1) Anlage 8
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9043
(A) (C)
(B) (D)
schenrechte allzu oft auf der Strecke bleiben. Das erfah-
ren wir aus Afghanistan, aus dem Irak und aus Guanta-
Bildung, Erziehung und Betreuung von Kin-
dern
aggressiven Politik der USA geprägt, bei der die Men-
trag öffentlicher Mitverantwortung für die
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: 60. Tagung der Men-
schenrechtskommission der Vereinten Natio-
nen – eine Chance für die Menschenrechte (Ta-
gesordnungspunkt 7)
Petra Pau (fraktionslos): Vor eineinhalb Wochen
fand in Genf die 60. Sitzung der UN-Menschenrechts-
kommission statt. Ich will die Debatte hier aufgreifen
und kurz auf die Rede von Bundesaußenminister Fischer
eingehen. Ich stimme Ihnen durchaus zu, denn Sie haben
betont:
Wir können nur dann erfolgreich sein, wenn wir
den internationalen Terrorismus mit menschen-
rechtlichen Mitteln bekämpfen – nicht ohne oder
gar gegen sie. Dies ist eine Frage unserer eigenen
Glaubwürdigkeit.
Darin stimmt die PDS im Bundestag mit Ihnen, Herr
Außenminister, völlig überein. Wir wissen jedoch, dass
Sie über Ansprüche und nicht über die Wirklichkeit ge-
sprochen haben. Diese wird nicht zuletzt von einer
Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich
Andres, Gerd SPD 25.03.2004
Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 25.03.2004
Büttner (Ingolstadt),
Hans
SPD 25.03.2004
Dautzenberg, Leo CDU/CSU 25.03.2004
Hartnagel, Anke SPD 25.03.2004
Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
25.03.2004
Löning, Markus FDP 25.03.2004
Riemann-Hanewinckel,
Christel
SPD 25.03.2004
Simm, Erika SPD 25.03.2004
Spahn, Jens CDU/CSU 25.03.2004
Wolf (Frankfurt),
Margareta
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
25.03.2004
Anlagen zum Stenografischen Bericht
namo. Es ist auch kein Versehen, dass es auch die USA
sind, die sich einer von der UNO eingesetzten Recht-
sprechung bei den Menschenrechten entziehen. Herr
Fischer, Sie haben das in Ihrer Genfer Rede diplomatisch
übersprungen. Ich will das hier nachholen; denn die
USA sind mit ihrer aktuellen Politik Teil des Problems.
Außenminister Fischer hat sich des Weiteren gegen
jedwede Diskriminierung gewandt, „sei es Diskriminie-
rung von Kindern, Frauen oder aufgrund von religiöser,
ethnischer oder nationaler Zugehörigkeit …“ Auch das
ist richtig. Deshalb möchte ich an ein Versprechen von
Rot-Grün erinnern: Sie wollten seit langem ein Antidis-
krimierungsgesetz verabschieden. Die PDS ist gern be-
reit, dabei zu helfen, zumal wir seit der vorigen Wahlpe-
riode einen entsprechenden Entwurf parat haben. Ich
sage das auch mit Blick auf aktuelle Debatten; sei es die
so genannte Kopftuchdebatte oder der anhaltende Streit
um ein Zuwanderungsgesetz. Diskriminierungen sind
keine Altlasten aus der Dritten Welt: Sie finden auch hier
immer wieder geistige Nahrung und sie finden vor allem
auch praktisch statt.
Herr Außenminister, Sie haben sich gegen spezifische
Menschenrechtsverletzungen gewandt, insbesondere ge-
gen solche, die Frauen und Kinder betreffen. Man
braucht nur die wiederkehrenden Berichte von Amnesty
International zu lesen, um zu wissen: Das Leid ist groß.
Hierzulande ist aber noch immer nichtstaatliche,
geschlechtsspezifische Verfolgung kein anerkannter
Asylgrund. Zudem harren noch immer Teile der UN-
Kinderrechtskonvention der Ratifizierung durch die
Bundesrepublik Deutschland. Sie wissen, wovon ich
spreche; denn Bündnis 90/Die Grünen hat das früher
selbst beklagt.
Ich teile die Erwartungen, die Sie in die Antisemitis-
muskonferenz der OSZE Ende April in Berlin setzen.
Wir haben erst vor wenigen Monaten hier im Bundestag
über den grassierenden Antisemitismus in Deutschland
debattiert. Wir alle wissen: Er ist kein deutsches Phäno-
men.
Umso mehr komme ich aus aktuellem Anlass auf
mein Eingangszitat zurück:
Der internationale Terrorismus kann nur mit men-
schenrechtlichen Mitteln erfolgreich bekämpft wer-
den – nicht ohne oder gar gegen sie.
Das gilt für alle Regionen und für alle Zeiten.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Ausbau von Förderungsangeboten für Kin-
der in vielfältigen Formen als zentraler Bei-
9044 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
– Faire Chancen für jedes Kind – Für eine
bessere Bildung, Erziehung und Betreuung
von Anfang an
– Ausbau und Förderung der Tagespflege als
Form der Kinderbetreuung in der Bundes-
republik Deutschland
– Frauen und Männer beim Wiedereinstieg in
den Beruf fördern
(Tagesordnungspunkt 9 a bis d)
Kerstin Griese (SPD): Heute Morgen habe ich im
Radio den Satz gehört: „Hinter jedem erfolgreichen
Mann steht eine erschöpfte Frau“. Wir, die Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten, meinen: Das soll nicht
mehr so sein. Es soll viel mehr erfolgreiche Frauen ge-
ben, aber natürlich auch erfolgreiche Männer. Aber hin-
ter ihnen soll nicht eine erschöpfte Frau stehen, sondern
sie sollen gemeinsam Kinder erziehen und berufstätig
sein können. Das ist unsere Vorstellung einer zukunftsfä-
higen Gesellschaft: dass Frauen und Männer gleicherma-
ßen ihre gute Bildung anwenden, erwerbstätig sein, im
Berufsleben erfolgreich sein und selbstverständlich Kin-
der haben können; sie sollen beides gut und mit einem
guten Gewissen miteinander vereinbaren können.
Deshalb sollte es in Zukunft eigentlich heißen: „Hin-
ter jeder erfolgreichen Frau steckt eine gute Kinderbe-
treuung.“
Eine Umfrage hat ergeben, dass 70 bis 80 Prozent der
Frauen, die ein Kind oder mehrere Kinder haben und die
deswegen zu Hause bleiben, gerne arbeiten gehen wür-
den. Das zeigt uns ganz deutlich: Wir müssen mehr tun,
um Frauen zu ermöglichen, mit Kindern berufstätig zu
sein. Wir müssen mehr tun, um Männern zu ermögli-
chen, mehr Zeit für ihre Kinder zu haben. Ich bin sehr
froh, dass es inzwischen einigermaßen Übereinstim-
mung darin gibt, dass wir mehr in Bildung, Erziehung
und Betreuung von Kindern investieren müssen. Diese
Übereinstimmung gibt es zumindest bei den hier vorlie-
genden Anträgen. Heute Morgen war allerdings von der
Opposition nichts davon zu hören, wie wichtig mehr In-
vestitionen für Kinder für die Zukunft unseres Landes
sind. Zu häufig wird das Thema ideologisch verbrämt.
Immer wieder gibt es gerade bei den Konservativen Vor-
urteile gegen Kinderbetreuung.
Ich bin sehr dankbar, dass der Bundeskanzler heute
Morgen in seiner Regierungserklärung deutlich gemacht
hat, welchen zentralen Stellenwert dieses Thema für die
Zukunft unseres Landes hat. Ich bin sehr froh, dass er
gesagt hat, dass Kinder eigentlich ein Synonym für Zu-
kunft und Zuversicht sind, und dass das, was wir in der
Regierungskoalition tun, die Zukunftschancen von Kin-
dern und Jugendlichen verbessern soll und verbessern
wird.
Dabei steht – da sind wir uns sicherlich alle einig –
das Wohl des Kindes im Mittelpunkt. Längst sind die
Zeiten vorbei, wo man einen Blumentopf damit gewin-
nen konnte, Kinderbetreuungseinrichtungen zu verteu-
feln oder gar von „Rabenmüttern“, die ihre Kinder „ab-
geben“ zu sprechen. Das können zum Beispiel unsere
französischen Nachbarinnen sowieso nicht verstehen;
das Wort „Rabenmutter“ gibt es in anderen Sprachen
noch nicht einmal. Wir alle wissen spätestens seit den
Studien der OECD, dass Kinderbetreuung vor allem gut
ist für die Kinder, dass soziale Integration ermöglicht
wird, dass Bildungschancen verbessert werden und dass
das auch gut ist für die Eltern. Gerade für die Eltern be-
deutet es, dass sie erwerbstätig sein können, dass sie Fa-
milie und Berufstätigkeit verbinden können.
Die CDU/CSU fordert in ihrem Antrag zum Wieder-
einstieg in den Beruf Dinge, die wir eigentlich größten-
teils schon längst machen. Das zeigt wieder einmal, wie
sehr Sie eigentlich der Realität hinterherhinken. Es ist
gut und schön, dass Sie feststellen, dass der Anteil der
gut ausgebildeten weiblichen Arbeitskräfte steigt und
dass der Bedarf an gut ausgebildeten und motivierten
Frauen steigt. Das ist die Grundlage für den Beschluss
der Bundesregierung gemeinsam mit den Spitzenverbän-
den der deutschen Wirtschaft, um die Chancengleichheit
gerade in der Wirtschaft zu steigern. Diese Erkenntnis ist
also nicht neu, allein Ihnen fehlt die Glaubwürdigkeit,
auch tatsächlich etwas zu tun, um Veränderungen herbei-
zuführen; denn sie haben in den 80er- und 90er-Jahren
keine nennenswerten Initiativen oder gar Erfolge auf-
weisen können.
Wir haben zum Beispiel mit der neuen Elternzeit
Möglichkeiten geschaffen, die die Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf ganz deutlich verbessern. Wir wollen
dabei auch die Beteiligung der Männer an der Familien-
und Erziehungsarbeit stärken. Ich weiß, dass das immer
noch ein Manko ist und dass nur etwa zwei Prozent der
Männer tatsächlich Elternzeit nehmen. Da müssen die
Männer besser werden. Da müssen auch Wirtschaft, Un-
ternehmen und Arbeitgeber besser werden, indem sie
Familienarbeit als einen wichtigen Teil des Lebens aner-
kennen und indem sie auch in den Betrieben und den
Unternehmen ein Klima schaffen, in dem mehr Männer
Elternzeit nehmen können und nehmen werden. Wir ha-
ben den gesetzlichen Anspruch auf Teilzeitarbeit wäh-
rend der Elternzeit verbessert; die zulässige Wochen-
stundenzahl bei Teilzeitarbeit wurde auf 30 Stunden
angehoben. Das unterstützt auch die ebenfalls neu einge-
führte gemeinsame Elternzeit von Müttern und Vätern.
Gemeinsame Zeiten bedeuten, gemeinsam mehr Zeit für
die Familie zu haben. Das war uns wichtig.
Die CDU/CSU fordert maßgeschneiderte Konzepte in
Zusammenarbeit mit der Wirtschaft zu entwickeln, da-
mit die Frauen nach einer Familienphase wieder besser
in den Beruf einsteigen können. Auch hier gilt: schön
gedacht, aber wir machen es schon! Unter dem Dach der
„Allianz für Familie“ sind Initiativen des Bundesminis-
teriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für
eine bessere Balance von Familie und Arbeitswelt ge-
bündelt. Starke Partner aus Wirtschaft, Verbänden und
Politik setzen sich öffentlich und beispielhaft für eine
Unternehmenskultur und Arbeitswelt ein, die für alle
Beteiligten Gewinn bringt. Die lokalen Bündnisse für
Familie sind Zusammenschlüsse beispielsweise von
Stadträten, Verwaltung, Unternehmen, Kammern, Ge-
werkschaften, Kirchengemeinden, Vereinen, Wohlfahrts-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9045
(A) (C)
(B) (D)
verbänden und Initiativen auf lokaler Ebene, die sich für
mehr Familienfreundlichkeit einsetzen. Ich bin froh,
dass es inzwischen etwa 30 Bündnisse von Nord- bis
Süddeutschland, von West- bis Ostdeutschland gibt, die
sich dieser Initiative angeschlossen haben.
Unsere Reformen am Arbeitsmarkt sind ein wichtiger
Fortschritt, um gerade Frauen den Wiedereinstieg in den
Beruf zu ermöglichen. Damit werden die Jobcenter dazu
verpflichtet, Familien mit Kindern bei der Suche nach
geeigneten Beschäftigungsmöglichkeiten und Betreu-
ungsmöglichkeiten zu helfen. Es wird eine passgenauere
Vermittlung ermöglicht; die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf erhält bei der Beratung und Vermittlung in
den Jobcentern eine besondere Bedeutung. Das ist ein
wichtiger Paradigmenwechsel; denn bislang galten ge-
rade die Alleinerziehenden – in den meisten Fällen allein
erziehende Frauen –, als nicht erwerbsfähig, weil sie sich
um die Kinderbetreuung kümmern mussten. Mit den Re-
formen am Arbeitsmarkt erhalten auch diese Frauen
– durch die Arbeitsvermittlung, die Beratung und die
Weiterqualifizierung – eine Chance, Familie und Beruf
zu vereinbaren.
Ich finde es immer sehr interessant, wenn die CDU/
CSU von Wahlfreiheit von Frauen und Männern spricht.
Denn gerade das, was die SPD und die Grünen in der
Bundesregierung machen, bedeutet, die Wahlfreiheit zu
verbessern. Nur mit einer qualitativ guten Kinderbetreu-
ung, mit Wahlmöglichkeiten zwischen Tagesmüttern und
Einrichtungen, mit dem guten Gewissen, dass die Kinder
auch gut betreut und gefördert werden, ist diese Wahl-
freiheit möglich. Wahlfreiheit heißt heutzutage eben
nicht, den Frauen ein Haushaltsgeld zu zahlen, damit sie
zu Hause bleiben. Abgesehen davon ist die CDU/CSU
bis heute die Antwort schuldig geblieben, wie sie dieses
Haushaltsgeld eigentlich finanzieren will, mit dem Sie
die Frauen davon abhalten will, erwerbstätig zu sein.
Im Mittelpunkt unseres Konzeptes stehen große In-
vestitionen in die Infrastruktur der Kinderbetreuung,
steht die Bereitstellung eines flexiblen Angebots für
Kinder unter drei Jahren. Das wollen wir, um den Kin-
dern etwas Gutes zu tun und um die Wahlfreiheit von
Frauen und Männern zu fördern, sich entscheiden zu
können, entweder zwischen Familie und Beruf oder für
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das werden
immer mehr junge Frauen und Männer wollen.
Dazu brauchen wir eine bedarfsgerechte Angebots-
struktur, wir brauchen gute Qualität, zeitliche Flexibili-
tät, wir brauchen bezahlbare und vielfältige Angebote
für Kinder, halbtags und ganztags, in kommunalen Ein-
richtungen, in denen der Wohlfahrtspflege, durch Tages-
mütter, in bürgerschaftlicher Initiative oder auch über
kommerzielle Dienstleister. Ich bin der festen Überzeu-
gung, dass wir auch da die Wirtschaft und die Unterneh-
men noch stärker in die Verantwortung nehmen müssen.
Denn auch Kinderbetreuung und Dienstleistungen, die
mehr Frauen Erwerbstätigkeit ermöglichen, werden in
Zukunft einen größeren Markt haben und vermehrt nach-
gefragt werden.
Ich finde es gut, dass wir uns gemeinsam für den Aus-
bau der Kinderbetreuung einsetzen. Es gibt aber auch
Unterschiede: Die FDP meint, dass der Bund am Ende
der Föderalismusdebatte, in der wir uns gerade befinden,
die Zuständigkeit für die Kinderbetreuung haben wird.
Ich denke, es ist auch eine gute Chance, ob wir nicht an
einer dezentralen Lösung und an den speziellen Mög-
lichkeiten und Chancen der Gemeinden vor Ort festhal-
ten. Sehr wohl ist es aber die Verantwortung des Bundes,
die Kommunen zu stärken, damit sie ihren Aufgaben
wirklich gerecht werden können. Da kann ich nur sagen,
dass vonseiten der Opposition gerade im Vermittlungs-
ausschuss viele Steine in den Weg gelegt wurden. Wenn
es nicht die Verwässerung der Gemeindefinanzreform
durch die Opposition gegeben hätte, wenn es nicht die
Veränderungen von Hartz IV im Vermittlungsausschuss
gäbe, dann wären wir jetzt auch in dieser Frage schon
weiter. Sie wissen, dass die Zusage der Ministerin
Renate Schmidt und die Zusage des Bundeskanzlers
steht: Wir werden die Kommunen entlasten, damit sie
1,5 Milliarden Euro in bessere Betreuung für Kinder un-
ter drei Jahren investieren können. Das ist eine gute
Nachricht und ein ganz wichtiger Bereich, wenn wir in
Deutschland zukunftsfähiger und zuversichtlicher wer-
den wollen.
Zum Schluss gehe ich noch auf den internationalen
Vergleich ein; denn wir wissen inzwischen alle, dass in
den Ländern, die eine höhere Geburtenrate als Deutsch-
land haben auch die Frauenerwerbsquote höher ist und
dass in diesen Ländern die Kinderbetreuung besser ist.
Wir sind zwar in Deutschland Spitzenklasse, was die fi-
nanziellen Transfers an Kinder und Familien angeht,
aber wir sind am Ende der Tabelle, wenn es um die In-
frastruktur für Kinder geht. Dabei wissen wir inzwischen
alle: Gute Betreuung ist die Voraussetzung für mehr Kin-
der. Beispielsweise liegt die Geburtenrate in Dänemark
bei 1,74 – 100 Frauen bekommen also im Durchschnitt
174 Kinder –, in Deutschland aber bei 1,29. Gleichzeitig
sind in Dänemark 72 Prozent der Frauen berufstätig, in
Deutschland aber nur 58 Prozent. Norwegen, Dänemark
und Schweden sind die Länder, in denen fast drei Viertel
der Frauen arbeiten und mehr Kinder bekommen als in
Deutschland. In den südeuropäischen Ländern wie Spa-
nien und Griechenland dagegen bleiben die Frauen öfter
zu Hause als in Deutschland, bekommen aber auch we-
niger Kinder. Das zeigt sehr deutlich, wo wir stehen und
was wir verändern müssen. In diesem Sinne appelliere
ich an alle Fraktionen, nach einem guten und vor allem
auch nach einem schnellen Weg zu suchen, damit wir die
Kinderbetreuung gerade für die Kleinsten ausbauen kön-
nen.
„Auf den Anfang kommt es an“ – dieses wichtige und
richtige Motto unserer Politik will ich ausdrücklich un-
terstützen: Gerade in die Kleinsten müssen wir mehr in-
vestieren – mehr Ideen und Kreativität, aber auch finan-
zielle Mittel –, damit die Kinderbetreuung besser wird.
Ich bitte Sie deshalb: Lassen Sie uns einmal parteipoliti-
sche und föderale Diskussionen überwinden und ge-
meinsam an einer Kraftanstrengung arbeiten, damit wir
die Kinderbetreuung ausbauen können. Wir haben damit
einen Anfang gemacht: Unser Programm mit einem Um-
fang von 4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen und
4,5 Millarden Euro in den nächsten Jahren für die
9046 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
Betreuung der unter Dreijährigen bedeuten eine wichtige
Weichenstellung in der Politik. Es ist ein Zeichen für Zu-
kunftsfähigkeit und für Zuversicht.
Rita Streb-Hesse (SPD): Die heutige Debatte über
die Dringlichkeit frühkindlicher Förderung, die Notwen-
digkeit der Bereitstellung eines bedarfsgerechten öffent-
lichen Angebots und einer Verbesserung der Qualität
zeigt, dass mit dem Schock aus PISA, IGLU und zahlrei-
chen anderen Untersuchungen vieles in Bewegung ge-
kommen ist. Die Richtung ist gut – auch und insbeson-
dere für das Gelingen von Integration.
Spätestens seit PISA ist mehr als deutlich geworden,
dass wir uns in der Bundesrepublik immer noch schwer
tun, soziale Herkunft und Bildung zusammenzubringen.
Kinder und Jugendliche ausländischer Herkunft sind da-
bei doppelt benachteiligt: zum einen durch die überwie-
gende Herkunft aus bildungsfernen Familien, zum An-
dern durch migrationsspezifische Probleme. Die Folgen
sind bekannt: häufige Zurückstellung bei Schulbeginn,
überproportionaler Haupt- und Sonderschulbesuch,
Schulabbruch, nicht ausreichende Schulabschlüsse und
damit wenig Chancen für eine berufliche Qualifizierung.
Auch hier ist der Anfang entscheidend. Eine konse-
quente altersgerechte Elementarförderung als Funda-
ment für den Bildungserfolg und von Chancengleichheit
aller Kinder muss mehr als bisher die Situation von
Migrationskindern und ihren Eltern berücksichtigen.
Bund, Länder und Kommunen haben dazu mittlerweile
richtige und wichtige Maßnahmen auf den Weg ge-
bracht, unter anderem zur Sprachförderung vor Schulbe-
ginn und zur Förderung der mehrsprachigen Entwick-
lung und interkulturellen Bildung in den Kindergärten.
All dies korrespondiert mit der von der Bundesregierung
angeschobenen „Nationalen Qualitätsinitiative im Sys-
tem der Tageseinrichtungen für Kinder“, die sich als ei-
nen Schwerpunkt die Arbeit mit Migrantenkindern und
ihren Eltern setzt.
Erste Erfolge sind schon erkennbar. Der Anteil am
Kindergartenbesuch steigt, wenn auch regional unter-
schiedlich. Die Ursachen dafür sind zum Teil fehlende
Angebote, zum Teil hohe Elternbeiträge. Mehr und mehr
werden Angebote genutzt, die wie das Projekt Hippy
eine gemeinsame Sprachförderung für Mütter und Kin-
der ermöglichen.
Aber nicht nur ein Kindergartenplatz wird von Eltern
mit Migrationshintergrund stärker als bislang vermutet
nachgefragt, sondern auch weitere Betreuungsmöglich-
keiten. Die erfreulichen Zahlen aus meiner Heimatstadt
Frankfurt sind dafür ein guter Beleg: Bei einem Anteil
ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an der Ge-
samteinwohnerzahl von 27 Prozent liegt der Anteil ihrer
Kinder in allen Einrichtungen zur Kindertagesbetreuung
bei mittlerweile 40 Prozent. Und bei den Angeboten zur
Kleinkinderbetreuung, dem Fokus unserer heutigen
Debatte, hat uns der Ausbau mit dem Ziel, jährlich
200 weitere Plätze zu schaffen, bereits begonnen. Und
auch hier findet sich der hohe Prozentsatz von 40 Pro-
zent.
Diese Zahlen lassen darüber hinaus die Schlussfolge-
rung zu, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Kind auch
in Familien mit Migrationshintergrund an Bedeutung
gewinnt. Viele ausländische Mütter sind wie ihre deut-
schen Geschlechtsgenossinnen wegen des niedrigen Ein-
kommens des Mannes auf eine Erwerbstätigkeit ange-
wiesen. Andere wollen arbeiten, insbesondere schon bei
uns geborene und/oder hier aufgewachsene Frauen, die
gute Schul- und Ausbildungsabschlüsse haben. So unter-
stützen auch hier Strukturveränderungen den Weg einer
gleichberechtigten Teilhabe.
Dieser kurze Ein- bzw. Ausblick verdeutlicht, dass
gute öffentliche Betreuungsangebote mit früher Förde-
rung ebenso unabdingbare Voraussetzungen für einen er-
folgreichen Integrationsprozess sind. Sie leisten einen
Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit, verbessern die Zu-
kunftschancen von Kindern und stärken die Erziehungs-
kompetenz der Eltern. Sie sind darüber hinaus eine Mög-
lichkeit, Kinder mit Migrationshintergrund und ihre
Eltern in der Auseinandersetzung mit neuen Lebensbe-
dingungen und kulturellen Einflüssen zu unterstützen.
Die Richtung ist eine gute – gut für die Kinder, gut für
die Eltern, gut für die Wirtschaft und gut für die Gesell-
schaft – sie ist gut für das Heute und die Zukunft unseres
Landes.
Caren Marks (SPD): Die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf gehört zu den vorrangigen familienpolitischen
Zielen der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode.
Die SPD legt dabei den Schwerpunkt auf den Ausbau
qualitativ hochwertiger, bedarfsdeckender und zeitlich
flexibler Bildungs- und Betreuungsangebote. Besonders
das Angebot der Tagesbetreuung für Kinder unter drei
Jahren soll in den alten Bundesländern erweitert und in
den neuen Bundesländern auf seinem hohen Stand erhal-
ten bzw. weiterentwickelt werden.
Deutschland weist auf dem Gebiet der Kinderbetreu-
ung einen strukturellen Rückstand im Vergleich zu ande-
ren westeuropäischen Staaten auf.
Der Ausbau von Betreuungsangeboten besitzt für die
gesellschaftliche Entwicklung eine herausragende Be-
deutung. So stärken Betreuungsangebote den sozialen
Zusammenhalt und gewährleisten Eltern die Vereinbar-
keit von Familie und Beruf. Durch ein besseres Betreu-
ungsangebot wird der „bestausgebildetsten Frauengene-
ration aller Zeiten“ im stärkeren Maß als bisher
ermöglicht, erwerbstätig zu sein. Betreuungsangebote
verbessern die Innovationsfahigkeit von Gesellschaft
und Wirtschaft.
Aus bildungspolitischer Sicht bringt der Ausbau eines
vielfältigen und flexiblen Betreuungsangebotes erhebli-
che Vorteile. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen,
dass Kinder vor allem in den ersten Lebensjahren über
ein enormes Lernpotenzial verfugen, welches für die
Entwicklung kognitiver, motorischer und sprachlicher
Gewandtheit und sozialer Kompetenz besser genutzt
werden sollte. Bildung und Erziehung dürfen also nicht
erst in der Schule beginnen. Die frühzeitige Förderung
von Kindern wirkt sich positiv auf den weiteren Weg in
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9047
(A) (C)
(B) (D)
Schule und Ausbildung aus und sichert damit Lebens-
chancen. Andererseits werden durch unzureichende För-
derung von Kindern in dieser Altersgruppe die Weichen
für Benachteiligung gestellt. So weisen Kinder im Vor-
schulalter zunehmend erhebliche Entwicklungsstörun-
gen im Bereich Motorik, Sprache und Sozialverhalten
auf. In frühkindliche Bildung zu investieren ist weit
günstiger, als für Folgen der Versäumnisse aufzukom-
men.
Die jahrelange Vernachlässigung der frühkindlichen
Förderung hat zu dem traurigen Ergebnis gefuhrt, dass
Kinder aus sozial benachteiligten und bildungsfernen
Familien deutlich geringere Bildungschancen haben als
andere Gleichaltrige. Die negativen Konsequenzen wir-
ken ein Leben lang.
Auch die Ergebnisse der PISA-Studie haben uns ein-
dringlich vor Augen geführt, dass hier in puncto Chan-
cengerechtigkeit ein erheblicher Nachholbedarf an bil-
dungspolitischen Maßnahmen besteht. Diese Situation
ist wesentlich auf die eklatante Vernachlässigung dieses
Bereichs durch die damalige CDU/CSU-FDP-Regierung
zurückzufuhren. 16 Jahre lang wurde die gesellschafts-,
sozial- und wirtschaftspolitische Bedeutung der qualita-
tiven und quantitativen Kinderbetreuung in ihrer Regie-
rungszeit ignoriert, meine Damen und Herren von der
Opposition.
In Abstimmung und Kooperation mit den Ländern
und Kommunen, Spitzenverbänden der freien Wohl-
fahrtspflege und der Wirtschaft sowie anderen gesell-
schaftlichen Gruppen treiben wir den an Kriterien orien-
tierten bedarfsgerechten Ausbau qualifizierter Angebote
voran. Dabei setzen wir auf den Ausbau der Qualitätssi-
cherung, Qualifizierung der Fachkräfte, die frühzeitige
Integration und spezifische Förderung von Kindern und
auf Bildungs- und Erziehungspartnerschaften und El-
ternbefähigung.
Wir setzen dabei nicht nur auf Einrichtungen, sondern
auch auf die individuelle Betreuung durch Tagesmütter
und -väter. Damit verbreitern wir das Betreuungsange-
bot. Maßnahmen der Qualifizierung von Tagespflegeper-
sonen und Regelungen bezüglich ihrer sozialen Siche-
rung führen zu einer Aufwertung der Tagespflege.
Der Antrag der FDP-Fraktion zur Umsetzung des In-
vestitionsprogramms „Zukunft, Bildung und Betreuung“
zielt auf wirkliche Veränderungen ab und ist grundsätz-
lich in dieser Zielrichtung zu befürworten. Leider diffe-
renziert er nicht die Zuständigkeit von Bund und Kom-
munen für den Betreuungsausbau und unterstellt, dass
letztlich der Bund am Ende der Föderalismusdebatte die
Zuständigkeit für die Kinderbetreuung haben wird. Auch
die Forderung, die Kinderbetreuung den freien Kräften
der Marktwirtschaft zu überlassen, kann nicht geteilt
werden.
Die Union macht mit ihrem Antrag deutlich, dass sie
nicht wirklich an einem deutlichen Ausbau von Kinder-
betreuungsangeboten interessiert ist. In ihrem Alibi-An-
trag fordert sie, dass der Bund den Kommunen alle
Mehrkosten durch den Ausbau der Kinderbetreuung er-
statten soll. Die Kommunen sollen damit aus der Pflicht
entlassen werden, für ein bedarfsdeckendes Angebot zu
sorgen. Eine solche Forderung ist vollkommen unrealis-
tisch und nicht haltbar.
Der Ausbau einer qualifizierten Tagesbetreuung für
Kinder ist eine gemeinsame Aufgabe von Staat, Wirt-
schaft und Gesellschaft. Um die Rahmenbedingungen
für mehr Kinder- und Familienfreundlichkeit vor Ort zu
schaffen, hat die Bundesregierung die Initiative „Lokale
Bündnisse für Familien“ ins Leben gerufen. Die Zukunft
unserer Kinder muss in unser aller Interesse liegen.
Die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, unserer Ge-
sellschaft hängt davon ab, wie wir unsere Kinder be-
treuen, bilden und ausbilden. Unser Land wird mit unse-
ren Reformen kinder- und familienfreundlicher. Bildung
und Betreuung sind nicht das Sahnehäubchen, sie sind
die Basis für unsere Zukunft, für unsere Innovationsfä-
higkeit, für unsere Wirtschaftskraft, für unseren Sozial-
staat und für unseren Anspruch auf Chancengerechtig-
keit.
Anton Schaaf (SPD): Die Erziehung, Bildung und
Betreuung unserer Kinder ist eine wichtige Investition in
die Zukunft. Bei der Versorgung mit Betreuungsplätzen
ist Deutschland (West) eines der Schlusslichter in
Europa. Wir liegen, was die Geburtenrate angeht, mit
1,29 Geburten pro Frau oder 8,5 Geburten pro
1 000 Einwohner auf dem letzten Platz in Europa.
Deutschland ist bei den familienergänzenden Betreu-
ungsmöglichkeiten fast ein Entwicklungsland. Eine Ver-
besserung der Balance von Familie und Arbeitswelt
bringt nicht nur für Männer und Frauen wichtige Vor-
teile, sondern auch für unsere Volkswirtschaft, für die
Unternehmen, für die Bevölkerungsentwicklung und für
die Stabilität der sozialen Sicherung. Der zu erwartende
Nutzen bei einem Ausbau der Kinderbetreuung ist weit
höher als die entstehenden Kosten.
Ein zuverlässiges Betreuungsangebot für Kinder un-
ter drei Jahren ist nicht nur für Eltern und Unternehmen
wichtig, sondern ist auch für die Kommunen ein bedeu-
tender Faktor, um sich im kommunalen Wettbewerb zu
behaupten. Zum einen ist die Attraktivität einer Kom-
mune zunehmend auch vom bestehenden Betreuungs-
und Schulangebot abhängig – nur wo ein solches Ange-
bot vorliegt, fühlen sich junge Familien wohl. Zum an-
deren kann es für die Kommunen nur von Vorteil sein,
wenn sie in die Bildung von Kindern etwas investieren.
Es ist keineswegs Zufall, dass in Ländern, wo der Bil-
dungsstand höher ist, auch die Betreuungsquote für
Kleinkinder viel höher liegt als bei uns – so in Frank-
reich und Finnland.
Aktuelle Studien und Gutachten belegen, dass eine fa-
milienbewusste Politik auch ökonomisch Sinn macht.
Vor allem auf das Potenzial gut ausgebildeter Frauen
kann die Wirtschaft angesichts des Fachkräftemangels
schon heute – trotz hoher Arbeitslosigkeit – nicht mehr
verzichten. Eine familienorientierte Personalpolitik hält
jüngere Beschäftigte – vor allem junge Frauen und damit
auch ihr Know-how – im Betrieb und spart Kosten für
die Personalgewinnung. Auch unsere Volkswirtschaft
9048 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
kann es sich mittelfristig kaum mehr leisten, ihre wich-
tigsten Ressourcen und Potenziale – die Arbeitskräfte
und ihre Leistungsfähigkeit, ihre Kreativität und ihr
Engagement – für die Steigerung von Wachstum und In-
novation ungenutzt zu lassen. Die Vereinbarkeit von Be-
rufs- und Privatleben, die bislang vor allem als indivi-
duelles Problem angesehen wurde, muss auch als
ökonomische Chance begriffen werden.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat
den volkswirtschaftlichen Nutzen der Kindertagesein-
richtungen in Zürich untersucht. Aus volkswirtschaftli-
cher Sicht fließen pro investierten Franken rund 4 Fran-
ken an die Gesellschaft zurück. Das DIW-Gutachten hat
diesen Effekt in einem Beispiel durchgerechnet: Würden
1 000 Akademikerinnen mit einem Kind im Krippenalter
durch den Ausbau der Kinderbetreuung eine Erwerbstä-
tigkeit aufnehmen, würden sie 8,1 Millionen Euro Ein-
kommensteuer und 10,4 Millionen Euro Sozialversiche-
rungsbeiträge zusätzlich erbringen. Dem stehen Kosten
der öffentlichen Hand für das Ganztagesangebot in Höhe
von 9 bis 10 Millionen Euro gegenüber. Schließlich ent-
steht ein Nutzen dadurch, dass die Spanne der Erwerbs-
tätigkeit erweitert wird und die Zahl der Erwerbstätigen
steigt. Familien erreichen dann über die gesamte Le-
bensspanne ein höheres erzielbares Einkommen.
Von einem bedarfsgerechten Ausbau der Kinderbe-
treuung profitiert auch jene Gruppe, die bislang wegen
auch mangelnder Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kin-
der auf Sozialhilfe angewiesen war. Dies betrifft vor al-
lem allein erziehende Frauen. Die Expertise ermittelt
mögliche Einsparungen für die Kommunen von rund
800 Millionen Euro für den Fall, das alle allein Erzie-
henden mit nur einem Kind unter dreizehn Jahren eine
Berufstätigkeit aufnehmen.
Wir haben uns das Ziel gesetzt, noch in diesem Jahr-
zehnt bei der Kinderbetreuung endlich westeuropäisches
Niveau zu erreichen!
Die Finanzierung der Tagesbetreuung ist in erster Li-
nie die Aufgabe der kommunalen Gebietskörperschaf-
ten. Schon seit 1991 stehen nach dem Kinder- und Ju-
gendhilfegesetz die Kommunen in der Pflicht ein
bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen in Tageseinrichtun-
gen vorzuhalten. Wir wissen allerdings, dass der Ausbau
der Betreuung im Westen, sowie der Erhalt des Stan-
dards im Osten mit erheblichen finanziellen Aufwendun-
gen verbunden ist. Deshalb müssen die Kommunen in
ihrer Finanzkraft nachhaltig gestärkt werden. Der Bund
wird den Kommunen dabei helfen, dieser Aufgabe nach-
zukommen, ein bedarfsgerechtes und qualitätsorientier-
tes Angebot zu schaffen. Mit jährlich 1,5 Milliarden
Euro können die Kommunen ab 2005 bereits bestehende
Angebote ausbauen oder eine neue Betreuungsstruktur
schaffen. Nun gilt es, mit den Ländern sicherzustellen,
dass die Mittel bei den Kommunen tatsächlich ankom-
men und die Kommunen sich dieser wichtigen Aufgabe
auch wirklich stellen.
Mit unserer Initiative zum Ausbau der Betreuungsan-
gebote für Kinder unter drei Jahren leisten wir einen
wichtigen Beitrag, jungen Müttern und Vätern die Ver-
einbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie zu ermögli-
chen. Dabei wollen wir ein möglichst vielfältiges Ange-
bot aufbauen. Die tatsächlichen Bedürfnisse sind der
Orientierungspunkt, dazu gehört gerade auch die Einbe-
ziehung der Tagespflege. Dort, wo Einrichtungen in
ländlichen Gebieten nicht zu erreichen sind oder bei un-
gewöhnlichen Arbeitszeiten – wie beispielsweise
Schichtarbeit – kann die Tagespflege eine sinnvolle Al-
ternative sein.
Bis vor kurzem haben wir noch darüber gestritten, ob
Kinderbetreuung in einem größeren Umfang überhaupt
erforderlich sei. Gegen einen Ausbau wurden beängsti-
gend konservative und rückwärtsgerichtete Argumente
ins Feld geführt. Besonders emotional wurde die Diskus-
sion, als es um die Betreuung der Kleinsten ging – der
Kinder unter drei Jahren. Hierzu wurden gar Untersu-
chungen herangezogen, die Beweisen sollten, dass die
Betreuung von kleinen Kindern außerhalb der Familie
schädlich sei; und Frauen, die ihre Aufgabe nicht haupt-
sächlich in der Betreuung ihrer Kinder sehen, unverant-
wortlich handelten und ihren Familien und der Gesell-
schaft insgesamt großen Schaden zufügen würden.
Da ist Gott sei Dank auf allen Seiten Einsicht in die
ökonomische und gesellschaftliche Notwendigkeit ein-
gekehrt.
Zu Recht wird beklagt, dass über eine Million Kinder
von der Sozialhilfe lebt. Wer hier klagt und nicht gleich-
zeitig dazu beiträgt, dass die Eltern dieser Kinder er-
werbstätig sein können, ohne dass die Betreuung und die
Erziehung ihrer Kinder vernachlässigt werden, handelt
heuchlerisch.
In Hartz IV ist bereits geregelt, dass Arbeitssuchen-
den für ihr Kind vor einer möglichen Arbeitsaufnahme
ein geeigneter Betreuungsplatz zur Verfügung stehen
soll. Kann eine Frau beispielsweise nicht arbeiten, weil
es an Kinderbetreuung mangelt, muss der zuständige
Fallmanager auch bei diesem Problem Hilfe leisten. Da-
mit er das tun kann, müssen wir aber die entsprechende
Anzahl von Plätzen einrichten. Es gilt die notwendigen
Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und
Beruf zu schaffen.
Besonders froh bin ich darüber, dass wir nun über die
Grenzen der Fraktionen hinweg eine große Übereinstim-
mung haben – auch was die Rolle der Tagespflege bei
der Betreuung von Kindern angeht. Deshalb freue ich
mich, dass die Familienministerin, Renate Schmidt, die
Bedeutung der Tagespflege für den Ausbau der Kinder-
betreuung deutlich hervorgehoben hat.
Der Antrag der FDP geht hier einen Schritt zu weit
und ist nicht bis zum Ende gedacht. Er enthält – wie ori-
ginell – mal wieder den Ruf nach einer Privatisierung –
diesmal sogar als Selbstzweck. Im Antrag heißt es: „Die
Privatisierung kommunaler Kindertageseinrichtungen
sollte Ziel sein.“
Unsere Initiative ist gesellschaftliche und ökonomi-
sche Innovation; und in keinem anderen Bereich wie Bil-
dung, Erziehung und Betreuung gilt mehr: Mehr Investi-
tion und Innovation ist mehr Gerechtigkeit.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9049
(A) (C)
(B) (D)
Maria Eichhorn (CDU/CSU): Familien mit Kindern
bilden die Grundlage für eine langfristig stabile wirt-
schaftliche und soziale Entwicklung unserer Gesell-
schaft. Deswegen hat die Frau Ministerin Recht, wenn
sie in dieser Woche vor den wirtschaftlichen Folgen des
Geburtenrückgangs gewarnt hat. Die Warnung allein tut
es jedoch nicht.
Die Geburtenrate in Deutschland sinkt seit Jahren. Sie
liegt heute bei 1,3 und damit im europäischen Vergleich
im unteren Drittel. Junge Leute wollen Kinder. Warum
aber verwirklichen sie ihren Kinderwunsch nicht? – Kin-
der zu haben ist heute leider ein Armutsrisiko geworden.
Gegenwärtig erhalten 1,1 Millionen Kinder und Jugend-
liche unter 18 Jahren Sozialhilfe. Hinzu kommt, dass
sich Eltern täglich neu mit dem Problem auseinander-
setzen müssen, Familie und Erwerbstätigkeit miteinan-
der zu vereinbaren.
In Ländern mit relativ hoher Geburtenrate, etwa in
Frankreich mit einer Rate von 1,9, gibt es nicht nur gute
Kinderbetreuungsmöglichkeiten, sondern auch eine in-
tensive finanzielle Förderung von Familien. Im Jahr
1996, während unserer Regierungszeit, wurde der
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz festge-
schrieben. Dennoch fehlen nach wie vor, vor allem in
Ballungsräumen, Kindergartenplätze. Nach der neues-
ten Länderübersicht von November 2003 liegen SPD-re-
gierte Bundesländer am Ende der Skala. Beispiel Schles-
wig-Holstein: Der Versorgungsgrad ab 3 Jahre bis zur
Einschulung liegt bei 91 Prozent. Es handelt sich aber
überwiegend nur um Halbtagsplätze mit vier bis fünf
Stunden Betreuung. Dagegen liegt der Versorgungsgrad
in Bayern bei 98,6 Prozent; davon ein Drittel Ganztags-
plätze und weitere 45 Prozent der Plätze mit sechs bis
acht Stunden Betreuung.
Wenn die SPD und die Grünen uns immer wieder
glauben machen wollen, wie gut die Situation bei den
von ihnen geführten Ländern und wie schlecht diese bei
den unionsregierten Ländern sei, dann möchte ich sie
auffordern, die Statistik nachzulesen. Man kann feststel-
len: alle unionsregierten Länder liegen vorne.
Lediglich Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, die bis
vor einem Jahr noch SPD-regiert waren, liegen noch bei
90,6 bzw. 92 Prozent. Man kann sich aber darauf verlas-
sen: Die CDU-Regierungen in diesen Ländern werden
die Versäumnisse der roten Vorgängerregierungen bald
aufgeholt haben.
Spätestens PISA hat uns gezeigt, dass die frühkindli-
che Förderung von höchster Bedeutung ist. Daher sind
Bildungs- und Erziehungspläne, wie sie Bayern derzeit
in über 100 Tageseinrichtungen erprobt, für Kinder be-
sonders wichtig. Hauptziel ist die Förderung frühen Ler-
nens in spielerischer Form. Dabei werden die besonde-
ren Stärken, Interessen und Bedürfnisse des Kindes
berücksichtigt. Die Ausführungen des Bundeskanzlers
heute Morgen zur Kinderbetreuung haben gezeigt, dass
er keine Ahnung hat, was unsere Bundesländer auf die-
sem Gebiet leisten.
Die Erwerbstätigkeit beider Partner ist der heute
mehrheitlich gewählte Lebensentwurf. Mehr als die
Hälfte aller Mütter mit Kindern und mehr als ein Viertel
aller Mütter mit Kleinkindern sind derzeit erwerbstätig.
Wir brauchen daher nicht nur für Drei- bis Sechsjährige,
sondern auch für die unter Dreijährigen und für Schul-
kinder bedarfsgerechte und qualifizierte Kinderbe-
treuungsmöglichkeiten. In der Koalitionsvereinbarung
haben Sie 1,5 Milliarden für den Ausbau der Kinderbe-
treuung für unter Dreijährige zugesagt. Diese Mittel soll-
ten aus Hartz IV finanziert werden. Wie man jüngsten
Zeitungsberichten entnehmen konnte, glaubt die Regie-
rung nicht mehr daran. Dies verwundert nicht: Ihre Zu-
sage war von Anfang an auf Sand gebaut.
Wo nehmen Sie das versprochene Geld nun her? Sie
haben es nicht! Wollen Sie weitere Kürzungen beim Er-
ziehungsgeld oder im Kinder- und Jugendhilfeplan vor-
nehmen? Ich habe volles Verständnis für die Haltung der
Kommunen, die zu Recht zuerst die Finanzierungsfrage
geklärt haben wollen, bevor über einen Ausbau der Kin-
derbetreuung gesprochen wird. Städte und Gemeinden
haben wegen der Politik der Regierung in den letzten
Jahren hohe Steuerausfälle in Kauf nehmen müssen. Be-
reits in der letzten Legislaturperiode wurde eine kommu-
nale Finanzreform versprochen, aber nicht einmal der
Versuch dazu unternommen. Nur auf Druck des Vermitt-
lungsausschusses war die Regierung bereit, wenigstens
die Gewerbesteuerumlage zu senken. Wer anschafft,
muss zahlen. Deswegen fordern wir die Verankerung des
Konnexitätsprinzips im Grundgesetz.
Junge, gut ausgebildete Frauen können und wollen
nicht auf eine Erwerbstätigkeit verzichten – sei es aus
wirtschaftlicher Notwendigkeit oder weil sie ihre Be-
rufstätigkeit als erfüllend und bereichernd erleben. In
Bayern sind gegenwärtig 63 Prozent der Frauen erwerbs-
tätig. – Das ist im Bundesvergleich der höchste Wert.
Ein Teil der Eltern entscheidet sich jedoch ganz bewusst
dazu, wegen der Kindererziehung auf eine eigene Er-
werbstätigkeit zu verzichten. Dies verdient unsere hohe
Anerkennung, aber auch unsere Unterstützung. Die
Gleichwertigkeit von Familie und Erwerbstätigkeit ist
Grundlage unseres Familienkonzeptes, das auf drei Säu-
len aufbaut.
Für uns ist nicht nur eine bessere Vereinbarkeit von
Familie und Erwerbsarbeit, sondern auch die finanzielle
Förderung sowie die Stärkung der Erziehungskompetenz
der Eltern wichtig. Im Mittelpunkt steht dabei die Wahl-
freiheit: Eltern sollen selbst entscheiden, wie sie Familie
leben wollen. Dabei sollte und muss das Wohl des Kin-
des im Vordergrund stehen.
Eltern übernehmen mit der Erziehung ihrer Kinder
eine große Verantwortung. In den Familien werden
grundlegende Werte und Verhaltensweisen vermittelt.
Diese sind wichtige Pfeiler für das Miteinander in der
Familie, aber auch für Staat und Gesellschaft. Wir wol-
len den Eltern, die sich eine gewisse Zeit ganz der Erzie-
hung widmen, einen reibungslosen Wiedereinstieg in das
Berufsleben ermöglichen.
Neben einer bedarfsgerechten Kinderbetreuung brau-
chen wir eine familiengerechte Arbeitswelt. Diese kann
jedoch nur in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und
nicht durch Zwangsmaßnahmen geschaffen werden.
9050 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
Dazu gehören flexible Arbeitszeiten, der Ausbau von
Telearbeitsplätzen, mobile Techniken im Zusammen-
hang mit Heimarbeit sowie familiengerechte Weiterbil-
dungsangebote. Es müssen aber auch alle Maßnahmen
ausgeschöpft werden, damit Mütter und Väter den Kon-
takt zum Betrieb während der Elternzeit nicht verlieren
und eine Dequalifizierung vermieden wird. Modellver-
suche wie Job-Rotation können darüber hinaus gezielt
auf künftige berufliche Aufgaben systematisch vorberei-
ten. Soziale Kompetenzen wie Teambereitschaft, Orga-
nisationsfähigkeit oder Konfliktmanagement sind im Be-
rufsleben zunehmend gefragt. Diese werden wesentlich
in der Familie erworben und vermittelt. Beim Wieder-
einstieg von Müttern und Vätern in den Beruf werden
diese Fähigkeiten und Stärken bislang weder anerkannt
noch berücksichtigt. Im Gegenteil: Eltern müssen sich
oftmals für diese Zeit rechtfertigen. Das kann doch nicht
sein! Wir müssen dafür sorgen, dass die Leistungen für
die Familien einen höheren Stellenwert erhalten. Wir
fordern mehr Forschungsvorhaben, um die in der Fami-
lie erworbenen Kompetenzen besser erfassen und mes-
sen zu können. Die Vereinbarkeit von Familie und Er-
werbstätigkeit muss auf vielen Ebenen unterstützt
werden. Voraussetzung hierfür ist aber eine verlässliche
Finanzierung. Der Worte sind genug gewechselt, lasst
uns endlich Taten sehen!
Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Die Not ist groß,
Kinderbetreuungsangebote fehlen. Welche Angebote
können helfen? Welche bieten eine angemessene Betreu-
ung und entsprechen auch dem Wunsch der Eltern und
vor allem dem Wohle des Kindes? Die Antwort aller
Parteien lautet: die Tagesmütter. Tagesmütter sind au-
genblicklich in aller Munde und scheinen Retterinnen in
der Not zu sein. Diese Form der Kinderbetreuung darf
kein Lückenbüßer werden, sondern muss ihrem eigenen
Verständnis entsprechend gefördert und ausgebaut wer-
den. Dabei verstehen wir Tagespflege als ergänzendes
und alternatives Kinderbetreuungsangebot. Entspre-
chend ihres Wunsches und besonders im Sinne des Woh-
les des Kindes haben Eltern Anspruch auf eine Tages-
mutter zur Betreuung ihres Kindes.
Ich freue mich sehr, dass die Vertreter der Regie-
rungskoalition mittlerweile ein anderes Verständnis von
Tagespflege haben. Die „elitäre Form der Kinderbetreu-
ung“ – noch vor Jahren verpönt und als nur für wohlha-
bende Eltern vorhandenes Betreuungsangebot abgetan –
ist nun endlich auch für sie eine für alle Eltern angemes-
sene Form der Kinderbetreuung. Es hat zwar lange ge-
dauert, aber immerhin!
Worin unterscheidet sich die private Tagespflege von
den öffentlichen Tageseinrichtungen? Welche Vorteile
bietet sie den Eltern und auch dem zu betreuenden
Kind? – Ein Vorteil liegt auf der Hand: die flexible Be-
treuungszeit; es gibt keine starren Öffnungszeiten, son-
dern flexible, den Wünschen der Eltern entsprechende
Betreuungszeiten. Wo gibt es das sonst noch? Aber auch
die familiäre Form der Kinderbetreuung ist geeignet, ge-
rade für Kinder unter drei Jahren. Dazu gehört natürlich
auch die Beschränkung auf eine Bezugsperson, die Ta-
gesmutter, die für Kontinuität und Zuverlässigkeit steht.
Auch die Möglichkeiten der individuellen Erziehungsab-
sprachen – zum Wohle des Kindes – sind ein Vorteil.
Ich glaube, wir alle sind uns einig, wie wichtig die
frühkindliche Förderung ist. Dabei gibt es sicherlich
breiten Konsens. Wir müssen aber unweigerlich auch
über Mindeststandards reden; denn durch Betreuung,
Bildung und Erziehung ist die Förderung der Entwick-
lung der Tageskinder durch eine Tagespflegeperson zu
leisten. Das bedeutet: Einheitliche Standards sind gefor-
dert. Der Tagespflege ist ein entsprechender Stellenwert
in der Landesgesetzgebung zuzuordnen. Ich erinnere an
dieser Stelle an landesrechtliche Ausführungsbestim-
mungen. Diese sind für eine funktionierende und ein-
heitliche Tagespflege unbedingt nötig. Wie können wir
der Tagespflege den angemessenen Stellenwert zukom-
men lassen?
Erstens: durch eine unverzichtbare Qualifizierung der
Tagesmütter bzw. Tageseltern. Die guten und bereits
mehrfach praktizierten Empfehlungen des Bundesver-
bandes „Tagesmütter“ oder auch des DJI können hierbei
die Grundlage sein.
Zweitens: durch eine Überprüfung der Eignung von
Tagesmüttern bzw. Tageseltern vor der Vermittlung. Si-
cherlich ist im Sinne der Qualitätssicherung vor der Ver-
mittlung eines Tageskindes an eine Tagespflegeperson
deren Eignung zu überprüfen. Dies muss anhand von
Eignungskriterien erfolgen, wie sie auch von der Regie-
rungskoalition gefordert werden.
Drittens: durch eine entsprechende Beratung und Be-
gleitung der Tagespflegepersonen während der Betreu-
ungszeit. Dazu gehört sowohl eine Möglichkeit des Aus-
tauschs unter Tagesmüttern als auch die Hilfe durch eine
Fachkraft in Konfliktsituationen und eine entsprechende
Unterstützung im Bereich der rechtlichen Rahmenbedin-
gungen. Im Bereich der Sozialversicherungen als auch
der Steuern sind einheitliche Regelungen unbedingt von-
nöten.
Bei fast einvernehmlicher Diskussionsgrundlage bei
der Bedeutung der Tagespflege muss ich dennoch einen
großen Unterschied zwischen uns und der Regierung an-
sprechen: Bei der Finanzierung der angestrebten Förde-
rung und des Ausbaus an Tagespflegestellen stehlen Sie
sich heraus. Durch Hartz IV wollen Sie den Kommunen
2,5 Milliarden zukommen lassen. Davon sollen 1,5 Mil-
liarden für Kinderbetreuungsangebote ausgegeben wer-
den. Dies nehmen Ihnen nicht nur die Kommunen, son-
dern auch ich nicht ab.
Es gibt eine Haushaltstelle im Etat bezüglich Finan-
zierung der Kosten. Das kann auch nicht sein, weil zum
Beispiel in Großstädten keine Einsparungen möglich
sein werden, sondern – viele Oberbürgermeister machen
das durch „Brandbriefe“ deutlich – mit zusätzlichen
Kosten in Milliardenhöhe zu rechnen ist.
Besser macht man es so wie wir: durch Anwendung
des Konnexitätsprinzips. Wer bestellt, muss auch bezah-
len. Das wäre ein fairer und verantwortungsvoller
Schritt. Das ist bei der Regierung Fehlanzeige. Ihr gan-
zer Antrag ist eine einzige Fehlanzeige in Bezug auf
konkrete Vorhaben. Es gibt wie immer viel heiße Luft.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9051
(A) (C)
(B) (D)
Sie reden und reden, doch nichts wird passieren. Ich zi-
tiere aus Ihrem Antrag: „als Impulsgeber“, „zu sorgen“,
„anzuregen“, „hinzuwirken“, „zu prüfen“, „zu suchen“,
„zu erörtern“. Ich könnte ohne Weiteres fortfahren. Es ist
wie immer eine Luftnummer.
Nehmen Sie sich ein Beispiel an uns und werden Sie
dem Wohle der Kinder gerecht, ihrem rechtmäßigen An-
spruch auf Betreuung, Erziehung und Bildung. Bereits
Neil Postman sagte nämlich:
Kinder sind die lebenden Botschaften, die wir einer
Zeit übermitteln, an der wir selber nicht mehr teil-
haben werden.
Sorgen auch Sie dafür, dass wir die bestmöglichen
„Botschaften übermitteln“, für uns, aber vor allem für
unsere Kinder.
Rita Pawelski (CDU/CSU): Wir wissen, dass wir
mitten in einer dramatischen demographischen Entwick-
lung stecken: Die Geburtenzahl pro Frau hat sich auf
1,34 reduziert, fast 44 Prozent der Akademikerinnen ha-
ben keine Kinder mehr, Deutschland steht in der Gebur-
tenskala von 209 Ländern auf dem unrühmlichen
Platz 195.
Wenn die Entwicklung so weiter geht, müssen im Jahr
2050 100 Arbeitnehmer für 85 Rentner sorgen. Was das
für Folgen für unsere Sozialsysteme, für den Wirt-
schaftsstandort Deutschland haben wird, das muss ich
hier wohl niemandem klarmachen.
Die Reden, die zu diesem Thema gehalten wurden,
füllen mittlerweile ganze Bibliotheken. Wir wissen, dass
wir den nächsten Generationen einen riesigen Scherben-
haufen hinterlassen, aber was passiert: Es wird weiter
geredet, geredet und versprochen.
Bei Versprechungen hat die Bundesregierung eine ge-
wisse Professionalität erreicht. Der Bundeskanzler hat
versprochen, die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren.
Stattdessen stieg sie. Minister Eichel versprach, die
Staatsfinanzen zu sanieren. Stattdessen hat diese Bun-
desregierung so viele Schulden gemacht wie noch keine
zuvor. Die Regierung versprach, Mittelstand und Hand-
werk zu stärken. Stattdessen erreichen die Firmenpleiten
einen Rekordstand.
Und jetzt verspricht die Familienministerin Betreu-
ungsprogramme: 20 Prozent der Kinder unter drei Jahre
sollen bis 2006 einen Betreuungsplatz bekommen. Sie
macht jungen Eltern, insbesondere jungen Müttern,
Hoffnung. Aber bei näherem Hinsehen entpuppt sich das
Programm als schillernde Seifenblase.
Obwohl: Der Antrag von SPD und Grüne stellt im
Vorspann durchaus die richtigen Forderungen. Ich gratu-
liere Ihnen zu Ihrer Erkenntnis, dass Tagespflege im Ver-
gleich zu den Tageseinrichtungen nur wenig entwickelt
ist und dass Tagesmütter eine Bereicherung eines vielfäl-
tigen Betreuungsangebotes sein können. Ich hoffe, der
Regierungschef teilt diese Erkenntnis, denn er hat als
Ministerpräsident des Landes Niedersachsen zusammen
mit seiner Fraktion unsere Anträge zu diesem Thema ab-
gelehnt, die Begründung der zuständigen Staatssekretä-
rin war: „Dann werden die Kinder wieder in Familien
betreut.“
Kommen wir zum Antrag der Regierungsfraktionen.
Realisiert werden soll die Betreuung durch Mittel, die
durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und So-
zialhilfe ab 2005 in den Kommunen frei werden. Nach
Berechnungen der Bundesregierung sparen die Kommu-
nen 2,5 Milliarden Euro; 1,5 Milliarden Euro davon sol-
len für die Verbesserung der Betreuungssituation der un-
ter Dreijährigen verwendet werden. Das ist eine
Milchmädchenrechnung. Denn Ihr Zahlenspiel wird
nicht nur von den kommunalen Spitzenverbänden ange-
zweifelt: Statt Einsparungen erwarten die höhere Ausga-
ben
Nach den Berechnungen des Deutschen Städtetages
betragen die Entlastungen der Kommunen durch die
Kostenübernahme des Bundes für die erwerbsfähigen
Sozialhilfeempfänger zwar rund 10 Milliarden Euro.
Dem stehen aber Belastungen von rund 15 Milliarden
Euro gegenüber, da die Kommunen im Gegenzug die
Unterkunftskosten für Langzeitarbeitslose und Sozialhil-
feempfänger übernehmen müssen.
Im günstigsten Fall, wenn also die Länder ihre Entlas-
tungen an die Kommunen voll weitergeben, rechnet der
Deutsche Städtetag mit 2,4 Milliarden Euro Belastung.
Um die versprochene Entlastung von 2,5 Milliarden
Euro zu erreichen, müssten fast 5 Milliarden Euro aufge-
trieben werden. Das können die Kommunen nicht leis-
ten. Die Heimatregion des Bundeskanzlers, die Region
Hannover, hat vorgerechnet, dass die Zusammenlegung
von Sozial- und Arbeitslosenhilfe ein Minus von 37 Mil-
lionen Euro bedeutet. Der Bürgermeister der Stadt
Laatzen, immerhin SPD-Mitglied, klagt in Richtung
Berlin: Was die da tun, ist irre.
Also nicht nur wir, sondern auch Ihre Parteifreunde
vor Ort rechnen Ihnen vor: Ihr Programm ist eine Luft-
buchung. Das ist verhängnisvoll, denn damit ist die so
wichtige Betreuung der Kleinkinder wieder in weite
Ferne gerückt, zurück bleiben enttäuschte Eltern.
Und das, obwohl der Bundeskanzler in seiner Regie-
rungserklärung und auch heute Morgen feststellte, dass
Deutschland zu wenig flexible Kinderbetreuungsmög-
lichkeiten habe. Als katastrophal bezeichnete er die Si-
tuation für Eltern mit Kindern unter drei Jahren. Er ver-
sprach, Sinnvolles und vor allen Dingen Notwendiges zu
tun. Aber an der so beklagten Situation änderte sich bis-
her nichts.
Noch immer haben in den alten Bundesländern nur
knapp 3 von 100 Kindern einen Krippenplatz. Deutsch-
land hechelt der europäischen Spitze weit hinterher.
Selbst im Bereich der Betreuung der Drei- bis Sechsjäh-
rigen – also bei Rechtsanspruch – liegt die Abdeckungs-
quote für das gesamte Bundesgebiet bei 90 Prozent. Be-
sonders merkwürdig ist hier aber, dass gerade die SPD-
regierten Länder eine Betreuungsquote aufweisen, die
zum Teil deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegt.
Dabei formulierte die SPD in ihren „Weimarer Leitli-
nien“ vom 6. Januar 2004 das Ziel, ich zitiere: „Bis 2010
9052 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
wollen wir Deutschland zu einem der kinderfreundlichs-
ten Länder in Europa machen“.
Ein Witz! Schade nur, dass die Situation derzeitig so
traurig ist, dass wohl niemand darüber lachen kann.
Schon jetzt, gut fünfeinhalb Jahre vor dem Jahreswech-
sel 2010, muss man kein Experte sein, um zu sehen, dass
Sie auch dieses Ziel, wie so viele andere auch, nicht er-
reichen werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, vor dem
Hintergrund der bereits erwähnten demographischen
Entwicklung und des damit verbundenen Rückgangs des
Arbeitskräftepotenzials ist es wichtig, die Erwerbsquote
der Frauen zu erhöhen. Andere europäische Länder zei-
gen, wie es geht: In Schweden und Dänemark zum Bei-
spiel arbeiten 75 Prozent der Frauen, in Deutschland
sind es nur 64 Prozent.
Im Klartext: Ausreichende Kinderbetreuung verein-
facht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und er-
möglicht Müttern den Wunsch, erwerbstätig zu sein. Bei
uns stehen die von Müttern gewünschten und die tat-
sächlich vorhandenen Arbeitszeitmodelle bei weitem
nicht im Einklang.
Um diese Diskrepanz abzubauen und um die Verein-
barkeit von Familie und Beruf zu verbessern, muss ne-
ben der Politik auch die Wirtschaft einen wichtigen
Beitrag leisten. Eine familienfreundliche Unternehmens-
kultur liegt auch im Interesse der Firmen. Es ist unver-
antwortlich, das Potenzial gut ausgebildeter Frauen, die
wegen Kinderbetreuung den Beruf aufgeben, brach lie-
gen zu lassen. Wir brauchen mehr flexible Arbeitszeit-
modelle. Allerdings nützen die flexibelsten Modelle
nichts, wenn die öffentliche Hand nur unzureichende
Kinderbetreuung bietet.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
heutige Debatte gibt Anlass zur Zufriedenheit, weil ein
Konsens darüber zu bestehen scheint, wie wichtig gute
Kindertagesbetreuung ist. Alle vorliegenden Anträge
greifen den aktuellen Erkenntnisstand auf und fordern
mehr bzw. hochwertigere Betreuungsangebote in
Deutschland. Das war in dieser Klarheit nicht immer
selbstverständlich.
Die Regierungskoalition hat den Handlungsbedarf er-
kannt. Unsere Initiative zum Ausbau der Kinderbetreu-
ung für unter Dreijährige wird demnächst dem Deut-
schen Bundestag vorgelegt. Bestandteil davon sind auch
Verbesserungen bei der Qualität von Einrichtungen und
in der Tagespflege. Wir werden eine ambitionierte Initia-
tive vorlegen, die jedoch den Möglichkeiten aller Betei-
ligten durchaus gerecht wird.
Viele Leute haben noch immer die Vorstellung, dass
es Kindern explizit schadet, wenn sie zu früh auch in ei-
ner Kita oder von einer Tagesmutter betreut werden. In
diesem Zusammenhang fällt gerne der Vorwurf, man sei
eine Rabenmutter. Dieses Wort sollte niemand mehr in
den Mund nehmen. Das ist Quatsch, oder sachlich aus-
gedrückt: es gibt weit und breit keine Untersuchungen
oder sonstigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die das
belegen würden.
Kinderbetreuung stärkt und fördert Kinder auf vieler-
lei Weise. Sie begünstigt die Herausbildung von Basis-
kompetenzen der Kinder. Hierzu gehören soziale und
emotionale Kompetenzen ebenso wie Spracherwerb und
Lernfähigkeit. Im Zusammenspiel dieser Elemente ent-
steht eine selbstbewusste, reflektierte und reife Persön-
lichkeit. Hier setzt die öffentliche Verantwortung ein.
Der erste Paragraph des KJHG lautet somit auch:
Jeder Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner
Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenver-
antwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persön-
lichkeit.
Ich zitiere weiter; denn so wird klar, dass die aktuel-
len Forderungen zu Kitas und Tagespflege keine neue
Erfindung sind. Das alles steht schon seit über einem
Jahrzehnt im Gesetz. In § 22 Satz 2 KJHG heißt es zur
Förderung von Kindern:
Die Aufgabe umfasst die Betreuung, Bildung und
Erziehung des Kindes.
Außerdem ist Gesetzesnorm, dass für die Kinder von
drei bis sechs Jahren ein Betreuungsrechtsanspruch be-
steht und für die jüngeren und älteren – so heißt es in
§ 24 Satz 2 KJHG – „nach Bedarf“ Plätze vorzuhalten
sind.
Was das Angebot betrifft, muss man leider feststellen:
Auch in den vergangenen Jahren ist viel zu wenig pas-
siert. Im Westen stagnieren die Versorgungsquoten. Die
Angebotsquote für unter Dreijährige im Westen liegt
nach wie vor bei unter 3 Prozent, bei den Hortplätzen bei
knapp 9 Prozent. Deshalb ist es unverzichtbar, beim
dringendsten Handlungsbedarf anzusetzen: Wir werden
den Kommunen bei Ihrer Aufgabe, ein angemessenes
Angebot in den kommenden Jahren aufzubauen, massiv
unterstützen.
Es geht aber auch um die Qualität, nicht nur um die
Größe des Angebotes. Kinder müssen erstens fürsorglich
und wohlbehalten betreut werden. Sie sollen zweitens so
erzogen werden, dass ihnen Werte und Gemeinschaft-
lichkeit vermittelt wird. Drittens ist es wichtig, sie an das
Lernen heranzuführen. Wenn wir hierfür optimale Rah-
menbedingungen schaffen, bekommen unsere Kinder
von Anfang an gerechte Chancen.
Im Dreiklang von Betreuung, Erziehung und Bildung
sind bislang die Elemente frühkindlicher Bildung stark
vernachlässigt worden. Hier muss vehement gegenge-
steuert werden. Die jüngeren Erkenntnisse der Neuro-
wissenschaften, der Entwicklungspsychologie und der
Bildungsforschung belegen dies eindeutig. Schon in den
ersten Lebensmonaten fangen Kleinkinder an, das Ler-
nen zu lernen. Mit rund zwei bis drei Jahren haben sie
Grundfähigkeiten zum Lernen in bislang ungeahntem
Umfang erworben. Hier schließt sich bereits das erste
Zeitfenster in der Entwicklung.
Auch und gerade in der Tagespflege werden wir zu ei-
nem besseren System der Qualitätssicherung kommen
müssen. Die Tagespflege ist ein wichtiger Baustein im
System der Kindertagesbetreuung. Ihre Bedeutung im
Rahmen des vielfältigen Angebots der Tagesbetreuung
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9053
(A) (C)
(B) (D)
wird künftig weiter zunehmen. Deshalb wird es umso
wichtiger zu prüfen, wie wir das System der Tagespflege
insgesamt weiterentwickeln können.
Dazu müssen wir übrigens auch überlegen, wie wir
die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten noch
weiter verbessern.
Die Herausforderungen im Bereich der Kindertages-
betreuung sind mannigfaltig. Das demonstrieren auch
die Forderungen in den verschiedenen Anträgen. Die
Bundesregierung wird mit dem Projekt des Ausbaus der
Betreuung für unter Dreijährige einen unverzichtbaren
Schritt nach vorne gehen. Mein Appell an die Länder
und Kommunen ist: Gehen Sie diesen Schritt in unser al-
ler Interesse mit!
Klaus Haupt (FDP): Deutschland ist, was Kinderta-
gesbetreuung anbelangt, in Europa geradezu Entwick-
lungsland. Dabei ist besonders in den alten Bundeslän-
dern die Lage schwierig, wie die vergangene Woche
veröffentlichten Zahlen des statistischen Bundesamtes
eindrucksvoll belegen.
Während in Ostdeutschland nahezu für jedes Kinder-
gartenkind ein Ganztagesplatz vorhanden ist, findet im
Westen nur jedes vierte Kind eine Betreuung über den
Vormittag hinaus. Während in den ostdeutschen Ländern
37 Prozent der Kleinkinder eine Chance auf einen Be-
treuungsplatz harten, waren es im Westen gerade mal
3 Prozent. In den östlichen Bundesländern hat sich die
Zahl der Kindertageseinrichtungen seit 1991 um mehr
als die Hälfte vermindert. Aber sogar bundesweit ist der
Ausbau der Kinderbetreuung seit vier Jahren rückläufig.
In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung wurde 2002
angekündigt: Umwandlung von 500 000 frei werdenden
Kindergarten- und Hortplätzen in Betreuungsangebote
für unter Dreijährige und Ganztagesplätze im Kindergar-
ten; Aufbau einer bedarfsgerechten Betreuungsquote für
Kinder unter drei Jahren von mindestens 20 Prozent;
Finanzierung durch den Bund mit 1,5 Milliarden Euro
jährlich ab 2004.
Davon ist bislang wenig zu sehen: Von einer finan-
ziellen Förderung des Bundes zum Ausbau der Kinder-
betreuung ab dem Jahr 2004 ist nicht mehr die Rede. Die
Förderung des Bundes soll nun 2005 beginnen, wenn die
Kommunen jährlich aus den Einsparungen durch Zu-
sammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe
1,5 Milliarden Euro hierfür behalten dürfen.
Die Kommunen bzw. deren Verbände gehen mittler-
weile von einem Scheitern von Hartz IV aus. Wenn dies
tatsächlich passiert, lassen sich die Einsparungen nicht
realisieren und Kinderbetreuungsangebote nicht aus-
bauen.
Mit Interesse nehme ich die Forderung von Rot-Grün
zur Kenntnis, die soziale Absicherung der Tagespflege-
personen zu verbessern, denn die diesbezüglichen For-
derungen der FDP wurden bislang stets ignoriert.
Deutschland ist als rohstoffarmes Land in höchstem
Maße auf die Bildung, Kreativität und Leistungsfähig-
keit seiner Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Dabei
haben verschiedene Studien wie PISA und IGLU deut-
lich gemacht, dass gerade Kindertagesstätten von großer
bildungspolitischer Bedeutung sind und dass in Deutsch-
land der Bildungs- und Erziehungsauftrag des Kin-
dergartens deutlicher fokussiert und besser umgesetzt
werden muss. Auch die neueren Erkenntnisse der Hirn-
forschung belegen die Bedeutung der ersten Lebens-
jahre, belegen, dass im Bauklötzealter die Grundsteine
für die Entwicklung des Kindes gelegt werden.
Eines der dramatischsten Ergebnisse der internationa-
len Vergleichsstudien ist, dass es in Deutschland kaum
gelingt, Benachteiligungen aufgrund der sozialen Her-
kunft auszugleichen. Frühkindliche Bildung ist der ent-
scheidende Faktor für die Chancengerechtigkeit am
Start. Besonders die Kindertagesbetreuung kann und
muss daher die Chancengerechtigkeit und die soziale In-
tegration verbessern. Die Kinder haben ein Recht auf
Förderung – und die Gesellschaft kann es sich nicht leis-
ten, die Potenziale der jungen Generationen zu ver-
schwenden.
Der volkswirtschaftliche Nutzen von Kindertagesein-
richtungen und Tagespflege wird ebenfalls unterschätzt.
Erhebliche Einnahme- und Einspareffekte für die öffent-
lichen Haushalte sind zu erwarten, wenn – erstens –
erwerbswillige Mütter dank einer besseren Kinderbetreu-
ungsinfrastruktur einer Erwerbstätigkeit nachgehen können
– zweitens –, im Bereich der Kindertageseinrichtungen
Arbeitsplätze geschaffen oder in der Tagespflege selbst-
ständige Existenzen gegründet werden und – drittens –
bisher auf Sozialhilfe angewiesene Alleinerziehende
ebenfalls bei besserer Kinderbetreuung erwerbstätig sein
können.
Frauen und Männer wollen mehr Chancen haben, sich
trotz Karriere intensiver ihrer Familie zu widmen. Viele
realisieren ihren Kinderwunsch nicht, weil er in Konflikt
mit dem Wunsch nach beruflicher Selbstverwirklichung
steht. Schon allein eine Steigerung der Frauenerwerbs-
quote auf das Niveau unserer skandinavischen Nachbarn
würde die mit der demographischen Entwicklung ver-
bundenen Finanzprobleme in der umlagefinanzierten
Rentenversicherung spürbar abschwächen.
Ganz konkret errechnet wurden jüngst in einer Studie
der Prognos AG die betriebswirtschaftlichen Effekte fa-
milienfreundlicher Maßnahmen. Kapital, das in die Ein-
führung familienfreundlicher Maßnahmen gesteckt wird,
erbringt eine Rendite von durchschnittlich 25 Prozent.
Familienfreundliche Maßnahmen sind keineswegs nur
eine humanitäre Geste, sondern betriebswirtschaftlich
sinnvoll.
Die FDP fordert aus all diesen Gründen unter ande-
rem:
Erstens. Die Betreuungsangebote für Kleinkinder
durch Krippen und Tagesmütter müssen quantitativ und
qualitativ ausgebaut werden.
Zweitens. Im Rahmen des bestehenden Rechtsan-
spruchs auf einen Kindergarten-Halbtagesplatz muss die
Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder bzw. El-
tern kostenlos sein.
9054 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
Drittens. Zur besseren Vorbereitung auf die Grund-
schule soll es eine pädagogisch geführte verbindliche
Startklasse geben, in der zum Beispiel sprachliche Defi-
zite rechtzeitig erkannt, aufgefangen und abgebaut wer-
den können.
Viertens. Gerade Kindertageseinrichtungen können
und müssen in besonderem Maße zur Integration von
Migrantinnen und Migranten und zur Vermittlung
sprachlicher Kompetenz beitragen. Sinnvoll sind dabei
auch Angebote für Eltern, die Partizipation und Integra-
tion fördern.
Fünftens. Die nachhaltige Finanzierung eines bedarfs-
gerechten Kinderbetreuungsangebotes muss im Zuge der
Föderalismusreform berücksichtigt werden. Keine zu-
sätzlichen Lasten für die Kommunen ohne die dafür er-
forderliche Finanzausstattung durch den Bund!
Ich begrüße es sehr, dass alle im Bundestag vertrete-
nen Fraktionen die Frage der frühkindlichen Bildung
und der Kindertagesbetreuung als entscheidende Frage
für die Zukunft unserer Gesellschaft erkannt haben.
Jetzt ist entschlossenes, gemeinsames Handeln ge-
fragt. Wir Liberalen werden daran konstruktiv mitarbei-
ten.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Qualitätssicherung des deutschen For-
schungssystems,
– Ressortforschung des Bundes effizienter ge-
stalten und evaluieren
(Tagesordnungspunkt 11 a und b)
Dr. Carola Reimann (SPD): Wissenschaft und For-
schung sind zentrale Bestandteile unserer Gesellschaft.
Ihre Bedeutung wächst in unserer Gesellschaft, die sich
zunehmend über die Schaffung und wirtschaftliche Nut-
zung von Wissen definiert. Von hier gehen nicht nur ent-
scheidende Wachstumsimpulse für die Wirtschaft aus,
die wir ja zurzeit intensiv unter dem Stichwort Innova-
tion diskutieren. Es werden von der Forschung auch Lö-
sungsansätze und Beratung für eine Reihe sozialer, öko-
nomischer und ökologischer Probleme erwartet.
Ressortforschung ist Teil unserer Forschungsland-
schaft mit Groß-Forschungseinrichtungen, universitärer
Forschung und außeruniversitärer Forschung der Länder.
Die Ressortforschung ist in diesem Zusammenhang un-
verzichtbar für politische Entscheidungen. Sie gehört
zum Wissensmanagement der politischen Administra-
tion.
Die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes be-
sitzen deshalb immer eine Doppelfunktion. Zum einen
haben sie die Aufgabe, wissenschaftliche Erkenntnisse
für die Durchführung der Ressortaufgaben zu gewinnen
und bereitzustellen. Zum anderen tragen sie wie andere
Forschungsinstitute zum allgemeinen Erkenntnisgewinn
bei. Ressortforschung ist zudem durch eine ungewöhn-
lich breite Aufgabenstellung gekennzeichnet. Diese rei-
chen von Fragen der Mobilität über metrologische, ma-
terial- und biowissenschaftliche Fragestellung bis hin zu
Aufgaben der Gesundheitsvorsorge- und -erhaltung. Das
alles sei genannt ohne jeden Anspruch von Vollständig-
keit, nur um die Bandbreite der Ressortforschung anzu-
deuten.
Den Bundesforschungsanstalten fällt dabei eine
Schlüsselrolle in den Bereichen zu, in denen wissen-
schaftlich fundierte Antworten auf Fragen aus dem poli-
tischen Raum benötigt werden. Die wissenschaftliche
Qualität der Ressortforschungseinrichtung muss, wie bei
anderen Forschungseinrichtungen auch, regelmäßig
überprüft werden. Diese Aufgabenstellung erfordert al-
lerdings Erfahrung und Augenmaß. Besonders wichtig
sind dabei die angelegten Bewertungsmaßstäbe. Sie
müssen der Doppelfunktion der Ressortforschungsein-
richtungen gerecht werden, weswegen hier auch die An-
wendung spezifischer Bewertungsverfahren und -krite-
rien erforderlich ist. Die hoheitlichen Aufgaben und
Beratungsaufgaben, die quasi Dienstleitungen für die
Politik darstellen, können nicht nur mit Bewertungskri-
terien evaluiert werden, die für die Untersuchung der
Leistungsfähigkeit von Hochschulen und Großfor-
schungseinrichtungen üblich sind.
Wir wollen grundsätzlich eine Evaluierung der Res-
sortforschungseinrichtungen, um eine zielgerichtete Po-
litikberatung zu gewährleisten und um die Qualität des
deutschen Wissenschaftssystems zu sichern und weiter
zu verbessern. Da beginnen wir nicht bei Null. Dort
wurde, was die Qualitätsüberprüfung und -sicherung des
deutschen Forschungssystems angeht, bereits eine
Menge unternommen. Die Zahl der evaluierten Ressort-
forschungsinstitute ist seit unserem Regierungsantritt
deutlich gestiegen. Es wurden sowohl im Bereich der
Großforschungseinrichtungen Evaluierungen angeregt
als auch im Bereich der Ressortforschung verschiedene
Anstrengungen zur Qualitätssicherung unternommen.
Die bisher vorgenommenen Evaluierungen, die zum
Teil auch durch den Wissenschaftsrat erfolgt sind, stellen
der deutschen Ressortforschung kein schlechtes Zeugnis
aus. Ganz im Gegenteil: Sie bestätigen die internationale
Konkurrenzfähigkeit des deutschen Forschungssystems.
Sie haben uns aber auch auf Defizite hingewiesen, Chan-
cen zur Veränderung eröffnet und Verbesserungen ini-
tiiert. Sie haben zudem wichtige Reformen angestoßen
und einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung und
Effizienzsteigerung im deutschen Forschungssystem ge-
leistet. Denn dazu ist Evaluierung schließlich auch da:
Entwicklungspotenziale aufzuzeigen und diese Felder
qualitativ fortzuentwickeln.
Diese Erfahrungen zeigen sehr deutlich, dass die
Überprüfung von Einrichtungen unseres Forschungssys-
tems sehr wohl sinnvoll und auch notwendig ist. Deshalb
fordern wir in unserem Antrag zur „Qualitätssicherung
des deutschen Forschungssystems“ die systematische
Evaluierung der deutschen Ressortforschungslandschaft.
Am Ende eines solchen Prozesses sollen deshalb Emp-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9055
(A) (C)
(B) (D)
fehlungen zur Effizienz, Umfang, Struktur und Aufga-
ben der Einrichtungen stehen, mit deren Hilfe sich die
Ressortforschung als wichtiger Teil des Wissenschafts-
systems kontinuierlich weiter entwickeln kann.
Wir verstehen unseren Evaluierungsauftrag zur Stei-
gerung der Qualität und nicht zur Senkung der aufge-
wendeten Mittel. Es geht nicht darum, Mittel aus der
Ressortforschung abzuziehen. Im Gegenteil: Wir wollen,
dass mehr Gelder in die Forschung fließen; denn wir
wollen im Rahmen unserer Innovationsoffensive bis
zum Jahre 2010 den Anteil der Forschungsausgaben auf
3 Prozent des BIP steigern. Der Kanzler hat dieses Ziel
heute Morgen nochmals bekräftigt.
Der Wissenschaftsrat hat im Bereich der Evaluation
sowohl von Forschungsorganisationen als auch von
nachgeordneten Einrichtungen des Bundes bisher her-
vorragende Arbeit geleistet. Er ist das Gremium mit der
größten fachlichen Erfahrung auf diesem Gebiet. Wir
werden deshalb die Bundesregierung auffordern, den
Wissenschaftsrat auch weiterhin mit der Begutachtung
der Ressortforschungseinrichtungen zu betrauen.
In diesem Zusammenhang möchte ich jedoch vor
pauschalen Bewertungen und Fehlinterpretationen der
bisherigen Evaluationsergebnisse eindringlich warnen.
Zum Beispiel haben die Äußerungen von Professor
Winnacker in einem Interview im DLF über die Bundes-
forschungsanstalten für erhebliche Irritationen unter den
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gesorgt und
definitiv nicht zu einer sachlichen und differenzierten
Diskussion über die Aufgaben, Qualität und die Struktur
der Ressortforschungseinrichtungen beigetragen. Die
pauschalen Äußerungen haben lediglich vorhandene
Vorurteile bestärkt und dem Ansehen der deutschen For-
schungslandschaft geschadet.
Wie gesagt, auch wir stehen für die Überprüfung der
Ressortforschungseinrichtungen. Wenn Evaluierungen
Verbesserungspotenziale ausmachen und vorhandene
Defizite aufzeigen, müssen diese Ergebnisse zur Verbes-
serung und Weiterentwicklung genutzt werden. Wir wollen
ja die deutsche Forschung voranbringen. Dazu gehören
eben auch die kritische Analyse ihrer Leistungsfähigkeit
und auch das Aufzeigen ihrer Schwachstellen. Nur so
können wir letztlich wissen, wo Verbesserungen notwen-
dig sind, die unser Forschungssystem fit für die Zukunft
machen. Dies gilt im Übrigen auch für Ressortfor-
schungseinrichtungen der Länder. Auch hier regen wir in
unserem Antrag eine Evaluation durch den Wissen-
schaftsrat an.
Ich habe an dieser Stelle die Äußerungen des DFG-
Präsidenten aufgegriffen, nicht nur weil ich sie in ihrer
Pauschalität für nicht berechtigt halte, sondern weil sie
geradezu dazu herausfordern, darzustellen, wie gut ei-
nige, bereits evaluierte Ressortforschungseinrichtungen
tatsächlich arbeiten. Ich möchte Ihnen gern ein Beispiel
für eine erfolgreiche Evaluierung geben. Die Physika-
lisch-Technische Bundesanstalt, eine Einrichtung, die
dem Bundeswirtschaftsministerium unterstellt ist und
größtenteils in Braunschweig arbeitet, hat sich – auf ei-
genen Wunsch hin – kürzlich über ein Jahr lang durch
eine internationale Expertenkommission evaluieren las-
sen. Die Kommission hat die PTB gründlich auf Herz
und Nieren geprüft – sogar intensiver, als dies durch den
Wissenschaftsrat normalerweise üblich ist.
In ihrem Abschlussbericht stellt die Evaluierungs-
kommission fest: „Die PTB verfolgt eine wichtige me-
trologische Mission mit großem Nutzen für die deutsche
Wirtschaft und Gesellschaft“. Die Zuordnung der PTB
zum Bundeswirtschaftsministerium habe sich für die Er-
füllung dieser Mission als sinnvoll erwiesen. Die Kom-
mission kommt zu dem Schluss, dass die Fachkompe-
tenz und die Qualität der Arbeiten der PTB-Mitarbeiter
exzellent seien. Ich zitiere: „Die wissenschaftliche Re-
putation ist generell sehr gut, ebenso die Einbindung in
das nationale, europäische und internationale Umfeld“.
Der PTB wird also ein sehr hohes fachliches Niveau be-
scheinigt.
Mit unserem Antrag „Qualitätssicherung des deut-
schen Forschungssystems“ stellen wir uns den aktuellen
Erfordernissen, die deutsche Forschungslandschaft, ins-
besondere die Ressortforschungseinrichtungen des Bun-
des, mit dem Ziel einer weiteren Qualitäts- und Effi-
zienzsteigerung überprüfen zu lassen. Im Gegensatz zum
Antrag der Union, der stellenweise den Anschein er-
weckt, dass auf dem Gebiet der Ressortforschungsein-
richtungen die blanke Ineffizienz herrscht, bringen wir
das nötige Augenmaß mit, ohne das Kind gleich mit dem
Bade auszuschütten. Es gilt, die deutschen Forschungs-
einrichtungen weiter zu stärken, sie fit für die Zukunft zu
machen. Dafür ist eine Bestandsaufnahme der Stärken
und Schwächen der Ressortforschung, verbunden mit
dem Aufzeigen von Verbesserungsmöglichkeiten, unab-
dingbar. Der Antrag „Qualitätssicherung des deutschen
Forschungssystems“ bietet somit eine solide Arbeits-
grundlage für die systematische Evaluierung der Res-
sortforschungseinrichtungen, der deren spezifische Be-
dingungen mit dem nötigen Augenmaß und der
notwendigen Differenzierung begegnet.
Helge Braun (CDU/CSU): Seit der Übernahme der
Regierung im Jahr 1998 wurden drei Anträge und eine
Kleine Anfrage speziell zur Ressortforschung in den
Deutschen Bundestag eingebracht. Alle stammten von
Oppositionsfraktionen. Die Anträge hatten immer zum
Ziel, die Ressortforschungseinrichtungen zu evaluieren
und die Effizienz der Forschung zu steigern.
Sie, die Abgeordneten von SPD und Grünen, haben
mit Ihrer Mehrheit die Anträge abgelehnt. Noch in der
letzten Debatte zur Ressortforschung vor sechs Monaten
führte Frau Kollegin Dr. Reimann von der SPD aus, dass
die „Ressortforschung nicht losgelöst im luftleeren
Raum vor sich hinforscht“. Ferner hieß es, es werde be-
reits evaluiert. Nun, im März 2004, legen Sie endlich
selbst einen Antrag vor, in dem Sie eine „aufgabenkriti-
sche Überprüfung“ der Ressortforschungseinrichtungen
fordern. Damit schließen Sie sich endlich einer langen
Forderung der Union und der FDP an. Dies ist überaus
erfreulich und ich begrüße Ihre Erkenntnis.
Die Ressortforschungseinrichtungen finanzieren sich
im Wesentlichen aus Bundesmitteln. Daher muss die
Verwendung dieser Gelder nicht nur sparsam sondern
9056 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
auch effizient erfolgen. Hier ist eine Evaluierung not-
wendig. Bislang wurden aber nur vereinzelte Ressortfor-
schungseinrichtungen evaluiert.
Dabei geht es um eine beträchtliche Summe. Allein
im Jahr 2002 flossen knapp 1,3 Milliarden Euro an die
Ressortforschungseinrichtungen des Bundes. Dies sind
11,6 Prozent der F-und-E-Ausgaben des Bundes. Zur
Verdeutlichung: Dieses Geld würde sogar reichen, um
die von der Bundesregierung geplante Förderung von
fünf Universitäten zu Spitzenuniversitäten auf ganze
26 Universitäten auszudehnen.
Wenn ich nun aber Ihren Antrag lese, meine Damen
und Herren von SPD und den Grünen, so bin ich auch er-
staunt: Sie fordern eine „aufgabenkritische Überprüfung
der Ressortforschungseinrichtungen“. Sie wollen aber
auch veranlassen, dass alle Ressortforschungseinrichtun-
gen in Zukunft ein Forschungsprogramm erstellen. Und
Sie verlangen sogar vom Wissenschaftsrat, er solle den
besonderen Stellenwert der Ressortforschung definieren.
Insbesondere die letzte Forderung hätte ich wirklich
nicht erwartet. Sie zahlen seit 1998 jährlich circa
1,3 Milliarden Euro an die Ressortforschung und wollen
nach fünf Jahren eine Definition vom Wissenschaftsrat
erhalten, was Ressortforschung eigentlich bedeutet. Dies
zeigt einmal mehr, mit welcher Fachkompetenz die Bun-
desregierung Forschungspolitik betreibt. Der Antrag
zeigt, dass die Regierung überhaupt nicht weiß, was sie
bislang getan hat. Nun wird nach einer Definition des
besonderen Stellenwertes der Ressortforschung gefragt.
Nun sollen Forschungspläne erstellt werden. Der Antrag
von SPD und den Grünen ist ein Eingeständnis der Unfä-
higkeit der letzten fünf Jahre Forschungspolitik. Getreu
dem Motto: Denn sie wissen nicht, was sie tun.
Die in Ihrem Antrag geforderten Untersuchungen und
Definitionen gibt es bereits. Zwar nicht explizit für jede
Ressortforschungseinrichtung. Aber aus unterschiedli-
chen Berichten des Wissenschaftsrates zu den bisher un-
tersuchten Einrichtungen ergibt sich ein schlüssiges
Bild, an welchen Punkten die Politik handeln muss. War-
ten Sie nicht auf weitere Berichte, Untersuchungen und
Definitionen! Vergeuden Sie keine wertvolle Zeit und
Geld! Handlungsbedarf gibt es schon heute reichlich:
Ressortforschung dient zum einen der Erfüllung ho-
heitlicher Aufgaben. Zum anderen beraten die Einrich-
tungen die Politik bei der Rechtsetzung durch Risikoana-
lysen und durch Monitoring von Entwicklungen. Dabei
kann der Forschung der Ressortforschungseinrichtungen
grundsätzlich kein Sonderstatus zukommen. Die von den
Einrichtungen durchgeführte Forschung muss daher stets
an der universitären und außeruniversitären Forschung
gemessen werden, soweit die Aufgaben auch von der
Forschungslandschaft außerhalb der Ressorteinrichtun-
gen durchgeführt werden kann. Für eine effiziente Res-
sortforschung ist daher auf die Kompetenz der Ressort-
einrichtung auf die Kernbereiche der eigentlichen
Aufgabenerfüllung zu begrenzen. Alle Institute und Ein-
richtungen, die wissenschaftliche Antworten finden kön-
nen, sind potenzielle Partner des Staates. Eine Begren-
zung der Kompetenzen auf die Ressorteinrichtungen
wäre hierbei ein untragbarer Eingriff in den Wettbewerb
der übrigen Forschungseinrichtungen in Deutschland.
Ressortforschung außerhalb des Kernbereichs muss sich
in wissenschaftlicher Konkurrenz in der Forschungs-
landschaft messen lassen. Dieser Wettbewerb führt zur
gebotenen Effizienzsteigerung.
Andere Forschungsaufträge außerhalb des engen ho-
heitlichen Aufgabenkanons sind im Rahmen des Wettbe-
werbs im Forschungssystem frei zu vergeben. Dabei sol-
len die Ministerien und Ressorteinrichtungen bei der
Vergabe nicht als allgemeine Forschungsförderer auftre-
ten. Vielmehr muss die Vergabe von wissenschaftlichen
Aufträgen auf politikrelevante Fragen begrenzt sein. Die
Loslösung von Forschungsbereichen aus der bisherigen
Forschung dient nur der Beendigung der bisherigen
Wettbewerbsverzerrung und der Steigerung der Effizienz
und Qualität.
Die Niederlande und die Schweiz sind diesbezüglich
in der Ressortforschung Vorreiter. In diesen Staaten ste-
hen Ressorteinrichtungen in den Bereichen außerhalb
der Erfüllung ihrer Kernaufgaben im Wettbewerb mit
anderen Institutionen der Forschungslandschaft. Auf-
tragsforschung und Projektvergabe versetzt die Ressort-
einrichtungen in einen erhöhten Wettbewerb. Ministe-
rien sollten daher künftig sämtliche Projektmittel
öffentlich ausschreiben, um den Wettbewerb zwischen
Forschungseinrichtungen als Qualitätssicherung zu nut-
zen. Denn nur Handlungsoptionen führen zum verstärk-
ten Einsatz des Bieters und zum Vergleich der angebote-
nen Leistung zwischen den Bietern.
Die Eingrenzung der hoheitlichen Aufgaben ist bisher
nur in den wenigsten Ressorteinrichtungen erfolgt. We-
der im übergreifenden Forschungsplan, in den For-
schungsprogrammen der einzelnen Einrichtungen noch
in den Planungsgremien der Ministerien ist eine scharfe
Abgrenzung erfolgt. Es ist daher bislang unklar, welche
Aufgaben unabdingbar von der Ressortforschung durch-
geführt werden müssen. Eine künftige klare Festlegung
eines Kernkanons an Aufgaben der Ressortforschung in
auf hoheitliche Tätigkeiten und Politikberatung ist aus
folgenden Gründen von entscheidendem Vorteil: Ab-
grenzung zu den Themen, die für den Wettbewerb der
Wissenschaftslandschaft geeignet sind, die für die Res-
sortforschung zur Verfügung stehenden Ressourcen effi-
zient und zielgerichtet einzusetzen. Nur bei klarer Auf-
gabenzuweisung ist eine externe Qualitätssicherung
durch Evaluation möglich.
Die klare Aufgabenzuweisung der Ressortforschung
auf Kernbereiche erfordert hohe wissenschaftliche Ex-
zellenz aus zwei Gründen, erstens weil bei der Erfüllung
der Kernaufgaben der aktuelle Stand der Wissenschaft
der gesamten Wissenschaftsgesellschaft einfließen muss,
zweitens weil Ressortforschungseinrichtungen in der
Lage sein müssen, am Wettbewerb innerhalb der For-
schungslandschaft teilnehmen zu können.
Hierfür müssen die Ressortforschungseinrichtungen
viel intensiver mit anderen Forschungseinrichtungen
vernetzt werden und mit diesen kooperieren. Die wissen-
schaftlichen Ergebnisse der Ressortforschungseinrich-
tungen, die der Politikberatung zugrunde liegen, können
entweder auf eigenen Forschungsarbeiten beruhen, oder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9057
(A) (C)
(B) (D)
sie bauen auf Erkenntnissen aus anderen Einrichtungen
der Forschungslandschaft auf. Für den Durchfluss von
Erkenntnissen von der allgemeinen Forschung zur Res-
sorteinrichtung bedarf es einer hervorragenden Anbin-
dung der Ressortforschung an übrige staatliche sowie
außerstaatliche Forschungseinrichtungen. Umgekehrt
müssen Forschungserkenntnisse der Ressorteinrichtun-
gen der allgemeinen Forschungslandschaft zur Verfü-
gung stehen. Schließlich wird die Ressortforschung mit
öffentlichen Mittel finanziert und soll somit auch der
Allgemeinheit so weit wie möglich zugute kommen.
Dann kommt der Einsatz öffentlicher Gelder sogar dop-
pelt zum Tragen: Als wissenschaftliche Erkenntnis und
als Beitrag zur Politikberatung.
Derzeit fehlt es an einer effizienten Vernetzung der
Ressorteinrichtungen sowohl untereinander als auch mit
anderen Einrichtungen der Forschung. Dies hat auch der
Wissenschaftsrat kürzlich festgestellt. In seinen Empfeh-
lungen zur Entwicklung der Rahmenbedingungen am
Beispiel der Forschungsanstalten des BMVEL heißt es:
„Es ist jedoch unverkennbar, dass die geforderte Veran-
kerung der Forschungsanstalten in der scientific commu-
nity bisher nicht in ausreichendem Maße realisiert
wurde.“
Die Ressortforschungseinrichtungen dürfen dabei
nicht parteiideologisch gesteuert werden. Vielmehr müs-
sen sie den aktuellen Stand der Wissenschaft in weiten
Teilen nachverfolgen oder sogar vorgeben. Ein Negativ-
beispiel für den Ausschluss der Ressortforschung aus der
allgemeinen Forschung zeigte in jüngster Zeit eine De-
batte über gentechnologische Forschung. Diskutiert
wurde, ob das Verbraucherministerium die gentechnolo-
gische Forschung in seinen Ressortforschungseinrich-
tungen einschränken solle. Dies darf nicht sein. Wenn
die Politik sachliche und neutrale Erkenntnisse aus der
aktuellen Wissenschaft wirklich erwartet zum Beispiel
zu Fragen beim Anbau gentechnisch veränderter Pflan-
zen oder Novel Food, dann darf die Ressortforschung
nicht ideologisch ausgerichtet werden. Eine kompetente
Beratung setzt eine wissenschaftlich aktuelle, fundierte
und neutrale Forschung voraus. Eine Vernetzung der
Ressortforschung mit anderen Teilen der Forschung
dient daher auch dem Schutz vor politischem Präjudiz in
der Ressortforschung. Meine Damen und Herren von
SPD und Grünen, ich erkenne natürlich Ihr Bestreben,
den Einfluss auf gentechnologische Forschungserkennt-
nisse nicht zu verlieren. Aber hüten Sie sich vor einer
ideologisierten Forschung!
Die Ressortforschung steht auch unter dem verstärk-
ten Einfluss der EU. In etlichen Bereichen – wie zum
Beispiel der Arzneimittelzulassung – reicht die Zertifi-
zierung durch eine Ressortforschungseinrichtung in ei-
nem Mitgliedstaat. Dies bemächtigt dann automatisch
zum Agieren in den übrigen Mitgliedstaaten der EU. Die
Ressortforschungseinrichtungen stehen daher in einem
internationalen Wettbewerb. Die wissenschaftliche Ex-
zellenz der staatlich finanzierten Ressortforschungsein-
richtungen repräsentiert dabei den Forschungsstandort
Deutschland gegenüber der ausländischen Wissenschaft
und Wirtschaft. Deutsche Ressortforschungseinrichtun-
gen müssen daher im internationalen Vergleich hohen
wissenschaftlichen und qualitativen Anforderungen ent-
sprechen. Es ist dafür notwendig, nationale Schwer-
punkte der Einrichtungen zu setzen, um mit wissen-
schaftlichen Erkenntnissen in Europa gefragt und
akzeptiert zu werden. Zudem ist eine Vernetzung mit der
Forschungsstelle der Kommission geboten. Nutzen wir
die Ressortforschungseinrichtungen als Botschafter für
den Forschungsstandort Deutschland!
Die Ressortforschung muss also in jeder Hinsicht bes-
ser vernetzt werden. Vernetzung untereinander: Wir
schlagen die zentrale Koordination der Ressortforschung
durch das Bundesministerium für Forschung vor. Vernet-
zung mit der übrigen Forschungslandschaft: Wir schla-
gen die Begrenzung der Ressortforschung auf die
Kernbereiche Erfüllung hoheitlicher Aufgaben und Poli-
tikberatung vor. Die anderen Forschungsaufträge sind im
Wettbewerbsverfahren zu vergeben. Vernetzung und
Spezialisierung in der EU: Wir schlagen eine Anbindung
an die Forschungsstelle der EU-Kommission vor.
Angesichts der gebotenen Öffnung der Ressortein-
richtungen zum Wettbewerb muss deren Personaldecke
angepasst werden. Dabei ist die gesamte Personalstruk-
tur zu überdenken. Die Besetzung der Leitung der Res-
sortforschungseinrichtungen muss ausschließlich nach
Exzellenz erfolgen. Derzeit werden die Leiter zahlrei-
cher Bundesforschungsanstalten von den Anstaltskolle-
gien ihrer Einrichtungen auf zwei Jahre aus dem Kreis
der Institutsleiter gewählt. Berufungen gemeinsam mit
Universitäten sind die große Ausnahme. Das Beispiel
der Bundesanstalt für Holzforschung in Hamburg zeigt
jedoch, dass gemeinsame Berufungen von Professoren
in Leitungsfunktionen zum Nutzen für die Ressortein-
richtung und für die Universität sein kann. Wer von der
Ressortforschung Spitzenforschung erwartet, muss sie
auch mit Spitzenwissenschaftlern in der Leitung beset-
zen.
Wir schlagen daher vor, die Leitungspositionen je
nach Ressorteinrichtung künftig öffentlich auszu-
schreiben oder bei der Berufung mit universitären und
außeruniversitären Einrichtungen zusammenzuarbeiten.
Dadurch kann die Einbindung und der Austausch der
Ressortforschungseinrichtungen mit anderen For-
schungseinrichtungen gefördert werden. Dabei ist mir
durchaus bewusst, dass die Dotierung der wissenschaft-
lichen Leitungsstellen von Ressorteinrichtungen für
Spitzenforscher nicht allzu attraktiv ist. Hier muss der
von der Regierung lange angekündigte Wissenschafts-
tarifvertrag endlich vorgelegt und umgesetzt werden.
Der Wissenschaftsrat hat mehrfach kritisiert, dass
eine Tendenz zur Überalterung aufgrund mangelnder
Stellen für junge Wissenschaftler besteht. Hierin liegt
eine große Gefahr für die wissenschaftliche Leistungsfä-
higkeit der Ressortforschung. Wir schlagen daher eine
flexiblere Bewirtschaftung der Personalmittel vor. Der-
zeit sind in den Ressorteinrichtungen zum Teil lediglich
1,5 Prozent der Planstellen befristet. Dieser Anteil ist
deutlich auszubauen. Befristete Stellen garantieren die
notwendige personelle Anpassungsfähigkeit an geänderte
wissenschaftliche Anforderungen. Auch bewirkt ein ho-
her Prozentsatz befristeter Planstellen eine ausreichende
9058 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
Fluktuation junger Wissenschaftler aus den Hochschulen
an die Ressorteinrichtungen. Des Weiteren kann gerade
durch befristete Stellen deutlich vielschichtiger ein per-
soneller Austausch mit Wissenschaftlern aus anderen
Forschungseinrichtungen erfolgen. Wir schlagen vor,
künftig mindestens 30 Prozent der Personalmittel flexi-
bel zu bewirtschaften.
Die Finanzdecke der zunehmend im Wettbewerb ste-
henden Ressorteinrichtungen muss dem veränderten
System angepasst werden. Mit verstärkter Beteilung an
Vergabeverfahren steigt die Bedeutung von Drittmitteln
für die Ressorteinrichtungen. Hierbei ist insbesondere
die Einwerbung von EU-Mitteln besonders anzuerken-
nen, weil diese sogar im internationalen Wettbewerb er-
stritten werden müssen. Wir schlagen deshalb ein Bo-
nussystem mit internen Anreizen für die Einwerber vor.
Ein solches Bonusverfahren würde die Forschungsan-
stalten ermutigen, selbstständig verstärkt eine eigene
Rolle im Wettbewerb der Forschungslandschaft zu über-
nehmen und dadurch ihre wissenschaftliche Exzellenz
darzulegen. In vielen Ministerien wird die Bereitschaft
und Fähigkeit der Einrichtungen, zusätzliche Drittmittel
einzuwerben, durch restriktive Regelungen konter-
kariert. Ministerien haben Anweisungen erlassen, nach
denen die Ressorteinrichtungen einen bestimmten Pro-
zentsatz – meist circa 20 Prozent – der eingeworbenen
Drittmittel als so genannte Gemeinkosten an das jewei-
lige Ministerium abführen müssen. Hier wird die Eigen-
initiative der Ressortforschungseinrichtungen massiv ge-
schwächt. Derartige Schwächungen des Nutzens von
Drittmitteln müssen abgeschafft werden.
Nur wenige Ressortforschungseinrichtungen lassen
sich bislang in ihrer wissenschaftlichen Qualität über-
prüfen. So ist beispielsweise das BMVEL nach eigener
Aussage nicht in der Lage, die wissenschaftliche Quali-
tät der von der Ressortforschung erbrachten Beratungs-
leistung zu bewerten. Eine Beurteilung ist aber geboten,
um eine hohe wissenschaftliche Exzellenz zu gewähr-
leisten. Eine Qualitätsüberprüfung muss intern und
extern erfolgen. Interne Qualitätssicherung dient vor al-
lem den Leistungsanreizen des Einzelnen. Externe Qua-
litätssicherung dient der Reputation der Ressortfor-
schung, der Förderung der allgemeinen Wissenschaft
aber insbesondere der Sicherung der Qualität der Politik-
beratung wie auch der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben.
Kriterien der externen Leistungsbemessung sind der An-
teil eingeworbener Drittmittel, die Zahl hochrangiger
Publikationen und Wissenschaftspreise sowie die Ver-
netzung zu anderen Forschungseinrichtungen. Eine re-
gelmäßige externe Evaluation aller Ressortforschungs-
einrichtungen ist dringend notwendig. Dies gilt auch, um
die Leistung der Ressortforschungseinrichtungen mit an-
deren Teilen der Forschungslandschaft zu vergleichen.
Angesichts des angesprochenen internationalen Wettbe-
werbs der Ressorteinrichtungen untereinander müssen
im Wege der Evaluation auch die Erreichung internatio-
naler Standards überprüft werden. Bereits durchgeführte
Evaluationen von Ressortforschungseinrichtungen des
Bundes haben zahlreiche Möglichkeiten zur Steigerung
der Effizienz hervorgebracht. Die Leistungsfähigkeit
und Qualität der Ressortforschung konnte anhand der
Evaluationsergebnisse oft deutlich verbessert werden.
Wir fordern daher dringend, die Evaluation der Ressort-
forschung auf alle Einrichtungen auszudehnen und re-
gelmäßig durchzuführen. Ein weiteres Hinauszögern der
Evaluation durch die Ministerien zeugt nur von einer
Scheu vor den Ergebnissen der Untersuchung. In einer
der letzten Untersuchungen des Wissenschaftsrates war
zu lesen: „Vor diesem Hintergrund erscheint grundsätz-
lich eine Prüfung der Institutionalisierungsform der Res-
sortforschung erforderlich.“
Je eher die Bundesregierung die von der Union und
vom Wissenschaftsrat mehrfach geforderten Änderun-
gen in der Ressortforschung umsetzt, desto weniger
muss sie die Evaluierung fürchten. Seit 1998 hat die
Bundesregierung mehr als 6,5 Milliarden Euro für Res-
sortforschung ausgegeben. Ihr Antrag, nun nach einer
Definition für Ressortforschung zu fragen, ist eine Bla-
mage. Ich fordere Sie daher auf: Fragen Sie nicht, son-
dern handeln Sie und steigern Sie die Effizienz der Res-
sortforschung!
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen verfolgen
das Ziel, die Qualität des deutschen Forschungssystems
weiter zu verbessern. Nur ein Forschungssystem, das in-
ternationalen Standards genügt, kann uns die Innovatio-
nen bringen, die unsere Wirtschaft und unsere Gesell-
schaft voranbringen. Für dieses Ziel spielen die
Ressortforschungseinrichtungen des Bundes eine wich-
tige Rolle. Sie schaffen einerseits die wissenschaftlichen
Grundlagen für den jeweiligen Politikbereich und leisten
zusätzlich Politikberatung. In diesem wichtigen Bereich
hat die Bundesregierung schon einen ersten wichtigen
Schritt getan und exemplarisch die Einrichtungen des
Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung
und Landwirtschaft evaluieren lassen. Das Gutachten
des Wissenschaftsrates wurde Ende Januar vorgelegt.
Mit dem heute vorliegenden Antrag wollen die Frak-
tionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD den Prozess
der Evaluation weiterer Ressortforschungseinrichtungen
beschleunigen. Deswegen regen wir einige Schritte an,
um die Vorschläge des Wissenschaftsrates zu strukturel-
len Verbesserungen schnellstmöglich umzusetzen. Um
Beratung auf höchstem Niveau leisten zu können, brau-
chen die Forschungseinrichtungen eine gute nationale
Vernetzung und eine intensive internationale Koopera-
tion. Dabei stellt die Doppelfunktion der Ressortfor-
schung, die wissenschaftliche Politikberatung und die
effiziente Wahrnehmung administrativer Aufgaben be-
sonders hohe Anforderungen an die Forschungseinrich-
tung und die Behörde. Die Doppelfunktion stellt aber
auch besondere Anforderungen an die Gesamtevaluie-
rung der Ressortforschung. Sowohl das notwendige Be-
wertungsverfahren als auch die Bewertungskriterien
müssen entsprechend festgelegt werden. Nur so erhalten
wir die in den Bewertungsverfahren notwendige Sicher-
heit.
Neben den hohen Anforderungen an die Qualität der
Forschung stehen die hohen Anforderungen an ihre Effi-
zienz. Hier gilt es wie in allen anderen Forschungs-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9059
(A) (C)
(B) (D)
einrichtungen, Reserven zu mobilisieren; denn überall
muss gelten: „Mehr Forschung fürs Geld!“ Wie bei al-
len anderen Forschungseinrichtungen hat sich Bünd-
nis 90/Die Grünen auch bei den Ressortforschungsein-
richtungen für eine Evaluierung eingesetzt, die auch in-
haltliche Kriterien berücksichtigt. Diese inhaltlichen
Kriterien müssen aus den Aufgaben der einzelnen Res-
sorts und den gemeinsamen Politikzielen der Koalition
abgeleitet werden. Dazu gehören für uns vor allem der
Schutz des Klimas durch Energieeinsparung und erneu-
erbare Energien, der verantwortliche Umgang mit der
Biomedizin nach ethischen Grundsätzen, die Stärkung
des Verbraucherschutzes und die Förderung einer natur-
nahen Landwirtschaft inklusive einer artgerechten Tier-
haltung. Genauso wichtig sind uns die Förderung von
Forschungsschwerpunkten mit besonderer Relevanz für
eine nachhaltige Entwicklung wie der Friedens- und
Konfliktforschung, der empirischen Wirtschaftswissen-
schaft und der sozial-ökologischen Forschung und fami-
lien- und sozialpolitische Maßnahmen für mehr Genera-
tionen- und Geschlechtergerechtigkeit.
Neben diesen inhaltlichen Vorgaben müssen bei Res-
sortforschungseinrichtungen auch die Zweckmäßigkeit
des Zuschnittes und des Umfangs der Aufgaben regel-
mäßig überprüft werden. Das Parlament wird die Fort-
schritte kontinuierlich begleiten. Deswegen fordern wir
die Bundesregierung auf, bis spätestens Ende 2004 einen
Zwischenbericht über die weiteren Entwicklungen vor-
zulegen.
Weil uns die Forschung am Herzen liegt, halten wir
auch eine Gesamtbetrachtung der deutschen Forschungs-
landschaft mehr denn je für geboten. Aus diesem Grund
hoffen wir weiterhin, dass auch die Ressortforschungs-
einrichtungen der Länderministerien dem Vorbild des
Bundes folgen und eine stärkere Evaluation der For-
schungseffizienz durchführen.
Ulrike Flach (FDP): Im Jahr 1887 begann die Tra-
dition der Ressortforschung mit der Gründung der Phy-
sikalisch-Technischen Reichsanstalt. In diesen über
100 Jahren hat die deutsche Ressortforschung her-
vorragende Arbeit geleistet und großartige Ergebnisse
erzielt.
Aber – und das gilt für staatliche Forschungseinrich-
tungen wie für private Unternehmen – man darf sich auf
seinen Lorbeeren nicht ausruhen. Und während die gro-
ßen deutschen öffentlich geförderten Forschungsorgani-
sationen in den letzten Jahren systematisch evaluiert
wurden, ist dies bei der Ressortforschung nicht ge-
schehen. Ich meine nicht die Begutachtung einzelner
Einrichtungen, sondern eine generelle in- und externe
Evaluierung. Dagegen gab es auch bei den Forschungs-
einrichtungen wie Max-Planck, DFG etc. zunächst Be-
denken. Heute finden Sie niemanden mehr, der die Eva-
luierung nicht als Vorteil für mehr Wettbewerbsfähigkeit
sieht.
Im letzten Jahr flossen 11,3 Prozent aller vom Bund
für Forschung ausgegebenen Mittel in die bundeseige-
nen Anstalten. Sie hatten 2003 1,2 Milliarden Euro Ge-
samtetat, also deutlich mehr als zum Beispiel die MPG.
Der Vorsitzende des Wissenschaftsrates hat zu Recht ge-
sagt, es ist „untragbar“, dass Fördermittel in solchem
Umfang ohne externe Begutachtung und ohne wettbe-
werbliche Verfahren ausgegeben werden. Schon zu Be-
ginn der 90er-Jahre hat der ehemalige Forschungsminis-
ter Professor Laermann den Versuch unternommen, die
Ressortforschung komplett evaluieren zu lassen. Damals
gab es großen Widerstand in der Union. Die FDP-Frak-
tion hat in der letzten Legislaturperiode einen Antrag zur
Evaluierung der Ressortforschung eingebracht. Da hat
die jetzige Bundesregierung gesagt: Das machen wir al-
les schon. In dieser Wahlperiode haben wir wieder einen
Antrag eingebracht. Da haben Sie gesagt: Wir warten die
Stellungnahme des Wissenschaftsrates ab. Die ist nun
genauso ausgefallen, wie wir erwartet haben.
Jetzt fordern SPD und Grüne in einem Antrag, dass
der Wissenschaftsrat die Ressortforschungseinrichtun-
gen überprüfen möge, aber bitte – so Punkt 4 ihres An-
trages – nur exemplarisch. Sie trauen sich nicht, den
staatlichen Einrichtungen das zuzumuten, was Sie den
anderen Forschungsorganisationen aufgebürdet haben!
Wir meinen, die Begutachtung muss intern, extern und
so bald wie möglich erfolgen. Der Wissenschaftsrat wäre
eine kompetente Organisation für diese Aufgabe, aber
ich kann mir auch eine Ausschreibung der Evaluation
vorstellen.
Sie schlagen vor, die Ressortforschungseinrichtungen
sollen zukünftig ein Forschungsprogramm erstellen. Das
ist doch die Aufgabe der Ministerien. Wozu machen Sie
denn überhaupt Forschungsprogramme im jeweiligen
Haushalt? Hier liegt ja gerade der Sinn von Ressortfor-
schung, dass klare Aufträge für Forschungsprogramme
verteilt werden können. Schauen Sie einmal in die USA,
wie dort bestimmte Forschungsschwerpunkte ressort-
übergreifend, kohärent und koordiniert „durchgezogen“
werden. Biotechnologie, Nanotechnologie, Sicherheits-
forschung – mit massiven finanziellen Mitteln, die wir
hier nicht haben, aber eben auch im Rahmen einer klar
definierten Aufgabenbeschreibung.
Wir wollen Ressortforschung in den internationalen
und nationalen Wettbewerb stellen. Aufträge – zumin-
dest im nicht sicherheitsrelevanten Bereich – müssen öf-
fentlich ausgeschrieben werden. Nur mit mehr Wettbe-
werb kann die Ressortforschung auch die Qualität
erreichen, die wir brauchen, um ihre Existenz zu recht-
fertigen. Wird diese Qualität nicht erreicht, darf man
auch nicht davor zurückschrecken, Bundesanstalten auf-
zulösen und die Aufgaben an öffentlich geförderte oder
private Forschungseinrichtungen zu vergeben.
Der Antrag der Union ist umfassender und konkreter.
Ich bin froh, dass Sie den Widerstand, gegen den unsere
Kollegen in den 90er-Jahren ankämpfen mussten, aufge-
geben haben. Und ich hoffe, dass die Regierungskoali-
tion endlich den Mut findet, wirklich Qualitätssicherung
zu betreiben und nicht nur Bestandssicherung von staat-
lichen Einrichtungen.
9060 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes (Art. 35 und 87 a)
(Tagesordnungspunkt 12)
Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Nach den An-
schlägen von Madrid haben wir heute Abend die erste
Gelegenheit, im Plenum über die Bedrohung durch den
islamistisch geprägten Terrorismus zu diskutieren. Vo-
rausgegangen ist immerhin eine intensive Debatte mit
dem Bundesinnenminister gestern im Innenausschuss.
Jeder und jede derjenigen unter uns, die sich um die
innere Sicherheit kümmern, stellt Fragen und Forderun-
gen. Das ist nach der Bluttat von Madrid, nach der Zu-
spitzung des Nahostkonflikts in diesen Tagen und nicht
zuletzt nach der vorzeitig abgebrochenen Afrikareise des
Bundespräsidenten wegen ernst zu nehmender Terrord-
drohungen unumgänglich. Aber unter all den Überlegun-
gen zur Gefahrenabwehr ist diejenige zum umfassenden
Einsatz der Bundeswehr im Innern unseres Landes die
untauglichste, und zwar aus sicherheitspolitischen, prak-
tischen und gesellschaftlichen Gründen. Das möchte ich
kurz darlegen:
Der Aspekt betrifft unser Prinzip der Trennung poli-
zeilicher und militärischer Aufgaben. Richtig ist, dass
der Terrorismus die globale, transatlantische, europäi-
sche und nationale Sicherheit bedroht. Das bedingt hohe
Wachsamkeit, Qualifikation und Einsatz, kluge Vorsorge
und die Demonstration der Stärke, die unser Rechtsstaat
aufzuweisen hat. Es bedeutet aber eben nicht die poli-
tisch und verfassungsrechtlich gewollte Aufgabenteilung
zwischen der Polizei des Bundes und der Länder einer-
seits und den Streitkräften andererseits aufzuheben. Seit
Monaten kommt aus den Reihen der Union, aus Bund
und Ländern, dieser Vorschlag, so als wollten Sie damit
unsere nach dem 11. September 2001 beschlossenen Ge-
setzespakete toppen und hätten die Patentlösung an der
Hand. Jedoch den Eindruck zu erwecken, man könne via
Grundgesetzänderung vollkommenen Schutz vor An-
schlägen gewähren, die unser Vorstellungsvermögen
übersteigen, wäre ein Irrweg. Ich kann nur dringend da-
vor warnen.
Halten wir fest: Schon nach geltender Gesetzeslage
kann die Bundeswehr logistisch-technische Amtshilfe
leisten, bei Naturkatastrophen und schweren Unglücks-
fällen tätig werden, im Spannungs- und Verteidigungs-
fall zivile Objekte bewachen und den Verkehr regeln und
die Polizei unterstützen, wenn unsere freiheitlich-demo-
kratische Grundordnung gefährdet ist. Eine bestehende
Lücke – nämlich die Frage, wie und ob der Verteidi-
gungsminister handeln darf, wenn zum Beispiel ein
Flugzeug von einem Entführer in eine Bombe verwan-
delt zu werden droht – wird mit dem Luftverkehrssicher-
heitsgesetz geschlossen.
Der zweite Aspekt betrifft die Umsetzung in der Pra-
xis. Woher soll die Bundeswehr eigentlich die geschul-
ten Kräfte nehmen, die polizeiliche Aufgaben so erfüllen
können, wie es zum Beispiel die Polizisten gelernt ha-
ben, so etwa beim Personen- und Objektschutz, bei der
Koordinierung eines Gesamteinsatzes, bei der mäßigen-
den Einwirkung auf Menschen im Fall einer Panik? Das
Argument, Soldaten würden Polizeiaufgaben ja auch
etwa im Kosovo oder in Afghanistan übernehmen, über-
zeugt nicht. Denn dort tut sie es, weil noch keine ausge-
reiften Polizeistrukturen vorhanden sind. Das alles gibt
es aber in Deutschland – beim Bundesgrenzschutz, bei
den Polizeien der Länder. Sollten dort Mängel und Eng-
pässe sein, müssen sie auch von den Ländern beseitigt
werden. Es geht nicht an, dass die Länder ihre durch
Sparmaßnahmen entstandenen Personalprobleme da-
durch beseitigen, dass Streitkräfte als Lückenbüßer ein-
springen.
Und wenn Sie schon uns nicht glauben, hören Sie
doch auf das Urteil der Praktiker: des Bundeswehrver-
bandes zum Beispiel, der vor einem erweiterten Einsatz
im Innern mit schlüssigen Argumenten warnt!
Ein dritter Einwand betrifft unser gesellschaftliches
Klima. So besorgt viele Menschen auch angesichts der
aktuellen Lage sind, wie sehr auch dazu bereit, Unan-
nehmlichkeiten wie intensivere Kontrollen, Absperrun-
gen, Wartezeiten in Kauf zu nehmen, so deutlich ist auch
die Abneigung gegen eine Militarisierung unseres öf-
fentlichen Lebens. Panzer vor Parlamentsgebäuden, Sol-
daten vor Bahnhofshallen – davor scheuen viele zurück.
Und ein lückenloses Bewachungssystem für alle mögli-
cherweise gefährdeten Einrichtungen ist nicht zu errei-
chen. Wir können Risiken verringern, aber nicht aus-
schließen. Und wir sollten den Menschen deshalb auch
nicht einen absoluten Schutz vorgaukeln.
Reden wir aber auch nicht kaputt, was wir mit den so
genannten Anti-Terror-Gesetzen mit erheblichen Kom-
petenzerweiterungen und mehr Personal beim Bundes-
kriminalamt, beim Bundesamt für Verfassungsschutz,
beim Bundesgrenzschutz und beim Bundesnachrichten-
dienst mit rechtlicher Handhabe geleistet haben. Der
Verfolgungs- und Ermittlungsdruck ist hoch. Mit den
bisher getroffenen Maßnahmen ist es immerhin gelun-
gen, geplante terroristische Anschläge in der Bundes-
republik zu vereiteln. Jetzt geht es darum, unsere in sich
gefestigte Sicherheitsarchitektur auf Mängel abzuklop-
fen, den Informations- und Datenaustausch zu verbes-
sern – in Bund und Ländern, aber auch innerhalb der EU.
Wichtig sind Ursachenbekämpfung, Vorbeugung und
Voraufklärung.
Wir bewegen uns auf dem schmalen Grat zwischen
Gefahrenabwehr und Freiheit. Die Prinzipien unseres
Rechtsstaates müssen wir wahren. Sonst hätten die Ter-
roristen einen Teilerfolg erzielt. Den können und dürfen
wir ihnen nicht gönnen.
Jürgen Herrmann (CDU/CSU): Die Welt verändert
sich. Was vor einigen Jahren, Monaten oder Tagen noch
nicht wahrscheinlich erschien, ist heute bereits Realität
oder könnte in nächster Zukunft eintreffen. In vielen Be-
reichen des täglichen Lebens haben wir uns darauf ein-
gestellt und entsprechende Vorkehrungen für diese
neuen Herausforderungen getroffen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9061
(A) (C)
(B) (D)
Was für die Bereiche Wissenschaft, Technik oder Me-
dizin selbstverständlich ist, sollte jedoch auch für den
Bereich der inneren und äußeren Sicherheit gelten. Be-
ginnend mit den Anschlägen auf das World Trade Center
in New York bis hin zu den blutigen Anschlägen auf Zi-
vilisten in Madrid hat uns bereits vor geraumer Zeit eine
Herausforderung erreicht, die ihresgleichen sucht.
Daher sind wir jetzt und heute aufgefordert, einen
ausreichenden Schutz unserer Bevölkerung zu gewähr-
leisten, bei dem es darauf ankommt, dass neben der Ge-
fahrenbekämpfung im Ausland ein umfangreiches, lü-
ckenloses Sicherheitsnetz aufgebaut wird, das auf die
Bedürfnisse unseres Landes zugeschnitten ist.
Die Terrorakte in Madrid haben die Diskussion um
die Vorstellung möglicher Anschläge in Deutschland be-
schleunigt. Ich weise jedoch nochmals ausdrücklich da-
rauf hin, dass die CDU/CSU-Fraktion und auch unions-
regierte Bundesländer bereits vor diesem schrecklichen
Ereignis initiativ geworden sind. Bereits am 5. März
2004, also sechs Tage vor den Anschlägen in Madrid,
wurde ein gleich lautender Antrag der Länder Bayern,
Hessen, Sachsen und Thüringen auf den Weg gebracht.
Ich weise daher die Äußerung der SPD-Fraktion in ihrer
Presseerklärung vom heutigen Tag entschieden zurück,
dass die Union diesen Antrag aus „parteipolitisch-ideo-
logischen Zielen“ eingebracht hat. Durch Ihre Äußerun-
gen dokumentieren Sie, dass es Ihnen offensichtlich
nicht um den Schutz unserer Bürger geht. Sie versuchen
vielmehr, von Ihren unzulänglichen Versuchen abzulen-
ken, Deutschland die Sicherheit zu gewähren, die mög-
lich wäre.
Wir alle sind verpflichtet, neben der Entwicklung ei-
nes einheitlichen, effektiven und zukunftsorientierten
Gesamtverteidigungskonzeptes Vorsorge für mögliche
Schadensereignisse zu treffen. Wir dürfen uns nicht
mehr an den Standards der Vergangenheit orientieren,
sondern wir müssen den Gefahren der Zukunft begeg-
nen und heute handeln.
Die CDU/CSU-Fraktion bringt daher am heutigen
Tage einen Gesetzesentwurf ein, der dazu beitragen
wird, den terroristischen Gefahren der Gegenwart und
Zukunft entschieden zu begegnen. Wir sind an einen
Punkt gelangt, an dem auch Sie endlich die Zeichen der
Zeit erkennen und für eine Verfassungsänderung eintre-
ten müssen, die allen Beteiligten zugute kommt. den
Menschen in unserem Land und den Entscheidungsträ-
gern im politischen, polizeilichen aber auch militäri-
schen Umfeld. Mit der Änderung der Art. 35 und 87 a
GG soll gewährleistet werden, dass die zu bewältigen-
den Aufgaben auf verfassungsrechtlich sicheren Boden
gestellt werden.
Als die Väter des Grundgesetzes die Artikel in das
Grundgesetz aufnahmen, die heute angepasst werden
sollen, konnten sie nicht ermessen, wie sich die Welt
verändern würde. Der Begriff der asymetrischen Bedro-
hung durch Terroristen oder Failed States war nicht be-
kannt. Aber schon nach der Hochwasserkatastrophe
1962 in Hamburg war ersichtlich, dass das Grundgesetz
den Anforderungen nicht mehr genügte und nachgebes-
sert werden musste. Heute sind Parallelen zur damaligen
Geschichte feststellbar. Heute stehen wir vor neuen He-
rausforderungen, denen wir angemessen entgegentreten
müssen.
Mit dem vorliegendem Entwurf wird die Einsatzmög-
lichkeit der Streitkräfte – im Rahmen eng gefasster ver-
fassungsrechtlicher Schranken – ergänzt. War der zivile
Objektschutz bisher zum Beispiel im Verteidigungsfall
sowie im Fall des inneren Notstandes möglich, soll dies
nun auch bei einer terroristischen Bedrohung möglich
sein; dies sicherlich nur als Ultima Ratio, denn generell
zeichnen Polizei und Grenzschutz für diese Aufgabe ver-
antwortlich. Die Streitkräfte sollen und werden nicht als
Lückenbüßer für fehlende Länder- oder Bundesressour-
cen benötigt, sondern sollen nur dort unterstützen, wo es
die Einsatzlage erfordert. Ich nenne hier nur die Bedro-
hung einer Vielzahl von Objekten bei einer terroristi-
schen Gefährdung oder wenn zum Beispiel Flughäfen
weiträumig gesichert werden müssen. Ebenso gilt das
natürlich für den Fall, wenn Polizei und BGS aufgrund
fehlender Mittel und Fähigkeiten nicht in der Lage sind,
ihrem Auftrag nachzukommen.
Eine rechtliche Klarstellung durch den Gesetzentwurf
erfährt auch der Einsatz der Streitkräfte im Vorfeld eines
unmittelbar drohenden Unglücksfalls im Sinne des Art. 35
Abs. 2 Satz 2 GG. Ist die Rechtslage bei einem bereits ein-
getretenen Unglücksfall unstrittig, so ergeben sich bei ei-
nem unmittelbar bevorstehenden Schadensereignis jedoch
unterschiedliche Rechtsauslegungen. Die Bundesregie-
rung geht heute noch von der strittigen Annahme aus,
dass dieser Tatbestand verfassungsrechtlich durch
Art. 35 Abs. 2 GG erfasst wird. Da sich auch hier die
Gelehrten streiten, sollten im Rahmen der Rechtssicher-
heit ausreichende und wie in unserem Gesetzentwurf ge-
forderte Veränderung im Grundgesetz vorgenommen
werden. Zu begrüßen bei der Veränderung des Art. 35
Abs. 2 GG ist ebenfalls die Einführung des Terminus der
Katastrophe, da erstens die Anpassung an das Katastro-
phenschutzrecht vollzogen wird und zweitens dadurch
auf die Folgen und nicht auf das auslösende Ereignis Be-
zug genommen wird.
Neben den zuvor genannten verfassungsrechtlichen
Änderungen ist sicherlich auch eine Klarstellung bezüg-
lich der Einsätze der Streitkräfte auf See und in der Luft
erforderlich. Ich möchte daher an dieser Stelle nur noch-
mals an Sie appellieren, sich der Auffassung Ihres In-
nen- und Verteidigungsministers in Bezug auf eine Ver-
fassungsänderung zur rechtlichen Sicherheit wie es auch
für das Luftsicherheitsaufgabengesetz angedacht ist, an-
zuschließen!
Es werden noch viele Veränderungen und Anpassun-
gen erforderlich sein, um eine weitestgehende Sicherheit
vor terroristischen Anschlägen zu gewährleisten. Wir
sollten daher die uns zur Verfügung stehenden Möglich-
keiten nutzen. Hierzu zählen mit Sicherheit die Soldatin-
nen und Soldaten der Bundeswehr, die mit ihrem Know-
how und in Teilbereichen sehr gutem Equipment ein un-
verzichtbarer Garant für die Sicherheit Deutschlands
sein können.
9062 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Wir alle
trauerten vor wenigen Tagen und trauern nach wie vor
um die Opfer in Madrid, die durch einen heimtückischen
und barbarischen und menschenverachtender Anschlag
gewissenloser Terroristen zu Tode kamen. Dies war ein
tiefer Schlag, der mitten ins Herz der europäischen De-
mokratien traf und der uns in entwaffnender Deutlichkeit
vor Augen führte: Der Terrorismus hat jetzt auch West-
europa erreicht.
Es war aber kein Angriff einer Macht von außen, es
waren nicht nur Attentäter, die aus dem europäischen
Ausland kamen. An dem Anschlag waren Menschen aus
dem eigenen Land beteiligt, die man weder an der Ein-
reise nach Spanien hätte hindern noch hätte ausweisen
können.
Das Einzige, was man machen hätte können, wäre, ei-
nen derartigen Anschlag mit genügender Terrorismus-
vorbeugung und mit dem Einsatz aller zur Verfügung
stehenden Mittel im Vorfeld aufzudecken und ihn so – es
bliebe zu hoffen, dass dies gelingt – zu vereiteln. Dies ist
freilich ein frommer Wunsch, der leider bereits zu oft
nicht in Erfüllung gegangen ist; aber es ist der einzige
Weg, der uns zur Verfügung steht, um unser Land vor
derart heimtückischen und hinterhältigen Anschlägen
weitestgehend zu schützen.
Wir sollten jetzt einmal konstruktiv und ohne ideolo-
gische Vorbehalte gemeinsam darüber diskutieren, wel-
che Mittel uns zur Verfügung stehen, um eine solch um-
fassende Terrorismusvorbeugung nachhaltig und im
vollen Umfang zu gestalten und welche rechtlichen Ver-
besserungen nötig sind. Es steht völlig außer Frage, dass
es vorrangig die dem Innenminister des Bundes und den
Innenministern der Länder unterstellten Organe sind, die
sich in allererster Linie um die Bekämpfung terroristi-
scher Gefahren kümmern müssen. Die Polizei steht ohne
Zweifel im Mittelpunkt, wenn es um die innere Sicher-
heit unseres Landes geht. Dies – das bitte ich die Regie-
rungsparteien einmal zur Kenntnis zu nehmen – ist je-
dem in diesem Hohen Haus bewusst; niemand hier stellt
das nur annähernd infrage. Es steht völlig außer Diskus-
sion, dass unsere gut ausgebildeten und hochmotivierten
Polizisten das beste Mittel unseres Rechtsstaates sind,
sich der Herausforderung, mit der uns der Terrorismus
konfrontiert, zu begegnen.
Reicht das wirklich aus? – Herr Schily sagt nun schon
seit Monaten fast ohne Ausnahmen: „An der Sicherheits-
lage in unserem Land hat sich nichts geändert!“ Ich bin
mir des Öfteren nicht ganz sicher, ob er eigentlich selbst
daran glaubt, was er da den Medien und uns erzählt.
Ganz abgesehen von der tatsächlichen augenblicklichen
Sicherheitseinstufung ist es das oberste Gebot der
Stunde, dass wir uns in vollem Umfang der Terrorab-
wehr widmen. Damit meine ich wirklich „in vollem Um-
fang“! Dazu gehört ohne Zweifel auch der Einsatz der
Streitkräfte.
Rot-Grün zieht in jüngster Vergangenheit besonders
gerne Vergleiche zu Frankreich. Richten wir doch ein-
mal den Blick über die Grenzen und schauen, wie unsere
französischen Freunde auf den Terroranschlag in Madrid
reagiert haben, wie in unserem Nachbarland Frankreich,
das wohl in der gleichen Gefährdungslage sein dürfte,
auf den Anschlag in Madrid reagiert wurde. Ohne zu zö-
gern wurde noch am selben Tag die Sicherheitsstufe von
„gelb“ auf „orange“ erhöht; es wurden 500 Soldaten im
Rahmen des Antiterrorplans „Vigipirate“ zur Sicherung
der Bahnhöfe und des Nahverkehrs im Raum Paris ab-
kommandiert, während bei uns noch diskutiert wurde, ob
dieser Anschlag nun eine erhöhte Terrorgefahr darstelle
oder nicht. Es ist schlimm genug, dass das überhaupt zur
Frage stand; aber ich halte es für maßlos unverantwort-
lich, dass die Regierung es nicht für nötig hält, die ohne-
hin bei erhöhter Sicherheitsstufe auf Überlast fahrende
Polizei durch Einsatztruppen der Bundeswehr zu unter-
stützen und so weitestgehend für die Sicherheit unserer
Bürgerinnen und Bürger zu sorgen.
Ich frage die Bundesregierung eines: Wollen Sie die
Verantwortung übernehmen, wenn die Bürgerinnen und
Bürger an Sie herantreten und Ihnen vorwerfen, sie hät-
ten nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, nicht alles in
Ihrer Macht stehende getan, um solche Anschläge wie in
Madrid, die auch jederzeit bei uns stattfinden könnten,
zu verhindern? Ich möchte dann nicht in Ihrer Haut ste-
cken und zugeben müssen: „Nein, für einen Bundes-
wehreinsatz im Inneren, der nur der Sicherheit unserer
Bevölkerung hätte dienen sollen, konnten wir – aus wel-
chen Gründen auch immer – nicht die nötige Rechts-
grundlage schaffen.“
Mir ist Ihre Argumentationslinie bestens bekannt: Sie
behaupten, nach gültigem Recht könne bei Not am Mann
jederzeit Amtshilfe durch die Streitkräfte geleistet wer-
den. Dies gilt nur, wenn bereits Not am Manne ist! Muss
es denn dazu kommen, dass auch bei uns die ersten Op-
fer zu beklagen sind, weil laut Art. 35 Abs. 2 Satz 2
Grundgesetz die Bundeswehr nur „zur Hilfe bei einer
Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren
Unglücksfall“ eingesetzt werden darf? Dieser Passus
birgt in sich, dass dieser besonders schwere Unglücksfall
erst eingetreten sein muss, bevor die Streitkräfte zur Un-
terstützung angefordert werden dürfen.
Es ist nicht so, dass die Unionsparteien im Schilde
führen, das Grundgesetz zu untergraben, um eine „Mili-
tarisierung unserer Gesellschaft herbeizuführen“, wie
dies der Bundesinnenminister Schily erst kürzlich bei
„Sabine Christiansen“ behauptet hat. Gegen diesen Vor-
wurf wehre ich mich entschieden und in aller Deutlich-
keit! Kein Mensch, schon gar nicht in den Reihen der
Unionsparteien, will solche Hirngespinste wie Panzer
vor dem Brandenburger Tor, wie sie erst heute wieder im
Plenum von Frau Göring-Eckardt vorgetragen wurden.
Was wir wollen und was auch unabdingbar erforder-
lich ist, ist eine rechtlich einwandfreie und verfassungs-
rechtlich absolut wasserdichte Rechtsgrundlage für alle
Entscheidungsträger und Verantwortlichen, die in einem
Ernstfall terroristischer Bedrohung blitzartig reagieren
müssen. Diese Leute haben ein Recht darauf, dass ihre
ohnehin schon schwierigen Entscheidungen nicht in ei-
ner rechtlichen Grauzone, sondern auf einer absolut
glasklaren und unbiegsamen Rechtsgrundlage getroffen
werden können. Es kann doch nicht angehen, dass ein
Entscheidungsträger im Ernstfall darauf hoffen muss,
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9063
(A) (C)
(B) (D)
dass seine Entscheidungen erst durch eine mutige Ausle-
gung des Grundgesetzes rechtlich einwandfrei sind, wie
dies von Herrn Kollegen Wiefelspütz gefordert wurde.
Was ist nämlich, wenn die Verantwortlichen, die das Ge-
setz im Nachhinein auszulegen haben, plötzlich der Mut
verlässt? Auf diese vagen Versprechen kann sich ein
Verantwortlicher, der in diesem Moment möglicherweise
über die Sicherheit hunderter oder vielleicht sogar tau-
sender Menschen entscheiden muss, nicht verlassen.
Sie sind mit ihren Ansätzen, die sich im Luftsicher-
heitsaufgabengesetz wiederfinden, auf dem richtigen
Weg. Wir sind hierbei inhaltlich gar nicht so weit von-
einander entfernt, obwohl anzumerken ist, dass gewisse
Korrekturen, auf die ich hier nicht weiter eingehen
möchte, einfach nötig sind. Sie vergessen dabei, dass Sie
mit diesem Gesetz auf dem Weg sind, einen Konflikt mit
dem gültigen Grundgesetz zu riskieren.
Auch wir sind der Ansicht, dass den Streitkräften
Aufgaben übertragen werden müssen, sobald es sich um
Bedrohungen handelt, die die Polizei aufgrund ihrer
Ausstattung einfach nicht bewältigen könnte. Dies ist
aber nicht nur bei Attacken aus der Luft – nur sie wurden
in ihrem Gesetzesentwurf berücksichtigt – der Fall; dies
ist auch bei Gefahren von der See her der Fall, bei denen
die Polizei nicht mit den adäquaten Mitteln ausgerüstet
wäre, um volle Sicherheit für unser Land zu gewähren.
Aus genau diesem Grund sieht unser Änderungsantrag
die Neufassung des Art. 87 a GG, Abs. 2 explizit vor.
Damit würde in diesem Punkt für einwandfreie Rechts-
klarheit gesorgt und der Polizei eine umfassende Unter-
stützung durch die Bundeswehr zukommen. Die Mittel,
die die Polizei zur Sicherung unseres Landes in der Luft
und zur See bräuchte, stehen nun einmal einzig und al-
lein der Bundeswehr zur Verfügung. Ich muss nun schon
fragen, warum diese Mittel auf der ganzen Welt zum
Einsatz kommen dürfen, nicht aber, um die Sicherheit im
eigenen Land, der deutschen Bürgerinnen und Bürger zu
gewährleisten.
Ich kenne auch Ihre Antwort auf diese Frage: Für die
Sicherheit im eigenen Land sei nur die Polizei ausgebil-
det und nicht die Bundeswehr, die gar nicht in der Lage
wäre, polizeiliche Aufgaben zu übernehmen. Fragen Sie
bitte einmal Ihren Verteidigungsminister, welche Aufga-
ben die Bundeswehr im Afghanistaneinsatz oder auf
dem Balkan übernommen hat. Dort fungieren unsere
Truppen tatsächlich als Hilfspolizei. Es ist zwar nicht der
Wunsch der Union, diese Situation auch im Inneren ent-
stehen zu lassen; ich möchte Ihnen aber damit vor Augen
führen, dass diese unsäglichen Argumente zur Unfähig-
keit der Streitkräfte für einen Einsatz im Inneren einfach
nicht stichhaltig sind.
Ich fordere Sie daher auf, im Sinne einer wirksamen
und effizienten Sicherheitspolitik unserem Antrag zuzu-
stimmen und parteiideologische Gräben zu überwinden.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Wir alle sind uns in einem Punkt einig: Es
ist eine grundlegende Aufgabe des Staates, die Sicher-
heit unserer Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.
Unsere Vorstellungen von mehr Sicherheit unterscheiden
sich allerdings in ihren kulturellen und gesellschaftli-
chen Ansätzen ganz wesentlich von denen der CDU/
CSU. Dies wird gerade in der Frage des Bundeswehrein-
satzes im Inneren, aber auch in den gegensätzlichen
Konzepten für mehr Sicherheit deutlich.
Die Union versucht, Altbackenes aufzuwärmen. Mit
der alten Ideologie des starken Staates als Schild und
Schwert der wehrhaften Demokratie will sie unser Land
vor den Gefahren des globalisierten Terrorismus schüt-
zen: Als Erstes sollen neue Uniformen ins Straßenbild.
Durch die sichtbare Präsenz von Militär im öffentlichen
Raum wollen die Christdemokraten das Sicherheitsge-
fühl der Bürgerinnen und Bürger stärken. Als innenpoli-
tische Sprecherin meiner Fraktion bin ich fest davon
überzeugt: Soldaten mit Waffen und in Uniform auf un-
seren Bahnhöfen – möglicherweise mit Panzern davor –
schaffen nicht mehr Sicherheit; die Union will sie uns
vorgaukeln. In Wirklichkeit entsteht ein Klima der Ver-
unsicherung: Die Bevölkerung wird in Angst und Schre-
cken versetzt.
Die Union fordert eine Übertragung von Polizeibe-
fugnissen an die Bundeswehr. Wehrpflichtige sollen zur
Polizeireserve der Landesinnenministerien werden. Ich
male mir diese Szenerien einmal für die Realität aus. In
den Ländern – immerhin 16 an der Zahl, alle mit eigenen
Polizeien und Geheimdiensten – gibt es unterschiedliche
Beurteilungen der konkreten Bedrohungslage. Herr
Beckstein entscheidet sich in Bayern für Bundeswehrpa-
trouille am Münchener Hauptbahnhof zu Fuß. Herr
Koch in Hessen mag es etwas mobiler: Er lässt die Fahr-
zeuge auf den Zufahrtsstraßen zum Flughafen von Bun-
deswehrsoldaten durchsuchen. Andere Bundesländer
setzen demgegenüber auf den bewährten Einsatz der
Polizei.
Eine derartige Kleinstaaterei stiftet in der kleinen
Bundesrepublik nur Chaos. Eine solche Ideologisierung
der Innenpolitik treibt bekanntlich gerade in Wahl-
kampfzeiten ihre eigenen Blüten. Ich erinnere nur an das
Intermezzo des Herrn Schill in Hamburg. Einen solchen
politischen Mummenschanz machen wir nicht mit.
Gerade aus den Debatten über das Luftsicherheitsge-
setz wissen wir, dass es in zugespitzten Sicherheitslagen
geradezu verheerend ist, wenn mit föderaler Engstirnig-
keit um Zuständigkeiten gerungen wird und jeder nach
Gutdünken Phantomjäger aufsteigen lassen kann. Wir
schaffen in diesem Bereich neue Regelungen. Frau
Merkel kündigt hierbei jedoch in unverantwortlicher
Weise eine Blockade der Union an.
Die Bundeswehr hat ihre Aufgaben in der äußeren Si-
cherheit. Sie nimmt diese mit großer Verantwortung und
mir hohem qualitativen Standard wahr. Wir machen aus
der Bundeswehr keine Hilfspolizei, die nach Belieben
von Landesinnenministern angefordert werden kann.
Dort, wo die Bundeswehr einen sinnvollen unterstützen-
den Beitrag im Inneren leisten kann, ist ihr Einsatz schon
heute möglich. Wir wollen keine Militarisierung des
staatlichen Gewaltmonopols. Wehrpflichtige sind für
Durchsuchungen oder gar für den Einsatz von Waffenge-
walt im öffentlichen Raum nicht ausgebildet. Die enge
Bindung des Polizeirechtes an das Verhältnismäßigkeits-
9064 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
prinzip ist die Grundlage für die Anerkennung des staat-
lichen Gewaltmonopols.
Unsere Sicherheit nach innen und außen beruht im
Wesentlichen auf drei Säulen:
Erstes. Die Polizei des Bundes und der Länder ist für
die innere Sicherheit im Bereich der Prävention und der
Strafverfolgung.
Zweitens. Für die äußere Sicherheit ist die Bundes-
wehr verantwortlich.
Drittens. Die Geheimdieste – der nach innen ausge-
richtete Verfassungsschutz und der nach außen ausge-
richtete Bundesnachrichtendienst – sorgen für die strate-
gische Aufklärung. Ich bin sehr dafür, die jeweiligen
Bereiche zu reformieren, Bürokratie abzubauen und
Doppelarbeit von Bund und Ländern zu vermeiden. Die-
ses geschieht auch durch vielfältige Anstrengungen. Ich
hoffe vor allem, dass die Kleinstaaterei der Verfassungs-
schutzbehörden endlich überwunden wird. Sie blockiert
die Verbesserung der europäischen und internationalen
Zusammenarbeit.
Wir brauchen – gerade bei der Abwehr des Terroris-
mus – ganz gewiss Information Boards. Wir sollten aber
tunlichst vermeiden, die Aufgaben von Armee, Polizei
und Geheimdiensten miteinander zu vermengen. Alle
drei sollten jeweils das tun, wofür sie ausgebildet und
ausgestattet sind. Wer die Grenzen verwischen will, stif-
tet nur – übrigens gegen den ausdrücklichen Willen der
Betroffenen selbst – Chaos und Verunsicherung. Das
geht zulasten der Bürgerinnen und Bürger, zulasten ihrer
Sicherheit und nicht zuletzt auch zulasten der Bürger-
rechte. Trennung von innerer und äußerer Sicherheit ist
in unserer Verfassung aus guten Gründen festgelegt. Es
gibt keinen vernünftigen Grund, von diesem bewährten
Grundsatz abzuweichen.
Die Union tut in dieser Debatte so, als gebe es keine
weit reichenden Möglichkeiten zum Einsatz der Bundes-
wehr im Inland. Das ist schlichtweg falsch: Das Grund-
gesetz ist viel vernünftiger und klüger als die Opposi-
tion. Schon heute ist der Einsatz der Bundeswehr „bei
einem besonders schweren Unglücksfall“ möglich. Dies
kann eine durch Naturereignisse oder auch durch Men-
schenhand verursachte Katastrophe sein. Die Regelung
gilt doch auch für politisch motivierte Anschläge. Es
kann doch keinen Unterschied machen, ob beispiels-
weise ein Chemiewerk durch eine Verpuffung oder
durch einen Anschlag in die Luft fliegt. Genauso wenig
kann das Grundgesetz so ausgelegt werden, als müsse
erst der Eintritt des Schadensfalls abgewartet werden.
War es etwa verfassungswidrig, dass die Bundeswehr im
Oderbruch oder bei dem Hochwasser im Sommer 2002
präventiv die Dämme erhöht hat? Hätte sie die Überflu-
tung abwarten und erst dann eingreifen dürfen?
Wenn Frau Merkel von einem „Extremfall“ spricht,
dann weiß sie offensichtlich nicht, dass die Bundeswehr
bei einem übergeordneten Notstand oder zur „Abwehr
einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die frei-
heitlich demokratische Grundordnung des Bundes“ ein-
gesetzt werden kann.
Herr Beckstein wird hierbei deutlicher: Er will die
Bundeswehr im Objektschutz einsetzen; er will Wehr-
pflichtige als Hilfspolizisten einsetzen. Es verwundert
mich schon sehr, dass ausgerechnet der Innenminister
den Zugriff auf die Bundeswehr fordert; denn er blo-
ckiert gleichzeitig bei jeder Gelegenheit den Aufbau ei-
ner Bundespolizei. Herr Beckstein ist vom föderalen Ei-
gensinn geprägt: Bayern ist das einzige Bundesland,
dass sich beharrlich weigert, die Flughafensicherheit in
die Bundeskompetenz zu übertragen und besteht auf ei-
nen eigenen bayrischen Grenzschutz.
Die Debatte über den Einsatz der Bundeswehr im In-
neren sollten wir wie zu Beginn der 90er-Jahre beerdi-
gen. Sie kommt immer einmal wieder; aber sie wird da-
durch nicht besser. Wir wollen keine Militarisierung der
Gesellschaft. Wir sind offen für Debatten über die Opti-
mierung der Polizeiarbeit. Lassen Sie uns über die Bun-
despolizei und ihre Zuständigkeiten streiten. Das ist
Aufgabe der Innenpolitik.
Dr. Max Stadler (FDP): Die FDP-Bundestagsfrak-
tion hat am Dienstag einstimmig ihr Konzept zum
Thema innere Sicherheit und Terrorismusabwehr im li-
beralen Rechtsstaat verabschiedet. Wir sind der festen
Überzeugung, dass die innere Sicherheit im Wesentli-
chen mit den schon bestehenden gesetzlichen Instrumen-
tarien gewährleistet werden kann, wenn die Sicherheits-
behörden optimal personell, technisch und finanziell
ausgestattet werden. Nur aufgrund einer Bestandsauf-
nahme der nach dem 11. September 2001 beschlossenen
Anti-Terrorismus-Gesetze sollten wir über Gesetzesän-
derungen sprechen, wenn die Auswertung der Tatsachen
ergibt, dass tatsächlich gesetzgeberischer Handlungsbe-
darf zur Schließung von Sicherheitslücken bestehen
sollte. Es ist legitim, dass gerade nach den Anschlägen
von Madrid am 11. März 2004 auch alte Vorschläge
noch einmal zur Diskussion gestellt werden. Häufig
zeigt aber eine nähere Betrachtung, dass falsche Argu-
mente durch ständige Wiederholung nicht besser wer-
den.
Dies gilt für die Zentralisierungspläne des Bundesin-
nenministers und insbesondere für seinen Vorschlag, die
Landeskriminalämter in das Bundeskriminalamt einzu-
gliedern. Die FDP lehnt dies genauso ab, wie den heute
zum wiederholten Male von der CDU/CSU eingebrach-
ten Vorschlag, die Bundeswehr verstärkt im Inneren ein-
zusetzen. Für uns als Liberale gilt, dass wir bei allen
Maßnahmen zur inneren Sicherheit darauf Wert legen,
bewährte rechtsstaatliche Grundstrukturen nicht außer
Kraft zu setzen. Zu diesen Grundsätzen gehört für uns
die klare Trennung der Aufgaben von Polizei und Bun-
deswehr. Die Bundeswehr gewährleistet unsere äußere
Sicherheit; dies schließt auch die Überwachung des
Luftraums ein. Sie ist für polizeiliche Aufgaben nicht
ausgebildet und nicht ausgerüstet. Moderne Polizeiarbeit
erfordert eine hoch spezialisierte Ausbildung. Man kann
nicht die Arbeit von Fachhochschulabsolventen ohne
weiteres durch den Einsatz von anderen Berufsgruppen
oder etwa von Wehrpflichtigen ersetzen. Aus diesem
Grund befinden wir uns in Übereinstimmung mit der
ganz überwiegenden Zahl der Praktiker aus Bundeswehr
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9065
(A) (C)
(B) (D)
und Polizei, die ebenfalls an der von uns vertretenen kla-
ren Trennung dieser beiden Institutionen festhalten wol-
len.
Dagegen spricht auch nicht das oft zu hörende Argu-
ment, wenn die Bundeswehr im Ausland polizeiliche
Aufgaben übernehmen könne, müsse sie dies auch im
Inland tun dürfen. Soweit die Bundeswehr im Ausland
polizeilich tätig wird, geschieht dies unter Kriegsrecht in
Staaten, in denen keine funktionierende Polizei existiert.
Diese Situation ist selbstverständlich überhaupt nicht auf
die Lage in der Bundesrepublik Deutschland übertrag-
bar, sodass dieses Argument nicht zutrifft.
Richtig ist allerdings, dass der Polizei möglich sein
muss, die Bundeswehr im Einzelfall um Hilfe und Mitar-
beit zu bitten. Dies ist sinnvoll und daher längst in der
Verfassung geregelt. Nach Art. 35 GG darf die Polizei
im Wege der Amtshilfe auf die Mitwirkung der Bundes-
wehr zurückgreifen. Diese Regelung reicht unserer Mei-
nung nach aus.
Im Übrigen wird sich der Innenausschuss des Bun-
destages mit einem speziellen Aspekt des Themas am
26. April 2004 in einer Sachverständigenanhörung be-
fassen. Sollte – wogegen allerdings gewichtige Argu-
mente sprechen – die Zulässigkeit des Abschusses von
Passagierflugzeugen in einem Luftsicherheitsgesetz ge-
regelt werden, dann muss zugleich entschieden werden,
ob für diesen speziellen Fall eine Klarstellung in
Art. 35 GG einzufügen ist. Dies wird nach der Einho-
lung des Rates von Sachverständigen zu entscheiden
sein.
Ein praktisches Problem muss ebenfalls noch ange-
sprochen werden: Von der Polizei wird immer wieder
vorgetragen, dass die Personalkapazitäten insofern nicht
richtig eingesetzt werden, als hoch ausgebildete Polizei-
beamte die Bewachung von Liegenschaften übernehmen
müssen. Man sollte daher darüber nachdenken, ob nach
dem Modell von Berlin und Hamburg hierfür speziell
ausgebildetes Wachpersonal eingesetzt wird. Auch die-
ser Gesichtspunkt zwingt uns somit nicht dazu, einem
vermehrten Einsatz der Bundeswehr im Inneren das
Wort zu reden.
Vielmehr ergäbe sich, wenn man dem Antrag der
Union zustimmen würde, schon eine Veränderung der
Qualität unseres Staatswesens, wie sie mit einer ständi-
gen Präsenz der Bundeswehr im Inneren anstelle der
Polizei optisch sichtbar würde.
Wir sind der Meinung, dass der terroristischen Bedro-
hung mit einer gut organisierten und optimal ausgestatte-
ten Polizei und mit der Hilfe der Arbeit unserer Geheim-
dienste wirksam begegnet werden kann.
Daher wird die FDP den Antrag der CDU/CSU nicht
unterstützen.
Petra Pau (fraktionslos): Erstens. Die PDS im Bun-
destag lehnt den Einsatz der Bundeswehr im Innern ab.
Es gibt gute Gründe, bei der Ablehnung zu bleiben, und
schlechte Anlässe, anderes zu wollen. Leider sucht und
findet die CDU/CSU immer wieder schlechte Anlässe
für ihr Begehren; es wird dadurch nicht besser. Das Ge-
bot der Trennung zwischen Polizei und Armee hat trif-
tige – historische und sachliche – Gründe. Obendrein ist
sie im Grundgesetz geregelt.
Zweitens. Ich weiß wohl, dass auch das Grundgesetz
nicht immer der letzte Stein der Weisen ist. Es ist – so-
fern es nicht die Substanz der Demokratie und der Men-
schenwürde betrifft – änderbar. Interessant ist allerdings,
wann und wo die CDU/CSU bereit ist, Änderungen am
Grundgesetz vorzunehmen: Als es um die deutsche Ein-
heit ging, lehnte sie jede Reform ab. Als es um die Ein-
schränkung des Asyls ging, war sie sofort bereit. Wenn
es um mehr Demokratie geht, dann sagt die CDU/CSU
immer Nein. Wenn es um die Militarisierung geht, dann
ist sie stets vornweg. Allein das lässt schon an ihrer Lau-
terkeit zweifeln.
Drittens. Das Grundgesetz lässt bereits jetzt drei Aus-
nahmen zu, bei denen die Bundeswehr im Innern einge-
setzt werden kann. Dabei handelt es sich wohl bemerkt
um Ausnahmen. Die CDU/CSU aber will die eng gefass-
ten Ausnahmen zum Dauerfall machen, und das mit
überaus durchsichtigen Scheinargumenten. So heißt es:
„In Afghanistan leisten Soldaten Polizeidienst. Warum
sollten sie das nicht auch dürfen?“ Umgekehrt wird ein
Schuh daraus: Ein Fehler im Ausland begründet keinen
weiteren im Inland.
Viertens. Hinzu kommt: Der Antrag der CDU/CSU
öffnet jedem Missbrauch Tür und Tor. Wichtige Hemm-
schwellen könnten fallen. Ich kenne niemanden, der sich
Panzer in seinem Alltag – auf dem Weg zum Bahnhof
oder bei Demonstrationen gegen Sozialabbau bzw.
Kriege – wünscht. Genau solche Einsätze sieht aber ihr
Antrag vor. Sie wollen einen Freibrief für „drohende Ka-
tastrophen oder Unglücksfälle“, also für präventive Ein-
sätze. Genau das aber kennt das Völkerrecht – wohl be-
dacht – nicht. Wir, die PDS im Bundestag, wollen ihn
auch nicht, zumal er ein grundlegender Angriff auf die
Rechtsstaatlichkeit wäre.
Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Der Gesetzentwurf der Fraktion
der CDU/CSU erschöpft sich darin, die aktuelle Bundes-
ratsinitiative der Länder Bayern, Hessen, Sachsen und
Thüringen zu übernehmen. Beide Initiativen gehen auf
einen Entwurf Bayerns zurück.
Die Regelungsvorschläge sind nicht neu: Bereits nach
den Ereignissen des 11. September 2001 hatte Bayern
zusammen mit Sachsen einen Gesetzentwurf einge-
bracht, der vorsah, dass die Streitkräfte die Polizeikräfte
in Ausnahmelagen beim Schutz ziviler Objekte entlas-
ten. Der Bundesrat hatte die Initiative zu Recht abge-
lehnt.
Auch an der Auffassung der Bundesregierung hat sich
nichts geändert. Die Verfassung sieht einen Einsatz der
Streitkräfte zum Schutz ziviler Objekte bislang aus gu-
tem Grund nur im Spannungs- bzw. Verteidigungsfall
sowie bei einem inneren Notstand vor, also bei der Be-
wältigung schwerster, den Gesamtstaat fundamental be-
rührender Ausnahmelagen.
9066 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
Im föderativen System des Grundgesetzes ist die
Wahrnehmung originärer polizeilicher Aufgaben Sache
der Länder. Wir alle sind uns darüber im Klaren, dass die
neuen terroristischen Bedrohungen Bund und Ländern
erhebliche Anstrengungen abverlangen. Sie erfordern
aber keine Verschiebung der seit langem bewährten
Trennlinie zwischen polizeilichen und militärischen
Aufgaben.
Es kann auch nicht sein, dass der Bund Aufgaben
übernimmt, welche die Verfassung den Ländern zuweist
und die diese mit den ihnen zur Verfügung stehenden
Mitteln grundsätzlich auch selbst zu erfüllen vermögen.
Damit würde den Streitkräften ohne einen zwingenden
Grund eine Rolle zugedacht, die sie nach dem System
unserer Sicherheitsarchitektur nicht haben sollen. Die
Entlastung von Polizeikräften ist kein genügender Grund
für eine Verschiebung der Trennlinie zwischen polizeili-
chen und militärischen Aufgaben.
Die Initiatoren des Entwurfs halten es zudem für er-
forderlich, im Grundgesetz klarzustellen, dass die Streit-
kräfte nicht nur zur Bewältigung der Folgen einer Kata-
strophe oder eines besonders schweren Unglücksfalles,
sondern auch bereits zu deren Verhinderung eingesetzt
werden dürfen. Diese Frage hat bereits im ersten Durch-
gang der Beratungen des Bundesrates zu dem Entwurf
der Bundesregierung für ein Gesetz zur Neuregelung
von Luftsicherheitsaufgaben eine Rolle gespielt. Der
Bundesrat hat sich in seiner Stellungnahme die verfas-
sungsrechtlichen Bedenken Bayerns nicht zu Eigen ge-
macht.
Der gegenteilige Standpunkt der Bundesregierung ist
Ihnen bekannt: Wir sind der Ansicht, dass das Grundge-
setz den Einsatz der Streitkräfte bereits dann zulässt,
wenn der Eintritt des Unglücksfalls bevorsteht. Lassen
Sie uns hierzu den Verlauf der parlamentarischen Bera-
tungen zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ab-
warten! Es erscheint wenig zweckmäßig, diese mit der
Beratung der vorliegenden Anträge gleichsam vorweg-
nehmen zu wollen.
Der Vorschlag, Art. 87 a Abs. 2 GG um eine Rege-
lung für Einsätze der Streitkräfte aus der Luft und von
See her zu ergänzen, erhebt originäre Polizeiaufgaben zu
einer neuen Hauptaufgabe der Streitkräfte neben der Er-
füllung ihres Verteidigungsauftrags. Für eine derart weit-
gehende Umgestaltung unserer Sicherheitsarchitektur
sehe ich keinen genügenden Anlass: Für Luftlagen und
Lagen innerhalb des deutschen Küstenmeeres haben wir
mit Art. 35 GG eine ausreichende verfassungsrechtliche
Grundlage, die nicht im Sinne einer neuen Daueraufgabe
der Streitkräfte erweitert werden sollte. Damit bewegt
sich die Bundesregierung innerhalb der gegebenen Si-
cherheitsarchitektur, wonach Gefahrenabwehraufgaben
grundsätzlich Ländersache sind. Auf hoher See gelten
die Regeln des Völkerrechts. Hier hat grundsätzlich der
Bundesgrenzschutz die Maßnahmen zu treffen, zu denen
die Bundesrepublik Deutschland nach dem Völkerrecht
befugt ist.
Die Sicherheitsarchitektur des Grundgesetzes hat sich
über einen langen Zeitraum bewährt. Wir alle sind gehal-
ten, äußerst kritisch und sorgfältig zu prüfen, ob sie den
Anforderungen genügt, die uns die neuen terroristischen
Bedrohungen aufzwingen. Ohne einen zwingenden
Grund gibt es keinen Anlass, die bewährte Trennlinie
zwischen polizeilichen und militärischen Aufgaben zu
verschieben. Ich gehe davon aus, dass die neuen Bedro-
hungspotenziale keine einschneidenden Veränderungen
erfordern. Schon jetzt hält das Grundgesetz ein geeigne-
tes Instrumentarium bereit.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf ei-
nes Luftsicherheitsgesetzes hält sich an den Rahmen des
Art. 35 GG und füllt ihn lediglich insbesondere im Hin-
blick auf Kommandostrukturen und auf das Verhältnis
zwischen Bundes- und Landesrecht aus.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Gründung einer Bundesanstalt für Immobilien-
aufgaben (BlmA-Errichtungsgesetz) (Tagesord-
nungspunkt 13)
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Mit dem
von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf
soll eine neue Bundesanstalt für Immobilienaufgaben
geschaffen werden. Sie übernimmt die bisher von der
Bundesvermögensverwaltung wahrgenommenen Aufga-
ben. Kernaufgabe der Bundesvermögensverwaltung ist
die Beschaffung, Verwaltung und Verwertung von Bun-
desliegenschaften. Hinzu kommt eine Reihe von immo-
bilienbezogenen Dienstleistungen für die Verwaltungs-
einrichtungen des Bundes, beispielsweise die forstliche
Betreuung der militärisch genutzten Liegenschaften des
Bundesministeriums der Verteidigung sowie die Betreu-
ungsaufgaben im Rahmen des Aufenthaltes der ausländi-
schen Streitkräfte.
Mit der Wiedervereinigung war der Aufbau der Bun-
desvermögensverwaltung in den neuen Bundesländern
verbunden. Er diente der Erfassung und Sicherung des
dortigen Bundesvermögens. Dieser Prozess ist weitge-
hend abgeschlossen. Da im gesamten Bundesgebiet in-
folge der veränderten militärischen Sicherheitslage viele
Standorte aufgegeben wurden, standen die Bemühungen
zur Konversion dieser Flächen in der Bundesvermögens-
verwaltung voran.
Zugleich galt es, die Struktur der Bundesvermögens-
verwaltung der jeweiligen aktuellen Aufgabenerledi-
gung anzupassen und Veränderungen in der Vergangen-
heit Rechnung zu tragen. Schon früh dienten moderne
Steuerungselemente – wie zum Beispiel Kosten- und
Leistungsrechnung – der Erfassung und Bewertung des
Verwaltungshandelns.
Eingehende Untersuchungen der Arbeitsabläufe und
der Vorstellungen der Beschäftigten über mögliche Ver-
besserungen führten im Projekt zur Neuordnung des
Immobilienmanagements dazu, das gesamte Liegen-
schaftsmanagement auf die neuen Herausforderungen
vorzubereiten. Es galt, von einer eher mengenorientier-
ten Verwertung des Immobilienbestandes auf einen ob-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9067
(A) (C)
(B) (D)
jektspezifischen, qualitativ hochwertigen Umgang mit
der Einzelimmobilie umzustellen.
Mit der Umstrukturierung in eine Bundesanstalt des
öffentlichen Rechts soll eine leistungsstarke, kosten-
günstige und transparente Aufgabenerledigung erreicht
werden. Die Bundesvermögensverwaltung wird zu ei-
nem modernen auf Immobilien spezialisierten Dienst-
leister umgestaltet. Damit folgt die Verwaltung Entwick-
lungen in der Privatwirtschaft, in der Immobilien wegen
ihrer Werthaltigkeit in Zeiten knapper gewordener
Finanzen professionell gemanagt werden. Auch die
überwiegende Zahl der Bundesländer hat bereits die
Umstrukturierung ihrer Liegenschafts- und Bauverwal-
tungen in unternehmerisch geführte Organisationen rea-
lisiert.
Die neue Bundesanstalt bietet gute Voraussetzungen
für ein wertorientiertes, wirtschaftliches und ganzheitli-
ches Immobilienmanagement. Sie zeichnet sich durch
eine Abflachung der Hierarchieebenen und durch strenge
betriebswirtschaftliche Ausrichtung aus. Sie wird nach
strategischen Sparten – Portfoliomanagement, Verkauf,
Facilitymanagement – organisiert und mit Ergebnisver-
antwortung für die jeweiligen Geschäftsbereiche ausge-
stattet. Diese Umstellung bedeutet für die Beschäftigten
der BlmA, künftig in einem rein marktwirtschaftlich
orientierten System eigenverantwortlich zu handeln.
Deshalb sind umfangreiche Fortbildungsmaßnahmen in
Vorbereitung bzw. bereits eingeleitet. Mit ihnen soll
erreicht werden, notwendige Nachqualifikationen her-
beizuführen. Damit eröffnen sich Chancen für die Be-
schäftigten, mit neuen Kompetenzen bei eigener Ent-
scheidungsverantwortung tätig zu werden. Moderne und
zukunftsorientierte Arbeitsplätze entstehen und sind aus-
zufüllen. Vielfältige Hilfestellungen tragen dazu bei, die
notwendige Akzeptanz und Motivation der Beschäftigten
zu erreichen. Nur wenn diese Voraussetzungen gegeben
sind, ist der Erfolg der Umstrukturierung sicher.
Die von der Bundesregierung vorgesehene Organisa-
tionsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts bietet
weitgehende unternehmerische Unabhängigkeit auf der
Basis eingesetzter betriebswirtschaftlicher Steuerungs-
elemente. Mit Gründung der Anstalt unternimmt der
Bund einen weiteren Schritt zur Einführung eines ein-
heitlichen Immobilienmanagements. Die BlmA wird in
der Lage sein, auch die Verwaltung weiterer Dienstlie-
genschaften oder liegenschaftsbezogene Dienstleistun-
gen für andere Ressorts zu übernehmen, so wie es auch
vom Rechnungsprüfungsausschuss des Haushaltsaus-
schusses des Deutschen Bundestages gefordert wird. Die
Dienstliegenschaften im Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Finanzen bewirtschaftet die BW übri-
gens bereits seit mehreren Jahren einheitlich. Weitere
Ausgaben könnten gespart werden, wenn alle an einem
Standort vorhandene Dienstliegenschaften des Bundes in
ein Flächenmanagement einbezogen würden. Ziel muss
es daher sein, durch die neue Gesellschaft alle Liegen-
schaften des Bundes zu managen. Hierüber ist im weite-
ren Beratungsverfahren zu entscheiden. Dabei kommt
dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages
eine entscheidende Rolle zu.
Die Überführung der Aufgaben und die damit verbun-
dene Möglichkeit, der Bundesanstalt das Eigentum an
den Liegenschaften aus dem Allgemeinen Grundvermö-
gen und dem Ressortvermögen des Bundesministeriums
der Finanzen zu übertragen, schaffen die Voraussetzun-
gen für einen wertorientierten, wirtschaftlichen und
ganzheitlichen Umgang mit der Ressource Immobilie.
Die Anstalt wird Rechtsnachfolger der Dienststellen
der Bundesvermögensverwaltung. Alle Beschäftigten
der Bundesvermögensverwaltung werden von Gesetzes
wegen statusgleich auf die Bundesanstalt übergeleitet.
Beschäftigte des Bundesministeriums der Finanzen, die
in die Bundesanstalt wechseln, werden dorthin versetzt
bzw. erhalten neue Arbeitsverträge. Die Bundesanstalt
soll von einem Vorstand geleitet werden, dessen Mitglie-
der in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis ste-
hen. Damit werden die Leitungsstrukturen im Interesse
einer wettbewerbsorientierten Unternehmenspolitik an
die Leitungsstrukturen der Wirtschaft angenähert. Zu-
gleich wird die Möglichkeit eröffnet, auch geeignete
Persönlichkeiten aus der Wirtschaft für die Führung der
Anstalt zu gewinnen und ihnen die Leitung mit Blick auf
eine marktnahe und innovative Aufgabenwahrnehmung
befristet zu übertragen.
Befürchtungen von Berufsvertretungen und einigen
Beschäftigten, bei der neuen Bundesanstalt könnten sich
infolge gesteigerter Verkaufsleistungen Personalüber-
hänge bilden, müssen einer sorgfältigen Prüfung unter-
zogen werden. Die Beschäftigten müssen bei der Um-
strukturierung „mitgenommen“ werden, damit auch
weiterhin eine hohe Motivation der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter gewährleistet ist. Das ist ein ganz entschei-
dender Faktor für ein Funktionieren der neu zu gründen-
den Bundesanstalt.
Dabei kann der Grundstücksverkauf mittelfristig so
geplant werden, dass der durch Abverkäufe eintretende
Personalminderbedarf den voraussichtlichen Alters- und
sonstigen Abgängen nahezu entspricht. Schon jetzt
zeichnen sich zahlreiche Personalwechsel in andere Be-
reiche der Bundes- und Bundesfinanzverwaltung ab. Im
Übrigen ist die Verkaufsgeschwindigkeit abhängig von
der Lage am Immobilienmarkt. Die neue Organisations-
form ermöglicht es, hierauf schneller und besser zu rea-
gieren. Durch gegebenenfalls kurzfristige Investitionen,
zum Beispiel in den entwicklungsfähigen Bestand oder
Maßnahmen zur Anentwicklung von Problemliegen-
schaften, können stärker als bisher Erträge aus der Ver-
wertung von Liegenschaften des Allgemeinen Grundver-
mögens gewonnen werden.
Im Entwurf des BlmA-Errichtungsgesetzes wird be-
stimmt, dass ein Insolvenzverfahren über das Vermögen
der Bundesanstalt nicht stattfindet. Damit ist klargestellt,
dass der Bund als Gewährträger die Zahlungsfähigkeit
der Bundesanstalt sichert. Die Forderung der Gewerk-
schaften nach einer ausdrücklichen Regelung der so ge-
nannten Anstaltslast wird im weiteren parlamentarischen
Verfahren geprüft. Die Arbeitnehmerrechte sind durch
die vorgeschlagene gesetzliche Regelung umfassend be-
stimmt. Mit den Gleichstellungsbeauftragten, den Perso-
nalvertretungen und der Schwerbehindertenvertretung
9068 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
werden zurzeit organisatorische und personalwirtschaft-
liche Konzepte abgestimmt, um auch für den einzelnen
Beschäftigten den Rahmen auszufüllen, der durch das
Errichtungsgesetz vorgegeben wird. Dieser engen und
von gegenseitigem Verständnis für die Belange aller Be-
schäftigten geprägten Interessenabstimmung möchte ich
meine Anerkennung aussprechen.
Folgende – auch in der vorliegenden Stellungnahme
des Bundesrats – angesprochene Punkte müssen vor ei-
ner abschließenden Entscheidung zweifelsfrei geklärt
sein:
Steuerliche Konsequenzen: Die Frage der Körper-
schafts- oder Gewerbesteuerpflicht wird zurzeit durch
das Finanzamt Bonn geprüft. Hier ist die verbindliche
Auskunft der Finanzbehörde abzuwarten.
Wirtschaftlichkeit der BlmA: Bei diesem Punkt ist die
Stellungnahme des Bundesrechnungshofes zu beachten.
Hierzu verweise ich auf die Ausführungen zur finanziel-
len Vorteilhaftigkeit und zur Erreichbarkeit des Haus-
haltsziels. Die Frage der Gesamtwirtschaftlichkeit hängt
auch sehr eng mit der Klärung der Steuerfragen zusam-
men.
Da für die Gründung der BlmA der 1. Januar 2005 der
optimale Zeitpunkt ist, sollten wir die offenen Fragen
ohne Zeitdruck klären. Der Überweisung an die zustän-
digen Ausschüsse des Parlaments bitte ich zuzustimmen.
Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Der Bun-
destag behandelt heute erstmals den Gesetzentwurf zur
Gründung einer Bundesanstalt für Immobilienaufgaben,
kurz und einprägsam BImA genannt. Das gesamte Vor-
haben kann und muss aus guten Gründen generell in-
frage gestellt werden. Vor allern aber ist die konkrete ge-
setzgeberische Ausgestaltung der eigenen Intentionen
der Bundesregierung an vielen, zu vielen Stellen kritik-
würdig. Eine vielleicht richtige Idee, aber handwerklich
total verhunzt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird
deshalb diesem Entwurf ihre Stimme nicht geben kön-
nen.
Warum will die Bundesregierung diese Anstalt grün-
den? Was sind ihre Motive, wie gestaltet sie das Verfah-
ren, und nicht zuletzt: in welcher Art und Weise wurde
bisher mit Kritik, intern wie extern, umgegangen?
Bereits diese einfachen, grundlegenden Fragen zei-
gen, wie sehr das gesamte Vorhaben auf wackeligen Fü-
ßen steht. Viele grundsätzliche Dinge sind noch nicht
oder nur unzureichend geklärt. Zahlreiche gewichtige
Einwände wurden ignoriert oder, schlimmer noch, sinn-
entstellend verdreht. Von einer souveränen Verfahrens-
führung kann nicht die Rede sein.
Das fängt schon bei der Hektik an, mit der dieses Vor-
haben betrieben wird. Nachdem man sich jahrelang mit
den Veränderungen unter der Überschrift „NIMBUS“
beschäftigt hatte, schlummerte die Angelegenheit mehr
als ein Jahr. Jetzt plötzlich muss alles übers Knie gebro-
chen werden. So reichte die Zeit nicht einmal für eine or-
dentliche Vorlage, sondern wir müssen uns mit einer
„Flatterdrucksache“ beschäftigen. Auch der Beratungs-
zeitpunkt ist verräterisch, fast um Mittenacht. Es soll der
Vorgang möglichst im Verborgenen abgewickelt werden.
Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Bevor wir uns den einzelnen Aspekten zuwenden,
sollte ein kurzer Blick zurückgeworfen werden. Die mit
dem Gesetz verfolgte Idee ist so neu nicht. Im Jahre
2000 wurde die G.E.B.B. gegründet und mit vergleichba-
ren Vorschusslorbeeren bedacht wie jetzt die BImA. Sie
sollte für das Bundesverteidigungsministerium durch
„professionelles Management“ Einsparungen für den
Bundeshaushalt erbringen. Der damalige Verteidigungs-
minister Scharping träumte von einer halben Milliarde
D-Mark per annum.
Obwohl die G.E.B.B. ein vergleichsweise einge-
schränktes Aufgabengebiet hatte, blieb sie weit hinter
den Erwartungen zurück, um nicht zu sagen, ein einziges
Fiasko. Trotz zahlreicher, millionenschwerer externer
Berater und Nachschuss nicht unerheblicher Mittel
kommt sie auch nach knapp vier Jahren nicht richtig von
der Stelle. Außer Spesen nichts gewesen.
Ich möchte mich gar nicht lange mit pikanten Details
befassen: Sollte ein dort verantwortlicher Manager auch
für eine leitende Funktion bei der BImA im Gespräch
sein? Ein zweiter – auch der SPD nicht fern stehender –
Geschäftsführer wurde schon in der Presse genannt.
Kommt vielleicht noch eine für teures Geld abgefundene
Geschäftsführerin zurück? Möchte sich hier vielleicht
ein bald im Ruhestand befindlicher hoher Beamter des
Finanzministeriums eine lukrative Altersbeschäftigung
schaffen? Nicht gerade gute Sterne, unter denen der Start
erfolgen soll.
Viel wichtiger ist momentan die Frage, wie das Bun-
desfinanzministerium eine ähnliche Enttäuschung wie
bei der G.E.B.B. vermeiden will. Oder anders gefragt:
Haben Minister Eichel und sein Staatssekretär
Dr. Overhaus die richtigen Lehren gezogen und manifes-
tiert sich das im vorliegenden Gesetzesentwurf?
Die Antwort fällt negativ aus. Schon die grundsätz-
liche Frage, warum man ausgerechnet die Rechtsform
einer Anstalt wählt, die ja gerade bei der Bundesagentur
für Arbeit als unzeitgemäß und ineffizient begraben
wurde, bleibt offen. Der ganze Entwurf geht zudem von
unrealistischen, mitunter utopisch anmutenden Szena-
rien aus. Es fällt nicht schwer, viele der präsentierten
Zahlen und Annahmen in das Reich der Fabel zu verwei-
sen.
Entgegen aller gebotenen kaufmännischen Vorsicht
und unter Ausblendung des außerordentlich angespann-
ten Immobilienmarktes in Deutschland soll die bloße
„betriebswirtschaftlich ausgerichtete Aufgabenerledi-
gung“ bereits in diesem Haushaltsjahr zu Mehreinnah-
men von 11 Millionen Euro im Bundeshaushalt führen!
Das ist selbst im günstigsten aller denkbaren Fälle we-
gen der zwangsläufig anfallenden Anlaufschwierigkei-
ten und Reibungsverluste nicht zu realisieren. Auch hier
sei wieder an die G.E.B.B. als warnendes Beispiel erin-
nert.
Doch damit nicht genug. Laut Gesetzesentwurf soll
die Bundesanstalt gegenüber dem Fortbestand der Bun-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9069
(A) (C)
(B) (D)
desvermögensverwaltung Mehreinnahmen von 1,3 Mil-
liarden Euro für den Bund bringen. Zieht man die knapp
100 Millionen Euro ab, die in den ersten vier Jahren an-
fallen sollen, so verbleiben für die sechs Jahre ab 2008
über 1,2 Milliarden Euro Zufluss an den Bund! Wie
diese wundersame Verachtfachung der Zuflüsse zu-
stande kommt, bleibt dem Betrachter verschlossen.
Was in den Einnahmen zu hoch veranschlagt wird, ist
bei den Ausgaben entschieden zu niedrig angesetzt. Wi-
der alle Erfahrung und auch entgegen den bekannten
Zahlen aus der Vermögensverwaltung werden die Be-
wirtschaftungs- und Bauunterhaltskosten zu niedrig, die
notwendige neue Computerausrüstung überhaupt nicht
veranschlagt! Eine solche Basis kann nur als unseriös
bezeichnet werden. Die Implementierungskosten sind
überhaupt nicht berücksichtigt. Im Haushalt haben Sie
allein für die IT-Technik 43 Millionen Euro bereitge-
stellt. Bei einer Abschreibungszeit von fünf Jahren wer-
den die angestrebten Mehrerlöse der ersten Jahre allein
hier schon verfeuert.
Der geplante Start mit einem Betriebsmittelkredit von
200 Millionen Euro beweist schon, dass Sie selbst nicht
von der Wirtschaftlichkeit des Vorhaben ausgehen. Bei
einem Zinssatz von 5 Prozent fressen allein Finanzie-
rungskosten für diese Darlehen anvisierte Mehreinnah-
men im ersten Jahr vollständig und auch in den Folge-
jahren noch zur Hälfte auf.
Es wird wieder einmal – wie so oft bei Rot-Grün – die
Realität ausgeblendet, getarnt und getäuscht. Nehmen
wir nur die Kabinettsvorlage. In dem Anschreiben des
Bundesfinanzministers heißt es: „Der Präsident des Bun-
desrechnungshofes als Beauftragter für die Wirtschaft-
lichkeit in der Verwaltung hat sich zustimmend zur Er-
richtung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben
geäußert und unterstützt die vorgesehene strategische
Ausrichtung der Bundesanstalt als unternehmerisch ge-
führte Organisation.“ Im Weiteren wird praktisch nur
eine positive Einschätzung des Bundesrechnungshofes
wiedergegeben. Lediglich wegen der Implementierungs-
kosten und wegen der Abführungen in den ersten Reihen
gibt es einige kritische Anmerkungen. Dies ist schlicht
und einfach falsch und lässt sich nach meiner Ansicht
mit der mir vorliegenden Stellungnahme des Bundesbe-
auftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung vom
22. Oktober 2003 nicht vereinbaren.
Der Präsident des Rechnungshofes hat meine Interpre-
tation beim Besuch des Rechungsprüfungsausschusses in
Potsdam kürzlich erst bestätigt: Der eben zitierte Satz sei
aus dem Zusammenhang gerissen, denn unter anderem
wurde das Vorhaben nur für den Fall positiv bewertet,
dass alle Liegenschaften des Bundes, also auch die der
anderen Ressorts in dieses neuen Management miteinbe-
zogen werden. Genau das fehlt aber im Entwurf. Auch
nach der bereits erwähnten NlMBUS-Untersuchung ist
diese Einbeziehung aber zwingend notwendig.
Der zentrale Fehler im Gesetzesentwurf ist der unge-
löste Grundwiderspruch zwischen langfristigem, an-
spruchsvollen Immobilienmanagement und kurzfristigen
fiskalischen Interessen des Bundes. Die beste strategi-
sche Planung nutzt nichts, wenn über ihr das Damokles-
schwert des chronisch klammen Finanzministers hängt.
Nichts dokumentiert aber die Hast und die Kurzsichtig-
keit besser als das Eingeständnis, dass die unverzicht-
bare Portfolioplanung erst noch zu erarbeiten ist. Das-
selbe gilt für die externe Rechnungslegung. Mit
„strenger betriebswirtschaftlicher Ausrichtung“ hat das
alles nichts zu tun.
Aber auch andere Punkte harren noch der Klärung,
darunter der so wichtige Punkt der Steuerpflicht für die
Bundesanstalt als wirtschaftlichem Eigentümer der
Grundstücke. Entgegen der Auffassung der Bundes-
regierung sprechen viele Argumente für eine Steuer-
pflicht und damit auch dafür, dass bei der Einrichtung
Grunderwerbsteuer in hohem Maße anfällt. Damit wür-
den alle von Ihnen angenommenen Gewinne aufgefres-
sen. Wenn dem aber so sein sollte, sind auch die Interes-
sen der Bundesländer tangiert, besonders die des Landes
Nordrhein-Westfalen, in welchem der Sitz der Anstalt
eingerichtet werden soll. Wir werden genau darauf ach-
ten, ob die Bundesregierung hier Herrn Steinbrück im
bevorstehenden Landtagswahlkampf entgegen kommt.
Der wichtigste Erfolgsgarant, das hat auch die Bun-
desregierung eingesehen, sind qualifizierte und moti-
vierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Hier wurde im
Vorfeld viel Porzellan zerschlagen. Man kann nicht ei-
nerseits die Bundesvermögensverwaltung für die Straf-
fung ihrer Verwaltungsstrukturen und den Einsatz mo-
derner Steuerungselemente loben, ihnen andererseits
aber die Kompetenz für eine erfolgreiche Weiterent-
wicklung ihrer Arbeitsmethoden absprechen. Da passt es
ins Bild, dass die Betroffenen in vielen Punkten im Un-
klaren gelassen werden, Gesprächstermine kurzfristig
abgesagt und wichtige Informationen vorenthalten wer-
den. Das schlechte Beispiel der G.E.B.B. lässt grüßen.
Es ist eine verhängnisvolle Entwicklung, wenn die
zahlreichen konkreten Verbesserungsvorschläge aus den
Reihen der Beschäftigten ignoriert oder beiseite ge-
wischt werden. Die meisten der auszubauenden Voraus-
setzungen wie Dienstleistungsorientierung und Control-
ling sind bereits vorhanden und warten nur darauf,
genutzt zu werden.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht mit ihrer
Kritik nicht allein. Der Beauftragte für die Wirtschaft-
lichkeit in der Verwaltung, der NIMBUS-Bericht, die
Personalvertretungen der betroffenen Behörden und Ein-
richtungen sowie nicht zuletzt auch Kolleginnen und
Kollegen quer durch die Fraktionen lehnen das Vorhaben
BImA und den Gesetzesentwurf ab.
Abschließend soll an dieser Stelle noch einmal auf die
sehr kritische, im Kern ablehnende Einschätzung des
Beauftragten für die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung
eingegangen werden. Dieses Urteil ist vor allem deshalb
interessant, weil es sich auf Erfahrungen anderer Um-
strukturierungsmaßnahmen innerhalb der öffentlichen
Verwaltung stützt.
Es reicht eben nicht, die Vorschläge nur hinsichtlich
der wortgetreuen Übernahme der gesetzlichen Zielset-
zung zu übernehmen. Erforderlich ist auch eine inhaltli-
che Auseinsetzung mit den Einwänden.
9070 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
Bevor der Entwurf weiter beraten werden kann, müs-
sen die wichtigen grundsätzlichen und noch offenen Fra-
gen geklärt werden. Dazu gehört: Welche Steuerpflich-
ten in welcher Höhe werden durch die Umstellung
ausgelöst? Was wird mit der Einbeziehung der Liegen-
schaften der anderen Ressorts? Wie kann das Verhältnis
mit den Ländern einvernehmlich geregelt werden? Inso-
weit ist die Gegenäußerung der Bundesregierung zur
Stellungnahme des Bundesrates völlig unzureichend. Ist
das Gesetz zustimmungspflichtig? Wie sind die wirt-
schaftlichen Auswirkungen im Einzelnen? Dazu müssen
endlich Fakten und Formulierungsvorschläge auf den
Tisch, damit der Gesetzentwurf auch verantwortlich be-
urteilt werden kann. Wir werden beantragen, diese
Punkte durch eine Anhörung zu klären.
So lange aber diese offenen Fragen nicht eindeutig
und positiv geklärt werden, lehnt die CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion nicht nur den Gesetzentwurf ab, sondern
fordert die Bundesregierung auf, ihn zurückzuziehen
und neu zu fassen. Er ist so schief, dass er nicht nachbes-
serungsfähig ist. Er gehört in den Mülleimer der Ge-
schichte. Eine weitere milliardenschwere Fehlplanung
kann und darf sich unser Land nicht leisten.
Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
ist in Kernstück unserer rot-grünen Regierungspolitik,
das Ziel „Schlanker Staat – schlanke Verwaltung“ zu
verwirklichen. Wir gestalten die öffentliche Verwaltung
so um, dass Ressourcen zielgerichteter ausgeschöpft und
Steuergelder effizienter eingesetzt werden können. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Gründung einer
Bundesanstalt für Immobilienaufgaben soll die Bundes-
vermögensverwaltung in eine unternehmerisch geführte
Bundesanstalt des öffentlichen Rechts umstrukturiert
werden. Diese Neuorganisation ist ein Baustein des Pro-
jekts „Strukturentwicklung Bundesfinanzverwaltung“.
Die Bundesvermögensverwaltung hat in den letzten
fünf Jahrzehnten eine wechselvolle Entwicklung durch-
laufen. Während in den 50er- und 60er-Jahren zunächst
die Abwicklung von Ansprüchen Geschädigter des
Zweiten Weltkrieges und danach die liegenschaftsbezo-
genen Aufgaben im Zusammenhang mit dem Aufbau der
Bundeswehr den Schwerpunkt bildeten, hat sich die
Aufgabenstellung insbesondere in den 90er-Jahren durch
die Wiedervereinigung und die Aufgabe militärischer
Liegenschaften deutlich verändert. Riesige Flächen, im
Ganzen rund 452 000 Hektar, wurden dem Allgemeinen
Grundvermögen zugeführt. Ziel der Bundesvermögens-
verwaltung war und ist es, diese einer neuen Verwen-
dung zuzuführen und damit einen Beitrag zur Schaffung
von Investitionen und Arbeitsplätzen an den aufgegebe-
nen militärischen Standorten zu leisten.
Anfang der 90er-Jahre hatte die Bundesvermögens-
verwaltung 1693 Kasernenareale, 494 Übungsplätze,
155 Flugplätze, 3144 land- und forstwirtschaftliche Ob-
jekte und über 155 000 Wohnungen zu verwerten. Inzwi-
schen konnte eine Vielzahl dieser Liegenschaften ver-
kauft werden. Dem Bundeshaushalt wurden, dadurch
von 1990 bis 2003 rund 19 Millarden Euro zugeführt.
Die dreistufige Verwaltungsorganisation der Bundes-
vermögensverwaltung wurde in der Vergangenheit
mehrfach überprüft. Heute sind noch 38 Bundesvermö-
gensämter und neun Bundesvermögensabteilungen vor-
handen. Der Personalbestand wurde von 1997 bis 2003
um rund 25 Prozent verringert.
Diese Umorganisationsprozesse wurden von moder-
neren Arbeits- und Managementmethoden und der Ein-
führung betriebswirtschaftlicher Instrumente wie zum
Beispiel Kosten- und Leistungsrechnung begleitet. Die
Führung durch Zielvereinbarungen sollte zu einer Opti-
mierung der Aufgabenerledigung beitragen und eine
Kostentransparenz schaffen. Heute ist jedoch eine große
Anzahl von Liegenschaften, soweit sie am Markt zu
platzieren waren, veräußert. Neue, für Verwaltungszwe-
cke entbehrliche Liegenschaften der Ressorts werden
kaum noch zugeführt. Das hat zur Folge, dass sich der
Aufgabenschwerpunkt der Bundesvermögensverwaltung
mehr und mehr auf die Verwertung der weniger markt-
gängigen und somit schwer veräußerbaren Liegenschaf-
ten verlagert. Derzeit betreut die Bundesvermögensver-
waltung noch einen Bestand von rund 37 000
Liegenschaften mit einer Grundstücksfläche von etwa
300 000 Hektar, darunter allein rund 69 000 Wohnun-
gen. Von der Bundesforstverwaltung werden zusätzlich
355 000 Hektar aus dem Zuständigkeitsbereich anderer
Ressorts, insbesondere des Bundesministeriums der Ver-
teidigung, betreut.
Aufgrund der beschriebenen Aufgabenveränderungen
sowie um den Erfordernissen der Lage der öffentlichen
Haushalte gerecht werden zu können, ist nun eine grund-
legende und qualitative Neuorganisation der BVV unab-
dingbar. Mit einer erneuten Veränderung der Verwal-
tungsstruktur, zum Beispiel hin zu einem zweistufigen
Aufbau und damit zu flacheren Organisationsstrukturen,
würde man das mit einer grundlegenden Modernisierung
verfolgte Ziel nicht erreichen. Die Konzentration auf ori-
ginäre Aufgaben dient dazu, vorhandene Kernkompeten-
zen zu stärken.
Mit der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben wird
zugleich der Grundstein für ein einheitliches Liegen-
schaftsmanagement des Bundes gelegt. Die BImA wird
in Zukunft noch besser die Möglichkeit haben, in der
Bundesfinanzverwaltung gewonnene Erfahrungen aus
dem Liegenschaftsmanagement auch für die dienstlich
genutzten Liegenschaften anderer Ressorts zur Verfü-
gung zu stellen.
Ich bin als Mitglied des Haushaltsausschusses davon
überzeugt, dass durch ein einheitliches Liegenschafts-
management prinzipiell Einsparungen im Bundeshaus-
halt ausgelöst werden können. Auch die Erfahrungen der
Verwaltung des Landes Niedersachsen bestätigen diese
Annahme. Wir werden allerdings aufmerksam und fort-
laufend prüfen, ob in der neuen, eigenverantwortlichen
Unternehmensstruktur die Vorteile der betriebswirt-
schaftlichen Arbeitsweise tatsächlich ausgeschöpft wer-
den. In einem Jahr, in dem die rund 1 700 Dienstliegen-
schaften – Zoll und Oberbehörden – von der BVV
verwaltet und bewirtschaftet wurden, konnten im Ge-
schäftsbereich des Bundesfinanzministeriums 14 Millio-
nen Euro eingespart werden. Dies entsprach 15 Prozent
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9071
(A) (C)
(B) (D)
der Bewirtschaftungskosten. Durch die Neugründung
der BImA werden weitere Effizienzgewinne erwartet.
Die Organisationsform einer Bundesanstalt ermög-
licht eine Immobilienorganisation, die den schwierigen
Herausforderungen des Immobilienmarktes gewachsen
ist. Eine schlanke, fachgesteuerte und unmittelbar eigen-
verantwortliche Unternehmensstruktur lässt eine be-
triebswirtschaftliche Arbeitsweise mit flexiblerem und
immobilienspezifischem Einsatz von Finanzmitteln zu.
Das Immobiliengeschäft wird zum Kerngeschäft der
BImA. Ich sehe darin zahlreiche Vorteile: Eine stärkere
betriebs- und marktwirtschaftlich ausgerichtete Arbeits-
weise wird geschaffen. Die Möglichkeit der Steuerung
durch den Einsatz von betriebswirtschaftlichen Steue-
rungs- und Controllinginstrumenten wie kaufmännisches
Rechnungswesen wird eröffnet. Durch eine immobilien-
und betriebswirtschaftliche Steuerung des Immobilien-
bestandes wird das Ziel der sukzessiven Bestands-
reduzierung verfolgt. Ein Portfoliomanagement wird
eingeführt und eine einheitliche und gezielten Portfolio-
strategie verfolgt. Ein sparsamerer Umgang mit der Flä-
che wird erzielt.
Durch die Übertragung eines definierten Immobilien-
bestandes an die BImA wird diese in die Lage versetzt,
ihre Ziele und Verpflichtungen weitgehend selbständig
zu verfolgen. Als Anstalt mit eigener Bilanz und eige-
nem Wirtschaftsplan wird sie die Ergebnisse ihrer Tätig-
keit in eigener Ergebnisverantwortung ausweisen. Die
vorgesehenen kaufmännischen Systeme sollen der
BImA bei der eigenen Standortbestimmung helfen und
ihr über genauere Messzahlen ermöglichen, die richtigen
wirtschaftlichen Entscheidungen zu treffen. Dabei wird
die BImA in weit größerem Maße als bisher entscheiden
können, ob und in welchem Umfang sie Teile ihrer Er-
löse in entwicklungsfähige Immobilien investiert, um
optimalere Ergebnisse zu erreichen. Das fördert Eigen-
initiative und Flexibilität und ist daher unbedingt zu be-
grüßen.
In der neuen Bundesanstalt entstehen somit moderne,
zukunftsorientierte Arbeitsplätze. Den Beschäftigten
werden interessante und qualifizierte Aufgaben geboten
und bessere Qualiflzierungschancen zur Verfügung
stehen als in der jetzigen Verwaltungsstruktur. Die Be-
diensteten erhalten weitreichendere Kompetenzen mit
größeren Entscheidungsspielräumen als bisher. Die Mo-
tivation des Einzelnen kann dadurch gesteigert werden,
dass eine Offenheit für Veränderungen vorhanden ist.
Die neu entstehenden Arbeitsplätze halten einem Ver-
gleich mit der Privatwirtschaft stand. Sie bieten die Ar-
beitsplatzsicherheit des öffentlichen Dienstes. Die in die
Bundesanstalt für Immobilenaufgaben wechselnden Be-
schäftigten der BW übernehmen uneingeschränkt die
bisher erworbenen beamten- bzw. tarifrechtlichen Be-
dingungen des öffentlichen Dienstes.
Ich befürworte die Gründung der BImA, da sie dazu
beiträgt, die Bundesfmanzverwaltung zukunftsorientier-
ter, leistungsstärker und kostengünstiger zu gestalten.
Dr. Günter Rexrodt (FDP): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf zur Errichtung einer Bundesanstalt für
Immobilienaufgaben will Bundesfinanzminister Eichel
ein professionelles Immobilienmanagement betreiben.
Dazu soll die bisherige Bundesvermögensverwaltung in
eine unternehmerisch geführte Anstalt des öffentlichen
Rechts überführt werden, um ein effektives und effizien-
tes Immobilienmanagement zu ermöglichen. Aufgabe
der Bundesvermögensverwaltung ist die Beschaffung,
Verwaltung und Verwertung von Bundesliegenschaften.
Diese Immobilien bilden das so genannte allgemeine
Grundvermögen. Dieses besteht aus rund 70 000 Woh-
nungen, 365 000 Hektar Wald und Hunderten von
Gewerbeimmobilien und Investorenobjekten. Bisher
werden die Aufgaben von rund 7 000 Mitarbeitern wahr-
genommen. Diese sollen auch in der zukünftigen Orga-
nisationsform, so der vorliegende Gesetzentwurf, die
Aufgaben erledigen.
Für die FDP kann ich sagen, dass bei oberflächlicher
Betrachtung des Gesetzentwurfs die Zielsetzung einer
solchen Organisationsform unterstützenswert wäre. So
sprechen Sie in Ihrem Gesetzentwurf von flacheren Hie-
rarchien, strafferen Strukturen und einer größeren Effi-
zienz, auch bedingt durch die Einführung der kaufmän-
nischen Buchführung. Auf diese Art und Weise soll eine
höhere Kosten- und Ertragstransparenz erreicht werden.
Dieses ist im Grundsatz nicht zu monieren. Doch bei
Licht betrachtet, entpuppt sich der Gesetzentwurf als ein
Papier mit vielen Unbekannten.
Der wahre Grund Ihres Gesetzentwurfs ist meines Er-
achtens allein unter fiskalischen Gesichtspunkten zu se-
hen. Nach Ihren Berechnungen soll der Staat in zehn
Jahren 1,3 Milliarden Euro mehr einnehmen. Doch hier
fangen meine Zweifel an. Für die ersten vier Jahre sind
Mehreinnahmen von insgesamt 95 Millionen Euro vor-
gesehen. Daraus folgt, dass für die verbleibenden sechs
Jahre zusätzliche Einnahmen für den Bund von 1,2 Mil-
liarden Euro eingeplant sind. Damit basieren die Planun-
gen Ihres Hauses auf der Annahme, dass in den sechs
Folgejahren ein jährlicher Betrag von 200 Millionen
Euro – also dem Achtfachen der Vorjahre – eingenom-
men wird. Dies erscheint mir geradezu utopisch. Denn
schaut man sich die Veräußerungserlöse der Bundesver-
mögensverwaltung in den Vorjahren an, so besteht eine
rückläufige Tendenz bei den Einnahmen. Betrugen die
Einnahmen aus Veräußerungen im Jahr 2000 noch rund
840 Millionen Euro lagen sie im Jahr 2003 bei 600 Mil-
lionen Euro – Soll – und im Jahr 2004 bei 550 Millionen
Euro. Nun kann man darüber streiten, ob die rückläufi-
gen Einnahmen nur auf eine Verschlechterung der allge-
meinen Marktlage zurückzuführen sind. Fakt ist jedoch,
dass aus dem Immobilienportfolio durch den Verkauf
weiterer Liegenschaften erstens der Bestand immer ge-
ringer wird und zweitens die Qualität der Liegenschaften
und damit die zu erzielenden Preise in der gewünschten
Form nicht mehr zu halten zu sein werden.
Es erscheint mir geradezu abenteuerlich, wenn die
Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt, der in
Zahlen, Berechnungen und Annahmen grundlegend
falsch ist. Dies erinnert in unschöner Art und Weise an
die vergangenen Haushalte, die regelmäßig im Haus-
haltsvollzug wie ein Kartenhäuschen in sich zusammen-
fielen und letztendlich nicht das hielten, was sie verspra-
chen.
9072 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
Darüber hinaus bleibt noch eine Vielzahl von Fragen
offen. Dies betrifft sowohl die Organisationsstruktur als
auch den Personalbereich. Die Bundesregierung spricht
in ihrem Gesetzentwurf von flachen Hierarchien, führt
aber gleichzeitig aus, dass bei der Startorganisation im
Wesentlichen alle bisherigen Regionalstandorte erhalten
bleiben. Somit käme zu den bisherigen Ebenen – Zen-
trale, Hauptstellen, Nebenstellen – noch die Fachaufsicht
durch das Ministerium hinzu. Man kann sich des Ein-
drucks nicht erwehren, dass hier alte Strukturen und Hie-
rarchien lediglich unter einem neuen Dach fortbestehen.
Ein wesentlicher Unterschied – und noch dazu ein teu-
erer – besteht jedoch: Kam die Bundesvermögensver-
waltung bisher mit einem Behördenleiter aus, so werden
zukünftig drei Vorstände dem neuen Amt hoch bezahlt
vorstehen.
Zu klären ist außerdem, welche berufliche Perspek-
tive das neue Amt den jetzigen Beschäftigten bietet,
wenn beispielsweise in einigen Bundesvermögensäm-
tern einhergehend mit dem angestrebten Verkaufstempo
Aufgaben wegfallen. Was passiert mit diesen Beschäf-
tigten? Ein schlüssiges Personalkonzept ist bisher nicht
bekannt.
Sie sehen, dieser Gesetzentwurf muss erheblich nach-
gebessert werden. Für die FDP kann ich sagen, wir wer-
den mit konstruktiven Vorschlägen das weitere parla-
mentarische Verfahren begleiten. Ein pflichtgemäßes
Abnicken, nur weil der Gesetzentwurf ansatzweise in die
richtige Richtung geht, wird es mit uns nicht geben.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Die Berliner Afghanistan-Konferenz – eine
neue Chance für mehr Kohärenz und Koor-
dinierung beim Wiederaufbau
– Fortsetzung des Engagements der Bundesre-
gierung für den Wiederaufbau- und Stabili-
sierungsprozess in Afghanistan
(Tagesordnungspunkt 14, Zusatzordnungs-
punkt 5)
Detlef Dzembritzki (SPD): Die internationale Af-
ghanistan-Konferenz in der nächsten Woche besitzt
große Symbolkraft für Afghanistan und die ganze Re-
gion. Aber auch für uns ist sie von Bedeutung: Schaffen
wir es als Staatengemeinschaft, zusammen eine langfris-
tige Perspektive für Afghanistan zu entwickeln? Gelingt
es uns, Wiederaufbau und Demokratisierung zu unter-
stützen? Oder kapitulieren wir vor den Rückschlägen
durch neue Gewaltausbrüche, Morde, organisierte Kri-
minalität und Drogenhandel?
Ich meine, wir müssen unserer Verantwortung, die
aus dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus
entsteht, langfristig und nachhaltig gerecht werden. Be-
kämpfung des Terrorismus bedeutet nämlich auch, mit
der Regierung und der Bevölkerung Afghanistans eine
Perspektive zu entwickeln, die über den Moment hinaus-
weist. In dieser Haltung scheinen sich die Anträge von
CDU/CSU und SPD/BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur
Afghanistan-Konferenz einig zu sein. Wir alle hier im
Hause plädieren dafür, unserer Verantwortung nachzu-
kommen. Auch die Forderung im CDU/CSU-Antrag,
Kooperation und Koordination auf allen Ebenen zu ver-
bessern, um für Afghanistan schneller mehr zu errei-
chen, kommt mir auf den ersten Blick durchaus berech-
tigt vor. Auf den zweiten Blick jedoch packt mich ein
Unbehagen, das ich Ihnen an dieser Stelle erläutern
möchte.
Mir scheint, dass sich die Damen und Herren der
CDU/CSU-Fraktion nicht ordentlich und ausführlich
über die Förderung und die Maßnahmen Deutschlands in
Afghanistan informiert haben. Auch ist an der Opposi-
tion vorübergegangen, an welcher Stelle die einzelnen
Ministerien zusammenarbeiten und ihre Unterstützungs-
maßnahmen koordinieren. Das Afghanistan-Konzept der
Bundesregierung vom Herbst 2003 wurde von den betei-
ligten Bundesministerien gemeinsam verfasst, von Aus-
wärtigem Amt, BMZ, Verteidigungs- und Innenministe-
rium. Ich gehe doch stark davon aus, dass sich die
Kollegin und die Kollegen Minister im Vorfeld abge-
sprochen und ihre jeweiligen Aufgaben koordiniert ha-
ben.
In dem Antrag von CDU/CSU werden alle relevanten
Problemfelder angesprochen – von „besserer Verzah-
nung und Koordinierung“ über „konsequentere Bekämp-
fung des Drogenanbaus, Unterstützung der Regierung
Karzai, Durchführung von Wahlen, Umsetzung der Ver-
fassung sowie der Frauen- und Menschenrechte“ bis zur
„Justizreform und der Rückkehrerproblematik“.
Allerdings scheint mir der Blick von CDU/CSU al-
leine auf das halb leere Glas gerichtet zu sein. Denn wir
müssen uns doch – bei aller Kritik – vor Augen führen,
dass alles, was sich in Afghanistan bislang in Richtung
State- und Nationbuilding entwickeln konnte, lediglich
drei Jahre Zeit hatte, um initiiert und durchgeführt zu
werden. Für diesen knappen Zeitraum haben wir einiges
geschafft! Dies wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht
aus dem zivilen und militärischen Bereich Menschen
auch aus unserem Land bereit gewesen wären, sich in
Afghanistan einzubringen. Wir wissen, dass dies mit
persönlichen Risiken verbunden ist. Und daher von die-
ser Stelle aus unser Dank für Einsatz und Engagement!
Ich möchte an dieser Stelle nicht ausführlich auf unser
Engagement im sicherheitspolitischen Bereich eingehen,
das unter den Stichworten ISAF und „PRT-Projekt ISAF
Insel Kunduz“ allen hier bekannt ist. Aber ich möchte
doch noch einmal auf die besondere Komponente des Pi-
lotprojekts in Kunduz hinweisen, das sich nämlich neben
seiner militärischen Komponente gerade durch eine zi-
vile Komponente auszeichnet: Hier findet die ange-
mahnte Verzahnung militärischer und ziviler Maßnah-
men vor Ort doch statt – und das unter internationaler
Beteiligung: Die Schweiz, Ungarn und Belgien haben
bereits Soldaten für 2004 zugesagt. Auch die Stärkung
der Zentralregierung in der Region, die Vermittlung zwi-
schen Zentralregierung und den lokalen Machthabern
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9073
(A) (C)
(B) (D)
und die Stärkung der örtlichen Verwaltungen durch poli-
tische Beratung stehen auf der Agenda der Soldaten.
Durch die Bundesregierung wird sichergestellt, dass der
zivile Anteil verstärkt werden wird.
Gerade diese Aufgaben sind ein wesentlicher Schritt
hin zum Aufbau eines funktionsfähigen Staatsapparates.
Ich erinnere nur daran, dass die afghanischen Ministe-
rien auf Provinzebene oftmals nur durch eine Person ver-
treten sind. Dies erschwert natürlich die Umsetzung der
Vorgaben und Beschlüsse aus Kabul. Die bislang eher
schleppende Vermittlung der Regierungspolitik in die
Provinzen kann aber doch nur Schritt für Schritt und da-
mit langfristig aufgebaut werden. Dass dies nur in enger
Abstimmung mit den Behörden, Menschen und zivilen
Helfern vor Ort möglich ist, liegt auf der Hand. Dazu
leistet Deutschland einen wichtigen Beitrag.
Wegen der brisanten Situation in Afghanistan arbeiten
in Kunduz Bundeswehr und Polizei eng zusammen.
Nicht zu vergessen sind die Unterstützung der Soldaten
beim Aufbau der Wasser- und Elektrizitätsversorgung
und die Unterstützung der Arbeit nichtstaatlicher Orga-
nisationen vor Ort. Auch in Herat kommt es zur Koope-
ration. Hier liegt der Akzent neben der Arbeit der
Außenstelle der deutschen Botschaft auf der Entwick-
lungszusammenarbeit in den Bereichen Kultur und Bil-
dung. Es gibt eine gute Zusammenarbeit mit der Univer-
sität Herat – natürlich auch zwischen anderen deutschen
und afghanischen Universitäten – und eine medienpoliti-
sche Kooperation mit der Deutschen Welle zur Herstel-
lung und Stärkung der politischen Öffentlichkeit.
Ich nutze die Gelegenheit, um uns alle, aber auch die
internationale Gemeinschaft daran zu erinnern, wie
wichtig der Schul- und der Ausbildungsbereich sind. Af-
ghanistan braucht in absehbarer Zeit qualifizierte Nach-
wuchskräfte, die den Aufbau und die Entwicklung ihres
Landes in die eigenen Hände nehmen wollen und vor al-
lem auch nehmen können. Bildung und Ausbildung sind
das Fundament und die Chance zur Versöhnung, zur
Qualifikation und für die Nachhaltigkeit des Wiederauf-
baus.
Dass all die genannten Aufgaben und Maßnahmen
verstetigt werden müssen, versteht sich für mich von
selbst. Dass aber bereits entwicklungs- und sicherheits-
politische Instrumente verzahnt werden, die dann mit
den vorhandenen afghanischen Möglichkeiten, aber ge-
nauso mit dem europäischen und internationalen Enga-
gement und der Arbeit der NGOs abgestimmt werden,
muss doch auch einmal positiv hervorgehoben werden!
Verbesserungen anzumahnen ist berechtigt und notwen-
dig. Es aber zu unterlassen auch auf die Fortschritte hin-
zuweisen, die in einem völlig zerstörten Land anfangen
sich abzuzeichnen – zerstört von den staatlichen Institu-
tionen über die Infrastruktur bis hin zur Zivilgesell-
schaft –, halte ich für fahrlässig und unseriös.
Noch ein Hinweis auf die Koordination mit den
NGOs vor Ort: Auch der CDU/CSU-Fraktion sollte be-
kannt sein, dass die staatlich unterstützten NGOs sich
bei ihren jeweiligen Botschaften vor Ort melden und da-
mit in die Kooperation einbezogen werden. Diejenigen
NGOs aber, die nicht von staatlicher Seite gefördert wer-
den, können nur zur Zusammenarbeit ermuntert werden.
Verordnen kann man diese nicht. Der Name „NGO“ legt
ja schon nahe, wo die Grenzen der Einflussnahme von-
seiten der Regierungen sind.
Ein Aspekt liegt mir noch am Herzen: Beim Aufbau
der afghanischen Polizei ist Deutschland „Lead Nation“.
Angesichts der Bedingungen und Erfordernisse vor Ort
ist es uns gelungen, nicht nur den Polizeiaufbau als Ein-
zelaufgabe zu sehen, sondern dies mit der Förderung von
Frauen und deren Gleichstellung, aber auch mit dem
Aufbau und der Stärkung von Bildung und Ausbildung
zu verknüpfen.
Auch hier will ich noch etwas konkreter werden, da
mir ein Stückchen inhaltliche Nachhilfe für die CDU/
CSU-Fraktion nötig scheint: Die einzelnen Maßnahmen
für den Polizeiaufbau können Sie ganz leicht im Internet
auf den Homepages der Ministerien nachlesen: Vom
zentralen Projektbüro in Kabul, den Polizeitrainingszen-
tren in Kunduz und Herat, der arbeitsfähigen Polizeiaka-
demie in Kabul bis hin zur Weiterbildung in Menschen-
rechtsschutz, Polizeiführung, moderner Polizeitechnik
und Verkehrswesen sind alle Maßnahmen aufgelistet.
Auch die Unterstützung beim Aufbau von Drogenbe-
kämpfungseinheiten sowie der Grenzpolizei sind nach-
zulesen. Was mir allerdings besonders wichtig erscheint,
auch wenn es nur eine kleine Maßnahme ist, ist unsere
Beteiligung an dem Fonds, aus dem die Gehaltszahlun-
gen für die afghanischen Polizistinnen und Polizisten si-
chergestellt werden.
Ich erinnere ausdrücklich daran, wie wichtig reguläre
Arbeit und regelmäßiger Lohn für die Menschen in Af-
ghanistan ist. Damit können sie einen ersten Schritt in
Richtung Normalität machen. Es geht aber auch immer
wieder darum, darauf zu achten, dass klare und transpa-
rente Verwaltungsstrukturen entstehen, damit Korrup-
tion unterbunden werden kann. Es geht also weniger um
die großen Gesten als um praktische Unterstützung vor
Ort.
Eine wichtige Symbolfunktion hingegen hat nun die
Aufnahme von Frauen in den Polizeidienst. Damit erhal-
ten Frauen eine Funktion, die mit Verantwortung und
Stärke verbunden ist. Schritt für Schritt können sie diese
dann auch in der Öffentlichkeit ausfüllen. So hat das In-
nenministerium nicht nur zwei deutsche Polizeibeamtin-
nen in das deutsche Ausbilderteam entsandt, um für
Frauen in Leitungsfunktionen öffentliche Akzeptanz zu
schaffen, sondern es werden darüber hinaus auch Fort-
und Ausbildungsmaßnahmen für afghanische Frauen
eingerichtet, damit sie die nötigen Qualifikationen erhal-
ten und als Polizeianwärterinnen für die Fachausbildung
und den Dienst vorbereitet werden. Damit wird gegen
die bedrückende Tatsache gekämpft, dass viele Frauen in
Afghanistan, wenn überhaupt, nur über eine Grundschul-
ausbildung verfügen.
Mit Unterstützung des afghanischen Innenministe-
riums und der Polizeiakademie Kabul werden spezielle
Schreib- und Lesekurse angeboten: 57 Polizistinnen ha-
ben bereits das erste Ausbildungsjahr absolviert – im
Vergleich zu den männlichen Kollegen eine kleine Zahl,
mit Blick auf die Situation in Afghanistan aber ein erster
9074 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
Fortschritt. So werden beispielsweise die speziellen Re-
gistrierungsteams für die anstehenden Wahlen, die
Frauen an ihren Wohnorten aufsuchen, von den neu aus-
gebildeten Polizistinnen begleitet. Ich denke, die Verzah-
nung der Ressorts wird an diesem Beispiel besonders
deutlich. Ohne Abstimmung untereinander und vor Ort
wären solche Fortschritte nicht möglich.
Die Förderung der Hochschulzusammenarbeit, der
Medienlandschaft und der Kulturgüter ist Ihnen, so hoffe
ich jedenfalls, ebenfalls bekannt. Lassen Sie mich den-
noch ein weiteres Kooperationsbeispiel nennen, um die
Kritik der CDU/CSU-Fraktion ins richtige Licht zu rü-
cken: Auswärtiges Amt, DAAD, Deutsche Welle und
einige NGOs haben es gemeinsam geschafft, dass die
Deutsche Welle – und das freut mich als Außen- und Ent-
wicklungspolitiker besonders – als einziger ausländi-
scher Sender das staatliche afghanische Fernsehen mit ei-
nem Nachrichtenblock beliefert, der in den Sprachen
Dari und Paschtu gesendet wird. Ziel ist eine Ausweitung
dieses Projekts auf die Provinzen. In Europa diskutieren
wir auf hohem intellektuellem Niveau, wie wichtig eine
gemeinsame Medienlandschaft und Öffentlichkeit für die
europäische Identität wäre, in Afghanistan arbeiten wir
konkret an dieser Vorbedingung für die Demokratie mit.
Mir scheint auch dies ein Beispiel für die Chancen zu
sein, die in Zusammenarbeit und Koordination liegen.
Mir fallen noch viele weitere Beispiele ein, die ich als
Mosaiksteine für den Wiederaufbau bezeichnen möchte.
Sicherlich fügen sie sich nicht von Anfang an nahtlos in
ein großes Bild, mit der Zeit aber werden sie sich anein-
ander anpassen.
Ich erinnere an das Sonderprogramm, das Frauen in
den paschtunischen Stammesgebieten wieder den Zu-
gang zu Hochschulen und zum Gesundheitssystem er-
möglicht, an Alphabetisierungs-, Computer- und Eng-
lischkurse für Frauen sowie Workshops zur Fortbildung
afghanischer Juristen.
Wir haben noch eine lange Wegstrecke vor uns. Die
bevorstehende Konferenz ist ein weiterer Schritt zur Sta-
bilisierung Afghanistans. Wir dürfen den Ernst der Lage
nicht verkennen oder beschönigen. Wir können aber nur
dann neue Dynamik und Kraft in den Wiederaufbau ste-
cken, wenn wir uns, trotz aller Rückschläge, immer auch
wieder auf die kleinen Erfolge besinnen. Ich plädiere da-
für, das halb volle Glas zu betrachten, statt nur die Defi-
zite zu sehen.
Drei Jahre nach der ersten Petersberg-Konferenz hat
Afghanistan eine Regierung und eine Verfassung. Wah-
len werden vorbereitet und zumindest die Präsidenten-
wahl erscheint in diesem Jahr möglich. Die internatio-
nale Gemeinschaft ist bereit und willens, sich weiterhin
in Afghanistan zu engagieren – und das in enger Zusam-
menarbeit mit der afghanischen Regierung und den
Menschen vor Ort. Nutzen wir die Konferenz, um diesen
Willen auszudrücken und unsere Unterstützung zu ver-
stetigen. Lassen Sie uns aber auch bereit sein, zu akzep-
tieren, dass sich in Afghanistan andere Strukturen und
Traditionen entwickelt haben als in Deutschland und
Europa.
Noch ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU-Fraktion: Bei gründlichem Lesen Ihres An-
trages drängt sich der Eindruck auf – und ich bedauere,
dass es so ist –, dass Sie das sensible und brisante Thema
Afghanistan benutzen, um innenpolitisch ein Fass aufzu-
machen. Sie wollen Ihre Schelte an den Bundesministe-
rien und der Bundesregierung vorbringen. Das Thema
selbst tritt in den Hintergrund, die Regierungskritik do-
miniert. Verbesserungen in Koordination und Koopera-
tion anzumahnen ist Ihre Pflicht als Opposition. Ihr Auf-
trag als Opposition beschränkt sich aber nicht auf die
Funktion des Kritikers, sondern umfasst ebenso die Auf-
gabe, Alternativen aufzuzeigen. Die kann ich in Ihrem
Konzept zu Afghanistan nicht erkennen – wie übrigens
in kaum einem Ihrer Konzepte. Ich finde das schade;
denn ich hätte mir im Vorfeld der Konferenz um der af-
ghanischen Sache willen auch ein gemeinsames inter-
fraktionelles Papier vorstellen können, das öffentlich
aufzeigt, wie ernst es uns als Parlament mit dem Wieder-
aufbau in Afghanistan und der Unterstützung von Demo-
kratie und Menschenrechten ist.
Der Kampf gegen den Terrorismus – und damit
möchte ich schließen – bedeutet für uns nicht nur Inter-
vention und Ergreifung von Top-Terroristen und Dikta-
toren. Dieser Kampf bedeutet eben auch, Verantwortung
zu übernehmen, zerfallende und zerfallene Staaten nicht
alleine zu lassen. Die Menschen dort brauchen Perspek-
tiven, sie brauchen Sicherheit für Leib und Leben und
sie brauchen vor allem langfristige Konzepte, die mit ih-
nen und im Einklang mit ihrer Kultur und Lebenswelt
entwickelt und umgesetzt werden. Diese Verantwortung
legt uns die Charta der Vereinten Nationen auf. Nehmen
wir diese Verantwortung gemeinsam wahr!
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir vergessen Afghanistan nicht! Dies ist die
zentrale Botschaft der dritten Afghanistan-Konferenz in
Deutschland, die nach den erfolgreichen Konferenzen
auf dem Petersberg diesmal in Berlin abgehalten werden
wird. Die Konferenz verfolgt bewusst einen breiten An-
satz: politische, sicherheitspolitische und Wiederaufbau-
aspekte werden miteinander verknüpft. Denn die Rück-
kehr Afghanistans in die Völkergemeinschaft wird nur
gelingen, wenn die internationale Gemeinschaft dieses
geschundene Land und seine Bevölkerung weiterhin po-
litisch, wirtschaftlich und sozial unterstützt. Dieses Zei-
chen soll in Berlin deutlich werden. Diese Botschaft soll
von Berlin ausgehen.
Zur Berliner Konferenz laden die Regierungen Af-
ghanistans und Deutschlands gemeinsam ein. Ganz be-
sonders wichtig sind uns aber auch die Aktivitäten am
Rande der Konferenz: So wird auch diesmal wieder,
ähnlich wie bei den Petersberg-Konferenzen, eine Kon-
ferenz für die afghanische Zivilgesellschaft stattfinden.
Die Schaffung eines tragfähigen Friedens und der Wie-
deraufbau der Gesellschaft sind Themen, die ohne
Mitwirkung von Nichtregierungsorganisationen bzw. an-
deren zivilgesellschaftlichem Engagement nicht ver-
wirklicht werden können. Insofern bin ich „Swiss
Peace“ und der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Vorbe-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9075
(A) (C)
(B) (D)
reitung und Durchführung dieser Veranstaltung zu Be-
ginn der kommenden Woche sehr dankbar.
Die Investorenkonferenz am 30. März, ausgerichtet
von BDI und Weltbank, wird ein Großereignis mit
150 deutschen und internationalen Teilnehmern werden.
Die angekündigte Teilnahme Präsident Karzais unter-
streicht die Bedeutung dieses Treffens. Wichtige Im-
pulse versprechen wir uns auch von den Seitenveranstal-
tungen, die das UNDP, die Arbeitsgruppe „Sicherheit in
Afghanistan“ der G8, der Afghanistan Reconstruction
Trust Fund oder die NRO „International Center for Tran-
sitional Justice“ ausrichten.
Die Achtung und der Respekt der Menschenrechte
sind unabdingbar für Wiederaufbau und nachhaltige Ent-
wicklung in Afghanistan. Die neue afghanische Verfas-
sung hat dafür – bei aller inhaltlicher Kritik an Punkten
wie beispielsweise der Definition als „islamische Repu-
blik“ – die richtigen Weichen gestellt. Die Gleichberech-
tigung von Frau und Mann hat durch sie eine rechtliche
Grundlage bekommen. Doch wir alle wissen: Nach wie
vor herrschen Straflosigkeit, Diskriminierung und
Gewalt in weiten Teilen des Landes. Es geht jetzt um die
Umsetzung der Verfassungsnormen in die gelebte Wirk-
lichkeit. Es gibt Signale, die hoffnungsfroh stimmen: Bei
Beginn des Schuljahres zum afghanischen Neujahr am
vergangenen Sonntag wurden 4,2 Millionen Schulkinder
registriert, was circa 70 Prozent der Kinder im schul-
pflichtigen Alter entspricht. Darunter sind 1,2 Millionen
Mädchen. Dies sind Zahlen, die Afghanistan bislang
nicht gekannt hat.
Die andere Seite sieht weniger gut aus. Die prekäre
Sicherheitslage ist offensichtlich. Die Unruhen in Herat,
der Tod des Sohns von Ismael Khan, des Luftfahrtminis-
ters Mir Wais Sadiq am vergangenen Sonntag haben dies
wieder einmal dramatisch vor Augen geführt. Gewalttä-
tige Machtkämpfe im Norden und Westen des Landes
und islamistischer Terror und dessen Bekämpfung im
Süden und Osten Afghanistans rauben dem Land die bit-
ter notwendige Stabilität, Stabilität, die auch Vorausset-
zung zum Abhalten von fairen und freien Wahlen ist.
Wir hoffen, dass die Wahlen des Präsidenten und des
Parlamentes noch in diesem Jahr stattfinden können. Die
Registrierung der Wähler macht gute Fortschritte.
Das Engagement der Völkergemeinschaft drückt sich
auch im fortgesetzten Einsatz von ISAF, jetzt unter Füh-
rung der NATO, und der Schaffung der so genannten
Provincial Reconstruction Teams aus, darunter das unter
deutscher Leitung stehende PRT in Kunduz. Morgen
wird der UN-Sicherheitsrat über eine Verlängerung des
UNAMA-Mandats beraten, die wir nachdrücklich unter-
stützen.
Afghanistan wird uns noch lange begleiten. Der Auf-
bau einer starken Zentralgewalt wird nicht über Nacht zu
schaffen sein. Der Respekt vor den Menschenrechten,
die Achtung der Gleichberechtigung von Mann und Frau
sind rechtliche, aber auch erzieherische Maßnahmen, die
Zeit beanspruchen. Deutschland, Europa, die NATO und
die Vereinten Nationen stehen im Wort, Afghanistan
über diese Zeit zu begleiten. Die Abhaltung von Wahlen
werden der nächste Markstein einer langen und – leider
vermutlich – langsamen Entwicklung sein. Rückschläge,
vor allem, wenn die gewaltige Aufgabe des Kampfes ge-
gen den Mohnanbau mit der ihr zukommenden Ernsthaf-
tigkeit angegangen wird, werden unabdinglich sein. Sie
dürfen uns und vor allem das afghanische Volk nicht ent-
mutigen.
Harald Leibrecht (FDP): Der Wiederaufbau und die
Stabilisierung Afghanistans sind trotz mancher Fort-
schritte auch nach zweieinhalb Jahren alles andere als in
trockenen Tüchern – leider.
Die Afghanen selbst, Präsident Karsai, seine Regie-
rung und die engagierten, mutigen Mitglieder der Loya
Jirga haben beeindruckende Anstrengungen unternom-
men, um in dem leidgeprüften Land den friedlichen
Neuanfang zu schaffen. Aber die Wunden der Vergan-
genheit sind tief, die Strukturprobleme enorm, die ver-
feindeten, auf ihre Eigeninteressen bedachten Warlords
sind zu mächtig, die Wirtschaft des Landes ist noch viel
zu sehr vom Drogenanbau abhängig. Deshalb wird die
internationale Staatengemeinschaft noch lange Zeit in
der Verantwortung bleiben und den Afghanen weiter Un-
terstützung bei ihrem Neuanfang geben müssen.
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt daher, dass in
der kommenden Woche hier in Berlin eine weitere inter-
nationale Afghanistan-Konferenz stattfindet, bei der im
Zusammenwirken zwischen den Afghanen und ihren in-
ternationalen Partnern weiter an der Zukunftsgestaltung
des Landes gearbeitet werden soll. Wir haben schon im
Herbst letzten Jahres eine neue Afghanistan-Konferenz
gefordert. Das wurde damals von Außenminister Fischer
abgelehnt mit der Bemerkung, man müsse erst die Er-
gebnisse der letzten Petersberger Konferenz umsetzen
und die Wahlen in Afghanistan durchführen. Jetzt hat
Herr Fischer offensichtlich eingesehen, dass der Wieder-
aufbauprozess in Afghanistan einen neuen internationa-
len Anschub und vor allem eine bessere Koordinierung
benötigt.
Die Abstimmung von Sicherheits- und Entwicklungs-
maßnahmen läuft bislang alles andere als rund. Die Ver-
wendung internationaler Hilfsgelder muss viel besser
koordiniert und wesentlich effizienter werden.
Bei der für den Neuanfang Afghanistans ganz zentra-
len Bekämpfung des Drogenanbaus fehlt es bislang an
wirkungsvollen Konzepten. Frau Wieczorek-Zeul hat
angekündigt, dieses Thema auf der Konferenz bis hin
zur Zerstörung von Opiumanbauflächen „massiv“ ange-
hen zu wollen. Wir sind wirklich gespannt, wie die Bun-
desregierung das gerade in der wichtigen Anbauregion
Kunduz tun will.
Vor allem aber muss die Bundesregierung endlich al-
les daransetzen, ihr mit der Kunduz-Mission gestartetes
Konzept für „Stabilitätsinseln“ jetzt wirklich in die Tat
umzusetzen. Von den in Aussicht gestellten weiteren In-
seln in anderen Landesteilen – deren Aufgabe es ja auch
sein soll, die Wahlen mit vorzubereiten – ist bislang weit
und breit nichts zu sehen. Doch von unseren Bundes-
wehrsoldaten und den zivilen deutschen Helfern in Kun-
duz allein wird Afghanistan ganz sicher nicht stabilisiert
9076 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
werden. Da bedarf es ganz anderer internationaler An-
strengungen.
Präsident Karsai hat heute angekündigt, dass die für
Juni geplanten Wahlen auf September verschoben wer-
den. Das ist angesichts der Tatsache, dass bisher nur
10 Prozent der Wähler registriert sind, sicher sinnvoll.
Die Berliner Afghanistan-Konferenz muss ein Erfolg
werden. Die rot-grüne Bundesregierung hat in ihren Be-
mühungen, einen effektiven deutschen Beitrag zur welt-
weiten Krisenbewältigung zu leisten, stark – manche
meinen: zu stark – auf die Afghanistan-Karte gesetzt.
Deswegen steht jetzt nicht nur die Zukunft Afghanistans,
sondern auch ein gutes Stück Glaubwürdigkeit der deut-
schen Außenpolitik auf dem Spiel.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Initiative des Euro-
päischen Parlaments, des Europäischen Rates
und der UNO zur Förderung des Sports nach-
haltig unterstützen (Tagesordnungspunkt 15)
Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Heute ist ein beson-
derer Tag in der Historie des Sports: Heute, am
25. März, wird das Olympische Feuer für die Sommer-
spiele in Athen entfacht und damit der größte Staffellauf
der olympischen Geschichte gestartet. Genau vor
108 Jahren, am 25. März 1896, begannen die ersten
Spiele der Neuzeit in der griechischen Hauptstadt. Mit
dem Motto des Fackellaufs – „Gebt die Flamme weiter –
vereinigt die Welt“ – werden wir auf den sportlichen Hö-
hepunkt im August dieses Jahres in Athen eingestimmt.
Das Jahr 2004 ist in jeder Hinsicht ein Sportjahr: Die
Olympischen Sommerspiele, die Paralympics und natür-
lich die Fußballeuropameisterschaft in Portugal sind die
herausragenden Ereignisse. Weitere Weltcups und Meis-
terschaften versprechen spannende Wettkämpfe. Bereits
stattgefunden haben die Handball-EM in Slowenien und
die Biathlon-WM in Oberhof. In diesen Tagen werden
Medaillen vergeben bei der Eiskunstlauf-WM in Dort-
mund. Die Eishockey-WM in Tschechien folgt ebenso
wie viele andere Championate. Diese große Zahl von
Wettkämpfen zeigt: Der Sport steht nicht am Rande, son-
dern er ist für die Aktiven wie für die Helfer, für mehrere
Milliarden Zuschauende und Fans rund um den Globus
die schönste Nebensache der Welt.
Die internationale Politik unterstützt den Sport mit
zwei Prädikaten: mit dem Europäischen Jahr der Erzie-
hung durch Sport 2004 und dem UNO-Jahr des Sports
2005. Die Zielrichtung beider Mottos ist ähnlich: Der
Sport soll auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft ge-
fördert und seine positive Wirkung in ihr verankert wer-
den.
Es ist schön und gut, dass die FDP mit ihrem Antrag
noch einmal ausdrücklich die Unterstützung dieser Initi-
ativen fordert. Die Liberalen haben allerdings noch nicht
mitbekommen, wie sportlich die rot-grüne Bundesregie-
rung ist und dass sich ihre Vorstellungen im Regierungs-
handeln bereits heute wiederfinden. Wenn die nachhal-
tige Unterstützung gewünscht wird – nachhaltig muss ja
gegenwärtig alles sein –, so kann man nicht genug beto-
nen: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, der
Sport ist an sich und für uns nachhaltig. Im Sport lässt
sich vieles lernen, was man auch im übrigen Leben gut
gebrauchen kann. Gerade deshalb setzen wir, die Sozial-
demokraten, uns so intensiv für den Sport ein. Ich will
Einiges näher erläutern:
Vor gut einem Jahr, am 6. Februar 2003, haben das
Europäische Parlament und der Europäische Rat einen
gemeinsamen Beschluss gefasst: Die breite Öffentlich-
keit soll auf die Bedeutung des Sports in der Erziehung
aufmerksam gemacht werden. Damit war das „Europäi-
sche Jahr der Erziehung durch Sport 2004“ geboren.
Heute, wo die große EU-Erweiterung um zehn weitere
Länder ansteht, wird ein alle Mitgliedstaaten verbinden-
des Element in den Vordergrund gestellt. Es ist eine
großartige Sache, dass die Europäer ihre gemeinsamen
Werte wie Toleranz, Fairplay, Teamgeist, Solidarität und
Respekt vor die anderen, die insbesondere den Sport
kennzeichnen, stellen und sie fördern. Dies gewinnt ge-
rade vor dem Hintergrund der vielen schon genannten
sportlichen Großereignisse, die zusätzlich 2004 auf eu-
ropäischem Boden stattfinden, an Bedeutung.
Der Sport spielt für viele Menschen in Europa eine
große Rolle. Dennoch wurde dieses Thema in den Ver-
trägen der EU nicht behandelt. Nach langen Bemühun-
gen insbesondere unserer Bundesregierung, die bereits
1999 während der deutschen Ratspräsidentschaft ange-
regt hatte, die Belange des Sports bei der Fortentwick-
lung des EU-Vertragsrechts stärker zu berücksichtigen,
ist es nun gelungen, Europa und Sport zusammenzubrin-
gen. Im Entwurf der EU-Verfassung heißt es in Teil III,
Kapitel V, Abschnitt 4: „Die Tätigkeit der Union hat fol-
gende Ziele: Entwicklung der europäischen Dimension
des Sports durch Förderung der Fairness bei Wettkämp-
fen und der Zusammenarbeit zwischen Sportorganisatio-
nen sowie durch den Schutz der körperlichen und seeli-
schen Unversehrtheit der Sportler, insbesondere junger
Sportler“. Die Regierungsfraktionen werden sich darü-
ber hinaus für die zusätzliche Aufnahme des Schutzes
der Autonomie des Sports und seiner ehrenamtlichen
Struktur einsetzen.
Europa lebt von Bürgernähe und muss für die Men-
schen erlebbar sein. „In der Gewissheit, dass Europa, in
Vielfalt geeint, ihnen die besten Möglichkeiten bietet,
unter Wahrung der Rechte des Einzelnen und im Be-
wusstsein ihrer Verantwortung gegenüber den künftigen
Generationen und der Erde dieses große Abenteuer fort-
zusetzen [...]“, so heißt es in der Präambel der Verfas-
sung. Der EU-Konvent hat deutlich gemacht, dass es auf
die Menschen und ihr Engagement ankommt. Wir brau-
chen zwar auch transparente Strukturen, die dafür sor-
gen, dass die Entscheidungen der EU demokratisch bes-
ser legitimiert und von allen besser verstanden werden,
aber ohne den Einsatz füreinander ist alles andere unbe-
deutend.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9077
(A) (C)
(B) (D)
Gerade der Sport lebt vom bürgerschaftlichen Enga-
gement. In den 15 EU-Mitgliedstaaten gibt es mehr als
700 000 Sportvereine. Von den circa 2 Millionen Leh-
rern, Trainern und Mitarbeitern sind die meisten auf eh-
renamtlicher Basis tätig. Ohne die große Einsatzbereit-
schaft in den Sportvereinen und Verbänden wären weder
Breiten- noch Spitzensport möglich. Auch die zahlrei-
chen Projekte im „Europäischen Jahr der Erziehung
durch Sport“ zeigen dieses vielfältige Engagement der
Zivilgesellschaft.
„Move your body – Stretch your mind“, auf deutsch
„Beweg Dich – für Deine Zukunft“ – dieser Leitspruch
des „Europäischen Jahres der Erziehung durch Sport“
bringt für 2004 in diesem Bereich der EU mit all seinen
Facetten in Form eines Wettbewerb auf höchstem Ni-
veau, aber auch als erzieherisches und soziales Instru-
ment einen frischen Impuls.
Es ist gut, dass man die aktuelle bildungspolitische
Debatte in Deutschland nicht führen kann, ohne den
Sport zu berücksichtigen. Gerade Ganztagsschulen er-
möglichen erfolgreiche Partnerschaften mit den Sport-
vereinen vor Ort. Die Befähigung zur aktiven Teilhabe
an Bildung und Arbeit liegt uns Sozialdemokraten be-
sonders am Herzen. Wir sehen im Sport auch ein Schlüs-
selelement zur Bekämpfung von Diskriminierung und
sozialer Ausgrenzung und zur Förderung der Chancen-
gleichheit der Geschlechter. Sport in jedem Lebensalter
schafft die Gelegenheit zu lebenslangem Lernen. Die
Mobilität, auch über unsere nationalen Grenzen hinweg,
lässt sich durch Austauschmaßnahmen und Projekte von
Sportverbänden und -vereinen steigern. Alle Generatio-
nen werden profitieren; das Verständnis füreinander wird
gestärkt werden. Die sozialdemokratische Bildungsmi-
nisterin Edelgard Bufmahn hat zu Recht bei der Eröff-
nungsfeier des Europäischen Jahrs der Erziehung durch
Sport den französischen Philosophen und Pädagogen
Rousseau zitiert:
„Das große Geheimnis der Erziehung besteht darin,
dass die Übungen des Geistes und des Körpers ein-
ander wechselseitig entspannen.“
Nicht umsonst haben wir dieses Europäische Jahr ge-
rade in Leipzig eröffnet. Die rot-grüne Bundesregierung
macht damit ihre tatkräftige Unterstützung der Olympia-
bewerbung deutlich. „Beweg Dich – für Deine Zukunft“,
könnte man auch als Motto für die Arbeit der Regie-
rungskoalition bezeichnen. Wir setzen uns für die not-
wendige Erneuerung unseres Landes ein und schaffen
die Grundlage dafür, dass Wohlstand und soziale Ge-
rechtigkeit erhalten bleiben. Werte und Ziele für unser
Land – der Sport macht's vor.
„Sport tut Deutschland gut“ – die Kampagne des
Deutschen Sportbundes weist auf die gesellschaftspoliti-
sche Orientierung, die der Sport gibt, hin. Bundeskanzler
Gerhard Schröder und seine Regierung haben dies von
Anfang an sowohl in ideeller als auch finanzieller Hin-
sicht gefördert. Das Berliner Manifest des deutschen
Sports macht deutlich, dass der Sport Menschen zusam-
menführt, in Bildung, Freizeit und Arbeit hineinwirkt
und nicht zuletzt ein wichtiger Faktor der Gesundheits-
förderung ist.
Auch der Gesundheitssport bleibt auf der Tagesord-
nung des Deutschen Bundestages. Wir Sportpolitiker
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen wollen die De-
batte um ein Präventionsgesetz weiter voranbringen. Die
Erarbeitung eines solchen Gesetzes haben wir in der Ge-
sundheitsreform bereits festgeschrieben. Mit der geplan-
ten öffentlichen Anhörung am 28. April wollen wir dazu
neue Anstöße erfahren und geben.
Den gesunden Sport will auch das von der UNO-Ge-
neralversammlung am 3. November 2003 ausgerufene
„International Year of Sport and Physical Education
2005“ fördern. Adolf Ogi, der Sport-Sonderbeauftragte
der UNO, hat die Sportresolution maßgeblich initiiert.
Darin wird überzeugend dargestellt, dass der Sport zur
Entwicklung und zur Friedensförderung und damit zu ei-
ner besseren Welt beitragen kann. Dort heißt es, Sport
sei eine wichtige Nahrung für das Gemüt. Allerdings
warnt die Resolution auch vor den negativen Aspekten
des Sports wie Doping.
Mit dem UNO-Jahr des Sports wurde zugleich eine
zweite Sportresolution von Griechenland auf den Weg
gebracht. Der Gastgeber der Olympischen Spiele fordert,
während der sportlichen Wettkämpfe solle weltweit kein
Krieg geführt werden. Der Aufruf zur internationalen
Waffenruhe ist nicht neu: Schon in der Antike wurde Zu-
schauern und Athleten die unversehrte Anreise zugesi-
chert und der Waffengang gegen die Ausrichter der
Spiele verboten. In unserer Zeit wurde daraus das Be-
streben abgeleitet, weltweit die Waffen schweigen zu
lassen.
Leider hat sich dieser Frieden stiftende Gedanke nicht
immer durchgesetzt. Es sei nur an das schreckliche At-
tentat in München 1972 und an das in Sarajewo 1984, als
eine Mörsergranate viele Menschen auf dem Marktplatz
tötete, erinnert. Auch während der Winterspiele 2002 in
Salt Lake City ließ sich Präsident Bush nicht dazu bewe-
gen, das Bombardement Afghanistans auszusetzen.
Wenn im August unsere Sportler um Medaillen ringen,
können sie dies in einer – hoffentlich – friedlichen Um-
gebung tun. Hätte Gerhard Schröder nicht vor einem
Jahr mit einem vehementen Nein zum Irakkrieg reagiert,
wäre das Thema der Aussetzung der Kampfhandlungen
während der Spiele auch für uns Deutsche virulent, denn
CDU und CSU wollten bekanntermaßen deutsche Solda-
ten an Euphrat und Tigris entsenden.
Das olympische Feuer, das heute für Athen in „good
old Europe“ entzündet wurde, wird erstmals auch nach
Afrika und Südamerika getragen und alle bewohnten
Kontinente besuchen. Die weltumspannende Kraft des
Sports und die Einsicht, dass er, so Ogi, „die wirkungs-
vollste und billigste Waffe im Kampf um eine bessere
Welt ist“, hilft, große Teile der Gesellschaft dafür zu sen-
sibilisieren, dass die globalen Probleme uns alle ange-
hen.
In Beethovens „Ode an die Freude“. – Sie ist heute
die Hymne der EU – heißt es: „Alle Menschen werden
Brüder, wo Dein sanfter Flügel weilt.“ Hier schließt sich
der Kreis. Deshalb sei noch einmal an das Motto des
olympischen Fackellaufs erinnert: „Gebt die Flamme
weiter – vereinigt die Welt“.
9078 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
Peter Letzgus (CDU/CSU): Fast jeder dritte Ein-
wohner unseres Landes ist Mitglied einer der fast 90 000
Sportvereine. Dies stellt einen Organisationsgrad dar; für
den unser Land weltweit bewundert wird. Dennoch ist
die öffentliche Aufmerksamkeit durch mediale Inszenie-
rung auf eine kleine Auswahl von Sportarten, Spitzen-
leistungen und Spitzensportler beschränkt. Die wahre
Bedeutung unserer Sportvereine, ihr gesellschaftlicher
Beitrag für unser Gemeinwesen, erfährt zu wenig Auf-
merksamkeit.
Die Initiative „Europäisches Jahr der Erziehung durch
Sport 2004“ will die Aufmerksamkeit auf die Arbeit der
Vereine lenken. Sie will die gesellschaftliche Bedeutung
des Sports herausheben und dessen soziale Kompetenz
stärken, die Voraussetzung für den Zusammenhalt einer
Gemeinschaft ist.
Solidarität, Fairplay, Teamwork und Toleranz werden
im Sport praktiziert; sie sind Grundelemente des Sports.
Mein Kollege Riegert hat schon angedeutet: Erziehung
und erzieherische Werte sind im Sport selbst angelegt
und werden im Sport und durch Sport in der Regel spie-
lerisch erlernt und erfahren. Erziehung im Sport erfährt
durch Sport selbst seine Begründung; und zwar ohne er-
hobenen Zeigefinger. Sport erzieht mehr als andere Me-
dien zur sozialen Kompetenz, weil sich Sport in der Re-
gel in der Gemeinschaft abspielt.
Ich stelle dies anhand einiger Beispiele heraus: Wenn
wir heute eine zunehmende Gewaltbereitschaft von Kin-
dern und Jugendlichen in ganz Europa erkennen, dann
ist dies ein verheerendes Zeichen. Kinder und Jugendli-
che akzeptieren oft gesellschaftliche Vereinbarungen
nicht, sie rebellieren, sie randalieren, egal was die Ursa-
chen und Umstände sein mögen.
Fest steht – dies belegen Studien –: Kinder und Ju-
gendliche aus Sportvereinen neigen weitaus weniger zur
Gewaltbereitschaft. Sie haben frühzeitig in der Gemein-
schaft erlebt und erfahren, Regeln anzuerkennen und zu
respektieren, sich in demokratische Verhaltensweisen zu
üben, sich in ein Mannschaftsgefüge einzuordnen, Leis-
tung zu erbringen und Anerkennung zu erfahren. Sie ha-
ben gelernt, zu gewinnen und zu verlieren, Verantwor-
tung – für sich und für andere – zu übernehmen.
Leistung gibt Selbstvertrauen, fördert die Persönlich-
keitsentwicklung und erzieht zu Toleranz und Fairplay.
Diese soziale Kompetenz schränkt die Gewaltbereit-
schaft ein. Der Sport nimmt damit in herausragender
Weise eine Aufgabe wahr, die wenig Beachtung findet.
Sportvereine haben eine hohe Integrationskraft. Vier
von fünf Heranwachsenden sind im Verlauf ihrer Kind-
heit und Jugend Mitglied in einem Sportverein. Während
die Integrationskraft anderer Institutionen stagniert und
rückläufig ist, nimmt sie im Sport weiter zu.
Unsere Vereine leisten eine hervorragende Arbeit bei
der Zusammenführung unterschiedlicher Gruppen. Die
Integration ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger
vollzieht sich im Sport nahezu reibungslos. Wir haben
uns im Sport praktisch daran gewöhnt, dass viele unserer
Leistungsträger ausländische Mitbürgerinnen und Mit-
bürger sind. Aber auch in der täglichen Vereinsarbeit der
Sportvereine fallen ausländische Mitbürgerinnen und
Mitbürger nicht auf. Durch Sport, über Leistung, erfah-
ren sie Anerkennung, im Miteinander tauscht man Ge-
wohnheiten, Sitten und Gebräuche aus und lernt, damit
wie selbstverständlich umzugehen. Sport kennt keine
Sprachbarrieren: Er ist international und grenzüber-
schreitend. An dieser Stelle darf an die hervorragende
Rolle des Sports bei der Wiedervereinigung beider deut-
scher Staaten erinnert werden: Es waren Sportler aus Ost
und West, die als Erste aufeinander zugingen und so mit
ihrer unkomplizierten, offenen Art mithalfen, Barrieren
auf beiden Seiten abzubauen.
Unsere Gesellschaft wird älter. Immer mehr ältere
Menschen treten Sportvereinen bei, um sich fit zu halten,
aber auch um Anschluss zu halten, Kommunikation zu
finden, auch und gerade mit jüngeren Menschen. Es ist
eine ganz wichtige Funktion, die der Sport hier leistet;
sie wird – da brauchen wir uns nur die demographische
Entwicklung in unserem Land anzusehen – immer mehr
Bedeutung bekommen.
Wir kümmern uns um die Integration behinderter
Menschen. Behinderte Menschen wollen nicht bemitlei-
det, sie wollen wie jeder Nichtbehinderte behandelt wer-
den. Im Sportverein gehört der Umgang mit behinderten
Menschen zur Selbstverständlichkeit. Wer sieht, mit
welch eisernem Willen, mit welcher Begeisterung sie
ihre Behinderung angehen und überwinden, durch Sport
Lebensmut schöpfen, der wird ihnen die Anerkennung
nicht verweigern können, auch nicht außerhalb des
Sports. Immer mehr Behinderte nehmen heute am akti-
ven Leben unserer Vereine teil und lernen durch Sport,
ihre Behinderung zu überwinden.
Unseren Sportvereinen erwachsen mit der Gesund-
heitsfürsorge nicht nur neue Aufgaben, sondern auch
eine höhere gesellschaftliche Verantwortung. Die Bewe-
gungsarmut, gerade bei Kindern und Jugendlichen,
nimmt zu. Die Ergebnisse von Studien sind erschreckend
und alarmierend: In den letzten fünf Jahren hat sich die
Zahl fettleibiger Kinder verdoppelt; chronische Erkran-
kungen als Folge von Bewegungsarmut stellen unser
Gesundheitssystem vor schier unlösbare Herausforde-
rungen. Prävention durch Sport erhält angesichts zuneh-
mender Bewegungsarmut einen vor Jahren nicht auszu-
denkenden Stellenwert. Auch hier bietet der Sport
hervorragende Programme zur bewussten Gesundheits-
erziehung an. Je früher damit begonnen wird, desto bes-
ser. Ziel muss ein lebenslanges Sporttreiben sein.
Wenn es uns nicht gelingt, die heranwachsenden Ge-
nerationen auch durch Sport gesünder und fitter zu ma-
chen, werden wir uns noch wundern, in welche Höhen
die Kosten für unser Gesundheitswesen steigen werden.
Daher muss die Politik sich fragen, wie sie in den ver-
gangenen Jahren und Jahrzehnten durch Gesetzgebung
Sport gefördert hat, welche Rahmenbedingungen sie ge-
schaffen hat, damit Sport für alle in ausreichendem Um-
fange stattfinden kann. Denn es steht fest: Ohne mo-
derne Sportstätten, ohne gut ausgebildete Übungsleiter
und ohne Anpassung der Vereinsförderung kann der
Sport seine Aufgaben in Zukunft nicht erfüllen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9079
(A) (C)
(B) (D)
Die wenigen Beispiele zeigen, welchen erzieheri-
schen Wert der Sport hat. Obwohl die gesellschaftliche
Bedeutung des Sportes für unser Gemeinwesen seit Jah-
ren herausgestellt wird, hat Sport immer noch nicht den
Stellenwert, den er aufgrund seiner sozialen Kompetenz
haben sollte. Viele sehen im Sport zu sehr die nach au-
ßen erkennbare körperliche Leistung und zu wenig die
Impulse, die durch diese Leistungen in die Gesellschaft
hineinstrahlen und die Voraussetzungen, die für eine sol-
che Leistung erforderlich sind: Selbstdisziplin, eiserner
Wille, zielstrebiges Umsetzen eines Vorhabens, Team-
geist, Fairplay und Toleranz. Die soziale Kompetenz ist
bei Sporttreibenden wesentlich höher ausgeprägt als bei
Nichtsportlern. Deshalb ist diese europäische Initiative
wichtig; deshalb verdient sie Unterstützung.
Das Europäische Parlament und der Europäische Rat
sollten endlich die uneingeschränkte Gemeinnützigkeit
des Sportes anerkennen. Sport ist nicht unter kommer-
ziellen Gesichtspunkten zu betrachten. Es reicht nicht,
Lippenbekenntnisse zu formulieren und mit hohem Mit-
telaufwand Initiativen zu starten. Die jetzige Initiative
mag einen zeitlich begrenzten Impuls auslösen. Wir
brauchen aber eine eindeutige, langfristige Festlegung,
die die Vereine und den Sport in ihrer gesellschaftlichen
Bedeutung stärken. Es geht um eine stärkere Anerken-
nung und Besserstellung des ehrenamtlichen Engage-
ments. Es geht um das Prinzip der Subsidiarität. Dem
Sport sind die Mittel zu geben, die er von sich aus nicht
erbringen kann. Es geht um die Anerkennung der Bedeu-
tung des Sports für unser Gemeinwesen.
Das Jahr 2005 soll von der UNO zum Internationalen
Jahr des Sports erklärt werden. Die besondere Bedeu-
tung des Sports für Dialog, Kommunikation, Völkerver-
ständigung und Erziehung soll herausgestellt werden.
Das Ausrufen eines Jahres der Erziehung und eines Jah-
res des Sports machen allerdings nur dann Sinn, wenn
Taten folgen. Lassen Sie es uns darum gemeinsam anpa-
cken.
Klaus Riegert (CDU/CSU): Die gesellschaftliche
Bedeutung des Sports umfassend europaweit herauszu-
stellen soll ein wesentliches Anliegen der Initiative „Eu-
ropäisches Jahr der Erziehung durch Sport 2004“ durch
das Europäische Parlament sein. Ziel dieser Initiative
soll sein, eine breite Öffentlichkeit auf die Bedeutung
des Sports in der Erziehung aufmerksam zu machen so-
wie nachhaltige Kooperationen zwischen Bildungs- und
Sporteinrichtungen zu fördern. Eine solche Initiative
räumt dem Sport ohne Zweifel eine herausragende Stel-
lung in unserem gesellschaftlichen Wertesystem ein;
eine Stellung, die ihm de facto nicht immer zugeteilt
worden ist.
In 28 europäischen Ländern sollen Projekte, welche
die erzieherischen Werte des Sports aufgreifen, gefördert
werden. Sport ist ohne Zweifel europaweit die größte
Bürgerbewegung. Sport ist ein geeignetes Medium, die
weiter reichenden Erziehungsprozesse, die durch den
Sport ausgelöst werden, hervorzuheben. Inwieweit da-
durch mehr Verständnis für die im Sport vorhandenen
Erziehungswerte erreicht wird, bleibt abzuwarten.
Sport ist mehr als körperliche Ertüchtigung, objektiv
messbare Leistung, Fitness, Wettkampf und medienge-
rechte Inszenierung. Sport fördert solidarisches, faires
Verhalten, die Anerkennung von Regeln und Entschei-
dungen, Leistung, Toleranz, Hilfsbereitschaft, Akzep-
tanz von Verlieren, das Sich-Einordnen. Sport trägt da-
mit entscheidend zu einer Persönlichkeitsstruktur junger
Menschen bei und vermittelt – und dies ist die herausra-
gende Bedeutung des Sports – alle wesentlichen Regeln
des gesellschaftlichen Miteinanders.
Diese Werte liegen dem Sport zugrunde; sie sind im
Sport selbst angelegt. Bewusst wahrgenommen werden
diese Erziehungswerte des Sportes allerdings kaum.
Deshalb ist es wichtig, sie herauszustellen, damit deut-
lich wird, warum wir mehr Sport brauchen. Je frühzeiti-
ger junge Menschen über den Sport Erziehungswerte
spielerisch erlernen und erfahren, desto gefestigter wer-
den sie für das ganze Leben. Mein Kollege Letzgus wird
darauf näher eingehen.
Bei aller positiven Bewertung des Anliegens erlauben
Sie mir auch einige kritische Anmerkungen. Die erziehe-
rische Bedeutung, die dem Sport zugrunde liegt, ist bei-
leibe keine neue Erkenntnis. Mens sana in corpore in
sano hat früher jeder Schüler gelernt. Im antiken Grie-
chenland wusste man die Bedeutung der Erziehung
durch Sport zu schätzen und räumte dem Sport den ent-
sprechenden Stellenwert ein. Nur beherzigt worden ist
diese uralte Erkenntnis zu wenig, obwohl die erzieheri-
schen Werte des Sports unter Wissenschaftlern, Pädago-
gen, Psychologen und im Sport unumstritten sind. Von
einer ganzheitlichen Erziehung sind wir weit entfernt.
Ich weiß nicht, ob wir annähernd den Umsetzungsgrad
des alten Griechenlands erreichen.
In Deutschland scheint der ganzheitliche Bildungsan-
satz zumindest bei den Bildungspolitikern und den El-
tern noch nicht angekommen zu sein. Nach wie vor steht
Sport an vorderster Stelle der Streichliste, wenn Unter-
richt gekürzt werden soll. In einigen Ländern rührt der
Sport an berufsbildenden Schulen ein geradezu stiefmüt-
terliches Dasein. Seit Jahren führt der Deutsche Sport-
bund eine Kampagne für die Wiedereinführung der drit-
ten Sportstunde, die von einigen Ländern gestrichen
worden ist. Sportpolitiker, renommierte Wissenschaftler,
Ärzte und Krankenkassen fordern seit Jahren, den Stel-
lenwert des Schulsportes im Fächerkanon zu erhöhen.
Ohne großen Erfolg. Status quo wird heute als Erfolg ge-
priesen.
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass zwischen der
sportlichen Aktivität und der Leistungs- und Lernfähig-
keit ein direkter Zusammenhang besteht. Wir wissen,
dass der Lernprozess verkürzt, der Lernerfolg erhöht und
die Aufmerksamkeit bei motorisch gut ausgebildeten
Schülern besser ist. Und dennoch: In unserem Bildungs-
wesen führt der Sport nach wie vor ein Schattendasein.
In unseren Kinderhorten gibt es zu wenig Bewe-
gungsräume für sportliche Aktivitäten. Bei der Ausbil-
dung der Erzieher und Betreuer spielt der Sport nur eine
unwesentliche Rolle. Wenn Erziehung durch Sport spie-
lerisch geht, warum fangen wir nicht bei den Kleinsten
an? Andere europäische Länder sind uns hier weit
9080 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
voraus. Kinder und Jugendliche finden immer weniger
Möglichkeiten, durch Bewegung und Sport motorische
Fähigkeiten, Selbstvertrauen und Selbständigkeit als
Grundlagen zur Entwicklung einer eigenen Persönlich-
keit zu entfalten. Die Bewegungsräume für Spiel und
Freizeit werden immer mehr eingeschränkt.
Die Kürzung der Sportförderung gehört heute zu den
bevorzugten Einsparpotenzialen der Politik in Kommu-
nen, Ländern und im Bund. Angesichts der Olympischen
Spiele in Athen, der Olympiabewerbung Leipzig und der
Fußballweltmeisterschaft 2006 gibt es in einigen Politik-
feldern eine gewisse Zurückhaltung. Vielerorts wird aber
schon angekündigt, dass der Sport mit weniger Mitteln
auskommen muss. Der Sportstättenbau wird zurückge-
fahren, von Vereinen werden Benutzungsentgelte für
Sportstätten eingefordert, den Vereinen wird eine stär-
kere steuerliche Entlastung verweigert. Dies sind keine
ermutigenden Voraussetzungen, den Stellenwert des
Sportes zu verbessern. Dies alles sind Signale, die dem
Aufbruch für mehr Sport und höheren Stellenwert des
Sports entgegenstehen. Konsequenzen sind bisher nicht
in dem erforderlichen Umfang gezogen worden.
Erst langsam beginnt man auf europäischer Ebene
den Stellenwert des Sportes zu würdigen. Die europäi-
schen Regierungen tun sich schwer, Sport mit einem ei-
genen Artikel im europäischen Vertrag aufzunehmen
und dessen Gemeinnützigkeit verbindlich festzulegen.
Dies ist wichtig, wenn der Sport seine umfassenden Auf-
gaben zukünftig wahrnehmen soll. Sport ist mehr als Be-
rufssport und die Freizügigkeit von Transfers. Es wäre
zu begrüßen, wenn diese europäische Initiative zu mehr
Beachtung des Sports durch die Europäische Kommis-
sion und das Europäische Parlament führen würde.
Ich halte in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse
der europäischen Kommissarin für Bildung und Kultur,
Viviane Reding, für lobenswert und hilfreich, dass der
Sport trotz seiner sozialen und wirtschaftlichen Bedeu-
tung bisher nicht im Vordergrund der Bemühungen auf
europäischer Ebene gestanden habe. Die soziale Dimen-
sion wurde vernachlässigt. Dies soll sich auf europäi-
scher Ebene ändern. Die Initiative soll dazu der Anfang
sein. So weit, so gut. Wir erwarten Ergebnisse, Verbesse-
rungen; wir brauchen keinen Aktionismus und Populis-
mus.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wünscht der Ini-
tiative der Sache wegen Erfolg. Wir brauchen in einer
Zeit der sozialen Spannungen und Veränderungen Ge-
meinsinn, Solidarität und Fair Play. Diese Grundwerte
werden im Sport gelegt.
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wenn man den Sportteil der Tageszeitungen aufschlägt,
kann man das Thema „Sport und Europa“ in vielen
Schlagzeilen erleben. Mal sieht EU-Wettbewerbskom-
missar Mario Monti italienische Gesetze für den Pro-
fisport als wettbewerbsverzerrend an. Dann stellt sich
heraus, dass europaweit bekannte Fußballvereine hoch
verschuldet sind. Wir haben längst die europäische Di-
mension des Sports kennen gelernt als Form eines span-
nungsreichen Wettbewerbs zwischen Sportlern und zwi-
schen Vereinen. Im Vordergrund stehen Statistik und
Tabelle sowie die Superzeitlupe im Fernsehen. Cham-
pions League und Europameisterschaften bilden Eck-
daten für einen virtuellen und realen europäischen Sport-
kalender. Besonders dieser kommerzielle Teil des Sports
– insbesondere der Fußball – überdeckt jedoch die so-
ziale Dimension und die Bildungsaspekte des Sports.
Gerade diese Werte des Sports sind jedoch die unver-
zichtbare Basis für seine weitere Entwicklung. Und ge-
nau darin liegt die Kraft des Sports, die ihn zu einer tra-
genden sozialen Säule in unserer Gesellschaft macht.
Leider kommt in der – ebenfalls überwiegend kom-
merziellen – Sportberichterstattung oft zu kurz, dass die
EU einen wichtigen Beitrag für Sport und Bildung in
Europa leistet. Denn es werden im Jahr 2004 mehr als
200 Projekte finanziell gefördert, die sich für Bildung
und Erziehung durch Sport einsetzen. Die EU setzt in
erster Linie darauf, die bestehenden erzieherischen
Werte des Sports an die sportliche Basis und die Bil-
dungseinrichtungen zu vermitteln. Ich halte es für aus-
sichtsreich, über die Multiplikatoren im Bildungsbereich
einen – lassen Sie es mich so nennen – sich selbst tra-
genden Aufschwung anzustoßen. Ich hoffe, dass die Pro-
jekte dazu eine wichtige Initiative sind und langfristige
Wirkung entfalten. Die EU gibt dazu sozusagen den
Startschuss.
Mit dem diesjährigen Europäischen Jahr der Erzie-
hung durch Sport ist schon jetzt Dynamik in die Sport-
entwicklung gekommen. Lassen Sie mich stellvertretend
einige wenige Beispiele nennen. Erst vor wenigen Wo-
chen haben sich in Deutschland die Verantwortlichen des
Nationalen Beirats des Europäischen Jahres und die Ver-
treter des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engage-
ment auf gemeinsame Aktionen in der „Woche des bür-
gerschaftlichen Engagements“ im kommenden Oktober
verständigt. Ziel ist es, die ehrenamtliche Arbeit im
Sport in der Öffentlichkeit besser darzustellen.
lch möchte daran erinnern, dass das Bildungsministe-
rium im letzten Jahr über 1,6 Millionen Euro für Bil-
dungsprojekte im Sportbereich zur Verfügung gestellt
hat. Nach meinem Verständnis sollten wir unsere An-
strengungen im Jahr von Bildung und Forschung auch
stärker auf diesen Bereich ausrichten. Wir brauchen
mehr Kooperation zwischen Schule und Vereinssport.
Beide Seiten können diese Kooperation zur eigenen Pro-
filbildung nutzen. Besonders erfreulich finde ich, dass es
immer mehr Sportprojekte in Kindergärten gibt. Gerade
bei der kindlichen Entwicklung können körperliche Ak-
tivität und Bewegungserziehung eng miteinander ver-
bunden werden. Diese Sportprojekte zielen in zwei
Richtungen. Die Kinder können Bewegung und Sport als
Teil ihrer gegenwärtigen und späteren Sportaktivitäten
verstehen. Es geht aber auch um die Herausbildung von
individuellen Fähigkeiten im motorischen und sozialen
Bereich. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Mo-
dellprojekte dieser Art in unserem Land hätten.
Ebenso notwendig ist die Erstellung von Qualitätskri-
terien für spiel- und bewegungsfreundliche Kindergärten
sowie für den Neu- und Umbau von Schulen. Dazu müs-
sen auch Anleitungen für ökologisches Bauen und eine
bewegungsfreundliche Umfeldgestaltung zählen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9081
(A) (C)
(B) (D)
Anlässlich der Europawahl im Juni dieses Jahres hat
der Deutsche Sportbund (DSB) eine europapolitische
Entschließung verabschiedet. Damit wird auch ein wich-
tiger Schritt getan zu mehr Zusammenhalt in Europa.
Ich möchte besonders hervorheben, dass das Europäi-
sche Jahr der Erziehung durch Sport im gleichen Jahr
wie die Olympischen Sommerspiele in Athen stattfindet.
Wir befinden uns auch im Jahr der Osterweiterung der
Europäischen Union. Der Grundsatz der gewaltfreien
Spiele und der Völkerverständigung wird mit der Mög-
lichkeit der menschlichen Begegnung verbunden, Im
Jahr 2006 gibt es dann mit den Olympischen Winterspie-
len in Turin und mit der Fußball-WM in Deutschland die
nächsten großen Sportveranstaltungen in Europa mit
weltweiter Bedeutung. Wir fahren sozusagen auf einer
Brücke, auf der Sportgroßveranstaltungen die Brücken-
pfeiler bilden. Ich hoffe, dass wir dabei auch in Zukunft
unseren Weg auf den sozialen Bahnen des Sports fortset-
zen.
Zum Schluss noch einige Bemerkungen zum Antrag
der FDP. Es stehen darin viele allgemeine Aussagen, de-
nen man kaum widersprechen kann oder will. Es sind je-
doch auch Plattitüden dabei, die nicht weiter helfen.
Auch der Forderungsteil ist ziemlich allgemein. Gefor-
dert wird zum Teil, was längst geschieht, wie beispiels-
weise die Unterstützung der Kampagne „Sport tut
Deutschland gut“. Zudem kämen die Forderungen reich-
lich spät, wenn sie denn neu und umsetzungsfähig wä-
ren. Hätten die Bundesregierung und andere Akteure bis
heute darauf gewartet, die eigenen Beiträge zu planen,
dann kämen sie wohl erst im nächsten Jahr. Also, liebe
Sportsfreunde von der FDP, aus dem Versuch, einen par-
lamentarischen Startschuss zum Europäischen Jahr für
Erziehung durch Sport 2004 abzufeuern, ist doch eher
eine Knallerbse nach gelungenem Start geworden.
Detlef Parr (FDP): Die jüngsten Kampagnen des Eu-
ropäischen Parlaments, des Europäischen Rates und der
UNO zur Förderung des Sports zeigen, dass der Sport in-
ternational enorm an Relevanz gewonnen hat. Gerade im
Jahr der Olympischen Sommerspiele, die nach zwölf
Jahren endlich wieder in Europa stattfinden werden, be-
schließen die europäischen Gremien, den Sport noch
stärker in den Mittelpunkt zu stellen.
Erziehung durch Sport ist ein zentrales gesellschafts-
politisches Thema. Die Vermittlung von Werten durch
den Sport ist heute allgemein akzeptiert. Gesundes Le-
ben durch den Sport gehört dabei ganz weit nach vorne.
Gerade in diesem Bereich jedoch sind die Defizite leider,
nicht nur in Deutschland, stark.
Wir müssen feststellen, dass Bewegungsmangel und
die daraus resultierenden Folgen rasant zunehmen. Trotz
vieler sportorientierter Angebote in Schulen und Verei-
nen nehmen Phänomene wie Koordinations- und motori-
sche Leistungsschwäche sowie Übergewicht gerade im
Kinder- und Jugendalter deutlich zu. Sollte das von der
Bundesregierung zurzeit erarbeitete Präventionsgesetz
Wirklichkeit werden, müssen die Chancen der Erziehung
durch Sport unbedingt berücksichtigt werden.
Weder das Elternhaus noch die Schule bieten heute
den Kindern ausreichende Möglichkeiten, durch Bewe-
gung und Sport motorische Fähigkeiten, Selbstvertrauen
und Selbstständigkeit als eine Grundlage zur Entwick-
lung einer eigenen Persönlichkeit zu entfalten. Es be-
steht ein enger Zusammenhang zwischen sportlicher Ak-
tivität und Leistungs- und Lernfähigkeit – nicht nur in
der Schule. Das dürfen wir nicht vergessen!
Die klassischen Bewegungsräume wie Spiel-, Bolz-
und Sportplätze stehen leider seit langem nicht mehr in
dem nötigen Maße zur Verfügung. Der Zeitrahmen für
den Sportunterricht in den Schulen wurde in den letzten
Jahren eher reduziert als erweitert. Und bei Unterrichts-
ausfall ist häufig der Sport das Opfer. Die Konsequenzen
aus dieser Misere werden trotz der vielen Ergebnisse re-
präsentativer Untersuchungen nicht in ausreichendem
Maße gezogen.
Die Grundlagen für regelmäßige Bewegung und
sportliches Training werden in der Kindheit und im Ju-
gendalter gelegt, deswegen muss die Erziehung zum und
durch Sport im frühen Alter beginnen. Sie ist eine Auf-
gabe, die durch Familie, Kindergarten und Kindertages-
stätten, Schulen und Vereine gleichzeitig zu bewältigen
ist.
Das Europäische Jahr der Erziehung durch Sport
2004 hat zum Ziel, eine breite Öffentlichkeit auf die Be-
deutung des Sports in der Erziehung aufmerksam zu ma-
chen sowie nachhaltige Kooperationen zwischen Bil-
dungs- und Sporteinrichtungen zu fördern. Ich denke
dabei an solide Kooperationen zwischen Schulen und
Sporteinrichtungen bei der Ganztagesbetreuung, an die
Zukunft des Schulsports als Keimzelle unseres Leis-
tungssports sowie an die Integration benachteiligter Ju-
gendlicher durch eine Einbindung in Strukturen der nicht
formalen Bildung: Gewalt- und Drogenprävention kön-
nen ebenfalls durch sportliche Aktivität unterstützt wer-
den: Hierzu sollten auch die Krankenkassen die Kompe-
tenzen des Sports nutzen.
Im Rahmen des Europäischen Jahres der Erziehung
durch Sport werden europaweit 200 Projekte gefördert
Diese Projekte umfassen sowohl gemeinschaftliche
– mit mindestens acht teilnehmenden Ländern der EU –
als auch lokale Projekte. Ich hoffe, dass die Bundesre-
gierung die Chance dieser Programme nutzen wird, um
deutlich zu machen, welchen Wert der Sport für andere
Bereiche der Politik wie Erziehung, Soziales, Integration
und Jugendpolitik hat. Der Sport wirkt sich positiv auf
die Gesellschaft aus, darüber brauchen wir uns nicht zu
streiten. Schöne Worte in Sonntagsreden reichen aber
nicht aus. Auch seitens des Bundes müssen die erforder-
lichen materiellen und ideellen Rahmenbedingungen ge-
schaffen bzw. vor dem Hintergrund der schwierigen Fi-
nanzlage erhalten werden. Nicht am Sport, sondern
durch den Sport sparen ist die einzig akzeptable Devise.
Dabei spielt die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung eine wichtige Rolle, was Prävention und Ge-
sundheitsförderung durch Sport angeht. Die Bundesre-
gierung sollte die Kompetenzen bei den eigenen Aktivi-
täten noch stärker nutzen und die jeweiligen Ministerien
9082 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
in der Umsetzung und Unterstützung der Projekte ein-
binden.
Beispiele wie die Kampagne des Deutschen Sport-
bundes „Sport tut Deutschland gut“ sollen nicht ein iso-
liertes Beispiel der Motivation zu Sport und Bewegung
in unserer Gesellschaft bleiben.
Lassen Sie uns diese Chance nutzen, um mehr Men-
schen, die in unseren Land leben, zum Sport zu bewe-
gen! Lassen Sie uns die internationalen Kampagnen an-
gemessen unterstützen! Ich freue mich auf die
Beratungen im Ausschuss, bei denen ich auf die Einzel-
heiten eingehen kann.
Anlage 9
Amtliche Mitteilungen
Der Bundesrat hat in seiner 797. Sitzung am 12. März
2004 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu-
stimmen, einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2
Grundgesetz nicht zu stellen bzw. einen Einspruch ge-
mäß Artikel 77 Absatz 3 nicht einzulegen:
– Gesetz zur Änderung des Fleischhygienegesetzes,
des Geflügelfleischhygienegesetzes und des Le-
bensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes und
sonstiger Vorschriften
– … Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Sicher-
stellung einer Übergangsregelung für die Umsatz-
besteuerung von Alt-Sportanlagen
– Vierundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Ab-
geordnetengesetzes und Zwanzigstes Gesetz zur
Änderung des Europaabgeordnetengesetzes
– Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts (Kos-
tenrechtsmodernisierungsgesetz – KostRMoG)
– Gesetz zu dem Übereinkommen vom 28. Mai 1999
zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften
über die Beförderung im internationalen Luftver-
kehr (Montrealer Übereinkommen)
– Gesetz zur Harmonisierung des Haftungsrechts
im Luftverkehr
– Gesetz zu dem Europäischen Übereinkommen
vom 6. November 1997 über die Staatsangehörig-
keit
– Gesetz zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik Polen über die Ergänzung des Europäi-
schen Übereinkommens vom 20. April 1959 über
die Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichte-
rung seiner Anwendung
– Gesetz zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik Polen über die Ergänzung des Europäi-
schen Auslieferungsübereinkommens vom 13. De-
zember 1957 und die Erleichterung seiner An-
wendung
– Gesetz zu dem Seeverkehrsabkommen vom
10. Dezember 2002 zwischen der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einer-
seits und der Regierung der Volksrepublik China
andererseits
– Viertes Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches
Sozialgesetzbuch – Investitionszulagengesetz 2005
(InvZuIG 2005)
– Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG
vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten und zur
Änderung des Hypothekenbankgesetzes und an-
derer Gesetze
Ferner hat der Bundesrat die folgende Entschließung
gefasst:
Die nunmehr vorliegende Fassung des Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG („Finanzsicher-
heitenrichtlinie“) trägt den Bedenken des Bundesrates
(vgl. Beschluss vom 17. Oktober 2003; Bundesrats-
drucksache 563/03 [Beschluss]) teilweise Rechnung. So-
weit der Anwendungsbereich des Bankenprivilegs in der
Insolvenz gegenüber dem Regierungsentwurf deutlich
eingeschränkt worden ist, erscheint dies sachlich gebo-
ten (vgl. die Begründung zu Nummer 8 des genannten
Beschlusses). An seiner Auffassung, dass eine Beschrän-
kung der Richtlinienumsetzung auf den Interbankenver-
kehr vorzugswürdig wäre, hält der Bundesrat fest.
Bei den einschlägigen Beratungen im Deutschen Bun-
destag sind die gravierenden Mängel der Finanzsicher-
heitenrichtlinie deutlich zu Tage getreten. Zu diesen zählt
neben der sachwidrigen Ausdehnung des Bankenprivi-
legs auf den allgemeinen gewerblichen Rechtsverkehr
vor allem die Unklarheit darüber, welche Besicherungs-
zwecke mit derart privilegierten Finanzsicherheiten ver-
folgt werden dürfen. Diese Frage ist für die Reichweite
der Richtlinie von zentraler Bedeutung, ohne dass die
Richtlinie hierzu brauchbare und verlässliche Aussagen
enthielte. Daher wäre insbesondere klarzustellen, dass
eine Bevorzugung von Finanzsicherheiten nur im Rah-
men typischer Finanzmarktgeschäfte – und nicht im all-
gemeinen Kreditgeschäft der Banken – in Betracht
kommt. Diese sachliche Grenzziehung folgt bereits aus
dem Regelungszweck der Richtlinie; ihre klare Festle-
gung könnte verhindern, dass die Bevorzugung von Fi-
nanzsicherheiten sich in der Kredit- und Insolvenzpraxis
unter dem Druck von „Basel II“ zur Einbruchstelle eines
allgemeinen Bankenprivilegs entwickelt.
Derartige Regelungsschwächen gefährden den Richt-
linienzweck der Sicherung rechts- und wirtschaftspoliti-
scher Mindeststandards in der Europäischen Union. Der
Bundesrat hält die Behebung dieser Mängel für vor-
dringlich und fordert deshalb die Bundesregierung auf,
auf europäischer Ebene auf eine sachgerechte Beschrän-
kung und Präzisierung der Richtlinie hinzuwirken.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004 9083
(A) (C)
(B) (D)
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2
der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
nachstehenden Vorlagen absieht:
Auswärtiger Ausschuss
– Unterrichtung durch die Delegation der Bundesrepublik
Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates
über die Tagung der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates vom 25. September bis 2. Oktober
2003 in Straßburg und die Debatte der Erweiterten Par-
lamentarischen Versammlung über die Aktivitäten der
OECD am 1. Oktober 2003
– Drucksachen 15/2137, 15/2369 Nr 1 –
– Unterrichtung durch die Delegation der Interparlamentari-
schen Gruppe der Bundesrepublik Deutschland
über die 109. Interparlamentarische Versammlung vom
1. bis 3. Oktober 2003 in Genf, Schweiz
– Drucksachen 15/2146, 15/2369 Nr. 2 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vierzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission
2000/2001
– Drucksachen 14/9903, 14/9904 (Anlagenband) –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vierzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission
2000/2001
– Drucksachen 14/9903, 14/9904 –
hier: Stellungnahme der Bundesregierung
– Drucksachen 15/1265 –
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
mitgeteilt, daß der Ausschuss die nachstehenden EU-
Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische
Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera-
tung abgesehen hat.
Petitionsausschuss
Drucksache 15/2217 Nr. 1.3
Drucksache 15/2217 Nr. 1.4
Innenausschuss
Drucksache 15/1948 Nr. 1.27
Drucksache 15/1948 Nr. 1.33
Drucksache 15/2217 Nr. 2.11
Drucksache 15/2217 Nr. 2.27
Drucksache 15/2217 Nr. 2.33
Drucksache 15/2373 Nr. 2.16
Rechtsausschuss
Drucksache 15/2028 Nr. 2.5
Drucksache 15/2373 Nr. 2.12
Drucksache 15/2373 Nr. 2.54
Finanzausschuss
Drucksache 15/2373 Nr. 2.23
Drucksache 15/2373 Nr. 2.49
Drucksache 15/2447 Nr. 2.20
Drucksache 15/2447 Nr. 2.21
Drucksache 15/2447 Nr. 2.27
Drucksache 15/2447 Nr. 2.28
Drucksache 15/2447 Nr: 2.31
Drucksache 15/2447 Nr. 2.43
Drucksache 15/2447 Nr. 2.49
Drucksache 15/2519 Nr. 2.12
Drucksache 15/2519 Nr. 2.14
Drucksache 15/2519 Nr. 2.15
Drucksache 15/2519 Nr. 2.16
Drucksache 15/2519 Nr. 2.38
Drucksache 15/2519 Nr. 2.39
Drucksache 15/2519 Nr. 2.41
Drucksache 15/2519 Nr. 2.44
Drucksache 15/2519 Nr. 2.46
Haushaltsausschuss
Drucksache 15/2447 Nr. 2.1
Drucksache 15/2447 Nr. 2.9
Drucksache 15/2447 Nr. 2.48
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Drucksache 15/2447 Nr. 2.11
Drucksache 15/2447 Nr. 2.17
Drucksache 15/2447 Nr. 2.22
Drucksache 15/2447 Nr. 2.23
Drucksache 15/2447 Nr. 2.24
Drucksache 15/2447 Nr. 2.26
Drucksache 15/2447 Nr. 2.36
Drucksache 15/2447 Nr. 2.40
Drucksache 15/2447 Nr. 2.46
Drucksache 15/2447 Nr. 2.47
Drucksache 15/2519 Nr. 2.7
Drucksache 15/2519 Nr. 2.9
Drucksache 15/2519 Nr. 2.11
Drucksache 15/2519 Nr. 2.13
Drucksache 15/2519 Nr. 2.24
Drucksache 15/2519 Nr. 2.25
Drucksache 15/2519 Nr. 2.37
Ausschuss für Verbraucherschutz Ernährung und
Landwirtschaft
Drucksache 15/1547 Nr. 2.102
Drucksache 15/2217 Nr. 2.31
Drucksache 15/2373 Nr. 2.8
Drucksache 15/2373 Nr. 2.53
Drucksache 15/2447 Nr. 2.30
Drucksache 15/2519 Nr. 1.6
Drucksache 15/2519 Nr. 1.11
Drucksache 15/2519 Nr. 2.17
Drucksache 15/2519 Nr. 2.23
Drucksache 15/2519 Nr. 2.26
Drucksache 15/2519 Nr. 2.27
Drucksache 15/2519 Nr. 2.28
Drucksache 15/2519 Nr. 2.33
Drucksache 15/2519 Nr. 2.34
Drucksache 15/2519 Nr. 2.35
Drucksache 15/2519 Nr. 2.36
Drucksache 15/2519 Nr. 2.40
Drucksache 15/2519 Nr. 2.42
Drucksache 15/2519 Nr. 2.43
Drucksache 15/2519 Nr. 2.48
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Drucksache 15/792 Nr. 2.16
Drucksache 15/979 Nr. 2.8
Drucksache 15/1547 Nr. 2.21
Drucksache 15/1613 Nr. 1.1
9084 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 100. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
(A) (C)
(B) (D)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Drucksache 15/2447 Nr. 1.5
Drucksache 15/2447 Nr. 1.6
Drucksache 15/2447 Nr. 1.7
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Drucksache 15/2447 Nr. 1.1
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Drucksache 15/1948 Nr. 1.2
Drucksache 15/2028 Nr. 2.1
Drucksache 15/2028 Nr. 2.2
Drucksache 15/2028 Nr. 2.3
Drucksache 15/2028 Nr. 2.10
Drucksache 15/2519 Nr. 1.2
Drucksache 15/2519 Nr. 1.3
Drucksache 15/2519 Nr. 1.10
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Drucksache 15/2028 Nr. 2.19
Drucksache 15/2447 Nr. 2.29
Drucksache 15/2447 Nr. 2.38
Drucksache 15/2519 Nr. 2.31
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Drucksache 15/2519 Nr. 1.9
Ausschuss für Kultur und Medien
Drucksache 15/2373 Nr. 2.4
Drucksache 15/2373 Nr. 2.5
Drucksache 15/2447 Nr. 2.35
Drucksache 15/2519 Nr. 2.10
sellschaft mbH, Amsterdamer Str.
nd
19
22
91, 1
2, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 340, Telefax (02 21) 97 66 344
100. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 25. März 2004
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9