Gerade auch vor dem Hintergrund unseres verstärkten
militärischen Engagements über Kabul hinaus beim PRT
in Kunduz, das wir als Unionsfraktion bei allen berech-
tigten Bedenken letztlich unterstützt und mitgetragen ha-
ben, ist es notwendig, zu Verbesserungen zu kommen.

Unsere seit Jahren erhobene Forderung nach einer
besseren Koordinierung der Hilfeaktivitäten innerhalb
der Bundesregierung wie auch mit der internationalen
Gebergemeinschaft bleibt für uns selbstverständlich auf
der Tagesordnung. Wenn ich den leider wieder einmal
etwas übereilt zusammengeschusterten Antrag von Rot-
Grün zu dieser Debatte lese – bedauerlicherweise spricht
ja niemand dazu –, dann stelle ich fest, dass dieses Pro-
blem von der Regierung ähnlich eingeschätzt wird wie
von uns. Sie haben etwas andere Formulierungen in Ih-
rem Antrag. Danach soll alles noch besser werden; die
Koordinierung soll noch besser und effizienter werden.
Das will wohl heißen, dass es erhebliche Probleme gibt.

Ich bin froh, dass wir uns in dieser Frage einig sind,
wie beim Vergleich der beiden Anträge überhaupt fest-
zustellen ist, dass es in der Substanz deutlich mehr Ge-
meinsamkeiten als Unterschiede gibt. Eigentlich hätten
Sie sich auch einen Ruck geben und dem Antrag der
Union zustimmen können. Denn so sehr unterscheidet
sich Ihr Antrag nicht von unserem. Ihnen wäre dadurch
sicherlich kein Zacken aus der Krone gebrochen.

Besonders dringend scheint es uns darüber hinaus zu
sein, in koordinierter Weise alle Anstrengungen zu un-
ternehmen, damit in ganz Afghanistan bald glaubwür-
dige Wahlen in einem sicheren Umfeld stattfinden kön-
nen. Wir sehen darin auch einen wichtigen Meilenstein
für eine konsequente entwicklungsfördernde landesweite
Durchsetzung der neuen afghanischen Verfassung und
des in ihr verankerten Schutzes der Menschenrechte.


(Dirk Niebel [FDP]: Jetzt nicht die Zeit überschreiten!)


Dabei sind die führenden afghanischen politischen Per-
sönlichkeiten sicherlich gut beraten, auch nach den Wah-
len keine Entscheidungen mit 51-prozentigen Mehrhei-
ten zu suchen, sondern den Wiederaufbau mit einem
möglichst breiten Konsens zwischen den verschiedenen
Volksgruppen im Lande voranzutreiben. Das ist bekannt-
lich nicht leicht; es stellt vielmehr ein großes Problem
dar. Ich denke hierbei vor allem auch an das nach wie
vor spannungsträchtige Verhältnis zwischen den Pasch-
tunen als größter ethnischer Gruppe einerseits und den
anderen ethnischen Minderheitengruppen andererseits,
die sich, wie wir wissen, auch untereinander nicht immer
einig sind. Gerade mit dem paschtunischen Teilvolk
kommt es häufig zu Spannungen. Dieser Konsens ist im
Übrigen auch eine wichtige Voraussetzung für die von
uns angestrebte sichere und freiwillige Rückkehr der af-
ghanischen Flüchtlinge und Vertriebenen, die in ihrer
Heimat dringend gebraucht werden und die sich in ihren
Heimatregionen sicher fühlen müssen.

Wir wissen alle: Es bleibt noch viel zu tun in und für
Afghanistan. Die Berliner Konferenz in der nächsten
Woche bietet dafür eine wichtige Chance. Ich gehe da-
von aus, dass darüber in diesem Haus Einigkeit besteht.
Mir ist gesagt worden, ich solle nicht – nicht einmal in
objektiver Weise – noch weiter über den rot-grünen An-
trag reden; das sehe die Geschäftsordnung nicht vor. Von
daher will ich abschließend festhalten: Wir wünschen
dieser Konferenz von Herzen allen Erfolg im wohlver-
standenen deutschen, europäischen bzw. westlichen Ei-
geninteresse und vor allem im Interesse der Menschen in
Afghanistan, die diesen Erfolg dringend benötigen und
verdient haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1510022500

Die Reden der Kollegen Detlef Dzembritzki von der

SPD, Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen, und Harald
Leibrecht, FDP, nehmen wir zu Protokoll. Damit
schließe ich die Aussprache.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2578 und 15/2757 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 15/2578 – Tagesordnungs-
punkt 14 – soll abweichend von der ehemaligen Tages-
ordnung federführend an den Auswärtigen Ausschuss
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Daniel Bahr (Münster), Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Initiative des Europäischen Parlaments, des
Europäischen Rates und der UNO zur Förde-
rung des Sports nachhaltig unterstützen
– Drucksache 15/2418 –

1) Anlage 7






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)

Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen
werden, und zwar handelt es sich um die Reden der Kol-
legen Axel Schäfer von der SPD, Klaus Riegert und
Peter Letzgus von der CDU/CSU, Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen, und Detlef Parr von der FDP.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2418 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 31. März 2004, 13 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.

(Beifall)


Die Sitzung ist geschlossen.